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K^^&y-
LSoonaj-i
ABHANDLUNGEN
ZEHNTER BAND.
DRUOK VON BREITKOPF UND HA R TEL IN LEIPZIG.
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LSoonavj
ABHANDLUNGEN
ZEHNTER BAND.
DRUCK VON BREITKOPF UNI) HARTEL IN LEIPZIG.
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICH SACHSISCHEN
GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.
ZEHNTER BAND.
MIT EINER TAFEL.
LEIPZIG
BEI 5. HI R Z E L.
1865.
Ai^J-~j>. 2?*'
ABHANDLUNGEN
DER PHILOLOGISCH-HISTORISCHEN CLASSE
DER KÖNIGLICH SÄCHSISCHEN
GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.
VIERTE» BAND.
MIT EINER TAFEL.
£ LEIPZIG
BEI S. H I R Z E L.
1866.
LSoo\lV°-l
INHALT.
J. Overbeck, Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion . . . . S. 4
G. Hartenstein, Locke's Lehre von der menschlichen Erkenntniss in Ver-
gleichung mit Leibnitz's Kritik derselben dargestellt -Hl
Wilhelm Röscher, die deutsche Nationalökonomik an der Gränzscbeide des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts -263
Joh. Gust. J^roysen, die Schlacht von Warschau 4 656 - 345
Aug. Schleicher, die Unterscheidung von Nomen und Yerbum in der laut-
liehen Form - 497
J. Overbeck, über die Lade des Kypselos. Mit \ Tafel - 589
Indem die philologisch -historische Glasse der Königlich Sächsichen Gesell-
schaft der Wissenschaften den vierten Band ihrer Abhandlangen der Oeffentlichkeit
übergiebt , ist sie verpflichtet der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft , durch
deren bereitwillige und reichliche Unterstützung ihr die Herausgabe dieses Bandes
möglich geworden ist, von neuem ihren Dank auszusprechen.
r
BEITRAGE
ZUR
ERKENNTNISS UND KRITIK
DER
ZEUSRELIGION
VON
J. 0 VERBECK.
Abhftadl. d. R. S. Gas. 4.WUs. X.
So viel tief Gedachtes und grossartig Aufgefasstes , so viel Geist-
reiches , in Methode und Resultat Neues und unsere Anschauungen des
griechischen Alterthums in seinen höchsten Interessen theils Aufklaren-
des , theils Umgestaltendes die »Griechische Götterlehre« Welcker's in
allen ihren Theilen enthalten mag, Nichts in derselben ist tiefer gedacht,
grossartiger aufgefasst und geistreicher ausgeführt , Nichts ist zugleich
in Methode und Resultat neuer und greift in unsere Anschauungen des
höchsten griechischen Alterthums entschiedener ein, als Welcker's Lehre
von der Religion, dem primitiven Monotheismus des Zeus, der
»transcendentalen Gottesidee des Zeus Kronion«,1) oder der «Idee eines
allbelebenden, weltbeherrschenden Allgeistesa2) in Zeus, eine Lehre, die
allgemein als der Kern und Cardinalpunkt des W.'schen Buches erkannt
und als solcher auch vom Meister selbst anerkannt worden ist.8) Auch
hat kein Theil der Arbeit Welcker's eine so starke Bewegung der Ge-
müther in der gelehrten Welt hervorgebracht wie diese Lehre. Und
zwar scheint dieselbe überwiegende Zustimmung gefunden zu haben,
wie denn einer solchen und zwar einer begeisterten, die ihm von Seiten
SchwenckV) («eines Mythologen , der seit 1843 die Mythologien von
sieben grossen Völkern in sieben Banden geschrieben«) und Max M al-
le rV) zu Theil geworden, Welcker selbst nicht ohne freudigen Stolz
i) Götteriehre 4. S. 4 80.
2) Das. S. 2U.
3) Ich N. Rhein. Mus. 4 3. S. 6t J ; denn die Worte: ȟber mein Buch urteilt der
Hr. Rec. indem er in Zeus Kronion den Cardinalpunkt erkennte sind gewiss zu
erklären: richtig erkennt, und mit ihnen ist zu verbinden was das. S. 6t 8 zu lesen
ist : »vermutblich werden immer mehr um den primitiven Monotheismus und das Yer-
hSltniss des polytheistischen und theogonischen Processes zu ihm sieh alle ernsteren
mythologischen Untersuchungen drehen.«
4) Göttinger gel. Anzz. 4 858 No. 5—8.
5) Saturday Review 4858 vergi. N. Rh. Mus. a. a. 0. S. et»'.
4*
4 J. OvEHBECK. [4
gedenkt.6) Es fehlt nun freilieb auch nicht an dem Ausdruck abweichen-
der und entgegenstehender Ansichten. Von diesen kann ich aber der
von Hrn. Dr. H. D. Müller7) ziemlich geräuschvoll erhobenen und von
Welcker nicht ohne Bitterkeit zurückgewiesenen8) Opposition kein son-
derliches Gewicht beilegen; nicht als ob ich damit behaupten wollte,
Hr. M. habe auf allen Punkten geirrt, wohl aber, weil ich über die Ver-
kehrtheit der Grundprincipien, von denen Hr. Dr. M. in seinen mytholo-
gischen Untersuchungen ausgeht mit Welcker und Preller9) vollkommen
einverstanden bin.
Ungleich schwerer wiegt Preller's so milde gehaltene und doch so
Viel sagende Einrede10) und die Thatsache, dass dieser in der zweiten,
Welckern zugeeigneten Auflage seiner griechischen Mythologie die Grund-
sätze W.'s in Betreff des Zeus in der Hauptsache nicht adoptirt, dem Zeus
nicht jene von W. geforderte ausnahmsweise Stellung als Gott den Göttern
gegenüber einräumt, von keinem primitiven Monotheismus, sondern nach
Nägelsbacb's Vorgange nur von einem, schon von 0. Müller11) anerkannten
monotheistischen Triebe im Polytheismus redet/2) und auch in der Deu-
tung des Kronos und Kronion Welckern nur einige und im Wesentlichen
nicht entscheidende Goncessionen macht. So vollkommen ich nun nicht
allein billige, sondern so hoch ich es dem verehrten Manne als ein Zei-
chen wissenschaftlicher Masshaltung und wissenschaftlichen Mnthes an-
rechne, dass er sich in einem für weitere Kreise und namentlich für die
studirende Jugend bestimmten Buche aller direclen Polemik über einen
solchen Cardinalpunkt enthalten und sich begnügt hat, nur das Posi-
tive seiner unerschütlerten Überzeugung vorzutragen, so sehr ich aner-
kenne, dass Preller in seiner angeführten Anzeige in Betreff des Mono-
theismus der Zeusreligion wesentliche Hauptargumente, wenn auch mehr
in der Form von Bedenken und Fragen, als in stricler Opposition gegen
Welcker, beigebracht hat, Argumente, welche ich dankbar zu benutzen
haben werde: so wenig kann ich die Sache hiedurch für erledigt halten,
6) N. Rh. Mus. a. a. 0. S. 637 f.
7) Im Philologus «857. (4 2) S. 5i7ff.
8) In dem Aufsatz: »Meine grieeh. GöUerlehre betreffende im N. Rh. Mus. a. a. 0.
9) Jahn's Jahrbb. 4869. S. 472 ff.
4 0) In der Anzeige in Jahn's Jahrbb. 4 859. 4 (79) S. 3 4 ff.
4 4) Prolegomena S. 245.
12) Mythologie 2. Aufl. 4. S. 85.
5] Beitrage zur Eakenntkiss cnd Kritik der Zeusreligion. 5
so wenjg glauben , dass Preller dieselbe fitr erledigt ansehe. Ich bin
vielmehr mit Welcker der Überzeugung , dass sich noch manche ernste
Untersuchungen um die Frage des primitiven Monotheismus oder Poly-
theismus der griechischen Religion als ihrer Grundlage und Summe dre-
hen werden , und glaube , dass Jeder, der sich bei lange fortgesetzter
und oft wiederholter Prüfung in wissenschaftlicher Weise von der Irrig*
keit der Welcker'schen Lehre in der Hauptsache und in sehr vielen Ein-
zelheiten überzeugt hat, berechtigt ist, sich auszusprechen und zu for-
dern, dass er gehört werde; und ein solcher wird ohne Phrasen zu
machen, am besten beweisen, dass er um die Sache, um die Erkenn tniss
und Begründung der Wahrheit kämpft, wenn er mit dem freimüthigen
Ausdruck seiner Zweifel , Bedenken und Widersprüche direct vor den
Richterstuhl Welcker' s selbst tritt, damit dieser seine Einreden prüfe,
und wo sie unbegründet sind, widerlege. Von der Grundlage dieser
Ansicht aus möchte ich mein Auftreten in dieser Sache und zu eben
dieser Zeit, nicht früher und nicht später, beurteilt sehen. Dass mich
nicht Eitelkeit treibt, mit einem solchen Kampfe gegen weit überlegene
wissenschaftliche Kraft, in welchem ich viel eher. eine Niederlage zu
fürchten als den^Sieg zu hoffen habe , als mythologischer Schriftsteller
zu debtttiren, wird man einsehn, und dass ich nicht jetzt erst mytholo-
gische Studien zu verfolgen beginne hoffentlich aus der Untersuchung
selbst entnehmen.
I.
Unvermeidlich ist es bei der Art, in der Welcker seine Lehre in
seinem Buche begründet und in seinem angeführten Aufsatz: »Meine
griechische Gölterlebre betreffend« vertheidigt und neu unterstützt hat,
zu Beginn dieser Discussion ein Gebiet zu betreten, auf das ich Welckern
am wenigsten gern folge, einerseits weil sich auf demselben am wenigsten
mit positiven Gründen streiten lässt, und Ansichten und Theoreme einen
grossen Raum einnehmen, andererseits weil dasselbe nicht weniger
ausserhalb des Bereichs meiner Studien liegt als dies Preller von den
seinigen aussagt.13) Ich meine das Gebiet der allgemeinen philosophi-
13) Jahn' 8 Jahrbb. a. a. 0. S. 34.
6 J. OVERBECK, [6
sehen Betrachtung des Monotheismus und Polytheismus ihrem Wesen
an sich nach und in ihrem Verhältniss zur Naturreligion.
Die oberste und Hauptfrage ist , was wir unter Monotheismus zu
verstehn haben. Welcker selbst14) unterscheidet zwei Arten von Mono-
theismus, »den Monotheismus im eigentlichen und herkömmlichen Sinne
des Wortes, einen klar begriffenen Monotheismus« und einen anderen,
»der ausgehend von der Einheit, durch die Vielheit der Personen in den
Naturmythen zwar beeinträchtigt, durch Verwilderung der Sitten und
der Bildung unterbrochen, selbst in christlichen Gemfllhern geschwächt
und angefochten wird , der aber , weil er ein Erblheil der Menschheit
ist, immer wieder durchdringt, der z. B. in dem hellenisch-homerischen
System , bei aller Vielheit der Personen sich im Ganzen siegreich von
neuem aufgerichtet hat und nicht blos vermittels dieses Systems, son-
dern auch des der Nation von Anbeginn eigenen Geistes in ihr selbst,
nach einer abermaligen Periode einer dem Monotheismus eigentlich ent-
gegenwirkenden Entwickelung , den schönsten wissenschaftlichen Aus-
druck gefunden hat* Wenngleich nun Welcker in eben diesem Satze und
in dieser Unterscheidung, die sich auf 0. Mtlller's15) Auseinandersetzun-
gen über den Monotheismus bezieht, den ersteren, eigentlichen und
begriffenen Monotheismus gradezu opfert, oder wenigstens zu opfern
meint, während er, wie ich zu zeigen «hoffe in dem was W. unter den
Monotheismus der zweiten Art subsumirt, thatsächlich wieder auftritt,
so wird es doch, und zwar grade in Beziehung auf das zuletzt Gesagte,
gut, ja nothwendig sein, in Betreff dieses eigentlichen und begriffenen
Monotheismus zwei Thatsachen festzustellen, welche als Massstab der
Behandlung der Zeusreligion bei Welcker dienen werden. Diese zwei
Thatsachen sind : erstens dass der eigentliche und begriffene Monotheis-
mus niemals primitiv ist, und zweitens, dass er nicht nur eine »gewisse
Abstraction von der Natur« voraussetzt, wie sich 0. Müller ausgedrückt
hat, sondern auf der Abstraction von der Natur gradezu beruht, insofern
er in der Erkenn tniss oder Annahme einer supranaturalen und transcen-
denten Gottheit besteht.
Dieser eigentliche und begriffene Monotheismus findet sich unseres
Wissens drei Mal in der Weltgeschichte : im MosaYsmus, im Christentum
U) N. Rhein. Mus. a. a. 0. S. 64 8.
4 5) Prolegomena S. 243f.
7] Beiträge zur Ekkknntniss und Kritik der Zeusreligion. 7
and im Islam; dass er im Islam und im Christentum nicht primitiv,
sondern eine Reform sei, und auf Offenbarung, d. h. persönlicher Reli-
gionsstiftung beruhe, braucht nicht bewiesen zu werden, dass aber Glei-
ches für den MosaYsmus gelle, das wird, ganz abgesehn von allen Thal-
sachen, welche über einen ältesten polytheistischen Nalurcult der Juden
bekannt sind, schon durch die Form des Gesetzes erwiesen, in welchem
sich der begriffene Monotheismus als solcher ausspricht: du sollt keine
anderen Götter haben neben mir. Unter eben diesen Gesichtspunkt nun
fällt Alles, was immer von Monotheismus und von einem »monotheisti-
schen Zug« oder von monotheistischer Tendenz in der griechischen Reli-
gion, in der Religion des Zeus während der Periode ihrer Gestaltung zuerst
durch die nationale Poesie und dann in derjenigen durch die Philoso-
phie vorhanden ist, wobei die Frage nach der Art und dem Grade dieses
Monotheismus und seiner Begrifflichkeit und Begriffenheit, nach der Aus-
dehnung und der Reinheit seiner Idee und der monotheistischen Ten-
denz im Polytheismus einstweilen ganz bei Seite bleiben kann , und nur
die von Welcker angenommene Verbindung dieses Monotheismus der
Reform mit dem andern, nicht begriffenen oder angeblich primitiven als
irrig abzuweisen ist. Dass der Monotheismus der Philosophie ein be-
griffener, dass er das Resultat der Speculation und eines langen Lebens
der Religion sei, ist natürlich ausser aller Frage und allem Zweifel, eben
so natürlich auch dass er geschichtlich mit jenem angeblich primitiven,
uneigentlichen und nicht begriffenen Monotheismus nicht zusammen-
hangen könne; aber auch der Monotheismus oder die Offenbarung einer
monotheistischen Tendenz im Polytheismus,16) welche in der
Stellung des Zeus im Kreise des homerischen Göttersystems und an
dessen Spitze oder über demselben — man drücke sich aus wie man
sich ausdrücken will und mag — ist, so wie er ist ein begriffener, ist
16) So druckt die Sache wie schon oben S. 4 erwähnt ungleich zutreffender
als durch das Wort Monotheismus nach 0. Müller' s (Proll. 245) und Nägelsbach's Vor-
gänge Preller aus, Hythol. S. 85 (2. Aufl.), indem er zugleich diesem vernehmlichen
Zug zum Monotheismus die Naturreligion entgegenstellt. Dagegen fSUt meiner Ein-
sicht nach nicht allzu schwer in's Gewicht was Welcker, Götterl. I. S. 229 behauptet,
weniger lasse sich denken , dass die Vorstellung von lebendigen Theilen (des All) zu
der eines Alllebens, von Göttern zu Gott aufgestiegen sei. Grade dies Letztere ist die
vorliegende Geschichte des mosaischen und islamischen Monotheismus, insofern im
enteren der Stammgott Abrahams Isaaks und Jacobs, im bewußten Gegensatz zu den
Göttern anderer Völker, zum alleinigen Gotte Himmels und der Erde gesteigert ist.
8 J. OVERBKCK, [8
das Resultat der wachsenden Bildung der Nation, die aus rohen Zustan-
den als Jager, Hirten und Fischer zur Gesittung und zu geistigem Leben
sich erhebend Welcker selbst in dem 41. Abschnitte seines Buchs (be-
sonders S. 234 ff.) in meisterhaften Zügen schildert, und dieser Mono-
theismus ist , wenn nicht die That einer religionsstiftenden Person oder
einer Mehrheit solcher, die man in den allen Cultsangern suchen könnte,
oder einer »bewusst und im heiligen Eifer thatigen religiösen Partei«
deren Eingreifen Welcker (S. 237) als »denkbar« hinstellt (und das auch
schwerlich mehr als dies ist17)), so doch ganz gewiss dasErgebniss der
47) Wenn man freilich die hier berührten Worte and die Sätze, zu denen sie ge-
hören genauer betrachtet und damit vergleicht, dass Welcker den 41. Abschnitt seines
Buch* eine Obersiebt über »das neue Systeme nennt, so könnte man auf den Gedanken
kommen, Welcker erkenne in der homerischen Theologie, in dem »neuen System« eine
direct religionsstiftende, oder eine bewusst reformatorische, oder soll ich sagen eine
gleichsam prophetische Thätigkeit. Und doch darf von einer solchen bei Homer und in
der homerischen, durchaus nicht religiösen oder auf religiöse Zwecke gerichteten Poesie
ganz gewiss nicht die Rede sein, und von dem neuen System wird sich zeigen lassen,
dass es als solches nicht aus einer einheitlichen, in sich zusammenhangenden und
gleichzeitigen Geistesbewegung hervorgegangen, sondern das Resultat ist einer langen
Folge an verschiedenen Orten ohne Zusammenbang unter einander aufgetretener histo-
rischer Thatsachen, Stammeswanderungen, Cultaustausche, Hythencombinationen und
Mythenerweiterungen in engster Verbindung mit der wachsenden, verschiedene Stadien
durchlaufenden Sagenpoesie und niedergelegt in diese, gebunden an sie, mit der es
endlich in die homerische Poesie aufging, wo es, nicht ohne dass starke Unebenheiten,
Risse und Näthe übrig und sichtbar geblieben sind (ich will nur an die verschiedenen
Zeusgattinen neben Here erinnern), endlich als ein aus bewusster Geisteslhat erwach-
senes Ganze erscheinen mag, ohne gleichwohl das Ganze der Religion zu umfassen,
ja ohne mit dieser, der Religion selbst sich auch nur zu decken. Und diese Thatsache,
dass die homerische Theologie und die nachhomerische der Dichter und zum Theil der
bildenden Künstler, keineswegs die griechische Religion sei, dass diese vielmehr im
Ganzen (nicht In vielen Einzelheiten) unberührt von dem »Systemt in allen einzelnen
Staaten und StSdten, Tempeln und sonstigen Coltstätten fortbestand, diese Thatsache,
die Welcker selbst nicht verkennt noch verkennen kann, auf der vielmehr die grössten
Theile seines Buchs in beiden Bänden beruhen (vergl. besonders den vortrefflichen
Abschnitt »Homer« im S. Bande S. 64 ff.), scheint mir Welcker trotzdem und indem er
von Homer als dem Centrum ausgeht und hinter die poetische Mythologie die des Col-
tus und Glaubens in den Hintergrund schiebt, nicht in dem ganzen Umfange ihrer Be-
deutung gewürdigt zu haben , da er sonst von den , immerhin in vielfach entstellter
Gestalt auf uns gelangten Oberlieferungen dieser örtlich gebliebenen und doch eigent-
lichen griechischen Religion nicht so verächtlich denken und reden konnte, wie er es
io den Abschnitten %\ — 14 seiner Götterlehre thut. Diese Abschnitte, in denen von
den Tempellegenden, Sagen und Märchen gehandelt wird , unterscheiden sich in der
Geringschätzung, mit der von diesen Oberlieferungen geredet wird, sehr eigenthümlich
9] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligio*. 9
■
Bildungsstufe , auf der wir das griechische Volk in den heroischen Ge-
dichten finden, mit einem, um nur dies zu erwähnen, festgegliederten,
uuter erblichem Königthum einheitlich zusammengefassten Staatswesen,
einer Bildungsstufe, welche einen Cultus unklar personificirter Natur-
geister überwunden hatte und überwunden haben musste, wie dies
Welcker (S. 232 ff.) vortrefflich darthut und in dem Abschnitt über den
Titanenkampf weiter begründet,18) einer Bildungsstufe, für die ein zer-
flossener, zusammenhangsloser, ungegliederter Polytheismus grade so
unmöglich, wie ein nach Massgabe und den Normen des irdischen Staa-
tes aufgerichteter Götterstaat unter einem himmlischen Könige derselben
natürlich entsprechend war.10) Also auch dieser Monotheismus oder
diese Offenbarung eines monotheistischen Zugs im Polytheismus ist eine
Reform , ist nicht primitiv und hat mit einem nicht eigentlichen , nicht
begriffenen primitiven Monotheismus weder begrifflich noch historisch
Zusammenhang. Dies meine eine These. Die andere ist die, dass aller
eigentliche und begriffene Monotheismus auf der Abstraction von der
Natur beruhe , insofern nämlich er die Erkenntniss oder Annahme einer
supranataralen und transceudenten Gottheit voraussetzt. Auch diese
These für den Islam und für das Christenthum zu beweisen ist über-
flüssig und in Betreff des MosaYsmus wird Welcker leicht zustimmen,
der , Götterlehre S. 9 , die arischen Völker als solche , deren Religion
einen Bezug «zur Natur und zum Polytheismus« haben, den Se-
miten entgegenstellt, aus denen Moses und die Propheten und ein
und wesentlich von der, vielleicht zu weit getriebenen, dennoch im Princip berechtigten
Sorgfalt, mit der die Forschung auf dem Gebiete z. B. der nordischen und deutschen
Mythologie die noch viel geringfügigeren und noch ungleich mehr entstellten Reste
und Spuren des Alten in Sagen, Märchen, Sprichwörtern, einzelnen Gebräuchen und
selbst im Aberglauben der Kinder und der alten Weiber aufsucht. Darin durfte auch
der Schwerpunkt der in der letzten Zeit so vielfach zur Sprache gekommenen Diffe-
renzen zwischen Welcker'» und 0. Müller's Methode zusucben sein.
18) Vergl. besonders Götterl. S. 266 den Satz: »diese (die Götter der Pelasger)
waren nicht zu einer Gesellschaft vereinigt, sondern durch die Natur hin zerstreut wie
die Völkerstämme, denen sie je nach der sie umgebenden Natur angehörten« u. s. w.
und S. 232, wo die »Reform« mit dem Zeitalter der Heroen vor Theben und Troia in
Zusammenhang gebracht wird , Beides ganz im Sinne meiner Auffassung. Im Grund-
princip stimmt auch Nägelsbach, homer. Theologie S. 74. 92 und sonst überein, was
er freilich in der Nachhom. Theol S. 1 00 ff. widerruft.
1 9 ) Vergl. Göttimg in s. Gesammelt. Abbandll. I. S. 4 S 4 f. (aus dem Hermes v . 1 8 27 )
und nach ihm Nügelsbach a. a. 0. S. 92 ff.
10 J. OVEKBKC*. [1°
Muhammed bervurgeha konnten; der im Rhein. Mus. u. a. 0. S. 418.
Note 1 denselben L'rstamm (die Semiten) als solchen bezeichnet, der
so wenig Sinn fllr die Natur halte, dass er Gott nur ultramontan
(lies Lransmundan) setzte; der, Götterl. 1. S. 496 Jehovah von Zeus ver-
möge des uranfanglichen Bezugs des Letzteren zurNatur
als ■grundverschieden« bezeichnet, wenngleich er S. 197 das
mosaische Schaffen gewiss mit Unrecht mit dem von ihm so genannten
■Schaffen« d. h. dem ehelichen Zeugen des Zeus für identisch erklart.
Auch der Gott Mosis, des Psalmisten und der Propheten, mag er sich
im feurigen Busch oder sonst in der Natur dem Menschenblicke mate-
riell offenbaren, ist vermöge seines Schöpft] ngsacls durch den Willen
und das Wort, vermöge seiner Nichtimmanenz in den Affectionen des
Kosmos supranulural und transcendent. So wie wir aber in dem christ-
lichen Gotte, der ein Geist ist und im Geiste angebetet werden will,
dann in dem islamischen und drittens im mosaischen, der sich mensch-
lichen Blicken in der Natur offenbart ohne gleichwohl in derselben aus-
ser etwa in Resten früherer, wesentlich nicht monotheistischer An-
schauungen immanent zu sein, d. h. in dieselbe aufzugehn, verschiedene
Stufen in der klar erkannten Transcendenz wahrnehmen, so schliesst
sich diesen als eine weitere und noch weniger als die mosaische klare
Stufe die Transcendenz, der Supranaturalismus nicht etwa nur des Zeus,
sondern aller Götter der reformirten griechischen Religion an,10} so sehr,
dass ihre Genesis aus der Natur, über die Welcker so klar und erschöp-
fend handelt,") bis auf den heutigen Tag von Solchen verkannt wird,
die mit mehr Idealismus als Beobachtungsgabe ausgestaltet und die
mehr speculativ als historisch und kritisch begabt sind.12) Steht nun
vermöge des monotheistischen Zugs im Polytheismus und vermöge des-
sen Organisation nach den Normen der heroischen Basileia Zeus au der
ar und über ihnen, so muss sich eben deshalb das
e und Transcendentale alles begriflenen Monotheismus
t dies so eindringlich gelehrt wie Welcker in dem schon ange-
iner Göllerlebre; vergl. besonders wieder S. S66: >die neuen
n der Ausseowelt, sondern im Gedanken begründet« u. s. w.
3. Hin*., vergl. besond. auch S. S34.
loch von nicht wenigen classiseben Philologen bemerk! Preller
0. S. 39 Note mit Hecht, so erslaunlich die Tbalsache im Grunde
H] Beitrage zun Erkenntniss ukd Kritik der Zecjsreligion. H
bei ihm am stärksten offenbaren , und wie sehr dies der Fall sei , dafür
kann ich mich u. A. auf das berufen, was Welcker über Zeus und sein
Walten im Gebiete der geistigen und politischen Interessen der Mensch-
heit gesagt hat *3) Nun hat freilich Welcker den gleichen Supranatura-
lismus bei Zeus als einen primitiven hingestellt und behauptet, eine Be-
hauptung deren Richtigkeit weiterhin genau untersucht werden soll, und
deren Unrichtigkeit ich zu erweisen hoffe , hier habe ich nur davon Act
zu nehmen , dass Welcker den Monotheismus des Zeus , seine Stellung
als Gott den Göttern gegenüber vermöge der von ihm angenommenen
Transcendenz desselben statuirt, nicht vermöge der Immanenz in der
Natur, sondern trotz dieser, von der er eine Verdunkelung seiner supra-
naturalen Seite ableitet. u) Hiernach darf ich wohl annehmen, dass auch
Welcker mit dem Inhalt meiner beiden Thesen in Betreff des eigentlichen
und begriffenen Monotheismus , wenigstens mit der letzteren überein-
stimmen wird, an der mir eben so viel liegt wie an der ersteren, ja des-
halb noch mehr, weil, wie gesagt, Welcker selbst neuerdings den eigent-
lichen und begriffenen Monotheismus als primitiven geopfert hat.
*
Wenden wir uns nun zu dem anderen Monotheismus, den Welcker
diesem eigentlichen und begriffenen gegenüberstellt, und an dem allein
er festhält, so bin ich zunächst in Verlegenheit, wie ich denselben be-
zeichnen soll , ohne selbst den Schein auf mich zu laden , als wolle ich
Welckern zu nahe treten. Doch glaube ich mit Berufung auf das Vor-
stehende am besten an dem einigermassen neutralen Ausdruck »primi-
tiver Monotheismus« festhalten zu dürfen. Von diesem primitiven Mono-
theismus, »der von der Einheit ausgehend, durch die Vielheit der Per-
sonen in den Naturmythen zwar beeinträchtigt und angefochten wird,
der aber, weil er ein Erbtheil der Menschheit ist, immer wieder durch-
dringt«, von diesem glaubt Welcker annehmen zu dürfen, dass er sich
mit der Idee der Immanenz der Gottheit in der Natur vertrage , dass er
sich als die primitive Religion auch der Natur werde fassen lassen. Er
sagt in diesem Betreff im N. Rhein. Mus. a. a. 0. S. 61 7 f.: »so wenig
aber die einzelnen Seelenkräfte im Bewusstsein früher unterschieden
werden als das des einen Geistes erwacht und geübt ist, so wenig lässt
23) Götterlebre I. S. 177 ff.
24) Götterlebre S. 496: »und die supranalurale Seite seines Wesens musste sich
leicht verdunkeln , weil er euch von der physischen aus zum Weltherrscher geeignet
schien.«
12 J. OvKRBEf.K, [42
die erste Religion in ihrem Zug und ihren Äusserungen sich polytheistisch
denken. Mit einem Einfachen, Einen, Ganzen hat es jede Ahnung, jeder
erste Blick, jeder erste inhaltreiche Gedanke zu thun. Wie der Mensch
sich als Einen empfindet so das All ihm gegenüber als Eines.»
Und daselbst S. 619: »Die Natur hat im Allgemeinen mehr des Gemein-
samen in ihrer Einwirkung auf den sie als göttlich anstaunenden Men-
schengeist und in ihrer Bestimmung seiner Lebens weisen und Charakter-
bildung als der Ungleichheiten.«
Diese Sätze muss ich denn freilich aufs allerernsleste bestreiten.
Die stricte Bezugnahme in denselben auf die Natur, auf das All gegen-
über dem Menschen überhebt mich der Nothwendigkeit auf die Fragen
einzugehn, welche sich an Zervane Akerene der Zoroastrischen Religion
und an dessen Primitivität25) sowie an dessen Verhältnis zu einer per-
sönlich gedachten Gottheit knüpfen. Auch parallelisirt Welcker ja Zervane
Akerene nicht mit Zeus, der ihm der Träger des primitiven Naturmono-
theismus ist, sondern mit der Idee, die er in dem Kronos sucht nnd, wie
ich zu zeigen hoffe, in der Formel Zeus Kronion gänzlich irrthümlich
findet. Als das Einfache, Eine, Ganze, mit dem es nach W. jede Ah-
nung, jeder erste Blick, jeder erste inhaltreiche Gedanke zu thun hat,
haben wir also nicht die abstracto Idee des Zervane Akerene, sondern
einen primitiven Monotheismus der Naturimmanenz zu betrachten, der
den Menschen das All als Eines auffassen lässt, und dessen Träger für
Welcker Zeus ist. Wie wenig nun aber Welcker den Gedanken festzu-
halten im Stande ist , dass der Mensch wie sich als Einen , so d a s AU
ihm gegenüber als Eines empfinde, zeigt der unmittelbare Fortgang des-
selben Satzes S. 618: »und wie er in seinem Leibe einen Sitz de6 Gei-
stes, von wo ans dieser wirke und walte, sucht, so ist es ihm natürlich
auch im All einen Hauptsitz der göttlichen Macht zu finden,
es sei in der Himmelshohe oder in der Sonne.« Denn offenbar verwech-
selt Welcker hier zwei gänzlich heterogene Dinge mit einander: das All
als Eines und einen Punkt i m All als den vornehmsten oder den Haupt-
sitz der göttlichen Macht , einen Hauptsitz den er so concret fas6t wie
den Himmel oder die Sonne. Ja , wenn man Welcker's Worte , die er,
eben weil er (S. 617) seine Ideen nur im Kurzen andeutet, gewiss nicht
25) Gegenüber der Annahme Welcker's in Betreff der vorzoroastrischen Existenz
des Zervane Akerene ist auf das zu verweisen , was PreUer in Jahns Jahrbb. a. a. O.
S. 37 f. erinnert hat.
*3] Beiträge zir Erkenntmss ukd Kkitik der Zeusreligion. 13
ohne besonders genaue Überlegung niedergeschrieben hat, einigermassen
genau wagt , so muss man finden , dass er mit ihnen die Schranke des
Monotheismus bereits durchbrochen hat; denn ein Haupt sitz der gött-
lichen Macht in einem Punkte oder Kreise oder Theil der Natur oder des
All, des materiellen All, wie im Himmel oder in der Sonne, schliesst
andere Sitze in anderen Kreisen oderTheilen nicht aus, sondern schliesst
diese ein. Und so handelt es sich hier schon nicht mehr um einen Gott
für das All, sondern um einen obersten und Hauptgott, und der Cultus
dieses Hauptgotles ist begrifflich schon an und für sich kein Monotheis-
mus , wahrend es sich weiter und in historischer Betrachtung nur um
die Frage handelt, wann und wie bald neben dem Hauptsitze der gött-
lichen Macht noch andere Sitze derselben in anderen Theilen des All
und wie viele derselben erkannt werden, eine Frage, die einerseits von
der Mannigfaltigkeit der Natur und der in ihr thötig und wirksam wer-
denden Kräfte und andererseits von dem Grade der Naturempfonglich-
keit, des Natursinnes des Individuums oder des Volkes abhangt,26) wel-
ches die Sitze der göttlichen Macht in der Natur, d. h. nicht in der
Materie, sondern in den Kräften der Natur,*7) weiche das Dasein des
Menschen bedingen, sieht oder zu finden glaubt. Begrifflich ist also der
Polytheismus schon da, sobald ein Hauptsitz der göttlichen Macht ange-
nommen wird, und das ThatsSchlichwerden dieses Polytheismus in der
Annahme anderer Sitze anderer göttlicher Machte ist nur eine Frage der
Zeit. Nun aber muss ich weiter behaupten, dass man diese Zeit, jn wel-
cher der begriffliche zum. tbatsächlichen Polytheismus der Naturreligion
wird, keineswegs eine lange sein könne, sondern bei einem für die ver-
schiedenen Kräfte und Eindrücke der Natur so leicht und lebhaft em-
pfänglichen Volke wie die Griechen nur als eine ganz kurze, vielleicht
unmessbar kurze oder = 0 zu setzen sei. Und damit wende ich mich
zugleich gegen den zweiten der oben ausgezogenen Sätze Welcker's, in
welchem er behauptet, die Natur habe im Allgemeinen mehr des Ge-
meinsamen in ihrer Einwirkung auf den sie als göttlich anstaunenden
Menschengeist und in ihrer Bestimmung seiner Lebensweisen und Cha-
26) Vergl. das in Betreff dieser Verhältnisse gar nicht unbrauchbare Schema
Laoer's, System der griech. Mythol. S. 52 f.
27) Dies hat Welcker eben so vortrefflich entwickelt wie mit grosser Energie des
Ausdrucks ausgesprochen Götterl. I. S. 216. Vergl. auch Preller gegen Lehrs, Jahn**
Jahrbb. a. a. 0. S. 3 50 f.
\ i J. OVERBECK, [U
raklerbildung als der Ungleichheiten. Dieser Salz, behaupte ich, ist gleich
falsch, mag man aus demselben einen primitiven Monotheismus ableiten
wollen wie Welcker, oder einen primitiven Pantheismus wie Lauer, *")
den Welcker anzieht29) um ihm zu widersprechen. Die Natur in ihren
Kräften und den Äusserungen derselben in den Erscheinungen und in
deren Einwirkung auf Lebensweise und Charakterbildung des Menschen
ist vielmehr durchaus mannigfaltig und auch in den Hauptsachen un-
gleich. Die Kräfte der Natur treten einzeln, successive in die Erschei-
nung, Tag wechselt mit Nacht, Sommer mit Winter, das Tosen des
Sturmes mit dem Lächeln des Sonnenscheins, erquickender, belebender,
fruchtbarer Regen mit verdörrender, Pest bringender Hitze ; diese Kräfte
und ihre Erscheinungen und Wirkungen heben einander auf, wenigstens
scheinbar und für den einfachen Menschen wirklich, und wie sie im
steten Wechsel begriffen sind, so scheinen sie im steten Kampfe mit
einander zu liegen, wovon die Mythologie voll ist; die einzelnen Kräfte ,
und Theile des All sind von einander getrennt und unabhängig, so viele
Einflüsse freundlicher bald, bald feindlicher Art unter denselben herüber
und hinüber stattfinden und wahrgenommen werden mögen, Einflüsse
und Beziehungen die ebenfalls in der Mythologie und zwar grade in dem
was Welcker mit Recht Urmythen genannt bat, so Bedeutendes geschaffen
haben.90) Aber für alle diese Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, Theile,
Kräfte der Natur, des Alls, kann die Einheit und das gemeinsam Bedin-
gende nimmer in der Natur, nimmer in irgend einem Theile der Natur,
sondern nur in einer transcendenten Gottheit ausser und über der Natur
gefunden werden. Sind ja doch auch in der griechischen Mythologie die
Naturgötter nicht aus einer obersten und letzten Ursache abgeleitet, nicht
einmal in dem fertigen homerischen System , sondern in grössere oder
kleinere Kreise zusammengefasst von einander unabhängig und von ein-
ander verschieden. Und nun vollends die Einwirkung der Natur auf den
Menschen in der Bildung seiner Lebensweise und seines Charakters, in
den Eindrücken, welche der Mensch von der Natur in seiner psychischen
28) System der griech. Mylhol. S. 50 f.
29) Gölterl. 1. S. 196.
30) »Beispiele sind die Ehe von Himmel und Erde oder von Zeus und Hera,
manche uralte Genealogie wie Athene und Thelis, Töchter des Zeus, des Nereus, drei
Brüder als drei Naturreiche, die Zwillinge Apollon und Artemis, das Tag um Tag Leben
der Dioskuren« u. s. w, Welcker, Götter! . 4. S. 76.
45] Beiträge zun Erkenntniss und Khitik der Zel-sreligion. 15
nicht weniger als in seiner physischen Existenz empfängt, diese Ein-
wirkungen die schon nach dem Wechsel der Jahreszeiten die verschie-
denste Lebensweise bedingen, nicht minder nach dem Wechsel des
Locals, diese Eindrücke, welche nach dem unausgesetzten Wechsel der
Erscheinungen das Gemüth des Menschen bald mit Angst und Grauen
und mit überwältigender Ehrfurcht, bald mit bewunderndem und hin-
gegebenem Staunen, bald mit träumerischer Wehmuth und bald mit hei-
terer Freude erfüllen, wie kann man von ihnen sagen, dass sie mehr des
Gemeinsamen als der Ungleichheiten haben! Ich will diese Andeutungen
nicht weiter ausführen und sie nicht specieller auf das Gebiet der Völker-
Physiologie und der Völkerpsychologie in ihrem Zusammenhange mit
dem Clima und der natürlichen Beschaffenheit der Wohnsitze verfolgen,
denn das sind bekannte, aber freilich schwer wiegende Dinge, und das
Angeführte genügt schon, um daraus den Schluss abzuleiten , dass die
Form der Naturreligion weder ein Monotheismus noch ein Pantheismus
sein kann , sondern einzig und allein ein Polytheismus , und zwar ein
Polytheismus dessen beginnende Ausbildung auf einzelnen Punkten frü-
her als auf anderen wir historisch so wenig weit hinauf verfolgen kön-
nen, dass wir ihn getrost als einen primitiven ansprechen dürfen. Und
für diesen Polytheismus ist es begrifflich ganz gleichgiltig , ob er aus
hundert oder aus zehn oder aus zwei Gottheiten sich constituirt, etwa
als den Vertretern des Geschlechtsdualismus, aus dessen Zeugungen
alles Weitere, der materielle Kosmos und die in ihm lebenden und wal-
tenden Naturgeister genealogisch abgeleitet werden, es ist gleichgiltig
nach welcher Seite der Natur er zuerst und ob er allseitig oder vielseitig
oder beschränkt ausgebildet ist, gleichgiltig, ob er vag und zerflossen
ist, wie derjenige der Veden, oder mehr oder weniger gegliedert, in ein
System gebracht wie der griechische; in keinem Falle geht er von der
Einheit als der Alleinheit aus und in keinem Falle führt er zur Einheit,
zum Monotheismus. Und auch da, wo er vermöge einer Reform im Fort-
schritte der Zeit und der Cullur der Menschen sich aufs kunstvollste
gliedert, wo er sich eine Spitze schafft in einem obersten, graduell höch-
sten Gotte, der dadurch noch lange nicht als von den anderen Göttern,
unter denen noch manche Rangstufen bestehn,31) specifisch verschieden
31) Als »engeren Ausschüsse der grossen olympischen Gottheiten bezeichnet
Preller, Mythol. 8. Aufl. S. 4 nach Nägelsbach, Homerische Theologie S. \ «3, Nachhom.
Tbeol. S. 135 mit Recht die Trias: Zeus, Apollon, Athene; auf diesen folgen bekannt-
16 J. OVERBECK, [16
ist, auch da sage ich, wo der Polytheismus sich eine Spitze schafft, wie
der griechische in Zeus, dem homerischen Zeus, auch da bleibt er was
er ist.
Und wenn man denn nun trotz dem Allen die Stufe der Naturreli-
gion, welche den Gultus einem Theile der Natur anstatt ihrer vielen oder
einem vorzugsweise zuwendet, Monotheismus nennen und diesen als
primitiv von der Ausbildung des eigentlichen sogenannten Polytheismus
sondern will , dann muss immer noch , und zwar mit Nachdruck darauf
hingewiesen werden, dass dieser nicht principielle, nicht begriffene
Monotheismus , weit entfernt eine reinere Religion zu sein als der aus-
gebildete Polytheismus, Nichts ist, als dessen Keim und Vorstufe, als
die erste, einfache Bntwickelung eines Gewächses, das in reicher mor-
phologischer Umgestaltung erst spater zur Entfaltung seines ganzen
Organismus und zu seiner Blttthe gelangt; zur vollen Entfaltung seines
Organismus in dem ausgebildeten Polytheismus und zu seiner Blttthe in
dessen systematischer Zusammenfassung unter einer obersten Spitze als
der Offenbarung des nicht mehr unbegriffenen, sondern des eigentlichen
und begriffenen Monotheismus oder seines Triebes und Zuges.' Weit
entfernt also den Übergang von jenem einzig und aliein in der Beschran-
kung bestehenden primitiven Monotheismus zum ausgesprochenen Poly-
theismus als das Resultat der Verwilderung der Sitten und der Bildung
und als einen Rückschritt zu betrachten oder anzuerkennen, kann ich in
demselben nur einen Fortschritt des Geistes finden, denselben Fort-
schritt, in welchem sich der Geist des Knaben und des Jünglings, der
die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit auffasst, gegenüber dem Geiste des
Kindes befindet, das nur das Nächste und Auffallendste wahrnimmt und
dem das All deswegen Eines ist, weil es ihm Nichts ist. Und wenn man
die Sache so betrachtet wie ich glaube dass sie allein betrachtet werden
lieh wesentlich in der Stellung der Gerusie die olympischen Götter, alle übrigen haben
nur die Stellung der freien Mannen in der Agora des heroischen Staates. So in dem
poetisch nationalen System Homer*s ; an den weit Siteren Unterschied der Haupt- und
Neben- oder Untergötter, wenngleich die Alten, wie Welcher, GÖtterl. 4. S. 676 f.
lehrt, diesen Unterschied nicht ausdrücklich ausgesprochen haben, ist als an eine be-
kannte und in sich wohl begründete Thatsache, die auch W. a. a. 0. S. 678 anerkennt
und ausführt, auch nur zu erinnern. Im Übrigen darf auch noch auf das verwiesen
werden, was über die Gliederung des Göttertbums und seine Rangstufen NSgelsbach,
Homer. Theol. S. 95 ff. gut ausgeführt bat.
17] Beiträge zir Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 17
darr und kann, dann schwindet auch jeder Zusammenhang zwischen
jenem primitiven Monotheismus und dem mehr oder weniger klar ge-
fassten , begriffenen Monotheismus der Reform , der Reife der Nation,
und dann wird man sich auch frei halten von jener abenteuerlichen
Vorstellung eines höchstbegablen, mit reinerer Erkenntniss ausgestatte-
ten Urzustandes der Menschheit, von dem alle fernere Eotwickelung nur
Entartung wäre, von jenem unseligen Traume, der in Greuzer's und der
Seinigen Geistern und Schriften Unheil und Unklarheit genug hervor-
gebracht hat, um uns nur mit ungeheucheltem Schmerz sehn zu lassen,
wie unsere neueste Forschung in ihren höchststehenden und bedeutend-
sten Vertreter^ demselben wieder zuzuneigen Miene macht. Dann wird
man auch einleuchtend finden, dass die Menschheit eine Kindheit gehabt
hat, und dass die Religion so wenig wie die Sprache der Menschen
während dieser Kindheit mit einem Höchsten und Vollkommensten begon-
nen hat und begonnen haben kann, sondern dass gleichwie die Sprachen
in Jahrtausende langer Entwickelung sich aus dem ersten Lallen zu
ihrer Bluthe erhoben , ehe die uns bekannte Geschichte ihrer Entartung
und Abschwächung beginnen konnte, so auch die Religionen aus kindi-
scher und beschränkter Erkenntniss der Gottheit lange Zeiträume hin-
durch zu ihrer eigentümlichen Höhe emporstiegen, ehe jene Rück-
schritte eintreten konnten, von denen Welcker82) sagt, dass sie den
Haupttheil der Geschichte aller Religionen ausmachen. Sprache und
Religion gehn hier ganz parallel und verhalten sich auch in unserer
Geschichtskenutniss gleichartig; die Geschichte der Entartung ist uns
grösstentheils bekannt, und sie allein kann uns in der Hauptsache bekannt
sein , weil erst mit der Vollendung der Sprachbildung das Geschichts-
leben der Nationen, im engeren Sinne des Wortes wenigstens, beginnt ;
aber dass dieser bekannten Geschichte eine unbekannte der aufstreben-
den Entwickelung vorausliege, darüber täuscht sich wenigstens was die
Sprache anlangt die Linguistik nicht,33) und darüber sollte sich was die
Religion betrifft die mythologische und mythenphilosophische Forschung
eben so wenig täuschen und wird sie sich nicht täuschen, wenn sie mit
unbeirrtem historischem Blick den freilich nicht chronologisch zu be-
32) N. Rhein. Mus. a. a. 0. S. 628.
33) Noch ganz neuerdings hat dies Schleicher vortrefflich entwickelt in einem
Aufsatz : Das Leben der Sprache und unser Sprachgefühl in Prutz Deutschem Museum
1861. No. 6.
Abhaodl. d. K. S. Cet. d.Wisi. X. 2
18 J. ÜVERBECK, [18
glimmenden, dennoch aber sichtbar genug vorliegenden geschichtlichen
Thatsachen nachspürt.34)
Und hiermit wende auch ich diese Untersuchung, und zwar mit
leichterem Herzen, dem historischen Boden zu, auf den uns Alles hin-
drängt, und auf dem allein die Frage über den Monotheismus des Zeus
als einer concrelen geschichtlichen Erscheinung entschieden werden
kann. Hier, auf historischem Boden haben wir zu untersuchen, ob es
einen, überhaupt einen Monotheismus des Zeus in Griechenland gegeben
hat und welcher Art dieser, oder besser, welcher Art die Religion des
Zeus war, ob sie den Gott als Gott den Göttern und der Natur gegen-
über, oder als einen Gott neben und über den anderen Göttern in der
Natur fasste, ob es eine »transcendentale Gottesidee des Zeus Kronion«,
einen Zeus »als allbelebenden, weltbeherrschenden Allgeist« jemals gab,
ob es wahr sei, was Welcker35) sagt: »die grösste Thatsache, wenn wir
in das höchste griechische AI terthum zurttckgehn, ist die Idee Gottes als
des höchsten Wesens verbunden mit einem Naturdienst,« und ob dies
Monotheismus sei, ob die griechische Religion auf dieser Zwiespältigkeit
des Geistes und der Natur, der Transcendenz und der Immanenz des
Göttlichen beruhe, oder ob man vielmehr wird zugeben müssen, dass
die Einheit des Göttlichen oder das allgemeine Gefühl des Göttlichen wie
0. Müller sich ausdrückte,86) welches allein die insita notitia ist, nicht
weder Gölter was Welcker leugnet noch auch Gott, was er behauptet,37)
in Griechenland in einer Vielheit der Erscheinungsformen, in eine Menge
von ursprünglichen Naturgöttern gespalten auftritt, wahrend sie, die
Einheit selbst sich in dem gemeinsamen Begriffe des Göttlichen und
dieser sich in den Worten fadg und öal/uwv ausspricht, die alle einzel-
nen Gottheiten des Polytheismus, ganz ohne Rücksicht auf ihre indivi-
34) Vergl. Welcker, Götterl. I. S. 6: »Die griechische Religion hat hinter der Zeit
Homer's nicht blos den langen Zeitraum gehabt, der zur Entfaltung und Vereinbarung
so mannigfaltiger und sinnreicher Bildungen bis zu diesem alle anderen Mythologien
weit überragenden Grade der Vollendung und des geistreich freien Spiels der PoSsie
vorausgesetzt werden muss, sondern noch einen anderen, in welchem ein von dem zu
Tage liegenden Zustande der Bildung ganz verschiedener, eine andere Art der Auffas-
sung der Welt und der Gottheit, andere Richtungen und Bedürfnisse des Geistes in
Vorstellung und Gultus herrschend waren.«
35) Götterl. I. S. 129.
36) Prolegomena S. 243.
37) Götterl. t. S. 22 9.
49] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 19
duellen Namen und Functionen gleicherweise bezeichnen.38) Und sowie
wir diesen historischen Boden betreten finden wir ans auch mit Wel-
cker wiederum in vielen Beziehungen in grösserem Einklang, während
wir freilich in der Lage sind , ihn mit seinen eigenen Waffen und Wor-
ten zu bekämpfen wo er über diese Beziehungen hinausgeht.
Vor allen Dingen nehmen wir nun davon Act, dass Welcker selbst
auf griechischem Boden keinen Monotheismus , sondern einen uraltesten
Polytheismus annimmt, so alt wie die Existenz eines griechischen Volkes.
Am unbedingtesten geschieht das im Rhein. Mus. a. a. 0. S. 626,
wo Welcker sagt, dass zu der Behauptung des Hrn. Dr. H.D. Müller, auch
nach ihm habe der Polytheismus erst in Griechenland sich ausgebildet,
»in dem Buche selbst nicht mit einem Worte Veranlassung gegeben« sei.
Inwiefern dieser überaus entschiedene Ausdruck ganz berechtigt sei,
da die Behauptung eines »anfänglich monotheistischen Charakters der
Religion, die transcendentale Gottesidee des Zeus Kronion« (S. 1 80), die
doch nur griechische Verhaltnisse angehn kann, da Zeus Kronion nicht
vorgriechiscb ist, wenigstens leicht misverstanden werden konnte, mag
dahingestellt bleiben, das, worauf es hier vor Allem, ja ganz allein an-
kommt, ist dass Welcker den Polytheismus für so alt erklart wie das
griechische Volk auf dem Boden Griechenlands. Und diese Erklärung in
seiner Antikritik steht keineswegs allein, wenngleich sie die Sache am
unumwundensten ausspricht, auch in der Götterlehre selbst fehlt es nicht
an Stellen , die sich rfur auf einen urallen Polytheismus beziehn lassen,
so die schon angeführten Worte (S. 1 29) : »die grösste Thatsache, wenn
wir in das höchste griechische AI terthum zurückgehe ist die Idee Gottes
als des höchsten Wesens, verbunden mit einem Naturdienst,« so fer-
ner was wir S. \ 6 finden : »bei dem Sonderleben in Gauen war jede
Volksgemeinde eine Welt für sich mit ihrem eigenen Gott ausser
Zeus und etwa einem Fluss oder Nymphen dazu.« Die An-
nahme eines eigenen Gottes neben Zeus und ausserdem des Flussgottes
und der Nymphen darf freilich wohl nicht urgirt werden und durfte
schwer oder unmöglich zu erweisen sein; aber darauf kommt es nicht
an, sondern auf den auch hier deutlich ausgesprochenen Polytheismus.
38) Will man diese in eine Vielheit von NatargÖUern gespaltene Idee der Gottheit
oder des Göttlichen mit Schelling, Philos. d. Mythologie S. 91 einen »auseinanderge-
gangenen Monotheismus« nennen, so habe ich hiergegen im Grunde nur einzuwenden,
dass ich nicht einsehe, was mit diesem nicht eben klaren Ausdruck gewonnen wird.
2#
20 J. OVERBECK, 1^0
Wichtig ist ferner was wir S. 31 lesen: »von keinem der Hauptgötter
kann gesagt werden, dass er nicht auch pelasgisch oder in der pelasgi-
schen Zeit irgendwo verehrt gewesen sei,« denn Pelasgisch ist für Wel-
cker Urhellenisch und über die Pelasger hinaus hört alle geschichtliche
Forschung auf griechischem Boden, deren Grenze so Mancher schon
diesseit derselben ziehn wollte , unbedingt auf, und was als Pelasgisch
anerkannt wird, das bezeichnet die Urzustände des Hellenenthums.
Also nicht nur der eine und der andere Gott neben Zeus constituirt den
primitiven Polytheismus des griechischen Volks auf griechischem Boden,
sondern derselbe erstreckt sich auf alle Hauptgötter, wenngleich diese
noch nicht irgendwie in ein Ganzes vereinigt oder alle von allen Stäm-
men verehrt wurden.39)
Also die urgriechische Religion ist der Polytheismus ; aber damit
ist nicht genug gesagt, nicht nur auf griechischem Boden tritt der Poly-
theismus als primitiv in die Geschichte, wir können vielmehr die Frage
Preller's40) »ist es wirklich der Fall, dass die Griechen wie alle übrigen
zu dem indogermanischen Sprachstamme gehörigen Nationen, ein ge-
wisses Capital polytheistischer und mythologischer Ideen aus der älte-
sten Zeit ihres Zusammenlebens mit den verwandten Völkern schon nach
Griechenland mitgebracht haben« auch in Welcker's Sinne getrost mit
Ja beantworten. Denn so unbegreiflich spröde sich auchWelcker (S. 48)
über die Namenserklärung »aus dem Indischen« ausspricht, so unbedingt
er wie absichtlich die Augen vor den einleuchtend richtigen Erklärungen
vieler Götternamen nicht aus dem Indischen , sondern aus dem indo-
germanischen Urstamm der Sprache verschliesst, die wir der Linguistik
verdanken und die z.B. ein Mann wie Preller, wenn auch mit höchlich
anzuerkennender Vorsicht und Kritik adoptirt hat: einige Ableitungen
hat auch Welcker (S. 12) anzuerkennen nicht umhin gekonnt, und S. 9
hat er, was viel entscheidender ist , anerkannt: »die Religionen dieser
(arischen) Völkerfamilie haben eine allgemeine Obereinstimmung in ihrem
Bezüge zur Natur und zum Polytheismus, wodurch sie sich stark
39) Gegen eine solche Vorstellung und für die gewiss und nachweislich allein
richtige, dass der populäre Polytheismus in seinem ganzen Bestände erst das Resultat
der Stammmischungen und des Cultusaustausches sei spricht sich Welcker klar und
entschieden eben in diesem Abschnitt (7) und in dem früheren (5) «VielstBmmigkeil«
überschriebenen aus.
40) Jahns Jahrbb. a. a. 0. S. 39.
34] Beitrage zcr Erkenntniss ukd Kritik der Zeusreligion. 21
von den Semiten unterscheiden,« [?] und daselbsl weiterhin : »Auch in
der Mythologie wird das Gemeinsame in Hauptsachen und besonders
auch in charakteristischen NebenzUgen immer reiner und bedeutender
hervortreten , je mehr man sich auf das Einleuchtende und Erweisliche
beschränkt.« Gewiss! Zu den Hauptsachen aber gehört der bei allen
diesen Volkern, soweit unsere Forschung dringt primitive Polytheismus;
und eben dahin rechnet auch Welcker S. 12, wenn ich ihn nicht mis-
verslehe: »die aus der Urheimat mitgebrachten verdunkelten Sagen und
Vorstellungen von einer allgemeinen Flulh , von einem Götterberg, von
Weltallern u. s.w., manche gemeinsame Thiersymbole« u. s.w. Einen
wie ausgebildeten , ja eigentlich schon gegliederten Polytheismus dies,
namentlich der Urolymp als gemeinsame Götlerwohnung aber voraus-
setze oder einschliesse, brauche ich doch wohl nicht erst auseinander-
zusetzen. Und so rückt der primitive Monotheismus auch historisch vom
griechischen Boden auf den der arischen Urheimat und von diesem immer
weiter und immer weiter hinaus, bis er sich zu einem blossen Axiom
verflüchtigt , das nun aber nicht mehr zu einer tieferen Erklärung der
Thatsachen der griechischen Religion dienen kann , wohl aber zu deren
schiefer Beleuchtung Denn eine solche scheint es mir zu sein, wenn
Welcker diesem axiomatischen Monotheismus zu Liebe die griechische
Religion wie sie sich uns in ihren ältesten erkennbaren Zuständen zeigt,
als einen Abfall von der grossen Idee, und als eine Entartung, bedingt
durch die Verwilderung der Sitten und der Bildung darstellt, und wenn
er den sich im homerischen Göttersyslem offenbarenden bewussten
monotheistischen Zug als eine »Wiederaufrichtung* des nur als eine
Tradition aus dem axiomatischen primitiven, d. h. uneigentlichen und
nicht begriffenen Monotheismus, dieses »Erbtheils der Menschheit« schil-
dert.
Doch genug dieser allgemeinen Betrach Lungen, in die ich wahrlich
nicht eingetreten wäre, wenn mich nicht Welcker's Beweisführung dazu
gezwungen hätte, und zwar deshalb nicht, weil durch sie an und für
sich über das Wesen der Zeusreligion und über deren Verhältniss zum
Naturdienst, ausser- und oberhalb oder innerhalb desselben letzthin nicht
entschieden werden kann. Der Frage über den Charakter der Zeusreli-
gion als einer concreten historischen Thatsache ist nun direct und auf
anderem Wege nahe zu treten.
22 J. OvERBBCK, [2*
Wir haben mit dem Namen des Zeus zu beginnen.
»An der fernsten Grenze des griechischen Alterthums treten uns
die Wörter &eog und datfiwv und die Namen Zevg und Kqoviwv ent-
gegen: etwas Alleres giebt es für uns in der griechischen Religion nicht.«
So beginnt Welcker, Götterlehre 1. S. 129 den Abschnitt seines Werkes,
dessen Aufgabe es ist, darzuthun, dass Zevg und &eog derselben Wurzel
und desselben Begriffs und dass Zevg aus &eog »durch die Individual-
form gesteigert« (S. 133) »als Gott, von Anbeginn als persönlich gegen-
über der Welt« (a. a. 0.) zu fassen sei. Gleich hier muss ich, um ferne-
rer Consequenzen willen , Einspruch erheben. Allerdings ist über den
Namen des Zeus hinaus Älteres für uns im griechischen Alterthum nicht
erforschbar, womit aber noch nicht ausgesprochen ist, dass Anderes,
dass anderer Götter Namen jünger sein müssen ; auch die Wörter &eog
und daifimv treten für unsere Erkenntniss als Urworte auf, und zwar
als Bezeichnungen alles Göttlichen, jeder Gottheit schlechthin, wobei die
Einheit oder Vielheit dieses Göttlichen, der Gottheit oder der Gottheiten
gänzlich unberührt bleibt. Dass aber auch Kqovlwv ein solches Urwort
sei, dies bestreite ich, so feierlich es Welcker wiederholt41) behauptet,
auf das entschiedenste. Ich hoffe zu beweisen, dass es den Zeus nur
als Sohn des Kronos, eines persönlichen Kronos (nicht Chronos) be-
zeichne, dass es ihn als einen Geborenen darstelle, ihn, der in den älte-
sten Gülten entweder ausdrücklich als von Ewigkeit her gewesen be-
zeichnet wird,42) oder von dessen Geburt, Geboren- also Endlichsein
vor dem Eintritt des kretischen Mythus niemals die Rede ist.43) Aber
eben so wenig ist in irgend einem der ältesten Culte auch nur zufällig
von Eronion die Rede, selbst nicht im Gebete des Achill (II. 16. 233)
bei Homer, dem doch die Formel Zeus Kronion so gar geläufig ist. Ich
behaupte also, um über meine weiterhin genauer zu begründende An-
sicht keinen Zweifel zu lassen, schon hier, dass Kronion sich in keiner
41) Götterl. \. S. MS.
42) Bekanntlich im dodon&ischen Peleiadenhymnus bei Pausan. 10. IS. 5:
Zevg rjv, Zivg iori, Zevg eaatrat.
43) Das relativ geringe Alter aller Gebarte- und Kindheitssagen des Zeus be-
hauptet und bespricht Welcker, Götlerlehre 2. S. 234 ff. ganz auch meiner Überzeu-
gung gemäss.
33] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 23
älteren Quelle findet, als bei Homer und in denen von Homer abwärts,
denen der kretische Mythus geläufig, denen Zeus ein Geborener ist, ein
jüngerer Herrscher in einem neuen Reiche nach der Herrschaft eines
alteren in einem von Zeus gestürzten Titanenreiche, und dass folglich
Zeus Kronion aus dem kretischen Geburtsmythus stammt.
»Hiernach (nämlich nach dem Inhalte des oben ausgezogenen Satzes)
fährt Welcker a. a. 0., fort, waren von Anbeginn Gott und Götter diesen
Völkern (wenn auch nicht allgemein) als himmlische und geistige, Zeus
als der ewige Himmelsgott, im Gegensatze alles Gewordenen, Sichtbaren
bewusst.« Zeus als der ewige Himmelsgott beruht für Welcker auf der
Formel Zevg KqovI(ov9 die, von Kronos-Chronos abgeleitet, den »Sohn
der ewigen Zeit« d. h. den Golt von Ewigkeit her bezeichnen soll.44)
Dass ich dies bestreite ist bemerkt. Was aber die Idee selbst anlangt,
so könnte sie dennoch richtig sein, und sie ist's auch in gewissem Sinne,
sofern Zeus in seinen ältesten Gülten als gewesen, seiend und sein wer-
dend oder wenigstens nicht als geboren oder geworden genannt wird;
Letzteres aber ist nicht bei ihm allein der Fall, auch bei den anderen
Göltern , selbst bei denen , die nachher im nationalen System als Zeus9
Kinder erscheinen, um von den Urmächten, Gäa, Okeanos, Helios u. A.
nicht zu reden ; auch bei diesen ist in den ältesten Gülten von keinem
Geborensein die Rede, und noch für Homer sind die Götter &eoi aeiy^v^
ra*;45) die Eltern, die Genealogien sind in allen Fällen jünger als die
Götter, wie dies auch logisch gar nicht anders sein kann, da der Gott
als Gegenstand des Cultus doch erst an sich da sein musste, ehe man
ihm Eltern geben und durch die Genealogie aufwärts seine Würde er-
höhen konnte, wie Welcker sich einmal gut ausdrückt.46) Nicht also bei
Zeus allein ist dies Nichtgeborensein, diese Anfangslosigkeit charakteri-
44) Götterl. I. S. 140 f.
45) H. t. 400. Wenn Welcker Götterl. i . S. 4 84 dies und andere Prädicate »von
Zeus auf die Götter übertragen« nennt, so ist dies ein Axi om auf das ich zurückkom-
men muss.
46) Götteri. 4. S. 4 52. Dasselbe hat auch Buttmann, Mythol. 2. 48 eingesehn,
M-enn er sagt: »der oberste Gott jeder Nation ist ein wahrer, d. h. ein Erfahrungsgott;
der Vater sowohl wie der Grossvater, den die Mythologie ihm giebt, sind philosophi-
sche, ergrübette Götter«, nur dass die Bezugnahme auf den obersten Gott allein , die
hier durch den Zusammenhang gegeben war , unstreitig die Sache zu eng fasst. Jeder
an und für sich verehrte Gott ist ein wahrer, d. h. ein Erfahrungsgott, sonst wäre er
eben gar nicht.
24 J. OVERBBCK, [24
stisch, sondern sie ist ein Prädicat des Göttlichen, aller Gottheit Über-
haupt gegenüber der Endlichkeit des Menschlichen. Und grade so wie
alle anderen Götter einzeln und nach und nach als geboren gefasst
werden, nicht um sie dadurch in ihrem Wesen zu beschränken oder in
dem Bewusstsein, dass dieses wirklich geschehn, sondern um ihre
Würde zu erhöhen, indem man ihnen in der Zeit des lebhaft erwachten
Ahnenstolzes der adeligen Geschlechter hochadelige Ahnen gab , Eltern
erfand und dichtete, grade so, nicht anders, und im Zusammenhange
mit eben diesem Triebe 9 mit eben dieser genealogischen und theogoni-
sehen Umdichtung ist auch Zeus zum Geborenen geworden, ist ihm ein
Elternpaar gesucht und gedichtet worden, wie dies Motiv Niemand kla-
rer ausgesprochen hat als Welcker selbst. 47) Fassten also hiernach die
Griechen von allem Anfang an ihre Götter, die Gottheit als ewig, so
zeigt andererseits das Wort daifitov, das ebenfalls wieder, so weit unsere
Forschung zu dringen vermag ein allgemeines Prädicat des Göttlichen,
aller Gottheit ist, dass sie ihre Götter als Wissende, als Geister,48) Geister
der Natur fassten, welche sie, wie Welcker (S. 216) darthut, nicht als
Materie, als blosse Erscheinungen, als die todte Natur angebetet haben,
sondern in der ihnen die bewegenden, die Erscheinungen und das
menschliche Dasein bedingenden Kräfte als göttlich, als lebendig, geistig
erschienen, diese Kräfte, die sie als persönlich fassen nach dem unaus-
weichlichen Gesetze notwendiger Personification,49) dass wir Kraft
überhaupt nicht unpersönlich denken und fassen oder wenigstens vor-
stellen können, sondern sie, wofern wir uns nicht mit dem blossen
Worte begnügen, auf einen Willen, also eine Person, Gott zurückführen
müssen, was wir auch nicht weniger, wenn auch anders (hun, als es die
alten Heiden und alle Naturreligionen thaten, nur dass diesen die Idee
der Transcendenz und des Supranaturalismus Gottes abging, welche die
47) Götter!. 4. S. 149: »Zu einer Zeit, wo etwa Apollon's oder anderer Götter
Geburls fest als das heiligste gefeiert wurde, durfte der Mythus sich nicht scheuen, auch
den Kronos im eigentlichen Sinne als Vater zu fassen« u. s. w.
48) Welcker, Götter]. I. S. 4 38 f. Preller, Mythol. 2. Aufl. S. 87.
49) Die Naturreligion schafft nicht blos leicht antbropomorphische Bilder göttlicher
Wesen oder Kräfte, wie Welcker Götter!. 1. S. 231 sagt, sondern sie muss sie schaffen,
menschengestaltige und menschenartige , weil man im Bilde der Gottheit nicht hinab-
steigen kann und des Menschen höchstes Denken der Mensch ist. Dass Gott in der
Mosaischen Urkunde den Menschen nach seinem Bilde schafft kehrt die Sache nur
scheinbar und dem Ausdrucke nach um.
25] Beitrags zur Erkenntniss und Kritik der Zkisreligiok. 25
Einheit bedingt. Ewige Geister der Naturkräfte also waren die griechi-
schen Götter, ob sie auch »himmlische« waren, wie Welcker meint, das
hangt von der sprachlichen Erklärung von fadg und von dessen Ver-
hältniss zu Zevg ab. Welcker hat die gewichtigsten linguistischen Zeu-
gen für die Erklärung von Zeus als dyaus von /div also für Zeus als
den Gott des leuchtenden Himmels und Tür die Ableitung von fcög aus
derselben Wurzel theils angeführt,50) theils ausgezogen.51) Das Erstere,
die Erklärung des Zeusnamens ist unbestritten und scheint unbestritten
bleiben zu sollen ; gegen das Letztere, die Ableitung von &eog aus der-
selben Wurzel hat Georg Curtius0-) Widerspruch erhoben. So Triftiges
mir nun seine Gründe auch zu enthalten scheinen werde ich mich wohl
hüten, mich in diesen Streit der Linguisten zu mischen oder in demsel-
ben Partei zu ergreifen;55) auch wird dies zu meinem Zwecke nicht
nöthig sein , da ich nicht die Natur des Göttlichen schlechthin in der
griechischen Urreligion zu untersuchen mir vorgesetzt habe , da es mir
daher gleichgiltig sein kann, ob die Götter ausser als ewige Geister auch
noch als »die Angebeteten«54) oder als »die Himmlischen« bezeichnet
werden. Das worauf es mir ankommt ist die Natur des Zeus ; dass er
der Himmlische sei steht fest, dass aber Zeus und &edg nicht so iden-
tificirt werden dürfen oder so promiscue gebraucht worden sind, wie
dies Welcker mit grossem Nachdruck lehrt , das lässt sich , auch abge-
sehn von allen etwaigen linguistischen Differenzen , wie ich denke aus
anderen Gründen erweisen.
»Von der höchsten Wichtigkeit nun ist es, sagt Welcker (S. 1 32 f.),
dass von dem Appellativum &eds, &eol durch die Form der Name des
einen, bestimmten Ztvo, unterschieden wird, welcher die Bedeutung des
Wortes in sich schliesst, aber dadurch, dass er durch die Form von den
Göttern geschieden und eine Persönlichkeit ist, als Gott der Götter,
50) Götterl. 4. S. 134 Note 4.
54) Daselbst S. 430 ff.
♦
52) Grundzüge der griechischen Etymologie 4. S. SSO, vergl. S. SOS.
53) Preller beobachtet, Curtius anführend, Mythol. 2. Aufl. S. 87 dieselbe Zurück-
haltung, und wenn man sich erinnert, wie vornehm die Herren Linguisten uns arme
Philologen gelegentlich behandeln, so muss dies sehr natürlich erscheinen; unsere
Selbständigkeit der Linguistik gegenüber opfern wir damit nicht und wollen wir nicht
opfern.
54) DÖderlein bei Curtius a. a. 0.
26 J. OVERBECK, [26
ihnen, welche durch ihre besonderen Eigennamen besondere Kräfte,
Eigenschaften , Wesen ausdrücken , gegenübergestellt wird , also nicht
ein Gott unter den Göttern, sondern auch vorzugsweise oder überhaupt
Gott, die Gottheit ist. Dass von Alters her Zeus wenigstens im Allge-
meinen in diesem seinem höheren und absoluten Sinn aufgefasst worden
sei, geht in der That aus seinem von den Göttern der Mehrheit ihn un-
terscheidenden, und doch Gott bedeutenden Namen hervor«
Gott bedeutenden Namen? Dies ist entschieden unrichtig; Zeus: dyaus
bedeutet nicht Gott, sondern Himmelsgott, Himmel, Glanz als Gott, und
eben so sollen ja die &tol, wenn Curtius nicht Recht haben sollte, nicht
»die Götter«, sondern «die Himmlischen, die Glänzenden« sein. Der Über-
gang der Bedeutungen Himmel und Gott in einander, von dem Welcker
(S. 1 30) redet, ist unbestritten, aber er muss hier nur richtig angewen-
det werden. Wenn wir »Himmel« für »Gott« sagen , so tibertragen wir,
abgesehn davon, wie starken Antheil an der Sache eine gewisse euphe-
mistische Scheu hat, die Idee des Göttlichen auf das Himmlische ; wenn
aber Zeus und fcog aus einer /div kommen, so bezeichnet diese nicht
zunächst das Göttliche (wie unser Gott von gut55)), sondern es bezeich-
net zunächst das Himmlische , Leuchtende ; die Alten also übertrugen
grade umgekehrt das Himmlische auf die Idee der Gottheit, sie nannten
die Gottheit »himmlisch«, der Himmel, der Glanz war ihnen das Primi-
tive, aus dem sich die Idee des Göttlichen erst entwickelte oder mit
dem das Göttliche designirt, sinnlich -geistig genannt wurde.06) Also
55) Grimm, Geschichte der deutschen Sprache S. 541.
56) Vollkommen bestätigt dies was Welcker S. 4 35 aus Max Möller's Darstellung
mittheilt : »wir sehn , dass sie [die Arier] bevor ihre Trennung statthatte einen Namen
für einen Gott [wohlgemerkt nicht für Gott, die Gottheit] hatten, welcher den Glanz
der Sonne, Himmel und Tagslicht ausdruckt« und das. »es war ein gluck-
licher Wurf der Sprache, das ahnungsvolle Gefühl des Daseins einer göttlichen Macht
durch ein Wort auszudrücken, welches Licht bedeutet.« Und gleicherweise stimmt
hiermit die a. a. 0. in der Note 47 mitgetheilte Ansicht von Max Schmidt: »dass Jupiter
der Tages-, Himmels-, Sonnengott sei ; denn die Spuren der waltenden Gottheit,
die sich in der ganzen Natur offenbaren, vermochte der Mensch nicht sofort unter
einem Begriff zusammenzufassen ; vielmehr glaubte er zu jeder Erscheinung der Natur
ein besonderes Wesen annehmen zu müssen , das jene Erscheinung hervorbringe, —
den Tag, den Himmel, die Sonne natürlich als die oberste, höchste Gottheit, weil diese
Natorkraft die gewaltigste unter allen zu sein schien.« Das trifft denn freilich den Nagel
genau auf den Kopf! Auch Hr. Dr. H. D. Müller hat diesen Punkt im Philologus a. a. 0.
S. 554 durchaus richtig beleuchtet, und Welcker hat ihm hierauf Nichts geantwortet.
27] Beiträge zua Emcbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 27
nicht »das Wesen der Götter, Geist, UnvergttnglichkeiU wird in Zeas'
Individualnamen gesteigert, wie Welcker S. \ 33 sagt, sondern der Göt-
ter Wesen: himmlisch, leuchtend; und daraus folgt nicht ein alleiniger
Gott über dem All, oder ein dem sichlbaren All entgegengestellter, wie
Welcker meint, sondern es folgt daraus ein specifisch himmlischer, Him-
melsgott, ein mehr als die anderen Götter himmlischer, glänzender, ein
höchster und vornehmster Gott, aber dennoch nur ein Gott neben Göt-
tern, ein primus inter pfares, was denn Zeus auch durch eine weite, fast
durch die ganze Entwickelung hin bleibt. —
So wenig aber Zeus seinem Namen und dessen primitiver Bedeu-
tung nach der Gott über den Göttern der Natur, der alleinige Gott ist,
eben so wenig ist das richtig, was Welcker über Gleichsetzung von
Ztvg und &cög gesagt hat.*7) Gleich auf derselben Seite 133 lesen wir:
»es lässt sich daher im grammatischen Sinne verstehn was wir im Etym.
M. lesen Zeiig, 6 &eds p. 408. 52;« lässt sich, ja, wenn wir dem Gram-
matiker Welcker' sehe Einsicht auf Grund Welcker'scher Hypothese zu-
trauen wollen; aber irren werden wir dabei jedenfalls, da der ehrsame
Lexikograph an gar nichts Anderes gedacht hat, als zu sagen : Zeus, der
bekannte Gott, nämlich der, dessen Namen Kornutos so und so, Andere
anders ableiten, wie es im Fortgange des Artikels heisst , grade so wie
wir bei demselben p. 24. 54 lesen ^{hjvaia, ij &e6g9 und p. 434. 44
~H()a, tj &€og u. s. w. was natürlich nicht anders zu verstehn ist als
p. 604. 40: Nt]Q€VQ> 6 &ccXao(uog daifimv und Ahnliches, was sich bei
allen Götternamen wiederholen würde, wenn nicht der Grammatiker
meistens gleich zu Anfang durch orthographische und sonstige Quis-
quilien von der Erklärung abgehalten würde.58)
Aber nicht allein von diesem späten Sprachgebrauche lässt sich
behaupten, oder muss bestimmt behauptet werden, dass er keineswegs
nach Welcker' s Annahme Zeug und &eog gleich setzt, auch in Beziehung
auf den früheren und frühesten von Homer an abwärts hat Welcker Glei-
ches mit Unrecht angenommen. Auf S. 1 80 seiner Götterlehre, wo wir
dem anfänglich monotheistischen Charakter der Religion und der tran-
57) Dass Preller, Mythol. 2. Aufl. S. 85 dies ohne Bedenken befolgt nimmt mich
Wunder.
58) Yergl. z.B. p. 277. 35: Jiowaog' ol fup äibvv\ov ovtop 6vo(aoCov<hp und
wieder p. 280. 5 dubwooq* xcct ixraotv x. r. A. p. 376. 20 'Epfifjg' nugii rb igdi
ro Xt'yat. und so fort.
28 J. OvERBECK, [«8
scendentalen Gottesidee des Zeus Kronion wiederbegegnen, bat Welcker
eine Anzahl homerischer und nachhomerischer Dichterstellen ausgeho-
ben, durch welche er glaubt beweisen zu können, »dass schon bei Homer
Zeus zuweilen gleichbedeutend mit &eog, tö &eiop9 neben &eog oder
damit abwechselnd gebraucht ist, so wie später &eög oder &eol gesagt
wird.« Es ist nöthig, diese Stellen, die Welcker doch sicherlich nicht
aufs Gerathewohl zum Nachweis des homerischen Gebrauchs von &eog
aus dem Damm'schen Wörterbuche, das er S. 181 citirt, herausgegriffen
hat, im Einzelnen näher zu betrachten. Die erste II. 13. 730:
aAXco fiiv yaQ edwxe &eög noXe/UTjia tyya,
aXko <F iv avq&eooi n&el voov evQvona Zeig.
will ich als zweifelhaft gelten lassen; sie beweist nicht, dass in ihr #eo£
und Zeus gleichbedeutend oder parallel stehn , da auch &eog ng ver-
standen werden kann, obwohl nicht muss ; sie ist nach den übrigen zu
beurteilen. Die zweite II. 19. 86 ff. geht Zeus gar nicht an, wie es aus
Welcker' s Anführung scheinen könnte, der mit vs. 90 abbricht, während
vs. 91 zeigt, dass der vs. 90 genannte &eog die Ate sei:
&eog dia navra rekevra
nqeaßa dibg &vydtt]Q "At^, rj navrag äärcu.
In der dritten, Od. 4. 236
araQ &eog äXXor tri aXk(p
Zevg äya&ov re xaxov re dtdot,
steht Zevg in Apposition zu &eog grade wie &ea yXavxwTtig sJ&rjvt] oder
noch genauer und zwar ganz genau so wie Od. 1 9. 396 :
&eog de ol avrog edwxev, 'Eqfieiag.
In der vierten, Od. 14. 440:
qi& ovrwg Evfjuue9 (pikog Alt naxql yevoio
mit der Antwort : &eog de ro fdv dtooei, ro d* idaei ist das &eög sicher
nicht Zeus, sondern: ein Gott , jeglicher Gott; und dass in der fünften,
Od. 3. 231 ebenfalls so verslanden werden muss, wie Voss auch rich-
tig einsah oder fühlte als er »ein Gott« übersetzte, dies geht um so
sicherer daraus hervor, dass vorher v. 228, auf welchen sich der an-
gezogene Vers als Antwort bezieht, die &eo$9 nicht Zeus genannt sind:
ovx av efioiye
iknofidvq) rä yevoir, ovo* ei &eoi äg e&Houv
231 : Q€ia &eog yi&e'X&v %ai Ttjko&ep avÖQa occwoai
29] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zbusreligion. 29
Sowie in dieser letzten Stelle in faög ein Bezug auf Zeus angenommen
ist, ohne dass von diesem überhaupt die Rede war, so ist auf der-
selben Seile weiterhin gesagt, was ich schon oben berührt habe, »dass
Prädicate von Zeus auf die Götter übertragen sind , wie fcol rä navra
Övvuvtcu oder ioaoiv (Od. 10, 309, 4. 376), ötoi äiiyeverai (II. 2. 400
vgl. 2. 400, 3. 296, Od. 23. 81 u. sonst) , als ob Zeus und die Götter
eins wären, wie Gott durch den Plural Elohim ausgedrückt wird.«
Hier fehlt aber wie ich wiederholen muss jeder Schatten eines Be-
weises für diese angebliche Übertragung, und ich kann nicht umhin zu
glauben, dass nur die Voreingenommenheit für seinen transcendentalen
Zeus Kronion Welckern veranlassen konnte, Prädicate des Göttlichen
überhaupt als von Zeus auf die Götter übertragen aufzufassen , worin
ihm so leicht ein Anderer, der die Sache im Zusammenhange prüft,
nicht folgen wird. Das aaiytvirai, dem auch noch das cuev eovreg (z. B.
Od. 3. 1 46) entspricht , kann doch nicht ernstlich irre führen ,") da es
entweder aus dem uralten Begriffe der ewigen, ungeborenen Götter
(nicht nur des Zeus, oben S. 23 f.) heraus gesagt ist, trotzdem die home-
rischen Götter geboren sind , oder da es in derselben Weise uneigent-
lich , wenn auch ohne Bewusslsein dieser Uneigentlichkeit gebraucht ist
wie das Prüdicat der Unsterblichkeit bei Göltern , die fürchten müssen,
von Menschen umgebracht zu werden, wie z.B. Kirke, oder die elendig-
lich umgekommen wären, wie der von den Aloaden eingesperrte Ares,
wenn er nicht in der zwölften Stunde noch von Hermes gerettet wor-
den wäre.
Nicht besser aber als mit den besprochenen homerischen Stellen
steht es mit denen der späteren Dichter, die Welcker S. 1 80 in der
Note 1 anführt; überall ist ohne Zwang &eog rig oder &eäv reg zu ver-
stehen , und dass in der That so nicht nur verstanden werden könne,
sondern auch verstanden werden müsse, dies geht ans dem Wechsel
oder der Parallele des fcög mit &eol, später mit ro &eior9 ro daifioviov
hervor in Stellen, die zum Theil Welcker selbst anführt. Es handelt sich
59} Ebenso wenig das Ztvg xal faol oder vollends &sol akkot, das Preller a. a. O.
bei dieser Gelegenheit anzieht und mit Jupiter ceterique dii vergleicht; da Zeus als
König der Götter den anderen voransteht und da die &tol aXkoi ihn so recht als primus
inter pares zeigen. Analog kommt: i'Eavia nymavtlq xal to7q aXXoig &to7g naot* in-
schriftlich vor Corp. Inscr. Add. Tom. 2. p. 1059, Hestia als die zeitweilig zuerst be-
rücksichtigte voran wje sonst Zeus.
30 J. OVERBBCK, [30
liier eben Überall um Prädicate des Göttlichen schlechthin ,"*) des Gött-
lichen, das im Polytheismus in viele einzelne Glieder gespalten, die
Einheit des Gemeinsamen in dieser Vielheit bildet, aber es handelt sich
nicht um Zeus , der auch hier überall mit in der Vielheit ist.
3.
Nachdem ich im vorstehenden Abschnitte zu zeigen versacht habe,
dass Zeus seinem Namen nach nicht der absolute, transcendente Gott,
sondern der Gott des Himmels , also von allem Anfang an ein an ein
Naturgebiet gebundener Gott sei wie alle übrigen Götter, und dass auch
die dichterische Sprache ihn nur graduell, nicht specißsch von den
anderen Göttern unterscheidet, müssen wir uns jetzt den hauptsäch-
lichen Cullen des Zeus als den ältesten Zeugnissen für sein Wesen zu-
wenden. Und wenn sich nun aus deren unbefangener Prüfung unzwei-
felhaft ergeben wird, dass Zeus in keinem derselben als Gott schlecht-
hin , sondern durchaus nur als Gott des Himmels je nach dessen ver-
schiedenen Erscheinungen und Einflüssen auf das Erdenleben verehrt
worden sei ,61) so wird man sich nicht entbrechen können einzugestehen
dass Zeus' Erscheinung in der homerischen und nachhomerischen Poesie
und Kunst , dass seine ganze jehovahartige Herrlichkeit und seine An-
näherung an die reine Göttlichkeit einer Steigerung der Ideen im Zu-
sammenhange mit dem Fortschritt in der Bildung der Nation angehört.
60) Vergl. hierzu Lehrs* popul. Aufss. S. \ 28 f., wo namentlich der Satz zu unter-
schreiben ist : »bis zu diesem (vorher bestimmten) Grade supponirter Persönlichkeit
kann Gedanke und Anschauung dem Griechen in Beziehung der Einheit seiner Götter-
Vielheit vorgehn; aber Gestalt kann dieser Gott nie gewinnen« u. s. w. Auch das
Folgende zeigt und macht recht fühlbar , dass und warum unter diesem allgemein ge-
setzten &tb<; neben fttiov und Öaifioviov nicht Zeus gemeint sein kann
6t) In Beziehung hierauf muss ich wieder Hrn. Dr. H. D. Müller a. a. 0. S. 556
vollkommen zustimmen wenn er sagt: »sodann, und das ist die Hauptsache, stellt sich
in mehren uralten Culten und den daran sich knüpfenden Mythen, wenn man sie ge-
hörig analysirt, das Wesen des Zeus in einer Auffassung dar, welche keine Spur von
dem transcendentalen , ewigen Gotte zeigt , sondern deutlich erkennen lässt , dass er
wesentlich auf derselben Grundlage erwachsen ist, wie die übrigen grossen Götter.«
Was dann folgt ist freilich wieder gänzlich verkehrt.
31] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 31
und zwar derselben Steigerung, die Welcker unübertrefflich geschil-
dert10) and deren Bewusstsein in der Nation selbst er in dem Mythus
vom Titanenkampfe, soviel ich verstehe mit Recht, gefunden hat;03)
einer Steigerung aber, die nicht Zeus allein, sondern die alle grossen
Götter betroffen hat , indem sie alle aus Nalurgeistern , als welche sie
den Göttern der Barbaren gleich waren ,6i) zu sittlichen und intelligenten,
gesteigert menschenartigen Wesen wurden , **) so dass also in der grie-
chischen Religion ein grossartiger Fortschritt auf die Religion des Gei-
stes hin staltgefunden hat und zwar ein , so weit unsere Forschung
reicht, stetiger, nicht aber ein von einem Rückschritt unterbrochener
von einer hypothetischen reineren Urreligion zu einer verwilderten und
verflachten , aus der die Reform erst wieder umkehren musste.
Der älteste Hauptsitz des pelasgischen urgriechischen Zeus war
bekanntlich inDodona, aber nicht in dem später allein bekannten in
Epirus, sondern in einem früh untergegangenen und vergessenen in
Phthia. Diesen Satz hat Welcker, Götterl. 1 . S. 1 99 f. , indem er daran
62) In den »die Reform« überschriebenen Abschnitten 50 f. seiner Götterlehre.
63) Daselbst Abschnitt 56 f.
64) Vergl. Welckers Götter). Abschnitt 46 f.
65) Dass freilich die Götter der reformirten Religion von den ursprünglichen
Göttern der Natur so durchaus verschieden gewesen seien, wie es Welcker behauptet
(S. 230 u. sonst), kann ich nicht zugestehen, obgleich dies die Ansicht auch derer Aller
ist, welche die Genesis der griechischen Götter aus der Natur läugnen. Mir, und nicht
mir allein, hat immer geschienen, dass der Nabelstrang, der die aus der Natur ge-
borenen Götter mit dieser verbindet, nie vollkommen gelöst oder durchschnitten wor-
den, obgleich er bei einigen leichter und deutlicher bei anderen weniger deutlich zu
erkennen ist ; die poetischen Götter haben ein doppeltes Walten , in der Natur und
zwar in bestimmten Kreisen und dann über der Natur im Gebiete des Geistigen nach
dem Allgemeinbegriff des Göttlichen; aber in jenem Walten in bestimmten Kreisen der
Natur ist das Band das sie mit der Natur verbindet erhalten, und wie Vieles auch in
den rtfiai und Tegra* der Götter, um mit Herodot zu reden, durch die ursprüngliche
Naturwesenheit bedingt sei ist auf vielen Punkten bereits zur Evidenz naehgewiesen.
Dass in dem Nachweis dieser »Übertragungen« aus dem Naturgebiet in das Ethische
mancher Leichtsinn und manche Seichtheit sich laut gemacht hat, konnte die allge-
meine Erkenntniss wohl aufhalten, gefährdet aber die Sache nicht, und dass kein
Göttername, kein Mythus, wenigstens kein echter und alter aus dem poetisch geistigen
Wesen erklärt werden kann, dies kann nur denen verhüllt bleiben, auf die weil sie
speculiren anstatt Historisches historisch zu erforschen der Ausspruch des Goethe' sehen
Mephisto Anwendung findet. Von »Umgestaltung« bei der »Eins auf das Andere ge-
folgt sei« spricht auch Welcker selbst a. a. 0. S. 226.
32 J. OVERBRCK, [32
erinnert, dass schon die alte Kritik eingesehen hat, der von Achill
II. 16. 235 angerufene Zeus dodonäos pelasgikos müsse dem Heimath-
lande des Betenden angehören, meiner Einsicht nach mit unwiderleg-
lichen Gründen und zur vollen Evidenz erwiesen.66) Nicht beistimmen
kann ich jedoch dem einen Grunde, den Welcker in der Note unter an-
deren geltend macht, und dem ausführlicher zu widersprechen um der
ziemlich weitreichenden Consequenzen willen nothwendig ist. Welcker
meint nämlich , das thesprotische Dodona sei nicht Svöx^/n^og und der
dvaxeifieQog J. in Thessalien komme »die thesprotische Eichet nicht zu.
Ersteres ist ohne allen Zweifel richtig,07) Letzteres nicht. Denn erstens
wird daran zu erinnern sein , dass ein Ort nach griechischen Begriffen
sehr > schwerwinterlich« sein und doch die herrlichsten yrjyot hervor-
bringen kann; wer kennt nicht die »rigida Bologna« der heutigen Ita-
liener, und wer weiss nicht, dass dort nicht allein Eichen, sondern
auch Lorbeern und andere immergrüne Laubhölzer wachsen? Und was
würde ein alter Epiker von der ionischen Küste wohl zu unserem Klima
sagen, die wir doch Eichen haben so schön man sie wünschen mag?
Um den Satz, der schwerwinterlichen Dodona komme der (pTjyoc nicht zu,
aufrecht zu erhalten müsste man das t^Aolt* vaiwv im achilleischen Ge-
bete mit einem Scholiasten auf Bergeshöhe und das dvc%ei[juQog auf den
beschneiten Berggipfel bezieh n, wie Welcker dies auch tbut; aber mit
Unrecht; tijXo&i nebst rijte und rtjkov heisst stets fern, in der Ferne
von dem Redenden , nie fern in der einsamen Höhe oder hoch. Und in
diesem Sinne: fern von Achill, fern von Ilion, in der fernen Heimath,
wie es auch ein anderer Scholiast richtig versteht muss das TtjXa&t im
Gebete Achills auch ganz unzweifelhaft gefasst werden: den Gott in der
eigenen fernen Heimath, seinen Gott ruft Achilleus an, seinen Zeus,
den pelasgischen , den er von dem Zeus *Idtj&ev pedecov, an den er sich
näher wenden könnte, wenn es sich hier blos um Zeus schlechthin
66) Ich kann die Motive nicht ermessen, nach denen Preller, Mytbol. 9. Aufl. S.96
Welckers Lehre nur so halbwegs und gleichsam beiläufig anerkennt.
67) Wenn daher Preller a. a. 0. Note 3 das dvox*i(**Qog auf Tbesprotien be-
ziehn will, indem er es auf die dort, in der Gegend von Janina nach dem Zeugnisse
Leake's häufiger' als irgendwo sonst vorkommenden Gewitter bezieht, so kann ich ihm
durchaus nicht zustimmen ; Gewitter und Gewitterstürme können durch dvox*i(i*Qoe
für eine Gegend nimmer ausgedrückt werden, am wenigsten für die Gegend um das
thesprotische Dodona, wie wir sie aus antiken und modernen Zeugnissen kennen.
33] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 33
handelte , unterscheidet. Dies ist die sprachlich und sachlich ein-
fache und natürliche Interpretation der Stelle, die andere: rrjXo&i für
fern in der Höhe, im Äther, die ein höchst Bedeutendes als unnötiger-
weise versteckt betrachtet, da es auf der flachen Hand lag ai&eQi vaiwv
zu schreiben,68) wenn dies gemeint war, ist sachlich gekünstelt und
schroff und sprachlich mindestens bedenklich. Was aber die Eiche an-
langt, auf die mir Alles ankommt, und welche dem phthiotischen Do-
dona vindicirt werden muss, wenn man in das Wesen des dortigen
Zeus Einsicht gewinnen will , so ist es freilich richtig was ein Scbo-
Hast60) angiebt, dass Homer (in der Ilias) die Eiche in Dodona über-
gangen hat, wenn er aber zwei Mal: 5. 693 und 7. 60 den vynjkrjQ und
rtsQiKaXXtjg (prjyog dibg aiyio%oio als bei Ilion stehend nennt, so fragt
sich doch noch sehr, aus welcher Tradition er dies thut , und dem Zeus
die Eiche als heiligen Baum beilegt, wenigstens ist unerwiesen und
dürfte schwer zu erweisen sein dass der Dichter der Ilias hier an die
» thesprotische Eiche« gedacht habe, und dass die hier genannte Eiche
dem ältesten Gült des pelasgischen Zeus überhaupt und also auch dem
Urdodona in Thessalien abzusprechen sei. Noch in den Metamorphosen
Ovids (7. 622) betet Äakos unter hoher Eiche stehend um ein Volk, und
der Gott, zu dem er betet, der hellenische Zeus ist der Gott von Phthia,
der Hellanios Aginas kein anderer als der phthiotisch-dodonäische, der
ja so gut ein Gott der Nässe, der Fluth ist wie der Regengeber Aginas , )
68) Auf Grund welcher Auctorität Gerhard, Griech. Mythol. I. § 4 89. 2 in der
That schreibt: »Ztv ava daiSrnvatt, TliXaayixi, ai&tQi vaiwv betet Achill« u. s.w.
ist mir unbekannt.
69) Siehe b. Welcker a. a. 0. in der Note.
70) Denn auf ihn und auf Phthia bezieht sich die deukalionische Fluthsage , was
Welcker selbst S. 200 anerkennt, ja hervorhebt, wie denn auch Preller, Mythologie
2. Aufl. I. S. 65 die Deukalionssage vorzüglich Thessalien (und dem Parnass, der hier
nicht in Frage kommt) zuschreibt, und Welcker es mit Recht »etwas stark« nennt,
dass diese Sage später auf Thesprotien und das dortige Dodona übertragen worden ist.
Sowie aber der phthiotisch-dodonäische Zeus es ist, der die deukalionische Fluth
sendet, so ist es der hellenische, der als Regengott, wenn er auch nicht vtnog ge-
nannt wird, auf Äakos' Bitte bei grosser Dürre Regen sendet; und danach kann es
i denn auch keinem Zweifel unterliegen, dass die Umwandlung des Zeus in einen vatog,
| den wir nur aus Epirus kennen (Gerhard Myth. § 490. 4), zum mindesten begrifflich
schon im Urdodona in Phthiotis vollzogen war, und nicht erst der Zeit nach der Über-
siedelung nach Thesprotien angehört, während es zugleich hieraus sich ergiebt, dass
sich der vatog begrifflich nicht oder nicht ursprünglich auf Quellen und das quellen-
Abhandl. d. R. S. Ges. d.WUi. X. 3
34 J. OVERBBCK, [34
wie dies Dissen zu Pind. Nem. 4. 51 , gestützt auf 0. Muller (Aeginet.
p. 59) bereits richtig eingesehn und ausgesprochen hat. Welcker freilich
widerspricht S. 204, aber sicherlich mit um so grösserem Unrecht, da
er selbst S. 203 sagt: »die Myrmidonen Äginas sind die Hellenen Achills,
ihr Äakos und Peleus gehören, was die Sage nur umkehrt, ursprünglich
nach Phthia und dahin also auch der hellenische Zeus.« Ja freilich!
wenn man dies aber anerkennt , wie will man sich da noch dem von
mir behaupteten Schlüsse entziehn? Der Zeus der Hellenen Achills, des
Achi Ileus selber, derjenige, den er anruft, und den er nach Welckers
guter Bemerkung (S. 201) nicht anrufen würde, »wenn nicht die Pe-
lasger von seinem Stamme unterworfen und ausgetrieben wären und
dadurch dieser Gott ihm gehörte, weil fremde Götter nicht angerufen
werden«, ist der pelasgische, dodonäische, eben der, den wir suchen.
Und ist dies der Fall, so gehört auch die Eiche, auf der Deukalion
wahrsagt und unter der Aakos betet so gut wie Deukalion und Aakos
selbst nach Phthia. Denn den Umweg über das jüngere Dodona um
von daher »die thesprotische Eiche« mitzunehmen haben die Aakiden
Äginas nicht gemacht, diesen Satz wird mir Welcker vertheidigen, sollte
ihn mir Jemand angreifen. Von der grössten Wichtigkeit aber ist die
Gewinnung der Eiche für das phlhiotische Dodona wegen der Natur
des Orakels und der sich aus dieser ergebenden Natur des Gottes, dessen
Stimme im Orakel vernommen wurde.
Aus der Odyssee (14. 327 und 19. 296 71)) wissen wir, dass im
reiche Gebiet um das jüngere Dodona bezieht, sondern auf Regen, der die Quellen
o&hrt, die deswegen ix Au>$ sind. Unbemerkt aber darf ich hier nicht lassen, dass
nach Schol. IL 4 6. 233 Deukalion auf der Eiche sitzend wahrsagt, angeblich nachdem
er nach Epirus gekommen ist, thatsäcblich ohne Zweifel in Phthiotis.
74) Die dritte Stelle, 4 6. 407, die Welcker (S. 202) ebenfalls citirt und auf die
er S. 34 3 Note 3 zurückkommt, hat mit dem dodonäiscben Orakel Nichts zu thun und
ist auf dasselbe nur durch antikes Misverständniss , das für öipioreg als Orakel ro-
Iaovqoi oder VTtoqtipai schrieb bezogen worden, und dies bat auch Welcker beirrt,
was besonders der Consequenzen wegen, die Welcker S. 343 aus dem öewv tiQcbfie&a
ßovXag zieht, zu bemerken wichtig ist. Der ganzen Situation jener Stelle nach, nämlich
in der Berathung der Freier, ob man dem Telemachos auflauern und ihn ermorden
solle, kann es keinem Betheiligten entfernt in den Sinn kommen, erst eine Deputation
an das dodonäische Orakel zu senden , um zu erkunden , ob Zeus* ötfiuneg den Mord
erlauben oder nicht; das war auf anderem Wege kürzer zu erfahren, da Zeus aller Zei-
chen Herr ist. Und dass &tfHOvtg nicht nur Orakelsprüche sind brauche ich ja nicht
nachzuweisen. Auch Preller, Myth. 2. Aufl. 4. S. 96 Note 5 citirt nur die beiden von
mir anerkannten , nicht die dritte Stelle.
35] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 35
thesprotischen Dodona (dass dies gemeint sei geht aus 14. 315, 19.
291 ff. hervor) Zeus Rath aus der Eiche vernommen wurde, »wenn sie
im Winde rauschte und flüsterte« setzt Welcker (S. 202) ohne Zweifel
richtig7*) hinzu, und die Orakel der Eiche gelten auch sonst (z.B. Plat.
Phaedr. 275 b) als die ältesten. Das Orakel im Urdodona aber behandelt
Welcker als Incnbationsorakel, deutet er auf tellurische Mantik, was er in
seinen kleinen Schriften zur griech. Litteraturgeschichte 3. S. 90 ff. aus-
führlich zu begründen versucht hat.73) Wie mir scheint nicht mit Glück,
denn ich kann mich nicht überzeugen, dass die Deutung der<2Ütto« avmro-
nodeg xa^auvvai aus uralter roher Sitte, die, fortschreitender und weit
fortgeschrittener Cultur gegenüber mönchisch bewahrt, nothwendig auf-
fallen und zum Charakterismus werden musste, wie Strab. 8. 505 und
andere Alte und Neue n) verstanden , nicht durchaus das Richtige treffe.
Die ungewaschenen Fttsse bezieht Welcker auf das Gebot, in Gegen-
wart der Gottheit die Füsse zu entblössen ; 7ö) aber »ungewaschene«
Füsse sind nicht »entblösste« und ich sehe nicht ein, mit welchem
Rechte man den Begriff dvvnodrjToi so ohne Weiteres durch dvmronodeg
ersetzt glauben darf; denn wenn in den Scholien zu Homer unter man-
chen anderen Deutungen des alten Gebrauchs der Seiler70) gelegentlich
auch die mit unterläuft: ij rovro ex nvog j&ovs inl ti/ut} rov &eov not-
ovptcq x. r. X.y so kann uns das denn doch wahrhaftig nicht leiten, denn
nach was für Erklärungen haben die Grammatiker nicht herumgetaslet.
72) Das geht u. A. auch noch aus Suid. v. dwddvt) hervor: uaiovnav zwv pap-
xivofiiviov ixiveTro dij&tv fj dgvg rftovaa* al Si [yvpctixig nQoq>rftidtg) iq>&tyyovro
an xadt Xiyn 6 Zivg.
73) Auch Lassauix: Das pelasg. Orakel des Zeus in Dodona, Würzb. 4840. S. 7
deutet das Erdlagern der Selloi auf Traumorakel ; desgleichen Preller, Mythol. 2. Aufl. 4 .
S. 97, wogegen sich weder NSgelsbacb, Nachhom.Theol. S. 4 79 ff. noch C. F. Hermann,
Gottesdienstl. Altertb. § 39. 4 9 ff. (vgl. den § 44, der von Traumorakeln handelt, ohne
Dodonas zu erwähnen) noch dessen Herausgeber Stark in einer richtigeren, den Zeug-
nissen des Alterthums entsprechenden Auffassung haben beirren lassen.
74) Welcker selbst führt, Kleine Schriften a. a.O. Note 6 Heyne's (vitae auste-
ritalem affectasse istos homines), Valkenaer's und Heinrich's hier beistimmende Urteile
an. Auch Lobeck, Aglaoph. 264 behandelt die Seiler als gens fera et silvestris.
75) Auch hier folgt ihm Preller a. a. 0. mit dem Zusatz, die awnodrjola sei bei
gottesdienstlichen Verrichtungen etwas Gewöhnliches; war sie das, warum wäre sie
bei den Seilern bemerkt worden? Auch Lassauix a. a. O. , wenn er »das Barfussgehn«
der Priester einen uralten morgenländischen Brauch nennt, trifft im Wesen der Sache
überein.
76) Siehe Welcker a. a. O. Note 7.
3*
i
i
ii
36 J. OVEBBECK, [36
Und ebensowenig kann uns die Annahme des Eustathius (zu II. 1 6. 233),
die Seiler haben auf Fellen geschlafen und durch Träume Zeus Orakel
empfangen, wie man in mehren Traumorakeln auf dem Felle der Opfer-
thiere schlief, leiten,77) da dies eine blos gemachte Erklärung sein kann,
und wahrscheinlich nur nach Analogie der Incubationsmantik erfunden
ist. Dass nach II. 1. 63, S. 5 Zeus auch Träume sendet kann hier um
so weniger angezogen und benutzt werden, da ganz abgesehen davon,
dass Zeus nicht der einzige Traumorakeier ist, das Traumseuden in
diesen Stellen stricte nur zu der poetischen Motivirung der Begebenheit
gehört und mit Traumorakelthum Nichts zu thun hat.78) Aber dies Alles
und was sich sonst noch gegen die Hypothese Welckers sagen lässt,
gewinnt seine rechte Bedeutung erst, wenn wir einerseits bedenken,
dass das Orakel im thesprotischen Dodona ein Filial des phthiolischen
»Mutterorakels« war, als welches es auch Welcker (Götter]. 1. S. 199)
ausdrücklich anerkennt, und wenn wir andererseits die Eiche, aus
deren Rauschen im thesprotischen Dodona das Orakel verkündet wurde,
auch für das phthio tische Dodona gewonnen haben. Wie gross ist wohl
die Wahrscheinlichkeit, dass eine Pflanzstätte eines Mutterorakels die
Art der Mantik so total geändert haben sollte, und wie gross bleibt sie,
nachdem wir an der Stätte des Mutterorakels dasselbe Werkzeug der
Mantik, wenn ich so sagen darf, die Eiche kennen, welches in der
Pflanzstätte anerkanntermassen und zwar nach den Zeugnissen aller
guten und alten Schriftsteller, Dichter und Prosaisten, deren keiner
auch nur mit einem Wort auf Incubation hindeutet, allein diente, wäh-
rend ein Piaton die Orakel der Eiche schlechthin die ältesten nennt?
Denn man darf die Differenz der Mantik hier und dort, aus dem
Rauschen der Eiche im Windeswehen und aus Träumen nicht so
beschönigen oder überdecken wollen, wie dies Welcker thut, wenn er
(Götter!. S. 201) sagt: »die Wahrsagung aber kraft der Erde zeigt diese
in Abhängigkeit vom himmlischen Zeus nicht weniger als das Luftreich«;
mag nach Hesiod. 9Eqy. 1 8 der Eronide wohnen im Äther, in den Wur-
zeln der Erde und in den Menschen , der Zeus , dessen Stimme man im
Rauschen der windbewegten hochwipfeligen Eiche vernahm und ein
Zeus der erdgelagerten Priestern prophetische Träume »kraft der Erde«
77) Obgleich dies auch Lassaulx' Slütze bei gleicher Annahme ist.
78) Ähnlich sendet Athene der Penelope ein Traumgesicht Od. 4. 795 ff.
37] Beiträge zur Erkenntniss cnd Kritik der Zeusreligion. 37
sandte sind gänzlich verschieden oder sie offenbaren gänzlich verschie-
dene Seiten, Kräfte and Beziehungen desselben göttlichen Wesens.
Der Zeus der in den Wurzeln der Erde wohnt ist der %&6vio<; und
chthonisch ist das Traumorakel kraft der Erde ; der Zeus aber, dessen
Stimme man im Rauschen der windbewegten Eiche vernahm , und das
ist es, worauf es mir ankommt und um dessentwillen ich die vor-
stehende Untersuchung niederschreiben musste, der ist ein Himmels-
gott, der Wind, der in den Zweigen der Eiche rauschte und flüsterte
ist sein Hauch,79) ist der lebendige und belebende80) Odem des Himmels
und sein Ausfluss, und im Säuseln des Windes naht Zeus wie Jehovah
im alten Testament.81) Dieser Gott des Himmels und des himmlischen
Windes ist dann aber auch consequenterweise, da der Wind die Regen-
wolke herbeiführt und sich beim Regen erhebt, weiter zum Regengott
geworden, als der er in der phth ioti sehen Deukalionssage und als hei-
dnischer erscheint, und in weiterer Folge dessen, weil Quellen und
Flüsse vom Regen des Himmels ernährt wie gezeugt werden und weil
deshalb Quellen und Flüsse i% Jioq sind, zum vafog, und zum Gotte
der quellenreichen Gegend um das neue Dodona. Als Luft - und Regen-
zeus, den die von Braun82) edirle Büste des berliner Museums sehr
schön darstellt , und zwar wahrscheinlich noch mit mönchischen oder
derwischartigen Seilerpriestern, wie Sophokles88) (Trach. 1166) u. An-
dere annehmen, kam Zeus in die neue Pflanzstätte seines Gultus in
Epirus, wo man noch oder wieder seine Stimme im Rauschen der
windbewegten Eiche hörte , und wo wir ihn zugleich als vaiog , dessen
Orakel man spater aus dem intermittirenden Quell am Fusse der Eiche
vernahm,84) dem Hellanios entsprechend kennen. Verpaart mit Ge-
Dione85) aber wurde er wohl erst hier, wie auch Welcker (Götterl. 1.
79) Vergl. e'x Jibg avQcu u. Welcker 2. S. 197, Lauer S. 204, Gerbard § 199.7.
80) Yergl. die attischen Tritopatoren ; Preller Mylh. 2. Aufl. I. S. 371 und was
Gerhard, Griech. Myth. § 165. I anführt.
81) 1. Kön. 19. 11—13.
82) Antike Marmorwerke 1. Dekade Taf. 4.
83) »Sonst ein guter Antiquar« sagt Welcker Götterl. S. 200 Note, wir streichen
das Wörtlein »sonst.«
«
84) Serv. ad Yerg. Aen. 3. 466, Plin. 2. 103.
85) Und zwar ganz unzweifelhaft ehelich, wie auch Welcker S. 253 f. ausfuhrt,
nicht» mehr geistig als ehelich«, wie Gerhard, Griech. Mylhol. § 190. 4 nach Stuhr,
Rel. Syst. 2. 41 ff. sagt.
38 J. OVBRBECK, [38
203 und 253) bestimmt annimmt,86) und mit dieser weiteren Entwickelung
seiner Mythologie hangt die Umwandeiung zusammen, dass die Pe-
leiadenpriesterinen an die Stelle der Seiler treten, wie dies Strabon
(7. 329) ausdrücklich und ohne Zweifel richtig bezeugt. Das Resultat
aus Allem aber, was wir von dem dodonäischen Zeus wissen, ist, dass
er als Gott des Himmels in dessen atmosphärischen und auf das Erden-
leben einwirkenden Ausflüssen erscheint, dass er der Gott eines Na-
turreichs, ein Gott in der Natur ist, nicht über derselben und so wenig
monotheistisch gesinnt, dass er, im schroffsten Gegensatze zu Jehovah,
der da sagt : du sollt keine anderen Götter haben neben mir ! als man
nach Herodot (2. 53) bei seinem Orakel anfragte, ob man die Namen
anderer Götter gebrauchen solle, antwortete: braucht sie.87)
8 6) Ein Zweifel hiergegen kann sich nur daran knüpfen , dass die Ilias Aphrodite
als Diones Tochter kennt, so dass also der Dichter, war Dione nur epirotisch-do-
donäisch , seine dodonäischen Traditionen aus verschiedenen Quellen geschöpft haben
müsste ; unmöglich ist freilich auch diese Annahme nicht. Dass freilich die dodonäi-
sche Aphrodite ein Kind asiatischen Cultus war kann ich Welckern (S. 355) eben so
wenig zugestehen wie das Andere, dass Phidias' Dione in Poseidons Gefolge im West-
giebel des Parthenon gebildet habe; so wie ich diesem Letzteren schon in meiner Ge-
schichte der griech. Plastik 4. S. 346 widersprochen habe, so halte ich was das Erster«
anlangt an der Ansicht fest, die Völcker im Rhein. Mus. 4833. S. 843 aufgestellt hat,
und deren consequente Entwickelung zu dem Erfreulichsten in Gerhards Mythologie
gehört, dass nämlich eine pelasgische Göttin von Dodona, Tochter der Dione, eine
nordgriechische Aphrodite, sie möge geheissen haben wie immer man glauben mag,
mit der asiatischen, meergeborenen, uranischen Aphrodite erst spater verbunden und
verschmolzen worden ist.
87) Nach Herodot geschah dies zu einer Zeit, als die Pelasger noch namenlose
Götter verehrten. Diese namenlosen Götter sind bis auf den heutigen Tag unerklärt,
denn auch was Welcker, Götterl. 226 über dieselben sagt fruchtet für die Erklärung
grade so wenig wie seine Berufung auf das was Max Müller (ausgezogen bei Welcker
S. 227 f.) über die Vedengötter mittheilt. Ja, wenn M. Müller S. 228 mit Recht sagt,
die Vedengötter »sind Masken ohne einen Schauspieler , sie sind nomina
nicht numina, Namen ohne Wesen, nicht Wesen ohne Namen«, so ist
dies ja das ganz genaue Gegentheil von den herodoteischen Göttern ohne Name n,
so dass ich nicht begreife , wie Welcker sich für diese hierauf berufen kann. So lange
ich an die Identität von Ztvg und &tog = dyaus und dewas glaubte, meinte ich, wie
ich dies in meiner Geschichte der griech. Plastik 4. S. 36 in Note 4 6 angedeutet habe,
die Lösung des Problems gefunden zu haben , indem ich annahm nicht von namen-
losen Göttern sei die Rede gewesen, sondern von einem namenlosen Gott, nämlich
von Zeus = #«o? (als einem Gotte ohne Individualnamen wie Apollon, Athene u. A.),
dies aber sei für den Polytheisten Herodot und für seine polytheistischen Quellen, die
39] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 39
Der arkadische Zeus, dessen Gull auf dem Lykäongipfel nach Allem
was wir von demselben erfahren in das höchste Alterthum hinaufreicht,
was auch Welcker (Götterl. 1. 210 f.) anzuerkennen scheint, so dass
die Frage, ob die Arkader Pelasger waren oder nicht, hier ganz irre-
levant wird ,**) dieser arkadische Zeus Lykäos ist so allgemein als Gott
des Himmelslichts wie Lucetius, Diespiter anerkannt, dass es überflüssig
ist, dabei länger zu verweilen. Nur das sei hervorgehoben, dass er als
solcher dem Grundwesen des dyaus und dem Grundbegriffe der /div
am allernächsten steht, und dann sei bemerkt, dass nach dem was
Pausan. 8. 38. 3 berichtet, dieser Zeus so gut wie der dodonäische und
der Hellanios auch in der Atmosphäre waltet, indem sein Priester in
einer Art von Zauber den Regen beschwört sowie Aakos in Agina den-
selben erbetet. Ob der hierbei gebrauchte Eichenzweig , da doch die
Eiche dem Zeus nicht schlechthin heilig genannt werden kann , nicht
auf eine nähere Verbindung oder auf einen inneren Zusammenhang des
arkadischen Zeus mit dem dodonäischen hinweise, mag einstweilen da-
hinstehen, sowie ich auch darauf verzichte , auf den Bericht des Pau-
sanias, der, wie ich glaube, tiefer gefasst werden kann, als er bisher
gefasst worden, einzugehn. Ebenso lasse ich den eigentlichen Sinn
der Schattenlosigkeit derer, welche das Heiligthum des Zeus lykäos
betraten, unerörtert, obwohl ich mit der Auffassung Welckers89) nicht
übereinstimme und glaube , dass die Deutung aus des Lichtgottes Nähe
und Natur90) — weil am Sitze des Urlichts kein Dunkel sein kann — viel
näher liegt. Die Hauptsache, die durch alle diese Zweifel nicht verändert
wird, ist, dass der arkadische Zeus Lykäos durchaus Naturgott, Gott des
Himmels, des Himmelslichtes und der Atmosphäre ist und dass dies
dem indo- germanischen Namen und Urwesen des Gottes entspricht.
Peleiadenpriesterinen in Dodona ein undenkbarer Begriff gewesen, so dass sie also
&60i sagten, wo sie faog oder Ztvg sagen mussien ; jetzt aber nach dem oben (S. 25)
erwähnten Zweifel über die Ableitung von &tog und nach dem weiteren Zweifel , ob
Zens wirklich ein älterer Gott war als die übrigen Götter (oben S. 25) muss ich auch
diese Lösung fallen lassen. Es wird aber gut sein, sich darüber nicht zu täuschen,
dass das Problem ungelöst dastehe.
88) Im ersten Bande seiner Götterlehre erklärt sich (S. SO) Welcker sehr be-
stimmt gegen das Pelasgerthum der Arkader, im zweiten (S. 236) ist ihm der lykäische
Zens » der altpelasgische Zeus.«
89) Die er in seinen kleinen Schriften 3. S. 161 näher darlegt.
90) Auf diese weist auch Preller hin, Myth. 2. Aufl. 1. S. 99.
40 J. OVERBECK, [40
Als Lichtgott fasse ich aber auch den Zeus Aktäos auf Pelion,
dessen nichl mit Akräos zu vertauschenden, wenngleich in späterer Zeit
durch diesen gewöhnlicheren verdrängten Beinamen Welcker91) gegen
Starks92) Einwendungen, die Preller93) annimmt, mit Recht festhält,
während er ihn, wie ich glaube mit Unrecht, von ^tj/i^reQog ä*Trj ab-
leitet, da er viel natürlicher und näher aus duraivcoy dxrig abzuleiten
sein dürfte, worauf schon Lauer04) hinwies, wenn auch nicht in allzu
klarer Weise. Der Hauptbeweis hiefür und gegen die andere, an sich
scheinbar noch näher liegende Ableitung von dxrrj Ufer, die unter An-
deren früher Preller (a. a. 0.) befolgte, scheint mir in Aktäons Figur
und Bedeutung zu liegen , auf die auch Welcker sich für seine Deutung
hauptsächlich beruft, und den ich durchaus nicht als Herr des Getraides
fassen kann , wie Welcker, sondern der mir als der Sohn der Mära »des
weiblichen Sirius«,05) als Herr der 50 Hundstagshunde, als Jäger, als
der, dessen Gespenst die orchomenischen Fluren verheerte bis man ihn
sühnte,96) als der, dessen Bild die rasenden Hunde beschwichtigte
der Dämon der Hundssternhitze zu sein scheint, während der Mythus
von seinem eigenen Zerrissenwerden von seinen Hunden in getrübter
Gestalt auf uns gekommen ist, sich aber gleichwohl noch so verstehen
lässt, dass er der von mir angenommenen Bedeutung nicht widerspricht.
Alle solche Punkte, deren ich noch mehre berühren und späterer Er-
örterung im Einzelnen vorbehalten muss , in einer Abhandlung zu er-
ledigen, die kein Buch werden soll, ist unmöglich. Aktäon aber ist der
Heros des Zeus Aktäos, und dieser als Lichtgott naturgemäss auch Gott
der Gluthbitze der Hundstage. Und hierauf bezieht sich der Bittgang
mit den Widderfellen , von dem uns Dikäarch De Pelio berichtet. Dass
man in dieser Procession auf den Gipfel des Pelion ohne Zweifel den
Zeus anflehte , die kühlen und feuchten Etesien zu senden hat Welcker
91) ArchSolog. Zeitung 4 860 S. 45.
92) Das. 4859. S. 92.
93) Mythol. 2. Aufl. 4. S. 4 4 2. Früher hatte derselbe, Demeter und Persephone
S. 248 und noch Mythol. 4. Aufl. S. 93 so gut wie O. Müller Orchom. 243 u. 342 f.
den Aktäos anerkannt.
94) System d. Mythol. S. 4 98 u. 203.
95) Welcker, Archäol. Zeitung a. a.O. S. 4 5.
96) Und der deshalb sicher nicht »um die Fruchtbarkeit talismanisch an das Land
zu knüpfena wie O. Müller a. a. 0. 342 meinte, an einen Felsen angekettet war.
44] Beiträge zur Ekkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 41
(Götterl. S. 205) richtig eingesehn, obgleich er die Bedeutung der
Widderfelle, die als dib$ xcbfoa auch iu den Zeusfesten Athens eine so
grosse Rolle spielen und über die Welcker der naiven Angabe des Di-
käarch Glauben schenkt, schwerlich erkannt hat. Der Widder, das lässt
sich noch ungleich stricter und sicherer, als es bisher geschehen ist,97)
erweisen , ist in der ganzen Mythologie , er erscheine wo und wie er
wolle, das Symbol der Wolke, und so trug man in dieser Procession
auf Pelion wie in den attischen Processionen die Felle des symbolischen
Thieres, nach einem auch sonst beglaubigten Gebrauche als Zeichen
dessen , um dessen Verleihung oder Abwendung (das Letztere in den
Mämakterien in Athen) man den Gott anflehen wollte. Aber sei's darum,
etwaiger Widerspruch hiegegen , der mich , da ich die Sache hier un-
bewiesen lassen muss, nicht wundern würde, hebt die Hauptsache
nicht auf, dass Zeus Aktäos Gott des Lichtes und der Hitze war, und
dass er in der Atmosphäre waltet wie der Zeus Lykäos ; und dass der
Zeus Ikmäos von Keos, den man um dieselbe Zeit, in welche die Pro-
cession des Aktäos fiel, in der Zeit der Hundstage, wie jenen um die
Elesien anflehte nach Giern. Alex. Strom. 6. 630, sich als Dritter in
diese Reihe stellt, braucht nur erinnert zu werden.
Dass aber der Zeus Laphystios , der Yerschlinger, Aufschlürfer : °*)
der Wolken nämlich und der Feuchtigkeit, wie ihn auch Lauer90) ge-
fasst hat, ebenfalls wie der Lykäos und Aktäos ein Licht- und in Folge
dessen ein Hitzegott sei, und dass die Annahme dieser Natur des Gottes
ganz allein alle Züge des Atbamasmythus erklärt, der wie 0. Müller100)
mit Recht sagt in alten Gebräuchen am Laphystiosheiligthum wie in
seinen Angeln hangt, dies kann ich hier nur als meine auf sorgfältiger
Untersuchung beruhende Überzeugung aussprechen, wenn ich nicht den
ganzen Atbamasmythus hier analysiren will , was nicht dieses Ortes ist.
97) Namentlich von Lauer a. a. 0. S. 408. Forchhammer, Hellenika S. 204.
98) AayvvGHv und Xatpvy^bg hangt mit kandaam und Xcctitco zusammen. Vgl.
besonders II. 4 4. 476, vom Löwen : inevtot, di & alpa xal ty%axa ndvta kaqtvooH.
99) A. a. O. S. 219. Schon aus der Bedeutung des ka<pvoativ geht hervor, was
sich durch die ganze Sage beglaubigt, dass der Laphystios nicht ein »winterlich finsterer
Gott« sein kann, als welchen ihn Preller Gr. Mythol. 1 . Aufl. 2. S. 209 f. fasst. Dass
den Athamas »Sommergluth rasend macht« hat auch Gerhard eingesehn, Phrixos der
Herold Berl. 1842. S. 6.
4 00) Orchomenos S. 4 58.
42 J. OVEHBBCK, [42
Und ebenso kann ich nur darauf hinweisen , dass man den Athamas-
raythus bisher consequent deswegen misverstanden hat, weil man
Athamas und die Athamantiden als die Opfer anstatt der Opferer,
der Priester des Laphystios betrachtete, während doch Athamas nach
keiner unserer Quellen geopfert wird,101) Piaton IW) die Athamantiden
eben so bestimmt als die Opferer bezeichnet und Herodot103) nicht min-
der bestimmt bezeugt, dass der Fluch , geopfert zu werden , die Nach-
kommen des Kytissoros betreffe. Diese gelten freilich für Abkommen
de6 Phrixos und als solche des Athamas, und es ist möglich, dass
ein Geschlecht die Opferer und die Opfer wirklich umfasst habe, wie
denn auch in einem anderen orchomenischen Culte, dem des Dionysos,104)
die an den Agrionien geopferten Frauen (OXetcu) und die opfernden
Männer (iPokottg) einem Geschlecht angehörten, aber es kann dies
auch blosse Mythencombination sein , und es kommt darauf nicht an,
sondern vielmehr auf das Andere, das Phrixos das einzige im echten
Mythus beabsichtigte Opfer, und dass seine Nachkommen die wirklichen
Opfer waren, ferner darauf, das Phrixos' Opfer vollzogen werden soll
bei grosser Dürre des Landes, wie dies der Schol. Pind. Pyth. 4. 288
mit nackten Worten sagt, während er in den verschiedenen mythischen
Einkleidungen nur ganz leicht und obenhin verhüllt ist. Athamas aber,
der Phrixos opfern will , dem dieser auf der Widderwolke reitend ent-
flieht, er selbst Wolke (<pqi£oq von q:piaaw) l05) und Sohn der Wolke
(Nephele) mit seiner Schwester Helle, Regen , die von der Widderwolke
herabfeilt, Athamas, den Nephele verlässt, der in Raserei den Klearchos
oder Learcbos den rühmlichen oder den Volkfsührer, den König, tödtet,
Athamas ist Priester und ist Heros des Zeus Laphystios so wie Lykaon
des Lykäos, Aakos des Hellanios, Akttton des Aktäos; die Dörrhitze des
Landes aber wirkt der Laphystios , und diesem in seiner Furchtbarkeit
104) Bei Herodot 7. 4 97 soll er geopfert werden, aber Kylissoros iniervenirt
und hebt das Opfer auf, auch Sophokles hatte nach Schol. Arist. Nub. 256 im *A% axt-
(paprj<p6()og gedichtet, dass Nephele Athamas* Opferung verlangt habe , nicht aber dass
das Opfer vollzogen worden sei.
4 02) Minos p. 34 5 c: otag tivoiag övovoiv oi rov 'A&apavTog txyovoi'Elltjvtg
ovreg, vergl. auch Schol. Apoll. Rhod. Arg. 2. 653.
4 03) A. a. 0. ravTct dt naoxpvoir qI KvtioocIqov tov &qI£ov naidog anoyovot,
x. r. A.
4 04) Den Etym. M. p. 557. 54 ebenfalls als Laphystios kennt.
4 05) Vgl. Gerhard, Phrixos der Herold S. 6 Note 22.
43] Beitrage zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 43
gelten die Menschenopfer, welche die Athamantiden bringen, mögen
diese nun real fortbestanden haben oder durch andere Kathannata er-
setzt worden sein, wie Welcker106) annimmt, der daran erinnert, dass
auch andere Völker durch strenges Priesterthum oder durch Noth und
Angst des Volkes auf diese Spitze der Opferpflicht (Menschenopfer)
hinaufgetrieben worden seien , wie denn in Schweden bei Hungersnoth
der König geopfert wurde.
Den Zeus Meilichios und Maimaktes von Athen hat Welcker (Göt-
terl. S. 207 f.) als Gott der milden, guten und den der stürmischen Jah-
reszeit verstanden und für Beide einen ursprünglich physischen Sinn iu
Anspruch genommen, womit ich durchaus übereinstimme ; Beide stellen
den Himmel in seiner heiteren und finsteren Erscheinung und in seiner
günstigen und verderblichen Einwirkung auf das Leben der Erde und
der Menschen dar; auch dieser athenische Zeus also waltet in der Atmo-
sphäre. Das Dioskodion findet in diesen Gülten seine vollständige Er-
klärung.
Erwähnt zu werden verdient noch der Zeus Peloros von Tempe,
den Welcker übergeht, und der sich in der von Baten bei Athen. 4 4.
639 überlieferten Sage als Gott der Fruchtbarkeit der Erde und als Ver-
leiher der reichen Erndte zu erkennen giebt, so dass er zu Kronos in
der richtigen Auflassung eben so in Parallele tritt, wie sein Fest, die
Pelorien mit den Eronien ; hierauf wird zurückzukommen sein.
Dass der mit Trophonios als Zeus Trophomos107) identificirte Zeus
in Lebadeia von einer ähnlichen Idee seinen Namen als Nährer, Nähr-
gott habe , ist anerkannt ; aber auch der Agidengott Ammon , der nicht
von dem ägyptischen Amun herzuleiten, sondern mit ihm identificirt
worden ist,106) während seine Wiege in böotisch Theben stand, dürfte
106) GötlerL 1. S. 206.
4 07) Strab. 9. 414, vergl. Liv. 45. 27.
108) Es freut mich, diese Ansicht weuigstens mit Gerhard zu theilen, der Griech.
Mythol. §. 198. 7 sagt: »Zwar ob die dort (im Ammonion) und in Dodona zugleich als
Orakelgrunderinen erschienenen Tauben wirklich aus (ägyptisch) Theben und von dem
Ägyptischen Ammon (Amun) kamen, bleibt trotz Herodot's Versicherung sehr zweifel-
haft, darum hauptsächlich , weil mancher altgriechische Götterdienst durch das ihm
selbstfindig zukommende Widdersymbol zur Verwechselung (besser wohl Identification)
mit jenem ägyptischen Widdergott früh auffordern mochte.a Sonst ist bekanntlich der
Glaube an die ägyptische Ableitung ziemlich allgemein ; aber ich bin fest überzeugt,
dass böotisch Theben die Wiege des griechischen Ammoncultus und dass die Gephy-
44 J. OVERBECK, [44
gleicher Bedeutung und von dem Stamme abzuteilen sein, der in Hesy-
chius und des Etym. Magn. Glosse d/ifia • tj ryocpog xal ij fujrtjQ xara
vnoxyiofia , nämlich als rpocpog, und der unserem Worte »Amme« zum
Grunde liegt. Ammon ist ein anderer ryocpog, ryocpciviog.
Wie alt und ursprünglich der Gült des Zeus Lakedämon in Sparta
sei, wissen wir nicht, dass der ihm gegenübergestellte Uranios auf der
Diarchie beruht hat Welcker bemerkt (Götterl. S. 243).
Was wir in den sämmtlichen alten Culten des Zeus, von denen wir
nähere Kunde haben, finden, nämlich dass Zeus als Naturgolt im Him-
mel und vom Himmel aus in den atmosphärischen Erscheinungen, im
Winde, in den Wolken und im Regen, im Licht und in der Gluthhitze
auf das Erdenleben einwirkt, das liegt auch noch in einer ganzen Reihe
seiner Beinamen aus localen Culten vor, welche, wenn sie alt sind, die
ursprüngliche, wenn sie später sind, die trotz aller fortschreitenden Re-
ligion des Geistes festgehaltene Bedeutung des Zeus als eines Gottes der
Natur, in der Natur, nicht über oder jenseit derselben erhärten.100)
Und danach darf, ja muss man, wie ich am Eingange dieses Abschnittes
behauptet habe, diese Naturbedeutung bei Zeus so gut wie bei den an-
deren Göttern als die primitive Grundlage seiner Verehrung betrachten,
räer-Ägiden seine Träger waren. Daraus erklärt sich Pindar's, des Gephyräers Ammon-
verehrung, und daraus die Thalsache, dass sich Ammoncultus, früher und später findet,
wohin die Gephyräer bei ihrer Apoikie und Wanderung gelangen : in Athen Hesych. v.
'AfAfioiw loqxr}' Aftr\vri<nv ayoptvi] (woBÖckh Staatshaush. 2. 259 *A\i\Mnvux lesen will),
in Sparta Paus. 3. 18. 3, Böckh a. a. 0. 258, von Sparta aus in Thera weil in Kyrene
{vgl. was Gerhard a. a. 0. Anna. 7 anführt) , von wo der Handel über die libysche
Ammonsoase ging (Müller Orchom. S. 343) und wo ohne Zweifel die Identificirung mit
dem so ähnlich benamseten ägyptischen Widdergott vollzogen wurde, der dann in
Griechenland wie alles Fremde über das Heimische zur Geltung gelangte. So haftet
Ammon an den Ägiden-Gephyräero , dass Therons Geschlecht in Akragas , der ägidi-
schen Stammes war (Müller Orchom. 332) den Namen der Emmeniden führte. Und
wenn wir den Ammoncult in Elis Paus. 5. 4 5.7 nicht als ägidischer Stiftung bezeugt
finden, ist es verwehrt, diese anzunehmen? Findet sich auf Kreta wirklich Ammon-
cultus, wie Diod. 3. 74 angiebt, warum sollte er nicht mit der dorischen Colonisirung
dahin gelangten Ägiden seinen Ursprung verdanken? Von dem Cult in Sparta stammt
derjenige in Aphyta in sofern indirect, weil er auf einer dem Lysandros gewordenen
Traumerscheinung des Ammon beruht, die ihn die Belagerung von Aphyta aufheben
Hess, weshalb die Aphytäer Ammon als Retter verehrten Paus. 3. 18. 2 , Plut. Lysand.
20, Böckh a. a. 0. 258. Wo bleibt hier der ägyptische Ursprung?
4 09) Vergl. Lauer Syst. d. griech. Mythol. S. 4'96ff. , Gerhard G riech. Mylhol.
§. 4 99, Welcker, Götterl. 2. S. 4 93 ff.
45] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 45
von der aus sich mit den Culturfortschritten der Nation die Götter weiter
und weiter erhoben und zu Geistern auch ausser der Natur umgewan-
delt wurden, in einer Steigerung die ungebrochen und unaufhaltsam
weiter aufwärts ging , und die bei Homer keineswegs abschliesst , son-
dern an der noch die späteren Dichter, besonders die Tragiker und dann
die Philosophen , Beide schöpfend aus dem gemeinsamen Born des Na-
tionalgeistes, betheiligt sind.
Ehe aber nun zu weiteren Erwägungen und Betrachtungen des
Zeus in seiner poetisch nationalen Darstellung fortgeschritten wird, muss
hier noch ein Punkt von grosser Bedeutung in's Auge gefasst werden,
auf den namentlich Welcker ein ganz besonders schweres Gewicht legt,
indem er aus demselben allerdings nicht, oder wenigstens nicht direct110)
einen Monotheismus und eine transmundane Existenz des Zeus ableitet,
dennoch aber auf ihn die Annahme einer exceptionellen Stellung des
Zeus den übrigen Göttern gegenüber gründet, einer exceptiouelleren als
die ich für gerechtfertigt halten kann. Ich meine das Attribut des Blitzes
und denCultus auf Bergeshöhen, die Welcker im 31. und 32. Abschnitte
seines Buchs behandelt.
Was nun zunächst den Blitz anlangt, so kann man im Allgemeinen,
wenn auch nicht ohne Einschränkung111) zugeben, dass seine Hand-
habung, dass das Gewitter den Völkern als das höchste Zeichen der
göttlichen Macht erschienen sei, wie dies Welcker S. 165 ausspricht
und motivirt. Aber in demselben Masse wie man die Richtigkeit dieser
Behauptung anerkennt wird es wichtig nachzuweisen , oder sagen wir
HO) So wie freilich im Rhein. Mas. a. a. 0. S. 626 die Bergeshöhen und die
Blitze neben der Etymologie von Zeus Kronion (die ihn ja als den Gott von Ewigkeit
bezeichnen soll) geltend gemacht werden, liegt darin, wenn auch nicht ausgesprochen,
die Behauptung, Bergeshöhen und Blitze erweisen Zeus als den Höchsten im Sinne des
Jehovah oder des absoluten Gottes.
Hl) Vgl. z. B. was G. Bühler über den Parjanya, den Donnergott der Yeden
mittheilt in Benfey's Orient und Occident 1861. Hft. S. S. *Hff., besonders über die
Stellung des Gottes S. 2« 6 ff.
46 J. OVERBECK, 46]
lieber, daran zu erinnern, was Welcker wenigstens an dieser Stelle
vergessen zu haben scheint , erstens , dass in Zeus' ältesten und wich-
tigsten Cullen, die wir im vorigen Abschnitte durchmustert haben, man
ihn wohl im Licht und in der Gluthhitze des Himmels , im Wehen des
Windes und im Ergüsse des Regens erkannte und anbetete, dass er aber
in diesen nirgend als Herr des Donners und Blitzes charakterisirt wird,112)
dass seine Verehrung sich nicht auf sein Blitzwerfen gründet,113) sich
nicht an seine Herrlichkeit im Gewitter wendet, und zweitens, dass Zeus
von den Göttern Griechenlands ja keineswegs allein den Blitz führte.114)
Was dies Letztere anlangt, so könnte es trivial erscheinen, wenn
erwähnt wird, dass Pallas Athene den Blitz führt so gut wie die Ägis,
das Donnergewölk, und zwar nicht hie und da nur, sondern als Pallas
durchweg, grade so ständig wie Zeus selbst, denn die Lanze der Palla-
dien ist der Blitz und ein Palladion ohne Agis giebt es nicht.115) Und
4 4 2) Was das Beiwort anlangt, das Achäos (Azan. fragm. 2, Schol. Eurip. Orest.
383) dem lykäischen Zeus giebt, so ist erstens zweifelhaft, ob dasselbe aortgonog zu
schreiben sei, wie Welcker, GÖtterl. 2. S. 4 94 thut, der dasselbe auf Blitz bezieht,
oder aortgamdg, wie Andere schreiben. Im letzteren Falle würde es mit dem Blitz
schlechthin Nichts zu thun haben, sondern sich auf den Glanz des Lichtes beziehn
(vgl. z. B. aoreQGmop oppa Ar\T<aag xoqtjq b. Aesch. fragm. 209 (Ahrens)), und dass
dies bei dem Zeus lykäos das Natürlichere und Näherliegende ist kann vernünftiger-
weise nicht bestritten werden. Sollte dies aber dennoch nicht zutreffen, AchSos wirk-
lich aoTtQonog geschrieben und auf den Blitz gedeutet haben , so kann natürlich eine
solche Stelle eines späteren Dichters für das Wesen eines Gottes wie der Lykäos Nichts
beweisen, da man es in diesem Falle als ein Prädicat des Zeus schlechthin, des poeti-
schen Zeus und als aus diesem auf die alte Cultfigur übertragen ansprechen darf.
113) Ober das Alter einiger Gülte, in denen dies der Fall ist, wie in dem des
xaraißaTtiQ in Olympia Paus. 5. 4 4. 4 0, vergl. Lauer, System d. griech. Myth. S. 4 99.
Note 264 lässt sich nicht absprechen. Den Guit oder Altar des Zeig xtgavvwg das.
hält Paus. a. a. 0. 7 nicht für hochalterthümlich ; die Beiworte , die sich auf Zeus'
Blitzen und Donnern beziehn (Lauer a. a. 0.) gehören fast ohne Ausnahme der poe-
tisch-nationalen Entwickelung des Gottes an, und diese ist eben nicht die primitive.
Allerdings erscheint in dem berühmten Kameo der Marcusbibliothek der eichenbekränzte
dodonäische Zeus mit der Ägis gerüstet, wie denn auch die Ilias an jenen beiden Stel-
len, wo sie den wybg des Zeus erwähnt (5. 693 und 7. 60) diesen als ägiochos be-
zeichnet, dennoch ist zweifelhaft, ob der dodonäische Zeus als blitzend und donnernd
gedacht wurde, was übrigens ihm dem Regengott als solchem auch zukommen konnte.
4 4 4) Vgl. was Wieseler in den Jahrbüchern des Vereins von Altertbumsfreunden
im Rheinlande 4 844 S. 352 angeführt hat.
4 4 5) Es ist deshalb überflüssig auf die nicht geringe Zahl von Kunstdarstellungen
hinzuweisen , in denen Pallas Athene den wirklichen Blitzstrahl wie sonst ihre Lanze
schwingt. Vgl. auch Wieseler a. a.O. und Preller, Gr. Myth. 1. S. 430.
47] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 47
wenn man diese Blitzwaffe und die Ägis der Pallas Athene aus ihrem
nahen Verhältnisse zu Zeus und so ableiten wollte , als waren ihr diese
Attribute von Zeus übertragen, wie das etwa der Vorstellung des Ascby-
los (Eum. 825) entsprechen würde, oder als sei Athene nur eine Hypo-
stase oder ein Ausfluss des Zeus , so würde man sehr stark irren. Ab-
gesehn von manchem Anderen und schon früher Bemerkten dürften die
neuesten und tiefgreifenden Untersuchungen Bergk's über die Trito-
geneia110) erwiesen haben, dass die Religion der Pallas Athene eine
grossere Selbständigkeit in ihren Wurzeln und Keimen gehabt hat, als
Allen bequem anzunehmen sein mag, ja dass sie nicht einmal durchaus
als Zeus' Tochter gelten darf, als welche sie Welcker (S. 238) anspricht.
Der Blitz und die Agis kommen der Athene oder genauer gesprochen
der Pallas Athene als Pallas selbständig zu , weil sie als solche Göttin
des Gewölks wie als Athene Göttin des Ätherlichte und der Ätherklar-
heit ist. Denn dieser Dualismus in dem Wesen der Göttin liegt in den
beiden Namen, die nie mit einander vertauscht werden können, wie man
das zum Theil schon eingesehn hat,117) und dieser Dualismus kann nicht
allein , sondern muss durch alle Mythen und Sagen der Pallas Athene
durchgeführt werden, wenn diese zur endlichen Klarheit gelangen sollen.
Aber auch Pallas Athene ist nicht die Einzige, welche ausser Zeus,
und zwar von Rechts wegen, den Blitz führt, auch Apollon kommt blitz-
werfend vor, wofür Wieseler im Bulletüno des Instituts 1852. p. i 84 ff.
nicht allein die Hauptbeweisstellen litterarische und artistische zusam-
mengetragen,118) sondern was derselbe auch durch Verweisung auf den
116) In Jahn's Jahrbüchern 18§0.
117) So z. B. erklärt sich Gerhard Griech. Myth. §. 348. 3 mit Recht gegen die
Bezeichnung Pallas Polias statt Athene Polias.
118) Da mir Petri Burmanni Za/g xcaaißatrjg nicht zuganglich ist, auf den Wiese-
ler a. a. 0. sich für die Behauptung bezieht; neppure mancano gli esempj d'una cor-
rispondente (nämlich auf das Blitzwerfen) attivita di lui, so will ich hier anführen, was
ich zur Beglaubigung derselben habe auffinden können. Dass schon Sophokles Oed.
tyr. v. 469 sq. (Herrn.) Apollon vomParnass blitzen 18sst ist bekannt, nach delphischer
Sage aber wurden sowohl die 4000 Mann, die Xerxes gegen Delphi sandte (Justin. 2.
12: quae manus tota imbribus etfulminibus deleta est), wie auch die Gallier unter
Brennus (Paus. 10. 23. 3 ij w yaq yrj niaa, ootjv ini!%(v i} tüv rdkoawv axQtaia,
ßialmg xai im nktiovov ioeieto rfjg fmtQaq, ßpovrai xt xai xiQctvvQi <wv*%uq iyl-
vovto xtL vgl. Schol. Kall. hymn. Del. 175) durch Blitze aulgerieben und von dem
apollinischen Heiligthum vertrieben, ebenso wie nach orchomenischer Sage (Paus. 9.
36. 3) Apollon die Phlegyer mit Blitzen und Erdbeben vernichtete.
48 J. OVERBECK, [48
von den Alten statuirten Zusammenhang zwischen der Sonne und dem
Gewitter oder den Blitzen als wohlberechtigt erwiesen hat. Gleichwie der
Blitz wird aber dem Apollon consequenter Weise auch die Ägis, das Symbol
der Wetterwolke zu vindiciren sein, und zwar, nach der von Stephani119)
entwickelten Ansicht, ihm unter dem Beinamen BotjdQo/iiog oder Boy&oog,
wie ich auch jetzt noch, nach Erwägung der Zweifel, die Wieseler120) da-
gegen ausgesprochen hat, annehme. Ich bin nämlich nicht allein überzeugt,
dass das Attribut , welches der Stroganoffsche Apollon in der linken
Hand erhebt, sich auch bei wiederholter Prüfung als Ägis und nicht als
Marsyasfell erweisen wird, ein Attribut, das Wieseler nur sehr mit Un-
recht für den Apollon Patroos des Leochares in Athen in Anspruch zu
nehmen scheint, sondern ich glaube auch, dass der Dichter der Ilias in
jener Stelle des 1 5. Gesanges, in welchem er aen Apollon mit der Agis
ausgerüstet und mit ihr die Argeier schreckend darstellt, durch das Her-
vorheben des mächtigen Rufes oder Schreiens, das Apollon in dem
Augenblick erhebt, wo er die Ägis schüttelt,121) auf den Cullbeinamen
des BotjdQOfiwQ und Botj&oos> den selbst er in dieser seiner Schil-
derung nicht gebrauchen durfte, hat anspielen wollen, während anderer-
seits eben das ßotj in diesem Gultbeinamen als bezüglich auf die Stimme
des Donners seine volle Bedeutung erhält, wenn man es mit dem Attri-
but der geschwungenen oder geschüttelten Agis zusammenbringt. Sowie
aber das Attribut der Ägis und der Beiname Boedromios den Apollon
als Gott der Wetterwolke dürfte ihn auch noch ein anderes Attribut und
ein anderer Gultbeiname als Blitzgott angehn. Ich meine das Schwerdtm)
und den Beinamen Xqvöoxoq oder XyvödoQog, obgleich ich zugestehe,
dass sich das für jetzt wenigstens nicht strict beweisen lässt.1*)
4 4 9) Apollon BoSdromios, Erzstatue des Grafen Sergei Stroganoff u. s. w. Peters-
burg 4860. S. 5S ff.
ISO) Der Apollon Stroganoff und der Apollon vom Belvedere Göttingen 1864.
S. 7 ff.
194) IL 4 5. 390 f. avtaQ intl natevoma iddv JavadSv Ta%uncik(ov
o*7g, int d'avvbe avae \niya
4 98) Er führt es im Gigantenkampfe in zwei Vasenbildern bei Gerhard, Auserl.
Vasenbb. 4. Taf. 64 und Trinkschalen und Gefässe Taf. 9 und gegen Tityos in dem
münchener Vasenbilde No. 409 des Jahn' sehen Verzeichnisses, abgeb. b. Gerhard,
Trinkschalen und Gefässe Taf. G. 4 — 3.
4 93) Über Chrysaor als Blitz vergl. Stark: Mytholog. Parallelen in den Berichten
der kgl. sächs. Ges. d. Wiss. 4 856. S. 58 und Preller, Griech. Mythol. 4. Aud. 9.
S. 46. Sollte es Zufall sein, dass Apollon in eben der Stelle des 4 5. Gesanges der Ilias
49] Beiträge zur Ebkbnntniss und Kritik der Zelsreligion. 49
Drittens blitzt auch Ares. Für diese Behauptung kann ich mich
freilich nicht auf das Citat berufen, welches, seitdem Winkelmann m)
dasselbe gebraucht hat, von nicht wenigen unserer MythologQn1*5) ihm
nachgeschrieben, obgleich es gänzlich falsch ist; denn es ist kein anderes
als die so eben (Anm. 1 1 8) angeführte Stelle des Sophokles, die sich nicht auf
Ares , sondern auf Apollon bezieht. Eben so wenig berufe ich mich auf
die von Winkelmann angeführte Paste der Stosch'schen Sammlung, die
er in seinen Denkmälern unter No. 4 hat abbilden lassen, denn diese
stellt sicher Zeus und nicht Ares dar. Ich berufe mich vielmehr ganz
allgemein auf Ares9 Speer und behaupte, dass dieser nichts Anderes sei,
und nichts Anderes sein könne, als eben der Blitz. Es kann nämlich mei-
ner Oberzeugung nach keinem Zweifel unterliegen , dass Preller in der
neuen Auflage seiner Mythologie (1. S. 251) mit der Deutung des Ares
als des Gottes des finsteren Sturmgewölks am Himmel vollkommen das
Rechte getroffen hat, indem er den Gott, abgesehn von dessen Beinamen
Enyalios, über den ich ganz verschiedener Meinung bin , ganz so fasst,
wie ich ihn seit Jahren in meinen Vorlesungen über griechische Mytho-
logie gefasst und durchzuführen versucht habe. Ist diese Ansicht aber
die richtige, so folgt der Rest meiner Behauptung von selbst, und wenn
man den Speer der Pallas und der Palladien als den Blitz anerkennt, so
muss man auch den des Ares, den Speer des Gottes des Sturm- und
Donnergewölks als den Blitz anerkennen.
Ich will nun von denjenigen einzelnen und zweifelhaften Kunst-
werken und Stellen später Schriftsteller, die Winkelmann (a. a. 0.) weiter
citirt, um zu beweisen, dass auch Dionysos, Hephästos, Pan, Herakles,
Kybele, Here, Eros blitzwerfend vorkommen, ganz absehn, da die et-
waige Frucht ihrer genauen Kritik für meine Zwecke ohnehin wenig
austragen würde;136) mir genügt vollkommen, gezeigt zu haben, dass
in der er die Ägis führt sich vs. 256 dem Hektor ausdrücklich als Phoibos Apollon
Chrysaoros vorstellt? und weiter, sollte sich das Achselband des Stroganoff 'sehen
Apollon nicht bei erneuter Prüfung , die freilich nur von Stephani erbeten werden kann,
nicht als Telamon eines Schwerdtes anstatt als Köcherband erweisen?
124) »Ober die blizenden Gottheiten«, Alte Denkmäler 4. S.Cap. No. 3. 4.
425) Z. B. von Lauer a. a. 0. S. 242. Note 740, von Gerhard, Griech. Myth.
§ 343. 3.
426) Auch was sonst noch einzeln hier und da Ähnliches vorkommt, wie z.B. die
blitzwerfende Here einer Gemme von Kertsch Ann. 4 840. p. 4 6 und was Wieseler im
Bull. a. a. 0. und in den Jahrbb. des rhein. Altert hu msvereins a. a. 0. beigebracht bat,
glaube ich übergehn zu dürfen.
Abbaodl. d. K. S. Gel. d. Wiw. X. 4
50 J. OVERBECK, [50
ausser Zeus Pallas Athene und Ares und zwar regelmässig und nach
Naturnotwendigkeit ihres Wesens und dass Apollon in einer ganzen
Reihe von Culten, und zwar auch motivirter Weise, den Blitz führt, um
daran die Behauptung zu knüpfen, dass dem Zeus der Blitz ursprünglich
nicht als Zeichen der höchsten Herrschaft im Himmel und auf Erden oder
als dem absoluten Gotte beigelegt wurde, sondern dass er ihm, wie der
Pallas Athene und dem Ares, als dem Gotte zukam, der die Wolken am
Himmel sammelt und zerstreut, der weht und stürmt, regnet, hagelt und
schneit, dem ve^ektjye^Trjg und xthaivecpfjs, und dass Zeus eben des-
halb den Blitz in denjenigen seiner ältesten Culte nicht geführt hat , in
denen er als der Gott der himmlischen Luft und des Lichts und der
Gluthhitze des Äthers aufgefasst und verehrt wurde.
Über den Gultus des Zeus auf Bergeshöhen, auf den Welcker
S. 1 69 ff. ebenfalls ein grosses Gewicht legt , können wir uns noch kür-
zer fassen. Die Thatsache, dass Zeus an vielen Orten auf Berghöhen
verehrt worden sei kann und soll nicht bestritten werden, und sie bleibt
richtig und bedeutsam auch dann, wenn man Welckern einige Abzüge
in seiner Liste macht, so wenn man vor allen Dingen den »Berg der
schwerwinterlichen Dodona«, der nach dem oben (S. 32) Gesagten nicht
anerkannt werden kann, streicht, so ferner, wenn man eigensinnig genug
ist, den »Felsaltar des höchsten Zeus« in Athen für die Pnyx zu halten
und was' dergleichen mehr sein mag. Und ebenso bleibt die andere
Thatsache richtig und bedeutsam, dass andere Götter nur ausnahmsweise
Cultus auf Bergeshöhen hatten, wenngleich die Fälle wohl nicht ganz so
selten sind, wie es nach Welcker's Darstellung S. 1 70 scheinen möchte.127)
Aber darauf kommt es viel weniger an , als auf die Beantwortung der
Frage, in welchem Sinne dem Zeus der Cult auf Bergeshöhen galt? Und
4 27) Für die apollinische Religion darf z. B. der 22. und 23. Vers des delischen
Apollonhymnus nicht vergessen, an das Lykoreion auf der Höhe des Parnass , an den
Maleates auf der Höhe des Kynortion (Paus. 2. 27. 8) und den Pythaeus auf Thor na x
(Paus. 3. 4 0. 10) erinnert und geltend gemacht werden, dass der Tempel in Phigalia
hoch genug liegt, um sich mit manchem Heiliglhum des Zeus zu messen, Here heisst
Dirphya vom Berge Dirphys Gerh. Myth. § 2t 5. 5, das xoxxvyiov ogog Paus. 2. 36. 2
weist ebenfalls auf Bergcult; an den kyllenischen Hermes erinnert Welcker ; der Helios
Alabyrios auf Rhodos ist bekannt (vgl. für Helioscult auf Bergeshöhen z. B. Mercklin,
die Talossage S. 4 5 [mit Note 4 54] und S. I 6), und so findet sich noch Manches, welches
hier im Einzelnen zusammenzutragen ohne besonderes Interesse ist, vgl. Hermann,
GoUesdiensll. Alterthümer § 4 4.
51] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 51
da glaube ich , dass Welcker das Richtige trifft oder andeutet, wenn er
S. 169 schreibt: »Man glaubte dem himmlischen Zeus sich zu nähern,
wenn man am bestimmten Tage nach stundenlangem Aufsteigen das
Land und alles Irdische in's Kleine zusammengezogen und tief unter sich
sah, den Himmel wie allumfassend über sich.« Dem Himmelsgott, dem
Athergott, so scheint mir, galt der Cult auf den in den Himmel ragen-
den , gleichsam den Himmel stutzenden Bergen , auf deren Gipfel sich
deshalb auch der Himmelszeus niederlässt. Mit Zeus' angeblicher pri-
mitiven absoluten Gottnatur hat also auch dieser Gultus in seinen Wur-
zeln Nichts zu thun, den Himmelsgott Zeus aber brauchen wir uns durch
denselben nicht erst erweisen zu lassen.
5.
Wenn es mir gelungen sein sollte, durch die vorstehenden Ab-
schnitte darzuthun , dass Zeus in seinen ältesten und originalen Culten
so wenig wie in seinem Namen als der Gott schlechthin, als transmun-
daner Gott über der Natur charakterisirt wird, sondern als Gott des
Himmels, eines Naturreichs wie die anderen griechischen Götter, so er-
wächst mir nun, und zwar noch ehe ich mich zu dem Nachweise wende,
dass Kronion den Sohn des Kronos , den geborenen Zeus , nicht aber
den Gott von Ewigkeit her bedeute, die Aufgabe, Zeus1 Stellung im natio-
nal poetischem Göttersystem von der gegebenen Basis aus zu moti-
viren. Dass ich diese Stellung des Zeus wie das ganze poetische Götter-
system als die Frucht eines langsamen Wachsens und als das Resultat
einer Steigerung in der Idee von den Göttern im Zusammenhange mit
den Fortschritten in der Bildung der Nation betrachte habe ich schon
ausgesprochen ; es bleibt mir hier wesentlich eine Beleuchtung des Zeus
als narfiQ avÖQ&v re &&5v re, als vtpiarog kqcwvtcw, in seinem Verhält-
niss zur Moira und in seinem angeblichen »Schaffen« übrig.
Anlangend nun zuerst den Vater Zeus, und zwar den Vater der
Götter, so ist es überflüssig, darzuthun, dass dies Wort vielfach nicht
im genealogischen und eigentlichen , sondern im patriarchalischen und
uneigentlichen Sinne gebraucht wird und so allein gebraucht werden
kann, und dass es Zeus als ein »Clanshaupt« bezeichnet, um mich eines
52 J. 0 VERBECK, [52
Welcker'schen Ausdrucks (S. 179) zu bedienen, den er freilich S. 181
vergessen zu haben scheint, wenn er schreibt, dass das »Vater der Göt-
ter im eigentlichen Sinn gelte.« Welcker selbst hat eine Reihe von Stellen
angeführt (S. 179), in denen im Munde der Thetis, der Here, des Posei-
don die Anrede Zev 7iare(j schlechterdings nicht im eigentlichen Sinne
gebraucht sein kann; diese Stellen würden sich sehr wesentlich ver-
mehren lassen, wenn darauf Etwas ankäme, was aber deswegen nicht
der Fall ist, weil die genealogische Ableitung von Zeus, die den eigent-
lichen Sinn des Worts Vater begründet, sich auf einen verhältnissmässig
nicht sehr weiten Kreis von olympischen Göttern beschränkt. Die »vor-
läufige Übersicht des neuen Systems« bei Welcker S. 138 f. giebt eine
hier sehr brauchbare Zusammenstellung dieser genealogischen Ableitun-
gen von Zeus , aus der wir sowohl das langsame Zustandekommen wie
die verschiedenartig feste und zum Theil ganz lockere und äusserliche
Verknüpfung, die ja in einzelnen Fällen Nichts ist als ein Unterbringen
von fremden Göttern,128) wie endlich die Schranke und Grenze ermessen
können, örtlich, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten,
unabhängig von einander sind die Götter zu Geborenen und dann zu
Zeus1 Kindern geworden, und zwar aus sehr verschiedenen Gründen,
zum Theil aus solchen ihrer ursprünglichen Natur und des Verhältnisses
dieser zur Natur des Himmelsgottes ; so z. B. Athene als Ausfluss des
himmlischen Lichts und der Atherklarheit, Apollon und Artemis als Son-
nen- und Mondgötter, die Dioskuren als Morgen- und Abendstern, als
himmlische Erscheinungen , Hermes nicht als Gott des thieriscben Trie-
bes und des himmlischen Umschwungs (diesen Letzteren läugne und
bestreite ich überhaupt), sondern als Gott der Wolken, desgleichen Ares
in anderer Wendung, Hephäslos nach dem Glauben, dass das vulkani-
sche und irdische Feuer vom himmlischen im Blitz entzündet werde;
alle diese Götter, wie sie denn beschränktere Naturgebiete vertreten,
sind von Zeus als dem Gotte des umfassenden Himmelreichs in seiner
wechselnden Erscheinung und verschiedenen Einwirkung auf das Leben
der Erde abgeleitet, nicht als untere Götter von Gott, aus dem Gott-
begriffe des Zeus hypostasirt. Dafür liegt auch darin ein Beweis , dass
128) Dies gilt wenigstens nach Welcker* s Ansichten für die »thrakischen« Götter
Ares und Dionysos und für die orientalische Aphrodite; dass ich hier in gewissen Be-
ziehungen anderer Meinung bin kommt jetzt nicht in Betracht.
53] Beitrage zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 53
Poseidon and Aides Zeus' Brüder, nicht seine Söhne heissen, was Wel-
cker S. 241 »die eigentümlichste Ausweichung vom System« nennt.
Aber weder von einem System noch von einer Ausweichung von dem*
selben kann hier die Rede sein, sondern die Tbatsache gründet sich auf
die Dreitheilung der physischen Well, die Welcker hier (S. 241) und in
dem Abschnitte »Zeus mit zwei Brüdern« (S. 1 60 f.) sehr gut beleuchtet,
auf die ursprüngliche Goordination von Himmel, Erde und Meer, das
TQiX&a di navra didaorai, welches den Mythus von der Verkeilung der
Weltherrschaft unter die drei Kronidenbrüder geboren hat, und ur-
sprünglich von einer Unterordnung der zwei Anderen unter Zeus Nichts
wusste. Denn Poseidon ist eben wie Zeus Vater und Herrscher eines
grossen thalassischen Reichs geworden und Aidoneus unabhängiger
Herrscher in der chthonischen und katachthonischen Welt und würde
auch Vater sein , wenn die Idee des katachthonischen und des Reichs
des Todes ihn nicht hatte unfruchtbar werden lassen.
Wenn nun aber Zeus in einer Reihe von örtlichen Mythen und Sa-
gen Vater der meisten höchstgeehrten, mächtigsten und erhabensten
Götter geworden war, der Götter, deren geistige Auffassung ihre eigenen
Naturculte und die Gülte der mit der Natur concreter gebliebenen Gott-
heiten, wie Gäa, Helios, Selene u. A. wenngleich nicht örtlich (wo sie
ruhig fortbestanden), so doch im nationalen Götterglauben und vor Allem
in der Heldenpoesie verdunkelt, zurückgedrängt und beschrankt hatte,
so war es schon hiernach natürlich und in der Zeit patriarchalischer In-
stitutionen gegeben und bedingt, dass Zeus als der oberste, als der
Herrscher dieser seiner Kinder erschien und gefasst wurde."9) Und
diese Stellung musste ihm ferner die des Glanshauptes , des Herrschers
und patriarchalischen Vaters auch über die für den poetischen Glauben
untergeordneten Gölter eintragen, die genealogisch nicht von ihm abge-
leitet oder mit ihm verknüpft waren, und deren Unterordnung zum Theil
aus dem Siege im Titanenkampfe und einer Unterwerfung nach dem-
selben abgeleitet wurde, während andererseits das Beispiel der früher
und später örtlich und in den Culten entstandenen genealogischen Ver-
knüpfungen einer Reihe von Gottheiten mit Zeus weiter führen musste
4*9) Daraufweist den homerischen Zeus noch Poseidon hin II. 4 5. 197
&vyat6Qtooip yuQ n xul vikm ßikvtQov ettj
inna/Xoig int6<nr inoat'fitv, ovg rtxtv avvog,
oi i'&tv oTQvvovtog axovaovrat xal ctvdyxy*
54 J. OvERBECK, [54
und weiter gefuhrt hat, indem man das Wort Vater für Musen, Chariten,
Hören wörtlich verstand und in der Erdichtung von Müttern wörtlich
anwandte.
Dass ich aber die Gesammtorganisation der olympischen Basileia
unter Zeus als die Frucht der Organisation des heroischen Staates und
als sein Abbild betrachte, habe ich schon früher angedeutet, und will
darauf, da es hier nicht auf eine Durchführung im Einzelnen ankommt,
nicht nochmals zurückkommen.
Wenn nun die Grundsätze, die wir für den Vater der Götter gel-
tend gemacht haben richtig sind, so müssen sie auch für den Vater der
Menschen gelten , wie denn auch Welcker an der bereits angeführten
Stelle eine gleiche Auffassung der Phrase tcccttjq avdyow re &mv re für
beide Theile fordert. Hat sich uns nun der nartj^ &mv nur in einzelnen
concreten Fällen, namentlich im Munde der Athene und anderer leib-
licher Kinder, nicht aber allgemein im eigentlichen Sinne bewährt, so
kann auch der tvccttjq ävdQtov nicht und noch viel weniger im eigent-
lichen Sinne gelten oder verstanden worden sein. Welcker freilich be-
müht sich S. 181 f., eine wirkliche Vaterschaft des Zeus den Menschen
gegenüber zu erweisen, aber mit sehr geringem Erfolge, wie mir schei-
nen will. Wenn im Hymnus auf den pythischen Apollon (vs. 150, 336
Herrn.) die Götter und Menschen von den Titanen stammen, so wird
hiedurch selbst die Möglichkeit, dass sie nach einer anderen Ansicht von
Zeus stammen, die Welcker a. a. 0. behauptet, kaum, die Wahrschein-
lichkeit gewiss nicht erwiesen; wenn in der Sage von den Weltaltern
in den besiodischen Werken und Tagen 109 und 127 die Menschen des
goldenen und silbernen Geschlechts von den Göltern um Eronos ge-
macht werden (nofyoav) ,m) sowie die des dritten und vierten Ge-
schlechts von Zeus (143, 157 nolTjoe), so ist hier von einer Vaterschaft
im einen wie im anderen Falle keine Rede, denn es handelt sich um ein
Machen und Bereiten, facere und formare, wobei die Art und Weise im
letzten Falle nicht angegeben wird, wohl aber im dritten, bei dem eher-
nen Geschlechte, das Zeus ix /uehäv, doch wohl nicht als Vater, bildet.
Gleiches gilt von Simonides von Amorgos und von Piaton, die Welcker
4 30) Dass sich hiermit das bpo&tv ytyaaoi faoi ftvrpoi x av&Qamoi vs. 4 08
nicht vertrage und dass 4 08 nebst 4 06 und 407 als Interpolation zu betrachten sei
hat schon GÖttling erinnert, der auch mit gutem und vollem Recht auf das noluv,
efformare nicht procreare Gewicht legt.
55] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 55
(S. 182) anführt; ein Machen der Menschen aus Erde wie bei dem Letz-
leren (Polit. p. 37 t) begründet keine Vaterschaft. Aber freilich verwech-
selt Welcker die Begriffe von Schaffen , Machen und Zeugen auch sonst
noch, und wenn ihm Zeus im Ehebunde mit Here, Demeter und anderen
Gottinnen »schaffend« ist, warum sollte er da nicht als Vater gellen,
wenn er die Menschen aus Baumstämmen schnitzt oder aus Thon knetet?
Am schlimmsten aber fährt Welcker a. a. 0. mit der Stelle der Odyssee
20. 202 wo Philoitios sagt
ZeV 71CCT6Q
ovk iXeaigcig avdqa^ enrjv dtj yeivecu avrog x. r. A.
in der, wie Welcker schreibt, Schwenck vor langer Zeit131) eine Spur
der Ansicht erkannte, dass Zeus die Menschen »erschaffen« habe,
wenn auch der Widerspruch, welchen dies mit der homerischen Mytho-
logie bilde, nicht zu heben sei. Welcker aber meint, »Philoitios beziehe
sein yeivsai auf seine Anrede Zev ndrey, und man werde nicht sagen
wollen, dass er in seiner Ruchlosigkeit eines sonst im weiteren
Sinne genommenen Namens spotten wolle.« Gewiss nicht, und zwar um
so weniger, je weniger Philoitios, den Welcker mit Melanthios verwech-
selt zu haben scheint, ruchlos ist. Man werde vielmehr, fährt Welcker
fort, dem Scholiasten beipflichten, der an das narrjQ dvö^v re &ewv re
erinnert. Schwerlich! denn dann wäre in der That einem sonst in wei-
terem Sinne genommenen Namen eine andere und eigene Bedeutung
gegeben , die , mag sie ernst oder spöttisch gemeint sein , und zwar an
dieser einen Stelle, einen Widerspruch mit der homerischen Mythologie
begründet, der auch schwerlich dadurch zu heben ist, dass dem Philoi-
tios die Erinnerung an Odysseus den Gedanken an die dioyeveig ßaoi-
Xrjes nahe legen mag, sondern den zu beseitigen nur dann gelingen
möchte, wenn man eine versleckte Anspielung auf Herakles annehmen
dürfte, der gemäss man etwa hti\v xal yeivecu avrog , auch dann, wenn
du sie selbst gezeugt hast, schreiben müsste. Will man aber dies nicht
als Expediens gelten lassen, gut, so erkenne man den Widerspruch un-
verhüllt an, aber gründe dann auch Nichts auf ihn.
Auch dagegen muss ich Einspruch erheben, wenn Welcker S. 1 83
schreibt: »das Gefühl, dass die Menschen aus Gott seien, drückt im
Allgemeinen sich auch aus durch die unzähligen Sagen der Einfalt von
131) In der Zeitschrift für die Altertbuiuswissenschaft 1834. S. 951 .
&6 J. OVERBECK, [56
den Stammvätern aus Zeus und dessen Vermählung mit den Landen, als
Phthia, Ägina, Thebe, Taygete u. s. w.« Die Menseben? Nein, die
hochadeligen Anaktengeschlechter,19*) deren sich manche, viele bis auf
Zeus , so gut wie andere auf A pol Ion und andere Götter zurückführten,
und wie auch andere Götter mit den Repräsentantinen oder Heroinen
der Landschaften und Städte , wo jene Cult hatten , vermählt wurden,
wahrhaftig nicht in dem Sinne , den Welcker behauptet. Gleiches gilt
nich minder von Pind. Nem. 5. 7, wo die Äakiden, aber wahrlich nicht
»die Menschen« von Kronos und Zeus abgeleitet werden; und einzig
und allein für die Spätzeit, aus der Welcker a. a. 0. Kleanthes' ex rov
yag yevog softer und Aratos' nar^Q dvägäv — tov y&Q y&og ia/iiv citirt,
kann die Annahme einer Vaterschaft des Zeus deu Menschen gegenüber
zugegeben werden , während mit Bestimmtheit nach dem Vorherigen
zu läugnen ist, was Welcker behauptet, dass Epiktet's Ausspruch : »Wer
von der Lehre wahrhaft sich überzeugen kann , dass wir Menschen alle
von Gott bevorzugt geschaffen sind und dass Gott Vater ist der Men-
schen wie der Götter, der, mein' ich , wird über sich keinen unedlen,
keinen gemeinen Gedanken fassen« »auch für die älteste Zeit gel-
ten müsse. a
Wenn nun nach dem Allen gesagt werden muss, dass das nareQ Zev
und das nar^g ävÖQmv re &ewv re im Allgemeinen im figürlichen und
patriarchalischen Sinne gebraucht werde , so ist auch noch darauf hin-
zuweisen , dass mit diesem uneigentlichen und patriarchalischen Sinne
der Anrede: »Vater« sich die Ausdrücke ä?a£, vyiorog und vTiarog xqswv-
tco?, denen sich solche wie /urjdewv u. A. anschliessen aufs natürlichste
verbinden, Ausdrücke, die doch nicht so gar selten sind , wie Welcker
S. 479 annimmt, und die, weit entfernt zu dem ttccttjq einen Gegensatz
zu bilden , dessen Begriff der patriarchalischen Basileia nur nach einer
bestimmten Richtung hin präcisiren.
Hiernächst ist ein Wort zu sagen über das von Welcker S. 193 ff.
besprochene »Schaffen« des Zeus, welches ein Zeugen im Ehebunde mit
einer Erdgötlin ist. Wie zunächst die Alten dies »Schaffen« aufgefasst
haben, das lehrt uns ein Äschylos in dem bekannten herrlichen Frag-
13*) Götterl. 2. S. 215 heisst es bei Welcker: »dass die Könige und namentlich
die sagenhaften wie Dardanos, Tantalos [Söhne] von Zeus hiessen, und die Eitel-
keit stolzer Geschlechter und ihrer genealogischen Schmeichler, musste dann
auch zu vielen Dichtungen führen.«
57] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 57
mente der Danaiden , 18S) das Euripides 1M) nachgeahmt hat, oder auch
ein Vergil,185) von Neueren verweise ich besonders auf PrellerV*6) treff-
lich gehaltene Opposition. Welcker aber widerlegt sich eigentlich selbst,
schon indem er S. 196 Zeus in seinem Yerhältniss znr Natur »grund-
verschieden von Jehovah« nennt und wieder daselbst, wenn er schreibt:
»das Wort Schöpfer (Himmels und der Erden) fehlt den Sprachen, deren
Völkern eine absolute Trennung des Göttlichen von der Materie nicht
in den Sinn kam« d. h. den Ariern; nur dass er hierfür hätte sagen müs-
sen, die Idee, der Begriff oder das Dogma eines ausserweltlichen Gottes
von Ewigkeit her, der den Kosmos der ganzen Welt durch seinen Wil-
len und sein Wort schafft, fehlt diesen Völkern, fehlt auch den Griechen,
denen alle Schöpfung eine Zeugung war. Richtig ist, was wir S. 197
lesen, dass der Gedanke des Psalmisten: ehe denn die Berge geworden
und die Erde und die Welt geschaffen wurden bist du Gott von Ewig-
keit zu Ewigkeit, sich in der griechischen Religion nicht ausgesprochen
finde ; aber das ist es ja grade, worauf es ankommt, Zeus ist kein ausser-
welllicher Gott, kein Gott schlechthin wie Jehovah, sondern 'ein Gott in
der Natur, denn falsch ist es, wenn Welcker hinzufügt : »aber durch den
auf den Namen Kronion gelegten Nachdruck wird indirect angedeutet,
was dort ausgesprochen ist,« denn Kronion ist nicht entfernt der Gott
von Ewigkeit ber. Und so sollte man auch nicht sagen : »gewissermassen
ist Zeus allerdings Demiurg, der an der Materie bildet, die ohne seine
Zeugung keine lebendigen Gestaltungen darbieten würde , zu göttlichen
Werken [?] erst durch seine Gottheit befähigt wird. Die Natur ist unter-
geordnet indem sie ohne ihn immerdar unverändert ruhen würde;«
denn dies ist griechischen mythologischen Anschauungen diametral ent-
gegen. Es kommt aber gar sehr darauf an, diese Thatsache, dass die
Griechen die Idee des Schaffens eines vor der Materie dagewesenen
Gottes nicht hatten, und zwar weil sie keinen supranaturalen, transcen-
denten Gott kannten , sondern Zeus wie alle Götter von Anfang aus der
133) Bei Athen. 4 3. 600. C, wo man im ersten Verse statt ayvog was hier kaum
das Richtige treffen dürfte, da es auf die «/rorq? des ovfmrog hier am wenigsten an-
kommt, wohl Xayvos lesen möchte; freilich aber steht an der entsprechenden Steifte
bei Earipides atpvoe.
134) Daselbst. 43. 599 f.
435) Georg. 2. 323 ff.
136) Jahn's Jahrbb. a. a. 0. S.36.
58 J. Ovkrbeck, [58
Natur sind, so dass Zeus' Ehen nicht anders sind als die Ehen anderer
Götter, diese Thatsache unverhüllt auszusprechen. »Zeus ist, indem von
ihm die Gattin unzertrennlich, die aus seinem Verhältniss zur Erde her-
vorging« nicht »eben so innerweltlich (immanent) wie er überwelllich
(transcendent) ist« wie es S. 196 heisst, sondern er ist durchaus und
nur immanent, durchaus »hingegeben an die Welt« und gar nicht »in sich
zurückgezogen, nicht in sie aufgehend, oder Weltgeist.« —
Und nun Zeus und die Moira. Wenn sich uns Zeus weder in seines
Namens Urbedeutung, noch in seinen ältesten Culten, noch auch in sei-
ner Herrscherstellung in der Götterfamilie und im Götterstaat, noch fer-
ner als Schöpfer der Menschen und der Welt als Gott schlechthin gezeigt
hat, so könnte es scheinen , dass er sich als solcher in seinem Verhält-
niss zur Aisa, Moira offenbare. Denn ich stimme Welcker von ganzem
Herzen zu, wenn er die Idee eines Schicksals über Zeus und ausser Zeus
und den Göltern, über und ausser der gewöhnlichen göttlichen Vorsehung
und Vorherbestimmung bekämpft.137) Aber ich kann ihm nicht beistim-
men, wenn er die Moira , Aisa als identisch mit dem göttlichen Willen
zu Zeus allein in ein enges Verhältniss bringt. Sie ist nicht der Ausfluss
von Zeus' Willen allein, sondern von aller Götter Willen, sie eignet nicht
Zeus, sondern den Göttern als Göttern, als Theilhabern jenes abstracten
&eiov9 welches allein wir als die insita notitia angesprochen haben. Die
S. 1 87 von Welcker angeführten Stellen, obwohl sie nur zufällig, sichtbar
nicht absichtlich ausgewählt sind, in denen die Moira der Götter {Moi^a
focdv) steht, in denen die Moira als Ausfluss des Willens der Here, des
Apollon erscheint, genügen vollkommen, um meine Behauptung zu be-
weisen, die es denn wohl auch rechtfertigt, dass später nicht Zeus allein
MoiQayerrjs heisst, sondern auch Apollon, und dass, wie Welcker selbst
anführt, neben Zeus und wie Zeus auch Athene, Here. Apollon, Posei-
don, Kypris dieKeren senden oder abwehren. Dass aber die Moira öfter
zu Zeus als zu den anderen Göttern steht, und dass sich aus der Formel
i% Jio$ Moiqa die Vaterschaft des Zeus gegenüber den Moiren ent-
wickelt hat, wie sie die hesiodische Theogonie (904) kennt, das darf
uns nicht wundern, da dem Zeus als dem ßaotlevg des Olymp die ober-
ste Entscheidung in den Schicksalsdingen natürlich anheimfällt.
137) Götterl. i. S. 183 ff. Womit ich freilich nicht jedes Wort in diesem Ab-
schnitt unterschrieben haben möchte, worauf aber hier Nichts ankommt.
59] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zedsreligion. 59
6.
Wir kommen zum Zeus Kronion, in dem jedenfalls die Ansicht
Welcker's von der Zeusreligion culminirt. Die Erklärung des Kronos
als Chronos ist bekanntlich nicht neu, sondern von einer Anzahl unserer
bedeutendsten Mythologen bereits früher vertreten, eben so wenig kann
man die mit jener Erklärung im Zusammenhange stehende Deutung des
Kronion als des Gottes von Ewigkeit her in ihrem innersten Kern neu
nennen ; hält man Kronos für die Zeit, die unendliche Zeit, so kann man
ja Sohn der Zeit nicht anders als in dem angegebenen Sinne fassen.
Aber trotzdem ist in Welcker's Bearbeitung dieser Idee viel Neues, theils
in der sehr gelehrten und gründlichen Beweisführung für dieselbe als
Thatsache, theils in ihrer weiten Ausdehnung und Anwendung auf die
griechische Religion , endlich in der Erhabenheit der Auffassung. Des-
wegen, und obgleich ich keineswegs verkenne, dass schon von An-
deren, namentlich von Preller (a. a. 0. S. 37) Bedeutendes gegen
Welcker's Lehre eingewendet worden ist , kann ich nicht glauben , dass
es verlorene Mühe sei, dieselbe schrittweise zu verfolgen und sie in
ihrer Grundlage und in allen ihren Consequenzen neu zu prüfen.
Welcker beginnt seine Darstellung (S. 141) mit einer Behandlung
des Sprachgebrauchs bei Homer, zu der ich ihm folgen werde, nach-
dem ich zuvor noch einmal darauf hingewiesen habe, dass Homer für
den Zeus Kronion überhaupt unsere älteste Quelle ist, da das Wort,
wie ich schon oben (S. 22) bemerkt habe, uns in keinem der ältesten
Gülte auch nur zufällig entgegentritt. Es fällt mir nicht ein, diesen
negativen Beweis gegen das Alter des Kronion als an und für sich
schwerwiegend oder gar entscheidend zu halten, nur glaube ich, dass
er im Zusammenhange mit dem Ferneren ebenfalls einiges Gewicht ge-
winnen und zum Senken der Schale mit beitragen wird.
Untersuchen wir nun zuerst, ob Welcker's Deutung des Zeus-
beinamens Kronion nöthig sei, um die Thatsachen, die sich im ho-
merischen und späteren dichterischen Sprachgebrauch an ihn knüpfen
zu erklären. Welcker sagt a. a. 0. : » nun ist der Beiname Kronion von
allen des Zeus der häufigste bei Homer und Hesiodus und bei allen
Nachfolgenden um so mehr, als sie in den religiösen Ton der ältesten
Poesie einstimmen.« Dies leitet Welcker aus der von ihm angenommenen
Bedeutung des Kronion ab, durch welche, wie er sagt, dem Gölte das
60 J. OVERBBCK, [60
höchste Prädicat beigelegt werde. Aber gleich hier müssen wir fragen,
ob sich bei dem bekannten grossen Gewichte, das, namentlich auch in
den homerischen Gedichten, auf das naryo&ev övofxa&iv in der Be-
zeichnung und namentlich in der Anrede gelegt wird,138) die Thatsache
der überwiegend häufigen Bezeichnung und namentlich der Anrede des
Zeus als Kqoviwv oder Kqovidrjg nicht viel einfacher aus eben dieser
Sitte und aus der Analogie der noch häufigeren Bezeichnung und An-
rede des Agamemnon als Atreides130) erkläre? Und da es feststeht,
dass Homer Eronos als Person und als den Vater des Zeus kennt und
anerkennt,140) so kann ich allerdings nicht zweifeln, dass der Dichter
Kronion und Eronides so gut wie Sohn des Eronos genealogisch ver-
standen hat, und dass sich die Häufigkeit des Beinamens nicht aus
dessen Gewicht als »das höchte Prädicat,« sondern aus der Sitte des
natQo&ev ovo/ia^v erkläre. Und diese Bemerkung gilt eben so wohl
auch dem gegenüber, was Welcker im Verfolge des ausgezogenen
Satzes bemerkt: »auch wird Kronion und Eronides sehr oft allein statt
Zeus gebraucht, und wo es mit Zeus und einem anderen gewichtvollen
Beinamen verbunden steht, muss es eben so wohl wie dieser auch Ge-
wicht haben.« Ganz gewiss ; aber kein anderes als wenn Agamemnon
ausschliesslich Atreides genannt wird, was sich ebenfalls noch häufiger
findet, als Eronion und Eronides für Zeus,141) nicht selten aber, grade
wie bei Zeus, mit besonders ehrenvollem Nachdruck, so selbst im
Munde des zürnenden Achill 1 . 122: Arqddri vidierte. Und nicht ver-
schieden ist es , wenn andere hervorragende Helden , der Peleide , der
Tydeide, der Laertiade bei Homer nur natQo&ev genannt werden, wäh-
rend sich derselbe Sprachgebrauch in demselben Sinne bekanntermassen
auch auf die späteren Dichter fortpflanzt. Hiernach kann ich nun weiter
auch nicht als richtig anerkennen was Welcker S. 142 schreibt: »wäre
4 38) Es genügt auf II. 4 0. 68 and auf die Abhandlung Wachsmuth's, Hellenische
Alterthumskunde 4. S. 809 zu verweisen.
4 39) In den ersten 4 2 Büchern der Ilias steht Zeus Kronion und Kronides im
Ganzen 22 Mal, Atreides Agamemnon aber 32 Mal.
4 40) Vgl. 11.2.205,34 9; 4.69,75; 5. 721; 6. 4 39; 8.383; 9. 4 94; 4 2.450;
.44. 4 94; 45. 4 87; 4 6. 434 ; 4 8. 293, um von den Stellen der Odyssee abzusehn.
4 44) In den ersten 4 2 Büchern der Ilias steht Kronion und Kronides ohne Zeus
allein oder mit einem anderen gewichtvollen Beinamen verbunden 28 Mal, Atreides
ohne Agamemnon allein oder mit einer zweiten gewichtvollen Ehrenbezeichnung ver-
bunden aber 44 Mal.
61] Beiträge zur Erkenntmss und Kritik der Zeusreligion. 61
dieser Name zuerst aufgekommen durch die Genealogie , so würde er
weder einen so nachdrucksvollen und häuGgen Gebrauch in Bezug auf
Zeus erhalten haben, noch würden dessen beide mythologische Brüder,
denen der Name nur genealogisch zukommt , von diesem Gebrauche in
solchem Grade ausgeschlossen sein«; denn während sich der nach-
drucksvolle und häufige Gebrauch bei Zeus aus der Sitte des ncxrqo&ev
övofMa&iv wie gesagt und aus der Analogie besonders des Atreiden bei
Agamemnon ganz natürlich auch bei der blos genealogischen Geltung
des Kronion erklärt, so erklärt sich eben so einfach die Ausschliessung
des Poseidon und Alfdoneus von demselben Ehrenbeinamen zum Theil
schon dadurch , dass diese Götter die jüngeren Brüder sind , während
Zeus als Erbe und Thronfolger des Kronos der Kronide katexochen ist.
Wie sehr aber der genealogische Ehrenname und grade dieser an dem
Altesten haftet, das lehrt uns wieder; die Analogie der beiden Atriden.14*)
Ungleich vollständiger dagegen und in der That in erschöpfender Weise
erklärt sich die Ausschliessung des Poseidon und Aftles von dem Bei-
namen der Kroniden dadurch , dass sie erst durch Mythenpragmatismus
oder »jenen combinatorischen Mythus« wie Welcker sich S. 4 41 aus-
drückt, welcher sie zu Brüdern des Zeus macht, überhaupt zu Kro-
niden geworden sind , was Welcker a. a. 0. berührt und S. \ 60 ff.
weiter ausführt. Der Mythus vom Kronos selbst , das glaube ich hier
nicht erst beweisen zu dürfen , da ich auf diesen Punkt ohnehin in an-
derem Zusammenhange zurückkommen muss, haftet in seinen Wurzeln
und in seinem ganzen Umfange ursprünglich an Zeus allein, und er ist
auf die beiden anderen Götter als die Brüder und die drei Göttinnen
als die Schwestern des Zeus einzig und allein im theogonischen System
Kkt) Während nämlich Menelaos in den vielen Stellen , in denen er vorkommt
stets als ßor}¥ uyaöbg oder «(»qfyiAof oder iav&bg vorkommt, führt er den Beinamen
Atreides in den ersten \ * Büchern der Ilias Alles in Allem 8 Mal , Agamemnon aber
wie schon bemerkt Alles in Allem 75 Mal, wobei die Stellen angerechnet sind, in denen
die zwei Atriden als 'AxQtidai vorkommen , Stellen von denen man leicht zugestehn
wird, dass in ihnen der Ehrenname eigentlich an Agamemnon haftet und auf den
jüngeren Bruder mit übertragen ist. Nun kommen freilich Poseidon und Ai'doneus selbst
nicht einmal so oft als Kroniden vor, wie Menelaos Atride heisst ; aber wenn man aus
der Häufigkeit ihrer beiderseitigen Erwähnungen überhaupt ein Recbenexempel auf-
machen würde, so würde man finden, dass sich die Zahl der Stellen, wo Menelaos
vorkommt zu denen , wo er Atride heisst wesentlich proportioual verbalten zu denen
wo jene Götter vorkommen und wo sie Kroniden heissen.
62 J. OVERBECK, [62
und nur so weit übertragen worden , wie dies die Consequenz des Sy-
stems gebieterisch forderte. Und wiederum erklärt sich aus der That-
sache, dass der ganze Mythus von Kronos ursprünglich nur den Zeus
angeht, oder vielmehr, es bestätigt diese Thatsache was Welcker a.a.O.
weiter bemerkt, dass nämlich »nur die Geburt des Zeus von Rhea auf
einigen Punkten gefeiert worden ist, nirgend143) die der ihm ge-
gebenen Brüder.« Denn dass Rhea den Zeus geboren, und nicht allein
geboren, sondern auch vor seinem Vater gerettet hat, das ist ein wirk-
licher, wenn auch, kein Urmythus, eine ausführlich auch von den
Dichtern erzählte Geschichte, dass aber Poseidon so gut wie Axdes, wie
Here, Hestia und Demeter Rhea's Kinder sind, ist kein irgendwie signi-
ficanter Mythus , wenigstens nicht für die nationale und poetische My-
thologie, sondern eine blosse Folge der combinatorischen Theogonie,
folglich auch gänzlich gleichgiltig.#Wenn aber Welcker S. 1 41 f. schreibt:
»grade dass bei Homer Kronion als Ehrenname stetig allein des Zeus
gebraucht, sowie dass dieser von ihm dagegen nie ein Sohn Rhea's ge-
nannt wird, beweist, dass gegen diesen neueren Mythus die alte reli-
giöse Anschauung sich noch in Kraft erhielt, nach welcher Kronion be-
stimmter als Zeus den Unterschied Gottes von der Welt ausdrückt, und
nach welcher allein Zeus ursprünglich und wesentlich Kronion war«,
so muss ich darauf entgegnen, dass auch bei keinem einzigen Helden,
der nargo&ev genannt wird, die Mutter jemals mit irgendwelchem
Nachdruck erwähnt wird, wie denn auch von allen Göttern und Göt-
tinen nur Apollon und Hermes als Söhne des Zeus und der Leto resp.
der Maias vorkommen. Und zwar, weil das fitjtQo&ep övofia&w durch-
aus nur Ausnahme und unhellenische Sitte ist.144) Nach diesem Allen
glaube ich mit Bestimmtheit, behaupten zu dürfen , dass wir in keinem
Falle der Anwendung des Kronion bei Homer zu der Welcker'schen
Erklärung zu greifen nöthig haben , dass vielmehr ganz gewiss im Be-
wusstsein des Dichters, dem Kronos eine Person und reale Grösse ist
143) Vergl. jedoch Pausan. 8. 8. 1 u. 3, jene immerhin merkwürdige Stelle, in
welcher von Rhea nach der Geburt des Poseidon Ähnliches berichtet wird wie der
populäre Mythus von ihr nach Zeus' Geburt erzählt, merkwürdig auch dadurch, dass
Pausanias angiebt , durch diesen Mythus zum Glauben an die rätbselvolle Sinnigkeit
der griechischen Mythologie bekehrt worden zu sein , was Forchhammer im Philologus
f 4. 3. p. 385 ff. ausgebeutet hat.
\ 44) Bachofen in den Verhandlungen der Stuttgarter Philologenvers. S. 40.
63] Beiträge zur Ehkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 63
nach Analogie seines gesammten Sprachgebrauchs, Kronion, Kronides
und Sohn des Kronos einzig und allein mit Beziehung auf den wirk-
lichen mythologischen Vater des Zeus gesetzt ist.
Was aber den Sprachgebrauch der späteren Dichter anlangt, na-
mentlich zunächst denjenigen Pindar's , über den Welcker S. 1 42 han-
delt, so erklärt sich dieser ebenso aus der feststehenden mythologischen
Thatsache und aus dem grossen Einflüsse der epischen Poesie, dem
sich so leicht kein späterer Dichter entzieht145) und am allerwenigsten
ein Pindar, mit seiner »Hingebung an den Mythus«, die Welcker selbst
hervorhebt.
Wenn man nun die vorstehenden Bemerkungen über Homer' s Ver-
hältnis zu den Namen Kronion und Kronides anerkennt, so könnte man
sich immer noch um die von Welcker angenommene Bedeutung dieser
Worte zu vertheidigen, auf die zweite Position zurttckziehn, Homer selbst
habe das überkommene Urwort Kronion misverstanden und, durch die
eingebürgerte Genealogie, nach der Zeus ein Enkel ist, irre geleitet,
dasselbe im gewöhnlichen Sinne falsch angewendet; und allerdings
finden wir bei Welcker S. 1 42 die Behauptung , welche das Einnehmen
dieser zweiten Position wenigstens vorbereitet: »der Name Kronion ist
so alt wie für uns im griechischen Alterthum irgend Etwas.«
Aber wo wäre auch nur der Schatten eines Beweises fUr diese Be-
hauptung? wo die Möglichkeit, einen Beweis zu finden, als in den
ältesten Culten, in denen man aber wie bemerkt, vergebens suchen
wird. Denn das Einzige, was nun noch übrig bliebe, nämlich die zweite
Behauptung , Kronion erkläre sich aus sich selbst, und verbürge in sich
selbst sein Alter, wie der Name des Zeus, diese Behauptung hat Welcker
nicht ausgesprochen, und die wird auch wohl kein vernünftiger Mensch
im Ernst aussprechen. Dagegen sucht Welcker die aufgestellte Bedeutung
von Kronion durch den Nachweis zu erhärten , dass Kronos Chronos,
Zeitgott im Sinne vom Gott der unendlichen Zeit sei ; wenn ihm dieser
Nachweis gelänge , so würde er, das muss man zugestehn , die mehr-
berührte zweite Position einnehmen können, und zu behaupten be-
rechtigt sein : Homer hat das ihm überkommene Wort Kronion misver-
J 45) Herodot's berühmter Ausspruch über Homer und Hesiod : ovrot di iimv oi
notfjffotTte rfjv ftiQyovir\v "EXkqotv xcii voiai Ösoiai rag inantvfiiag dovceg x. r. A. ent-
hält im Hinblick auf die spätere Poesie , den poetischen Nationalmythus eine grosse
und beherzigenswerthe Wahrheit.
64 J. OVEHBBCK, [64
standen; und weiter: folglich ist dasselbe wenn auch grade nicht als
Urwort wie Zeus, doch als sehr alt und als alter denn der genealogische
Mythus erwiesen. Freilich. Wir haben also zu untersuchen, ob Welcker
den Nachweis von Eronos9 Bedeutung als Chronos gebracht habe, ob
dieser überhaupt zu bringen sei.
7.
»Kqovoq ist xqovos, die Zeit « Es sei mir verstattet, diese
Grundbehauptung, mit der alles Andere steht und füllt, zuerst sprach-
lich, sodann an den Zeugnissen der Alten und endlich sachlich zu prüfen.
»Kronos, also schreibt Welcker S. 1 40, ist XQ°V°£> die Zeit, und wurde
als Eigenname so in der Schrift gestempelt,146) wie Ka^fAavwQ für Xa$-
fidvtoQy '^[MpixTvwv füv^{upurri<Dr,U7) wie vielen alten Namen geschehen
ist.« Beziehn sich die letzten Worte , wie aus dem Beispiel des Ap-
yixriKov mit v für * geschlossen werden muss , im Allgemeinen auf die
bekannte Thatsache , dass viele mythologische Namen durch eine ge-
ringe Veränderung der Form aus Appellativen herausgebildet und zu
Individualnamen differenzirt sind ,148) so ist dagegen Nichts einzuwen-
den ; hat Welcker als er sie niederschrieb aber speciell den Wandel des
* und % a's eines der Mittel zur Bildung der Individualform aus dem
entsprechenden Appellativum im Auge gehabt, und meint er, dass viele
alte mythologische Namen eben durch dieses Mittel ausgeprägt und aus
dem Appellativum differenzirt worden seien , so muss man bedauern,
dass er ihrer nicht mehre nennt, und namentlich, dass er nicht mehr
Beispiele mythologischer, in hochalterthttmlicher Zeit , um die es sich
doch zunächst, ja allein handelt, so gebildeter Namen anführt. Vielmehr
4 46) Im Rhein. Mus. a. a.O. beisst es statt dessen jedenfalls richtiger, »dass der
Anfangsbuchstabe nur der verschiedenen Aussprache angehöre«, denn die Fixirung
des Namens Kronos, er sei entstanden wie er entstanden sein mag, liegt natürlich
aller Schrift weit voraus.
4 47) Im Rhein. Mus. a. a. 0. werden als Analoga weiter hinzugefügt: JfCQtjtmov
von XQfimog, Kffjotiag für X(pi*iXag und &*(pldt](iov , K*QiXa<; auf phrygischen und
I milesischen Münzen.
' 448) Vergl. auch Welcker, Gölterl. 4. S. 4 33.
65] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 65
ist unter den von Welcker angeführten Beispielen mythologisch und alt
nur KaQfiaPiDf), für welchen doch die Erklärung 0. Müllers (Prolegg.
S. 4 59) aus Kad-aQfiavwQj welche dem Wesen und Wirken des Karmanor
vortrefflich entspricht, immer noch erwogen zu werden verdient, und
somit dürfte die Erklärung des Kronos aus xqovos in mythologischen
Analogien bis jetzt schwerlich eine starke Stütze finden. Ist dies aber
nicht der Fall, so kann man auch den übrigen von Welcker angeführten
Beispielen eben kein grosses Gewicht beilegen , vielmehr verfangen sie
eben so wenig , wie Alles , was man schon seit langer Zeit und oft
genug149) zur Begründung der Ableitung des Kq6vo<± von xqovoc, vor-
getragen hat. Man beruft sich auf den Wechsel von % und % in den Dia-
lekten , auf die Thatsache des ionischen % für % \ aber man vergisst
Zweierlei nachzuweisen, was hierbei sehr genau in Frage kommt,
erstens nämlich, dass entweder Kronos der Gott von einem Volksstamm
benannt worden sei , der überhaupt in analogen Fällen * für % sprach,190)
oder zweitens dass irgendwo und irgendwann in Griechenland das Ap-
pellativ XQ°V0$ xqovoq gesprochen worden sei. Bis aber entweder my-
thologische Analoga zu der Individualdifferenzirung des Zeitgottes ifyo-
vog, der bekanntlich auch spät noch als Xqovoq vorkommt, aus dem Ap-
pellativ xQovog beigebracht , oder bis die eben angedeutete Alternative
erwiesen worden sein wird, muss es erlaubt sein, die Erklärung des
Kqovoq aus xqovos besten Falls für möglich, gewiss aber nicht, sie für
zwingend oder erwiesen zu halten.
Nächst dem Namen selbst zieht Welcker auch das Epitheton äyxv-
koptjrrjs, welches dem Kronos bei Homer oftmals, bei Hesiod (Theog.
168) in der Geschichte des Herrschaftswecbsels gegeben wird, zum
Beweise der Deutung des Kronos als xQovog heran, insofern er S. 143
schreibt, dies Beiwort scheine Kronos »als der Zeit« zuzukommen«
Aber er widerlegt sich selbst S. 265, wo er diesen Gedanken weiter
begründet, und schreibt : »Zeus wird genannt Kq6vov nah äyxvkofirJTea*.
Nun ist zwar die Zeit das Weiseste, wie Pindar, denn sie erfindet Alles,
4 49) Vergl. z.B. Buttmann, Mylhologufl S. S. 33, griech, Gramm. § 47, Kühner,
ausfuhr!, griech. Gramm. § 39 a.
4 50) Der kretische Künstler Kresilas gehört einer anderen Gegend der völker-
banten Insel an (Kydonia) als diejenige, wo der Kronosmythus Wurzel halte and einer
Zeit, deren Dialekteidentität mit der Zeit der Entstehung des Kronosmythus man
schwerlich ohne Beweis zugestehn wird.
Abh.ndl. d. R. 8. Gel. d.Wisg. X. 5
66 J. OVBBBECK, [66
wie Thaies sagt krummsinnig aber scheint Kronos doch so
allgemein nicht mit Bezug auf den Begriff der Zeit genannt zu sein,
als deren Wege unerforschlich seien, wie Wegkrümmen undurchschau-
bar, sondern mit Bezug auf einen besonderen, auffal-
lenden, gelungenen Streich, auf eine einzelne Dichtung.«
Dem ist einfach beizustimmen , denn ganz gewiss bezieht sich das Bei*
wort dyxv)iofxrjTrjgy welches als ein besonders charakterislisches ständig
geworden, auf die Geschichte, den Mythus selbst, in dem es Hesiod ge-
braucht, und nach welchem Kronos sich mit der ihm von Gäa gegebenen
Harpe in den Hinterhalt legt und aus diesem heraus, feig und listig,
nicht mit offener Gewalt den Vater bezwingt. Zeus hat Kronos und die
Titanen im offenen Kampfe , mit grader Gewalt bezwungen , Kronos hat
durch Hinterlist und Heimtücke gesiegt, darin liegt der charakteristische,
auch die Folgen bedingende Unterschied der beiden Geschichten vom
Thronwechsel, wie sie die Theogonie erzählt, und darin zugleich der
Unterschied im Wesen der beiden Götter, welches auf Seiten des Kronos
durch das die ganze Geschichte in nuce enthaltende Epitheton äyxvXo-
fj^njg bezeichnet, festgehalten und ausgeprägt ist. Und wenn Welcker
im Verfolg der angezogenen Stelle (S. 265) weiter schreibt: »so ist es
der naYven , volksmässigen Auffassung gemäss , nach welcher der die
Idee in ein mystisches Räthsel einkleidende Weise sich richtet, indem
er dabei seinen eigenen Gedanken im Sinn behält «, so vermisse ich
hier eben so wohl die nähere Bezeichnung , welcher Weise hier gemeint
sei, wie für die Schlussworte des Satzes allen und jeden Beleg101). Ist
dem Homer Kronos eine mythische Person wie seine anderen Götter,
und an dieser Thatsache kann ernstlich nicht gezweifelt werden, so ist
es unbegreiflich , aus welchem Umstände man merken oder schliessen
soll, dass er das aus dem Mythus vollkommen erklärte Beiwort anders
als in dem mythischen, naYven und volksmässigen Sinne verstanden
4 51) Es macht einen eigenen und, ich kann es nicht verhehlen, peinlichen Ein-
druck , Welckern hier auf jenem Standpunkte Creuzer's zu finden, von dem aus dieser
die alten Dichter und namentlich auch Homer als priesterlich eingeweihte Weise be-
trachtete, welche dem einfältigen Volke nur die Hülle von ihnen selbst ganz anders
begriffener Geheimlehren mittheilen. Bei Creuzer's trotz aUer weitläufigen Gelehrsam-
keit eminenter Unklarheit konnte dies nicht auffallen und ist ein solcher Standpunkt
wenigstens consequent festgehalten, wie er sich mit der historischen und kritischen
Klarheit eines Welcker verträgt ist ein für mich unauflösliches Räthsel.
67] Beitrags zur Ereenntniss und Kritik der Zeusreligion. 67
habe ; und genau dasselbe gilt von den späteren Dichtern , welche die
mythische Thatsacbe als solche berichten. Das vorhomerische Alter-
thum, das Welcker S. 264 wie für den ganzen Mythus so auch für das
Beiwort des Kronos in Ansprach nimmt, bin ich weit entfernt zu be-
streiten oder anzuzweifeln, was ich behaupte ist nur dies, dass gleich-
wie dem Homer der Mythus von dem Thronwechsel als Mythus zukam
und von ihm als Mythus, ohne alle erforschbare reservatio mentalis
wiederberichtet wurde, ihm ebenso das Wort dyxvko/uijTrjg in seinem
mythischen Sinne zugekommen, und von ihm in eben diesem Sinne
grade so naiv und volksmässig gebraucht ist, wie der ganze Homer
durchaus naYv und volksmassig ist.138) Und danach kann ich das Wort
dyxvXofi^rrjg eben so wenig wie den Namen Kronos als einen Beweis
gelten lassen , dass Kqovog Xqovos sei.
Ich wende mich nun zu einer Prüfung der antiken Zeugnisse, durch
die Welcker, wie er S. 1 43 schreibt, beweisen will : »neben dem genea-
logischen Mythus hat sich auch die Idee immer erhalten«, nämlich
die Idee, dass Kronos die Zeit und Zeus Kronion der Gott von Ewigkeit
her sei. Mit je mehr Bitterkeit Welcker im Rhein. Mus. a. a. 0. S. 625
es seinem Recensenten im Philologus als einen Beweis von mangelnder
Achtung des Gegners und der Wahrheit vorwirft, dass er, anstatt sich
auf alle die hier in Rede kommenden Beweismittel Welcker's einzu-
lassen, nur auf die von ihm natürlicherweise als nichtig bezeichneten
mannigfaltigen Spielereien verwiesen hat, welche die Orphiker mit
Kronos getrieben haben ,15S) um so mehr muss ich eine gewissenhafte
Prüfung dieser Welcker'schen Beweisstücke als meine Pflicht anerkennen,
und um so mehr darf ich hoffen, Welckern durch sie einen Beweis meiner
Achtung vor ihm und vor der Wahrheit zu geben«
Zum Eingange muss ich , besonders da es sich hier um ein angeb-
liches »sich erhalten« der Idee handelt, nochmals daran erinnern, dass
Zeus in keinem seiner ältesten Culte jemals Kronion genannt worden
oder für uns als Kronion erkennbar ist, und dass Homer, der älteste
Zeuge des Namens Kronion, denselben durchaus als persönliches Patrony-
mikon, Kronos als persönlichen Gott und Vater des Zeus versteht. Das-
\ 52) Nägelsbach, homerische Theologie S. 5 ff.
4 53) »Den unbestimmt weiten Kreis orphischer Ansichten w nennt es Welcker,
Götterl. 1. S. U3.
5*
68 J. OVERBECK, [68
selbe gilt unbestreitbar für Hesiod, eben so unbestreitbar für die von
Homer abhängigen Dichter des Kyklos.154) Ähnlich verhält es sich mit
dem olenischen Hymnus, den Welcker S. 144 herbeizieht, und von
dem er meint, dass in ihm »nach einer besonderen mystischen Spe-
culation« Eileithyia die Mutter des Eros älter als Kronos genannt werde
(Pausan. 8. 21. 3). Aber hier ist Kronos sichtbar und sicherlich nicht
als ewige Zeit, als Ewigkeit gedacht, wie Welcker es S. 144 f. nimmt,
denn : älter als die Ewigkeit ist Unsinn ; der Sinn aber des olenischen
Gedankens ist, die Eileithyia als zu den Urgöttern gehörend zu bezeich-
nen, die älter sind als selbst die zweite Götterdynastie der populären
Poesie. Und wieder ganz ähnlich verhält es sich, wenn Epimenides
Aphrodite , die Moiren und Erinnyen Töchter des Kronos und der Eu-
rynome nennt (Welcker a. a. 0.) ; sie sollen als Urgölter bezeichnet
werden, die Moiren speciell der populären Darstellung in der hesiodi-
schen Theogonie gegenüber, welche sie (vs. 904) zu Töchtern des Zeus
und der Themis macht. Dass die Moiren nicht erst mit Zeus und durch
Zeus auf die Welt gekommen seien, dies will er sagen und dies sagt er;
warum hier Kronos im Sinn von Ewigkeit stehn solle, das vermag ich
nicht abzusehn.
Aber auch Pindar gebraucht Kronion erweislich nur genealogisch,
denn, wenn er Zeus »in Hingebung an den Mythus« (Welcker a. a. 0.
S. 142) als Rhea's Sohn anruft, »für Olympier selige Kroniden und
Könige, des Kronos Söhne sagt, Here und Hestia als Töchter der Rhea
preist und den Poseidon einige Male Sohn des Kronos nennt« (Welcker
a. a. 0.), so ist vollständig unerweislich, dass er in den 16 Stellen, in
denen er Vater Kronion oder Kronion , Kronides allein sagt , dabei an
etwas Anderes als an den genealogischen Mythus gedacht habe ; ja aus
seiner ganzen schlichten Frömmigkeit und Gläubigkeit, welche nicht
am wenigsten in der bekannten Kritik sich offenbart, die Pindar an ihm
unwürdig dünkenden Mythen übt ,,M) ergiebt sich mit grosser Wahr-
scheinlichkeit, ja ich möchte sagen mit Gewissheit und Notwendigkeit,
4 54) Übrigens kommt in den uns erhaltenen Fragmenten des Kyklos Kronion
und Kronides je nur ein Mal vor, ersteres bei Stasin. Kypr. fragm. 7. vs. 5, letzteres bei
Lescb. IL parv. fragm. 6 nach Welcker' s Zählung im Epischen Cyclus 3. S. 54 3 u. 534.
4 55) Yergl. Seebeck über den religiösen Standpunkt Pindar's im Rhein. Mus. 3.
(4 845) S. 504 ff. , wo auch die Motive der Mythenkritik Pindar's gut beleuchtet sind.
69] Beiträge zur Erkerntniss und Kritik der Zeusreligion. 69
dass er in der That nie etwas Anderes als den genealogischen Mythus
im Sinne gehabt habe.
Weiter: »anspielend auf die eigentliche Bedeutung, schreibt Welcker
S. 144, nennt Aschylos Kronion (Zeus) aiwvog xQtwv dnavarov (Suppl.
569 Weil.) Sophokles (Antig. 604 Herrn.) äyrjQox; xqo*<P«i und doch
sagt derselbe Aschylos (Prom. 91 3)
nargog d* äga Kqovov tot rjdt] navrekobg xQav&rjaeras,1**)
und Sophokles (Trachin. 1 27)
ö narret ntqaivwv ßaaikevg Kqovldag,
Beide offenbar anspielend auf eine andere Bedeutung und Etymologie
von Kronos , und zwar viel offenkundiger, als in den von Welcker an-
gezogenen Stellen auf die von ihm als die eigentliche snpponirte Be-
deutung von Kronion , der auch in diesen Stellen nicht , wohl aber in
den beiden von mir entgegengesetzten genannt wird. Zu diesen beiden
Stellen aber fügen sich diejenigen, die ich hier wohl nicht im Einzelnen
nachzuweisen brauche, in welchen beide Dichter Kronos als Person,
als entthronten Vater des Zeus kennen, und den Mythus im populären
Sinne ohne selbst versteckte Hintergedanken handhaben. War ihnen aber
Kronos Person, wie sollte ihnen »der eigentliche Sinn« von Zeus Kro-
nion aufgegangen oder bei ihnen neben dem genealogischen Mythus
»erhalten« sein.
Pherekydes von Syros begann, wie Welcker S. 143 citirt, sein
Werk : Zeug fikv xai Xqovog eig äei mal X&tov ijv9 was so nach dem
Zeugniss des Diogenes von Laerte , in anderen Worten von Mehren be-
zeugt wird.157) Hier hat nun Welcker ganz gewiss Recht, dass nicht wie
Preller 158) wollte , gegen alle Handschriften Kgovog zu andern sei , aber
es fehlt auch der Nachweis , dass Pherekydes mit einem Gedanken an
Kronos gedacht habe , was auch von Brandis a. a. 0. anerkannt wird.
Der Sinn ist, wie auch bei Herrn ias130) angedeutet wird, wahrscheinlich
dieser: im Anfang war Gott und die ewige Zeit, in der sich Alles ent-
4 56) Auch in dem Vers Eum. 759: IJakXädog Kai Ao%lov txai* %ai xov nana
xQcttPOvrog tqitov OtoTrJQOQ dürfte in dem navta xQaipovrog auf Kronion in diesem
Sinne angespielt oder jenes für dies gesetzt sein.
4 57) Vergl. Pherecyd. fragmm. ed. Sturz p. 40 ff., Welcker's Note a. a. 0. und
Brandis Geschichte d. griech. Philosophie 4. S. 80 ff.
4 58) Im N. Rhein. Mus. 4. S. 379.
4 59) Irris. gentil. philos. p. 4 t. 6 ptv aiörjQ ro notovv (Zeus) ^ dt yij ro nao-
XOv, 6 Öt XQovog iv «5 zä yiyropiva.
70 J. OVERBECK, [70
wickelt und die Erde, darauf Alles ist; oder es waren, wie Brandis
ausführt , Chronos und Zeus zugleich als höheres, schaffendes und be-
lebendes Princip bezeichnet , %&&v aber oder X&ovirj als der Inbegriff
des Stofflichen gefasst. Vom Kronos ist, fasse man die Worte wie man
will, keine Rede. In ähnlichem Sinne hat auch Pindar (Ol. 2. 17.) die
Zeit, xqovov den Anfang aller Dinge genannt, ohne entfernt an Kronos
zu denken.
Und wenn nun Kratinos, um auch diesen zu berücksichtigen, den
Perikles scherzend einen Sohn der Empörung und des nQeoßvywrjQ
Xqovoq nannte (Welcker S. 144), so hat Welcker wiederum ganz Recht
zu sagen, dies dürfe nicht in Kqovog geändert werden; einen Sinn hat
die Stelle nur, wenn Perikles als Emporkömmling Sohn der Empörung
und der Zeit genannt wird , mit Kronos hat sie Nichts zu thun , denn
es ist nur ein witziger Einfall, der Zeit, %q6vo$ ein Epitheton zu geben,
welches an und für sich auch für sie passend , den Namensanklang an
Kqovoc verstärkte und zur Yerpersönlichung des unpersönlichen und
unmythischen %qovo$ als Vater neben der Mutter Empörung beitrug.
In allen bisher besprochenen Stellen vermag ich einen Beweis für
die Auflassung des Kronos im Sinne Welcker' s nicht anzuerkennen;
aber, sollte ich mich hierin irren , so bleibt immer noch die Frage be-
stehn, ob denn die Auffassung der Tragiker, Pindar's, des ältesten
prosaschreibenden Philosophen zu beweisen im Stande sei was Welcker
beweisen will und muss beweisen wollen, nämlich es habe sich die
Idee neben dem genealogischen Mythus »immer erhalten«? Diese
Frage bleibt bestehn und berechtigt bis die Existenz der Idee auch in
den ältesten Zeugnissen und von ihnen herab in ununterbrochener Folge
nachgewiesen ist. Denn bis dies geschehn ist , was wohl nie gescbehn
wird und kann, bleibt mir immer noch zu sagen übrig, dass der in
den ältesten Quellen rein genealogisch verstandene Kronos bereits
von Pindar, Pherekydes, Äschylos, Sophokles anders verstanden, um-
gedeutet , nach scheinbarer Etymologie neu erklärt worden sei , bereits
von diesen Alteren so gut wie von nicht wenigen Jüngeren. Denn dass
dieses geschehn sei kann freilich Niemand bezweifeln. Nur scheint mir,
und nicht mir allein ,lö°) das älteste , nicht anders erklärbare Zeugniss
4 60) Auch Buttmann imMythologus 2. S.34 und Preller, Mylhol. 2. Aufl. 1. S. 45.
Note 3 citiren diese Stelle des Euripides als das älteste Zeugniss für die neu ange-
nommene Deutung des Kronos.
74] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 71
dafür, dass Kronos als Chronos gefasst worden, nicht bei Pindar,
Ascbylos oder Sophokles , sondern bei Euripides sich zu finden, der
(Heraclid. 900) den Aon zum Sohne des Kronos macht. Aber wird hie-
durch bewiesen, dass die Idee sich »immer erhalten« habe? Durch ein
Zeugniss des Euripides?! Oder wird es erwiesen dadurch, dass in
Doch viel spdlerer Zeit , in der Zeit der unverständigsten , willkürlich*
sten, seichtesten Mythenerklärung Kronos von Einigen oder von
Manchen als Chronos, als Zeit gefasst wurde? Würde es erwiesen
wenn auch Dionysios (Arch. rom. 1. 38) und Arnobius (3. 29) Recht
hAtten mit der Behauptung, dass die Griechen überhaupt, alle Griechen
ihn als %qovos verstehn?161) und nicht vielmehr Plutarcb (Quaest. Rom.
1 2) , welcher uns ausdrücklich bezeugt , dass evioi , Einige , meinethalb
Manche und Viele ihn so erklärt haben. Welcker meint freilich (S. 1 43)
dies ivioi sei »bescheidener Ausdruck« und die Menge der einzeln vor-
kommenden Zeugnisse bestätige dies ; aber was hat denn die Beschei-
denheit mit dieser Angabe des Plutarch zu thun? und was berechtigt
uns, dem Schriftsteller, indem wir ihm Bescheidenheit unterschieben,
eine kritisch wohl erwogene Aussage in ihr Gegentheil zu verkehren?
Und wenn denn wirklich in dieser Spätzeit nur diese eine Deutung
im Schwange gewesen ist, was beweist denn die Aussage derjenigen
Zeugen, die Welcker (S. 144) in bunter Reihe aufführt: »der Scholiast
zu Apollonius (1. 1098), Cicero (Nat. deor. 2. 25), Augustinus (Civ. Dei
4. 10), Themistius, Lactantius, Apuleius?« Beweist sie, dass die Idee
sich »immer erhalten« habe? Nimmermehr! Welcker meint zwar a. a.O.,
es sei bei einiger Umsicht und Unbefangenheit unmöglich nicht einzu-
sehn , dass sie mit ihrer Auffassung im Rechte seien ; aber selbst wenn
dies der Fall wäre, so könnte man diese Schriftsteller dennoch nicht als
Zeugen gebrauchen, und zwar nicht einmal als Zeugen für die Be-
deutung des Kronos; denn, wenn man ihnen auf diesem Punkte eine
tiefere und richtige mythologische Einsicht zutraute, so müsste man
ihnen auch auf anderen Punkten , auch bei der Deutung anderer Gott-
heiten folgen ; und ich möchte sehn, wie Welcker den abfertigen würde,
der ihm solches zumuthen möchte !
Wenn ich nun als Resultat dieser Einzelprüfung der von Welcker
4 61) Wenn wir nämlich ihre Worte so urgiren dürfen, was sehr zweifelhaft sein
möchte; jedenfalls reden diese Schriftsteller wesentlich nur von ihren Zeitgenossen.
72 J. OVERBECK, [72
angeführten antiken Zeugnisse, mit Ausschluss der Orphiker, die in der
Frage ganz gleichgiltig sind, glaube behaupten zu dürfen, dass kein
antikes Zeugniss existirt, welches uns not h igt, Kronos nach
ursprünglicher Auffassung als Chronos, als unendliche Zeit
oder Ewigkeit anzuerkennen, so muss ich zugestebn, dass die Mög-
lichkeit, er sei dies dennoch gewesen durch das Bisherige noch
nicht widerlegt ist. Um auch diese Möglichkeit hinwegzuräumen müssen
wir nun untersuchen , was wir über das Wesen des Kronos aus seinen
griechischen Culten und seiner Stellung im poetisch nationalen Götter-
system zu erkennen vermögen, und ob uns dies veranlassen kann, ihn
als das aufzufassen , als was ihn Welcker erklärt.
8.
Welcker's Auffassung des Kronos glaube ich in folgende drei
Hauptsätze zusammenfassen zu dürfen, denen ich die eigenen Worte
als Belege beifügen will :
1. Kronos ist als Person nur aus dem Kronion hypo-
stasirt und wurde nur des Zeus wegen und als zu ihm
gehörig, und zwar ausnahmsweise verehrt.
Vergleiche hierzu: Welcker, Götterl. 1. 148: »unvermeidlich war
es , dass nach der patronymischen Form Kronion , Kronides statt der
blossen Bedeutung oder des Prädicats mythisch als eine Person aufge-
fasst wurde , und es ist möglich , dass die Idee des Kronos als Urzeit,
Frühling aller Zeiten , selige Yorzeit dem Glauben an eine dem Zeus
vorangegangene Dynastie zu Hilfe gekommen ist.« Ebendaselbst heisst
Kronos : dieser nun gesetzte Vater des Zeus.«
S. 150: »Im Cult ist Uranos so gut wie nicht berücksichtigt
gleich dem Kronos, ein Zeichen, dass er nur ein Gedankenwesen
war, abgezogen aus Zeus.«
S. 151: »Die beiden Götterpaare über Zeus, ein Product der
systemalisirenden Theologie , gaben hinter dem Altar oder Tempel des
Allerhöchsten wie einen Peribolos des Heiligthums ab.«
S. 142. »Verehrt wurden die zu dieser Entwickelung verwandten
Wesen nur seinethalb, als zu ihm gehörig, und zwar nur das ihm zu-
nächst stehende Paar und nur ausnahmsweise.«
73] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 73
Endlich S. 1 45 in der Note die Zustimmung zu dem Satze , den
Preller im 7. Bande des Philologus S. 37 geschrieben hatte : »Kronos
war nur die theogonische Begründung, die mythologische Ableitung
des Zeus Kgovitav, dessen Gült ohne Zweifel den des Kronos erst ge-
schaffen hat«,162) und
S. 4 55 : «Kronos ist in späteren Zeiten gleich anderen Wesen der
theogonischen Dichtung , er insbesondere als Vater des Zeus, sowie
Leto als Mutter des Apollon, verehrt worden.«
2. Eine Ausnahme hievon bildet Kronos als Gott
der Kronia, in denen er als Weitherrscher im goldenen
Zeitalter verehrt wurde.
Vergleiche S. 4 55 ff. , besonders den Satz : »von diesen späten,
eigentlich dem Zeus geltenden Ehren des Kronos ist bestimmt das alte
und berühmte Fest der Kronia zu unterscheiden , bei welchem kaum
eine Spur 16S) von Rbea zu entdecken ist Die Kronia beziehn
sich allein auf die Idee des paradiesischen Zustandes , welcher vor der
Herrschaft des Zeus, eigentlich vor aller Wirklichkeit, im goldenen Welt*
alter unter dem Regiment des Kronos im Himmel gewesen war.«
3. »In der Berührung mit Phönikiern in Kreta, Rho-
dos, Karthago, Sicilien nannten die Griechen den phö-
nikischen Baal oder Moloch Kronos, und es hat nicht
an wunderlicher Vermischung beider Wesen gefehlt«
(S. 1 45).
Um in der Fülle von Behauptungen und Lehren dieser Sätze und
der ganzen Gapitel aus denen sie entlehnt sind, und in denen viel Wah-
res sich mit Vielem mischt, das mir nicht richtig scheint, Bahn zu ge-
winnen, will ich damit anfangen, meine volle Übereinstimmung mit allen
den Sätzen zu erklären, die Welcker über Uranos und Ge in ihrem Ver-
hältniss zum Zeus ausgesprochen hat, um dieselben, oder besonders
4 62) Dass Preller, und zwar schon als er die erste Auflage seiner Mythologie
schrieb, von diesem Satze in seinem ganzen Umfange zurückgekommen war und den-
selben auch jetzt nicht wieder aufgenommen bat, ist kaum für weniger aufmerksame
Leser zu bemerken nölhig.
4 63) Diese Spur findet sieb in dem Berichte des Philochoros bei Macrobius 4. 7
und bei Hesychius wo die Kronien dem Kronos und der Göttermutter geweiht genannt
werden ; wahrscheinlich ist dies aus sonstigen Culten des Kronos und der Rhea ge-
dankenlos wiederholt, denn thatsächlich hat Rhea mit den Kronien Nichts zu thuu.
*
74 J. OVBRBBCK, [74
Uranos, auf den es zumeist ankommt, als »im Cultus so gut wie nicht
berücksichtigt,« als »bedeutungs- und wesenlos ,« als »nur genealogi-
schem Gebrauche dienend« und als »nur des Zeus wegen verehrt« zu
erweisen. So richtig aber dies Alles ist, so sehr muss ich doch dagegen
sofort Einsprache thun, dass Eronos mit Uranos durchweg auf eine Stufe
gestellt, dass von ihm durchweg dasselbe ausgesagt wird wie von Ura-
nos. Es ist richtig, dass Uranos sich nicht in Bild und Gestalt finde
gleich der Gäa, dem Helios, dem Okeanos (S. 151), Gleiches gilt aber
bekanntlich nicht von Kronos; es ist richtig, dass Uranos keine Tempel
und Altäre habe, und mit Recht wird die Stelle bei Vitruv 1. 2. 5: Jovi,
Fulguri , Caelo et Soli et Lunae aedificia sub divo bestritten (das. in der
Note) , die Erwähnung in späten römischen Inschriften auf ihre richtige
Bedeutung zurückgeführt, aber Gleiches gilt wieder nicht vom Kronos.
Denn selbst wenn wir von der Aussage des Attius (bei Macrob. Saturn.
1. 7) absehn, dass der grösste Theil der Griechen und am meisten
Athen dem Saturnus die Kronien feiere und an diesem Tage durch alle
Feldmarken und Städte frohe Mahle begehe und Jeder seinen Diener
bediene, oder wenn wir mit Welcker (S. 1 58) annehmen wollten , »der
Dichter scheine nur aus Voraussetzung nach der Verbreitung des Festes
in die Ferne zu viel zu sagen,« was freilich doch noch manchem Zweifel
unterliegt, da Gleiches doch wenigstens noch zwei Mal oder drei Mal
bezeugt wird ,164) auch dann noch sind uns bestimmte Feste und Culte
des Eronos — was für eines Kronos und welcherlei Culte soll weiterhin
erörtert werden — aus Athen, Olympia, Elis, Theben,165) Lebadeia,
Samos,"*) Rhodos, Kreta undKyrene167) bezeugt. Und auch die Behaup-
tung Welcker's, dass die zu der genealogischen Entwickelung verwand-
ten Wesen, Kronos wie Uranos, nur des Zeus wegen Verehrung genos-
sen, ist doppelt unrichtig, da Uranos gar keine Culte, Kronos dagegen
entschieden selbständige Culte hatte. Denn, mag man diejenigen Kronos-
4 64) Von Verrius Flaccus bei Macrob. a. a. 0. 4. 4: Saturnaliorum dies apud
Graecos festi babentur und Schol. Arist. Nubb. 397: naQu Jo7g"Ekkrjaiv tuQrrj;
vergl. noch Athen. 4 4. 639, wo die Kronien eine toqrrj eXlfjnxwcaTt] genannt werden.
1 65) Nach Plot. Vita Hom.
4 66) Nach Hassgabe des Umstandes, dass auch auf Saroos ein Monat Kqoviqs
hiess, siehe Monatsberichte der Berl. Akad. 1859. S. 750 f.
4 67) Nach Macrob. 4.7. 4 4 auch aus dem hellenisirten Alexandrien, wenn man
der Ausfüllung der hier im Text befindlichen Lücke durch den einen Codex P. Glauben
schenken will; vgl. jedoch v. Jan zu dieser Stelle.
75] Beiträge zur Ebkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 75
culte , welche mit Zeus- und mit Rheaculten verbunden sind also : in
Athen im Bezirke des Olympieion (Pausan. 4. 48. 7), wo ein Tempel
des Zeus und der Rhea war , in Lebadeia, wo dem Kronos neben Zeus
Basileus , Here Basilis oder Henioche, Demeter Europe und A pol Ion ge-
opfert wurde und wo die Bilder des Kronos, des Zeus und der Here in
gemeinsamem Tempel standen (Paus. 9. 39. 3 u. 4), in Olympia, wo
unter 6, zwölf Göttern paarweise geweihten Altären einer für Kronos
und Rbea stand (Sc hol. Pind. Olymp. 5. 8 u. 1 0) , mag man diese Culte
so deuten, als ob sie dem Kronos um des Zeus willen, oder Kronos und
Rbea als den Eltern des Zeus gegolten hatten , was freilich auch noch
untersucht werden soll und z. B. für Lebadeia keineswegs zuzugeben
ist , so bleibt doch unzweifelhaft , dass der Kronoscultus in Athen am
1 5. Elaphebolion (Corp. Inscr. gr. 523) und am 1 2. Hekatombäon , wo
die Kronien gefeiert wurden , dass ferner der Kronoscultus in Olympia
auf dem Kronoshttgel und dass derjenige von Kyrene , dass derjenige
von Rhodos und von Kreta und dass die Koinobomie des Kronos mit
Helios in Elis , so verschieden dies Alles unter sich gewesen sein mag,
entfernt nicht auf Zeus oder auf das theogonisch-genealogische Verhält-
niss des Kronos zum Zeus begründet war.
In gewissem Sinne giebt dies ja auch Welcker zu , indem er den
Kronos der Kronien von seiner obersten Behauptung ausnimmt, und ent-
wickelt, wie der Gott in diesen Festen als Weltherrscher im goldenen
Zeitalter gefeiert worden, und dass der Sinn dieser Feier jeden Gedan-
ken an den Herrschaftswechsel , also an das genealogische Verhältniss
des Kronos zum Zeus ausschliesse, weil man ja sonst Zeus als den hätte
verehren müssen , der diesem goldenen Zeitalter ein Ende gemacht hat
(S. 156). Eben so unzweifelhaft und augenscheinlich fehlt jegliche Be-
ziehung auf Zeus dem von den BaoiXcu auf dem Gipfel des Kqomoq
Xotfog bei Olympia begangenen Kronoscult (Paus. 6. 20. 1), welcher dem
Kronos als dem ältesten Herrscher des Himmels galt (Paus. 5. 7. 6), dem
die Menschen des goldenen Zeitalters einen Tempel erbaut haben soll-
ten. Und dass Gleiches von den Gülten auf Rhodos und Kreta gelte ist
bemerkt.
Mit diesen letzten Cullen findet man sich freilich am leichtesten ab,
indem man168) den Kronos für den phönikischen Baal-Moloch erklärt,
1 68) So, um von Anderen zu schweigen, noch Gerhard, griech. Mythol. §429.3.
76 J. OVBBBBCK, [76
aus dessen Kinderopfern mau auch die Sage von Kronos' Kinder ver-
schlingung ableiten zu können wähnt. Allein schon Buttmann (Mytho-
logus 2. S. 50) schreibt in dieser Hinsicht sehr richtig als das Resultat
einer langen Untersuchung: »so möchte also Alles, was zu der Ansicht
fuhren könnte , dass die Person des Kronos aus dem phönikischen El
oder Moloch entstanden sei sich reduciren auf Kinderopfer, die jenem
obersten Gotte dort gebracht wurden, verglichen mit der Kind er ver-
schlingung, welche der Mythos von diesem alten König der Götter be-
richtet. Vollkommen hinreichend war dies für jene alten Griechen, wel-
che das Bedürfniss hatten, ihre Gottheiten in den fremden zu finden,
aber ganz nichtig ist es für unseren kritischen Zweck.«
Und in der T hat, ich wäre trotz Allem was man schon darüber geschrie-
ben hat , begierig , eine wirklich begründete Ableitung des Kronos aus
Baal-Moloch zu lesen. Dass man den phönikischen Gott in Griechenland
Kronos genannt , also den griechischen Kronos mit dem phönikischen
Moloch ähnlich, in gewissen (scheinbaren) Punkten übereinstimmend
gefunden hat, das beweist doch in der That nicht das Mindeste, sondern
es ist, um mich eines Welcker'schen Ausdrucks zu bedienen, eine wun-
derliche Vermischung. Und wahrlich , wenn man alle die Götter der
Griechen . welche diese selbst früher oder später mit Barbarengötlern
verglichen und identificirt, aus diesen abgeleitet haben , als in der That
aus Barbarengöttern entstanden, als wirklich überkommen auffassen
wollte, dann müsste man damit beginnen, die gesammten Resultate der
modernen vergleichenden Sprach- und Mythenforschung irgend einem
barbarischen Götzen in die glühenden Arme zu werfen ! Die Menschen-
opfer, welche Kronos empfing, beweisen aber, wenn es möglich ist, noch
weniger; denn es ist überflüssig, die grosse Zahl von Menschenopfern,
die griechischen Göttern in reingriechischen Staaten und Culten fielen,
hier aufzuzählen, da dies bekannte Dinge sind,169) und das Vorurteil, als
seien die Menschenopfer ungriechisch und unarisch, das noch O.Mül-
ler170) aussprach, als beseitigt gelten darf. Dies ist denn auch von An-
deren171) eingesehn, während Preller auch in der 2. Auflage seiner My-
169) Vergl. nur Hermann's Gottesdienstl. AUertbümer § 27.
170) Äschylos Eumeniden gr. u. deutsch S. 139, vergl. Welcker Götlerl. 1 . S. 206.
Note 3.
171) Hemer, Schulzeitung 1833. 2. No. 29, Götterdienste auf Rhodos 3. S. 13 f.,
Lauer, System d. griech. Mythol. S. 166 u. A.
77] Bkitbägb zur Erkenntniss und Kritik der Zrdsreligion. 77
tbologie noch annimmt, dass in der Entmannungsgeschichte des Uranos
Manches ausländischen Ursprungs sei, und dass die Sage von Zeus' Ju-
gend auf Kreta und den Nachstellungen , durch welche er vom eigenen
Vater bedroht war, »der auch sonst als listig und grausam geschildert
wird, höchstwahrscheinlich nach dem Muster des phönikischen Moloch-
dienstes« erfunden worden (S. 44 f.), obgleich er unmittelbar hinzufügt:
»aber eben so gewiss ist Kronos, der Kronos Homer's und eines in
ganz Griechenland verbreiteten Gottesdienstes, ein altgrie-
chischer Begriff.«172) Aber sei es hiermit wie es sein mag, denn dem
gegenüber, was mir Hauptsache ist, tritt die Frage über die Ableitung
des kretischen und rhodischen Kronos aus Baal Moloch oder über dessen
spätere Identificirung mit demselben in den Hintergrund; die Haupt-
sache für mich ist, dass beide Annahmen gleich wenig für die von Wel-
cker statuirte Wesenheit des Kronos als des Gottes der unendlichen Zeit
sprechen , so dass vielmehr erst zu erweisen und sicher schwer zu er-
weisen wäre, wie ein Kronos-Chronos, ja wie Oberhaupt ein blos theo-
gonisch fingirter Gott ohne Wesen und Realität im Glauben und ohne
Cult zur Identification und Vermischung mit Baal Moloch hätte gelangen
sollen, oder wie man diesen gar aus jenem hätte ableiten können. Möge
man deshalb über diese Culte denken wie man will; die anderen Culte
des Kronos in den Kronien, die Culte in Athen, Olympia, Samos, Ky-
rene und wahrscheinlich an noch vielen anderen Orten kann man mit
Molochculten in keiner Weise zusammenbringen ; diese Culte sind ohne
Zweifel rein griechisch, und sie haben mit Zeusealten Nichts zu Ihun.
Dies betont ja auch Welcker selbst S. 1 55 mit grossem Nachdruck
172) Es sei mir erlaubt, auf die Differenzen und wie ich sagen muss den Fort-
schritt der Darstellung dieser Punkte in der 8. gegen die I.Auflage des Preller'scben
Buches aufmerksam zu machen ; an dem phönikischen oder sonst ausländischen Ur-
sprünge des Mythus von der Geburt der Aphrodite hält er noch fest, obgleich diese
mir grade eine vollkommne griechische Erfindung scheint, die in den zwei Äugeln, erstens
der Thatsache des Kommens aus dem Meere, über das Meer der orientalischen Aphro-
dite (Apheredeth) und zweitens ihrem am meisten charakteristischen Beinamen Ovgavia
hangt. Die aus dem Meer gekommene Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin , die in ihren
Galten auf griechischem Boden OvQavia hiess, grade diese scheint mir aus dem in's
Meer gefallenen Schamgliede des Uranos in allen ihren Elementen durch eine sinnreich
künstliche Erfindung, aber eben recht eigentlich eine solche, die als ätiologischer My-
thus erscheint , abgeleitet zu sein. Und dass man für die Sage von der Kinderver-
schlingung des Kronos auch nicht nöthig hat, auf Moloch und seine Culte zurückzu-
greifen, hoffe ich weiterhin zu zeigen.
78 J. OVBRBECK, [78
und mit eben so grossem Recht, indem er in dem oben S. 73 zu 2 aus-
gezogenen Satze den Kronos der Kronien von den eigentlich dem Zeus
geltenden Ehren ausnimmt. Aber diese Kronien, meint Welcker S. 156
»beziehn sich allein auf die Idee des paradiesischen Zustandes, welcher
vor der Herrschaft des Zeus, eigentlich vor aller Wirklichkeit im golde-
nen Weltalter unter dem Regimente des Kronos im Himmel, wie Hesiod
sich ausdrückt, gewesen war. Dieses Fest, fährt er fort, war eine Nach-
ahmung dieser goldenen Zeit des Friedens und des arbeitslosen Genus-*
ses und hiess Eronia nur allein in Bezug auf sie.« Und wir sollen glau-
ben , dass die Idee oder der Traum eines goldenen Weltalters vor aller
Wirklichkeit ein solches Fest durchaus volkstümlichen Charakters, wie
es Welcker selbst schildert und wie es Buttmann (Mylhologus 2. S. 67 f.)
mit Recht mit den Dionysien vergleicht, hervorgerufen habe? dass man
dies volkstümliche Fest einem allegorisch speculativen Kronos gefeiert,
es nach diesem benannt habe? nach einem Gotte, der nicht allein kei-
nen eigentlichen Cult hatte, sondern der der lebendigen und wirklichen
Zeusreligion in ihren ältesten Wurzeln widersprach? »Aber konnte eine
solche Idee so tief in's Volk eindringen?« so fragt Welcker selbst S. 1 57;
und was antwortet er sich? «war hingegen das Fest der allgemeinen
Lustbarkeit und Gleichheit schon da, so konnte es eher durch die
Beziehung auf den Herrscher der Zeit der Freude und Unschuld erhoben
und erweitert werden.« So konnte es eher; wie schwankend und un-
sicher lässt hier das richtige Gefühl Welckern sich ausdrücken; aber,
angenommen einstweilen, wenn auch keineswegs zugegeben dies Letz-
tere, wem galt denn das alte, primitive, schon da gewesene, später durch
die Beziehung auf Kronos erhobene Fest volkstümlicher Lustbarkeit?
welchem Gotte wurde es denn gefeiert, ehe man ihm die Beziehung auf
das geträumte goldene Weltalter unterschob? Welcker hat sich auf diesem
Punkte durch Buttmann, dem er in dieser ganzen Argumentation ziemlich
strict folgt, irre- und zu einer Annahme fortleiten lassen, welche aller
Analogie antiken Wesens und Lebens widerspricht und die er im Ernste
nicht kann aufrecht erhalten wollen, nämlich zu derjenigen, dies Fest sei
ursprünglich ohne Beziehung auf eine Gottheit gewesen , es habe über-
haupt nicht religiös begründete, nicht einer Gottheit und ihren Gaben gel-
tende Feste gegeben. Wo wäre eine Spur von solchen in Griechenland, l7S)
173) Götterlehre t. S. 56 sagt Welcker: »alle griechischen Feste ohne Aus-
nahme waren religiös.«
79] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 79
wo die von Wclcker selbst S. 4 59 mit den Eronien parallelisirten
Feste entschieden an Gottheiten anknüpfen, ja wo wäre eine solche
Spur bei irgend einem natürlich lebenden und nicht von religions-
loser Übercultur zerfressenen Volke nachweisbar? Buttmann hat auf
das nordische Juulfest als analog hingewiesen, von welchem er a.a.O.
S. 56 schreibt: »Bei den celtischen und anderen nordischen Völker-
schaften war die Häuptlustbarkeit im Jahre das Jui~ oder Juelfest, das
sich nachher im Norden an das christliche Weihnachtsfest anschloss,
aber, wie bekannt, schon in den ältesten heidnischen Zeiten vorhanden
war. Von diesem Feste liest man . so viel ich weiss , nirgend , dass es
das Fest eines der cellischen oder nordischen Götter war, sondern es
war eine von uralten Zeiten hergebrachte Lustbarkeit, womit man die
Zeit der kürzesten Tage oder vielmehr der langen Nächte erheiterte.«
Aber dies ist, obgleich es Welcker in seine Argumentation aufgenommen
hat , bestimmt irrig ; das Juulfest ist allerdings primitiv religiösen Cha-
rakters wie allein schon sein Name »Jöla-blöt, d. h. Wintersonnenwende-
Opfer« beweist, insofern das Opfer als solches ja immer die Gottheit
involvirt, der geopfert wird. Mein College, Herr Prof. Theodor Möbius,
an welchen ich mich mit der Bitte um Auskunft über die Natur des
Junifestes wandte , antwortet mir im grösseren Zusammenhange folgern
dermassen: »Von den drei grossen allgemeinen Opferfesten, die in heid-
nischer Zeit alljährlich in Norwegen gefeiert wurden (1 . zur Begrüssung
des Winters, am 1 4. October , 2. für Frieden und Fruchtbarkeit,
am 12. Januar, 3. für Sieg und Kriegsglück, am 14. April) war am be-
deutendsten das zweite , auch Jöl genannt oder Jöla-blöt d. h. Winter-
sonnen wende-0 p fe r , von dem christlichen Könige H&kon (935 — 961)
auf Weihnachten verlegt, was daher noch heutzutage Juul oder Juulefest
bei den Danen und Schweden genannt wird. Indem man hiebei um
Frieden und Fruchtbarkeit opferte, die vor Allen der Gott
Frey verlieh, hierbei aber einen dem Frey geheiligten Eber
vorführte, um, die Hände auf ihn gelegt, feierliche Gelübde
auszusprechen, ist es zwar wahrscheinlich, dass dies Opfer vor-
zugsweise dem genannten Gotte zu Ehren abgehalten worden, ohne
dass diess irgendwo — soweit ich nachkommen kann — ausdrücklich
bezeugt wäre [dies die Quelle von Buttmann's Irrthum], eben so wenig,
als dass das dritte Fest , an welchen man um Sieg opferte deshalb als
ein Odinsfeat (als des Sieg verleihenden Gottes) gegolten hätte. Das
80 J. OVBRBECK, [80
erste Fest steht mit keinem Gotte in Verbindung d. h. mit keinem irgend-
wie charakterisirten wie Frey oder Odin. Opfer (Dank* oder Sübnopfer)
als solche involviren ja immer die Gottheit, der man opfert,
nur dass dieselbe vor dem Zwecke der festlichen Zusammenkunft
und vor Allem des mehrtägigen Trinkgelages in diesem Falle, und
zwar in einer Zeit , die eine verhältnissmässig sehr späte zu nennen ist,
etwas in den Hintergrund getreten zu sein scheint.«174) Es
ist, als wenn dieses von den Kronien geschrieben wäre, bei denen eben-
falls die allgemeine Lustbarkeit, der volkstümliche Charakter der Fest-
freude, den ursprünglichen religiösen Anlass verdunkelt hat. Verdunkelt
sage ich, aber keineswegs unsichtbar gemacht für den, der sehn will und
unbefangen ist. Der Gott aber, dem ursprünglich das altische und wahr-
scheinlich fast allgemein griechische (wie italische) Fest der Freude und
Gleichheit , wie dem Frey das Opfer für Frieden und Fruchtbarkeit ge-
golten hat, ist kein anderer als Kronos, aber nicht der Kronos, Herrscher
des verhaltnissmässig spät geträumten vorzeitlichen goldenen Weltalters,
sondern der Gott der realen, alljährlichen goldenen Zeit, des xqvüqvv
&e$og wie der Sommer in Delphi hiess, welche in den Monat fällt, in
welchem, wie uns bestimmt bezeugt ist, das Opfer an Kronos {rwKQovm
frvola) dargebracht wurde, und der in Athen (und in Samos) von Alters
her K$6pu>g, Kronosmonat d. h. Reife- und Erndtemonat hiess weil er
der Reife- und Erndtemonat (Juli) in der That war, der Monat, wo man
nach glücklich eingebrachter Erndte von der strengen Arbeit ruhte, und
sich an dem Überfluss der Gottesgabe und im Bewusstsein dieses Über-
flusses gütlich that wie in Thessalien an den Pelorien, die ja auch Athen.
4 4. 636 mit den Kronien, als einer iofnrj ekXTjvixcordry] vergleicht. Es
ist das die Zeit, in der man noch heutzutage Kronien feiert, in der nach
474) Ganz ähnlich verhält es sich ja noch heutzutage mit den Kirchweihfesten
oder Kirmseo. In katholischen Landen findet allerdings an denselben noch eine Kirch-
weihe und ein Gottesdienst zu Ehren des Schutzpatrons statt, allein wie sehr tritt auch
dies ursprünglich aHein bestimmende Moment hinter die auf die Kirchweihe folgende
mehrtägige Lustbarkeit mit Trink- und Tanzvergnügen zurück, bei dem wohl kein
Mensch an die Bedeutung des Festes auch nur einen Augenblick denkt. In protestan-
tischen Ländern ist nun aber von dieser ursprünglichen Bedeutung vollends garnicht
mehr die Rede, und doch hat auch in diesen wohl jedes Dorf seine Kirmes an einem
bestimmten althergebrachten Tage, jedenfalls dem Namenstage des Schutzpatrons der
Kirche. Wer will nun in diesen Fällen die ursprüngliche, und doch gänzlich ver-
dunkelte Bedeutung dieser Feste läugnen?
84] Beiträge zur Erkknntniss und Kritik der Zeusreligion. 81
eingeheimster Erndte die Arbeiter einen guten Tag (Erndtebier) haben,
an dem, wie man ebenfalls noch heutzutage z. B. im Holsteinischen und
Schleswigschen (wahrscheinlich auch noch anderswo, in den genannten
Gegenden war ich oft genug Augenzeuge) sehn kann, die Gutsherrschaft
den Knechten und Mägden ein Fest bereitet, dessen Mittelpunkt nicht
sie, die Gutsherrschaft ist, sondern bei dem die Knechte und Mägde die
Hauptpersonen abgeben, die auch von der Herrschaft bedient werden.
Nun hat freilich Welcker S. 1 57 Note die Angabe, der Hekatombäon
habe von Alters in Attika Kvovwg oder Kqopkov geheissen dno rqg
yevofuvrjg rw Kqovm &voiag »eine beliebige Erklärung« genannt; freilich
hat Buttmann geschrieben : »dass keine Spur in irgend einem Schrift-
steller in dem Kronos der Griechen einen Gott des Feldbaus ahnen lasse«
(a. a. 0. S. 54) und Welcker sagt S. 1 57, dass er dies mit Recht ge-
schrieben habe; allein S. 464 lesen wir bei Welcker: »dieser Monat
(Hekatombäon) war der erste nach der Sommersonnenwende und im
attischen Jahr, weshalb er auch KQOvmv, der älteste oder Urmgnat ge-
heissen hatte, wenn nicht, weil etwa dem Kronos geopfert
worden war,« also wenigstens eine bedingte Zustimmung zu derErklä-
rung, die S. 157 als »eine beliebige« abgefertigt wird. Und was den' Gott
des Feldbaus, speciell den Gott der Reife und Erndte anlangt, so ist es
mir unmöglich, nicht so ziemlich in Allem was wir von dem griechischen
Kronos, wie in Allem was wir von dem, wie auch Buttmann als Funda-
mentalsatz annimmt, unzweifelhaft wirklich identischen Saturnus Italiens
wissen, lauter Zeugnisse für eben diese Wesenheit und Bedeutung des
Gottes zu erkennen, in seinem Namen, in seinem standigen Attribut, in
der Zeit seiner Feste, in der Art, wie diese Feste gefeiert wurden, in
sonstigen Nachrichten über seine Culte und über seine Verehrer, in dem
Umstände, dass Kronos zum Herrscher einer fabelhaften goldenen Zeit
und in einem fabelhaften Schlaraffenlande geworden ist, und endlich in
dem Umstände , dass er auf Kreta zum Vater des dort verehrten Zeus
hat gemacht werden können. Wir haben nun dies Alles im Einzelnen
zu prüfen.
Abbanal, d. K. S. Ges. d. Witt. X. 6
82 I. OVEBBKCK, [82
9.
Der Name Kqovoq ist nach der auch von 6. Hermann, Heuler,
Schümann, Lauer und Preller befolgten Etymologie von ngccivca abzu-
leiten; freilich hatWelcker S. 145 in derNole diese Ableitung eine »un-
glückliche« genannt, aber dass sie zunächst antikem Sprachgefühl ent-
spricht beweisen die oben S. 69 milgetheillen Stellen des Aschylos und
Sophokles,175) und so wie sprachlich Nichts gegen dieselbe einzuwenden
ist,176) so hat jetzt auch die moderne' Linguistik sich derselben ange-
schlossen, wahrend das Wort Xqovoq als grundverschieden beleuchtet
wird.177) Dabei werden wir denn wohl einstweilen und bis diese Argu-
mente widerlegt sind, Beruhigung fassen dürfen.
Von grosser Bedeutung für die Erkenntniss des Wesens des Kronos
ist sein ältestes und allein ständiges Attribut — denn den sein Hinter-
haupt verhüllenden Schleier hat er nicht immer — das Krummmesser,
dessen Bedeutung aber noch bestimmt festgestellt werden muss. Das
Wort aqnr\) welches für dies Messer des Kronos am meisten gebraucht
wird, bezeichnet kein im wirklichen Leben des höheren Alterthums ge-
brauchtes Instrument ,178) sondern kommt nur in der Hand mythologi-
scher Personen vor, nämlich ausser bei Kronos bei Zeus im Kampfe mit
Typhon bei Apollodor (1 .6.3), bei Hermes bei der Enthauptung des
Argos, bei Perseus im Gorgonenmythus (Beides mehrfach, namentlich
in Kunstwerken) und bei Herakles und Iolaos im Kampfe gegen die Hy-
dra,179) ein einziges und spätes Mal auch bei Theseus im Kampfe gegen
Minotauros,180) bei diesen Allen ausser Kronos aber nur in relativ späten
Zeugnissen , und zwar entweder nach blosser Analogie der Harpe des
Kronos als mythologisches Schneideinstrument, oder promiscue mit an-
175) Vergl. auch II. t. 449 oif «pa nci ol ifttxpalcuvs KqovIw worauf Preller
Mythol. 2. Aufl. 4. S. 45. Note 4 hinweist.
476) Dies erkennt auch Hr. Dr. H. D. Müller im Philologus a. a. 0. S. 555 an,
wo er von **/(>a> ableiten will.
477) Vergl. B. Curtius, Grundzöge der griech. Etymologie 4. S. 424 mit S. 4 68.
478) Nämlich der Art, wie es später für einen Elephantenstachel gebraucht wird
Ael. H. An. 4 3. 22.
479) Welcker, Alte Denkmäler 3. Taf. 6. S. 263 ff., oder lion. deil' Inst. 3. tav.
46. 2. Ann. 4 4. p. 4 03 sqq.
4 80) 0. Jahn, Archäolog. Beiträge S. 266.
83] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 83
deren Schneide- und Stichwaffen, also ohne specielle Bedeutung.181)
Specifisch gehört die Harpe Kronos einzig und allein , and nur bei ihm
wird sie niemals durch ein anderes Instrument ersetzt. Eine solche aus-
schliesslich mythologische Waffe, die ihre Analogie in der ebenfalls aus-
schliesslich mythologischen Agis findet, kann nun offenbar noch weniger
als solche Waffen , die auch im wirklichen Gebrauche des Menschen
vorkommen, wie etwa der Bogen und die Pfeile Apollon's, die gleich-
wohl anerkanntermassen ihre bildliche Bedeutung haben, bedeutungslos
sein, muss vielmehr mit Notwendigkeit eine ganz prägnante Bedeutung
haben. Nun giebt es aber zweierlei Götterattribute, allegorische und
symbolische ; allegorisch z. B. sind die Pfeile Apollon's für Sonnenstrah-
len, Zeus' Ägis für Wettergewölk ; symbolisch aber sind z. B. der Bogen
der Artemis, der sie als Jagdgöttin charakterisirt oder, um ein ganz un-
zweifelhaftes Beispiel zu wählen Hermes' ökßov xal nXovrov fäßdog*
Ware nun die Harpe des Kronos ein allegorisches Attribut der ersleren
Art, so könnte sie einzig und allein als ein Bild des Blitzes betrachtet
werden, als welches sie in Apollodor's Erzählung vom Typhonkampfe
des Zeus augenscheinlich gilt. Und wirklich hat Lauer in seiner Mytho-
logie S. 164 den allerdings nicht eben glücklichen Gedanken gehabt, die
Harpe des Kronos nach Analogie derjenigen des Perseus, die er als
Blitzstrahl (wohl mit Recht) auffasst, ebenfalls filr den Blitz zu erklaren.
Welcker aber verwirft eine solche Annahme ausdrücklich und mit Recht,
indem er S. 4 54 schreibt: »nicht die leiseste Spur, dass Kronos einst
den Blitz gehabt.« Ist also die Harpe des Kronos nicht allegorisch be-
deutsam , und will man sie nicht etwa als eine wunderliche Ausgeburt
der Phantasie Hesiod's betrachten , dem , während er nach einer Waffe
filr Kronos zu dem bekannten Zwecke suchte, nicht ein Schwerdt, ein
Dolch, ein gewöhnliches Messer, sondern durch unerklärlichen Zufall
ein ganz neues Wort cfyft^ in die Feder gerieth , eine Ansicht, die ich
Welckern trotz Allem was er gesagt hat, nicht unterzuschieben wage,
4 81) So hat Herakles in den allen Vasen des Hydrakampfes, welche in den Mon.
delT Inst. a. a. 0. zusammengestellt sind in No. 5, 4, 6 das grade Schwerdt, in No. 4
u. 5 die Harpe, die in No. % u. 6 IoLaos handhabt; ebenso führt Perseus im Gorgonen-
abenteuer, er der in späteren Kunstwerken so oft mit der Harpe erscheint in der alten
Metope von Selinunt das grade Schwerdt, dasselbe in den Mon. dell' Inst. 2. 49 zu-
sammengestellten Argosmonumenien Hermes in No. 5 und dem Hauptbilde , wahrend
er in der Gemme No. 9 die Harpe führt.
6*
84 J. OVRBBBCK, [84
so bleibt Nichts übrig, als die Harpe symbolisch bedeutsam zu fassen.
Man darf sie folglich nicht aus der Geschichte erklaren, in der sie für
uns erkennbar am frühesten in Anwendung kommt , wie dies Welcker
allerdings thut, indem er sie mehrfach (so S. 4 45, 160) als die blosse
theogonische Waffe des Kronos behandelt, sondern man muss mit Butt-
mann (Mythol. a.a.O. S. 36) sagen: »nicht etwa zum Andenken an jenes
mythische Factum wird Kronos mit der Sichel gebildet; sie war langst
d a vor diesem episch ausgebildeten Mythus.«
Wohl; aber was ist denn aQmjt and als was war sie symbolisches
Attribut des Kronos lange vor der epischen und theogonischen Entman-
nungsgeschichte. Je weniger aqnr\ ein Instrument des wirklichen Ge-
brauchs ist, und obwohl sieb ihr Name etymologisch verstelm l&sst,18*)
wird ihre Bedeutung vollkommen klar erst aus der zweiten Bezeichnung
mit der sie belegt wird: dqinavov. Und bekanntlich nennt schon Hesiod
selbst Theog. < 62 dies Instrument tytnavov, und mit demselben Namen
wird es in jenen Sagen bezeichnet, welche den Namen der Vorgebirge
Zaynhj und Jqhcavov und den von Kerkyra von der von Kronos weg-
geworfenen Harpe ableiten.183) Jqinavov aber, oder episch dyerzdrt]
ist ein Wort der lebenden Sprache und ein Instrument des wirklichen
Gebrauchs, und zwar seit II. 18. 551 und Odyss. 18. 368 die Getreide*
siehe) , und niemals etwas Anderes als diese. Und mit diesem Sprach-
gebrauche stimmt es vollkommen, dass in den ältesten Kunstwerken,
welche die Harpe in mythologischem Gebrauche zeigen ,184) dieselbe als
einfache, wenn auch zum Theil als gezahnte185) Getraidesichel erscheint,
keineswegs aber als jenes waffenartige Instrument mit einer graden und
einer krummen Spitze, das aus spateren Kunstwerken so bekannt ist,
dass man über demselben die älteste Gestalt und mit der ältesten Gestalt
482) PreHer stellt afitri mit sarpio und dem makedonischen Monat roynimoe
d. h. SchnUteraonat zusammen, MythoL 2. Aufl. 4 . S. 45. Note 3.
483) VergL Preller, Griech. Mythol. 2. Aufl. 4. S. 45. Note 3.
484) Siehe die oben Note 4 84 angeführten Vasen mit der Hydra.
4 85) Vergf . eben das. und wenigstens bei einer Kronos- oder Satamusdarstellung,
fifttfger Kunstmythol. 4 . Taf. 4 . No. 2. Aber diese Zähnung kann ich nur für Misver-
stlntfuiss des Beiwortes na^xapodovg betrachten, weiches gewiss nicht scharfe Zähne
der Harpe, sondern sie als scharfzahnig, d. h. scharf, schneidend schlechthin bezeich-
net, wie das z.B. schon Pape in s. griech. Handwörterbuch oingesebn hat, wffarend
Preller, Mythol. 2. Aufl. S. 45. Note 3 wieder auf das »mit scharfen, spitzen ZUhnenc
zurückgreift.
85] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 85
auch die älteste und einfachste Bedeutung der Harpe schier aus den
Augen verloren und vergessen bat. Dass also die Harpe des Kronos sein
ältestes und ständiges Attribut die Sichel , die Getraidesichel sei» wird
sich mit Hecht nie läugnen lassen , und fraglich kann nur sein, in wel-
chem Sinne dem Gott dies Attribut beigelegt worden sei. Buttmand
(a. a. 0. S. 36) antwortet: »als altes Attribut des Hieroglyphs der Zeit«189)
Aber wo ist auch nur der Schatten eines Beweises, dass die Sichel ein
altes Attribut des angeblichen Hieroglyphs der Zeit sei, dass man die
Zeit im höheren Alterthum als die abmähende und nicht vielmehr ata
die verschlingende gefasst habe im Sinne jenes orphischen Verses auf
Chronos-Kronos (Hymn. 12. 3)
ög danavag fiiv anavra %ai av&ig c/maXiv avrogl
Buttmann beruft sich (S. 34) auf Macrobius 1. 8 und auf ein Epigramm
in Brunk's Analeklen (Adttm. 64 5) auf Laertes' zerstörtes Grab , wo es
heisst :
tpjjX*1 *<** ntTQt]v 6 nokvg xqvvoq,, ovdi aidiJQOv
cpeiderai, äXXa fiirj ndvr oXs'xst d^iTtavrj.
Und das ist Alles? und damit sollen wir uns zufrieden geben und bewie-
sen glauben, dass dieses Bild, diese Übertragung in die Urzeit gehöre,
in so uralte Zeit, dass dieser Sinn vergessen und verborgen blieb wah-
rend der ganzen Periode, in der alte Schriftsteller und noch ältere Kunst-
werke das von Kronos im Mythus als Waffe gebrauchte Instrument, mit
dem er den Meislerschnitt gethan hatte, auf Hermes, Zeus, Perseus,
Herakles und lolaos übertrugen? oder ist in diesen Übertragungen die
Harpe auch ein Attribut des Hieroglyphs der Zeit? Es lässt sich viel-
mehr mit der grössten Sicherheit behaupten, dass in diesen Übertragun-
gen die Harpe Nichts sein könne und sein solle, als ein Schneide* und
Mord insirument furchtbarer und gewaltiger, als ein solches in Menschen*
band vorkommt, diesen so aberlegen wie die Agis menschlichen Schil-
den; jenes selbige Schneide- und Mordinstrument, dem die mythische
That des Kronos gleichsam die Weihe gegeben hatte, und welches in
186) Preller, welcher in der ersten Auflage seiner Mythologie S. 42 sich über
diesen Punkt sehr unklar und widerspruchsvoll ausgesprochen hatte, sagt in der neuen,
was ich mit lebhafter Freude anerkenne, S. 4S »die Sichel deutet zunächst auf. Brndte
und Erodteaegen.« Dabei können wir einstweilen etehn bleiben, da» was P„ weiter
folgen lässt moss ich weiterhin beleuchten.
86 J. OVBRBECK, [86
denjenigen Fällen wieder in Anwendung gebracht wird, wo Götter und
halbgöttliche Helden ähnlich gewaltige Schnitte auszuführen haben wie
den, welchen, als Vorbild aller, Eronos ausgeführt halte. Oder sollen wir
aus dem nur im späteren und spätesten Sprachgebrauche überhaupt vor-
kommenden bildlichen Gebrauche der Sichel als Instrument der Alles
niedermähenden Zeit entnehmen, dass sich der hieroglyphische Sinn des
Attributs «immer erhalten« habe nach Analogie der Art, wie Welcker aus
späten Schriftstellern gegenüber den früheren beweist, dass die Idee des
Kronion sich neben dem genealogischen Mythus erhalten habe? Und
auch noch darauf muss ich hinweisen, dass eine ähnliche bildliche Be-
deutung irgend eines anderen alten Götterattributs vollkommen uner-
hört ist.
Fasst man nun dies Alles zusammen, so wird man einsehn, dass
nichts Auderes übrig bleibt als das Attribut der Getraidesichel dem Gotte
in seiner einfachen, natürlichen und wirklichen Bedeutung, d. h. als
das Instrument der Erndte , des Abschneidens des reifen Getraides zu-
zusprechen. Und wenn dies der Fall ist, so beweist dies Attribut den
Gott, seinen Träger als den Gott der Erndte, des Sommers, grade so wie
Demeter dQejiavrjyoyog durch dasselbe Attribut als Erndte- und Getraide-
göttin bezeichnet wird.
Als solcher hat er in seinem Wesen zwei Seiten , die freilich ur-
sächlich untrennbar mit einander verbunden sind, die sich aber auch je
für sich auffassen lassen, eine segensreiche und eine verderbliche, wel-
che beide Preller in der früheren Ausgabe seiner Mythologie 1 . S. 43
gut hervorhebt,187) wenn er schreibt, der Gott der Reife und Erndte sei
»in jenen Klimaten um so mehr [auch] eine böse, zerstörende Macht,
weil dort die Zeit der Erndte [die doch ein Segen ist] mit der des Alles
verwüstenden Sonnenbrandes zusammenfallt.« Diese beiden Seiten in
dem Wesen des Gottes treten nun in seinen Mythen und Gülten uns ge-
trennt entgegen ; dem verderblichen, Alles verdörrenden Gotte des som-
merlichen Sonnenbrandes gellen die Mythen von der Kinderverschlin-
gung, die Vorstellung als Greis und die Menschenopfer einiger Culte,
dem segensreichen Gotte der Erndte aber werden die Kronien als
4 87) Weniger klar und prficis in der zweiten, wo gleichwohl S. 46 ebenfalls
darauf hingewiesen ist, dass die Zeit der Erndte mit derjenigen des höchsten Sonnen-
brandes zusammenfalle.
87] Beitrage zur Ebkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 87
Brodtefeste gefeiert und Früchte und Kuchenopfer dargebracht; er, der
Verleiher der jährlichen Zeit des Überflusses und Genusses ist zum
Herrscher des geträumten goldenen Weltalters und er ist zum Vater des
Zeus auf Kreta nach dessen dortiger Cultauffassung geworden.
Ehe ich dies naher begründe will ich noch hervorbeben, dass mei-
ner Überzeugung nach Kronos' Verhältniss zum Uranos und in der Ent-
mannungsgeschichte durchaus speculativ aufgefasst werden muss , also
wesentlich so wie dies Preller in der neueren Auflage seiner Mythologie
tbut (S. 45), wenn er die Entmannung so fasst, dass durch sie der all-
zu grossen Fruchtbarkeit ein Ende gemacht, und dadurch ein neuer Zeit-
abschnitt eines ungehinderten Wachsthums aller irdischen und himm-
lischen Kräfte herbeigeführt wird. Vielleicht noch klarer und bestimmter
wurde in der früheren Auflage (S. 43) Kronos in theogonischer Bezie-
hung als Gott der Reife und Vollendung dargestellt, weil jetzt die Zeit
gekommen war, wo die Zeugungen des Uranos aufhören mussten, damit
sich die neu entstandenen Naturkräfte in Ruhe ausbreiten und entfalten
konnten. Gegen die in eben dieser früheren Darstellung enthaltenen
Unklarheiten und Widersprüche, durch welche Kronos dem Uranos ge-
genüber als Gott des ausdörrenden Sonnenbrandes bezeichnet wurde,
der den unerschöpflichen Regengüssen seines Vaters ein Ende macht,
kämpfe ich nicht weiter, da Preller sie selbst getilgt hat, und nur dage-
gen muss ich mich noch auflehnen, dass auch in der neuen Auflage
(S. 38) in die kosmogonischen und theogonischen Zeugungen des Ura-
nos das Fragment aus Äschylos' Danaiden eingemischt wird. Denn so
gewiss auch Anschauungen dieser Art zur Paarung von Uranos und Gäa
wie von Zeus und Dione, Zeus und Here u. A. geführt, und so die theo-
gonisch-kosmogonische Paarung begründet haben, so wenig hat die
Regenbefruchtung der Erde durch den Himmel mit den kosmogonischen
Zeugungen des Uranos und der Gäa auch nur das Mindeste zu thun.
Uranos' Zeugungen haben wir etwa nach Analogie der vergiliscben Verse
(Georg. 2. 336 ff.) als Weltfrühling zu fassen,188) dem eine zweite, voll-
kommnere Periode der Kosmogonie und der eigentlichen Theogonie,
eine Periode der Reife und Vollendung, ein Wellsommer folgen musste,
den der Reifer und Vollender, der xyaivow Kqovoq heraufführt. Und in
der That zeigt eine nähere Prüfung des Gehalts der hesiodischen Theo-
188) Vergl. auch Brandis, Gesch. d. griech. Philos. \ . S. 7 5 f.
88 J. OVBRBBCK, [88
gonia, dass der Dichter in den Uraniden und den übrigen bei Uranos'
Entmannung vorhandenen theogonischen Potenzen alle Kräfte und Er-
scheinungen des Kosmos als im Keime vorhanden hat darstellen wollen,
während sich dieselben in den auf die Entmannung folgenden Fortzen-
gongen der Urpotenzen zu der ganzen Fülle der Erscheinungen und der
ideellen Mächte des Weltalls entwickeln. Dass aber Kronos zum Ver-
treter dieses Weltsommers geworden , das geschah , weil er Gott des
jährlichen irdischen Sommers war, und dass er seine That mit der Sichel
vollbringt, das ist aus der charakterisirenden Hauptfunction jedes ernd-
tenden, die Zeugungen des Frühlings abmähenden Sommers entnommen.
So ist Alles speculativ und doch in der Darstellung deswegeh dichterisch
und mythisch, weil die Bilder aus der Anschauung entnommen sind und
auf Thatsächlichem in älteren Mythen und Culten beruhen.
Wenden wir uns nun den Culten des Kronos zu , so haben wir es
natürlich zuerst mit den attischen Kronien zu thun als dem bekanntesten
Feste des Gottes. Cber die Natur des Festes, die auch Welcker im
Grunde nicht verkennt, braucht nach dem früher Gesagten hier nicht
mehr Viel hinzugefügt zu werden. Die Zeugnisse des Philochoros und
des Attius bei Macrob. Saturn. 1. 10. 22 u. 7. 37 charakterisiren es als
ein Fest der allgemeinen Lustbarkeit, namentlich als ein solches der
Knechte nach Einbringung der Erndte (frugibus et fructibus iam coactis;
Philoch. nach Macrobius' Obersetzung) und das ohne allen Zweifel auch
mit Beziehung auf den Erudtesegen gefeiert wurde; bekannt ist, dass
es auf den 1 2. Hekatombäon fiel (Demosth. adv. Timocrat. p. 708) und
in sofern als öffentliches Fest bezeichnet ist, als seinetwegen die Sitzung
der Bule ausfiel [dta ravr äcpei/utvrjs ttjq ßovkfjs, Demosth. a. a. 0.),
wenngleich die Opfer nicht von Staats wegen dargebracht wurden, weil
es in dem Verzeicbniss der Opfer dieses Monats im Corp. Inscr. gr.
No. 157 fehlt. Auch auf die Gründe, die ich für den primitiv religiösen
Charakter des Festes und seine ursprüngliche Beziehung auf Kronos
geltend gemacht habe, will ich nur zurückverweisen. Nun scheint es
mir aber unwidersprechlich, dass ein Gott, welchem nach eingebrachter
Erndte und mit Rücksicht auf dieselbe, also als Dank für dieselbe ein
Opfer dargebracht und ein Fest gefeiert wurde, eben hierdurch als ein
Gott der Erndte und weiterhin als derjenige bezeichnet wird, dem man
den Segen des Feldes zu verdanken glaubte. Bemerken aber muss ich
noch, dass man weder das von Philochoros (a. a. 0.), Plutarch (Thes. 1 2),
89] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 89
dem Etymologicum magnum (v. f£xccro/Ltßaiwv) , Hesychius (v. Kqbvta)
übereinstimmend bezeugte hohe Alter des Kronosfestes und Kronos-
opfers im Kronosmonat, noch die Dauer desselben, welche ausser De-
mosthenes (a.a. 0.) Machon (bei Athen. 43. p. 581 a.), Lukian (Saturn. 7,
Call. 14) und Plutarch (non posse suav. vivi 16) verbürgen, ohne Will-
kuhr in Abrede stellen kann, wahrend die Cultgestalt des Kronos, nicht
eines geträumten Herrschers des goldenen Weltalters uns aus den
Kuchenopfern nochmals entgegentritt , welche er nach Corp. Inscr. gr.
No. 623 am 1 5. Elaphebolion empfing wie Zeus Georgos im M&makte-
rion (G. I. gr. a. a. 0.). Und somit nehme ich die athenischen Kronien
als ein erstes bestimmtes Zeugniss dafür in Anspruch , dass Kronos als
Gott der Erndte und folglich als Gott des Landbaus und vegetativer
Fruchtbarkeit verehrt worden sei.
Sehn wir nun vorerst von den in anderem Zusammenhange zu er-
wägenden Nachrichten ganz ab, welche wie Schol. Arist. Nubb. 397,
Verr. Flacc. b. Macrob. 1. 4. 7, Attius das. 1. 7. 37, Athen. 43. p. 639
die Kronien als ein überall in Griechenland gefeiertes Fest bezeu-
gen, Nachrichten, deren Glaubwürdigkeit in Bausch und Bogen und ohne
besondere Beweise und Gründe in Abrede zu stellen ebenfalls nur Will-
kühr genannt werden könnte, so begegnet uns als das nach den atheni-
schen Kronien bekannteste Fest und Opfer des Kronos das auf dem
Gipfel des Kqovioq Ucpog bei Olympia am Tage des Frühlingsäqui-
noctiums im eleischen Monat Elaphios von den BaaiXai dargebrachte
(Pausan. 6. 20. 4), dessen chronologisches Zusammentreffen mit dem
attischen Opfer am 4 5. Elaphebolion ich nicht für zufällig hallen kann,
welches mir vielmehr als ein Opfer nach vollbrachter Aussaat,189) wie
dasjenige imHekatomb&on als Fest nach vollendeter Erndte erscheint.100)
Das hohe Alter aber dieses eleischen Frühlingsopfers für Kronos ist um
so sicherer anzunehmen, da in den BaoiXai xcdov/uevot eine eigene
Priesterschaft mit eigenthttmlichem , in seinem Ursprünge dunklem Na-
men auftritt, und da sich der Cultus nicht an den von Pausan. 5. 7. 4
bezeugten Tempel des Kronos als des ersten Herrschers im Himmel
4 89) Die doppelte Saatzeit, im Herbst and im Frühling, ist bekannt, vgl. Hermann
Priv. Alterth. §4 5. 4* ; die letztere aber, obgleich in historischer Zeit die weniger ge-
bräuchliche, lässt sich als die ursprünglichere erweisen.
4 90) So fasst dasselbe auch Heffler. Relig. d. Griechen u. Römer S. 330, dessen
Abhandlung über Kronos in der Schulzeitung von 1833. Tl. No. 29 f. mir leider un-
zugänglich gewesen ist.
90 J. OVERBBCK, [90
anknüpft, den die Menschen der goldenen Zeit gebaut haben sollten,
noch auch an den Altar des Kronos und der Rhea, den der Schol. Pind.
Ol. 5. 8 u. 10 anführt, sondern an eine Naturstätte, an welcher unter
verschiedenen Varianten191) Kronos' Name untrennbar haftet, ohne dass
auf derselben ein Tempel oder sonst irgend eine Art von Einrichtung
auf die Entstehung des Gultus in späterer Zeit hinwiese.
Die Erwähnung der BaoiXai xakov/ievoi lässt uns hier den Cultus
von Lebadeia anfügen, bei welchem Kronos an dem Tqoiptovia oder
BaviXeia genannten Feste Antheil hatte. Auch Welcker berührt diesen
Cultus S. 155, aber er sagt nur ablehnend: »dass wegen des Orakels
des Trophonios ausser dem Zeus, der Here und anderen Göttern auch
dem Kronos (ohne Rhea) geopfert wurde (Paus. 39. 3 u. 4) hat nach
Art dortiger Theologie keine besondere Bedeutung.« Dies verstehe ich
nicht. »Hat keine besondere Bedeutung nach Art dortiger Theologie«?
also die Theologie von Lebadeia hat keine besondere Bedeutung? und
washeisst: keine besondere Bedeutung? heisst das keine überhaupt?
und will Welcker, indem er die lebadeische Theologie für bedeutungs-
los erklärt, auch den dortigen Cult des Kronos für bedeutungslos er-
klären und somit beseitigen? Oder ist hierein Druckfehler, wie ihrer
leider eine so grosse Zahl das Buch verunziert, und soll es heissen:
hat eine besondere Bedeutung, d. b. eine singulare, eigentümliche?
Wenn dies der Fall ist, so muss man bedauern, dass Welcker Nichts
gethan hat, um diese eigenthümliche Bedeutung der lebadeischen Re-
ligion und des Antheils des Kronos an denselben aufzuklären; denn
Niemand wird läugnen, dass diese Religion dunkel und noch keineswegs
durchaus verstanden sei. Und deswegen darf man auch über dieselbe
nicht so apodiktisch absprechen wie Lauer (System der griech. Mythol.
S. 167), der es für »unzweifelhaft« erklärt, dass Kronos in Lebadeia
Beziehung zu Fruchtbarkeit und Gedeihen habe. Aber wahrscheinlich
in hohem Grade bleibt es immerhin, dass diese Ansicht im Wesentlichen
das Richtige treffe.192) Denn, dass Trophonios, der Mittelpunkt des Cultus
ein Dämon der Fruchtbarkeit, ein Nährdämon der Erde sei,198) wird sich
4 94) Kqovov Xotpog, Kqovwq ko<pog, Kqoviov oqoq bei Pausan., Kqovov nayos
b. Pind. Ol. 8. 17, 5. 47, 44. SO, Kqovhov b.Xenoph. Hell. 7. 4. 14, vergl. £. Cur-
tius Peloponnesos 2. S. 51.
492) Angenommen ist dies auch von Heffter Rel. d. Griechen u. Römer S. 329.
4 93) Müller, Orchomenos S. 4 49.
91] Beitrage ztm Ebkjcnntniss und Kbitie dem Zeusäkligion. 91
nicht l&ugnen lassen , eben so wenig , dass Demeter, seine Amme , als
Erdmutter mit seinem Cult verbunden war; die Bedeutung des Zeus
ßaatXevg und der Here ßaatXlg oder ^viopj m) ist dunkel , und man darf
sie nicht mit Lauer ohne Weiteres als Wesen bezeichnen, die dem
Segen des Ackerfeldes vorstehn ,195) obgleich auch dies nicht unwahr-
scheinlich ist; zu beachten ist ferner der Zeus vhiog im Haine des
Trophonios neben dem Heiligthum der Demeter Europe (Paus. a. a. 0.
§ 4) , insofern er als regnender Gott ebenfalls Gott der Befruchtung und
der Fruchtbarkeit ist. Er erscheint bei Pausanias als ein anderer denn
der ßaodevg und als ein Dritter der im Tempel mit Kronos und Here
aufgestellte; da man aber nach Pausan. (a. a. 0. § 5) vor dem Opfer
den Zeus Basileus und die Demeter Europe anrief, mit der nach dem
froheren § der vhtog, nicht der ßaatXevg verbunden ist, während hier
der veriog ganz wegfällt , so ist die Identität des ßaoitevg und veriog
viel wahrscheinlicher als die Nichtidentität; danach würde sich eine
ahnliche Bedeutung auch für die Here ßaodig ergeben, während in dem
mit angerufenen Apollon, als Helios- Apollon gefasst, die zweite Be-
dingung der Fruchtbarkeit: Licht und Wärme neben dem Regen des
Zeus aufzutreten scheint. Stellt sich also in diesem Gölterkreise, zu dem
noch die ebenfalls im Haine des Trophonios verehrte Herkyna hinzutritt,
die nicht minder deutliche Beziehung zum Wasser hat , wie der Zeus
virioi (Pausan a. a. 0, § 2 u. 3) , allerdings ein Kreis von Gottheiten
dar, welche die Fruchtbarkeit der Erde oder des Ackerfeldes darstellen
oder bewirken, so wird man dem in dieser Gesellschaft auftretenden
Kronos schwerlich mit Recht gleiche Bedeutung absprechen können,
während er als Reifer und Zeitiger der Frucht,196) welche die übrigen
Gottheiten erzeugt, genährt und gepflegt haben, und mit der Trophonios,
der Mittelpunkt des Kreises und Cultus nährt , seinen vollberechtigten
Platz und seine ganz natürliche Erklärung findet. Doch sei dem wie ihm
494) *H»wpi bei Paus. a. a. 0. , aber ßaadig Müller a. a. 0. 148. Note 5.
4 95) Panofka's Abhandlung über den Trophonioscult von Rhegion in den Schrif-
ten der berl. Akademie 4848 ist wie gewöhnlich unbrauchbar.
496) Auf gleichen Grand kann die vom Etym. M. v. rHkg p. 426. 4 8 bezeugte
Koinobomie des Kronos und Helios und dass Kronos in dem von Welcker S. 4 45 ci-
ttrien chaldSischen Oradel 'Hekiov naQififOQ heisst, mindestens eben so fuglich zu-
rückgeführt werden, wie auf das Ordnen des Zeilmasses, wie Welcker meint. Ist es
denn nicht Helios, der unter Kronos* Vorstandschafl , oder durch welchen Kronos das
Oetraide reift?
92 J. Overbeck, [92
sei, bedeutungslos ist dieser Kronoscultus nicht, Beziehung auf Zeus
als den tbeogoniscben Sohn des Kronos hat er gleichfalls nicht, and
aus einer Geltung des Kronos als Chronos vermag ich denselben nicht
zu deuten.
Kehren wir nun noch einmal zu dem eleiscben Cultus zurück, so
ist freilich zu gestehn , dass in ihm die Natur des Opfers und die mit
diesem im Zusammenhange stehende des Gottes nicht ausdrücklich,
sondern hauptsächlich dessen Alter und Unabhängigkeit von anderen
Culten angegeben wird , dafür aber finden wir in den in Kyrene ge-
feierten Kronien, bei denen man sich nach Macrob. 4. 7. 25 mit Feigen
bekränzte und mit Kuchen beschenkte , wiederum Züge , welche sich
aus der ländlichen Natur des Gottes, dem das Fest galt, und den man
nach Macrobius' ausdrücklichem Zeugnisse als Spender der Baumfrucht
und des Honigs betrachtete , leicht und einfach , aus irgend einer an-
deren schwer, wenn überhaupt erklären lassen. Dass aber diese Kro-
nien in Kyrene selbständig entstanden und dass sie ausser Zusammen-
hange mit uns unbekannt gebliebenen Culten des Mutterlandes waren,
kann vernünftigerweise Niemand behaupten, ja ich glaube filr die Zu-
rückführbarkeit derselben auf eine Stiftung der Ägiden , die allerdings
nicht bewiesen werden kann, nach der Natur der ägidischen haupt-
sächlich agrarischen Culte und nach der Geschichte von Kyrene einige
Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen zu dürfen, die, wenn man sie
anerkennt, uns einen tiefen Hintergrund der Religion erschliessen und
vielleicht einst auf ihren inneren Zusammenhang hinführen würde.
Hier wird es nun am Orte sein, ein paar Nachrichten in's Auge
zu fassen, welche die Verehrer des Gottes angehn. Plutarch (de nobil,
20) giebt an , die Menschen unter Kronos seien Landbauer gewesen,
was auch Welcker S. 157 beiläufig erwähnt, aber nur, um die Be-
merkung daran zu knüpfen , dies passe ganz zu der volksmässigen Art
des Festes , an dem die Herren sich unter die Diener mischen. Dies ist
unbestreitbar richtig; aber eben diese volksmassige Art des Festes in
Verbindung mit der Angabe, die das Fest Begehenden, denn diese sind
in Plutarch's Worten bezeichnet, seien Bauern gewesen, und dies wie-
der in Verbindung mit den von Macrobius übersetzten Worten des Phi-
lochoros: delectari enim deum honore servorum contemplatu laboris,
bezeichnet wiederum Kronos als den Gott des Landbaus, der Bauern und
der Knechte, welchen letzteren in den entwickelten Zuständen griechischer
93] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 93
Staatsverfassungen die thälige Landarbeit wesentlich and hauptsächlich
zufiel, mit denen sich aber am Kroaosfeste die vornehm und städtisch
gewordenen Herren mischten, sie die einst selbst die wahren Kronosver*-
ehrer waren, denn es gab zu seiner Zeit keine Sclaven , sagt Kronos bei
Lukian. Kronos erscheint in diesen Spuren überwucherter alter Cultur nnd
Cnlte sehr ähnlich dem namentlich von Welcker im Anhange zu seiner
Trilogie S. 1 86 ff. trefflich beleuchteten Dionysos der alten Ziegenhirten
und Weinbauern, und es ist schon von vielen Alten und Neuen die
weitere Ähnlichkeit der dionysischen Festlust mit der Festlust der Kro-
nien in Parallele gezogen worden , eine Ähnlichkeit, die meiner Über-
zeugung nach , aus der Verwandtschaft der Wurzeln beider Culte her*
stammt. Nur dass der dionysische Cultus unter vielen und harten
Kämpfen der adeligen Städter gegen seine bauerischen Träger, unter
Kämpfen , die Niemand besser beleuchtet hat, als Welcker a. a, 0. , all-
mülig in die Stadt eindrang und sich hier festsetzte und herrlich ent-
faltete , ohne dabei alle Elemente seines ursprünglichen ländlichen Cha-
rakters einzubttssen, während der Kronoscult der Kronien, obgleich
auch er in die Stadt eingedrungen ist, mehr und mehr den wirklich
thätigen Landbauern, den Knechten anheimfiel, ohne dass deshalb Kro-
nos zum Gotte der Knechte und Sclaven geworden wäre.
Die Natur der Kronoaverehrer, nämlich dass sie Bauern seien, geht
auch aus den von Welcker S. 4 58 f. angezogenen und in etwas anderem
Sinne gedeuteten Ausdrucken der Komödie; Kqwmv o£w (Arist. Nubb.
398), Äföytoc (ib. 929) Kp6voi rpxytpdoi (id. Vespp. 4 480) hervor.
Welcker meint, diese Ausdrücke gehn »altvaterische Einfalt, Be-
schränktheit und Altersschwäche« an und knüpfen sich an den Begriff
altväterlicher Glückseligkeit des fabelhaften goldenen Zeitalters. Bei
näherer Erwägung aber ergiebt sich, dass dieselben mit Altersschwäche
als solcher Nichts zu thun haben , sondern sich auf altväterliche Einfalt,
Beschränktheit , bäuerliche Unbildung im Gegensatze zu der modernen
und raffinirten Cultur und Sophistik beziehe, und dass man zu ihrer Ab-
leitung nicht auf ein fabelhaft goldenes Uralter, so populär dessen Bilder
za der Zeit gewesen sein mögen ,197) zurückzugreifen nölhig hat , son-
dern nur auf ländliche, bäuerliche Sitten und Culte. So ist das RqovUav
481) Vsrgl. Welcker a. a. 0., besonders aber Bergk, de reliquiis csmoediae
atticae p. 4 93 sqq.
91 J. OVBRBBCK, [94
6£a>v dem Sokrates in den Mund gelegt, der mit demselben den
Strepsiades , bekanntlich überhaupt und ganz besonders in der hier in
Rede stehenden Scene den Typus altväterlicher Einfalt und Beschrankt-
heit, Bäuerlichkeit,1*) verhöhnt und zwar als dieser altfromm meint,
den Blitz sende doch offenbar Zeus , Meineidige zu strafen , worauf ihm
Sokrates sein:
%ai TrcÜg, © fiv>Qe ov xai Kqoviwv ögew xai ßixxeoeXtjve
an den Kopf wirft , was Droysen ganz gut mit :
Wie, was, o du Narr, altmodischer Kauz, Altweibergeschichten-
erzähler
übersetzt hat. Noch charakteristischer ist es , dass das Kqopos äv von
dem äiixog X6yog gegen den dixcuog gebraucht wird , bekanntlich der
verkörperten neuen und faulen Bildung gegenüber dem Vertreter der
alten Einfachheit und Kraft, Einfalt und Bäuerlichkeit. Und nicht min-
der deutlich ist der Sinn der dritten Stelle in den Wespen, wo es von
Bdelykleon, der Parallelfigur des Strepsiades als Repräsentant der guten
alten Zeit, heisst, er tanze die Tänze der Thespis und wolle die jetzt
aufgeführten Tragödien — im Gegensatze zu den wirklich altmodischen —
als Kqovoi TQaytpöol, d. h. als altmodisches Zeug darthun, wo eine an-
dere Erklärung gar nicht möglich ist. Dass bei diesen Vertretern der
guten alten Zeit an eine Ableitung aus dem goldenen Zeitalter und an
einen erst durch dieses vermittelten Bezug zum Eronos gar nicht zu
denken ist, muss einleuchten, womit natürlich nicht entfernt geläugnet
werden soll, dass in anderen Stellen, wie sie Preller in der neuen Be-
arbeitung seiner Mythologie S. 46 Note S anführt, die Ausdrücke Kq6-
vtoi u. s. w. so gut wie Tanerol und Kodqoi sich auf Alter und Alters-
schwäche beziehn ; ist ja doch Kronos auch der ye^wp und ryiytQw !
Wichtig aber ist es, die in den angeführten Stellen vorhandene Be-
ziehung auf altväterliche Ländlichkeit und Einfalt wohl in's Auge zu
fassen und von dieser anderen getrennt zu betrachten.
Und wenn denn nun die Natur der alten Eronos Verehrer auf grie-
chischem Boden verdunkelt worden ist und mit ihr die Natur des Gottes
selbst, so ist Beides auf italischem Boden im Cultus des Saturnus voll-
ständig erhalten. Es ist mir allerdings wohl bewusst, dass von den
198) apyotxog m» o(a>v rgvyog, xQaawgf igimv niftovoietg, der seine
Ziegen hütet dup&tpar hw^ivog (Nubb. vs. 47, 50, 72).
95] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 95
Meisten und auch von Welcker die Herbeiziehung des Saturnus zur Auf-
klärung des griechischen Kronos perhorrescirt wird, dass man alle
Zeugnisse für die wirkliche Identität beider Gottheiten eben so bestimmt
verwirft wie alle jene Nachrichten , die von einer Übertragung der grie-
chischen Kronien als Saturnalien nach Italien reden. Es ist gewöhnlich
geworden , von einer späteren Identificirung des Kronos und Saturnus
und von einem Synkretismus ihrer Mythen zu reden , aber es ist nicht
gehörig beachtet, dass alle die Züge in den Gülten, aufweiche es für
die Erkenntniss der Natur des Gottes in Griechenland und Italien an-
kommt,190) echt volkstümlich und gewiss alt sind, während die theo-
gonischen Mythen vom Kronos , die seine alte Gullnatur Nichts angehn,
dem Saturnus nur ganz äusserlich und in später Mythencombination
angedichtet sind. Eben hierin aber liegt ein Fingerzeig, um die Grenze
des späten Synkretismus und der alten wirklichen Identität zu erkennen,
die eine verschiedene Ent Wickelung im Einzelnen nicht ausschliesst ; und
was diese alte Identität anlangt muss ich gestehn, dass ich in allen neueren
mythologischen Schriften vergebens nach einem durchschlagenden Ar-
gument gegen dieselbe gesucht habe. Ich kann vielmehr auf diesem
Punkte mich nur gänzlich mit Buttmann einverstanden erklären, der
(Mythol. 2. S. 29) von der Identität von Kronos und Saturnus ausgeht
und mehrfach auf dieselbe zurückkommt und der a. a. 0. schreibt: »wer
den Saturnus vom Kronos trennen will , der trenne nur auch eben so
leichtsinnig [dies will ich nicht gesagt haben] den Yulanus , den Mer-
curius, die Diana, die Minerva von den entsprechenden griechischen
Gottheiten, von denen die Namen sie trennen.« Dass aber Saturnus
wirklich und ganz unzweifelhaft Gott des Landbaus, dass seine Verehrer
Bauern waren, dieses, was Buttmann in Abrede stellen musste, weil er
sonst die gleiche Natur des Kronos und seiner Verehrer hätte zugeben
müssen, dürfte nach den neuesten Forschungen über Namen und Culte
des Saturnus*00) schwer zu bestreiten sein.
Wenn sich nun in diesen Culten und Cultusspuren , so fragmenta-
risch und verdunkelt wir sie kennen mögen , dennoch als gemeinsamer
499) loh brauche mich nur auf das zu berufen, was 6. Sippel: De cultu Sa*
turni, Marb. 1848. S. 66 f. als Gründe für die spätere Identificirung anführt, es sind
eben ao viele Zeugnisse für die Identität.
100) Ich verweise auf die treffliche Darstellung Preller's, Rom. Mythol. S. 408 ff.
96 J. Ovebbeck, [96
Erklärungsgrund am einfachsten der Glaube an einen von ländlicher Be-
völkerung angebeteten Gott ergiebt, dessen Obhut man die im Frühlinge
bestellte Saat empfahl und dem man die Fülle und den Segen der Erndte
dankte , so ist daraus die Vorstellung des im goldenen Weltalter herr-
schenden Eronos so leicht abzuleiten, dass es dazu nicht mehr bedarf
als der einfachen Worte Preller' s , Mythol. 1 . 43 (der ersten Auflage) :
»als Erndtegott ist er zugleich der Herrscher des goldenen Zeitalters,
wo ewige Reife und ewige Erndte war,« denn wenn Kronos herrscht
und wo er herrscht ist Reife und Erndte , nur dass man , um die Vor-
stellung zu erschöpfen, hinzusetzen muss: und wo die Menschen in ein-
fachen, von allen Mängeln und Übeln der Civilisation unbeleckten Zu-
standen lebten wie die bäuerlichen Verehrer des Kronos und in Freude,
Friede und Brüderlichkeit, wie die Herren und Knechte an den Kronien.
Denn dass in der That diese beiden Vorstellungen des goldenen Zeit-
alters , die eine von einer Vorzeit der Unschuld und Einfall und die
andere von einer Zeit der üppigsten Fülle und des mühelosen Genusses
sich mit einander verbanden hat am ausführlichsten Bergk in seinen
Commentationes de reliquiis comoed. ant. atticae p. 188 sqq. dargelegt
und Welcker nicht bestritten; wie aber einerseits nach der Natur seiner
Gaben und seiner Feste, andererseits gemäss der Natur seiner Verehrer
Kronos zum Repräsentanten und Herrscher dieser geträumten goldenen
Zeit werden konnte, dies scheint mir so einfach und leicht begreiflich
wie irgend Etwas , und ich glaube , mich für das Natürliche und Nahe-
liegende einer solchen Ideenverbindung und Übertragung auf Welcker
selbst und auf das berufen zu dürfen v was er über die Verbindung der
Kronien mit der Idee des goldenen Weltalters gesagt bat, nachdem ich
gezeigt habe, dass die Art, wie er sich diese Verbindung hergestellt
denkt, irrig sei.
Ist nun aber die Ideenverbindung zwischen dem Kronos der länd-
lichen Culte und Erndtefeste und dem Kronos, Herrscher der goldenen
Zeit, so wie ich sie vermittelt deuks, richtig, so wird es erlaubt sein/
die unter diesem Gesichtspunkte gewichtige Tbatsache, dass man aller-
dings am meisten in Athen, aber keineswegs allein daselbst von dem
goldenen Weltalter und seinem Herrscher Kronos erzählte , mit jenen
oben (S. 89) bei Seite gelassenen oder zurückgestellten Nachrichten in
Verbindung zu bringen, nach denen allerdings ganz besonders in Athen
(maxime Athenis , Attius b. Macrob) , aber keineswegs in Athen allein
97] Beiträge zur Erkbnntntss und Kritik der Zgusreligion. 97
die Kronien gefeiert wurden , und es dürfte hieraus sich eine, vielleicht
Manchem unerwartete Stütze für die Glaubwürdigkeit jener Nachrichten
ergeben, welche da bezeugen, dass die maxima pars Graium die
Kronien gefeiert habe (Attius), dass Saturnaliorum dies apud Grae-
c o s etiam fest! habentur (Varr. Flacc.) , dass die Kronien seien naqa
toiq "EXhjatp Ioqttj (Schol. Aristoph.) oder eine so^ttj iXhjvixordrTi
(Athen.). — Soviel über die eine, grössere Hälfte der Kronosculte in
Griechenland, welche dem Gott in seinem segensreichen Wirken gelten.
Über die andere Hälfte der Culte und über den Mythus, der Kronos
als verderblichen Gott schildert, glaube ich mich kurz fassen zu dürfen.
Was zuerst die Gülte, nämlich die Menschenopfer anlangt, welche
sich bekanntlich auf Rhodos und Kreta beschränkten, so steht zunächst
deren Ursprung nicht fest, und man kann nicht sagen, dass sie dem
griechischen Kronos und nicht vielmehr dem Kronos genannten Baal-
Moloch gegolten haben , ich meine nicht einem mit Baal-Moloch identi-
ficirten, schon vorhanden gewesenen griechischen Kronos, sondern
pure dem ersteren , der nur hier so gut wie an manchen anderen Orten
Kronos genannt wurde. Es ist dies Welcker's Ansicht, der ich nur dies
Eine entgegenstellen möchte, dass sie nicht nothwendig die richtige ist,
so viel Wahrscheinliches sie auch , besonders deswegen für sich hat
weil wir ähnliche Culte des griechischen Kronos auf griechischem Bo-
den nicht finden. Aber erwiesen ist, soviel ich zu sehn vermag trotz
dem Allen noch nicht, dass diese rhodischen und kretischen Menschen-
opferculte dem phönikiscben Baal-Moloch-Kronos und nicht dem grie-
chischen Kronos gelten, und als möglich muss ich dies immer noch hin-
stellen, wobei als nicht unbedeutender Incidenzpunkt in Rücksicht kommt,
dass das rhodische Opfer auf den 6. Metageitnion (30. Juli) fiel, also
wenigstens annähernd mit dem attischen Kronion am 12. Hekatombäon
coincidirte und, worauf es hier besonders ankommt, in der Zeit des
grössten Sonnenbrandes begangen wurde. Dass in einer solchen Zeit dem
griechischen Kronos, mag er auch als Gott der Reife und Erndte verehrt
worden sein, als dem im Sonnenbrande und in der Dürre der Erde
furchtbaren Gotte Menschenopfer als Sühnopfer dargebracht worden
sein können , und zwar nach griechischer Cultstiftung , das möchte ich
nach zahlreichen Analogien anderer griechischer Culte weder unmög-
lich noch überraschend nennen. Namentlich dürfte hier einerseits auf
die Culte des Zeus Lykäos und Laphystios, sicherer Hitze* und Dürre-
Abhandl. d. K. S. Gm. d.WUi. X. 7
98 J. OvERBECK, [98
götler und auf die Menschenopfer, die A pol Ion Tbargelios als Sühnopfer
empfing,301) zu verweisen sein und andererseits auf die Menschenopfer,
welche dem Dionysos fielen,202) da dieser als Gott der vegetativen
Fruchtbarkeit und Fülle mit dem Kronos als dem Gotte der Fülle, Reife
und des Erndtesegens in Parallele tritt.
Was aber den Mythus von der Kinderverschlingung anlangt, so ist
dieser ganz gewiss nicht aus den Menschen- oder Kinderopfern des
Kronos abzuleiten, sondern er beruht, wie auch Preller und zwar in
der früheren Auflage seiner Mythologie (4. S. 43) besonders klar an-
gedeutet hat, auf der natürlichen Wirkung derselben Kraft des Gottes,
welche die Erndte zeitigt, dann aber in dörrendem Sonnenbrande
Alles verzehrt , was der Gott mit einer Gattin Erde — denn nur eine
solche kann ihm zukommen , und eine solche ist , ganz von der Er-
klärung ihres Namens abzusehn , begrifflich auch Rhea — erzeugt hal.
Nur dass man diesen Mythus von der Kinderverschlingung in seinen
Keimen ganz allgemein verstehn und die Substiluirung der mythisch -
theogonischen Kinder des Kronos als blosse theogonisch-combinato-
riscbe Übertragung oder Anwendung betrachten muss. Auf diesem
Punkte muss ich der namentlich von Lauer (Syst. d. griech. Mythol.
S. 169) entwickelten Ansicht, der übrigens auch Preller zuneigt v ent-
gegentreten , sofern Lauer die Verschlingung der theogonischen Kinder
für an sich bedeutend hält, und Prelier in der hesiodischen Darstellung
das Princip findet, dass das Vollkommenste stets das Letzte und des-
wegen Zeus der Jüngste sei (Myth. 2. Aufl. 1. S. 47). Dies wage ich
als bestimmt irrig zu bezeichnen. Denn erstens giebt die Verschlingung
der Kroniden : Hestia , Demeter, Here , Afdes und Poseidon , wenn wir
diese Gottheiten in ihrer Bedeutung fassen, wie Lauer wollte, ein ganz
unwahres und unleidliches Bild, und zweitens sind ja diese Gottheiten
auf keinem anderen Wege zu Kronos' Kindern geworden als auf dem-
jenigen des combinatorischen Mythus, der sie zu Geschwistern des
Zeus machte. Die ganze Entwickelung ist vielmehr unzweifelhaft diese :
ursprünglich bedeutsam ist nur, dass Kronos alles Gezeugte wieder ver-
schlingt als Gott des dörrenden, verzehrenden Sonnenbrandes, den Jeder
zu würdigen wissen wird, der z. B. die sommerliche oder nachsommer-
t04) Hermann, Gottesdienstl. Alterthümer § 60. 4, 17 ff.; § 68. 4«.
202) Hermann, a.a.O. 27. 4.
99] Beiträge zur Ebkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 99 \
liehe Campagna di Roma kennt ; die Kinder des Kronos aber sind ur-
sprünglich entschieden namenlos , die ganze Vegetation ; dann entstand
der Mythus der Zeus zu Kronos' Sohn machte (von dem nachher), weiter
und auf anderem Wege der, welcher die beiden anderen Götter zu
Zeus' Brüdern und nach dem auch im Titanenmythus hervortretenden
Gesetze des Parallelismus die 3 Göttinen zu seinen Schwestern stem-
pelte ; als Zeus' Geschwister wurden nun diese fünf gleichfalls zu Kro-
nide n, und als solche nun erst zu den von dem Vater Verschlungenen.
Da sie aber grosse Cultgottheiten waren und als solche fortbestanden,
also nicht verschlungen sein konnten, musste der Mythus von Kronos'
Entthronung durch Zeus nothwendig auch auf ihre Rettung durch den
auf anderem Wege geretteten und in Folge der Verschlingungsgeschichte
aus dem Altesten zum Jüngsten gewordenen Zeus ausgesponnen werden,
was durch die Fabel von dem Wiederausbrechen der Kinder sowie des
statt des Zeus verschlungenen Steines bewerkstelligt wurde. Dies Alles
aber ist einzig und allein theogonische Poösie , blosse nothgedrungene
Combination ohne den leisesten Anhalt der Bedeutsamkeit.
Bedeutsam dagegen und eine blosse Gonsequenz des ersten Be-
deutsamen, der ursprünglichen Kinderverschlingung ist es, dass Kronos
als Greis erscheint, ein Bild der verlebten Natur, wie Preller (S. 46)
wieder richtig sagt , der Natur die im Sonnenbrande kahl und grau und
alt geworden ist. Alle weiteren Schilderungen aber des alten, kahl-
köpfigen, mürrischen vertrockneten Kronos yiqwv und TQiyiqwv sind
Consequenzen und Ausmalungen dieser Anschauung, welche durch die
andere Anschauung von der Entthronung durch Zeus , von des Kronos
Herrschaft vor der des Zeus also im Uralterthum , wesentlich unter-
stützt wurde , und in der That so befestigt und popularisirt worden ist,
wie es uns Schriftstellen und Kunstwerke beweisen. Dies Alles ist ein-
fach und klar auch ohne weitere Worte; schwierig bleibt nur die eine
Frage , auf welchem Wege Kronos zum Vater des Zeus geworden sei,
eine Frage, deren Beantwortung wir uns jetzt schliesslich zuwenden,
und um derentwillen alles Vorstehende untersucht und ausgesprochen
werden musste.
100 J. OVBRBECK, [400
10.
Welcker fasst die Sache kurz wie folgt : »Unvermeidlich war es,
sagt er (Götter). 1 . S. 1 48) dass nach der patronymischen Form Kronion,
Kronides statt der blossen Bedeutung oder des Prädicats Kronos mythisch
als eine Person aufgefasst wurde.« S. 4 49 lesen wir: »zu einer Zeit, wo
etwa Apollons oder anderer Götter Geburtsfest als das Heiligste gefeiert
wurde, durfte der Mythus sich nicht scheuen, auch den Kronos als
Vater im eigentlichen Sinne zu fassen, und ihm die grosse Göttin zu
vermählen, die wirkliche, alte, hochangesehene Göttin Rhea.« Sodann
S. 150: »denkbar ist es, dass die Dichtung im Zusammenhange ge-
standen habe mit dem Obergang von den Naturgöttern zu den menschen-
artigen. Denn Zeus, wenn er auch nicht aufgehört hatte, der höchste
Gott, oder Gott vor und über allen Naturgöttern zu sein, war doch auch
Gott eines Naturreichs ; durch jenen Mythus aber erfährt er scheinbar [?]
in diesem Bezug eine Umwandlung, indem er unter die Götter dieser
neuen Periode nicht als Natur, sondern nur als Person eintrat , eben so
wie die aus ihm geborenen Götter.«
Der Vater Kronos also wird aus Kronion hypostasirt. Die Mutter
aber ist eine wirkliche Gultgestalt und zwar sie nebst dem Kinde und
schon vor dem Mythus , der Kronos zum Vater und zu ihrem Gemahl
machte. Dies finden wir weiter ausgeführt im 2. Bande der Welcker' -
sehen Götterlehre S. 216 ff. in dem Capitel: Rhea und das Zeuskind
oder der kretische, kretageborene Zeus.
Rhea nämlich ist die phrygische Kybele-Rhea, deren ursprüng-
licher Name nicht Kybele, sondern Rhea war und auf Kreta auch blieb
(S. 221), «dasselbe Wesen, wie die grosse Göttin, Mutter, JUä9 Mutter
der Götter, auch Kybele der Phryger« (S. 218) , welche mit ihrem Kinde
auf Kreta in Lyktos (S. 216) und an der östlichen Küste in der diktäi-
schen Höhle bei Knossos (S. 21 8) Gült hatte. Dieser Kybele-Rhea eignet
»nach phrygischem Urmythus« ein Kind , welches sie »für sich (de soi)
hervorbringt« (S. 220. Note), ohne dass hierbei ein Vater irgendwie in
Rücksicht genommen wurde , und demgemäss finden wir »bei der alten
idäischen, diktäischen Höhle keine Spur nicht nur von einer Verehrung
des Kronos mit der Rhea, oder des Kronos allein, oder der Geschwister
des Zeus« (S. 224), vielmehr wurde »die eteokretische , phrygische
404] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 104
Rhea, die Hauptgöttin dieser Lande, der sich die nach Kreta gewan-
derten Dorier zuwendeten , hier nicht als Gattin des Kronos , sondern
für sich mit dem Sohne gefeiert« (S. 227). Und andererseits ist , nach-
dem Rhea von den Phrygem zu rein genealogischen Zwecken entlehnt
und mit dem aus Kronion bypostasirten Kronos verpaart war, mit dieser
Entlehnung »kein Cult der Rhea, der Rhea und ihrer Kinder, oder der
Rhea und eines Neugeborenen , in einer heiligen Höhle [dies als der
Ursprüngliche des Rhea-Kybelecultus nämlich] irgendwo verbunden,
sondern es blieb bei der genealogischen Formel« (S. 227).
Das Elternpaar des Zeus also kommt, der Vater durch Hypostase
aus Kronion , die Mutter durch genealogische Entlehnung einer wirk-
lichen Muttergöttin mit einem Kinde zu Stande , die Verbindung aber
wird bewirkt durch Identification des griechischen Zeus mit dem
phrygisch-eteokretischen Kybelekinde. Denn der griechische Zeus ist
von dem kretischen ursprünglich «ganz verschieden« (S. 248, 220,
226, 227 u. and. Stellen). Der kretische Zeus, das Rheakind, Atys war
»ursprünglich ganz im Allgemeinen Leben, Frühling« (S. 249), und ent-
spricht vielmehr dem Dionysos , der auch mit dem Atys vermischt wird
(S. 220) ; er ist der Gott alles Naturlebens und »von dem obersten Gotte
der Griechen so gründlich verschieden, dass wir keinen Anlass
haben, den Namen des Zeus auch bei dem kretischen Volksstamme,
welcher jenen Nalurgott von jeher verehrt hatte , vorauszusetzen , viel-
mehr annehmen müssen, dass ihm erst die Griechen den Namen ihres
höchsten Gottes beilegten, »weil er dort, wo sie sich mit den Ein-
geborenen einigten, der oberste Gott war« (S. 227). »Das Merk-
mal des Höchsten gab hier Anlass zur Verschmelzung« (S. 228) , und
wenn Atys Zeus genannt wurde , »so ist er nur örtlich in die höchste
Ordnung gehoben, wie Aristäos-Apollon in Keos auch Zeus hiess«
(S. 220). Diese Identification zu vollenden kommt hinzu, dass »Zeus
nicht als der Herr der Welt , sondern nur physisch , als Regen aufge-
fasst, oder Hyes und der phrygische Hyes-Sabazios ganz ähnliche Fi-
guren sind« (das.) »Der Neugeborene der Rhea , der im Wesentlichen
als ein Sabazios-FIyes wie in Phrygien zu denken ist, wurde Zeus ge-
nannt, da Zeus, blos physisch genommen, mit jenem hinlänglich über-
einstimmte« (S. 228).
Diese ganze, hier nur in den Hauptpunkten ausgezogene Combi-
nation , geistreich und gelehrt und weit aussehend wie sie sein mag,
102 J. Overbbck, [402
•
und so viel Scheinbares sie, besonders in der Lehre von der Identification
des Naturzeus, Regenzeus mit dem Atys haben mag, bangt wie in ihren
beiden Angeln in den beiden Behauptungen, dass einerseits Kronos aus
Eronion abgeleitet, eine theogoniscbe Fiction, keine Cultgestalt sei,
und dass andererseits Rhea wirklich mit der phrygischen Kybele i den-
sisch , dass sie mit dem Zeuskinde aus der phrygischen grossen Mutter
mit dem ihr eignenden Atyskinde hervorgewachsen, nicht aber erst
später mit der phrygischen Göttin identificirt oder durch Theokrasie
vermischt sei. Dies sieht auch Welcker selbst sehr wohl ein, denn
1. S. 149 schreibt er: »Nur weil ihr Name und Cult fremd und
dunkel waren, konnte sie (Rhea) mit dem ureinheimischen
Kronos verbunden werden.«
Über die Irrigkeit der Welcker' sehen Ansichten über Kronos und über
dessen reale Cultpersönlichkeit kein Wort mehr. Was aber Rhea und die
Frage über ihre ursprüngliche Identität oder ihre spatere Vermischung mit
der phrygischen Kybele anlangt, ist Welcker früher anderer Ansicht ge-
wesen als er jetzt ist , indem er in seinem Werke über die Aschylische
Trilogie Prometheus S. 200 Folgendes schrieb: »die häufige und ganz
gewöhnliche Vermischung der Kurelen und Korybanten erklärt sich theils
aus der Gemeinschaft des Standes , theils aber hat sie einen natür-
lichen und mächtigen Grund in der bei den alten Schriftstellern eben
so häufigen Verwirrung der phrygischen und lydischen
grossen Mutter mit der kretischen Rhea, welche erst Zoega in
einer meisterhaften Abhandlung203) gelöst hat«, was er auf den fol-
genden Seiten weiter ausführt. Nun kann mir allerdings Nichts auf der
Welt ferner liegen, als Welckern aus dieser Umkehr seiner wissen-
schaftlichen Überzeugung einen Vorwurf zu machen , da ich den Werth
des solonischen yrjgdaxco d' aiei noila didaaxo/iepog zu würdigen weiss,
und an mir selbst recht gründlich zu erfahren hoffe; allein wo wir
einen Mann wie Welcker in dieser Art mit seiner eigenen Forschung
und Überzeugung, die er auf anderen Punkten durch sein ganzes Leben
so energisch festgehalten hat, im stricten Widerspruche finden, da muss
uns dies sehr vorsichtig machen , und wir müssen von dem Welcker
van 1859 sehr starke Beweise gegen den Welcker von 1824 verlangen,
wenn wir jenem statt diesem und der in der That meisterhaften Ab-
203) Bassirilievi antichi di Roma 4 . p. 45 sqq. und 81 sqq.
403] Beiträge zur Erkbnntniss und Kritik der Zeusreligion. 4 03
handlung eines Zogga folgen und glauben sollen. Und diese starken
Beweise eben sind es, die ich in der neuen Ausfuhrung vermisse.
Allerdings finden wir (Götter I. 2. S. 221) die Behauptung oder An-
nahme, Rhea sei der ursprungliche Name gewesen,20*) der auch in Kreta
nie durch die spatere Form der phrygischen Kybele verdrängt worden :
aber er stützt diese Annahme, auf welche schliesslich Alles ankommt,
und durch welche ganz allein die Frage über die ursprüngliche Einerlei-
heil oder die spätere Theokrasie von Kybele und Rhea entschieden wer-
den kann , auf nichts Anderes und Nichts mehr, als auf den Vers des
Apollonios Rhod. Argon. 1. 1139:
§6pßw xal rvnavfp 'Psir/v <P(*uy€$ iXaomvro,
ferner auf Lukiau de sacrificat. 5. 1 0 ö Mvyd6viog oeßci tt/v 'Pdav und
darauf, dass Sophokles im Philoktet (393) den Chor die fi^rtjff avrov
Jiix; als oQeorBQa rca/ußcori Ta anrufen lässt, womit er allerdings auf die
prjrrjQ oqhtj d. i. die Kybele, die troisch-phrygische Göttin anspielt.
Aber diese Stellen können absolut Nichts beweisen , da sich die sopho-
kletecbe durch die Annahme der bereits — und zwar bereits seit lange
— vollzogenen Theokrasie vollkommen erklart, und da der .Name Rhea
in den beiden anderen Stellen ungenauer Ausdruck ist, desselben Schla-
ges wie in der Opposition des Demetrios von Skepsis gegen Euripidea
bei Strab. 10. p. 472. 20, die auch Welcker anfuhrt: Rhea sei nicht in
Kreta, sondern nur in Phrygien und Troas verehrt worden, wer anders
rede, der spreche mythologisch, nicht historisch. Hier meint Demetrios,
wie dies auch Welcker in seiner Trilogie S. 204 ganz klar und richtig
beleuchtet, Kybele, die Euripides in den Bakchen (vs. 59, 75, 103)
wirklich mit Rhea confundirt, und deren Namen er mit dem der Rhea
promiscue gebraucht, und er kann nur Kybele meinen, da ihm der Rhea-
dienst und dieRheasage auf Kreta unmöglich unbekannt sein konnte, und,
wie aus den Worten selbst hervorgeht, sehr wohl bekannt war. Er op-
ponirt also gegen die Vermischung von Kybele und Rhea und wenn wir
nun gleichwohl im Texte Strabon's den verkehrten Namen Rhea statt
Kybele finden, so ist zunächst an eine momentane Gedankenlosigkeit
Strabon's beim Excerpiren zu denken. Denn, so gelaufig vermöge der
Theokrasie der Name Rhea für Kybele geworden ist, reden genaue
204) Über seine Ableitung vergl. Preller, Griech. Mythol. 2. Aufl. k . S. 502. Note
3. Welcker's Annahme, der Name stamme aus i'ga mit Lautverschiebung (GÖtterl. 2.
S.H6) scheint mir nicht sehr plausibel, viel eher mochte ich Preller's Vorschlag folgen.
104 J. OVERBECK, [404
Schriftsteller, da wo sie von der phrygischen Göttin sprechen, nie von
Rhea, sondern setzen die anderen , d. h. die wirklichen asiatischen Na-
men. So berichtet Herodot (5. 102), die einheimische Göttin von Sardes
sei Kybele (nicht Rhea); ebenso Strabon (10. p. 469. 12), die Berekyn-
ten, ein phrygischer Stamm, verehrten Rhea, d. h. die mit der griechi-
schen vermischte Göttin, und sie nennen sie, nicht etwa Rhea, sondern:
/nt]T6()a &mv xai "sfydiOTW xai <pQvyiav &aov /uydktjv xai 'Idaiav
xai ^/ivdvfujvtjv xai JSmvtyvtjv xai Ileoaivovvrida xai Kvßektjv [xai Kv~
ßyßtjv Meineke]. Ebenso p. 470. 15, wo er von der Vermischung des
Dionysischen mit dem Phrygischen spricht, sagt er wiederum von den
Phrygern, sie nannten Rhea : Kybele, Kybebe, Dindymene, aber nicht
Rhea ; und in Kyzikos kennt er (1 . p. 45) wohl : die fi^rtjQ 'Idaia, (1 2.
p. 575. 11) die fujrtjQ z/ivdv/urjvt], (13. p. 589. 17) /utjr^og &ewv Uqov
ayiov TtiQeirjg cnixakovfuvov, nirgend aber Rhea; und auch Pausanias,
wo er (8. 47. 4) über Kyzikos und Prokonnessos berichtet, sagt: äyakfia
MtjTQog JipdvfiyvrjQ aber nicht Rhea's; ebenso spricht er bei Pessinus
(1. 4. 5) von "AydimiS) bei der Steunoshöhle (10. 32. 3) von MtjrQog
uqov und äycd/ua aber nimmer von Rhea. Und ganz gleicherweise wird
von keinem der bei Zoega (a. a. O. S. 83. 6) angeführten Schriftsteller,
die von dem Cult von Berekyntos handeln, die Göttin Rhea genannt,
und Gleiches gilt wiederum von den Gülten auf Sipylon (Zoega a. a. O. 7)
und von den sonstigen asiatischen Gülten. Und demnach stellt sich die
Sache so, dass allerdings von nicht wenigen griechischen Schriftstellern,
vonEumelos an203) Rhea, die griechische, theogoniscbe Mutter des Zeus
Kybele, oder Bergmutter , auch Dindymene genannt wird, von keinem
aber ausser von den zwei von Welcker angeführten, unter diesen Um-
ständen am allerwenigsten schwer wiegenden, die asiatische Göttin,
unter so mancherlei Namen sie immer auftreten mag, Rhea, ein deut-
licher und entscheidender Beweis allein schon dies, um von alle dem
Anderen, was Zoega mit eben so grossem Scharfsinn wie umfassender
Gelehrsamkeit geltend gemacht hat, abzusehn, dass wir es wirklich mit
Synkretismus und Theokrasie zweier getrenntep Gestalten, und nicht mit
ursprünglicher Einheit bei nur scheinbarer Verschiedenheit zu thun ha-
ben, und dass der Name der asiatischen, phrygisch-troischen Göttin
nicht ursprünglich Rhea gewesen sei, wie Welcker annimmt und worauf
205) Schol. II. 6. 4 30, Gerhard, Griech. Mythol. § 444. 3, Zogga a. a. O. S. 88.
16ff.
405] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 105
er seine ganze Combination baut und bauen muss, wie er dies
selbst anerkennt in den bereits angezogenen Worten: »nur weil ihr
Name und Cultus fremd und dunkel waren, konnte sie mit dem
ureinheimischen Eronos verbunden werden.«206) Fallt aber
dieser Grund, auf welchem das ganze Gebäude ruht, so können wir für
unsere Zwecke ein näheres Eingehn auf die Lehren Welcker's über den
»phrygischen Urmythus« von der Mutter mit ihrem Sohne, der nach ihm
durch semitische Einflüsse getrübt worden wäre, entbehren. Denn, sind
Kronos und Rhea nicht auf dem Wege, den Welcker annimmt, zu Gatten
und zum Elternpaar des Zeus geworden, so kann auch nicht jene Iden-
tification des Zeus mit dem , ursprünglich ganz im Allgemeinen Leben,
Frühling bedeutenden Sohne der phrygischen Göttermutter stattgefunden
haben , die Welcker lehrt. Und weiter folglich kann auch der Mythus
von der Geburt , dem Geborenwerden des Zeus nicht ursprünglich an
Rhea haften, was allein schon daraus hervorgeht, dass er in diesem
Falle und so wie Welcker sich die Sache denkt t hundertmal für einmal
Sohn Rhea's heissen müsste.307) Und wenn sich nun die Sache so stellt,
dass Kronos, den Welcker als blosse theogonisch-genealogische Fiction
und Abstraction betrachtet, eine wirkliche Gultgestalt ist, so kann im
Gegensatze hierzu Rhea nicht die wirkliche Göttin benachbarter Stämme,
sondern grade sie muss eine ausgedachte theogonische Potenz sein wie
Leto, Maias u. A., die Welcker 1. S. 1 48 ablehnend vergleicht, und folg-
lich haben wir uns den ganzen Geburtsmythus des Zeus anders zu er-
klären, haben wir zu versuchen uns die Hergänge bei dessen Entstehung
anders vorstellig zu machen als Welcker sie dargestellt hat.
Dieses beziehe ich aber nicht auf das Grundmotiv des Mythus, dass
Zeus überhaupt zu einem Geborenen geworden ist, vielmehr glaube ich,
wie ich dies auch schon oben (S. 24) ausgesprochen habe, dass Welcker
eben dies Grundmoliv als solches vollkommen aufgedeckt hat, indem er
an das Geborensein und die Geburlsfeste der anderen Götter als das
Heiligste in ihrem Cultus erinnert. So gut wie alle Gölter zuerst ewige,
206) Dass auch Preller, griech. MylhoL 2. Aufl. S. 47 und S. 502 ff. Rhea für
nicht reingriechisch erklärt, sondern sie aus der kleinasiatischen Bergmutter und Kybele
ableitet, hat mich wohl bedenklich gemacht, aber kann mir die Überzeugung von der
Richtigkeit meiner Ansicht nicht rauben.
207) Vergl. oben S. 62, wo nach Welcker bemerkt ist, dass Homer Zeus nie Sohn
Rhea's nennt.
106 J. OVERBBCK, [406
aeiyev&tai sind und dann zu geborenen worden und Ellern erhielten, so
gut inusste dies bei Zeus geschehn, wenn nicht in die Grundanschauungen
der Religion, in ihre Ideen von den Göttern und von ihrem Wesen ein
nimmer erträglicher Zwiespalt kommen sollte, wozu dann noch die Thal-
sache kommt, dass «Genealogien aufwärts die Würde erheben und er-
klären sollen, anstatt das Wesen der Person als minder umfassend dar-
zustellen«, wie Welcker abermals mit der klarsten Einsicht schreibt (1.
S. 1 42). Im Grundprincip also kann ich mich Welckern durchaus an-
schliessen, es kommt nur auf dessen Anwendung und Consequenzen an.
Und hier glaube ich macht die Geburtssage des Apollon und des Hermes
vollends Alles klar. Denn , so wenig Zeus von Anfang an Kronos' und
Rhea's Sohn war, grade so wenig war Apollon von Anfang an und in
seinen mannigfaltigen ältesten Culten Sohn des Zeus und der Leto, Her-
mes derjenige des Zeus und der Maias, mau nannte vielmehr für Beide
weder Vater noch Mutter. So gut aber Apollon und Hermes zu Söhnen
des Zeus geworden sind, und zwar dem Prinzip nach auch auf demsel-
ben Wege ist Zeus zum Sohne des Kronos geworden. Als das mytho-
logische Bedttrfniss eingetreten war, diese Götter als geboren zu fassen,
da suchte man ihnen Väter; da machte man, und zwar zunächst örtlich,
Apollon den Gott des himmlischen Tageslichts, den Helios-Apollon, wie
ihn Welcker wenigstens begrifflich, wenn auch schwerlich mythologisch
richtig nennt, zum Sohne des lichten Himmels und einer erfundenen
Mutter, bedeute diese, Leto, nun Nacht oder was sonst; den Hermes als
Gott der Wolken und als solcher im Regen Vermittler des Himmels und
der Erde, der Ober- und Unterwelt und Ausrichter, didxroQog des Hirn*
mels, zum Sohne des Wolkenhimmels des Zsvg xekaiveiptjg noch mehr
als r€(peX7jye()6T?is, und einer abermals erfundenen Muttergöttin, Maia
oder Maias, die wohl nicht mehr als dies ist.208) Und so wie in diesen
beiden Fällen der Vater wirkliche Cultgestalt ist, während die Mütter
208) So auch Lauer, System d. griech. JUythoI. S. tl\ und Preller griech.M^thol.
2. Aufl. 1. S. 298; Welcker, Gölterl, 1. S. 344 widerspricht, der Form Äfatug wegen;
dies jedoch ist nicht stichhaltig, da Maiag nur die Individualform neben dem Appella-
ti vum fxaia aus pä sein kann ; der einzige Grund, den man mit Recht gegen diese An-
sicht geltend machen kann ist, dass Hermes Maiadtvg und Matadtig heisst, was auf
eine prägnante Bedeutung des mütterlichen Namens hinweist; da aber dieser Name
Maiadeus auch nicht in ältester Poösie und nicht vor Hipponax, vielmehr nur bei die-
sem vorkommt, so ist es schwerlich gewagt , hier ein Misversfändniss oder ein Nicht-
verslehen der Bedeutung anzunehmen.
407] Beiträge zur Erkenntniss und Kritik der Zeusreligion. 4 07
nur fictiv, theogonisch gedichtet sind , und deswegen auch nur in dem
Iheogonischen Mythus , in Beziehung auf die Geburt der Kinder und in
dem was mit dieser nothwendig zusammenhangt lebendig, im Cult nur
der Kinder wegen berücksichtigt sind: grade so ist auch, wie ich gezeigt
habe, der Vater des Zeus eine wirkliche Cultgestalt, und scheint die
Mutter Rhea eine theogonische Fiction, die in Allem was wir von ihrem
Mythus und von ihrem Cultus wissen, mit Leto ganz auf einer und der-
selben Stufe steht.
Es bleibt uns nun nur noch die Beantwortung der Frage übrig, wie
kommt Zeus zu den Eltern, oder speciell, wie kommt er zu dem Vater,
Kronos, den die Theogonie ihm giebt?
Hier könnte man sich versucht fühlen die Lösung aus dem Begriffe
des Kronos, nicht sowohl als Herrscher der goldenen Zeit, wie ihn Butt-
mann nicht zum besten fasste, als vielmehr als Vertreter der Urzeit, der
titanischen Zeit und als Vertreter einer obsolet gewordenen Cultur und
Religion abzuleiten. Welcker selbst deutet einen derartigen Gedanken
wenigstens im Vorübergehn an, wenn er 1. S. 1 48 schreibt: »es ist mög-
lich , dass die Idee des Kronos als Urzeit, Frühling aller Zeiten, dem
Glauben an eine dem Zeus vorangegangene Dynastie zu Hilfe gekommen
ist,« allein mit Recht bemerkt er das. S. 1 56 »die Dichtung von den Welt-
altern steht in keinem inneren Zusammenhange weder mit dem Götter-
kampfe noch mit Zeus und der Religion überhaupt, und ist nicht durch
sie entsprungen.« Auch ist unerweislicb , dass die Dichtung von den
Weltaltern älter oder auch nur so alt sei, wie der Geburtsmythus des
Zeus. Aber auch aus dem Mythus vom Titanenkampfe, in welchem Kro-
nos als das Haupt der gestürzten Dynastie erscheint, kann man die Vater-
schaft des Kronos deswegen nicht ableiten , weil keine Spur vorhanden
ist, dass Kronos vor dem fertigen theogoniseben Mythus oberster Gott,
Haupt einer Götterdynastie gewesen ist, wozu er vielmehr erst als Vater
des Zeus und in Folge des Titanenmythus geworden zu sein scheint, so
dass wahrscheinlich der Geburtsmvthus des Zeus und die Vaterschaft
des Kronos alter ist, als der Titanenroy thus, und diesen wenn auch nicht
in seinem Wesen, so doch in seiner Form bestimmt hat.
Überdies haben wir uns daran zu halten, dass der Mythus von
Zeus9 Geburt ein kretischer, von Kreta ausgegangen ist, wo vollends
keine Spur einer solchen Dynastenstellung des Kronos vorhanden ist
noch auch davon, dass von hier der Mythus vom Titanenkampfe in sei-
i\
i
108 J. 0 VERRECK, [408
ner Idee ausgegangen wäre. Folglich müssen wir die Erklärung im kre-
tischen Zeuscult suchen, und es wird sich hauptsächlich darum handeln,
ob sich darthun lässt, dass der kretische Zeus so aufgefasst worden ist,
dass er zum Sohne des Kronos als des Gottes der Fülle und der Reife,
der tellurischen Fruchtbarkeit gedichtet, dass dem Zeus in einem solchen
Gotte ein Vater gesetzt werden konnte.
Grosse Theile dieser Untersuchung hat schon Welcker vorweg ge-
nommen und Manches von dem , worauf es ankommt, so bestimmt and
klar ausgesprochen , dass ich seine eigenen Resultate in dieser gegen
ihn gerichteten Darstellung verwenden kann. Vor allen Dingen ist der
Satz richtig , dass sich der Geburtsmytbus an Zeus als einen in der Na-
tur, und zwar auf dem Gebiete vegetativer Fruchtbarkeit als Hyes wal-
tenden Gott anknüpft, der sich sachlich vollkommen mit Hyes-Sabazios
und mit Dionysos vergleichen lässt, und den Welcker wiederholt als
Gott des Naturlebens bezeichnet. Nur durfte er diesen nicht, wie er es
doch mit so gar gewaltigem Nachdruck thut, von dem Zeus der Griechen
als schlechtbin verschieden , grundverschieden hinstellen; denn grund-
verschieden ist dieser kretische Zeus wohl von dem homerischen, poe-
tisch national gesteigerten und abgeklärten Herrscher und Vater der
Götter und Menschen , aber durchaus nicht von dem Zeus vieler ört-
lichen Naturculte in anderen Gegenden Griechenlands,209) namentlich
nicht von dem, der mit einer Gattin Erde, sie heisse Gäa, Dione, Here,
Demeter oder wie immer sonst verpaart, mit dieser im warmen Früh-
lingsregen alles Blühen und Gedeihen der Natur zeugt, nicht schafft.
Nur in sofern kann man den kretischen Zeus des Naturlebens von dem
mit der Erdgöttin zeugenden anderer Gülte verschieden nennen, als er
in Kreta noch stricter, als in anderen Gülten an das Gebiet des Natur-
lebens der Erde gebunden erscheint, und zwar bis zu dem Grade, dass
er, wie Dionysos, mit dem Leben der Natur auch absterbend gedacht,
dass sein Grab wie das des Zagreus-Dionysos gefeiert werden konnte.
Aber auch darin hat Welcker Unrecht, dass er 2. S. 217 behauptet, in
Kreta selbst oder in Beziehung auf Kreta und den kretischen Zeus sei
sonst niemals von mehr als dem Kinde und dann auch von dem Grabe
209) Es genügt auf das hinzuweisen, was über Naturculte des Zeus bei Welcker
Götterl. 2. S. 193 ff. unter der Überschrift : einzelne Bezüge des Zeus zusammengestellt
ist, obwohl sich das hier Gesagte noch vermehren liesse ; vergl. Lauer a. a. 0. S. K 96 ff.,
wo freilich Vieles und manches Verkehrte durcheinander steht.
*09] Beitrage zdr Erkefintniss und Kritik der Zeusreligion. 409
die Rede, vielmehr erscheint der kretische Zeus demjenigen anderer
Localculte auch darin verwandt, dass er, wie jene, eine Gattin Erde hat,
die Hellotis Europe nämlich, mit der er in Stier- d. h. in Flussgestalt
zeugt, und die mit Sonne und Mond und dergleichen nicht das Entfern-
teste zu thun hat, sondern, was ich freilich erst in einer eigenen Ab-
handlung nachweisen kann, eine so sichere Erdgöttin ist wie irgend eine
der mit Zeus gepaarten Göttinen,210) sie mögen Gäa, Dione, Here, Deme-
ter oder Io heissen, denn auch diese gehört in diesen Kreis« Auch darf
man den Zeussohn Minos, und die Gestalt des Zeus , der mit diesem in
geheimer Grotte die ennaeterischen Zusammenkünfte hat, und ihm die
Gesetze verleiht, durch welche Kreta regiert wird, wie Sparta durch die
Rhetra des delphischen Apollon , nicht so ganz und gar aus den Augen
verlieren wie es Welcker thut, wenn er sagt, bei dem kretischen Zeus
sei nur von der Geburt und dem Grabe die Rede«
Allerdings aber kommt es für unseren Zweck hierauf kaum , dage-
gen wesentlich darauf an , dass der kretische Zeus in eminenter Weise
Gott des Naturlebens, der vegetativen Fruchtbarkeit sei. Einen solchen
Gott als ewigen, nicht geborenen und unendlichen hinzustellen ist nicht
allein fernliegend, sondern würde gradezu unnatürlich sein, um so mehr,
je naturgemässer mit der auflebenden Natur des Frühlings sich der Be-
griff der Jugend , eines jugendlichen Gottes derselben , so gut wie mit
%i0) Schwende sagt in seiner Griech. Mythologie S. 56 unter Anderem : »Zeus
ward auf Kreta als Stier verehrt, nämlich als Urheber der Fruchtbarkeit, welche
der Himmelskönig durch Witterung, insbesondere durch Regen giebt.« »Deshalb zeugt
er als kretischer Stier mit der kretischen Göttin Europe, seiner Gattin.c »So wie Zeus
mit Here zeugt im Lenze, wenn der Kukkuk ruft, so zeugt er in Kreta mit Europe als
krokosbauchender Stier ebenfalls im Lenz, denn das Blühen der Natur ist diese
Zeugung.« Alles dies ist vollkommen richtig und wird auch noch dadurch bestätigt, dass
in der Münze von Gortys in Mionnet's Empreintes No.688 auf dem Scepter der Europe,
wie auf demjenigen der polykleitischen Here in Argos, der Kukkuk sitzt, das Symbol
des liQog yapoq im Frühling. Dass gleichwohl Europe, richtiger Hellotis Europe, denn
Hellotis ist ihr Cult-, Europe wie bei Demeter nur ihr Beiname (Sleph. Byz. nQvttQOv
yag ixakino 'Ekkanig [Grotys nämlich] , ovtcd yaQ naga Kqtjoiv [auch in anderen
Städten z.B. Knossos] Evqcotitj), ftirSchwenck Himmelsgöttin wie bei Anderen Mond-
göttin ist, gehört mit zu der unbegreiflichen Verblendung derer, welche nicht begreifen
können, was doch Welcker in Beziehung auf Here so sonnenklar gemacht hat, dass der
himmlische Zeus im Frühlingsregen nicht den Himmel (oder gar den Mond!) befruchten,
nicht mit dem Himmel oder dem Mond Blumen und Kräuter, Gras und Getraide er-
zeugen kann, sondern einzig und allein mit der Erde. Doch dies nur beiläufig; Europe
und die eben so verkannte Io behalte ich mir eigens zu behandeln vor.
110 J. Overbbck, Beiträge zur Kritik der Zeusreligion. [110
der herbstlich absterbenden Natur sich der Begriff des Alters, eines al-
ternden , endlich leidenden und gestorbenen , begrabenen Gottes eben
dieser Natur verbindet. War nun Zeus auf Kreta wesentlich ein solcher
Gott des Naturlebens, der jung auflebenden und der alternd absterben*
den Natur wie Dionysos, so war ein Mythus von seiner Geburt so gut
wie unvermeidlich. Und nun scheint mir auch der Rest, nämlich die
Verknüpfung dieses Mythus mit Krön os nicht mehr fern zu liegen, sofern
auch dieser ein Gott ähnlicher Geltung war, bei dem aber im Namen
wie im Wesen von allem Anfang an keine Jugend, kein Aufblühn, son-
dern die Reife, die Vollendung und das Alter betont wurde. Aber eben
weil bei Kronos in seinem Sondermythus und Gultus nicht sowohl das
Erzeugen als das Reifen der Natur hervorgehoben war, musste ihm,
wenn er ein Vater werden sollte , eine fingirte, und zu genealogischem
Zwecke herangezogene Gattin, dem Begriffe nach eine Mutter Erde ge-
geben werden, so gut wie Kronos dem Begriffe nach Gott des Himmels
ist. Deshalb heisst Zeus in älterer Theologie auch Uranide und spätere
Theologen geben ihm den Äther, den Himmel zum Vater, ohne damit
thatsächlich etwas Neues zu sagen, obwohl sie, in der Deutung des Kro-
nos als Chronos befangen, allerdings etwas Neues zu sagen meinen durf-
ten. Dass die Alten und nicht wenige der Neueren dem Hitze- und Dörr-
gott Kronos gegenüber die Mutter Gäa-Rhea zu einer Göttin des Flies-
sens und der Feuchte gestempelt haben, ist unbestreitbar sinnig, nament-
lich dem Mythus von der Kinderverschlingung gegenüber, insofern Kronos,
der mit der Göttin der Feuchte vereinigt zeugerisch fruchtbar auftritt,
von derselben getrennt, ihr entgegenwirkend das Gezeugte im Sonnen-
brande wieder verzehrt. Aber mag dies fehl gehn , mag selbst Rhea's
Namen dunkel bleiben — und dass er durchaus befriedigend erklärt sei
wird man wohl kaum sagen dürfen — wie ja auch nach dem Urteil der
Linguisten Leto's Name, den man zu verstehen glaubte, dunkel ist,311)
dies Alles ändert an der Hauptsache, an dem Princip des Mythus von
Zeus' Geburt Nichts , und auch daran Nichts, dass dieser wie derjenige
des Apollon und Hermes sich an den Vater und nicht an die Mutter
knüpft.
2H) Vergl. 6. Curtius, Grundzuge der griech. Etymologie 1. S. 96.
LOCKE S LEHRE
VON DER MENSCHLICHEN ERKENNTNISS
IN VERGLEICHUNG
MIT LEIBNIZS KRITIK DERSELBEN
DARGESTELLT
VON
G. HARTENSTEIN.
Abhandl. d. K. S. Ges. d. Wi«. X. 8
Der Verschiedenheil der Ansicht über den Ursprung der mensch-
lichen Vorstellungen und Begriffe ist nicht erst seit Kant eine über die
Grenzen der Psychologie hinausgreifende Bedeutung beigelegt worden.
Nachdem jedoch Kant für die »Geschichte der reinen Vernunft« allge-
meine Gesichtspunkte aufgestellt hatte , auf welche sich die wesentliche
Verschiedenheit der metaphysischen Versuche sollte zurückführen lassen,
von denen der eine eben die Verschiedenheit der Ansichten über den
Ursprung der Begriffe als Unterscheidungsmerkmal hervorhob,1) sind
neben Aristoteles und Plato Locke und *Leibniz vorzugsweise als
Repräsentanten zweier ganz verschiedener philosophischer Denkweisen
angesehen und der Gegensatz der psychologischen Ansicht über den
Ursprung der Begriffe, ob sie aus der Erfahrung entlehnt oder angeboren
seien, nicht nur für ein Merkmal, sondern auch für den Grund der diver-
girenden Richtungen dieser Denker, ja der metaphysischen Lehrmeinun-
gen überhaupt gehalten worden. Während jedoch bei Leibniz vorzugs-
weise dessen Metaphysik die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, sind
die Untersuchungen Locke's über die menschliche Erkenntniss vorzugs-
weise von Seilen der in ihnen niedergelegten psychologischen Erörter-
ungen ins Auge gefasst worden, und die Bedeutung des ihm im Gegen-
satze zu Leibniz beigelegten Empirismus und Sensualismus für die
Metaphysik erschien als so geringfügig, dass man auch da, wo man dem
absoluten Idealismus der nachkantischen Philosophie in Deutschland
nicht huldigte , ihn höchstens als einen Vertreter des gewöhnlichen ge-
sunden Menschenverstandes hat gelten lassen. Dieses Urtheil hat sich
in neuester Zeit zum Theil dahin modificirt, dass man die grosse Bedeu-
tung Locke's nicht blos für seine Zeit, sondern für die Geschichte der
Philosophie überhaupt wieder bereitwillig anerkannt hat. Drobisch hat
\) Kart, Krit. d. rein. Vera. (Werke herausg. von Hartenstein) Bd. II, S. 634.
8*
11 4 G. Hartenstein, [4
ihn mit Recht als den »Vorläufer Kant's« bezeichnet; Charles deRöruusal
hebt in einem lesenswerten Aufsatze über ihn hervor,2) dass er, ob-
gleich keines seiner Werke den Stempel des Genies (ragt, obgleich ihnen
der Glanz der Einbildungskraft, der Schwung der Leidenschaft , über-
haupt alles Blendende, Aufregende, Fortreissende fehlt, obgleich seine
Darstellung, wenn auch nicht nachlässig, doch oft bequem und weit-
schweifig ist, obgleich er das Nachdenken weit mehr anregt, als befrie-
digt, doch wenigstens in Frankreich und England ein Jahrhundert mit
seiner Denkweise beherrscht hat. Der Grund davon liegt nicht blos in
der leichten Zugänglichkeit seiner Lehre; sein Werk ist immer noch
trocken und ernsthaft genug, um flüchtige oder nach glänzenden Resul-
taten mehr , als nach gründlichen Untersuchungen begierige Leser zu
ermüden und abzuschrecken; — sondern vor Allem in seiner Unbefan-
genheit, seiner Ehrlichkeit und aufrichtigen Wahrheitsliebe, in der Ent-
schlossenheit, mit welcher er althergebrachte Lehrmeinungen seiner
Kritik unterwirft, in dem Muthe, auf die Einbildung einer Einsicht, die
keine ist, lieber Verzicht zu leisten, als sich und Andere durch unbe-
gründete Salze in wissenschaftliche Selbsttäuschungen verstricken zu
lassen. Diese Eigenschaften theilt er mit allen wirklich grossen Denkern,
vor Allem mit Kant; und durch diese Eigenschaften hat er ein Jahrhun-
dert beherrscht, welches nicht durchaus so frivol war , als man häufig
gemeint hat, und für dessen Frivolitäten wenigstens er selbst nicht ver-
antwortlich ist.
Jedenfalls haben seine Untersuchungen bei seinem grossen Zeit-
genossen Leibniz , dem Niemand eine Hinneigung zu den Leichtfertig-
keiten einer späteren Zeit Schuld geben wird , eine Aufmerksamkeit er-
regt, die es diesem der Mühe werlh erscheinen Hess, ihnen eine Arbeit,
die nouveaux essais sur ientendement humain zu widmen, die neben der
Theodicee die ausführlichste unter allen seinen philosophischen Schriften
ist. An ein Werk, welches ihm unbedeutend erschienen wäre, würde
Leibniz schwerlich diese speziell eingehende Sorgfalt gewendet haben;
an der blossen Polemik als solcher hatte er keine Freude, und wie häufig
2) Drobisch »über Locke den Vorläufer Kant's« in d. Zeitschr. für exacte Philos.
Bd. II, S. \ . — CflARL. de Remüsat, Locke, sa vie et ses oeuvres. (Revue de deux tnondes
4 859. 7*. 23.) Auch Scharer in seiner Schrift: »J. Locke, seine Verstandestheorie und
seine Lehren über Religion, Staat und Erziehung c (Leipz. 4 860) sagt S. 77: »Locke
gehört unstreitig zu den Philosophen ersten Rangs. a
5] Locke's Lehre von dbh mbnschl. Erkenntniss u. s. vv. 115
auch Locke's Bach ihm lediglich als Anknüpfungspunkt für die Darlegung
seiner eigenen Ansichten dient, ohne eine Uebereinstimmung in sehr
wichtigen Punkteu würde er schwerlich Veranlassung genommen haben,
die Darlegung seiner eigenen Gedanken gerade an das Locke'sche Werk
anzuknüpfen. Seine Kritik ist, auch wo er wirklich polemisirt, durchaus
im Tone der Achtung gehallen ; sie verräth nur in seltenen Fällen einen
Anflug einer lebhafteren Erregung, und ein starker Beweis seiner Hoch-
achtung liegt überdies darin t dass er die Veröffentlichung seiner im J.
1704 entstandenen nouveaux essais unterliess, weil Locke unterdessen
gestorben war.3)
Indem nun der Versuch gemacht werden soll, dem Verhältniss
zwischen der Locke'schen und Leibnizischen Theorie der Erkenntniss,
d. h. ihrer Lehre über die Grundlagen, Methoden und Grenzen derselben
eine spezielle Erörterung zu widmen , scheint es zweckmässig erst die
Lehre Locke's im Zusammenhange vor Augen zn legen, um an ihr die Ver-
gleichungspunkte sowohl für die zustimmenden als für die abweichenden
Erörterungen Leibniz's zu gewinnen. Diese Untersuchung erscheint in-
sofern nicht als überflüssig, als die Darstellungen des Lehrbegriffs bei*
der Denker ihren Gegensatz in Beziehung auf die Theorie der Erkennt-
niss gewöhnlich grösser erscheinen lassen , als er sich bei einem ein-
gehenden Studium ihrer Schriften zeigt und überdies die gewöhnliche
Schätzung Locken Leibniz gegenüber eine so untergeordnete Stellung
anweist, dass es der Mühe werth ist, die Ausgangspunkte, die Richtung
und den Erfolg der Leibnizischen Polemik gegen ihn, sofern eine solche
wirklich vorhanden ist, einer genaueren Prüfung zu unterwerfen. Da es
dabei nicht blos auf allgemeine Umrisse, sondern auf das Einzelne an-
kommt, so mag es erlaubt sein, in der Mittheilung der Belegstellen nicht
allzu sparsam zu sein, um so mehr, als die Anführung der eigenen
Worte beider Denker nicht selten als eine weitere Ausführung des im
Texte Gesagten wird angesehen werden können.
3) Mr. Hugony, schreibt Leibniz an Remond de Montmort unter dem 14. März
4 7 1 4 9 a vu mes reflexions assez e'tendues sur Pouvrage de Mr. Locke. Mais je me suis
degoute de publier des refutations des auteurs morts , quoiqu'elles dussent paraitre durant
leur vte et 4tre communiquees ä eux memes. j
116 G. Hartenstein, [6
I.
Die Ueberzeugung, dass die Untersuchung des ErkenntnissvermO-
gens noth wendig sei, um die Grenzen zwischen dem dem Menschen
erreichbaren und dem ihm unerreichbaren, dem wahren und dem einge-
bildeten Wissen zu ziehen und somit den Grund und Boden für jede auf
die metaphysische Erkenntniss der Welt gerichtete Untersuchung abzu-
stecken , spricht Locke im Eingange seines Werkes mit derselben Be-
stimmtheit aus, wie Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft.
Die Veranlassung seines Nachdenkens über diesen Gegenstand waren
Gespräche zwischen ihm und seinen Freunden über Fragen, die zunächst
mit der Frage nach dem Ursprünge und den Grenzen der Erkenntniss
nichts gemein hatten; aber die Schwierigkeiten, in die sie sich verwickel-
ten , ohue sie lösen zu können , Hessen in Locke den Gedanken entste-
hen , dass sie überhaupt mit der ganzen Discussion auf einem falschen
Wege seien, und dass, bevor man sich auf dergleichen Fragen einlasse,
man erst die Fähigkeit zu erkennen untersuchen müsse, um zu bestim-
men, was innerhalb und was ausserhalb derselben liege.4) Die Möglich-
keit des Erfolgs einer solchen Untersuchung setzt er voraus , obgleich
er ihre Schwierigkeiten nicht verkennt; denn da das Erkennlnissver-
mögen dem Auge gleiche, welches uns die Dinge sichtbar mache ohne
sich selbst zu sehen, so gehöre Kunst und Anstrengung dazu, es in eine
gewisse Entfernung zu rücken und selbst zum Gegenstande der Betrach-
tung zu machen.5) Die Aufgabe, die er sich stellt, ist den Ursprung, die
Gewissheit und den Umfang der menschlichen Erkenntniss, so wie die
Gründe und Grade des Glaubens, der Meinung und des Fürwahrhaltens
zu untersuchen, die bei den Menschen in Beziehung auf die verschiede-
4) Locke Ess. Cancern, hum. widerstand. (17 edit. London 4775) Epistle to the
reader (p. 2) : After tve had a white puxzled ourselves, without Coming any nearer a reso-
lution of those doubts which perplexed us, it came into my thoughts, that we took a
wrong course, and that before we set ourselves upon enquiries of that nature, ü was ne-
cessary to examine our own abilities and see what objects our understandings were, or
were not, fitted to deel with. Die Introduction vor dem { . Buch spricht jedoch § 1 nicht
gerade von der Notwendigkeit, sondern blos von der Nützlichkeit einer solchen Unter-
suchung.
5) a. a. 0. Introduct. JH [p. I).
?] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 117
nen Objecte der Erkenntniss sich vorfinden ; und er thut dabei von vorn
herein Verzicht auf eine physikalische oder metaphysische Untersuchung
des Wesens der Seele; er hält es für seinen Zweck für ausreichend, die
verschiedenen Vermögen der Erkenntniss , die sich in dem Menschen
vereinigt finden, in so fern zu untersuchen, als sie ihre Thäligkeit in Be-
ziehung auf die der menschlichen Auffassung sich darbietenden Objecte
der Erkenntniss ausüben, und so in einfach historischer Weise darzu-
legen, durch welche Mittel der Mensch zu den Vorstellungen, die er über
die Dinge thatsächlich hat, gelange, und darnach die Grenzlinie zwischen
gewisser Erkenntniss und den über die Dinge herrschenden Meinungen
zu bestimmen; Meinungen, die so verschiedenartig, zum Theil einander
so entgegengesetzt seien und doch so zärtlich gehegt oder so leiden-
schaftlich vertheidigt und bestritten werden, dass man vermuthen möchte,
entweder es gebe überhaupt keine Wahrheit, oder dem Menschen stehe
wenigstens kein Mittel zu Gebote sich ihrer zu versichern.6) Es ist also
eine empirische Analyse des menschlichen Vorstellungs- und Gedanken-
kreises , von welcher Locke die Entscheidung über Wahrheit und Irr-
thum, Wissen und Meinen erwartet und ganz in ahnlicher Weise , wie
Kant das Endresultat der Kritik der reinen Vernunft ausspricht, deutet
Locke sogleich im Eingange seines Werks an, dass, obwohl eine solche
Untersuchung den Skepticismus zurückzuweisen und der Faulheit im
Denken ihre Vorwände zu nehmen im Stande sei , doch durch sie alle
unfruchtbaren Streitigkeiten über Fragen, deren Beantwortung ausserhalb
der menschlichen Erkenntniss liege, abgeschnitten werden.7) Wenn
6) a. a. 0. § 2 This being my purpose, to enquire into the original, certainty and
extent of human knowledge, together with the grounds and degrees of belief ', opinion and
assenty I shall not at present meddle with the physical Constitution of our mmd> or trouble
myself to examine, wherein its essenee consists. . . . It shall suffice to my present pur-
pose, to consider the discernmg faculHes of a man, as they are employed about the ob'
jects, which the have to do whith; and I shall imagine ! have tiot wholly misemployed
myself in the thoughts I shall have on this oecasion, if in this historical piain me-
thod I com gwe any aeeount of the ways, whereby our understandmgs eome to attain
those notions of things we have and com set down any measures of the certainty of our
knowledge u. s. w.
7) Kant, Krit. d. r. V. Bd. II, S. 534. Locke, IntroducL § 6. 7. Selbst das Bild
vom Ocean, aaf den sich das menschliche Denken hinauswage und auf dem es sich
ohne Selbstkritik in lauter Irrfahrten zu verlieren in Gefahr sei, welches Kant (a. a. 0.
S. 236) so beredt ausmalt, findet sich bei Locke a. a. O.
118 G. Hartenstein, [8
dabei Kant die Geschichte der Metaphysik überhaupt im Auge hat, wel-
che »ein Kampfplatz sey, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu seyn
scheine , die Kräfte im Scheingefecht zu üben , auf dem noch niemals
irgend ein Fechter sich den kleinsten Platz habe erkämpfen und auf sei-
nen Sieg einen dauerhaften Besitz habe gründen können«, so liegt darin,
dass Locke zunächst die Grundlosigkeit der herrschenden Schulmeta-
physik seiner Zeit vor Augen zu legen bemüht ist, keine wesentliche
Verschiedenheit der Endabsicht beider Denker;8) denn denselben Dogma-
tismus, welchen Locke bekämpft, fand auch noch Kant vor.
Um sich für seine Untersuchung den Grund und Boden zu ebnen,
beginnt Locke mit der Kritik der Annahme angeborner Vorstellungen
oder vielmehr angeborner Erkenntnissprincipien. Er schickt dabei die
Bemerkung voraus, dass diese Annahme unnöthig sei, sobald sich nach-
weisen lasse, auf welche Weise der Mensch die Erkenntniss, welche er
wirklich habe, erwirbt; aber abgesehen davon, erklärt er die Annahme
selbst für unhaltbar. Ihre Hauptstutze liege in der Berufung darauf, dass
es gewisse sowohl theoretische als praktische Sätze gebe, über deren
Wahrheit ein schlechthin allgemeines Einverständniss herrsche. Aber
abgesehen davon, dass dieses allgemeine Einverständniss, selbst wenn
es sich factisch nachweisen Hesse , nichts für das Angeborensein be-
weisen würde,9) lasse es sich thatsächlich gar nicht nachweisen; es
8) Kant, Kr. d. r. V. S. 17. Locke, Epistle to the reader [S. 6); In an age, that
produces such masters, as the great Huygenius and the incomparable Mr. Newton, 'tis
ambition enough to be employed as an under-labourer in Clearing the ground a Utile and
removing some of the rubbish that lies in the way of knowledge; which certainly had been
very much more advanced in the world, if the endeavours of ingenious and industrious
man had not been much cumbered xcith the learned but frivolous use of uncouth, affected
and unintelligible terms, introduced into the sciences] and there made an ort of, to that
degree, that phüosophy, which ü nothing but the true knowledge of things, was thought
unfit or uncapable to be brought into well~bred Company and polite conversation.
9) B. I, eh. I. § 3. This argument drawn from tho universal consent, had this rot*-
fortune in il, that if it were true in matter of fact, that tttere were certain truths, w herein
all mankind agreed, it would not prove them innaie, if there ean be any other way shewn,
how man may come to that universal agreement m the things they do consent in. § \ 8
führt aus , dass Sätze wie : süss ist nicht bitter , ein Kreis ist kein Viereck and un-
zählige andere dann ebenfalls für angeboren erklärt werden müssten. Auch könne
man nicht sagen, dass die Anerkennung solcher Sätze Folge der Anwendung eines all-
gemeinen Principe, etwa des Satzes des Widerspruches sei. § SO As to the difference
to being more gener al, that makes this maxim more remote from being innate, those gene-
ral and abstract ideas being more strangers to our first apprehensions u. s. w.
9] Locke's Lehre von deb menschl. Erkenntmss u. s. w. 119
gebe genug Menschen , denen solche angeblich angeborne Wahrheiten
wie z. B. der Satz des Widerspruchs in dieser Form gar nicht zum Be-
wusstsein kommen.10) Dem gegenüber berufe man sich darauf, dass an-
geborene • Principien solche seien, deren Wahrheit der Mensch aner-
kenne, sobald er zum Gebrauche seiner Vernunft11) komme. Solle das
so viel heissen als der Mensch entdecke diese Wahrheiten durch den
Gebrauch der Vernunft, so übertrage man der Vernunft ein sehr unnö-
thiges Geschäft; warum soll sie erst entdecken, was der Mensch schon
besitzt?12) Bedenke man ferner, dass die Vernunft das Vermögen ist,
aus bekannten Principien unbekannte Sätze abzuleiten , so müsste man
einen mathematischen Lehrsatz eben so für angeboren erklären, wie ein
mathemalisches Axiom; die unmittelbare Zustimmung endlich, die uns
gewisse Sätze abnöthigen, beruhe auf einer andern Operation des Gei-
stes, als auf der des discursiven Denkens; beruhte sie hierauf, so wäre
das eben ein Beweis, dass jene Sätze nicht angeboren sind.13) Solle aber
der obige Satz eine Zeitbestimmung enthalten und so viel heissen als :
eine angeborne Wahrheit kommt zum Bewusstsein des Menschen, so-
bald sein Vernunftgebrauch beginnt, so würde, selbst angenommen,
dass dies wirklich der Fall sei , auch das nichts beweisen. Denn wie
folgt das Angeborensein einer Wahrheit daraus, dass mit dem Gebrauche
oder der Thätigkeit eines gewissen Vermögens das Bewusstsein und die
4 0) a. a. 0. § 5 'Tis evident, that all children and idiots have not the least appre-
hension or thought of them , and the want of that is enough to destroy that universal
assent, . . . it seemvng to me near a contradiction to say, that were any truths mprmted
on the soul, tohich it percewes or understands not; imprinting, if it signißes any thing,
being nothing eise, but the making certain truths to be perceived. For to imprint any thing
on the mind, without the minds perceivüig it, seems to me hardly intelligible.
H) Es mag erlaubt sein, das Wort reason durch Vernunft zu übersetzen. Locke
kennt den Unterschied der Kaut* sehen Philosophie zwischen Verstand und Vernunft
nicht; reason ist ihm das Vermögen des discursiven Denkens. B. IV, eh. XVIf.
42) a. a. 0. § 9. To make reason discover those truths thus imprinted, is to say,
that the use of reason discovers to a man, what he knew before; and if men have those
wnate, impressed truths originally and before the use of reason, and yet are ahoays igno-
rani of them, tili the eome to the use of reason, 'tis in effeet to say, that men know and
knoto them not, at the same Urne.
43) a. a. 0. §44. Those who will take the pains to reflect tvith a little attention
on the Operations of the understanding , will find that this ready assent of the mind to
some truths depends not either on native inscription or the use of reason, but on a faculty
of the mind quite distinet from both of them, as we shall see hereafler.
120 G.Hartenstein, [10
Anerkennung derselben eintritt?14) Gerade der Umstand, dass die an-
geblich angebornen Satze dargelegt werden müssen, um als wahr aner-
kannt zu werden, zeige, dass sie nicht angeboren sind; sie enthalten den
Ausdruck eines vorher nicht vorhandenen Wissens.15) Zu sagen , dass
die Erkenntniss solcher Satze, bevor sie dargelegt und anerkannt sind,
nur implicile, nicht expliciie uns inwohne, heisse im Grunde nichts An-
deres sagen, als ihre Erkenntniss sei möglich, und das gelle von einer
Masse von Erkenntnissen , die Niemand für angeboren erklare.16) Wirk-
lich angeborne Wahrheiten mttssten sich nicht nur vor allen andern
Erkenntnissen als deren Grundlagen, sondern auch als solche mit voller
Deutlichkeit und Bestimmtheit im Bevvusstsein ankündigen; aber weder
das eine noch das andere sei der Fall.17) Ueberhaupt könne von ange-
bornen Principien, die, insofern sie Wahrheiten sein wollen, immer
Satze sein müssen, nicht die Rede sein, so lange nicht bewiesen sei,
dass es angeborne Begriffe gibt und Locke gesteht, er werde dem-
jenigen sehr dankbar sein, der ihm einen Satz nachweise, bei welchem
die in ihm vorkommenden Begriffe für angeboren erklart werden müs-
sen.18) Die Probe, ob die in den angeblich angebornen Sätzen enthalte-
nen Begriffe angeboren seien, könne man bei jedem Kinde machen, um
zu prüfen , mit welchem Rechte die Begriffe Identität und Verschieden-
heit, Ganzes und Theil, Einheit, Unendlichkeit, Ewigkeit (als das Haupt-
merkmal im Begriffe Gottes) u. s. w. für angeboren erklärt werden kön-
14) a. a. 0. §44. By what kind of logic will it appear, that any notion is origi-
nally by nature imprmted in the mind in its first Constitution, because it comes first to be
observed and assented to, when a faculty of the mind, which hos quite a distitict province,
begins to exert üself?
4 5) a. a. 0. § 21 . This cannot be denied, that tnen grow first acquainted with
many ofthese self-evident truths, upon their being proposed; but it is clear, that who-
soever does so, fiuds in himself, that he then begins to know a proposüion, which he knew
not before.
16) a. a. 0. § 22. It will be hard to conceive what is meant by a principle imprin-
ted on the understanding implicitly, unless it be this that the mind is capable o funder-
standing and assentimg firmly to such propositions. And thus all mathemaUcal demotistra-
tions as well as first principles must be received as native impressions of the mind, which
I fear they will scarce allow them to be, who find it harder to demonstrate a proposüion,
then assent to it when demonstrated.
17) Die Ausführung § 24—27.
4 8) a. a. 0. § 23. / would gladly have any one name the proposüion, whose terms
or ideas were either of them innate. Vgl. eh. III, § 1 9.
44] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. s. w. 121
nen.10) Eine Vorstellung, von der wir kein Bewusstsein haben, sei
keine Vorstellung; eine Vorstellung, die ins Bewusstsein eintrete, sei
entweder eine neue, vorher nicht gehabte, oder eine früher erworbene,
im Gedöchtniss aufbewahrte, und Niemand könne ein Beispiel auch nur
einer einzigen angeblich angebornen Vorstellung nachweisen , deren er
sich als einer in seinem Bewusstsein vorhandenen unabhängig von den
Veranlassungen bewusst werden könnte, bei welchen sie entstanden
ist.10) Gibt es mithin keine angebornen Vorstellungen Y so gibt es auch
keine angebornen Sätze und Wahrheilen.
Dies gilt von den sogenannten praktischen Principien nicht minder,
als von den speculaliven oder theoretischen. Die empirische Berufung
auf die allgemeine Uebereinstimmung rücksichllich gewisser sittlicher
Anforderungen ist noch weniger begründet, als die auf die Ueberein-
stimmung über gewisse theoretische Erkenntnisse ; die Thatsache, dass
die angeblich angebornen praktischen Principien nicht befolgt werden,
beraubt sie eigentlich ihres praktischen, das Wollen bestimmenden Cha-
rakters und lässt sie zu blos theoretischen Sätzen herabsinken ; 21) natür-
liche, allgemein verbreitete Neigungen beweisen dafür nicht das Ge-
ringste; gerade auf praktischem Gebiete ist die Verschiedenheit der
Urtheile und Handlungen eine handgreifliche Thatsache; und die weil-
verbreitete Billigung, welche offenbar unmoralische Handlungen bei gan-
zen Völkern gefunden haben, zeigt, dass das, was man Gewissen nennt,
nichts ist, als die eben vorhandene Meinung des Handelnden über die
19) B. I, eh. III. § 2—4 8.
20) a. a. 0. § 20. / desire an instance of an idea, pretended to be innate, which
(before any Impression of it) any one could revise and remember as an idea he had for-
merly known; toithout which consciousness of a former pereeption thereis no remem-
brance, and tohatever idea comes into the mind toithout that consciousness, is not remem-
brance or comes not out oftnemory, nor can*be said to be in the mind before that ap-
pearance, For what is not eüher actually in view or in the memory, not can be said to be
in the mind before that appearance.
21) B. I, eh. II. § 3. First, I have always thought, the actions of men the best
Interpreters of their thoughts. But since it is certain, that most mens practices and some
men's open professions have either quesüoned or denied these principles, it is impossible
to establish an universal consent , . . . toithout which ü is impossible to conclude them
innate. Secondly, 'tis very stränge and unreasonable to suppose innate practical principles,
that terminate only in contemplation. Practical principles derived from nature are there
for Operation and must produce conformity of aetion, not barely speculative assent to their
truth, or eise they are in vain distinguished from speculative maoeims.
122 G. Hartenstein, [4 2
Rechtmässigkeit oder Unrechtmassigkeit gewisser Handlungen.22) Zu
sagen , dass die an gebor nen praktischen Principien durch Gewohnheit,
Erziehung u. s. vv. verdunkelt, ja ganz verwischt werden können, heisst
eben zugestehen, dass es über sie keine allgemeine Uebereinslimmung
gebe, auf welche doch das Angeborensein derselben gegründet werden
sollte, wenn man nicht etwa seinen eigenen Ueberzeugungen allgemeine
Gültigkeit beilegen und sie eben darum für angeboren erklären oder be-
haupten will, dass Satze, welche manche Menschen nicht anerkennen,
doch von allen Menschen anerkannt werden.23)
Bei dieser Bestreitung angeborner Vorstellungen und angeborner
Sätze, — denn für die Frage nach den Gründen der Erkenntniss sind
nicht sowohl jene als diese das Entscheidende, — beruft sich Locke
nirgends auf ein vorausgesetztes Wissen über die Natur und das Wesen
der Seele, sondern alle seine Gegengründe bewegen sich um die beiden
Hauptgesichtspunkte , dass die Thatsachen der Erfahrung zu jener An-
nahme nicht passen und dass wirklich angeborne Begriffe und Satze
sich in einer ganz andern Weise ankündigen und wirksam zeigen mtiss-
ten, als nachweislich der Fall ist.
Gibt es keine angebor nen Begriffe und Satze, die das ursprüng-
liche, durch nichts vermittelte Eigenthum der Seele sind, ist also die
letztere ursprünglich ohne alle Vorstellungen, so kann der Ursprung
aller Vorstellungen nur in der Erfahrung liegen. Die Erfahrung hat
ein doppeltes Gebiet, das der äusseren und das der inneren Wahr-
nehmung; die erstere bezeichnet Locke als Sensation, die zweite als
Reflexion. Sensation ist die durch die Sinne vermittelte Wahrneh-
mung äusserer Gegenstande; Reflexion die Wahrnehmung der Tätig-
keiten der Seele in Beziehung auf die durch die Sinne dargebotenen ia4rM/
Vorstellungen; die letztere nennt er Reflexion, weil die Thatigkeiten der !^on
Seele durch die innere Auffassung, durch eine Art inneren Sinnes Ob-
ject der Auffassung und dadurch Inhalt des Bewusstseins werden.21)
22) a. a. 0. § 8. Conscience is nothing eise but our own opinion or judgment of •'•'*&«.
the moral rectitude or provity of our own actions. And if conscience be a proof of innaie *'fti$ ^
prtnciples, contraries may be innate principles, since some men wiih the same bent of con- ^rfthe^
science prosecute tohat others avoid. * 1 0. s
23) a. a. 0. § 20. *^
24) B. II, eh. I. § 2. Lei us then suppose the mind to be, as we soy, white paper, *a
void of all character8, wühout any ideas; how comes ü to be furnished? whence comes it *rf,
*
i
13] Locke's Lehre von der menshl. Erkenntniss u. s. w. 123
Sensation und Reflexion bieten uns den gesaromten Inhalt unseres Vor-
stellungskreises dar und es lässt sich kein Bestandteil desselben nach-
weisen, der nicht auf eine dieser beiden Quellen oder auf beide ver-
bunden zurückgeführt werden konnte. ,
Diese von Locke ganz allgemein ausgesprochnen Satze hätten ver-
hindern sollen, seine Lehre von vorn herein als einen reinen Sensua-
lismus zu bezeichnen; die Thatsache, dass nicht nur das. was im Be-
wusstsein geschieht , sondern auch die geistige Thätigkeit selbst Gegen-
stand der inneren Auffassung ist und dass die innere Auffassung dieser
Thätigkeiten Beitrage zu dem menschlichen Vorstellungskreise darbietet,
welche auf die sinnliche Empfindung nicht zurückgeführt werden kön-
nen , sammt der darin liegenden Ueberschreitung des Sensualismus ist
geradezu die eine und zwar die wichtigere Hälfte seiner Grundansichr.
Nur können die Vorstellungen , durch welche wir die inneren Thätig-
keiten bezeichnen, nicht eher zum Bewusstsein kommen, als die sinn-
liche Empfindung diesen Thätigkeiten ein Material dargeboten hat; der
Mensch kann die Vorstellung des Empfindens, Denkens, Wollens u. s. w.
nicht eher haben , als er empfunden, gedacht, gewollt hat, und selbst
dann bedarf es der Aufmerksamkeit, um diese verschiedenen Arten des
geistigen Thuns zum Bewusstsein zu bringen.25) Locke behauptet nicht,
dass der Inhalt der sinnlichen Empfindung der ausschliessliche Inhalt
des Bewusstseins sei ; aber er spricht den Satz aus, dass die sinnliche
Empfindung die Bedingung der Ausübung der übrigen geistigen Thätig-
by that vaste störe, which the business and boundless fancy of men hos painted in it? . . . .
To this J answer, inone word, from experience . . . . Our Observation employed either
about external sensible objects, or about the internal Operations of our mind, perceived
and reflected on by ourselves, is that which supphes our understanding with all the mate-
Hals of thinking ... § 3. This great source of rnost of the ideas we have depending
whoüy upon our senses and derived by thetn to the understanding, l call Sensation.
§ 4. The other source . . . tho* it be no sense, as having nothing to do with external ob-
jects , yet it is very like it and might properly enough be called internal sense . . / call
reflection. By reflection I would be understood to tnean that noticet which the
takes of it$ own Operations and the manner of them, by reason whereof there come
to be ideas of these Operations in the understanding.
25) a. a. 0. §7. 8. Children, when they come first into it, are surrounded with a
world of new things, which by a constant sollicitation of their senses draw the mind con-
tiantfy to them . . . Meris business (in the first years) is to acquaint themselves with what
ü to be found withaut, and so growing up in constant attention to outward setisatiom,
sddom make a considerable reflection on what passes withm them u. s. w.
124 G. Hartenstein, [U
keiten ist; er spricht diesen Satz aas im Zusammenhange mit seiner
Polemik gegen die Behauptung der cartesianischen Schule, dass die Seele
immer denke, d. h. dass das Denken eben so das Wesen der Seele, wie
die Ausdehnung das Wesen des Körpers sei.26) Gleichwohl ist ihm die
Reflexion nicht eine verwandelte, weiter entwickelte Sinnlichkeit; son-
dern so vorsichtig er auch vermeidet über das Wesen der Seele und
ihrer Wirkungsart etwas dogmatisch zu behaupten, so ist doch ihre Be-
fähigung, sich auf Grundlage der sinnlichen Empfindung eiue diese aber-
schreitende Welt von Vorstellungen, Gedanken, Bestrebungen aufzu-
bauen, etwas, was nicht anzuerkennen der unbefangenen Beobachtung
unmöglich sei.37) Gerade darin , dass der menschliche Vorstellungskreis
die sinnliche Empfindung tiberschreitet, findet Locke das wesentliche
Motiv, das Mannigfaltige, was sich dem Bewusstsein als sein Inhalt dar-
bietet, insofern es darauf Anspruch macht, Erkenntniss zu sein, einer
prüfenden Kritik zu unterwerfen.
n.
Auf dieser Grundlage unteruimmt nun Locke eine Analyse des
menschlichen Vorstellungskreises, wie er wirklich beschaffen ist; er ver-
sucht ihn in seine Elemente zu zerlegen und den Beitrag zu bestimmen,
den diese Elemente allein oder in Verbindung mit den übrigen zu der
menschlichen Erkenntniss liefern. Der Geist ist in dieser Beziehung an
die Dinge, an die auf sie sich beziehenden Empfindungen und die dadurch
erregten inneren Thätigkeiten gebunden, passiv; was er seiner eigenen
26) a. a. 0. § 40 — 49. Das Resultat § 20. / see no reason therefore to believe that
the soul thinks before the senses have furnished it with ideas to thmk on.
27) Ebendas. § 24. All those sublime thoughts, which totoer above the chuds and
reach as high as heaven itself, take their riet and footing here; tn all that great extent,
wherein the mind wandere ... it stirs not one jot beyond theee ideas which sense or re-
fleetion have offered for its contemplation. eh. VII, § 4 0. Andrerseits B. II, cb. XXIII.
§ 4 5. It is for want of reßection that we ort apt to think that our senses shew us nothing
but material things. Every act of Sensation, when duly considered, gives us an equal view
of both parte of nature, the corporal and spiritual. For whilst I know, by seeing or hea-
ring, that there is sotne corporeal being without me, the objeet of that Sensation, I do
more certainly know, that there is some spiritual being within me that sees and hears.
*5] Locke's Lehre von deb mknschl. Erkenntniss u. s. w. 125
Thätigkeit zuzuschreiben ein Recht hat, ist eingeschlossen in die Gren-
zen, die ihm der Thatbestand der menschlichen Natur vorschreibt.38)
Die letzten Elemente des Vorstellungskreises bezeichnet Locke als
einfache Vorstellungen (simple ideas) im Gegensatze zu zusammengesetz-
ten (complex ideas). Die Möglichkeit, einfache Vorstellungen von den
zusammengesetzten zu unterscheiden , unterliegt ihm keinem Zweifel;
ohne an der Stelle, an welcher er diese Unterscheidung einführt, auf
eine genauere Begriffsbestimmung der Einfachheit einer Vorstellung ein-
zugehen,29) bemerkt er später,30) dass er gewisse Vorstellungen mehr in
Beziehung auf die Art, in welcher sie ins Bewusstsein eintreten, als
insofern sie von andern Vorstellungen unterschieden sind, für einfache
erkläre. So ist ihm die qualitative Bestimmtheit der sinnlichen Empfin-
dung, insofern für die Empfindung selbst ein verschiedenartiges Mannig-
faltige sich nicht unterscheiden lässt, das Merkmal ihrer Einfachheit; die
Kalte und Harte eines Stücks Eis sind eben so einfache Vorstellungen,
wie der Geruch und die Farbe der Lilie. Er nennt daher auch solche
Vorstellungen einfach, welche aus mehreren aber qualitativ gleichen
Theilen zusammengesetzt sind.31)
28) B. I, cb. I. § 25. In this part the understanding is merely passive and whether
or no it will have these beginnings and as ü were materials of knowledge, is not in its
oton power. For the objecto of our senses do . . obtrude their particular ideas upon our
minds, whether we will or no ; and the Operations of our minds will not let us be without,
at leasty some obscure notions of them. Vgl. eh. II, § 3.
29) eh. II, § 1 . [The simple idea) being each in itself uncoinpounded contains in
it nothing but one uniforme appearance or coneepUon in the mind, and is not
disünguishable into different ideas.
30) eh. XIII, § 4. Though 1 have often mentioned simple ideas , ... yet having
treated them there rather in the way, that the come into the mind, than as dislinguished
from others more compounded, ü will not be perhaps a miss to take a view of some of
them under this consideration u. s. w.
3 1 ) Hierher gehört die Antwort, welche Locke auf den Einwurf Barbeyrac's, dass
er den Raum fälschlich für eine einfache Vorstellung erkläre , weil der Baum Theile
habe, dem Uebersetzer seines Werkes Coste mittheilte und die auch in der Oben an-
geführten Ausgabe als Anmerkung zu B. II, eh. XV. § 8 (p. 4 59) steht. The question
is to know, whether the idea of extension agrees wüh this (vgl. Anm. 29) definüion?
Which will effectually agree to ü, if ü be understood in the sense which Mr. Locke had
principally in his view; for that compositum which he designed to exelude in this defini-
fson, was a composition of different ideas in the mind and not a composilion of the some
kind tn a thmg, whose essence consists in having parts ofthe same kind etc. Vgl. Locke
Essais etc. traduü par Coste. Amst. 1755 p. 4 52.
126 G. Hartenstein, [16
Einfache Vorstellungen bieten nun in einer von der Willkühr schlecht-
hin anabhängigen Weise nicht nur die einzelnen Sinne, jeder seine eige-
nen dar, sondern auch mehrere Sinne ; eine dritte Glasse derselben bietet
die Reflexion allein, eine vierte Sensation und Reflexion in Verbindung
dar.33) Ohne den Anspruch zu machen, die einfachen Vorstellungen
irgendwie vollständig aufzuzahlen , rechnet er zu der ersten Classe die
qualitativ verschiedenen Empfindungen der einzelnen Sinne , zu denen
auch die Solidität der Körper als Empfindung des Tastsinns gehören
soll;33) zu der zweiten Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, Ruhe; zu der
dritten die Vorstellung des Denkens und Wollens ; zu der vierten die
Vorstellungen von Lust und Schmerz, Kraft, Existenz und Einheit, wäh-
rend die Vorstellung der Zeit an die Reflexion auf den Verlauf unserer
eigenen Vorstellungen gebunden sei.
In den spezielleren Erörterungen zunächst über diejenigen ein-
fachen Vorstellungen , die uns auf dem Wege der sinnlichen Wahrneh-
mung zugeführt werden,34) bemerkt Locke, dass jede solche Vorstellung
positiv ist, gleichviel ob sie durch eine positive, oder, indem er sich des
hergebrachten Schulausdrucks bedient, durch eine privative Ursache
hervorgebracht ist;35) die Empfindung des Schwarzen ist eben so posi-
tiv , wie die des Rothen oder des Blauen , die Wahrnehmung der Ruhe
eben so positiv, wie die der Bewegung. Viel wichtiger als diese Bemer-
kung ist ihm jedoch die Frage, ob die sinnlich wahrgenommenen Quali-
täten als Eigenschaften der Dinge selbst angesehen werden können.
Zu dieser Frage findet er sich berechtigt durch die Unterscheidung zwi-
schen den Vorstellungen, insofern sie eben nur Vorstellungen sind und
insofern sie Modificationen der sie verursachenden Körper bezeichnen.36)
33) B. II, eh. III— VII.
33) B. II, eh. IV. ist diesem Begriff gewidmet, um die Cartesianische Gleicbsetzung
zwischen Ausdehnung und Körperlichkeit zu bestreiten.
34) B. II, eh. VIII.
35) a. a. 0. § \ — 6. Dass der Gebrauch des Begriffs einer privativen Ursache
nur eine Anbequemung an den gewöhnlichen Sprachgebrauch der Schule ist, zeigt § 6 :
The privative cause I have here ossigned of positive ideas, are aecordmg to the common
opinion ; but in truth it will be hard to determine whether there be really any ideas front
a privative cause, tut it be determmed, whether rest be any more a privatum then tnotion.
Vgl. § 4.
36) a. a. 0. § 7. To discover the nature of our ideas the better and to discourse
of them inteWgibly , it will be convenient to distinguish them, as the are ideas or per-
,1
4.
'*■(
<7] Locke's Lehre von der messciil. Erkenntniss u. s. w. 127
Die gemeine Auffassung — und man darf hinzusetzen, auch die zu Locke's
Zeit herrschende Schul philosophie — macht diese Unterscheidung nicht
und betrachtet die Vorstellungen als Ausdruck der Qualität der Dinge
selbst. Locke ist sehr ausführlich, um dieses Vorurtheil zu zerstören;
er beruft sich namentlich auf die Relativität aller sinnlichen Empfindun-
gen, welche es verbieten, die gelbe Farbe und die Wärme mehr für eine
Eigenschaft des Feuers zu halten, als den Schmerz, den es uns verur-
sacht, wenn es uns brennt;37) aber er ist gleichwohl nicht geneigt, dem
gesammten Inhalte unseres sinnlichen Bewusstseins diese blos phäno-
menologische Bedeutung zuzugestehen. Der Grund davon liegt darin,
dass er die durch die Cartesianische Schule verbreitete Ansicht von der
Entstehung der sinnlichen Empfindung filr richtig, wenigstens für sehr
wahrscheinlich hält. Zugegeben, dass man unter der Qualität eines Kör-
pers lediglich sein Vermögen zu verstehen habe , gewisse qualitativ be-
stimmte und von andern unterschiedene Vorstellungen in uns hervor-
zubringen,38) und ferner angenommen, dass die noth wendige Bedingung,
unter welcher ein Körper eine Vorstellung in uns erregen kann, ein Ein-
druck (impulse) auf das Organ ist, so wird die Entstehung der sinnlichen
Vorstellungen davon abhängen, dass sinnlich nicht wahrnehmbare Theil-
cben der uns umgebenden Körper, die nach Gestalt, Bewegung, Textur
und Zahl verschieden sind, die sinnlichen Organe berühren und so die
Empfindung erzeugen/9) Ausdehnung, Gestalt, Solidität und Beweglich-
keit der materiellen Theile werden dabei vorausgesetzt, und man bat
daher ein Recht, das, was diese Vorstellungen bezeichnen, als eine
Eigenschaft der Körper, diese Vorstellungen selbst als den Körpern ähn-
lich zu betrachten. Locke nennt sie die ersten, alle übrigen zweite Qua-
ceptions in our minds, and as they are modifications of matter in the bodies that cause
such perceptions.
37) a. a. 0. § «5—2«.
38) a. a.O. §8. Whatsoever the mmd percewes in itself or is the immediat object
of perception, thought or understanding, that I call idea, and the power to produce
any idea in our mind, I call quality of the subject, wherein that power
is* Thus a snow-ball having the power to produce in us the ideas of white, cold and
round, the powers to produce those ideas in us, as they are in the snow-ball, 1 call qua"
Usus; and as they are sensations or perceptions in our understanding, 1 call them ideas;
which ideas if 1 speak of sometimes as in the things themselves, I would be understood to
mean those qualities in the objects which produce them in us.
39) a.a.OJII flgg.
Abband!, d. K. S. Ges. d. Wim. X. 9
128 G. Hartenstein, [*8
litäten (prmary, secondary qualities); die letzteren zerfallen wieder in
zwei C lassen, je nachdem ein Ding eine sinnliche Empfindung unmittel-
bar oder mittelbar, durch eine von einem andern Dinge empfangene
Einwirkung , hervorbringt , wie z. B. wenn wir die Farbe des von der
Sonne gebleichten Wachses wahrnehmen , in welchen letzteren Fallen
der gemeine Sprachgebrauch vorzugsweise den Begriff der Kraft an-
wendet, indem er der Sonne die Kraft das Wachs zu bleichen zu-
schreibt. <°)
Den einfachen sinnlichen Vorstellungen stehen zur Seite die durch
Reflexion , durch die innere Auffassung der psychischen Ereignisse und
Thätigkeiten dargebotenen. Locke trägt kein Bedenken, diese verschie-
denen Thatigkeitsformen als Vermögen der Seele zu bezeichnen, ohne
mit dieser Bezeichnung auf eine Bestimmung des Wesens der Seele
Anspruch zu machen;41) er benutzt sie als ein bequemes Hülfsmittel, die
verschiedenen geistigen Tbätigkeiten , soweit sie sich auf die Erkennt-
niss beziehen, zu unterscheiden und in ihrer natürlichen Stufenfolge
aufzuzahlen. Das erste Seelenvermögen, welches sich auf die Vorstel-
lungen bezieht, ist das Vorstellungsvermögen; das Vorstellen ist daher
die erste und einfachste Vorstellung, welche wir durch Reflexion erlan-
gen. Im blossen Vorstellen verhält sich die Seele rein passiv ; dadurch
unterscheidet es sich vom Denken, welches einen Grad willkührlicher
Aufmerksamkeit einschliesst, bei welchem sich der Geist als thätig zeigt.
Was Vorstellen sei, darüber verweist Locke jeden an seine eigene innere
Erfahrung;42) es lasse sich darüber nur so viel mit Gewissheit sagen,
40) a. a. 0. § 23. § 96.
4 i ) Es ist in dieser Beziehung vorläufig auf seine Erörterungen über den Begriff
der Kraft und des Vermögens überhaupt zu verweisen B. II, eh. XXI. — B. IV, eh. VI,
§ \l, wo er die möglichen Erweiterungen des Wissens überschlägt, sagt er: 1 have
mentioned here only corporeal substances , whose Operations seem to lie more level to owr
understanding ; for as to the Operation of spirits, both their thinking and moving of bodies,
we at first sight find ourselves at a loss, though perhaps, when we have applied our
thoughts a little nearer to the consideration of bodies and their Operations and examined
how far our notions even in these reach with any clearness, beyond sensible matter of
fact, we shall be bound to confess, that even in these too, our discoveries amount to very
little beyond perfect ignorance and incapaeüy. Dergleichen Aeusserungen beweisen
neben vielen andern ähnlicher Art , wie wenig dogmatischen Werth Locke auf die von
ihm selbst adoptirte mechanische Erklärung der Entstehung der Vorstellungen ge-
legt hat.
42) B. II, eh. IX, § \. § 2.
49] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 129
dass die in dem körperlichen Organe stattgefundene Veränderung ins
Bewusstsein eintreten müsse, wenn eine Vorstellung entstehen solle,
daher trotz der A Sectio n selbst des gesunden Organs die sinnliche Wahr-
nehmung nicht eintritt, wenn das Erkenntnissvermögen sie nicht auf-
fasst.43) Er knüpft daran die für die psychologische Erörterung eben so
nothwendige als fruchtbare Bemerkung, dass Vieles für eine sinnliche
Wahrnehmung gehalten wird , was eigentlich eine durch frühere Erfah-
rungen bedingte Deutung der sinnlichen Empfindung ist; und beruft
sich hierbei vorzüglich auf die ergänzende Auslegung, die wir den Wahr-
nehmungen des Gesichts unwillkührlich geben.44)
Das nächste Vermögen , durch welches ein Fortschritt in der Er-
kenntniss geschieht, ist das Vermögen die durch Sensation und Reflexion
erworbenen Vorstellungen festzuhalten. Dies geschieht auf doppeltem
Wege, erstlich durch die verweilende Aufmerksamkeit , zweitens durch
das Wiederhervorrufen früher gehabter Vorstellungen , also durch das
Gedächtniss. tt) Von der Wichtigkeit des Gedächtnisses oder , wenn es
erlaubt ist, einen von Locke selbst nicht angewendeten Ausdruck zu
gebrauchen, der Reproduction , hat er eine sehr ausgedehnte Vor-
stellung; alle übrigen Vermögen würden bei der Unfähigkeit des Men-
schen eine grosse Masse von Vorstellungen gleichzeitig sich gegenwärtig
zu halten, ohne sie so gut wie nutzlos sein;46) aber durch die Bezeich-
43) a. a. 0. § 4. Want of Sensation in this case is not thro' any defect in the organ,
. . . but that, which uses to produce the idea, tho' conveyed in by the usual organ, not
betng taken notice of in the understanding and so imprinting no idea on the mind, there
fottows no Sensation, Es mag bemerkt werden, dass das Wort understanding bei Locke,
wie in der englischen Sprache überhaupt, der allgemeine Ausdruck theils für die ver-
schiedenen Arten der Auffassung und Erkenntniss, theils für die verschiedenen dabei
stattfindenden geistigen Operationen ist.
44) a. a. 0. § 8. Er führt dabei einen Brief von Molineux an, der die spater an
Chesselden's Blinden gemachten, in den Philosoph. Transaetions erst 1728 veröffent-
lichten Beobachtungen gewissermassen voraussagt.
45) B. II, eh. X, § \. The next faculty of the mind, whereby it makes a further
progress towards knowledge, is that which I call retention or the keeping of those
simple idcas , which from Sensation or reflexion it had reeeived. This is done two ways.
First, by keeping the idea ... for some Urne actually in view, which is called contempla-
tion. The other way of retention is the power to revive again in our minds those ideas,
which after imprinting have disappeared . . . This is memory, which is as it were the
store-house of our ideas.
46) a. a. 0. § 8. Memory . . is of so great moment, that were it is wanting, all
the rest of our faculties are in great measure useless.
9*
1 30 G. Hartenstein, [20
nung des Gedächtnisses als des Vermögeos , sich aus dem Bewusstsein
verschwundener Vorstellungen als früher gehabter wieder bewusst zu
werden oder sie als solche wieder hervorzurufen, glaubt er sich jeder
näheren Untersuchung über die Bedingungen und Gesetze der Repro-
duction überhoben.47)
Sinnliche Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtniss würden
wenig nützen, wenn sie nur unklare und verworrene Vorstellungen der
Gegenstände darbölen. Aber der Mensch hat auch ein Unterscheidungs-
vermögen (faculty of discerning); diese Fähigkeit, die Gleichheit oder
Verschiedenheit der Dinge zu bemerken, ist der eigentliche Grund des
allgemeinen und unmittelbaren Einverständnisses über gewisse Sätze,
die man geneigt ist für angeboren zu halten. In dieser Bestimmung der
Vorstellungen durch Unterscheidung gibt sich die Richtigkeit des Urtheils
(judgtnent) zu erkennen, während dem, was man Geist (wit) nennt,
hauptsächlich die rasche Verknüpfung und Vergleichung der Vorstellun-
gen eigentümlich ist.48)
Indem nun keine Unterscheidung möglich ist ohne Vergleichung,
spricht Locke zwar nicht von einem besonderen Vergleichungsvermögen,
aber er legt auf die Thätigkeit des Vergleichens als einer ins Unbestimm-
bare hin reichen Quelle von Vorstellungen und Begriffen das grösste
Gewicht.40) Bei der Betrachtung eines Gegenstandes sind wir nicht auf
ihn beschränkt; der Geist vermag jede seiner Vorstellungen zu über-
schreiten , um ihr Verhältniss zu andern ins Auge zu fassen. In dieser
Gegenüberstellung der Dinge oder Vorstellungen entdeckt er Beziehun-
gen oder Verhältnisse ; er bezeichnet sie durch Worte, welche eben die
Ausdrücke für die bestimmte Art der Beziehung sind, und die Dinge und
Vorstellungen heissen dann die Glieder des Verhältnisses.00) Wo die
Beziehung keine gegenseitige ist, übersieht man dabei leicht die nur
relative Bedeutung solcher Vorstellungen und verfällt in den Irrthum,
als ob dergleichen Vorstellungen etwas dem Gegenstande selbst Zu-
kommendes seien. Jedes Verhältniss setzt aber nothwendig zwei von
47) a. a. 0. § 2.
48) B. II, cb. XI, § \. 2.
49) a. a. 0. § 4. The comparing them one with another . . . is another Operation
of the mind about its ideas, and is that upon which depends all that large tribe of ideas,
comprehended under relation. Vgl. B. II, eh. XXV, § 4.
BO) B. II, eh. XXV, § 2—6.
2-1] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 131
einander verschiedene oder für verschieden gehaltene Vorstellungen
voraus ; der ihr Verhältniss bezeichnende Begriff ist nicht nur von den
Begriffen , welche die Glieder des Verhältnisses bezeichnen , verschie-
den, sondern er kann auch bestimmter und deutlicher sein, als die letz-
teren ; ebenso kann sich das Verhältnis ändern , ohne dass das eine
Glied desselben einer Veränderung unterliegt. Wie unermesslich man-
nigfaltig aber auch die Vorstellungen sein mögen, die der Mensch durch
Vergleichung gewinnt, zuletzt finden sie sämmtlich ihren Stütz- und An-
fangspunkt in einfachen, von der Sensation oder Reflexion dargebote-
nen Vorstellungen.51)
Eine fernere Thätigkeit, die der Geist in Beziehung auf das ur-
sprüngliche Material seines Vorstellens ausübt, ist die Verbindung
(compositum) , vermöge deren mehrere einfache Vorstellungen zu einer
Vorstellungsgruppe (complex) vereinigt werden. Zu dieser Verbindung
und Verknüpfung mag auch die Erweiterung (enlarging) gerechnet
werden, die der Geist mit gewissen Vorstellungen vorninjmt; denn Er-
weiterung ist Verknüpfung gleichartiger Vorstellungen , wie besonders
an den Zahlbegriffen deutlich ist.58)
Welche Vorstellungen und Vorstellungsgruppen nun auch durch
diese Thätigkeiten des Geistes der Mensch erworben habe, er wird
suchen, sie zu bezeichnen; dazu stehen ihm articulirte Laute zu Gebote;
er bezeichnet sie also durch Worte. Worte sind Zeichen von Vorstel-
lungen, Vorstellungen sind von den Dingen entlehnt, und es würde eine
unendliche Menge von Worten nöthig sein , wenn jedes einzelne Ding
und jede einzelne Vorstellung durch ein besonderes Wort bezeichnet
werden sollte. Um diesen Uebelstand zu vermeiden, verallgemeinert der
Geist die besonderen Vorstellungen, indem er das Individuelle, was
ihnen als einzelnen anhaftet, weglässt und so die Abstracta, die Gattun-
gen des Gleichartigen feststellt. Diese allgemeinen und als solche be-
stimmten Vorstellungen verknüpft er mit Namen ; sie sind gleichsam die
Modelle und Typen, auf welche die wirklichen Dinge je nach ihrer
5«) a. a. 0. §7. 9.
52) B. II, eh. XI, § 6. Composition whereby the mind puts together several of
those simple ones it hos reeeived . . . Under this composition may be reckoned also (hat of
enlarging, w herein, though the composition does not so much appear as in more com-
plex ones, yet it is nevertheless a putting several ideas together, though of the same kind.
1 32 6. Hartenstein, [22
Gleichheit oder Verschiedenheit bezogen werden.53} Dieses Vermögen
der Abstraction spricht Locke den Thieren gänzlich ab, während das
Vermögen zu vergleichen und Vorstellungen zu verbinden ihnen in ge-
wissem Grade nicht abgesprochen werden könne; und zwar fehlen
ihnen allgemeine Begriffe nicht desshalb, weil ihnen die Organe für die
Bildung articulirter Laute fehlen , sondern in dem Mangel der Fähigkeit
zu abstrahiren liegt das specifische Unterscheidungsmerkmal zwischen
Mensch und Thier.54)
Ueberblickt man nun die Gesammtheit dieser Bestimmungen Locke's
über die Entstehung des menschlichen Vorstellungskreises, über welche
er sich am Schlüsse derselben mit grosser Bescheidenheit äussert,55) so
darf man nicht übersehen, dass er, neben dem durch die äussere und
innere Erfahrung dargebotenen Material der Vorstellungen, sich auf eine
Mehrheit geistiger Thäligkeiten beruft, durch welche jenes Material zum
Theil dergestalt umgebildet werde, dass sich der Zusammenhang dieser
Producte des Unterscheiden^ Vergleichens, Verknüpfens und Beziehens
mit den primitiven Elementen derselben der fluchtigen Betrachtung leicht
entziehe. Der menschliche Vorstellungskreis unterscheidet sich von dem
der Thiere eben vermöge dieser der menschlichen Natur eigentümlichen
Thätigkeiten , die Locke einfach als eine weise und zweckmässige Ein-
53) a. a. 0. § 8. 9. The use of words then being to stand as outward marks of
our internal ideas and those ideas being taken from particular things , if every particular
idea . . . should have a distinct name, names most be endless. To prevent this, the mind
\ makes the particular ideas . . to become gener al; which is done by considering them as
the are in the mind such appearances, separate from all other existences and the ctrcvro-
stances of real existence . . . This is called abstraction, whereby ideas, taken from
particular beings, become gener al representatives of all of the same kind, and their names
! gener al names . . . Such precise, naked appearances in the mind ... the undcrstanding
lays up {with names commonly annexed to them) as Standards to rank real existences into
| sorts, as the agree with these patterns, and to denominate them accordingly .
54) a. a. 0. §40. 41.
! 55) a. a. 0. § 4 5 — 17. Thus 1 have given a short and, I think, a true history of
the first begmnings of human knowledge . . . wherein I must appeal to experience and
Observation, whether J am in the right; the best way to come to truth being to examine
things as really they are and not to conclude they are , as we fancy of ourselves ... If
; other men have either innate ideas or infused principles, the have reason to enjoy them;
I and if they are sure of itt it is impossible for others to deny them the privileges that they
| have above their neig hb our. 1 can speak only on what l find in myself. . . .
I pretend not to teach, but to enquire.
i
23] Locke's Lehre von der mbnscul. Erkenntmss u. s. w. 133
richtung des Schöpfers betrachtet, deren Wirkungsart aber nicht weniger
als der durch äussere und innere Erfahrung dargebotene Stoff zu den
Voraussetzungen gehört, deren er sich zur Erklärung des Vorstellungs-
kreises bedient. Was aus den durch äussere Erfahrung dargebotenen
Elementen wird, hängt von der Activität des Geistes eben so ab, als von
dem Verkehr mit der Aussenwelt.56)
m.
Um nun den Gehalt an Erkenntniss zu untersuchen, den diese Pro-
ducte der geistigen Thätigkeiten haben, erachtet es Locke für notwen-
dig, zuvörderst die Hauptclassen der zusammengesetzten Vorstellungen
oder Begriffe zu unterscheiden. Sie lassen sich nach seiner Ansicht auf
drei Classen zurückführen, Substanzen, Modi und Relationen. Diese
Bezeichnungen bedürfen einer Erklärung. Unter Substanzen versteht er
diejenigen Verknüpfungen einfacher Vorstellungen oder Vorstellungs-
gruppen, die mit der Voraussetzung gedacht werden, dass sie bestimm-
ten wirklich existirenden Dingen entsprechen , dergestalt dass die für
sie und in ihnen vorausgesetzte Substanz als der Anknüpfungspunkt für
die übrigen in der Vorstellungsgruppe enthaltenen Bestandteile gehal-
ten wird. Der Begriff der Substanz entspricht also dem Begriff des Dings
mit seinen Eigenschaften , insofern es als der Träger der letztern ange-
sehen wird.57) Locke setzt hinzu , dass dieser Begriff nicht auf einzelne
56) B. II, eh. XII, § i. As the mind is wholly passive in the reeeption of all its
simple ideas, so its exerts several acts of its own, whereby out of its simple ideas, as the
materials and foundations of the rest, the other are framed.
57) B. II, eh. XII, § 6. The idea of substance are such combinations of simple ideas
as are taken to represent distinet particular things subsisting by themselves, in which the
supposed idea of substance, such as it is, is the first and chief. In der first letler to the
Bishop ofWorcester (vgl. die hier angef. Ausg. v. Locke's Essay p. 83 Anm.) erläutert
er diesen Begriff so : The ideas of the gualities and actions or powers are pereeived by
the mind to be themselves inoonsistent wüh existence; . . we must coneeive a substratum
or subjeet, w herein the are .... Because a relation cannot be found in nothing or be the
relation of nothing , and the thing here related as a supporter or a support is not repre-
sented . . by any clear and distinet idea , therefore the obscure and indistinet vague idea
of thing or something is all that is left to be the positive idea which hos the relation of
a support or substratum to modes or aeeidents.
134 G. Hartenstein, [24
Dinge beschrankt sei, sondern sich auch auf Collect! v Vorstellungen meh-
rerer Dinge erstrecke; die Vorstellung einer Armee oder einer Schaf-
heerde nennt er eben so die Vorstellung einer Substanz, als die des ein»
zelnen Menschen oder Schafes.98) Bei der Kritiklosigkeit, mit welcher
die natürliche Auffassung der Dinge die Einheit des Seins auf alles das
überträgt, was sich ihr als irgendwie verknüpft darstellt, erscheint diese
Bestimmung weniger auffallend, als sie sein würde, wenn es Locke nicht
vor Allem darauf ankäme, die Beschaffenheit dieses natürlichen Vorstel-
lungskreises kenntlich zu machen.
Als modi, — eine Bezeichnung für die es schwer ist ein congruen-
tes deutsches Wort zu finden, — bezeichnet er die zusammengesetzten
Vorstellungen, welche nicht mit der Voraussetzung gedacht werden,
dass das durch sie Bezeichnete, eine selbstständige Existenz habe,
sondern welche als Anhängsel und Affectionen, Attribute, Accidenzen
oder Modificationen der Substanzen gedacht werden. Sie zerfallen in
zwei Classen, einfache modi, wenn die in ihnen verknüpften einfachen
Vorstellungen gleichartig, gemischte modi, wenn diese ungleichartig
sind.59) So sind z. B. die Raum- und Zahlbegriffe , die verschiedenen
näheren Bestimmungen des Denkens, der Lust und Schmerzempfindun-
gen einfache modi; zu den gemischten modis gehören alle die unbe-
stimmbar mannigfaltigen ungleichartige Bestandteile einschliessenden
Begriffe, welche nicht die Dinge selbst bezeichnen und doch von ihnen
ausgesagt werden. Vorzugsweise bilden die Begriffe des Denkens, der
Bewegung und der Kraft die Anknüpfungspunkte für diese gemischten
modi, welche die nach den Gesichtspunkten der Ursachen, Mittel, Gegen-
stände, Werkzeuge, Zwecke, der Zeit, des Orts u. s. w. verschiedenen
Modificationen jener Vorstellungen bezeichnen ; in diesem Sinne ist die
Vorstellung des Laufens und Ringens nicht weniger ein gemischter mo-
dus, als die der Dankbarkeit oder der Rache; aber eine Aufzählung aller
58) B. II, cb. XII, § C.
59) a. a. 0. § 4. Mo des 1 call such complex ideas y which, howewer compounded,
contain not in them the supposition of subsisting by themselves, but are considered as
dependences on, or affections of substances. § 5. Of these modes are ttoo softes, which
deserve distinct consideration ; first, there are some which are only variations or different
combinations of the same simple idea . . . and these I call simple modes. Secondly, there
are others compounded of simple ideas of several kinds, put together, to make one com-
plex on; ... and these I call mixed modes.
25] Locke's Lkhre von der menscbl. Erkbnntniss ü. s. w. 135
dieser Vorstellungen würde nicht viel weniger heissen, als ein Wörter-
buch des grössten Theils der Worte und Begriffe liefern , deren sich die
Theologie, die Moral, die Jurisprudenz, die Politik und die verschiede-
nen übrigen Wissenschaften bedienen.60) In der Bildung dieser zusam-
mengesetzten Vorstellungen ist der Geist thätig und überschreitet die
Erfahrung;61) die Einheit, die er ihnen zuschreibt, liegt in der ihnen
beigelegten Verknüpfung und dem äusseren Zeichen derselben, dem
Namen; gewöhnlich bekommen nur die Complexionen dieser Art eine
bestimmte Benennung, rucksichtlich deren ein Bedttrfniss der Mitthei-
lung vorhanden ist. Daher finden sich nicht in allen Sprachen Zeichen
ftlr alle Begriffe und jede Sprache hat Worte, für welche es in anderen
Sprachen keine genau entsprechenden gibt; in der Veränderlichkeit die-
ser Vorstellungsgruppen liegt ein Grund für die Veränderlichkeit der
Sprachen.88)
Der Begriff dessen , was Locke modus nennt, ist im hohen Grade
unbestimmt und schwankend; das negative Merkmal, durch welches er
ihn begrenzt, dass das durch den Begriff modus Bezeichnete nicht eine
selbständige Existenz in Anspruch nimmt, sondern nur Anhängsel und
Modifikation der Substanzen ist, passt nicht durchweg zu den von ihm
selbst angeführten Beispielen. Welcher Substanz Modification sollte wohl
der Begriff des Triumphs oder des Ostracismus sein? Wenn Locke den
Begriff des Vaters und des Sohnes für Relationen , den des Vatermords
für einen gemischten Modus erklärt, so bezeichnet der letztere zunächst
nicht die Modification eines Pings, sondern bat zu seiner Voraussetzung
jenes Verhältniss zwischen Vater und Sohn. Für die Relationen, die
dritte Hauptclasse der zusammengesetzten Begriffe, macht er als das
wesentliche Merkmal die vergleichende Betrachtung der Dinge gel-
60) B. II, eh. XXII, §40—4 2.
64) a. a. 0. § 2. The mind often exercise an active power in making these several
combinations. . . . And hence, I think, it is that these ideas are called notions, as if
they had their original and constante existence more in the thoughts of men , than in the
reality of things, and to form such ideas, it sufficed, that the mind puts the parte of them
together and that they were consistent in the understanding, without considering, whether
they had any real being.
62) a. a. 0. § i. Every mixed mode consisting of many distinet simple ideas , it
seems reasonable to enquire, whenee it hos his unity ? . . . To which I answer, it is piain,
it hos his unity from an act of mind combining those several simple ideas together . . . and
the mark of this unity . .. is one natne gwen to that combinations. Vgl. § 5 — 7.
1 36 G. Hartenstein, [*t>
tend;63) wo er aber von den moralischen Relationen spricht, kommt er
noth wendig vielfach auf Begriffe, die er auch als gemischte modi be-
zeichnet. Daher subsumirt er auch bisweilen die Relationen geradezu
unter die gemischten modi,**) und umgekehrt; obwohl er Raum, Zeit,
Zahl für einfache modi erklärt, bemerkt er doch, dass alle Bestimmungen
dieser Begriffe Verhältnisse und Beziehungen einschliessen.05) Man würde
der Unterscheidung der Substanzen, modi, und Relationen die des Dings,
der Eigenschaft, und der Beziehung oder des Verhältnisses Substituten
können , wenn nicht Locke als Beispiel für die modi Begriffe anführte,
welche Verhältnisse und Beziehungen bezeichnen , und wenn er nicht
umgekehrt die Einsicht hätte, dass das, was als Eigenschaft der Dinge
vorgestellt wird, auf Verhältnissen beruht.
Indessen diese ganze Unterscheidung der drei Haupte lassen der
Vorstellungen ist für ihn nur das Mittel, um dadurch einen Leitfaden für
die Untersuchung zu gewinnen, welchen Anspruch auf Erkenntniss die
unter die eine oder die andere Classe fallenden Begriffe machen können.
So wenig systematisch diese Untersuchung bei Locke auch angelegt ist,
so enthält doch das 1 3 — 23. Capitel des zweiten Buchs eine Kritik der-
jenigen Begriffe, welche zu allen Zeiten die Mittelpunkte metaphysischer
Lehrmeinungen gewesen sind und um welche sich namentlich die ari-
stotelisch - scholastische Metaphysik gruppirt. Sie sind der des Dings
und seiner Eigenschaften (Substanz und Accidenz), der Kraft, der Ur-
sache und Wirkung, des Raums, der Zeit, der Zahl, des Endlichen und
Unendlichen, des Ich; und die Bedeutung des Locke'schen Werks beruht
zum mindesten eben so sehr, als auf seinen psychologischen Analysen,
auf dieser Untersuchung des Erkenntnisswertbes , den diese Begriffe in
der Gestalt, wie sie sich factisch in dem menschlichen Gedankenkreise
nachweisen lassen , haben oder nicht haben. Bei der Darlegung dieser
Untersuchungen ist es zweckmässig , die bei Locke durch die Unter-
scheidung der modi, Substanzen und Relationen bestimmte Reihenfolge
fallen zu lassen, und mit dem Begriffe des Dings und seiner Eigenscbaf-
63) B. II, eh. XU, § 7. The last sort of complex ideas is that tve call relations,
which consists in the cotisideration and comparing one idea with another. Vgl. cb. XXV,
64) B. III, eh. IV, § 1 . Mixed modes, under which I comprise relations too.
65) B. II, eh. XXI, § 3.
37] Locke's Lehre von der menschi. Erkenntniss u. s. w. 1 37
len zu beginnen , um darauf die Begriffe folgen zu lassen , welche die
Beziehungen und Verhältnisse der Dinge bezeichnen.
Der Begriff des Dings, sagt Locke, wie er thatsächlich in der Auf-
fassung theils der äusseren Objecte, theils unserer selbst sich aufdringt,
beruht darauf, dass eine Mehrheit einfacher Vorstellungen, die sich be-
harrlich einer gleichzeitigen Auffassung darbieten, unter einander in die
Einheit einer Gesammtvorstellung, die durch ein besonderes Wort be-
zeichnet wird, verknüpft ist. Unsere Vorstellung eines Menschen, eines
Pferds, eines Stücks Gold, Blei u. s. w. ist nichts als die Complexion der
an den durch diese Worte bezeichneten Gegenständen wahrgenommenen
Merkmale; und in ähnlicher Weise bilden wir aus den Merkmalen des
Denkens, des Ueberlegens, Zweifeins, Hoffens, Wollens u. s.- w. die Com-
plexion , welche wir Geist oder Seele nennen. Bei keiner dieser Com-
plexionen nehmen wir in irgend einem ihrer Bestandteile d. h. in irgend
einem der Merkmale des Dings einen Grund wahr, warum es mit den
übrigen gerade so und nicht anders verknüpft ist; ferner können wir uns
keine Vorstellung davon machen, wie das, was den einfachen Bestand-
teilen der Complexion entspricht, für sich exisliren könne, und so
setzen wir der ganzen Complexion Etwas voraus, was den einzelnen
Bestandteilen derselben eine Unterlage, einen Träger, einen Stützpunkt
darbiete; wir unterscheiden und verknüpfen in dieser Unterscheidung
das Ding und seine Eigenschaften, die Substanz und ihre Accidenzen,
so dass die letzteren der ersteren als inhärierend gedacht werden.06)
66) B. II, eh. XXIII, § I . The mind being furnished wüh a great number of the
simple ideas, . . . take notice also , that a certain number of these simple ideas go con-
siantly together; which being presumed to belong to one thing, and words being suüed to
common apprehensions, . . . are called, so united in one subjeet, by one name; which by
inadvertancy we are apt afterwards to talk of and consider as one simple idea , which
indeed is a complication of many ideas together; because, not imagining, how these simple
ideas can subsist by themselves, we aecustom ourselves to suppose some subslratum,
wherein they do subsist or from which they do result; which therefore we call sub-
stance. § 3. Thus we come to have the ideas of a man, horse, gold, water etc., of which
substances whether any one hos other clear idea, farther than of certain simple ideas
coeevisting together, I appeal to every one's own experience. § 5. The same happens con-
cerning the Operations of the mind vi*. thinkingt reasoning, fearing etc., which we con-
cluding not to subsist of themselves, nor apprehending how they can belong to body, . .
we are apt to think these the actions of some other substance , which we call spirit. Dar*
über, dass die Ursache der bestimmten Verknüpfung der Merkmale in der Einheit des
Dings gänzlich unbekannt ist, vgl. besonders B. IV, eh. VI, § 7flgg.
1 38 G. Hartenstein, [28
Dabei macht er ausdrücklich darauf aufmerksam, dass diese Complexio-
nen zum grossen Theile nicht blos in den Merkmalen bestehen, die in
dem Dinge sich wirklich als coexistirend nachweisen lassen, sondern
dass die Vorstellung von dem, was die Dinge sind, in sehr vielen Fällen
ihre nähere Bestimmung durch das erhält, was sie thun und leiden, so
dass diese Potentialitäten, diese Kräfte und Vermögen den Dingen eben
so als ihre Eigenschaften beigelegt werden, wie das, was sie unabhän-
gig von ihrem Wirken und Leiden sind oder zu sein scheinen.67) So sind
unsere Vorstellungen von den Dingen zusammengesetzt aus den Vor-
stellungen einerseits ihrer ruhenden Eigenschaften und denen der von
ihnen ausgehenden und in sie einströmenden Wirkungen, andererseits
der Substanz als des Trägers dieser Mannigfaltigkeit. Natürlich legen
wir dabei jedem einzelnen Dinge seine eigene Substanz unter; den Ge-
danken einer allgemeinen, allen Dingen gemeinschaftlich zu Grunde lie-
genden Substanz berührt Locke gar nicht, weil er sich in dem natür-
lichen Vorstellungskreise in der That nicht vorfindet; aber er erinnert
an die substanziellen Formen als den schulmässigen Ausdruck für die
natürliche Vorstellungsweise und spricht von einem allgemeinen Begriff
der Substanz, insofern das Verhältniss von Substanz und Accidenzen
bei jedem Dinge immer dasselbe ist.68)
Welchen Erkenntnisswerth bat nun dieser Begriff der Substanz,
insofern er mit dem Anspruch auftritt, das Wesen der Dinge zu bezeich-
nen? Gar keinen, ist Locke's Antwort auf diese Frage; denn der Begriff
der Substanz bezeichnet nichts als ein gänzlich unbekanntes Etwas,
welches den Qualitäten der Dinge als ihr Träger vorausgesetzt wird.
Er enthält nicht den geringsten Aufscbluss weder über sein eigenes
Was, noch über die Art, wie die Eigenschaften und Kräfte theils mit der
Substanz, theils unter einander verbunden sind.09) Locke benutzt diese
67) B. II, eh. XXIII, §7.8. The power of drawing iron is one of the ideas of the
complex one of that substance we call a loadstone, and a power to be so drawn is a pari
of the complex one we call iron u. s. w.
68) Vgl. hierüber die aus dem ersten Briefe an den Bischof von Worcester in der
hier citirten Ausgabe I, 244 in der Anmerkung angeführten Stellen.
69) B. II, eh. XXIII, § 2. If any one will examine hitnself concerning his notion of
pure substance in general, he will find he hos no other idea of it at all but only a sup-
position of he knows not what support of such quaUties, which are capable of producing
simple ideas in us ; which qualüies are commonly caüed aeeidents. If any one should be
asked, what is Ihe subjeet w her ein colour or weight inheres, he would have nothing to
29] Locke's Lehre von der mknsciil. Erkenntniss u. s. vv. 139
Gelegenheit, um sehr ausführlich auseinanderzusetzen, dass der Begriff
einer geistigen und einer körperlichen Substanz gleich viel oder vielmehr
gleich wenig Ausschluss über das Wesen des Geistes und des Körpers
darbiete. Denken , Wollen sammt allen übrigen Merkmalen , die wir in
die Complexion, welche wir Geist oder Seele nennen, zusammenfassen,
sind gerade so begreiflich und so unbegreiflich, wie Ausdehnung, Cohä-
sion, Mittheilung der Bewegung, die wir als das Wesen des Körpers
denken.70) Es bleibt uns nichts übrig als die Vorstellungen von Körper
und Geist zu nehmen , wie sie sich bei dem ersteren durch die ersten
Qualitäten, bei dem zweiten durch die Begriffe aufdringen, durch die
wir die innern Ereignisse und Tätigkeiten auffassen; sobald wir diese
Grenze überschreiten , verwickeln wir uns in unentwirrbare Schwierig-
keiten und entdecken nichts als unsere Unwissenheit.71)
Der Umstand , dass der von Locke in seiner Wertlosigkeit aufge-
zeigte Begriff der Substanz geradezu den Mittelpunkt der durch Aristo-
teles zur Geltung gekommenen Schulmetaphysik bildet, macht es be-
say, but the solid extended parte; and if he were demanded, what is it that solidity and
extension inhere in, he would not be in a much better case, than the Jndian, who, saying
lhat the world was supported by a great elephant, was asked, what the elephant rested
on; to which his answer was, a great tortoise; but again pressed to know what gave Sup-
port to the broad-backed tortoise replied: something, he knew not what. And thus here,
as in all other cases where we use words wühout having clear and distinct ideas, we take
like children, who, being questioned, what such a thing is, which they know not, readily
gwe the satisfactory answer, that it is something. . .. The idea then we have, to which
we gave the general name substance, being nothing but the supposed, but unknown
support of those qualities we find ewisting, which we imagine cannot subsist sine re sub-
Staate, without something to support them, we call that support substantia, which is in
piain English Standing under or upholding. Vgl. B.I, eh. III, § 4 8. II, eh. XXXI, § 6flgg.
III, eh. XIII, § 19.
70) B. II, eh. XXIII, § 16—32.
7 \) a. a. 0. § 30. The substance of spirit is unknown to us, and so is the substance
of body equally unknown to us. Two primary qualities or proper Hes of body, viz. solid
coherent parts and impulse, we have distinct clear ideas of; so likewise we know and
have distinct clear ideas of two primary qualities or properties of spirit, viz. thinking
and power of action. . . . We have also the ideas of several qualities inherent in bodies;
. . . we have likewise the ideas of the several modes of thinking ... § 32. Whensoever we
would proeeed beyond these simple ideas we have from Sensation and reflection and dive
farther into the nature of things, we fall presently into darkness and obscurity, per-
plexedness and diffieuities, and can discover nothing farther but our own blindness and
ignorance.
140 G. Hartenstein, [30
greiflich, dass er auf ihn mit einer Art unermüdlicher Ausführlichkeit
immer wieder zurückkommt. Das 31 . Gapitel des IL Buches (§ 6 flgg.)
enthält nochmals die ausführliche Erörterung, dass die Vorstellung der
Substanz gleich unvollständig und uugenügend ist, gleichviel ob man
darunter die substantielle Form der einzelnen Dinge oder den ganzen
Complex der in dem Begriffe des Dings zusammengefassten Merkmale
versteht. Die angebliche substantielle Form ist factisch unbekannt; wäre
sie bekannt, so müsste sich aus ihr die Mannigfaltigkeit der an dem
Dinge wahrgenommenen Merkmale und der Zusammenhang der letzte-
ren unter einander ableiten lassen; der Complex der Merkmale aber gibt
schon desshalb einen höchst unvollständigen Begriff, weil die meisten
dieser Merkmale ein Wirken und Leiden bezeichnen und es noch unbe-
stimmt viel mehr solche Verhältnisse des Thuns und Leidens geben
kann , als wirklich beobachtet worden sind. Auch gehört hierher die
Nach Weisung, dass der grösste Theil der Eigenschaften , die wir den
Dingen als ihr eigenes Was beilegen, von fremden, oft sehr weit ent-
legenen Bedingungen abhängt.72)
Was die Vorstellungen von Aggregaten mehrerer Dinge, wie die
einer Heerde, einer Stadt, einer Flotte u. s. w. anlangt, so hätte sie Locke
wohl mit Stillschweigen übergehen können, da wenigstens die herge-
brachte Schulmetaphysik von der Substanz einer Flotte, einer Stadt nicht
in demselben Sinne gesprochen hat, wie von der einer Rose, eines Stücks
Gold , Brod u. s. w. Gleichwohl mag es der pantheistischen Verwech-
selung der Einheit des Begriffs vom Sein mit der Einheit des Seien-
den gegenüber nicht unerwähnt bleiben, dass Locke den Begriff der
Welt oder des Universums als ein Beispiel für die Fähigkeit des Geistes
anführt, die heterogensten und entgegengesetztesten Dinge in einen Be-
griff zusammenzufassen.73)
Die Complexionen von Vorstellungen, durch welche wir die Dinge
bezeichnen, besteben zum grossen Theile aus den Kräften, die wir
ihnen beilegen; was die Dinge zu sein scheinen, verrälh sich uns durch
das, was sie wirken und leiden. Für beides haben wir die Vorstellung
72) B. IV, eh. vi, § n.
73) B. II, eh. XXIV, § 2. These coüectwe ideas of substances the mind makes by
its power of compositum and unitmg severally, eüher simple or complex ideas into one . . .
§ 3. There are no thmgs so remote, not so contrary, which the mind cannot by this ort of
composition bring into one ideay as is visible in that signißed by the name Universe,
31] Locke's Lkhrk von der menschl. Erkrnntniss u. s. w. 141
des ursächlichen Zusammenhangs, und die Vorstellung der Ursachen
und Wirkungen gehört zusammen mit dem der Kraft und der Empfäng-
lichkeit. Locke trennt die Erörterung über diese Begriffe; er widmet
dem Begriffe der Kraft das 21. Capitel des II. Buches, und spricht von
Ursache und Wirkung erst im 26. Capitel, weil er den ersteren Begriff
für einen modus, den zweiten für eine Relation erklärt, und es verräth
sich auch an dieser Stelle, wie wenig durchgreifend diese ganze Unter-
scheidung zwischen modus und Relation ist.74) Ist ein Unterschied in der
Art, wie diese Begriffe in dem gewöhnlichen Gedankenkreise auftreten,
so liegt er darin, dass Ursache und Wirkung sich auf die wirkliche Thä-
tigkeit und das wirkliche Leiden der Dinge , der Begriff der Kraft und
des Vermögens sich auf das mögliche Thun und Leiden derselben be-
zieht. Die Art, wie Locke den Ursprung dieser Vorstellungsarten be-
zeichnet, entspricht diesem Unterschiede. Indem wir, sagt er, die be-
ständigen Veränderungen der Dinge wahrnehmen , sehen wir die Ent-
stehung bestimmter Qualitäten und Dinge abhängig von audern Dingen
und ihrer Wirksamkeit, und dies gibt uns die Vorstellung von Ursache
und Wirkung. Was wir Schaffen, Zeugen, Machen u. s. w. nennen, sind
verschiedene Bestimmungen dieses Verhältnisses ; die Verschiedenheit
der Vorstellungen, welche das entstandene oder veränderte Ding uns
aufdringt, ist die ausreichende Veranlassung des unter den Dingen an-
genommenen ursächlichen Verkehrs , obwohl wir über die Art, wie die
Wirkung hervorgebracht wird, dadurch nichts erfahren.75) Uebertragen
74) Locke geslehl dies selbst «u, indem er B. N, cb. XXI, § 3 sagt: / eonfess,
power includes in it some kind of relation (o relation to action or change), as indeed which
of our ideas, of ivhat kind soever, when attentively considered, does not?
75) a. a. 0. eh. XXVI, § \. In the nolice, that our senses take of the constant
vicissitude of thmgs, we cannot but observe, that several particular, both qualities and
substances, begin to exist, and that they reeewe this their eaHstence from the application
and Operation of some other bring. From this Observation we get our ideas of cause and
effecL That which produce any simple or complex idea, we denote by the generai name
cause, and that which is produced effect. . . . Whatever is considered by us to conduce or
operate to the producing any particular simple idea , or collection of simple ideas , . . .
which did before not exist, hath in our minds the relation of a cause and so is denomi-
nated by us . . . § 2 a. E. The notion of cause and effect hos its rise from ideas reeewed
by Sensation and reflection, and this relation, how comprehensive soevert terminales at
last in them. For to have the idea. of cause and effect, ü suffices to consider any simple
idea or substance as beginning to exist by the Operation of some other, without
knowing the manner of that Operation.
142 G. Hartenstein, [32
wir nun die Bestimmungen dieses Verhältnisses, gleichviel ob es sich uns
durch den Wechsel unserer Wahrnehmungen, oder durch unsere eigene
Thätigkeit verräth, auf ein zukünftiges mögliches Geschehen, so entsteht
die Vorstellung der Kraft, oder vielmehr die eines möglichen Wirkens
und Leidens.76) Obgleich es nun beinahe keine Art sinnlich wahrnehm«
barer Dinge gibt, deren Veränderungen uns nicht die Vorstellung eines
möglichen Leidens darbieten, und obgleich diesem gegenüber immer die
eines möglichen Thuns steht , so kündigt sich doch die Vorstellung des
letzteren, der activen Kraft, nirgends so bestimmt und deutlich an, als
in der Reflexion auf die Operationen unseres eigenen Geistes.77) Jede
(wirkliche oder mögliche) Thätigkeit lässt sich auf zwei Arten zurück-
führen, Denken und Bewegen. Die Vorstellung des Denkens bietet uns
lediglich die Reflexion dar; aber auch den Begriff der bewegenden Kraft
entlehnen wir eigentlich nicht der Körperwelt ; denn der bewegte Körper
ist vielmehr leidend als thätig; die Mittheilung der Bewegung ist nur
die Fortsetzung einer schon vorhandenen Bewegung und die Vorstellung
eines Anfangs der Bewegung gewinnen wir nur durch die Thatsache
der willkührlichen Bewegung unserer Glieder. Unsere ganze Vorstellung
der Kraft und des (activen) Vermögens hat daher ihre Quelle weniger in
der äusseren, als in der inneren Erfahrung.78)
So wenig diese Erörterung über den Begriff der Causalität und über
die damit zusammenhängenden der Kraft und des Vermögens eigentlich
die Thatsache überschreitet , dass sich diese Begriffe in der Auffassung
76) a. a. 0. cb. XXI, § 4 . The mind being informed by the senses of alter ation of
those simple ideas it observes in things without . . ., reflecting also on what passes within
itself and observing a constant c hange of its ideas, . . . and concluding from what it hos
so constantly observed to have been , that the like changes will for the future be made in
the same things, by like agents and by the like ways, considers in one things the possibi-
lity of having any of its simple ideas changed, and in another the possibility of making
that change and so comes by that idea which we call power. § 2. Power thus conside-
red is twofoldt viz.as able to make or able to receive any change; the only may be called
active, and the other passive power.
77) a. a. 0. § 4. We are abundantly furnished with the idea of passive power by
al most all sortes of sensible things . . . Nor have we of active power (which is the more
proper signification of the word power) fewer instances . . . But yet if we will consider it
attentively, bodies by our senses do not afford us so clear and distinct idea of active power,
as we have from reßection on the Operations of our minds.
78) a. a. 0. § 4. Es gehören hierher auch die Anm. 70 angeführten Erörterungen
Locke's.
33] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 1 43
der inneren und Süsseren Veränderungen geltend machen, so ist es doch
nicht ohne Interesse, wie vorsichtig sich Locke über den Gebrauch der
Begriffe Kraft und Vermögen ausspricht. Er macht darauf aufmerksam,
dass die ganze Art, wie wir die Begriffe des Wirkens und Leidens unter
die Dinge vertheilen, in vielen Fallen nur der Ausdruck einer oberfläch-
lichen Auffassung ist;79) er erklärt überdies von vorn herein, dass er
sich des Begriffs des activen Vermögens in Beziehung auf die Naturdinge
nur bediene, um sich der gewöhnlichen Vorstellungsweise zu accommo-»
diren;80) ebenso lehnt er die Unterscheidung verschiedener Seelenver-
mögen zwar nicht geradezu ab, aber er spricht doch sehr bestimmt aus,
dass, wenn man diese Vermögen wie verschiedene handelnde Wesen in
der Seele auffasse, daraus Verwirrung und unnöthige Schwierigkeiten
entstehen müssen, wie namentlich da deutlich sei, wo man davon
spreche, dass ein Vermögen das andere bestimme, auf dasselbe wirke
u. s. w.81) Er geht aber auch noch einen Schritt weiter und streng ge-
nommen so weit, dass er den ganzen Begriff des Vermögens zugleich
für eben so natürlich und für eben so werthlos erklärt, wie den Begriff
der Substanz. Die Gewohnheit, sagt er, die verschiedenen geistigen
79) a. a. 0. § 72.
80) a. a. 0. §2. Since active power make so great a pari ofour complexe ideas
of natural substances and I mentton them as such, according to common appre-
hension; yet they beiny not perhaps so truly active powers as our hasty thoughts are
apt to represent them, u. s. w.
84) a. a. 0. § 6. The ordinary way of speaking is, that the understanding and will
are two faculties of the mind, a word proper enough, ifit be used, as all words should
be, so as not to breed any confusion in men*s thoughts, by being supposed {as I suspect
it hos been) to stand for some real beings in the soul that performed those actions of
understanding and volition. ... I suspect that this way of speaking of faculties had misled
many into a confused notion of so many distinct agents in us, which had their several
provinces and authorities and did command, obey and per form several actions, and so
many distinct beings; which hos been no small occasion of wrangling, obscurity and un-
certainty in questions relating to them. § 17. If i t be reasonable to suppose and talk of
faculties, as distinct beings that can act, 'tis fit that we should make a speaking faculty
and a Walking faculty and a dancing faculty, ... as well as we make the will and under-
standing to be faculties. . . . And we may as properly say, 'tis the singing faculty sings
arid the dancing faculty dances, as that the will choses or that the understanding con-
ceives; or, as is usual, that the will direct the understanding or the understanding obeys
or not obeys the will, it being altogether as proper and intelligible to say, that the power
of speaking direct the power of singing or the power of singing obeys or äHsobeys the
power of speaking.
Abhindl. d. K. S. Gef. d. Wiss. X. 40
144 G. Hartenstein, [34
Th&tigkeiten auf den Begriff verschiedener Vermögen zurückzuführen,
fördert die Erkenntniss unseres geistigen Wesens so wenig, als die Vor-
aussetzung verschiedener Vermögen des Körpers die des Körpers. Der
Magen verdaut, also hat er ein Verdauungsvermögen ; der Körper schei-
det gewisse Stoffe aus, also hat er ein Ausscheidungsvermögen; der
Geist erkennt, also hat er ein Erkenntnisvermögen; er wählt und be-
schließt, also hat er ein Willens vermögen. Locke sieht sehr wohl, dass
alle diese Redeweisen dem« was factisch geschieht, die Vorstellung der
Möglichkeit dieses Geschehens vorschieben und damit nichts besagen,
als was sich von selbst versteht, ohne den geringsten Aufschluss über
den Hergang der gegebenen Veränderung zu enthalten.82)
Dass er dies einsieht und doch nicht auf den Gebrauch des Ver-
mögensbegriffs ganz und gar Verzicht leistet oder einen Versuch macht,
einen besseren Begriff an seine Stelle zu setzen, ist nicht blos eine Folge
seiner Bereitwilligkeit, sich dem hergebrachten Sprachgebrauche anzu-
bequemen, sondern es liegt darin in diesem Falle eben so, wie in andern
gleich wichtigen, ein charakteristisches Merkmal einer gewissen Genüg-
samkeit, die sich bescheidet, den einmal vorhandenen Gedankenkreis
einer berichtigenden Umbildung nicht unterwerfen zu können. Dazu
kommt, dass diese Kritik des Vermögensbegriffs bei ihm nicht in einer
allgemeinen Untersuchung ober den Begriff der Causalität wurzelt, son-
dern ihm mehr gelegentlich bei der Erörterung Über die Freiheit des
Willens zuwächst; eine Erörterung, welche, so interessant sie ist und so
sehr sie zu einer Vergleichung mit der Leibniz'schen und Kant'schen
Lehre von der Freiheit auffordert, doch dem Zwecke dieser Abhandlung
so fern liegt, dass sie hier übergangen werden muss.
Die Erörterungen Locke's über den Begriff der Substanz, der Cau-
82) a. a. 0. § 20. Nor do i deny, that those tuords (power, faculty etc.) are to
have their place in the common use of language that have them made current. lt looks
like to muck affectation wholly to lay them by, and philosophy itself . . . must have so
much complacency, as to be clothed in the ordinary fasfuon and language. . . . But Ute
fault hos been, that facuUies have been spoken of and represented, as so many distinct
agents. For it being asked, what it was that digested the meat in the stomach, %t was a
ready and very satisfactory answer to say ÜuU it was the digestive faculty u. 6. w. Which
ways of speaking, when put into more intelligible words will, 1 thimk, amount to thus
much: that digestion is performed by something that is able to digest, motion by some-
thing able to move, and understanding by something able to understand. And in thruth it
WQuld.be very stränge, ifit should be otherwise.
35] Locke's Lehre von obii menschl. Ebkenmniss u. s. w. 1 45
salit&t, der Kraft und des Vermögens machen den Erkenntnisswertb der-
selben im Grunde nicht abhängig von der Nachweisung der Art, wie wir
nach seiner Ansicht zu ihnen gelangen. Wir denken zu der Mannigfal-
tigkeit der Merkmale eines Dings die Einheit des Dings selbst hinzu,
wir setzen den Veränderungen der Dinge Ursachen, Kräfte und Vermö-
gen voraus , nach Locke's Lehre dazu veranlasst durch die Thatsachen
der inneren und äusseren Erfahrung; aber nicht der empirische Ursprung
dieser Vorstellungsarten ist es, was ihn misstrauisch macht gegen die
Befriedigung, welche sie der Schulmetaphysik gewährt hatten ; sondern
dass ßie den unmittelbaren Inhalt der Wahrnehmung Überschreiten und
gleichwohl keinen Ausschluss über das darbieten , worüber sie uns w
belehren vorgeben , dass sie , statt ein positives Wissen zu enthalten,
uns vielmehr lediglich eine Grenze und eine Lücke desselben erblicken
lassen , daran nimmt Locke's nüchterner Untersuchungsgeist Anstoss.
Dass der Begriff des Dings und seiner Eigenschaften, — der allerdings
dadurch nicht tiefsinniger wird, dass man diese Worte in die lateinischen
Substanz und Accidenz übersetzt. — nicht die mindeste Belehrung dar-
über enthält, weder was das Ding ist, noch wie die gleichzeitigen oder
successiven Merkmale zu ihm kommen und umgekehrt, dass der Begriff
der Ursache die Art und Weise gänzlich unbestimmt lässt, wie die Dinge
auf einander wirken und von einander leiden, diese kritische Reflexion
ist für Locke der Sache nach von dem empirischen Ursprung dieser Be-
griffe ganz unabhängig und man darf wohl sagen, dass sie für ihn das-
selbe Gewicht gehabt haben würden , wenn er jene Vorstellungsarten
für angeboren zu erklären sich genöthigt gefunden hätte.
Nicht ganz in derselben Richtung verlaufen seine Erörterungen über
Raum und Zeit. Beide erklärt er für einfache Vorstellungen, weil, ob-
wohl Theile des Raums und der Zeit unterschieden werden können,
doch in dem Inhalte der Vorstellung von Raum und Zeit keine Mehrheit
verschiedenartiger Vorstellungen unterschieden werden kann;88) alle
Vorstellungen , die unter den allgemeinen Begriff des Raumes und der
Zeit fallen, sind einfache modi derselben. Ueber den Ursprung der Vor-
83) Vgl. die oben Anm. 31 angeführte Anmerkung zu B. II, eh. XV, § 8 und
dazu noch folgende Worte : So that, if the idea of extension eonsists in havmg parte$
extra partes (as the school speaks), 'tis always a simple idea, because the idea of having
partes extra partes catmot be resolved into two other ideas.
40*
146 G. Hartenstein, [36
Stellung des Raums begnügt er sich mit der einfachen Bemerkung, dass
wir sie durch Gesichts- und Tastempfindungen erhallen.84) Da die Aus-
dehnung und Solidität für ihn zu den wirklichen Eigenschaften der
Körper gehört, so macht ihm die Frage, wie wir durch Gesichts- und
Tastempfindungen räumliche Vorstellungen gewinnen, nicht die geringste
Sorge; viel wichtiger ist es ihm, die Modificationen nachzuweisen, denen
die Vorstellung des Raums zugänglich ist und zu zeigen , dass die Vor-
stellung des Raums mit der der Körperlichkeit nicht identisch ist und
die Cartesianische Schule kein Recht hat, beide gleichzusetzen. Selbst
die in psychologischer Beziehung geradezu entscheidende Frage, ob die
bestimmten und individuellen räumlichen Auffassungen die Grundlage
für die allgemeine Vorstellung des Raums, oder diese die Grundlage für
jene darbieten , erörtert er nicht ausdrücklich ; seiner ganzen Denkart
nach hätte er sich für das erstere entscheiden müssen und doch behan-
delt er den Raum durchaus als das allen besonderen Raumbestimmungen
zu Grunde Liegende. Jede bestimmte Entfernung ist eine Modification
des Raums und jede Vorstellung derselben ein einfacher modus der Vor-
stellung von Raum. Die Möglichkeit, bestimmte Entfernungen so oft zu
wiederholen als man will, gibt uns die Vorstellung der Unermesslichkeit
des Raums ; die Möglichkeit, die allgemeine Vorstellung des Raums ent-
weder durch wirklich wahrgenommene , oder durch beliebig angenom-
mene Verhältnisse der Grenzen gewisser Theile desselben zu bestimmen,
führt auf den Begriff der Gestalt und zu der Möglichkeit, sich eine end-
lose Mannigfaltigkeit von Gestalten zu denken.85) Die Vorstellung des
bestimmten Verhältnisses zwischen zwei oder mehreren Punkten im
Räume, die man unter einander als ruhend betrachtet, bezeichnet der
Begriff des Orts oder der Stelle, und Locke hebt hervor, dass, obgleich
die gewöhnliche Auffassung den Dingen ihren Ort nur mit Rücksicht
auf den zunächstliegenden Raum anweise, doch der Begriff des Orts
eigentlich ganz relativ ist; das Universum ist nirgendwo, weil ausser
ihm nichts ist, in Beziehung worauf ihm sein Ort angewiesen werden
84) B. II, eh. XIII, § 2. Wenn er dabei auf B. II, eh. IV zurück verweist., so
hatte er dort von der Solidität als einer Eigenschaft des Körpers gesprochen , um die
Cartesianische Gleichsetzung zwischen Raum und Körperlichkeit abzuweisen. Darauf
kommt er auch hier § 25 wieder zurück.
85) a. a. 0. § 3—6.
37] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s.w. 147
könnte.86) So ist der Raum mit seinen drei Dimensionen, der Continuitat
und der Unbeweglichkeit seiner Theile 87) für den Menschen ein durch
den Gesichts- und Tastsinn Gegebenes; an welches sich durch die Mög-
lichkeit der Wiederholung vorgestellter Raumgrössen die Vorstellung
der Unermesslichkeit anknüpft; aber was der Raum an sich sei, erfahren
wir dadurch nicht im Geringsten; Locke begnügt sich in dieser Bezie-
hung zu sagen, er werde auf die Frage, was der Raum sei, ob eine
Substanz oder ein Accidenz, antworten« sobald jemand im Stande sei
zu sagen, was Ausdehnung und was eine Substanz sei oder woher man
wisse, dass nur unausgedehnte Wesen denken und ausgedehnte Wesen
nicht denken können.88)
Etwas tiefer geht die Erörterung über die Vorstellung der Zeit,
wenigstens hebt sie einen Gesichtspunkt hervor, der in psychologischer
Beziehung fruchtbar ist. Locke legt das wesentliche Gewicht darauf,
dass die Vorstellung des Zeitlichen gebunden ist an die Reflexion auf
die Succession unserer eigenen Vorstellungen. Wen Anschauungen oder
Gedanken dergestalt beschäftigen, dass er auf deren Succession nicht
reflectirt, für den entsteht die Vorstellung der Dauer eben so wenig, als
sie der Schlafende während eines traumlosen Schlafs hat. Erst die Auf-
merksamkeit auf die Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen gibt uns die
Vorstellung der Succession und wir nennen Dauer die Entfernung zwi-
schen bestimmten Theilen dieser Aufeinanderfolge.88) Ist einmal diese
Vorstellung gewisser Zeitdistanzen entstanden, so ist es möglich, sie auf
86) a. a. 0. § 7 — 10. — § 4 0. That our idea of place is nothing eise but a rela-
tive posüion of a thing, I think is piain. . . . To say that the world is somewhere, tneans
no tnore than that it does exist; this, though a phrase borrowed from place, signify only
its existence, not location.
87) a.a.O. §43. 44. The parts of pure space are immoveable, which follows from
thevr inseparability, motion being nothing but change of distance between two thing s.
88) a. a. 0. § 15 — 17.
89) a. a. 0. eh. XIV, § 3. Reßection on these appearances of several ideas one
after another in our minds is that which furnished us urith the idea of succession, and the
distance between any parts of that succession or between the appearance of any two ideas
in our minds is that we call duration. For . . whilst we reeeive successively several ideas,
we Jcnow that we do exist, and so we call the exislence or the continuation of the eocistence
of ourselves or any thing eise, commensurate to the succession of our ideas, the duration
of ourselves or any thing coexistent with our thinking. Locke lasst hier den Begriff der
Distanz in der Zeit und der Dauer in der gemeinsamen Bezeichnung duration in einan-
der fliessen.
1 48 G. Hartenstein, [38
Dinge und Ereignisse zu übertragen, welche uns nicht unmittelbar ein
Bewusstsein der Aufeinanderfolge von Vorstellungen gegeben haben,
eben so wie wir raumliche Vorstellungen auf Dinge übertragen, die wir
nicht gesehen und getastet haben;00) aber der Anknüpfungspunkt für
unsere Vorstellung bleibt die Succession unserer Vorstellungen und die
der räumlichen Bewegung eben nur insofern, als sie uns eine bestimmte
Aufeinanderfolge von Vorstellungen aufdringt.01) Für diese Aufeinander-
folge, bemerkt Locke, scheine es ein gewisses Maass der Geschwindig-
keit zu geben , wenn die Vorstellungen unterscheidbar bleiben sollen ;
dieses Maximum der Geschwindigkeit, also das Minimum der Dauer,
während welcher nur eine Vorstellung ohne Succession wahrgenom-
men werden kann , ist der Moment.02) Wollen wir nun die Dauer mes-
sen, Zeitdistanzen bestimmen, so ist das nicht so unmittelbar möglich
wie bei Raumgrössen ; den Raum messen wir, indem wir beliebig ange-
nommene Theile des Raums mit andern Raumgrössen vergleichen; eine
solche unmittelbare Vergleichung der immerfort verschwindenden
Zeitdistanzen ist nicht möglich, sie wird aber mittelbar möglich, wenn
Grund zu der Voraussetzung vorhanden ist, dass irgend etwas eine Zeit-
strecke in periodischer Wiederkehr in gleiche Theile (heilt.03) Jedes in
90) a. a. 0. § 5.
94) a. a. 0. § 6. If any one should think we did rather get {the notion of succes-
sion) from our Observation of motion by our senses, he will perhaps be of my tnind, when
he considers, that even motion produces in his mind an idea of succession , no otherwise
then as it produces there a conünued train of distinguishable ideas. § 4 6. It is not the
motion but the constant train of ideas in our minds, . • that furnishes us with the idea
of duration; whereof motion no otherwise gives us any perception, than as it causes in
our minds a constant train of ideas,
92) a. a. 0. § 9. There seem to be certain bounds to the quickness or slowness of
the succession of those ideas one to another, beyond which they can neither delay nor
hasten, § 1 0. The reason I have for this odd conjecture is from observing, that in the
Impression made upon any of our senses we can but to a certain degree perceive any suc-
cession, which if exceeding quick, the sense of succession is lost . . . Such a part of dura-
tion, wherein we perceive no succession is that we may call an instant, and is that which
takes up the time of only one idea in our minds, without the succession of another, whe-
rein therefore we perceive no succession at all.
93) a. a. 0. §H. 4 8. Nothing being a measure of duration but duration , as
nothing is of extension but extension, we cannot keep by us any standmg, unvarymg mea-
sure of duration, which consists in a constant fleeting succession, as we can of certain
lengths of extension . . . Nothing then could serve well for a convenient measure of Hmet
but what hos divided the whole length of üs duration into apparently equal portions by
constantly repeated periods. Beispiele dazu § 10.
39] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkbnntniss u. s. w. 1 49
scheinbar gleichen Perioden wiederkehrende Ereigniss kann daher zum
Maass der Dauer benutzt werden, und wenn dazu vorzugsweise die
scheinbare tägliche und jährliche Bewegung der Sonne benutzt wird, so
hat das seinen Grund eben in der Voraussetzung, dass diese Bewegun-
gen gleichförmig sind; eine absolute Gewähr für die Gleichförmigkeit
dieses Maasses gibt es nicht.84) Wenigstens ist es nicht richtig die Zeit
als das Maass der Bewegung zu definiren : um die letztere zu messen,
muss der Raum nicht weniger in Betracht gezogen werden, als die Zeit,
und die Bewegung, welche in Verbindung mit dem Räume das Maass der
Zeit ist , kann nur dadurch zum Maasse der Zeit benutzt werden , dass
sie eine constante Folge von Vorstellungen darbietet in Perioden , die
gleich weit von einander entfernt zu sein scheinen.05)
Während die Vorstellung des Räumlichen an die Auffassung äusse-
rer Objecto, die des Zeitlichen an die Reflexion auf die Succession der
Vorstellungen selbst gebunden ist, entsteht der Begriff der Zahl aus der
Wiederholung und Zusammenfassung der Vorstellung der Einheit , die
uns eigentlich Alles, was innerlich und äusserlich wahrgenommen wird,
darbietet. Die Vorstellungen der Zahlen verbinden daher mit der gross-
ten Einfachheit ihres Elements und der Möglichkeit einer vollkommen
genauen Unterscheidung der einzelnen Zahlgrössen die grösste Allge-
meinheit ihrer Anwendung. Die Bestimmtheit der Bezeichnung jedes
einzelnen Glieds der Zahlenreihe macht es einerseits möglich durch sie
alle anderen Grössen zu messen,96) und die unbegrenzte Möglichkeit des
Fortschritts in der Zahlenreibe ist andererseits eigentlich das, was wir
unter der Unendlichkeit des Raums und der Zeit verstehen.97)
Somit knüpft sich die Vorstellung der Unendlichkeit gleicbmäs-
sig an Raum, Zeit und Zahl. Endlichkeit und Unendlichkeit sind modi
der Quantität und können nur dem beigelegt werden , was Theile hat
und durch Hinzufügung und Wegnahme derselben der Vermehrung und
94) a. a. 0. § 19. 24.
95) a. a. 0. § 12.
96) a. a. 0. eh. XVI, § 4 — 4.
97) a. a. 0. § 8. The mind makes use of number tu measurütg aü things, that by
im are tneasurable, which prineipaUy are expansUm and duraäon, and our idea of tn-
fSnüy, even toben applied to tkose, seems to be nothing but ihewfimty of number . . . Thü
endlest addUkm or addibikty of numbers it that, I tftink, which gwes us the cUarest and
most distinet idea of m/fntty.
150 G. Hartenstein, [40
Verminderung zugänglich ist; daher sind diese Begriffe da nicht an-
wendbar, wo ein Vorgestelltes einer Vermehrung durch hinzugedachte
Theile nicht zugänglich ist; es gibt Grade des Weissen und Süssen,
aber kein unendliches Weiss und Süss.08) Der Ursprung dieser von allem
Verkehr mit dem, was in den Bereich unserer Erfahrung fällt, scheinbar
so entfernten Vorstellung liegt aber nirgends anders als in der unbe-
schränkten Möglichkeit, bestimmte Räume und Zeiten mit Hülfe der
ebenfalls an keine bestimmte Grenze gebundenen Zahlenreihe ohne Ende
zu wiederholen.90) Der Begriff der Unendlichkeit ist daher ein negativer,
nämlich der eines möglichen endlosen Fortschritts; die Meinung, dass
er ein positiver Begriff sei, beruht auf der falschen Ansicht, als ob das
Ende eine Verneinung, also die Verneinung desselben eine Bejahung
sei, während vielmehr das im Begriff des Unendlichen verneinte Ende
das letzte positive Glied der durchlaufenen Reihe ist; was an dem Be-
griff des Unendlichen positiv ist, bezieht sich auf die durchlaufenen
Theile der Reihe, nicht auf die noch zu durchlaufenden.100) Es sei daher
wohl möglich, die Unendlichkeit des Raums, der Zeit, der Zahl d. h. die
Möglichkeit eines Fortschritts ohne Ende, aber nicht, einen unendlichen
Raum, eine unendliche Zeit, eine unendliche Zahl vorzustellen ; denn das
hiesse behaupten, dass eine Reihe, in deren Begriff es liegt nicht durch-
laufen werden zu können, wirklich durchlaufen sei.101) Dasselbe gilt von
98) a. a. 0. cb. XVII, § 4 . Finite and infinite seem to me be looked upon by the
mind as the modes of quantity and to be attributed in thevr first designatton only to those
things, which have parts and are capable ofincrease or dminution, by the addüion or
subtraction of any the least part. § 6. To the perfectest idea J have of the whitest white-
ness, if 1 add another of a less or equal whiteness (and of a whiter than 1 have I cannot
add the idea), it makes no increase; . . . and therefore the different ideas of whiteness are
called degrees. . . If you take the idea of white, which one parcel of snow yielded yester-
day to your sight, and an another idea of white from another parcel of snow you see to-
day, ... they embody, as it were, and run into one, and the idea of white is not at all
increased.
99) a. a. 0. § 3 fgg. § 8. The idea of infinity consists in a supposed endless pro-
gression.
100) a. a. O. §43—15.
101) a. a. O. § 7. / thüxk it is not an insignificant subtility, if 1 say, that we are
carefully to distinguish between the idea of the infinity of space, and the idea of a space
infinite. The first is nothing but a supposed endless progression of the mind; ... but to
have actuaUy the idea of space infinite, is to suppose the mind already passed over, and
actually to have a view of all those repeated ideas of space, which an endless repetäion
can never totally represent to it; which carries in it a piain contradiction.
41] Locke's Lehru von der menschl. Erkknntniss u. s. w. 151
der Vorstellung des unendlich Kleinen ; wobei er zum Schlüsse bemerkt,
dass vielleicht die Mathematik den Begriff des Unendlichen auf eine an-
dere Weise ableiten könne; dies hindere indessen nicht, dass der Ma-
thematiker ursprünglich diese Vorstellung auf dieselbe Weise erworben
habe, wie die übrigen Menschen.102) Es braucht kaum hinzugefügt zu
werden , dass Locke durch diese Bestimmung des Begriffs des Unend-
lichen alle Speculationen , die auf den positiven Begriff eines wirklich
existirenden Unendlichen irgend eine wissenschaftliche Deduction zu
gründen unternehmen, stillschweigend abweist.
Wahrend die bisherigen Erörterungen sich auf Begriffe bezogen,
deren Bedeutung und Anwendung zwar nicht ausschliessend, aber vor-
zugsweise an die Auffassung der äussern Erfahrung gebunden ist oder
sich wenigstens gleichmassig auf die äussere und innere Erfahrung er-
streckt, unterwirft Locke noch einen Begriff, nämlich den der Identität
und Verschiedenheit einer Untersuchung, deren Hauptgewicht auf eine
Thatsache der innern Erfahrung feilt, nämlich auf die Identität, welche
jeder sich selbst, seiner eigenen Persönlichkeit zuschreibt; eine Erör-
terung, von welcher gesagt werden muss, dass sie der erste Versuch
ist, die Bedeutung dieser Thatsache festzustellen und dadurch wenig-
stens den Anknüpfungspunkt einer möglichen Untersuchung des Selbst-
bewusstseins zu gewinnen.
Locke geht dabei von der Bemerkung aus , dass der Begriff der
Identität d. h. die Vorstellung, dass etwas dasselbe Ding sei, nicht auf
die Persönlichkeit beschrankt ist, sondern sich zunächst auf äussere
Dinge bezieht, so oft wir dieselben bei wiederholter Auffassung für die-
selben erklären. Diese Erklärung gründet sich darauf, dass wir ein Ding
an einer bestimmten Stelle zu einer bestimmten Zeit wahrnehmen; die
Vorstellung der Identität beruht auf der vollkommenen Gleichheit unse-
rer Vorstellungen von dem Dinge im Moment der jetzigen und der frü-
heren Auffassung. Dabei fügt er aber doch hinzu , dass der Zuversicht
der Annahme, ein Ding sei dasselbe, die Voraussetzung zu Grunde liege,
es sei unmöglich, dass zwei Dinge derselben Art gleichzeitig an dem-
102) a. a. 0. §12. §22. Some mathemaiicians perhaps of advanced speculations
may have other ways to introduce into their minds ideas of infinity ; but thitt hindert not
but they themselves, as well, as all other men, got the first ideas which they had of in-
finity ... in the method tue have here sei down.
152 G. Hartenstein, [*2
selben Orte ex i stiren.105) Das sogenannte Princip der Individuation ist
nichts Anderes, als dieses individuell bestimmte Dasein selbst, welches
jedes Ding an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort bindet, die
es mit einem andern derselben Art nicht theilen kann.104)
Handelt es sich um die Feststellung der Art und Weise, in welcher
die gewöhnliche Auffassung von einer Identität der Dinge spricht , so
sind diese Bestimmungen gewiss zu eng; auch entgeht es Locke'n nicht,
dass der von ihm geltend gemachte Haltepunkt der Vorstellung der Iden-
tität da nicht vorhanden ist, wo ein Ding in einer Reihe von Veränder-
ungen für dasselbe gehalten wird.105) Er gesteht daher zu, ein unbeleb-
ter Körper sei streng genommen nur so lange derselbe, als die seine
Masse constituirenden Theile dieselben sind; bei belebten Körpern,
Pflanzen und Thieren, fahren wip aber trotz des Stoffwechsels und der
Massenveränderung fort sie für dieselben Dinge zu erklären, indem wir
uns dabei an die Einheit des organischen Lebens halten.106) Handelt es
sich in ähnlicher Weise um den Grund, aus welchem wir einen bestimm-
ten Menschen für denselben halten, so ist nicht die Einheit der Substanz,
4 03) B. II, eh. XXVII, § 4. When we see any thing to bee in any place in any
instant of Urne, we are sure, that it is that very thing and not another . . and in tkis con-
sists identity, when the ideas attributed to, vary not at all from what they were that mo-
ment wherein we consider thetr former existence, and to wkich we compare the present;
for we never finding , nor coneeiving it possible, that two things of the same kind should
exist in the same place at te same Urne, whe rightly conclude, that whatever exists any
where at any time , exeludes all of the same kind and is there itself ahne. When there-
fore we demand, whether any thing be the same or no, it refers always to something that
ewisted such a time in such a place, .... from whence it follows, that one thing cannot
haue two beginnings of existence, nor two things one beginning.
4 04) a. a. 0. § 3. From what hos been said, it is easy to discover, what is so
much enquired after, the prineipium individuationis and that is piain the existence
itself, which determmes a being of any sort to a particular time and place , incommuni-
cable to two beings of the same kind.
405) a. a. 0. § 2. Only as to things whose existence is in succession, such as are
the actions of finite beings v. g. motions and thoughts, . . . concerning their diversity there
can be no question; because each perishmg the moment it begins, they cannot exist in
different times or in different places , as permanent beings can at different times exist in
distant places.
4 06) a. a. O. § 3. 4. That being one plant, which hos such an Organisation of
parts in one eoherent body, partaking of one common life, it oonünues to be the same
plant as long as it partakes of the same Ufeu. s. w. § 5. The case is not so much diffe-
rent in brutes u. s. w.
43] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 153
sondern die Einheit der Lebensfunctionen , wie sie sich in der ganzen
äusseren Erscheinung des Menschen zn erkennen gibt, das, woran wir
die Vorstellung seiner Identität anknüpfen ; Niemand würde einen Papa-
gey , und wenn er noch so vernünftig spräche , für einen Menschen er-
klären, und der einfältigste Mensch gilt immer noch für einen Menschen,
wenn er so aussieht.107)
Hiervon ganz verschieden ist aber die Frage nach der Einheit der
Persönlichkeit, und hier macht nun Locke mit voller Entschieden-
heit den Salz geltend, dass die empirische Auffassung unserer selbst
uns keinen andern Haltepunkt für die Einheit der Person darbietet , als
die Einheit und den continuirlichen Zusammenbang des Bewusstseins
dessen , was wir in uns selbst als Ereigniss oder Tbätigkeit wahrneh-
men, also die Einheit des Selbstbewusstseins. Dieses Selbstbewusst-
sein dehnt sich zum Theil über Theile und Zustande des Körpers aus,
ohne an sie abschliessend oder vorzugsweise gebunden zu sein; es
greift rückwärts in die Vergangenheit, und obwohl bei weitem nicht alle
unsere Vorstellungsacte den Gedanken an das eigene Ich einschliessen
und viele Bestimmungen des Ich im Laufe der Zeit ihm wieder ver-
schwinden, so findet es doch, so oft es den Zusammenhang seines jetzi-
gen Vorstellens mit seinem früheren Vorstellen und Handeln wieder an-
knüpfen kann, in dieser Einheit des Bewusstseins sich selbst; und die
Einheit des Ich ist nichts Anderes als eben diese Einheit des Bewusst-
seins.10") Die Einheit des Ich entscheidet also nichts über die Einheit
1 07) a. a. 0. § 6. 7. 8. Whatever is talked of other deftnitions , ingenious Obser-
vation puts it past doubt , that the idea in our minds , of tvhich the sound man in our
mouths is the sign , is nothing eise but an animal of such a certain form : since I think it
may be confident, that tchoever should see a creature of his otvn shape and make, though
it had no more reason all its life than a cat or a parrot, tcould call him still a man ; or
whoever should hear a cat or a parrot discourse, reason and philosophize, xoould call or
think it nothing but a cat or a parrot.
i 08) a. a. 0. § 9. To find wherein personal identity consists, we must consider
what person Stands for; tchich I think is a thinlcing intelligent being, that has reason and
reflection and can consider itself as itself, the satne thmking thing in different times and
places; which it does only by that consciousness, tchich is inseparable from thinkmg and,
as it seems to me, essential to it. . . . By this every one is to himself that which he call
seif, it not being considered in this caset whether the satne seif be continued in the same
or divers substances. For since consciousness ahoays accompanies thmking and 'tis that
that makes every one to be what he calls Seif, . . . in this aione consists personal identity
. . . and as far as this consciousness can be extendcd backwards to any past action or
1 54 G. Hartenstein, [4*
der ihm zu Grunde liegenden Substanz, ja die Frage nach der Einheit
des erstereo geht nicht einmal als Frage auf die Einheit der letz leren.1*)
Um dies klar zu machen, wirft Locke zwei Fragen auf: \) könnte, wenn
die denkende Substanz eine andere würde, die Persönlichkeit dieselbe
bleiben und 2) könnte , wenn die Substanz dieselbe bleibt, die Persön-
lichkeit sich ändern? mit andern Worten: ist die Einheit des Selbstbe-
wusstseins in einer Mehrheit von Substanzen, und ist in einer und der-
selben Substanz eine Vervielfältigung der selbstbewussten Persönlich-
keit denkbar? Beide Fragen, bemerkt er, haben zuvörderst für diejenigen
keine Bedeutung, welche die psychischen Vorgänge lediglich als Functio-
nen des animalischen Lebens betrachten, die an die materiellen Bestand-
teile des Leibes gebunden sind. Denn diese denken die Einheit des
Ich nothwendig als unabhängig von der Einheil der Substanz, gerade so
wie die Einheit des Thiers nur die Einheit der Lebenstuncüonen dieses
bestimmten Organismus ist. Dieser Ansicht gegenüber hallen die, wel-
che von der Einheit des Ich auf die Einheit der immateriellen Substanz
schlicssen, zu zeigen, warum die Identität des Ich mit einer Vielheit
oder einem Wechsel der ihm zu Grunde liegenden immateriellen Sub-
stanz nicht vereinbar sei, und Locke ist im voraus geneigt anzunehmen,
dass dies nicht mit zwingender Noth wendigkeit werde nachgewiesen
werden können.110) Denn was die erste Frage anlangt, ob bei einem
Wechsel der Substanz die Identität des persönlichen Bewusstseins be-
harren könne, so mllsste sie bejaht werden, wenn es möglich wäre, das
gesammte Bewusstsein aus der einen Substanz in die andere zu ver-
setzen. Wäre das Selbstbewußtsein ein einiger und untheilbarer Act,
so wäre das allerdings nicht möglich ; aber das wirkliche Selbslbewussl-
«Ain ist Lajh solcher untheilbarer Act, sondern es ist immer die gegen-
Di-stellung früherer Thatigkeiten; und die Identität des Selbst-
los bei einem Wechsel der Substanz wäre nicht undenkbar.
rar reaches the iäenUty of that person. — üeber die Beziehung desSelbst-
s auf die Zustande und Tbeile des Leibes vgl. § 17. 18.
i. a. 0. g 1 0. The question being, what makes the same person and not whe-
■e tarne identical substance, tchich always thinks m the saune person It
me eonsciousnest that mattet a man be himtelf to himsclf, personal identity
'.hat oniy, whether ü be anntxed anly to one individual tubstance, or can be
a tuccetsion of several tubttancts.
i. a. 0. § IS.
45] Locke's Lehre von der meksciil. Erkenntmiss u. s. w. 155
wenn die Erlebnisse und Thätigkeiten der ersten Substanz von einer
zweiten als in ihr früher geschehen vorgestellt werden könnten, obgleich
dies nicht der Fall gewesen wäre , wie wir z. B. im Traume Dinge als
wirklich vorstellen , die nicht wirklich sind noch waren. Will man also
den Wechsel der Substanz für unvereinbar erklaren mit der Identität des
persönlichen Bewusstseins, so hat man zu beweisen, dass die angeführte
Bedingung der Möglichkeit des Gegentheiis nicht eintreten kann; so lange
wir aber die Natur und die Wirkungsart denkender Substanzen nicht
genauer kennen, als dies der Fall ist, lässt sich dieser Beweis nicht füh-
ren; wohl aber lässt sieb behaupten, dass, wenn das Gesammtbewusst-
sein der einen Substanz in eine andere übertragen werden könnte, dann
die Identität der Persönlichkeit trotz der Verschiedenheit der Substanz
ungeschmälert bleiben würde.111)
Die andere Frage, ob in einer und derselben Substanz eine doppelte
oder überhaupt eine verschiedene Persönlichkeit würde entstehen kön-
nen, enthält nichts Unmögliches, sobald man den Fall für möglich hält,
dass der gesammte Inhalt des Bewusstseins dergestalt verloren geht,
dass aus einem späteren Bewusstsein keinerlei Verbindungsglieder in
das frühere zurückreichen. Die, welche eine Präexistenz der Seele und
Seelenwanderung annehmen , nehmen eigentlich diese Möglichkeit an ;
aber wie man auch diese Frage beantworte, es wird dadurch nichts an
der Thatsache geändert, dass die Identität der Persönlichkeit lediglich
in dem continuirlichen Zusammenhange des Bewusstseins besteht.112)
Auf dieser Continuität des empirischen Bewusstseins, setzt er hinzu,
und (muss man in seinem Sinne hinzufügen) nicht auf der indetermini-
stischen Willensfreiheit, beruht die Zurechnung unserer Handlungen zu
uns selbst sammt dem Rechte, Strafen und Belobnungen zuzufügen.119)
Locke bemerkt am Schlüsse dieser Erörterung über das Ich, die
von ihm aufgeworfenen Fragen sammt deren hypothetischer Beantwor-
Hl) a. a. 0. §13.
HS) a. a. 0. § 4 4. — §47. Seif is that conscious thmking thing (whatever sub-
stance tnade up of, wheter sptritual or material, simple or compounded, it matters not)
tohich is sensible, or conscious ofpleasure and pam, capable of happmess and misery and
so is concerned for it seif, as faras that consciousness extends. Dass die Einheit der
Substanz ohne die Continuität des Bewusstseins keine Persönlichkeit einschliesst, fahrt
er weitlSoftig aus § *3. 84.
14 3) a. a. 0. §4 8. 26.
156 G, Hartenstein, [46
tuog werden Manchem wohl fremdartig vorkommen und er gebe zu,
dass wenn wir von dem Wesen der Seele etwas wttssten, dergleichen
Fragen überflüssig, ja selbst absurd sein würden ; aber eben dieses Wis-
sen fehle uns ; und es ist ein Beweis seines nüchternen Untersucbungs-
geistes , dass er die Thatsache des Selbstbewusstseins und die empiri-
schen Merkmale desselben von den Folgerungen unterscheidet, die man
darauf gründen zu können geglaubt hatte.114) Das Resultat Locke's ist
dasselbe, welches Kant in der Darlegung des »Paraiogismus der reinen
Vernunft« ausspricht, dass nämlich die Einheit des Ich nichts entschei-
det über das Wesen der dein Selbstbewusstsein vorausgesetzten Sub-
stanz. An einen Versuch, die Thatsache der Icbheit irgendwie zu erklaren,
denkt keiner von beiden Denkern ; aber die Analyse, welcher Locke den
Begriff des Selbstbewusstseins unterwirft, hat vor der einfachen Aner-
kennung der psychischen Thatsache bei Kant den Vorzug, dass sie auf
die Beziehungen zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Gesa mm t-
inhalt des Bewusstseins wenigstens in allgemeinen Umrissen hinweist.
IV.
Nachdem Locke die wichtigsten der Begriffe, durch welche wir die
uns umgebende Welt und uns selbst auffassen, darauf hin geprüft hat,
inwiefern sie eine wirkliche Erkenntniss darbieten , geht er dazu über
nicht nur den wirklichen, sondern auch den möglichen Umfang des
menschlichen Wissens zu bestimmen, insofern er durch die Art, wie
unser Vorstellungskreis zu Stande kommt, bedingt ist. Die letzten Capi-
tel des II. Buchs enthalten einige dazu nöthige Präliminarbestimmungen,
indem sie Verschiedenheiten unter den Vorstellungen und Begriffen her-
vorheben, die entweder in der Art, wie sie selbst gedacht werden, oder
in ihrer Beziehung auf die Objecte der Erkenntniss sich zu erkennen
geben. In der ersteren Beziehung sind die Vorstellungen entweder klar
und deutlich , oder dunkel und verworren , in der letzteren bezeichnen
4(4) a. a. 0. § 11. — § 25 erklärt es Locke für die wahrscheinlichere
Meinung, dass das Selbstbewusstsein an eine immaterielle Substanz gebunden sei;
aber über den Mangel des Wissens darüber spricht er sich B. IV, eh. Ol, § 6 eben so
entschieden als bescheiden aus. Seine skeptische Behandlung der Frage, ob ein mate-
rielles Wesen vorstellen und denken könne, hat ihren Grund lediglich hierin.
47] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. \v. 157
sie eioerseits entweder wirkliebe Dinge oder Einbildungen , andrerseits
entsieht im Zusammenhange damit die Frage nach ihrer Wahrheit oder
Falschheit.
Eine einfache Vorstellung ist klar, wenn sie der Art, wie das Ob-
jeet sich darstellt oder für eine wohlgeordnete Auffassung darstellen
würde, entsprechen. Die Klarheit zusammengesetzter Vorstellungen be-
steht in der Klarheit der einfachen in ihr verknüpften Vorstellungen.115)
Die Deutlichkeit einer Vorstellung oder eines Vorstellungscomplexes be-
steht in der Möglichkeit ihn von jeder andern Vorstellung zu unterschei-
den.116) Deutlichkeit und Verworrenheit sind gebunden an die Beziehung
einer Vorstellung auf andere Vorstellungen;117) bei zusammengesetzten
Vorstellungen sind es die sie bildenden Theilvorstellungen , von deren
vergleichender Unterscheidung die Deutlichkeit abhängt. m) Aber Deut-
lichkeit und Verworrenheit ist zugleich wesentlich an die Sprache ge-
bunden; denn da jede Vorstellung für jeden, der sie denkt, gerade das
bezeichnet, was er dabei denkt, und also für ihn von jeder andern Vor-
stellung hinreichend unterschieden ist, so würde es gar keine verworre-
nen Vorstellungen geben , wenn nicht die schon vorhandene Verschie-
denheit der Worte und Benennungen der Dinge die Voraussetzung ein-
schlösse, dass verschieden benannte Arten der Dinge auch verschieden
seien; eine Vorstellung ist dann verworren, wenn sie als Vorstellung
einer bestimmten Art von Dingen eben so gut die Bezeichnung durch
die Benennung einer andern Art von Dingen gestattet; ohne diese Be-
ziehung auf diese in der Sprache schon festgestellten Zeichen der Dinge
(oder der ihrer Verschiedenheit entsprechenden Vorstellungscomplexe)
würde es wenigstens schwer sein zu sagen, was eine verworrene Vor-
4 4 5) B. II, cb. XXIX, § 8. Our simple ideas are clear, when they are such, as
the objecto themselves, from whence they were taken, did or might, in a weü-ordered
Sensation or percepUon, present them. So far as they either want any thmg of that origi-
nal exaetness or have lost any of their first freshness, .,. so fear are they obscure.
Complexe ideas, as they are made up of simple ones, so they are clear, when the ideas
that go to their compositum are clear.
4 4 6) a. a. 0. § 4. A distinet idea is that wherein the mind pereewes a difference
from all other; and a confused idea is such anone, as is not suffidently distinguishable
from another, from which it ought to be different.
4 4 7) a. a. 0. §44. Confusion mahmg a difficully to separate two things that should
be separatedy concerns always two ideas.
448) a. a. 0. § 7. 8. 40.
4 58 G. Hartknstkin, [48
Stellung sei.119) Vorstellungen, welche klar und deutlich sind, kann man
bestimmte Vorstellungen nennen; es sind solche, die, so oft sie ge-
dacht werden, unveränderlich an ein bestimmtes Wort als das constante
Zeichen gerade dieser Vorstellung und dieses Vorstellungscomplexes
gebunden sind.120)
Vorstellungen, die in der Natur begründet sind und in der Wirk-
lichkeit der Dinge ihren Beziehungspunkt oder ihr Vorbild haben, nennt
Locke reelle, im Gegensatze zu phantastischen.121) Den Gebrauch, den
er hier und im weiteren Verlauf des Werks von der Bezeichnung: reelle
Vorstellungen im Gegensatze zu blossen Einbildungen macht, gestattet
dieser Unterscheidung die Bezeichnung gültig und ungültig, freilich in
einem doppelten, wesentlich verschiedenen Sinne zu substituiren , inso-
fern dadurch entweder die durch innere oder äussere Erfahrung gewähr-
leistete Thatsächlichkeit oder deren Mangel oder auch die blosse Wider-
spruchlosigkeil eines Begriffs bezeichnet wird. Locke bedient sich dieser
Bezeichnung sowohl im Sinne jener empirischen, als dieser logi-
schen Gültigkeit. Er erklärt desshalb zuvörderst alle einfachen Vor-
stellungen für reell, d. h. sie sind mit Ausnahme der sogenannten ersten
119) a. a. 0. § 5. Let any idea be as it will, it can be no other but such as the
mind perceives it to be, and that very pereepäon sufficiently distinguishes it from all other
ideas . . . No idea therefore can be undistinguishable from another. § 6. To remove the
difßculty . . , we must consider that things, ranked under disiinct names, are supposed
different enough to be distinguished, . . and there is nothing more evident, than that the
greatest part of different names are supposed to stand for different things. Now every
idea a man hos, being visible, what it is, and distinct from all other ideas but itself, that
which makes it confused. is, when it is such, that it may as well be called by another
t tarne y as that which it is expressed by; the difference lohich keeps the things distinct and
makes some of them belong rather to the one and sotne of them to the other of those
names, being left out; and so the distmctUm, which was intended to be kept up by those
different names, is quite lost. Vgl. § 12.
4 20) Epistle to the Reader (p. 9) ; / have in most places chose to put determinate
or determined instead of clear and distinct. This I thitik may fitly be called a deter-
minate or determined idea, when such as it is at any Urne objectively in the mind and so
determined there, it is annexed and without Variation determined to a name, which is to
be steadily the sign of that very same object.
421) B. H, eh. XXX , § 4 . By real ideas 1 mean such as have a foundation in
nature, such as have a conformity with the real being and existence of things or with
thevr archetypes. Fantastical or chimerical I call such, as have no foundation in
nature nor have any conformity with the reality of being, to which they are tacitly refer-
red, or with their archetypes.
40] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss it. s. w. 459
Qualit&ten zwar keine Abbildungen der Qualität der Dinge, aber sie sind
jederzeit der Einwirkung der Dinge auf unsere Wahrnehmung propor-
tional.1*2) Er nennt aber auch alle die Vorstellungen und Begriffe reell,
welche, ohne an einen äusseren Gegenstand als ihr Original gebunden
zu sein, Producta einer willktthrlichen Verknüpfung von unter einander
vertraglichen Vorstellungen sind. Wer den Begriff des Muths oder der
Gerechtigkeit denkt, verknüpft, ohne den Anspruch ein existirendes Ding
zu bezeichnen, gewisse Vorstellungen, und so lange diese unter einander
verträglich sind, hat der Begriff die Bedeutung eines reellen d. h. er ist
gültig; abgesehen von in sich widersprechenden Begriffen könnte bei
allen derartigen Begriffen die Befürchtung einer Einbildung nur dann
entstehen, wenn das sprachliche Zeichen, durch welches jemand einen
solchen Begriff bezeichnet, in dem gewöhnlichen Sprachgebrauch eine
andere Bedeutung hätte.128) Die Vorstellungen der Substanzen endlich
(der DingeJ sind nur in so weit reell , als sie Verknüpfungen solcher
Merkmale {sind , die den an den Dingen factisch vorkommenden Ver-
knüpfungen der Merkmale entsprechen; Abweichungen davon sind Ein-
bildungen.1*4)
Aber bei den reellen oder gültigen Vorstellungen und Begriffen
fragt es sich ausserdem, ob sie adäquat oder inadäquat sind. Ad-
äquat würden die Vorstellungen sein , welche dein Originale , auf wei-
nt) a. a. 0. § 2. Our simple ideas ave all real, all agree to the reality of things.
Not that they are all of them the images or representations of what does exist; the con-
trary whereof, in all but the primary qualities of bodies, hath been ahready shewed. But
though whiteness and coldness are no more in snow than pain is, yet those ideas of
tohiteness and coldness, . . being in us the effects of powers in things without us, . . they
are real ideas in us , whereby tue distinguish the qualities that are really in things them-
sehes, ... the reality lying in that steady correspondence they have with the distinct Con-
stitution* ofreal beings. Wenn Locke die einfachen Vorstellungen bisweilen Copieen
der Dinge nennt, so ihut er das nicht in dem Sinne, als wolle er dadurch eine qualita-
tive Gleichheit zwischen den Dingen- und den Vorstellungen bezeichnen, sondern sie
sind eben nur Copieen d. h. Wirkungen einer äusseren Ursache ohne qualitative
Gleichheit des Bewirkten mit dem Wirkenden vgl. B. II, eh. XXXI, § it. 4 3.
4 13) a. a. 0. § 4. Mixed modes and relations having no other reality but what they
have in the tninds of mm, there is nothing more required to those kind of ideas to make
them real, but that they be so framed, that there be a possibility of existing conformable
to them. These ideas themselves being archetypes, caraiot differ from their archetypes and
so cannot be chtmerical, unless any one wül jumble together in them inconsistent ideas.
4*4) a. a. 0. § 5.
Abhandl. d. K. S. Ges. «f. Wim. X. 4 4
160 G. Hartenstein, [50
ches der Vorstellende sie bezieht, vollkommen entsprechen; inadäquat
die, welche dieser Forderung fcum Theil nicht entsprechen.125) Einfache
Vorstellungen nun sind immer adäquat, denn sie sind der vollständige
Ausdruck der Wirkung der Objecte auf den Wahrnehmenden.136) Eben
so sind die Vorstellungen der modi und Relationen , die aus willkür-
lichen Verknüpfungen einfacher Vorstellungen entstehen, adäquat; denn
da sie nicht die Dinge selbst, sondern die Gesichtspunkte und Beziehun-
gen bezeichnen, deren sich das Denken bedient, um jenen mit Hülfe der
Sprache ihre Stelle anzuweisen, da sie mithin kein ausser ihnen liegen-
des Original haben, sondern ihre eigenen Originale sind, so kann ihnen
nichts an ihrer Angemessenheit fehlen, ausser in so fern, als zu ihrer
Bezeichnung Worte angewendet würden, welche in der Vorstellung
anderer Personen schon eine bestimmtere Bedeutung haben.127) Die Vor*
Stellungen von den Substanzen oder Drogen aber sind durchaus höchst
inadäquat; in der weitläufigen Auseinandersetzung dieses Satzes wie-
derholt und ergänzt Locke seine früheren Erörterungen über den äus-
serst geringen Erkenntnisswerth der ganzen Art und Weise, wie wir
das Verhältniss zwischen Ding und Eigenschaft aufzufassen gewohnt
oder genöthigt'sind.1**)
Von der Gültigkeit und Ungültigkeit der Vorstellungen unterscheidet
endlich Locke noch die Wahrheit oder Falschheit derselben. Er geht
dabei von dem Satze aus, dass Wahrheit und Falschheit nicht in isolir-
ten Vorstellungen, sondern in ihren Verknüpfungen und Beziehungen
liege, also sich nicht auf Begriffe, sondern auf Urlheile beziehe. Eine
Vorstellung an sich selbst betrachtet, insofern ihr Inhalt lediglich als
im Bewusstsein gegenwärtig angesehen wird, ist weder wahr noch
falsch; die Frage nach Wahrheit und Falschheit entsteht erst, wenn eine
Vorstellung rücksichllich ihrer Uebereinstimmung oder Nichtüberein-
stimmung mit etwas Anderem, was nicht sie selbst ist, ins Auge gefasst
wird.1") Dieser Vergleichungspunkt liegt, wenn man bei den gewöhn-
4 25) B. II, eh. XXXI, §4.
4 26) q. a. 0. § 2. AU our simple ideas are adequate, because bemg nothing but
the effects of certain power* in things, fitted and ordained by God to produce such Sen-
sation* in us, they cannot but be eorrespondeni and adequate to those powere.
«27) a. a. 0. § 3. 4.
4 28) a. a. 0. § 6—4 4.
429) B. H, eh. XXXN, § 4 . When ideas themsehes are termed true or faise, there
is still some secret or tacit proposition, which is the foundation of that denomination.
51] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntnis u. s. w. 161
Heben Fallen stehen bleibt, entweder in den Vorstellungen Anderer« so-
fern sie sich durch die Sprache zu erkennen geben , oder in der that-
s&chlich gegebenen Wirklichkeit der Dinge , oder in dem vorausgesetz-
ten Wesen derselben.1*0) Handelt es sich um Wahrheit und Falschheit
nach dem ersten Gesichtspunkte, so ist die Gefahr der letzteren bei wei-
tem kleiner in Beziehung auf die Vorstellung der Dinge und ihrer Qua-
litäten, die ziemlich allgemein mit Benennungen bezeichnet werden, über
deren Bedeutung kein Zweifel ist, als rücksichtlich der gemischten
modi.1*1) Falsch können auch nicht die willkührlicb gebildeten Begriffe
sein, weil sie sich auf gar kein ausserhalb des Vorstellenden voraus-
gesetztes Original beziehen. m) Rücksichtlich der Beziehung der Vor-
stellungen auf die wirklichen Dinge endlich unterscheidet Locke zwischen
den einfachen Vorstellungen ihrer Qualitäten und dem das Ding bezeich-
nenden Gomplexe derselben. Die ersleren sind eigentlich niemals falsch,
denn sie sind den Wirkungen der Dinge proportional ; ihre Wahrheit be-
steht in der Regelmassigkeit der sich in ihnen darstellenden Erschei-
nungen, und selbst wenn die Empfindungen des einen Menschen von
denen des andern verschieden wftren und z. B. dem einen als blau er-
schiene, was dem andern als gelb , so würde jeder durch das, was ihm
erscheint, die Dinge mit ausreichender Sicherheil unterscheiden kön-
nen.1*3) Aber die Vorstellungscomplexe, welche die Dinge bezeichnen,
§ 3 . Truth or falshood, lying always in some affirmation or negation, mental or verbat,
our ideas are not capable, any of them, of being false, tili the mind passes some judtjmeiit
on them, thai is affirms or denies something of them. § 4. Whenever the mmd refers
any of its ideas to any thing ewtraneous to them, they are then capable to be called true
or false. Vgl. § 20. 25. Locke setzt daher § 26 hinzu, es sei vielleicht zweckmässiger,
▼on Richtigkeit und Unrichtigkeit der Vorstellungen zu sprechen. All our ideas are in
themsehes right; but when wecome to refer them to any thing, as to their patterns and
archetypes, then they are capable of being wrong, as far as they disagree unth such
archetypes.
130) a. a. 0. § 4. 5. Einen vierten Gesichtspunkt, die logische Vergleichung des
Inhalts der Vorstellungen, auf die er im vierten Buche alle strenge Erkenntniss zurück-
fahrt und beschränkt, übergeht er hier, wo es ihm eben nur um die Analyse des ge-
wöhnlichen Gedankenkreises zu thun ist.
434) a. a. O. § 9. 1 0. 4 4. When a man is thought to have a false idea of justice,
gratüude, or giory, it is for no other reason, but that his agrees not unth the ideas which
each of those names are the signs ofin other men.
432) a. a. 0. § 17.
4 33) a. a.OjU. 15.
44»
1 62 G. Hartenstein, [52
können falsch sein , wenn entweder Merkmale f die die Dinge nicht ha-
ben, in sie aufgenommen, oder solche, die sie haben, weggelassen wer-
den, wozu noch der viel gröbere Irrlhum kommen kann, dass man blosse
Einbildungen für wirkliche Dinge und die durch die sinnlich wahrnehm-
baren Merkmale bestimmte Vorstellung des Dings für den Ausdruck
ihres ganzlich unbekannten Wesens hält134)
V.
Während in den bisherigen Erörterungen Locke's das negative Re-
sultat liegt, dass der menschliche Vorstellungskreis , wie er nun einmal
ist, kein Wissen weder über das Wesen der Dinge, noch über das ihm
selbst zu Grunde liegende reelle Substrat einscbiiesst, beginnt er im
dritten Buche eine neue Reihe von Untersuchungen, um theils dieses ne-
gative Resultat weiter zu begründen , theils das Gebiet zu bestimmen,
innerhalb dessen für den Menschen ein strenges positives Wissen mög-
lich sei. Er eröffnet diese Untersuchung mit einer Erörterung über die
Sprache, als den Ausdruck des Gedankenkreises, wie er sich als ein
Gewordenes und relativ Fertiges zu erkennen gibt. Es ist dabei von
keiner besonderen Wichtigkeit, dass er die Sprache für eine Erfindung
des Menschen erklärt, die ihm vermöge seiner Fähigkeit, arliculirte Laute
zu äussern, möglich war;135) der Grund, warum er den Bedeutungen
der Worte eine so ausführliche Erörterung widmet, ist der, dass in der
Sprache sich die Vorstellungen und ihre Verknüpfungen zu erkennen
geben. Zwischen Wort und Vorstellung findet eine unauflösliche Ver-
schmelzung statt; was und wie der Mensch denkt, kann man nur aus
dem abnehmen, was er spricht.136) Locke gesteht, er habe anfangs für
den Gegenstand seiner Untersuchung die Berücksichtigung der Sprache
434) a. a. 0. §48. 22—24.
4 35) B. III, cb. II, § 4. 8.
4 36) a. a. 0. § 2. Words in their primitive and immediate signißcation stand for
nothing but the ideas in the mind of htm that uses them. § 6. Words being immediately
the signs of mens ideas .... come by constant use to be such a connection between certain
sounds and the ideas they stand for, that the names heard almost as readüy excüe certain
ideas, as if the objects themselves, which are apt to produce them, did actually affect
the senses.
53] Locke's Lehre von der menschl. Ehkenntniss u. s. w. 463
nicht für so nothwendig gehalten; aber eben weil unsere Erkenntniss,
obgleich sie sich auf die Dinge bezieht, an Worte gebunden ist und
Worte ein unvermeidliches Mittelglied zwischen den Gedanken und den
Dingen sind , sei der Umfang und die Gewissheit der Erkenntniss mil-
bedingt durch die" Beschaffenheit und Bedeutung der Worte.137) Obwohl
Worte zunächst der Ausdruck der Vorstellungen sind, die der Sprechende
selbst hat, so liegt doch ihrem Gebrauche stillschweigend eine doppelte
Beziehung zu Grunde, theils auf die Vorstellungen anderer, theils auf
die Natur der Dinge. Die Voraussetzung, dass ein Zweiter mit dem ge-
sprochenen Wort dieselbe Vorstellung verknüpfen werde, welche der
Sprechende dabei hat, ist innerhalb einer gemeinschaftlichen Sprache
dem Menschen überaus natürlich, obwohl sie keineswegs immer gegrün-
det ist, zumal häufig die Gedanken mehr an den Worten als an den
Dingen haften und Menschen, die früher das Wort, als die durch das-
selbe bezeichneten Vorstellungen kennen lernen, oft wie die Papageyen
reden ; m) in der andern Voraussetzung, dass Worte die Natur der Dinge
bezeichnen, sieht Locke, obwohl er es hier nicht ausdrücklich ausspricht,
geradezu den Fundamentalirrthum , aus dem die Selbsttäuschungen der
Schulmetaphysik zum grossen Theile herfliessen.190)
Hierauf bezieht sich sogleich die Erörterung über die Bedeutung
der Worte, welche allgemeine Begriffe bezeichnen, oder, was 'dasselbe
ist, der allgemeinen Begriffe selbst. Schon vorher hatte er bemerkt, dass
die Sprache, selbst angenommen, dass die Bezeichnung jedes einzelnen
Dings durch ein besonderes Wort möglich sei , in diesem Falle nur ein
4 37) B. III, eh. IX, § 34. Tho' knowledge terminated in things, yet it was for the
most part so much by the intervention of words , that they seemed scarce separable from
our gener al knowledge. At least they interpose themselves so much belween our under-
standing and the truth, which it would contemplate and apprehend, that like the medium
through which the visible objeets pass , their obscurity and disorder does not seldom cast
a misl before our eyes and mpose upon our understanding .
138) B. III, eh. II, § 7. Because by familiär use from our cradles we come to learn
certain articulate sounds very perfectly and have them readily on our tongues, . . but yet
are not always careful to examme or settle their signtfications perfectly, it often happens
that men . . . do set their thoughts more on words than things. . . . Nut only children,
but men speak several words no otherwise than parrots do, only because they have learned
them and have been aecostumed to those sounds. Vgl. eh. V, § 4 5.
139) a. a. 0. § 5. Because men would not be thought to talk barely of their ima-
ginations but of things as really as they are , therefore they often suppose their words to
stand for the relation of things.
164 G. Hartenstein, [5*
überaus unzureichendes und unbequemes Mittel der Mittheilung sein
würde; sie benutzt also die von einer Mehrzahl individueller Dinge gel*
tenden Allgemeinbegriffe und bezeichnet sie durch bestimmte Worte.140)
Die Entstehung dieser allgemeinen Vorstellungen oder Begriffe betrachtet
Locke, obwohl er von einem besondern Abstractionsvermögen gespro-
chen hatte, doch als einen unwillkürlichen psychischen Vorgang; das
Wesentliche dabei ist, dass die besonderen Merkmale der einzelnen Be-
griffe weggelassen und die mehreren gemeinschaftlichen Merkmale in
der Gesammtvorslellung des Art- oder Gattungsbegriffs verknüpft wer-
den.141) Allgemeine Begriffe sind lediglich Erzeugnisse des Denkens;
ihre Allgemeinheit gehört ihnen , den Begriffen, aber nicht den Dingen,
die sie bezeichnen; es gibt, könnte mau im Sinne Locke's sagen, allge-
meine Begriffe, aber keine allgemeinen Dinge.142) Der allgemeine Begriff
bezeichnet überhaupt weder ein einzelnes Ding, noch eine Mehrheit ein-
zelner Dinge, sondern eine gewisse Art oder Gattung von Dingen,
und wenn man durch ihn bezeichnen zu können glaubt, was die Dinge
sind, so trifft dieses Wesen gar nicht die Dinge selbst, sondern die
Arten, nach welchen man sie unterscheidet und ordnet.143) Die Richtung
der Abstraction und die dadurch bedingte Unterscheidung bestimmter
Arten mag dabei immerhin durch die unter den Dingen selbst stattfin-
dende Aehnlichkeit bedingt sein;144) das Wesen der Arten, insofern
wir diese durch allgemeine Begriffe bezeichnen, ist immer selbst eine
allgemeine Vorstellung, die eine Art vermittelndes Glied ist zwischen den
Dingen und den Worten, durch welche wir die letzteren bezeichnen,14*)
4 40) a. a. 0. eh. I, § 3. — § 4 erwähnt er auch der Negationen und negativen
Begriffe, ohne ihnen eine so eingehende Erörterung zu widmen, wie den allgemeinen.
4 44) B. III, eh. in, § 6flgg.
142) a. a. 0. § 4 4. General and universal belong not to the real existence
of things, but are the inventions and creatures of the under Standing, . . and concern only
signs, whether words or ideas. Words are general, when used for signs of general ideas y
. . and ideas are general, when they are sei up a$ the representatives ofmany particular
things; but universalis belongs not to things themselves, whieh are all of them particular
in their existence,
4 43) a. a. 0. § 4 2. That whieh general words signify is a sort of things < . .
Whereby it is evident, that the essence of the sorts or (if the latm word pleases better)
species of things, are nothing eise but these abstract ideas.
4 44) a. a. 0. § 43 (vgl. B. HI, eh. VI, § 28).
145) a. a. 0. When we say, this is a man, that a horse . . . what do we eise but
rank things under different specific names, as agreeing to those abstract ideas, of whieh
55] Locke's Lehre von drb menschl. Erkenntnis u. s. w. 165
und so wie nichts verbürgt, dass die Zerlegung und Classification, wel-
che wir in. unseren Abstractionen mit den Dingen vornehmen, der Natur
der Dinge entspreche, so haben wir kein Recht, die Merkmale, die in
unsern Art- und Gattungsbegriffen vorkommen , für das unentstandene
und unzerstörbare Wesen der Dinge zu erklaren; denn die Dinge ent-
stehen, verandern sich und vergehen, aber die Begriffe ihrer Arten be-
halten ihre Bedeutung, nämlich für unser Denken, aber nicht für die
Dinge. Dem ooncreten Ding ist jedes seiner Merkmale gleich wesentlich
oder gleich unwesentlich; was die Vorstellung davon für wesentlich und
unwesentlich halt, dafür liegt der regulirende Gesichtspunkt lediglich in
den schon festgestellten Art- und Gattungsbegriffen.146)
Dass den Dingen, abgesehen von der Art, in welcher wir sie durch
allgemeine Begriffe bezeichnen und classificiren , ein eigenes Was zu-
komme, ist eine Voraussetzung, an der Locke so wenig zweifelt als
daran, dass die Dinge sind ; aber er fordert, dass man das reelle Wesen
der Dinge, oder — weil wir von den Dingen in keiner anderen Weise
etwas wissen , als indem wir sie vorstellen, — das reelle Wesen des
Gedachten und Vorgestellten Oberhaupt von dem nominellen Wesen
unterscheide. Das Wort Wesen, bemerkt er, bedeutet zunächst das. was
ein Ding ist. Dadurch aber, dass die Schulphilosophie vorzugsweise mit
allgemeinen Begriffen operirt habe, habe das Wort Wesen diese seine
ursprüngliche Bedeutung beinahe ganz verloren, und man habe das
Wesen der Dinge in den Benennungen gesucht, die die Sprache den
Arten und Gattungen der Dinge je nach den darüber festgestellten All-
we have made those narne$ the sign*? And what are the essenees of those speciee sei out
and marked by names, but those abstract ideas in the nrnd, which are, as it tvere, the
bände between parUcular things that extet, and the names they are to be ranked under?
And when general names have any conneciion wüh particular beings, the abstract ideas
are the medium that umtes them, so that the essenees of speciee, as distinguished and
denominated by us, neither are nor ean be any thing but those precise abstract ideas we
have in our mmds.
U6) a. a. 0. § 49. AU things that existe, besides their author, are aü liable to
ehange; ... tu which changes ü is evident, their real essence, t. e. that Constitution,
whereon the properties of these several things depended, is destroyed and perished wüh
them. But. essenees being taken for ideas established in the mind, . . . they are supposed
to remain steadily the same. whatever mutations the particular substances are hoble. . . .
From what hos been seid, ü is evident, that the doctrine of the mmutabilüy of essenees
proves them to be only abstract ideas. Vgl. eh. VI, § 4. 5.
1 66 G. Hartenstein, [56
gemeinbegriffen gibt. Das Wort Wesen ist in dem einen Falle an die
Sache, in dem andern an das Wort, als die Bezeichnung des allgemeinen
Begriffs geknüpft.147)
Um nun die Frage, in wie fern durch allgemeine Begriffe das, was
durch sie gedacht wird, auch erkannt wird, in wie fern also der allge-
meine Begriff nicht bloss das nominelle, sondern auch das reelle Wesen
ausdrückt , zu beantworten , . greift Locke zurück zu seiner Unterschei-
dung zwischen einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen» von
denen die letzteren in solche zerfallen, die ohne Beziehung auf ein äus-
seres Object lediglich durch ihren eigenen Inhalt gedacht werden und
keinen Vergleichungspunkt ausser sich haben (die gemischten modi und
die Relationen), und solche, deren Bedeutung an die Beziehung auf ein
äusseres Object gebunden ist (die Substanzen) .
Es muss befremden , dass Locke von den einfachen Vorstellungen
den Satz ausspricht, dass bei ihnen das reelle und das nominelle Wesen
der durch ihre Namen bezeichneten Arten zusammenfällt.148) Er gibt
nicht einmal einen Grund davon an; dieser kann ftlr ihn auch nicht darin
liegen sollen, dass etwa die sinnlich wahrgenommenen Qualitäten mit
der eigenen Qualität der Dinge identisch waren ; sondern er scheint zu
diesem seiner eigenen Denkart nicht angemessenen Ausdrucke dadurch
gekommen zu sein, dass das Was einer einfachen Vorstellung nur durch
sich selbst erkennbar sei und sich jeder Definition entziehe»149)
1 47) a. a. 0. § 1 5. First, essence may be taken for the being of any thing, whereby
it is what ü is. And thus the real internal, but generally in substances unknown Consti-
tution of things, whereon their discoverable qualities depend, may be callcd essence, This
is the proper signißcaHon of the toord, . . . and in this sense ü is stiU used, when we speak
of the essence of particuktr things, without gwing them any name. Secondly, the learning
andLdisputes of the schools having been much busied about genus and species, the ward
essence had altnost lost its primary signification and . . . hos been almost wholly applied
to the artißcial Constitution of genus and species. ... It being evident, that things are
ranked under names into sorts or species, only as they agree to certain abstract ideas, to
which we have annexed a name , the essence of each genus or sort comes to be nothing,
but that abstract idea, which the general or sortal (if I may have leave so to call it) name
Stands for. These two sorts of essences may not unfiUy be termed, the one the real, the
other the nominal essence.
t 48) a. a. 0. § 18, vgl. eh. IV, § 3.
4 49) B. HI, eh. IV, § 7. Vgl. damit § 48 die Nachweisung, warum bei etufachen
Vorstellungen zwischen der niedrigsten Art und der höchsten Gattung nur sehr uenig
Mittelglieder liegen.
57] Locke's Lehre von der mknschl. Erkenntniss ü. s. w. 1 67
Für die gaoze grosse Ciasse von Begriffen ferner, weiche er als
gemischte modi. und Relationen bezeichnet, legt er überall, wo er von
ihnen spricht, das entscheidende Gewicht darauf, dass sie willktthrliehe,
wenn auch nicht schlechthin zufällige und grundlose Verknüpfungen und
Beziehungen einfacher Vorstellungen sind , die weder an die Voraus-
setzung einer äusseren Existenz, noch an die bestimmte Form des äus-
serlich Gegebenen gebunden sind.150) Sie haben daher kein Maass ausser
sich; sie sind das, als was sie gedacht werden, ohne dass auch nur ge-
fragt werden könnte, ob dieser Inhalt des Gedachten mit einem ausser-
halb dieses Inhalts liegenden Objecto übereinstimme oder nicht; von
einem Unterschiede dessen , was der Begriff enthalt und was das Wort
bedeutet, kann daher bei ihnen keine Rede sein; was der Begriff für
den, der ihn bildet, enthalt, besagt auch das Wort und desshalb fällt bei
ihnen das nominelle und reelle Wesen zusammen.161) Wer den Begriff
einer von drei Seiten begrenzten Flache durch das Wort Dreieck be-
zeichnet, dessen Denken ist in der Feststellung dieses Begriffs nicht nur
unabhängig von der Frage, ob ein Dreieck existirt, sondern der Begriff
enthalt auch den Grund der Eigenschaften des Dreiecks; das Wesen des
Dreiecks ist der Inhalt seines Begriffe, eben so wie das Wesen der Dank-
barkeit und der Gerechtigkeit in den in diesen Begriffen verknüpften
Merkmalen liegt.152) Dieser Satz gilt, insofern bestimmte Begriffe
dieser Art mit bestimmten Worten bezeichnet werden; bei der Masse
von Zufälligkeiten, denen die Bildung dieser Begriffe sammt ihren Be-
nennungen ausgesetzt ist, ist gleichwohl die Bedeutung der letztern im
450) B. III, eh. V, § 3. The essenaes of the speeies of mixed modes are not only
made by the mind, but made very arbitrarly, made tvithout patterns or referenee to any
real existence. Wherein they differ firom those of substances , which carry with themjthe
supposiUon of some real being, from which tke are taken, and to which the are confor-
mable. Die Ausführung und Limitation dieses Salzes vgl. § 5 — 7.
151) a. a. 0. § 44. The names of mixed modes always signifles (when they have
any determmed significaHon) the real essence of their speeies. For these abstraet ideas
bemg . . not referred to the real existence of things, there is no supposition of any thmg
more signified by that name, but barely that complex idea the mind iiself hos formed, . . .
and is that on which all the properties of the speeies depend and from which alone they
flow ; and so in these the rjal and nominal essence is the same.
152) a. a. O. § 4 3. Er fügt hinzu: üence I think it w, tltat these essences of the
speeies of mixed modes are by a more particular name called notions; as by a pecutiar
right appertaining to the understanding .
1 68 6. HARTBKSTfilN. [58
allgemeinen viel schwankender , als die der Bezeichnungen für die ein-
fachen Vorstellungen, wie schon daraus hervorgeht, dass jede Sprache
eine Menge Worte hat , ftlr die es in einer andern Sprache keine genau
entsprechenden Worte gibt.135)
Ein davon ganzlich verschiedenes Verhältniss ßndet aber bei den
Vorstellungscoxnplexionen statt, durch welche wir die Dinge (die Sub-
stanzen) bezeichnen. Dass Locke auf diesen Gegenstand noch einmal
sehr ausführlich zurückkommt, ist keineswegs eine blosse Wiederholung;
wahrend er vielmehr früher (vgl. oben S. 1 37fgg.) sich auf die Nachwei-
sung beschränkt hatte , dass das Was der den Dingen vorausgesetzten
Substanzen factisch unbekannt sei, geht er hier auf die Nachweißung der
Unmöglichkeit ein, dasselbe durch allgemeine Begriffe zuerkennen.
Was wir von den Substanzen zu wissen glauben, fassen wir unter den
allgemeinen Begriff der betreffenden Art von Dingen zusammen und
der Inhalt dieses allgemeinen Begriffs gilt für das Wesen dieser Art;
dergestalt dass das Wesen des einzelnen Dings durch die Beziehung auf
den Inhalt des Begriffs seiner Art bestimmt wird. Dadurch wird die
Entscheidung über das angebliche Wesen der Dinge in die Reihenfolge
der logischen Abstractionen verwickelt. Ohne diese Beziehung auf die
in den angenommenen Arten liegenden Unterscheidungsgründe dessen,
was dem Dinge wesentlich und unwesentlich sein soll, ist ihm jede seiner
Eigenschaften gleich wesentlich und gleich unwesentlich.154) Dass wir
nun durch die Feststellung der Arten der Dinge die leisen und fast unmerk-
4 53) a. a. 0. § 8. Vgl. fi. III, eh. IX, § 6.
\ 54) B. 111, eh. VI, § 2. The tneasure and boundary ofeach sort or species, whereby
it is constituted a partieuiar sort and dietinguished from others is thai we call its essence,
which is nothing but that abstract idea to which the name is annexed. § H . it. 4 3. Our
distinet species are nothing but distinet compiex ideas with distinet names annexed to
them. It is true, every substance thai exists, hos its peculiar constitutum, whereon depend
those sensible qualities and powers, we observe in it. But the ranking the thmgs inlo spe-
cies , which is nothing but sorting them under several titles, is done by us, aecording to
the ideas we have of them. § 4. Lei any one exatnine his own thoughts and he will find,
that as soon as he supposes or speaks of essential, the consideration of some species or
the compiex idea signified by general name com/es Mo his mind, and it is in reference to
that, that this or that quaUty is said to be essential. . . . So that essential and not essen-
tial relate only to our abstract ideas and the names annexed to them. § 6. AU such
paterns and Standards being quite laid aside, partieuiar beings, considered only in them-
sehes, will be found to have all their qualities equaUy essential, and every thing, in each
individualy will be essential to it, or, which is more, nothing at all.
59] LocKfc's Lehre von dbr mbnscbl. Erkenntnis* u. s. w. 169
liehen Uebergttnge zwischen ihnen, wie sie in der Wirklichkeit vorkommen,
nur einigermassen vollständig erschöpfen können, ist mehr als unwahr«
schemlich ; wenigstens im Gebiete der lebendigen Wesen liegt eine fesle
Grenzbestimmung der einzelnen Arten weder in der Fortpflanzung« noch
viel weniger in den sogenannten subslanziellen Formen, von denen sich
ohnedies Niemand etwas träumen Iftsst, als die Schulphilosophie. ,M)
Sollte überhaupt diese Annahme, dass die Arten der Dinge durch ge-
wisse ihnen inwohnende Formen oder Wesenheiten wirklich von ein-
ander unterschieden sind und durch die diesen substanziellen Formen
entsprechenden allgemeinen Begriffe ihrem Wesen nach erkannt werden,
gerechtfertigt werden, so müsste sich beweisen lassen, erstlich, dass die
Natur überhaupt die Absiebt habe, die Classen der Dinge nach gewissen
vorausbestimmten Mustern hervorzubringen, eine Voraussetzung, die in
der rohen Form, wie man sie gewöhnlich macht, einer viel genaueren
Prüfung unterworfen werden müsste; sodann wäre zu untersuchen, ob
die Natur die Darstellung dieser Wesenheiten immer ausführe und er-
reiche, wobei die Frage entstehen würde, ob Ausbildungen eine eigene
Gasse von Dingen bilden oder, zu einer andern Ciasse gehören ; jeden-
falls aber müsste das reelle Wesen der Dinge , die wir nach Classen
sondern, uns bekannt sein, um nach dessen Unterschieden die Arten
der Dinge zu bestimmen , und gerade dies ist bei unserer Unwissenheit
über das Wesen der Dinge unmöglich.196) Vielmehr bestehen unsere Be-
griffe von den Dingen lediglich aus den empirisch wahrgenommenen
Eigenschaften sammt den Kräften , welche wir ihnen beilegen ; weder
jene noch diese sind vollständig bekannt; die Erfahrung verr&th davon
bald weniger, bald mehr, und je nach dem Reichthum oder der Armuth
dieser Kenntniss bedeutet eine und dieselbe Bezeichnung der Dinge für
verschiedene Menschen Verschiedenes, zwar genug, um das Verstand-
niss im Verkehr des gewöhnlichen Lebens zu sichern, aber durchaus zu
wenig, um diese Begriffe von den Dingen als Ausdruck eines strengen
165) a. a. 0. § 12. 23. 24.
4 56) a. a. 0. § 4 4 — 49. — To distinguish substantial bemgs mto species, aecord-
mg to the usual supposiüon that there are certain prent* e$sences or forms of things,
whereby aü the indwiduab existmg are by naiure distmgnished into species, thsse ihings
are neeessary: ... fourthly, the real essence of those Ihings, which tee distinguish into
species and as so distinguished we name, ought to be known.
170 G.Hartenstein, [60
Wissens betrachten oder als Grandlage wissenschaftlicher Folgerungen
benutzen zu können.157)
Zu dieser in der Sache selbst gegründeten Unvollkommenheit der
Erkennlniss, die dergestalt an die Sprache d. h. an den wirklich vor-
handenen in der Sprache seinen Ausdruck findenden Gedankenkreis ge-
bunden erscheint, dass die Bezeichnungen der einfachen Empfindungen
und der einfachen modi noch am meisten geeignet sind, das, was sie
bezeichnen sollen, bestimmt auszudrücken, während die Benennungen
der modi mucti und der Substanzen dies nur sehr unvollkommen oder
gar nicht leisten,158) kommen nun noch eine Menge von Fehlern im Ge-
brauche der Sprache, die zwar an sich vermieden werden könnten, die
aber gleichwohl häufig begangen werden und den Gedankenkreis, inso-
fern er auf Erkennlniss Anspruch macht, vollends verwirren. Bald
braucht man Worte, mit welchen man überhaupt gar keinen bestimmten
und klaren Begriff verbindet, ein Fehler zu dem schon der Umstand
reiche Veranlassung gibt , dass die Menschen die Worte früher lernen
als die durch sie bezeichneten Begriffe; bald bedient man sich der Worte
in verschiedenen Bedeutungen, was eben so klug ist, als ob jemand in
einer Rechnung ein und dasselbe Zahlzeichen für verschiedene Zahl«
grossen anwenden wollte ; bald gebraucht man, um tiefsinnig zu erschei-
nen , dunkle und unklare Bezeichnungen ; bald nimmt man Worte für
Bezeichnungen von Sachen , die gar nicht existiren , wobei Locke nicht
unterlässt, die substanziellen Formen, die vegetativen Seelen, den horrar
vacui u. s. w. als Beispiele anzuführen; bald gibt man den Worten Be-
deutungen, die sie nicht haben können, was namentlich bei den Worten,
durch die wir die Dinge bezeichnen, überall der Fall ist, wenn wir mei-
nen, dadurch ihr eigenes Wesen auszudrücken; bald setzt man irrthüm-
lich als etwas Selbstverständliches voraus, dass die Worte eine unzwei-
felhafte und bestimmte Bedeutung haben, und streitet über Worte, bei
welchen sich jeder der Streitenden im Grunde etwas Anderes denkt.150),
Diese Fehler schliessen zum Theil geradezu grobe Irrthümer ein, und
so findet sich Locke veranlasst, im 4 1 . Capitel des dritten 'Buchs eine Art
157) a. a. 0. § 20. Our distmguishing substances into species by names is not al
all founded on their real essence, nor can we pretend to ränge and determme them exactltj
into species aecording to internal essential differenecs. cf. § 30. B. III, eh. IX, § 12 — 17.
158) B. 111, eh. IX.
159) B. III, eh. X, § 4— 1%.
61] Locke's Lehre von der mknsciil. Erkenntniss u. s. w. 171
pädagogischer Anweisung hinzuzufügen, wie wenigstens diese aus Nach-
lässigkeit und Mangel an Ueberlegung entstehenden Fehler vermieden
werden können.
VI.
Die bisherigen Erörterungen bilden die Grundlage, auf welche ge-
stutzt Locke im vierten Buche seines Werks das abschliessende Urtheil
über den Umfang und die verschiedenen Grade der Gewissheit der
menschlichen Erkenntniss ausspricht. Der Fundamentalsatz , den er in
dieser Beziehung an die Spitze stellt, besteht in der Erinnerung daran,
dass für den menschlichen Geist der einzige Gegenstand seines Denkens
seine eigenen Vorstellungen sind; alle Erkenntniss bezieht sich unmittel-
bar nicht auf die Dinge, sondern auf das Verhältniss der Vorstellungen ;
die Erkenntniss selbst ist die Wahrnehmung der Verknüpfung oder der
Sonderung, der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit, der Ueberemstim-
mung oder Nichtübereinstimmung unter den Vorstellungen nnd Begriffen.
Wenn wir erkennen : weiss ist nicht schwarz , so nehmen wir die Un-
vereinbarkeit der diese Empfindungen bezeichnenden Vorstellungen
wahr; und wenn wir erkennen: die drei Winkel eines Dreiecks sind
gleich zwei rechten, so nehmen wir wahr, dass diese Bestimmung von
den drei Winkeln des Dreiecks ohne Widerspruch nicht getrennt werden
kann.160) Als die Classen der Falle, in denen über Uebereinstimmung
und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen geurtheiU wird, unter-
t 60) B. IV, eh. I, § \ . Since the mind in all its thoughts and reasonings, hath no
other immediate objeet but its own ideas, which ü alone does or can contemplate , it is
evident, that our knowledge is only conversant about them. § J. Knowledge then seems
to me to be nothing but the percepUon of the connexion and agreement or disagreemetU
and repugnaney of any of our ideas. In this alone ü eonsists. Das Wort agreement
schliesst Identität und Zusammengehörigkeit zugleich ein. Es mag erlaubt sein, für
dasselbe der Kürze wegen das deutsche Wort Uebereinstimmung zu gebrauchen. —
Am Schlüsse des Capitels §89 setzt Locke, um seine Definition der Erkenntniss vor
dem Einwurfe zu schützen, als sei sie zu eng, noch den Unterschied zwischen wirk-
licher und habitueller oder gedächtnissmässiger Erkenntniss aus einander, bei welcher
letzteren wir die Ueberzeugung von der Richtigkeit eines Satzes haben, weil wir uns
erinnern, den Zusammenhang seiner Beweise früher eingesehen zu haben, ohne dass
dieser Zusammenbang uns gerade jetzt gegenwärtig ist.
172 6. Haetbhstbin, 16*
scheidet Locke folgende vier: 1) Identität und Verschiedenheit, 2) Be-
ziehungen, 3) Coexislenz, 4) Wirklichkeit111) Die Entscheidung über
Einerleiheit und Nichteinerleiheit der Vorstellungen ist der erste, allen
übrigen zu Grunde liegende Act des Geistes , der in jedem einzelnen
Falle unmittelbar und nicht erst durch Vermittlung eines allgemeinen
Denkgesetzes stattfindet, wo der Inhalt des Vorgestellten mit Bestimmt-
heit gedacht wird. Entsieht Über Einerleiheit und Nichteinerleiheit ein
Zweifel , so wird man immer finden , dass er sich nicht auf den Inhalt
der Vorstellung, sondern auf den Namen bezieht. Von allen ihrem Inhalt
nach verschiedenen Vorstellungen gilt in alle Ewigkeil der Satz , dass
die eine nicht die andere ist; aber das würde zu keinerlei positiver Er-
kenntniss führen, wenn wir nicht durch die verschiedenen Gesichts-
punkte ihrer Vergleicbung Mittel gewannen über ihre Verhaltnisse
und Beziehungen zu urtbeilen. Die dritte Classe von Fallen, wo wir
über Uebereia Stimmung und Nichtübereinstimmung urtheilen, bietet die
Coexistenz d. h. die gleichzeitige Verknüpfung der Merkmale in den Din-
gen dar ; die vierte soll die Anerkennung oder Voraussetzung der Exi-
stenz des Vorgestellten bezeichnen«182) Die Unterscheidung dieser vier
Glassen scbliessl eigentlich zwei verschiedene Gesichtspunkte ein ; die
beiden ersten halten sich innerhalb des Vorstellungskreises selbst, die
beiden letzten beziehen sich auf das Verhaltniss der Vorstellung zu den
als wirklich gedachten Objecten der Vorstellung; sie können aber in so
fern unter den ersten Gesichtspunkt gebracht werden , als in der als
wirklich vorgestellten Verknüpfung der Merkmale in den Dingen der
Grund der Annahme liegt, dass die diesen Merkmalen. entsprechenden
Vorstellungen mit einander verknüpfbar sind, und dass der Begriff der
Existenz selbst eine von den Vorstellungen ist, welche in die verglei-
chenden Operationen des Erkennens mit eingeht. Uebrigens bemerkt
4 64) a. a. 0. § 3. To vnderstand, wherein this agreement or disagremneni consists,
l think we may retinae ü all to these four sorts: 4) identity or diversüy, 2) relation,
3) coexistence or necessary conneccion , 4) real eatistenoe. § 7 . Wühin these four sorts of
agreement or disagreememt i$, I suppose, contained all the knowledge we have or are
capable of: for all the enquvries that we can make coneerning any of our ideas, all that
we knotv or can affin* coneerning any of them, is, that itisoris not the same wiiit some
other; that it does or dorn not always coexisi wüh some other idea in the same subjeet;
that ü hos this or that relation to some other idea; or that U hos a real ewistence.
4 62) a. a. 0. § 4—7.
63] Lockb's Lbhrb von »kr vknscul. Erkenntniss u.s. w. 473
Locke selbst, dass Identität und Coexistenz eigentlich nur Verhält-
nisse bezeichnen, dass es ihm aber rathsam geschienen habe, sie aus
der Masse der letzteren herauszuheben, weil sie dem Denken so eigen*
thttmliche Veranlassungen der Bejahung und Verneinung darbieten, dass
sie eine gesonderte Betrachtung verdienen.163)
Handelt es sich nun darum, die Arten oder, wie Locke sagt, die
Grade der Erkenntniss m) zu bestimmen , so reduciren sich diese zw»
nächst auf zwei Classen, je nachdem die Entscheidung über Ueberein-
stimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen unmittelbar oder
mittelbar, durch andere vermittelnde Vorstellungen erfolgt. Die erstere
nennt er die intuitive, die zweite die demonstrative Erkenntniss,
Die intuitive Erkenntniss wirkt unwiderstehlich, sie sc hl i esst jeden Zwei-
fel, jeden Aufschub der Entscheidung aus und bietet den grösstmttg-
liehen Grad der Gewissheit dar.185) Die demonstrative Erkenntniss be-
darf der Vehnitlehmgen amderer Vorstellungen, deren Darlegung der
Beweis ist; aber so wie das demonstrative Denken in jedem Punkte
seines Fortschreitens auf die intuitive Erkenntniss der Uebereinstimmung
oder Nichtübereinstimmung der den Fortschritt vermittelnden Begriffe
zurückgewiesen ist,160) so unterscheidet es sich von der letzteren auch
463) a. a. 0. §7. Though identity and coexistence are truly notking but relations,
yet they are so peeuHar ways of agreement and disagreement of our ideas, that they deserve
well to be oonsidered as dfrtihcl heads and not wider relaüon m general.
4 64) Locke unterscheidet degrees of knowledge (B. IV, eh. II) und degrees of assettf
(B. IV, eh. XVI). Der erste Ausdruck bezeichnet in der That Arten der Erkenntniss,
der zweite den Grad der Zustimmung, den uns eine Art der Erkenntniss sbnöthigt.
4 65) B. IV, eh. II, § 4 . ff we wift reflect on our own ways of thinkthg, we shall
find, that sometimes the mind pereeives the agreement or disagreement of two ideas im-
mediatety by themsetves, witkout the intervention of any other; and this I think we may
call intuitive knowledge . . . Such kmd of truths the mind pereeives at the first sight'
of the ideas together, by bare intuition, . . . this kind of knowledge i$ the elearesi and
most eertain that human frailty is capable of. This part of knowledge is rrresütible, and
Uke bright sunshme forces itself immediately to be pereewed, as soon as ever the mind
turns its view that way, and leaves no room for hesitation doubt or examinaUon. —
<§ S. When the mind cannot so bring its ideas together, as by their tmmediate comparison
and as it were juxtaposithn . . . to pereewe their agreement or disagreement, it is fam
by the Intervention of other ideas to discover the agreement and disagreement, wkkh H
searches; and this is that wkkh we caU reasoning. § 3. Those mtervenmg ideas . . .
are catted proofs.
4 66) i. a. 0. § 7. In every step reason makes in demonstrative knowledge, there
is an intuitive knowledge of that agreement or disagreement Ü seeks with the next tnter-
mediate idea, which it uses as a proof.
474 G. Hartekstbih, [64
dadurch, dass es, so gewiss auch der geführte Beweis sein mag, doch
den Zweifel nicht ausschliesst und überhaupt dem durch eine Reihe von
Spiegeln reflectirten Lichte gleicht, welches bei jedem Reflexe etwas
von seiner ursprünglichen Helligkeit verliert.107)
Alles, was nicht unter diese intuitive oder demonstrative Erkennt-
niss fällt, gehört in das Gebiet der Meinung oder des Glaubens. Streng
genommen , würde dabin auch die sinnliche Erkenntniss gehören d. h.
die Voraussetzung, dass unseren Yorsteliungen von den Dingen auch
wirklich Dinge entsprechen. Denn obwohl nichts gewisser sein könne,
als dass wir die Vorstellungen, die wir auf ein wirkliches Object bezie-
hen, wirklich haben, so sei doch das ein Gegenstand des Zweifels, ob
diese Beziehung der Vorstellung auf die Objecte sich rechtfertigen lasse.
Indessen da, wenn Alles nur ein Traum wäre, alles Denken und Forschen
sehr unnütz sein würde, und da der hartnackigste Skeptiker, der z. B.
das Feuer, cjas ihn brennt, für einen Traum erkläre, doch wenigstens
die Verknüpfung seines Schmerzes mit der Vorstellung des brennen-
den Dings nicht leugnen könne, so scheine es gerechtfertigt, wenn aus-
ser den beiden oben genannten Arten der Erkenntniss noch eine dritte,
die sinnliche, angenommen werde.168)
Auf Grund dieser Bestimmungen unternimmt nun Locke die defini-
tive Abschätzung sowohl des Umfangs als der Realität der menschlichen
Erkenntniss. Da alle Erkenntniss in der Wahrnehmung der Ueberein-r
4 67) a. a. 0. § 4—6.
4 68) a. a. 0. § 4 4. These two, intuüion and demonstration, are the degrees of our
knowledge; whatever comes short of one of these, with what assurance soever embraced,
is but faith, or opinion, but not knowledge, at least in all general truths. There is indeed
another perception of the mind, employed about beyond bare probability and yet not
reaching perfectly to either of the foregoing degrees of certainty. . . . There can be nothing
more certain, than that the idea we receive from an external object, is m our mind. . . .
But whether there be any thing more than barely that idea in our minds; ... is that,
whereof some man think there may be a question made. ... If any one say a dream may
do the same thing, and all those ideas may be produced in us without any external objects,
he may please to dream that I make htm the answer, 4 ) that is no great matter, whether
I remove his scruple or no; where all is bu,t dream, reasoning and argumenta are of no
use, ... 2 ) that I believe he will allow a very manifest differenee between dreaming of
being in the fire and being actually in it . . . So that, l think, we may add to the two
former sorts of knowledge this also of the existence of particular external objects . . . and
allow these three degrees of knowledge, viz. intuitive, demonstrative and sensitive. B.IY,
eh. XI behandelt diesen Gegenstand noch einmal.
65] Locke's Lehre von der mensghl. Erkenntniss u. s. w. 175
Stimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen besteht, so
kann es zunächst keine Erkenntniss geben , wo die Vorstellung fehlt.
Es kann auch keine geben, wo die Verhältnisse der Vorstellungen
nicht innerlich wahrgenommen oder gedacht werden.109) Es folgt daraus,
dass der Umfang der Erkenntniss nicht nur geringer sein wird , als die
Wirklichkeit der Dinge, sondern auch beschränkter, als der Umfang un-
serer Vorstellungen. Denn während die sinnliche Erkenntniss sich nicht
weiter erstreckt als die Wirklichkeit , die gerade jetzt unsere Sinne be-
rührt, bieten sich weder mittelbar noch unmittelbar, also weder für die
intuitive noch für die demonstrative Erkenntniss, alle die Beziehungen
dar, welche zwischen den Vorstellungen möglich sind.170) Gewiss, sagt
Locke, ist die menschliche Erkenntniss einer grossen Erweiterung fähig,
wenn die Menschen aufrichtig und mit voller Geistesfreiheit auf die Ent-
deckung der Wahrheit denselben Fleiss und denselben Eifer wenden
wollten, den sie anwenden, um Irrthilmer, Parlbeiinteressen, einmal an-
genommene Systeme zu vertheidigen ; aber er spricht zugleich die Ueber-
zeugung aus, dass unsere Erkenntniss niemals alles das umfassen werde,
was wir zu wissen wünschen, und dass es immer unmöglich bleiben
werde, gewisse Fragen, die sich auf Vorstellungen beziehen, die wir
haben, zu beantworten.171)
Werden diese allgemeinen Sätze auf die vier Classen der Fälle be-
zogen , rücksicbtlich deren eine Entscheidung über Uebereinstimmung
und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen gesucht wird , Identität,
Coe&istenz, Relation und Wirklichkeit, so ergeben sich folgende nähere
Bestimmungen zunächst über den Umfang der Erkenntniss. Was zuerst
Identität und Nichtidentität der Vorstellungen anlangt, so ist in Beziehung •
auf sie der Umfang der Erkenntniss immer so gross, als der Umfang
unseres Vorstellens ; denn es ist unmöglich, eine Vorstellung zu haben,
ohne unmittelbar zu wissen , dass sie sich selbst gleich und von jeder
andern verschieden ist.172) Die Erkenntniss der Coexistenz dagegen d. h.
169) ff. IV, eh. III, § 4. 2.
470) a. a. Ü. § 3 — 5. § 6. From all which is evident, that the extent of out
knowledge comes not only short of the reality of things, but even of the extent of our own
ideas.
\1\) a. a. 0. § 6. Zu diesen Fragen rechnet er auch die, ob ein materielles
Wesen denken könne, deren Unbeanlworllichkeil er hier erörtert.
«72) a.a.O. § 8.
Abhandl. d. K. S. Gm. d. Wim. X. < 2
176 - G. Hartenstein, [66
der Verknüpfung der Merkmale in den Dingen , die wir als Substanzen
bezeichnen, ist äusserst beschränkt. Denn dass die sinnliche Erkennt-
niss, vermöge deren wir überhaupt die Wirklichkeit der Dinge anneh-
men, sich nicht weiter erstreckt als unsere Erfahrung, versteht sich von
selbst.173) Aber auch, was wir von den Dingen zu wissen im Stande
sind, ist auf die Grenzen der Erfahrung beschränkt. Unsere Vorstellun-
gen von den Dingen sind zunächst nichts als empirisch gegebene Com-
plexionen einfacher Vorstellungen und wir haben kein Mittel, weder über
die Ursachen gerade einer solchen Verknüpfung von Merkmalen, noch
über die Art, wie die abgeleiteten Qualitäten durch die ursprünglichen
bedingt sind, etwas zu entscheiden ; insofern aber in jeneComplexionen
auch die Vorstellungen activer und passiver Kräfte, welche den Dingen
inwohnen sollen, mitbestimmend eingehen, sind wir ebenfalls ganz und
gar an die Erfahrung gewiesen, und während es ein demonstratives von
der Erfahrung unabhängiges Wissen darüber gar nicht gibt , bezweifelt
Locke, dass selbst eine erweiterte Erfahrung darüber, welche Kräfte in
einer notwendigen Verknüpfung und in einem notwendigen Gegen-
satze unl£r sich und mit der empirisch gegebenen Beschaffenheit der
Dinge stehen, einen wesentlichen Aufschluss zu geben im Stande sein
werde.174)
Rucksichtlich der Beziehungen und Verknüpfungen der Vorstellun-
gen dagegen, deren Gültigkeit und Notwendigkeit von der Vergleichung
mit der Erfahrung unabhängig ist, gibt es nicht nur ein streng demon-
stratives Wissen, sondern es 1ässt sich im Voraus gar nicht bestimmen,
bis zu welchen Grenzen auf diesem Gebiete die menschliche Ei kenn t-
niss sich werde erweitern können. Locke beruft sich in dieser Bezie-
hung vor Allem auf das grosse Beispiel der Mathematik; aber er glaubt
nicht, dass das Gebiet eines mit vollkommener Sicherheit fortschreiten-
den strengen Wissens auf Grössenbegriffe beschränkt sei; er hält na-
mentlich die Moral einer gleich strengen Ausführung für zugänglich und
findet den Grund, dass die-BegrUndung und Erweiterung eines strengen
Wissens vorzugsweise der Mathematik gelungen ist, hauptsächlich darin,
dass die mathematischen Grundbegriffe weniger verwickelt sind als die
473) a. a. 0. § 21. Im Gebiete des objeetiv Seienden nimmt Locke davon nur
das Dasein Gottes aus, für dessen Existenz er einen demonstrativen beweis für möglich
hält. Vgl. B. IV, eh. X.
Mi) a. a. 0. § 10. 12. 13. 16.
67] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntnis u. s. w. 477
moralischen, dass der Mathematik ein vollkommen genau bestimmtes
und unzweideutiges Zeichensystem zu Gebote sieht und dass sie der
Unterstützung durch die sinnliche Anschauung zugänglich ist.179)
Trotzdem ist unsere Unwissenheit jedenfalls unvergleichbar viel
grösser als unser Wissen, und Locke hebt diese dunkle Seile des mensch*
liehen Denkens geflissentlich hervor, um darauf aufmerksam zu machen,
um wie viel notwendiger es sei, sich der Lösung von Aufgaben zuzu-
wenden, die innerhalb der Grenzen unserer Befähigung liegen, als sich
in dunkle Abgründe zu verlieren, wo unsere Augen uns gänzlich unnütz
sind.176) Die Ursachen unserer Unwissenheit liegen vor Allem darin,
dass uns Vorstellungen geradezu fehlen; in diesem Sinne sind die
Schranken unserer Organisation, die uns nur ein beschränktes Erfah-
rungsgebiet zugänglich macht, und die dadurch bedingten Schranken
der Erfahrung auch die Grenzen der möglichen Erkenn tniss.177) Die
zweite Ursache ist die Unmöglichkeit die vermittelnden Glieder zwischen
unseren Vorstellungen und den durch sie bezeichneten Thatsachen auf-
zufinden; als eines der zunächst liegenden Beispiele führt. Locke die
Unmöglichkeit an , den Zusammenhang zwischen den äusseren Verän-
derungen der Körper und unseren eigenen Vorstellungen nachzuwei-
sen.178) Eine dritte Ursache besteht darin, dass wir dem Inhalte der
Vorstellungen, die wir haben und haben können, keine strenge Folge
leisten ; sie besteht in der Ungelenkigkeit , Schwerfälligkeit und Nach-
lässigkeit des Denkens und kann zum grössten Theile vermieden wer-
den.17*)
476) a. a. 0. § 18—10.
476) a. a. 0. § SU.
477) a. a. 0. § 23 — £6. Distinct ideas of the several sorts of bodies, that fall
under the examination of our senses, perhaps we may have, but adequate ideas, I
suspect, we have not of any one amongst thern. And tho the former of these will serve us
for common use and diseourse, yet, whilst we want the latter we are not capable of
scientifical knowledge; nor shall ever he able to discover generale imtruetive, unquestion-
able truths concerning them. Certamty and demonstration üre things we must not, in these
matter s, pr elend on.
478) a. a. 0. § 28. How any thought should produce a moHon in body, is as
remote from the natwre of our ideas, as how any body should produce any thought in the
mind. That ü is so, if not experience did convince us, the consideration of the things
themselves toould never be able, in the least, to discover to us.
' 479) a. a. 0. § 30.
48*
178 G. Hartenstein, [68
Fragt man nun : worin besteht für Locke in letzter Instanz das, was
dem Denken den Charakter der Erkenntniss, des Wissens gibt, so liegt
die Antwort einfach in dem Satze : es ist die Anwendung der Formen
und die Befolgung der Gesetze des Denkens, vermöge deren es sich in
der Entscheidung über die Verhältnisse der Begriffe abschliessend von
dem Inhalte dieser Begriffe selbst leiten lässt. Die Wahrheit des Den-
kens ist gebunden an die Natur der Begriffe d. h. an das , was in ihnen
gedacht wird, an ihren Inhalt, und die in diesem Inhalte des Gedachten
liegenden Bestimmungen und Folgerungen sind ewige Wahrheiten,
nicht weil sie vor dem Denken und unabhängig von demselben exisli-
ren, sondern, weil sie für jede Intelligenz, die sich nach dem Inhalte des
Gedachten zu richten fähig ist, ohne Rücksicht auf Zeit Verhältnisse gül-
lig sind.180) Locke hält hiermit die Definition der Wahrheit fest, von wel-
cher er ursprünglich ausgegangen war, dass nämlich ihr wesentliches
Merkmal in der Uebereinstimmung der Gedanken nicht mit den Dingen,
sondern unter sich selbst liege. Aber er verbirgt sich zugleich nicht,
dass diese Bestimmung ungenügend erscheinen werde , weil eine Er-
kenntniss , die nur in der Uebereinstimmung der Gedanken unter sich
selbst bestehe, über das Verhältniss derselben zu den Dingen nichts
entscheide und blossen Phantasieen und Hirngespinsten denselben Werth
180) a. a. 0. § 3 \ . In respect of universality, . . . our knowledge follows the nature
of our ideas. If the ideas are abstretet, tu hose agreement or disagreement we pereeive,
our knowledge is universal. For what is knoum of such general ideas, will be true of
every particular thing, in which that essence i. e. tkat abstract idea is to be found,
and what is once known of such ideas, will be perpetually and for ever true. B. IV,
eh. XI, § \ 4 . Knowledge is the consequence of the ideas (be they what they will} , that
are in our minds producing their general certain propositions. Many of these are called
aeternae Verität es and all of them are indeed so, not from being written all or any
of them in the minds of all men, or that they were any of them propositions in any onefs
mind, tili he having got the abstract ideas . . . But wheresoever we can suppose such a
creature as man is, endowed which such faculties and thereby furnished which such ideas
as we have, we must conclude he must needs , when he applies his thoughts to the con-
sideration of his ideas, know the truth of certain propositions, that will arise from the
agreement or disagreement which he will pereeive in his own ideas. Such propositions
are therefore called et er na l truths, not because they are eternal propositions actually
formed and antecedent to the understanding , that at any times make them; nor because
the are imprinted on the mind from any pattern that are any where of them out of the
mind and existe before; but because being once made about abstract ideas, so as to be
true, they will . . . by a mind having those ideas allways actually be true. '
69] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. s. w. 179
zuzugestehen nöthige, wie den Untersuchungen des nüchternsten Men-
schen. Diese geforderte Uebereinstimmung der Gedankenverknüpfung
mit den gedachten Gegenständen nennt Locke die Realität der Er*
kenntniss, und um zu /eigen, in wiefern sie sich, trotz der Beschränkung
alles Erkennens auf das Denken, von blossen Einbildungen unterschei-
det, macht er folgende Gesichtspunkte geltend.181)
Wenn wir von Erkenntniss der Dinge sprechen , so gilt es sich zu
besinnen, dass wir von den Dingen durchaus nicht unmittelbar, sondern
lediglich vermittelst unserer Vorstellungen wissen, und man spricht von
Realität der Erkenntniss, .sofern angenommen werden kann , dass die
Vorstellungen den Dingen entsprechen. Worin besteht nun das Kriterium
der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen
mit den Dingen? Wie kann das auf sich selbst beschränkte Denken wis-
sen, ob es den Dingen entspricht? Um diese Frage zu beantworten, ist
es nöthig die verschiedenen Classen der Vorstellungen zu unterschei-
den.181)
Was zuerst die einfachen Vorstellungen anlangt, so müssen sie
gerade desshalb, weil das Denken sie nicht aus sich selbst erzeugen
kann , bedingt sein durch die Einwirkung der Dinge auf den Geist. Sie
sind also keine Einbildungen, sondern natürliche und regelmässige Wir-
kungen der ausser uns vorhandenen Dinge ; sie zeigen uns die Dinge
zwar nicht, wie sie sind, aber sie zeigen sie uns als solche Erscheinun-
gen , welche die Dinge in uns hervorzurufen geeignet sind. In sofern
stimmen unsere einfachen Vorstellungen mit der Existenz der Dinge
überein, in einer Weise , die ausreichend ist um uns in der uns umge-
benden Welt zurechtzufinden.183) Und darauf beruht auch die Realität
181) B. IV, eh. IV, § 1 . 2. If our knowledge of our ideas terminate in them and
reach no further 9 where there is something further mtended, our most serious thoughts
will be of lütle more use, than the reveries of a crazy brain .... But I hope, to make it
evident, that this way of eertainiy , by the knowledge of our own ideas, goes a lütle
further than bare imaginationt and 1 believe it will appear, that aü the eertainiy of gene-
rai truths a man has, lies in nothing eise.
«82) a. a. 0. § 3.
183) a. a. 0. §4. The simple ideas represent to us things under those appearances
which the are fitted to produce in us; whereby we are enabled to distinguish the sorts of
particular substances, to discern the states they are in and to take them for our necessities
and apply them to our uses. . . . Thus the idea of whiteness . . . has all the real conformity
it ean orought to have with things without us. And this conformity between our simple
ideas and the existence of things is sufficient for real knowledge.
480 G. Hartbnstkin, [70
unserer Erkenntniss von den Substanzen, obgleich sie an die empirische
Wahrnehmung einer gewissen Verbindung von Merkmalen der Dinge
gebunden und auf sie beschrankt ist.184)
Alle übrigen Complexionen von Vorstellungen sind dagegen gar
nicht darauf angelegt, Copieen oder Abbilder von irgend etwas ausser
ihnen zu sein , sie beziehen sich nicht auf existirende Dinge , als ihre
Originale, sondern sie bezeichnen nichts als sich selbst. Dass also diese
Begriffe Realität haben d. h. dass der Begriff mit dem, was er bezeich-
net, übereinstimmt, ist ganz unzweifelhaft. Und diese Uebereinstimraung
erstreckt sich über die blossen Gedanken hinaus zu den Dingen selbst;
denn in allem Denken und Schliessen, welches sich innerhalb dieser
Begriffe bewegt, betrachten wir die Dinge, insofern (nicht sowohl unsere
Vorstellungen mit ihnen, als vielmehr) sie, die Dinge, mit unseren
Vorstellungen und Gedanken übereinstimmen.185) Das aus-
gebreiteteste Beispiel dieser Art von Erkenntniss bietet, wie schon be-
merkt, die Mathematik dar, die jedermann nicht nur für eine gewisse,
sondern auch für eine reelle Erkenntniss hält und welche gleichwohl
sich nur mit Vorstellungen und Begriffen beschäftigt, ohne dass die
Wahrheit und Wirklichkeit dieser Erkenntniss von der Existenz der
Gegenstände abhängt, an denen die mathematischen Bestimmungen vor-
kommen mögen. Dass die drei Winkel eines Dreiecks zwei rechten gleich
sind, ist eine reelle Erkenntniss, gleichviel ob ein dreieckigtes Ding
existirt oder nicht. Und eben desshalb, weil der Geometer die Dinge
insofern betrachtet, in wiefern sich geometrische Bestimmungen an ih-
nen finden, kann er daraufrechnen, dass, was von den geometrischen
484) a. a. 0. § \l. Herein tkerefore is founded the reality of our knowledge con-
cerning substances, that all our comp lex ideas of them must be such and such only, as are
made up of such simple ones, as hos been discovered to coexist in tiature. And our ideas
being thus true, tho* not perhaps very exact copies, are yet the subjects of real {as far as
we have any) knowledge of them.
185) a. a. 0. § 5. All our complex ideas except those of substances , being arche-
types of the minds own making, not intended to be the copies of any thing, not referred
to the existence of things as to their original, cannot want any conformity necessary to
real knowledge. . . . So that we cannot but be infallibly certain that all (he knowledge
we attain concerning these ideas is real and reaches the things themselves. Because in all
our thoughts, reasoning and discourses, we intend things no far t her, than as they
are conformable to our ideas. So that in these we carvnot miss of a certain and
undoubted reality.
71] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 481
Constructionen, insofern auch von den Dingen gelten wird.186} Eben so
verhält es sich mit den moralischen Begriffen; auch sie bedeuten nichts
Anderes als sich selbst; sie richten sich nicht nach dem, was ist und
geschieht, sondern dieses wird nach ihnen bestimmt, und wenn der Ge-
danke richtig ifijt, dass der Mord den Tod verdient, so wird dieser Satz
von jeder wirklichen Handlung,. die dem Begriffe des Mordes entspricht,
ebenfalls gültig sein.187)
So ist Wahrheit immer ein Prädicat von Sätzen , und ein Satz ist
wahr, wenn er eine den Verhältnissen der Dinge d. h. des Gedachten
entsprechende Verknüpfung oder Trennung der Zeichen enthält.188) Aber
gerade darum, weil bei der Unentbehrlichkeit der Sprache zur Bezeich-
nung der Gedanken die Menschen oft in Begriffen zu denken glauben»
während sie nur Worte mit einander verknüpfen, ist es nothwendig, die
gedachte, begriffsmässige Wahrheit von der blos in den Worten liegen-
den zu unterscheiden.180) Die ausführliche Erörterung, welche Locke
diesem Unterschiede widmet, hat die Absicht zu zeigen, dass das auf
eine fortschreitende Erkenntniss gerichtete Denken in gewissem Sinne
unabhängig sei und sich unabhängig halten müsse von der Sprache;
dem wissenschaftlichen Denken ist sein Weg nicht nothwendig durch
die in der Sprache vorhandenen Vorstellungscomplexe vorgezeichnet,
sondern durch den Inhalt des Gedachten selbst. Desshalb ist die in dem
sprachlichen Ausdruck liegende Wahrheit theils mehr als die gedachte;
denn sie enthält ausser dem Verhältniss der Begriffe auch noch die Be-
ziehungen der Worte aufeinander; theils weniger, denn sie kannr ob-
gleich wahr, doch leer an Erkenntniss sein.190) Zu solchen, den Worten
486) a. a. 0. § 6. 7. Vgl. eh. XII, § 7.
«87) a. a. 0. § 7—9. Vgl. B. III, eh. XI, §16.
4 88) B. IV, eh. V, § 8. Truth seems to me, in the proper import of the word, to
signify nothing but the joining and separating of signs, as the things signißed by them do
agree or düagree one with other. So that truth properly belongs only to propositions.
1 89) a. a. 0. § 3. To form a clear notion of truth, it is very necessary to consider
truth of thought and truth of words, distinctly one of another; but yet it is very difficult
to treat of them asunder, because it is unavoidabie, in treatmg of mental propositions, to
make use of words; and then instantes given of the mental propositions cease immediately
to be barely mental and become verbal. For a mental proposition being nothing but a
bare consideration of the ideas, as they are in our mmds slripped of names, they lose the
nature of pure mental propositions, as soon as they are put into toords. Zur Erläute-
rung § 4.
4 90) a. a. 0. § 6. When ideas are so put together or separated in the mind, as
182 6. Hartenstein, [72
nach wahren, aber für die Erkenntoiss unfruchtbaren Sätzen rechnet er
erstlich alle identischen Sätze. Den Wahn, als ob durch identische Sätze
etwas erkannt werde, vergleicht er mit der Erwartung eines Affen, der
dadurch satt zu werden hofft, dass er eine Auster aus einer Pfote in die
andere wirft.191) Sodann sind aber auch alle die Sätze unfruchtbar für
die Erkenntniss, in denen ein oder mehrere Merkmale eines Begriffs von
diesem selbst ausgesagt werden; wie namentlich in allen den Fällen
geschieht, wo der Gattungsbegriff von einer Art prädicirt wird; ein Ver-
fahren, welches nützlich sein mag, um einem Andern auseinanderzusetzen,
was man bei einem bestimmten Begriffe denkt , welches aber die Er-
kenntniss selbst nicht im geringsten vermehrt.192) Ueberhaupt alles Den-
ken , welches entweder ein Abstractum an die Stelle des andern setzt,
nnd somit über den Inhalt des Begriffs, mit welchem man zu thun hat,
nicht hinausführt , bewegt sich lediglich in Worten und ist leer an Er-
kenntniss, ein Satz, durch welchen Locke, obgleich er den Unterschied
analytischer und synthetischer Urtheile nirgends ausdrücklich gelten
macht, doch so hart an der Grenze der Einsicht, dass jede wirkliche
Erweiterung der Erkenntniss auf synthetischen Urtheilen beruht, streift,
dass eben nur die Bezeichnung solcher Urtheile als synthetischer fehlt.19*)
Enthalten alle Sätze, welche den Gattungsbegriff von der Art prä-
diciren, nicht eine Erweiterung und Vermehrung, sondern lediglich eine
Auseinandersetzung oder Wiederholung dessen, was wir schon wissen,
so ist es sehr natürlich, dass Locke die Frage aufwirft, in wie fern es
möglich sei , allgemeine Sätze mit dem Anspruch auf Erkenntniss auf-
they or the things they stand for, do agree or not, that is, as I may call ü, mental
truth. But truth of words is something more, and that is the affirming or denying of
words one of another , as the ideas they stand for agree or disagree. And this agam is
twofold, either purely verbal and trifling, . . or real and instructive. Vgl. § 8.
491) B. IV, eh. VIII, § 3.
192) a. a.O. §4. Another sort of triflmg propositions is, when a part of the com-
plex idea is predicated of the name of the whole. . . Such are all proposüions toherein
the genta is predicated of the species. §9.0/' this sort a man may find an infinite number
of propositions, reasonmgs and conclusions in books of metaphysicks, school-divinity and
some sort of natural phüosophy; and afler all, know as litüe of God, spirits or bodies,
as he did before he sei out.
193) a. a. 0. § 43. This, I think, I may lay down for an infallible rule, that,
whatever the distinet idea any toord Stands for, is not knoum and considered, and some-
thing, not contained in the idea, is not affirmed or denied of ü, there our thoughts
stick wholly in sounds and are able to attain no real truth or falshood.
73] Locke's Lehre von der mbnsghl. Erkenntnis u. 8. w. 183
zustellen. Allgemeine Sätze sind ihm, wie allgemeine Begriffe, eine Ab-
breviatur des Denkens; indem sie eine Masse von Einzelnheilen umfas-
sen, erweitern sie den Gesichtskreis, verkürzen den Weg der Forschung,
und sind diejenige Form, in welcher sich das Denken vorzugsweise be-
wegt.194) Die Wahrheit eines allgemeinen Satzes hängt aber immer von
der Kenntniss der Grenzen und des Wesens dessen ab, was in den Um-
fang der in ihm vorkommenden allgemeinen Begriffe fällt. Solche genaue
Grenzbestimmungen sind nun allerdings möglich bei den einfachen Vor-
stellungen und den modus; denn bei ihnen fällt das nominelle und reelle
Wesen zusammen, d. h. der Begriff ist bei ihnen die Sache selbst. Aber
ganz anders verhält es sich bei allgemeinen Sätzen über die Dinge, die-
sen Complexionen von Merkmalen, denen wir ein unbekanntes Substra-
lum, die Substanz, unterlegen. So lange wir nicht wissen. — und wir
wissen es in der That nicht, — wie ursprünglich die sinnlichen Merk-
male der Dinge bedingt sind , welches notwendige Band sie unter ein-
ander verknüpft, ja, wie überhaupt die Körper in uns Empfindungen
und Vorstellungen erwecken, können wir von ihnen keinen Satz mit dem
Anspruch auf strenge Allgemeinheit aussprechen, zumal überdies der
grösste Theil dessen , was wir den Dingen als beharrliche oder wech-
selnde Eigenschaft beilegen , auf äusseren zum Theil sehr entlegenen
und unbekannten Bedingungen beruhen mag.198) Möglich, dass der Fleiss
194) B. IV, ch.V, §10.
195) B. IV, eh. VI, § 4. Because we cannot be certain of the truth of any general
proposition, unless we know the precise bounds and extent of the species the terms stand
for, it is neeessary we should know the essence of eaeh species , which is that which con-
stitutes and bounds it. This, in all simple ideas or modes, is not hard to do. For in these
the real and nominal essence being the satne, or, which is all one, the abstract idea which
the general term Stands for, being the sole essence and boundary that is or can be suppo-
sed of the species, there can be no doubt , how far the species extends or what things are
comprehended under each term. . . . But m substances, wherein a real essence, distinet
from the nomiml, is supposed to constitute, determine and bound the species, the extent
of the general word is very unceriain; because, not knowing this real essence, whe cannot
know what is or is not of that species. §13. All general knowledge lies only in our own
thoughis and consists barely in the contemplaHon of our own abstract ideas. Wherever
we pereeive any agreement or disagreement anongst them, there we have general know-
ledge and by pulting the names of those ideas together accordmgly in proposiUons can
with certainty pronounce general truths.. But because the abstract ideas of substances, for
which their speeifick names stand, . . . have a discoverable connexion or inconsistency with
but a very few other ideas, the certainty of universal proposiUons concerning substances
184 G. Hartenstein, [74
und die Geschicklichkeit der Beobachtung durch scharfsinnige Verknüp-
fung der Phänomene auf Vermuthungen Führt, welche die jetzige Erfah-
rung Überschreiten; es werden das aber immer nur Vermuthungen blei-
ben, denen die strenge Gewissheit und Allgemeinheit fehlt. Diese bleibt
beschränkt auf das Gebiet der Begriffe, die ohne den Anspruch das Wesen
der Dinge zu bezeichnen nichts bedeuten als sich selbst, also, nach
Locke's früheren Bestimmungen, die mathematischen und ethischen.196)
Trotz des Gewichtes, welches Locke auf die Allgemeinheit der
Erkenntniss innerhalb der Grenzen legt, in denen sie ihm als erreichbar
erscheint, aber auch zugleich im Zusammenhange mit dem Satze, dass
rücksichtlich der Erkenntniss der Wirklichkeil die Wahrheit des Allge-
meinen auf der Wahrheit des durch dasselbe gedachten Besonderen be-
ruht, ist er, theilweis nicht ohne eine gewisse Ironie über die Pedanterie
der Schulphilosophie bemüht, die Unfruchtbarkeit oder wenigstens die
Entbehrlichkeit der allgemeinen Formen und Formeln nachzuweisen,
deren bewusst volle Anwendung die wissenschaftliche Methodologie als
ein unentbehrliches Hülfsmittel des Denkens geltend macht. Es gehören
hierher die beiden Gapitel über die Axiome und über den Syllogismus,
als die angeblich notwendigen Regulatoren und unentbehrlichen For-
men des fortschreitenden Denkens.
Rücksichtlich der Axiome, die er gewöhnlich Maximen nennt, d. h.
der unmittelbar gewissen und allgemeinen Sätze, welche für bestimmte
Gebiete der Erkenntniss die unentbehrliche Grundlage darbieten sollen,
fragt er zuvörderst, innerhalb welcher Gebiete sich dergleichen Sätze
überhaupt nachweisen lassen. In Beziehung auf die Existenz, die
Wirklichkeit der äusseren Dinge gibt es gar keine, rücksichtlich der
Verknüpfung der Merkmale in den Dingen gibt es deren nur überaus
wenige; alle oder wenigstens die meisten solcher unmittelbar gewisser
Sätze beziehen sich auf Einerleiheit oder Verschiedenheit oder auf die
Beziehungen der Begriffe.1*7) In beiderlei Rücksicht sind aber eigent-
lich alle Sätze gleich evident und unmittelbar gewiss, welche eine un-
is very narrow and scanty in that pari, which is our prirtcipal enquiry concernmg them.
Vgl. die § 8 — \l analysirten Beispiele.
196) a. a. 0. § «3.
497) B. IV, eh. VII, § 5 — 7. Rücksichtlich der Verknüpfung der Merkmale in den
Dingen ist Locke geneigt den Satz, dass zwei Körper nicht in demselben Räume zu*
gleich sein können, für einen unmittelbar gewissen Satz zu halten.
T5] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 185
mittelbare Entscheidung über das Verhältniss oder die Beziehung meh-
rerer Begriffe enthalten. Jeder Begriff ist, was er ist, und für Jeden, der
einen bestimmten Begriff denkt, ist es unmittelbar gewiss, dass die-
ser Begriff dieser und nicht ein anderer ist. Die Satze: ein Mensch ist
kein Pferd, oder: wenn ich von den fünf Fingern jeder Hand zwei weg-
nehme, so bleiben an jeder Hand drei, sind eben so evident, als der
Satz: es ist unmöglich, dass etvvafe zugleich sei und nicht sei, oder der:
Gleiches zu Gleichem und Gleiches von Gleichem gibt Gleiches.108) Wenn
nun die Schulphilosophie gewisse allgemeine Sätze, die sie wegen ihrer
unmittelbaren Evidenz Axiome oder Maximen nennt, Für die entweder
der Zeit oder der Sache nach ersten Erkenntnisse und somit für die
Grundlage des fortschreitenden Denkens erklärt, so ist das ein Irrthum.
Einzelnvorstellungen sind früher, als allgemeine; das Kind weiss viel
früher, dass die Ruthe kein Zucker ist, als es an den Satz des Wider-
spruchs denkt, und eben so wenig ist der Satz : das Ganze' ist gleich der
Gesam rotheit seiner Theile, der Grund der Erkenntniss, dass 1+2 = 3
ist; vielmehr nimmt ein Denken, welches sich des Inhaltes des Gedach-
ten bewusst ist, in unzähligen Fällen das Verhältniss dieses Inhaltes un-
mittelbar wahr, ohne erst den Umweg durch die aus allgemeinen Be-
griffen gebildeten Sätze zu nehmen, welche man Axiome nennt.190) So
wie aber diese Axiome keinen Beweis für spezielle an sich evidente
198) a. a. 0. § 4. Every one finds in himself, that he knows the ideas he has; that
he knows also, when any one is in his understanding and tohat it is; and that, tvhen more
than one, are there, he knows them distinctly and unconfusedly one from another. Which
ahoays being so {it being impossible but that he should perceive what he perceives), he
can never be in doubt, when any idea is in his mind, that it is there and is that idea it
is, and that two distinct ideas, when they are in his mind, are there and are not one and
the satne idea. Die Beispiele § 6.
199) a. a. 0. § 9. 1 0. These magnified maxims are not the principles and founda-
tions of all our other knowledge. For if there be a great tnany other truths which have
as much selfevidence as they and a great many that we fcnow before them, it is impossible
they should be the principles from which we deduce all othw truths. . . . What idea soever
is affirmed of itself or whatsoever two entire distinct ideas are denied one of another,
the mind eannot but assent to such a proposition, . . . as soon as it widerstand the terms,
. . . without . . . regarding those made in more general terms and called maxims. §H:
1 . 2. Vgl. IV, cb. XII, § 3. These general rules are but the comparing our more general
and abstract ideas, which are the workmanship of the mind, made . . for the easier dis-
patch in its reasonitigs and drawing into comprehensive terms and short rules its various
and multiplied observations.
486 6. Hartenstein, [76
Sätze und daher auch niemals die Begründung einer Erkenntnis ent-
halten, so sind sie auch untauglich zur Erweiterung der Erkenntniss und
zur Entdeckung vorher unbekannter Wahrheiten. Die grossen Entdeckun-
gen eines Newton sind nicht bedingt durch die Anwendung des Satzes
der Identität und der arithmetischen und geometrischen Axiome , son-
dern durch die Auffindung der die Wahrheit der von ihm entdeckten
Sätze vermittelnden Begriffe. Der Nutzen , den dergleichen allgemeine
Sätze haben, besteht lediglich darin, dass sie ein Mittel theils der ge-
ordneten Mittheilung schon gewonnener Erkenntniss, theils der Wider-
legung im Verkehr mit hartnäckigen Streitköpfen sind. Sind vollends die
Begriffe Falsch und unklar, kleben die Gedanken an den Worten» statt
bestimmte Vorstellungen zu bezeichnen, so werden dergleichen mit
aromatischer Gewissheit ausgesprochne Allgemeinheiten geradezu eine
Stütze von Irrthümern, wie Locke z. B. an der cartesianischen Gleich-
setzung der Begriffe des Raums und des Körpers weitläuftig auseinander-
gesetzt.300)
Ganz in ähnlicher Weise spricht er Über den Nutzen, welchen die
bewusstvolle Auwendung des "syllogistischen Formalismus für die Sicher-
heit und den Fortschritt der Erkenntniss habe. Bei den engen Grenzen,
an welche die sinnliche Empfindung und die unmittelbaren Entschei-
dungen über das Verhältniss der Empfindungen gebunden sind , beruht
der grösste Theil der Erkenntniss auf Deductionen und Schlüssen, also
auf Vermittelungen des Denkens.'201) Diese Thätigkeit des Subsumirens
und Schliessens legt er einem besondern Vermögen, der Vernunft (reason)
bei und ihre Functionen bestehen erstlich in der Auffindung der vermit-
telnden Begriffe (sagacity), zweitens in der Anordnung derselben, um
ihren Zusammenhang übersehen zu können, drittens in der Wahrneh-
mung dieses Zusammenhanges , endlich viertens in der Ableitung des
Schlusssatzes.302) Erkläre man nun den Syllogismus für das grosse
Werkzeug der Vernunft und für den sichersten Wegweiser in der Aus-
übung dieses Vermögens, so sei zuvörderst deutlich, dass der Syllogis-
mus eigentlich nur die Verknüpfung der vermittelnden Glieder des Be-
weises vor Augen legt und dass diese Verknüpfung in jedem einzelnen
«00) B. IV, cb.VII, § II. JSfgg.
201) B. IV, eh. XVII, § 2. Sense and intuition reach but a very little%way. The
greatest part of our knowledge depends upon deduetions and intermediate ideas.
102) a. a. 0. §3.
77] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 1 87
Fälle eben so gut ohne die Hülfe der syllogistischen Regeln wahrgenom-
men werden kann als mit ihr, man müsste denn annehmen, dass Nie-
mand ohne das Bewusstsein jener Regeln einen richtigen Schluss ma-
chen könne, wobei es nur unbegreiflich sein würde, wie Aristoteles
selbst jene Regeln und Formen habe entdecken können.308) Die Anord-
nung der vermittelnden Begriffe, die der Syllogismus nicht finden lehrt,
hänge von dem Inhalt der Begriffe selbst ab und die syllogistische Form
könne der Einsicht in die Verhaltnisse der Begriffe nichts hinzufügen.904)
Allerdings lasse sich jede Schlussfolge in syllogistischer Form darstel-
len, und Leute, die daran gewöhnt sind, mögen dies Ihun; aber, gänz-
lich unfähig unsere Ei kennt niss zu erweitern , sei der Syllogismus im
besten Falle nichts als die Kunst, die Erkenntniss, die man schon bat,
geltend zu machen.205)
Diese Erörterungen Locke's über die Entbehrlichkeit und den ge-
ringen Werth der syllogistischen Formeln berühren keineswegs seine
Ueberzeugung von der Allgemeingültigkeit und Noth wendigkeit des de-
monstrativen Wissens, sondern sie lehnen für ein auf dasselbe gerichtetes
203) a. a. 0. § 4. God hos not been so sparing to men to make them barely ttop-
legged creatures and left it to Aristotle to make them rational t. e. those few of them that
he could get so to examine the grounds of syllogisms, as to see, that m above thrcescore
toays that three propositions may be laid together, there are but about fourteen, wherem
one may be sure that the conelusion is certain and in the other not. ... I say not this any
way to lessen Aristotle . . . And 1 readily own, that all right reasoning may be reduced
to his forms of syllogism. But yet 1 think without any diminution to htm, 1 may truly
say, that they are not the only , nor the best way of reasoning . . . And he himself, it is
piain, found out some forms to be conclusive and others not; not by the forms themselves,
but by the original way of knowledge i. e. by the visible agreement of ideas.
204) a. a. 0. (p. 293.) The natural order of the connecting the ideas must direct
the order of the syllogisms and a man must see the connexion of each intermediate idea
with those that it connect, before he com with reason make use of it in syllogism.
205) a. a. 0. (p. 298.) If men skilled in and used to syllogisms* find them assisting
to their reason tri the discovery of truth, I think they ought to make use of them. AU that
l am at is, that they should not ascribe more to these forms than belongs to them. § 6.
The rules of syllogism serve not to furnish the mind with those intermediate ideas that
may shew the connexion of remote ones. . . . Syllogism, at best, is but the ort of fencing
with the Utile knowledge we have, without making any addüion to it. — Der allgemeinen
Beurtheilung des Werths der syllogistischen Formen gegenüber ist die Bemerkung,
welche Locke über die gewöhnlich angenommene Stellung der Begriffe im Syllogismus
macht/ so wie die Bestreitung des Satzes, dass in jedem Syllogismus wenigstens eine
allgemeine Prämisse vorkommen müsse (§ 8), nur von untergeordneter Bedeutung.
188 G. Hartenstein, [78
Denken nur die Notwendigkeit ab, seine Operationen an das Bewusst-
sein jener Regeln und Formeln zu knüpfen. Nicht diese logischen Regeln
und Formeln geben den Gedankenverbindungen ihre Nolhvvendigkeit
und Allgemeingültigkeit:, sondern der Inhalt und die Beziehungen des
Gedachten selbst. Aber der Umfang des demonstrativen Wissens und
seiner Grundlage, des intuitiven, ist sehr gering; die Lage des Menschen
würde namentlich rücksichtlich seiner praktischen Bedürfnisse sehr hülf-
los sein, wenn er sich in seinem Fürwahrhallen und seinen Entschließ
9
sungen lediglich hieran halten sollte, und so unterlässt Locke nicht, auch
noch die Arten des Fürwahrhaltens ins Auge zu fassen, welche nicht
unter den Begriff des unmittelbaren intuitiven und des strengen demon-
strativen Wissens fallen, und nimmt davon Gelegenheit, am Schlüsse
des gahzen Werks das Verhältniss des prüfenden Denkens zum religiö-
sen Glauben näher zu bestimmen.
Den Ersatz des Mangels an strengem Wissen bildet im Allgemeinen
das Urtheil nach Wahrscheinlichkeit, ein Fürwahrhalten aus Gründen,
die, wie Locke sagt, nicht unveränderlich oder als solche der Erkennt-
niss zugänglich sind, sondern nur in den meisten Fällen uns ausreichend
erscheinen.10") Darauf gründet sich der Unterschied zwischen Wissen
und Glauben, und die Grade der Wahrscheinlichkeit, so wie des damit
verbundenen Fürwahrhaltens richten sich nach der Sicherheit der Be-
obachtung, der häutigen Wiederholung der Erfahrung, der Zahl und der
Glaubwürdigkeit der Zeugen.207) Für Meinungen über Dinge die nicht
durch Erfahrung und Zeugniss constatirt werden können , erklärt Locke
die Analogie als das Mittel einer wahrscheinlichen Erkenntniss/ohne
auf die Bedingungen und Grenzen des Schlusses nach Analogie näher
einzugehen; denSchluss nach Induction zergliedert er nirgends ausführ-
206) B. IV, eh. XIV, § 3. The faculty which God hos given man to supply the
want of clear and certain knowledge, is judgment; whereby the mind takes its ideas to
agree or disagree, or, which is the same, any proposition to be^true or false, wühout
pereeiving a demonstrative evidence in the proofs. § 4. Judgment is the putting ideas
together or separatmg them from one another in the mind, when their certain agreement
or disagreement is not pereeived, but presumed to be so. eh. XV, § I. Probability is
nothing but the appearance of such an agreement or disagreement, by the intervention of
proofs , whose connexion is not constant and immutable or at ieast is not pereeived to be
so, but is or appears for the most part to be so and is enough to induce the mind to
judge the proposition to be true or false rather than the cohlrary. Vgl. eh. XYfl, § 17.
807) B. IV, eh. XIV, § 6.
79] Locke's Lehre von der uenschl. Erkenntisiss u. s.w. 189
lieh, wie überhaupt nirgends in seinem Werke Erörterungen vorkommen,
die auf einen besonderen Einfluss der Lehre Baco's von Verulam auf ihn
schliessen lassen/06) Dagegen könnte es auffallen, dass er die durch die
Offenbarung beglaubigten Wunder ausdrücklich von den Fallen aus-
nimmt, wo eine der Erfahrung zuwiderlaufende Behauptung die Kraft
des Zeugnisses aufhebe ,m) wenn nicht seine Bestimmung des Verhält-
nisses zwischen Vernunft und Glauben sehr deutlich lehrte, wie wenig
er geneigt war, die Rechte des prüfenden Denkens einer äusseren Auto*
rität gegenüber aufzuopfern.
Unter dem Glauben, im Unterschiede oder, wenn man so will, im
Gegensatze zur Vernunft versteht Locke die Zustimmung zu Sätzen,
welche ohne einen durch die natürlichen Erkenntnisskräfte aus dem In-
halte der Begriffe abgeleiteten Beweis, sich auf die Glaubwürdigkeit
dessen stützt, der dergleichen Sätze durch ausserordentliche Mittheilung
von Gott erhalten zu haben versichert. Eine solche Mittheilung heisst
Offenbarung, und zwar eine ursprüngliche, während die Mittheilung
ihres Inhalts durch den, der sie zuerst empfangen hat, eine überlie-
ferte Offenbarung sein würde.210) Eine ursprüngliche Offenbarung vor-
ausgesetzt, bemerkt nun Locke zuvörderst, kann der, welchem sie ge-
worden ist, anderen* Menschen durchaus keine einfache Vorstellung mit-
theilen, die ihnen nicht vorher durch Sensation oder Reflexion bekannt
gewesen wäre. Denn jede Art der Mittheilung müsste sich bestimmter
Zeichen bedienen; durch Zeichen aber ist es nur möglich, Vorstellungen
mitzutheilen, die schon vorher bekannt waren. .Es lässt sich ferner zwar
die Möglichkeit denken , dass die nämlichen Wahrheiten , welche wir
208) B. IV, eh. XVI, § 12. —.Für das Verhältnis» zwischen Locke und Bacon
ist geradezu entscheidend, dass während dieser das Wissen auf Induction gründet
oder wenigstens beschränkt, jener ein lediglich auf eine Masse beobachteter Fälle be-
ruhendes Fürwahrhalten von dem Begriffe des Wissens ausschliesst und in das Gebiet
der blossen Wahrscheinlichkeit verweist.
209) a. a. 0. § 43. 44.
240) B. IV, eh. XVIII, § 2. Reason, as contr adis Unguis hed to faith, I take to be
the diseovery of the certainty or probability of such propositions or truüis, tvhich the
mind arrwes at by deduetion made from such ideas tohich it hos got by the use of its
natural faculties. Faith is the assent to any proposition not thus made out by the de-
duetion of reason, but upon the credit of the proposer, as Coming from God, in some
extraordmary way of communication. This way of dtocovering traditipn to men is called
revelation.
490 G. Hartenstein, [80
durch vernünftiges Denken erreichen können, durch Offenbarung mit-
getheilt werden. Aber in diesem Falle würde die letztere weder not-
wendig, noch sonderlich nützlich sein, weil uns unabhängig von ihr
Mittel zu Gebote stehen würden, diese Erkenntnisse zu erlangen und
eine durch eigenes Denken gewonnene Erkenntniss besser begründet
ist, als ein Fürwahrhalten , welches sich lediglich auf das Factum der
Offenbarung stützt. Dies gilt nicht blos von der Demonstration z. B.
eines geometrischen Lehrsatzes, sondern selbst von äusseren Thatsachen;
wie z. B. der, welcher die Sündfluth miterlebt hätte, eine grössere Zu-
versicht über dieses Factum haben würde , als der sie aus der Bibel
kennen lernt.211)
Eben desshalb kann auch der Anspruch, mit welchem ein geoffen-
barter Satz auftritt, den denkenden Menschen nicht dazu bringen, etwas
für wahr zu halten, was evidenten Sätzen zuwiderläuft. Man wird einen
solchen Satz nicht für geoffenbart halten können und zwar desshalb,
weil, ob der fragliche Satz wirklich von Gott mitgetheilt ist und ob der,
welchem er mitgetheilt ist, ihn richtig verstanden habe, immer einem
möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt, während ein wirklich evidenter
Satz eben dadurch evident ist, dass er den Zweifel ausschliesst.312) Dies
gilt sogar für den unmittelbaren Empfänger der Offenbarung, wie viel
mehr da, wo es sich um eine überlieferte Offenbarung handelt. Um die
Frage zu entscheiden , ob ein bestimmtes Buch , welches mit dem An-
spruch auftritt, geoffenbarte Sätze zu enthalten, wirklich geoffenbart sei,
bedürfte es einer diese Behauptung des Geoffenbartseins bestätigenden
zweiten Offenbarung. In allen den Fällen also, wo wir durch unser
2H) a. a. 0. § 3. 4. The knowledge we have that this revelation came at first
from God, can neuer be so sure as the knowledge we have from the clear and distmct per-
ception of the agreement or disagreement of our own ideas. . . . The like hold» in inaUer
of fact, knowable by our senses.
t\%) a. a. 0. § 5. We can never assent to a proposition, that affirms the same
body is in two distant places at once , however it should pretend to the authority of a
divine revelation, since the evidencef first, that we deceive not ourselves in ascribing it to
God, secondly, that we understand it right, can never be so great, as the evidence of our
own intuitive knowledge . . . And therefore no proposition can be recewed for divine reve-
lation or obtain the assent due to all such, if it be contradictory to our clear intuitive
knowledge; because this would be to subvert the principles and foundations of all know-
ledge, evidence and assent whatsoever. And there would be left no difference between
truth and falshood, no measurea of credible and incredible in the world u. s. w. Vgl. § 8.
81] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 191
eigenes Denken ein evidentes Wissen erlangen können, ist die Vernunft
der competente Richter; die Offenbarung kanu ihre Entscheidungen be-
stätigen , aber ihre Gesetze nicht aufheben.213) Als der einzige Gegen-
stand des Offenbarungsglaubens bleiben daher nur Sätze übrig, über
welche wir entweder keinerlei Erkenntnissquelle haben, welche also die
Vernunft übersteigen, oder rücksichtlich deren uns nicht vollkommen
entscheidende Gründe des Fürwahrhaltens zu Gebote stehen.214) Alles,
was Gott wirklich geoffenbart hat, ist wahr und gewiss , daran ist kein
Zweifel ; aber ob das, was als geoffenbart hingestellt wird, wirklich eine
Offenbarung ist oder nicht, das hat die Vernunft zu beurtheilen, und
namentlich bei einer überlieferten Offenbarung wird sie nichts für offen-
bart halten können , was ihren an sich selbst klaren und evidenten Er-
kenntnissen widerstreitet. Wolle man diese Grenzbestimmung zwischen
Vernunft und Glauben nicht zulassen, so werde man sich gefallen lassen
müssen, dass die Religion der Vernunft ganzlich entbehre, und sich je-
des Rechtes begeben , gegen die ausschweifendsten religiösen Meinun-
gen und Ceremonien Einspruch zu thun.215) Dass endlich jeder, der mit
dem Anspruch auftritt, dass ihm eine Offenbarung von Gott zu Theil
geworden sei, und sich dabei auf ein inneres Licht, auf die Wirkung des
Geistes in ihm u. s.w. beruft, sich die Frage gefallen lassen müsse, ob
er nicht eine schwärmerische Selbsttäuschung für eine ihm gewordene
Offenbarung halte, hätte Locke nach dem im 18. Capitel Vorgetragenen
kaum nöthig gehabt so ausführlich auseinanderzusetzen, als er im
1 9. Capitel thut.
213) a. a. 0. § 6. In all things, where we have clear evidence front our ideas and
those prindples of knowledge / have above mentioned , reason is the proper judge, and
revelation, though it may in consenting with it confirm its dictates, yet cannot in such
cases invaUdate its decrees.
314) a. a. 0. § 7. There being many things, w her ein we have very imperfect
notions or none at all, and other things, ofwhose past, present, or future existence by
the natural use of our faculties we can have no knowledge at all, these as being beyond
the discovery of our natural faculties and above reason, are, when revealed, the proper
matter of faith. Vgl. § 9. § 10. Nothing that is contrary to ani inconsistent with the
clear and self-evident dictates of reason hos a right to be urged or assented to as a matter
of faith, wherein reason hath nothing to do. Die Vernunft nennt Locke eine natürliche
Offenbarung, welche die historische Offenbarung überschreitet, aber nicht widerlegen
kann. B. IV, eh. XIX, § 4.
215) a. a. 0. §11.
Abhaodl. d. K. S. Gel. d. Wisi. X. i 13
192 G. Hartenstein, [88
vn.
•
Ein zusammenfassender Ueberblick über das Ganze der Lehren
Locke's dürfte nun in der That. durchaus nicht das Urtheil rechtfertigen,
dass seine Ansicht von dem menschlichen Wissen den empiristischen
Charakter hat, durch den man sie gewöhnlich ausreichend bezeichnen
zu können glaubt. Freilich behauptet er, dass alle unsere Vorstellungen
in letzter Instanz rücksichtlich ihrer Elemente auf die Erfahrung zurück-
geführt werden müssen, aber gleichwohl wäre es nicht richtig, seinen
Satz: wovon wir keine Vorstellung haben, davon igt auch keine Er-
kenritniss möglich, in den Satz zu verwandeln: wovon wir keine Erfah-
rung haben , davon haben wir keine Vorstellung. Denn jene Ableitung
der Vorstellungen aus der Erfahrung ist für ihn erstlich nicht auf die
äussere sinnliche Erfahrung beschränkt, sondern die innere Wahrneh-
mung der Veränderungen, welche die geistige Thätigkeit mit dem sinn-
lichen Erfahrungsstoffe vornimmt, und derRückschluss auf die verschie-
denen Arten dieser Thätigkeit , somit auch die diesen Thätigkeiten vor-
auszusetzende verschiedenartige Befähigung , kraft deren in dem Unter-
scheiden, Vergleichen, Abstrahiren, Combiniren, Folgern u. s.w. eine un-
bestimmte Mannigfaltigkeit von der äusseren Erfahrung veranlasster, aber
in dem äusseren Erfahrungsstoffe nicht unmittelbar mitgegebener Vorstel-
lungsgebilde zu Stande kommt, fällt für ihn eben so in das Gebiet der er-
fahrungsmässig gegebenen Thatsachen, als die sinnliche Empfindung der
Eigenschaften, durch die sich uns die Dinge verrathen. Den Unterschied
zwischen Receptivität und Spontaneität, die Kant. — und zwar lediglich
als Ausdruck einer Thatsache — dem menschlichen Geiste beilegt, kann
Locke, wenn auch nicht ganz im Sinne Kant's, ebenfalls für sich in An-
spruch nehmen. Zweitens aber bezeichnet diese Berufung auf äussere
und innere Erfahrung bei Locke nur den Anfang, den Ausgangspunkt
nicht sowohl unseres Erkennens, als vielmehr lediglich unseres Vorstel-
lens und Denkens; und nur in dieser Beziehung hat die Frage, ob ein
Denken, welches in gar keinem nachweisbaren Zusammenhange mit dem
erfahrungsmässig Gegebenen stände, einen Anspruch auf Erkenntniss
habe, an dieser Stelle für ihn gar keine Bedeutung; denn ursprünglich
gibt es kein solches Denken.
Was aber viel wichtiger ist, als diese beiden Punkte, — die von
Locke behauptete Unmöglichkeit, den Vorstellungen und Gedanken einen
,83] Locke's Lehre von der mensciil. Erkenntnis^ ii. s. w. 193
andern Ursprung als einen empirischen zuzuschreiben, ist für ihn nir-#
gends der entscheidende Gesichtspunkt, wo es sich darum handelt, den
Gehalt der Erkenntniss zu bestimmen. Bestimmt man das wesentliche
Merkmal des Empirismus dahin , dass er die natürlichen Producte der
passiven und activen Bewegung der Vorstellungen und Gedanken, also
die unwillkührlich durch den Verkehr mit der Aussenwelt und die inne-
ren; zum grossen Theile unwillkürlichen Tätigkeiten entstandene Welt-
ansicht für wahr, ftlr übereinstimmend mit der Beschaffenheit der da-
durch vorgestellten Dinge hält, so sind die Resultate, zu welchen Locke
gelangt, das gerade Gegentheil des Empirismus, indem sie entweder das
Verhältniss der Vorstellungen zu djem Vorgestellten unbestimmt lassen,
oder es in der nachdrücklichsten Weise aussprechen, dass der empirisch
überkommene Vorstellungskreis keinen Anspruch auf Wahrheit in die-
sem Sinne hat, oder endlich darauf hinweisen, dass diejenige Formation,
Verknüpfung und Erweiterung des Gedankenkreises, welche auf den
Namen des Wissens Anspruch machen kann, von dei1 Erfahrung insofern
ganz unabhängig ist, als der Beweis ihrer unerschütterlichen Gewiss-
heit durchaus nicht auf den Nachweis weder ihres Ursprungs aus der
Erfahrung, noch ihrer Uebereinstimmung mit der Erfahrung gegrün-
det ist.
Rücksichtlich des ersten Punktes muss an die Art erinnert werden,
wie Locke sich über die Existenz der Aussenwelt und das Verhältniss
unserer Vorstellungen zu der Qualität der Dinge äussert. Er macht kei-
nen Anspruch darauf die Existenz der äusseren Dinge beweisen zu
können; aber die Zuversicht, mit welcher wir die sich uns ganz unwill-
kührlich aufdringenden Sinnesempfindungen sammt den eben so unwill-
kttbrlichen Gefühlen der Lust und des Schmerzes, die sie in uns hervor-
rufen, nicht als lediglich von dem wahrnehmenden Subject, sondern von
den Objecten verursacht ansehen, ist für ihn gross genug, um sich des
Streits mit einem Skepticismus zu begeben, der entschlossen wäre, die
ganze Welt der sinnlichen Wirklichkeit für einen Traum zu erklären
(vgl. oben S. 174). Rücksichtlich des ursachlichen Verkehrs zwischen
den Dingen und dem empfindenden Subject bescheidet er sich ebenfalls,
keine strenge Theorie aufstellen zu können; er hält die Art, wie die Gar-
tesianische Schule dieses Verhältniss zu erklären suchte, für eine wahr-
scheinliche Hypothese, aber das Wesen der Seele erklärt er für gänzlich
unbekannt. Eine gewisse Hinneigung zu den Voraussetzungen der damals
13*
194 6. Hartenstein, [84
herrschenden mechanischen Naturphilosophie verfuhrt ihn, Ausdehnung,
Undurchdringlichkeit, Gestalt und Beweglichkeit als den körperlichen
Dingen an sich zukommende Urqualiüilcn beizulegen; aber er hat die
vollkommen klare Einsicht, dass, was wir sonst als sinnlich wahrnehm-
bare Eigenschaften den Dingen zuschreiben, nicht das Was derselben,
sondern nur ihrVerhältniss zu dem wahrnehmbaren Subject bezeichnet;
unsere sinnlichen Vorstellungen sind keine Abbildungen der Eigenschaf-
ten der Dinge, obwohl sie ihren Kräften und Veränderungen proportio-
nal sind.
Lehrt uns mithin die sinnliche Empfindung über das Wesen der
Dinge nichts, so gilt dies in gleichem Grade von den Begriffen, von den
Kategorieen, unter welche das Denken die Dinge und Ereignisse sub-
sumirt. Die Metaphysik hatte seit Aristoteles dadurch ein Wissen über
die Dinge gewinnen zu können geglaubt, dass sie die Vorstellungsarlen
der natürlichen Weltauffassung in logische Abstracta verwandelte; und
diese genügsame Voraussetzung zerstört Locke. Nicht in so fern, als ob
er durch eine genaue psychologische Nachweisung, wie die die gewöhn-
liche Weltansicht beherrschenden Begriffe der Substanzialität und Cau~
salität entstehen, ihre Unangemessenheit an den wahren Sachverhalt vor
Augen gelegt hatte; eine solche Nachweisung ist abgesehen von den
Schwierigkeiten der Psychologie ohnedies ohne ein anderweit schon
gewonnenes metaphysisches Wissen nicht möglich; auch nicht in so fern,
dass er in der gegebenen Beschaffenheit dieser Vorstellungsarlen das
Motiv eines fortschreitenden, auf ihre Umbildung und Berichtigung ge-
richteten Denkens gefunden oder auch nur gesucht hätte ; sondern da-
durch, dass er die breite Kluft des Nichtwissens aufdeckt, welche die
Begriffe der Substanz und der Kraft zwar einem kritiklosen Denken ver-
decken» aber nicht ausfüllen. Sein grosses Verdienst liegt viel weniger
auf dem Gebiete der Psychologie, — leistet er doch auf eine Theorie
des geistigen Lebens geradezu Verzicht und seine psychologischen Er-
örterungen sind durchaus fragmentarisch, — als vielmehr auf dem der
Metaphysik ; seine allgemeine Ansicht, dass unsere Vorstellungen durch
die Erfahrung entstehen , verfolgt er nirgends in das Specielle der Ent-
stehung bestimmter Vorstellungen; aber er unterwirft die wichtigsten
von den Begriffen, die, welches auch ihr Ursprung sein möge, mit dem
Anspruch auf Erkennlniss der Dinge auftreten, einer prüfenden Kritik.
Er ist fast unermüdlich in der Nach Weisung, dass die natürliche, und
85] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss ü. s. w. 195
von der Schulphilosophie zu einem Lehrsatze erhoben Voraussetzung
der Substanz, des Dings mit mehreren Merkmalen, sammt der Ver-
knüpfung der Merkmale unter sich und mit der Substanz weder über
das Wesen des Einen (der Substanz), noch über das Band zwischen
dem Einen und dem Vielen (den Accidenzen) einerseits, noch über das
zwischen den letzteren unler einander den allergeringsten Aufschluss
gibt, und dass die Dinge, insofern wir sie durch diese Begriffe auf-
fassen, vollkommen eben so unbekannt bleiben, als wenn wir sie ohne
diese Begriffe auffassten. Die Unbrauchbarkeit des überkommenen Be-
griffs der Kraft und des Vermögens legt er nicht mit derselben Ausführ-
lichkeit vor Augen; aber wenn er die Veranlassung, von activen Kräf*
ten zu sprechen, nicht in dem Verkehr mit der Aussen well, sondern in
der Wahrnehmung unserer eigenen inneren Thätigkeit findet und doch
zugleich das Wesen der Seele für unbekannt erklärt , so liegt darin ein
ausreichender Grund, den Gebrauch dieser Begriffe für einen Nothbehelf
zu erklären, dessen wir nicht entbehren können, um die Beziehungen
der Dinge zu bezeichnen, ohne dass wir dadurch einen Aufschluss über
die innere Natur dieses Verhältnisses gewinnen. Die Beschränktheit
Locke's liegt darin, dass er nirgends einen Versuch macht, auf dem Wege
eines nothwendigen Denkens die Grenzen des einmal vorhandenen Ge-
dankenkreises zu überschreiten ; und es kann dahin gestellt bleiben , ob
der Grund davon darin liegt, dass er dies, ähnlich wie Kant, auf theo-
retischem Wege für unmöglich hält, oder darin, dass er nirgends einen
Versuch macht , die Lücken unseres Wissen in bestimmten Problemen
zu formuliren, in denen möglicherweise die Motive ihrer Lösung gefun-
den werden könnten ; aber wenn er an die Stelle der Metaphysik die
bescheidenere Aufgabe der Naturforschung setzt, so hat er, trotz der
Einsicht, dass die Erweiterung und Berichtigung, die die menschliche
Erkenntniss von ihr zu erwarten hat, nicht eigentlich auf demonstrative
Gewissheit, sondern nur auf allmählig wachsende Wahrscheinlichkeit eine
Aussicht eröffnet, dadurch wirklich den Weg bezeichnet, auf welchem
seit seiner Zeit thatsächlich grosse Erfolge und zwar ohne Mitwirkung
eines Einverständnisses über die Fragen der Metaphysik erreicht wor-
den sind.
Trotz dieser Verzichtleistung auf ein eigentlich metaphysisches
Wissen gibt es dennoch für Locke ein Gebiet, innerhalb dessen ein
notbwendiges und allgemeingültiges Wissen allerdings möglich ist; aber
196 G. Hartenstein, [86
es liegt nicht in der Beziehung der Begriffe auf die Dinge, sondern in
den Beziehungen der Begriffe auf einander. Es gibt eine Notwendig-
keit des Denkens, eine Abhängigkeit der Begriffs« und Gedankenver-
knüpfungen, bei welcher der Geist nicht mit den Dingen, sondern ledig-
lich mit den Begriffen beschäftigt ist, dergestalt dass die Begriffe sich
nicht nach den Dingen , sondern diese , in sofern sie Object einer Er-
kenntniss durch Begriffe werden, sich nach den Begriffen richten. (Vgl.
S. 180.) Die beiden Wissenschaften, welche demgemäss einen streng
demonstrativen Charakter entweder haben, oder dessen fähig sind, sind
die Mathematik und die Moral. Dass die Mathematik, obgleich die Vor-
stellungen des Raums und der Zahl mit der Auflassung der uns umge-
benden Welt unauflöslich verwebt sind, ihren Erkennlnissgründen nach
von der Erfahrung unabhängig ist, dass sie, indem sie den Verhältnissen
der Zahl- und Raumgrössen nachgeht, ein Wissen erreicht, dessen Gül-
tigkeit und Nothwendigkeit nicht daran gemessen werden kann, ob die
Objecto ihrer Constructionen existieren, and dass dieses Wissen, weil
die Bedeutung der Begriffe, die Qualität des Gedachten und die in ihr
begründeten Folgerungen eben so unabhängig von dem Belieben des
Denkenden, als von der Existenz der Objecte sind, eine strenge Allge-
meingüJtigkeit hat, — diese Einsicht bildet einen eben so wesentlichen
Bestandteil der Lehre Locke's als seine Ansicht von der Art, wie der
Mensch zu seinen Vorstellungen gelangt. Einen gleichen demonstrativen
Charakter legt er auch der Moral bei, indem das Lob und der Tadel, die
sich im moralischen Urtheil aussprechen, sich lediglich an die Vorstel-
lung gewisser Willensbestimmungen und Handlungen knüpfen und die
Angemessenheit oder Unangemessenheit der Handlungen an die in jenen
Urtheilen liegende Regel lediglich der Vergleichung der Handlung mit
der gedachten Regel bedarf, um in ihr ihr Maass zu finden.
Diese Grehzbestimmung zwischen dem Gebiete des Nichtwissens
und des Wissens ist nun in der That ganz unabhängig von der Frage
nach dem Ursprünge der Vorstellungen ; auch beruft sich dabei Locke
nirgends auf eine besondere Einrichtung des menschlichen Geistes, aus-
ser insofern, als einer Intelligenz, welche unfähig wäre, sich des Inhalts
ihrer Vorstellungen bewusst zu werden, sie zu unterscheiden und zu
vergleichen, jegliche Erkennlniss überhaupt verschlossen sein würde;
sondern der letzte Stützpunkt des Erkennens ist für Locke der Inhalt
des Gedachten selbst und die Nothwendigkeit des logischen
87] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 497
Denkens. Wenn er gleichwohl den Satz der Identität und des Wider*
Spruchs , eben so wie die Axiome der Arithmetik und Geometrie in der
Form einer abstracten Allgemeinheit, in welcher sie an die Spitze dieser
Disciplinen gestellt zu werden pflegen, nicht Tür falsch, sondern für ent-
behrlich hält; so geschieht dies desshalb, weil er zeigen zu können
glaubt, dass ein Denken, welches sich in den Verknüpfungen der Ge-
danken durch den Inhalt des Gedachten selbst bestimmen lässt, nicht
nötbig habe, den Umweg durch diese allgemeinen Formeln zu nehmen,
sondern durch die Vergleichung und Beziehung der Begriffe selbst in
jedem einzelnen Falle zu der Anerkennung der darin liegenden Conse-
quenzen sich genöthigt finde. Die psychologische Frage nach dem Ur-
sprung der Begriffe ist für diese Endentscheidung über das Gebiet, in
welchem es ein nicht seinen Veranlassungen, sondern seinem Gehalte
nach von der Erfahrung unabhängiges Wissen gebe, vollkommen irrele-
vant; der Ursprung der Begriffe entscheidet ihm nichts über Richtigkeit
und Unrichtigkeit der Sätze, in denen ein wirkliches oder eingebildetes
Wissen sieb ausspricht.
Die allgemeinsten Umrisse der Locke'schen Lehre dürften sich dem-
gemäss in folgenden Sätzen aussprechen lassen. Der Mensch ist mit sei-
nen Vorstellungen, Begriffen, Gefühlen u. s. w. sich selbst ein unmittel-
bar Gegebenes ; aber ohne die äussere Erfahrung würde es kein Vor-
stellungsbild der Aussen weit für ihn geben und die Gewalt, mit welcher
die sinnlichen Empfindungen sich uns aufdringen, ist stark genug, um
die Voraussetzung der Wirklichkeit der diese Empfindungen irgendwie
verursachenden Dinge gegen einen Skepticismus aufrecht zu erhalten,
der Alles nur für einen Traum zu erklären geneigt wäre. Aber es gibt
keine Metaphysik als eine allgemeingültige und nolh wendige Erkenntniss
des Wesens der Dinge; die Proportionalität, welche zwischen den Em-
pfindungen und den Qualitäten der Dinge stattfinden muss, gibt keinen
Aufcchluss über diese Qualität selbst ; die Naturforschung ist auf fort-
schreitende Erfahrung angewiesen, um in der erweiterten und genaue-
ren Auffassung des empirischen Materials Anknüpfungspunkte für mehr
oder weniger wahrscheinliche Hypothesen zu finden. Das Gebiet des
reinen und strengen Wissens eröffnet sich erst da , wo das Denken mit
seinem eigenen Inhalt beschäftigt von Gedankenbestimmungen zu Ge-
dankenbestimmungen so fortschreitet, wie es der Inhalt des Gedachten
selbst gestattet oder fordert. So verwandelt sich für Locke im Verlaufe
498 G. Habtbkstein, [88
«
der Untersuchung die Kritik des Erkennlnissvermögens in eine Kritik
■
der Erkenntniss d. b. der Begriffe, die mit dem Anspruch auf sie gedacht
werden, deren entscheidender Schwerpunkt nicht in seinen psychologi-
schen Annahmen , sondern in der Anerkennung der logischen Gesetz-
massigkeit liegt.
vm.
Die Untersuchungen Locke's hatten die Aufmerksamkeit Leibniz's
nicht erst zu der Zeit auf sich gezogen, wo dieser seine nouveaux essais
mr l' entendement humam schrieb, sondern schon im J. 1 696 hatte er eine
Reihe von kurzen Bemerkungen unter der Aufschrift : reflexions sur l'essai
de E entendement humain de Mr. Locke an diesen in der Absicht geschickt,
dass dieser Aufsatz der französischen Uebersetzung des Locke'schen
Werkes beigefügt werden sollte; und da dies nicht geschah, so wurde
er erst 1708 ohne Leibniz's Willen mit den nachgelassenen Briefen
Locke's veröffentlicht. Leibniz hatte hier anerkaunt, dass die Unter-
suchung über die menschliche Erkenntniss von der grössten Wichtig-
keit, ja der Schlüssel aller übrigen sei,216) und sogleich hinzugefügt, dass
es nach seiner Ansicht keine andern Erkenn tnissprineipien gebe, als die
Erfahrung und den Satz der Identität und des Widerspruchs ; 2I7) dass
aber eben desshalb die Beantwortung der Frage, ob es angeborne Vor-
stellungen gebe oder nicht, weder für den Anfang noch für die weiteren
Fortschritte des erkennenden Denkens von entscheidender Wichtigkeit
sei , weil die Gesetzmässigkeit des Schliessens sich nicht ändere, möge
man die Frage bejahen oder verneinen; überhaupt sei die Frage nach
dem Ursprünge der Vorstellungen gar keine Präliminarfrage für die Phi-
losophie ; man müsse vielmehr schon bedeutende Fortschritte in dersel-
ben gemacht haben, um sie beantworten zu können.218) Während diese
2 4 6) Leibnizii opera philosophica ed. Erdmann p. 4 36a. De toutes les recherches
il riy a point de plus importante, puisque c'est la clef de toutes les autres.
247) a. a. 0. p. 4366. Mon opinion est donc qu'on ne doit rien prendre pour
principe primüif, si non les experiences et V axiome de l'idcnticite ou ce qui est
la meme chose, de la contradiction, qui est primüif, puisqri autrement il riy aurait point
de difference entre la verite et la faussete.
2 4 8) a. a. 0. p. 137a. Pour ce qui est de la question, s'il y a des idees et des
verites creees avec nous, je ne trouve point absolument necessaire pour les commencemens,
M] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 199
Satze den psychologischen Vorbau, welchen Locke seiner Lehre von den
Grundlagen und den Grenzen der menschlichen Erkenntniss gegeben
hatte, für überflüssig erklären , in der Sache selbst aber eben dasselbe
aussprechen, was Locke will, stellt sich der avant-propos zu den nou-
veaux essais sur F entendetnent humain auf einen davon verschiedenen
Standpunkt. Es handle sich zuvörderst darum , ob die Seele eine leere
Tafel sei, so dass Alles, was von ihr vorgestellt werde, von den Sinnen
and der Erfahrung komme, oder ob sie ursprünglich die Principien einer
Mehrzahl von Begriffen und Salzen enthalte, welche die äusseren Objecto
nur gelegentlich zum Bewusstsein bringen'. Und hiervon hänge die
Beantwortung der andern Frage ab, ob alle Wahrheit sich nur auf Er-
fahrung, also auf Induclion und Beispiele gründe, oder ob es noch eine
andere Grundtage derselben gebe. Die sinnliche Wahrnehmung sei un-
entbehrlich für alle wirkliche Erkenntniss; aber sie gebe immer nur
einzelne Fälle, es fehle ihr die Noth wendigkeit uud es scheine daher,
dass notwendige Wahrheiten, wie sie die Mathematik enthalte, auf
Principien ruhen müssen , äderen Beweis nicht von der Erfahrung und
nicht von dem Zeugnisse der Sinne abhänge.219) Während also Leibniz
in dem früheren Aufsatze die Entscheidung über Wahrheit und Irr th uro
von der Ansicht über den Ursprung der Vorstellungen für unabhängig
erklärt hatte, weist er hier auf einen Zusammenhang beider Untersuchun-
gen hin. Indessen setzt er doch sogleich hinzu, dass sich vielleicht
Locke's Ansicht von der seinigen nicht so gar weit entferne. Denn indem
ni pour la pratique de fort de penser, de la dScider, soit qu*elles nous viennent tottjours
de dekors ou qu'elles viennent de nous; on raisonnera jusie pourvu qu'qn .. precede avec
ordre et sans prevention. La question de l'origine de nos idees et nos maximes n'est pas
preHminaire en philosophie, et il faul avoir faxt de grands progres pour la bien resoudre.
t19) a. a. 0. p. 1946. // s'agit de savoir si Vame en eile tneme est vuide entiere-
ment comme des tablettes, ou ton ria encore rien ecrit {tabula rasa) . . et si tout ce qui
y est traee vient uniquement des sens et de texperience, ou si tarne consent origtnairement
les prineipes de plusieurs notions et doctrines , que les objets externes reveillent seulement
dans les occasions ... p. 195a. D'ou il nait une autre question, savoir si toutes les veri-
tes dependent de texperience, c'est ä dire de tinduetion et des exemples, ou s'il y en a,
qui ont encore un autre fondement . . . Les sens quoique necessaires pour toutes nos con-
naissanees actuelles ... ne donnent jamais que des exemples, c'est d dire des verites par-
Uculieres ou individuelles. Or tous les exemples . . . ne sufßsent pas pour itablir la ne-
eessite universelle . . . D'ou il parait, que les verites necessaires, telles qu*on les trouve
dans les mathematiques pures • . . doivent avoir des prineipes, dont la preuve ne depende
point des exemples, ni par consequent du temoignage des sens.
200 6. Hartenstein, [90
er den Ursprung der Vorstellungen auf Sensation und Reflexion zurück-
führe, und die Reflexion nichts Anderes sei, als die Wahrnehmung des-
sen, was in uns ist und geschieht, ohne von den Sinnen dargeboten zu
werden, könne er mit ihm sagen, dass wir uns selbst angeboren seien.*0)
Und in der That wurde Locke gegen diesen Satz schwerlich etwas ein-
zuwenden gehabt haben, wenn er auch uriter den von Leibniz angeführ-
ten Beispielen angeborner Vorstellungen die des Seins, der Einheit,
der Veränderung, der Dauer, der Substanz u. s. w. abgelehnt haben
würde.
Geht man nun den Erörterungen , welche Leibniz im ersten Buch
seiner nouveaux essais dem entsprechenden Theil von Locke's Werk
gegenüberstellt, etwas genauer nach, so sollte man erwarte», dass er
nicht nur das Vorhandensein angeborner Begriffe oder, wie er gewöhn-
lich sagt, angeborner Erkenntnisse behaupten, sondern auch bestreiten
werde, dass irgend welche Vorstellungen durch den Verkehr mit der
Aussenwelt erworben werden. Denn die prttslabilirte Harmonie schnei-
det den Causalzusammenhang zwischen den Aussenwelt nnd den Vor-
stellungen ab ; nach ihr soll die Seele alle ihre Vorstellungen lediglich
aus sich selbst erzeugen, und wenn die sinnliche Wahrnehmung die ge-
legentliche Veranlassung bestimmter Vorstellungen ist, so ist damit kein
solcher Zusammenhang zwischen jener und diesen gesetzt, dass ohne
die sinnliche Affection die Entstehung der Vorstellung unmöglich wäre,
ausser in so fern als Gott den Parallelismus zwischen beiden ein für
allemal im Voraus geordnet hat. In der That erklart nun Leibniz , dass
er auf die Locke'sche Lehre zunächst aus dem Standpunkte einer Accom-
modation an die gewöhnliche Ansicht eingehen woHe,*") um za zeigen,
220) a. a. 0. p. 196a. Peut-etre que notre habile auteur ne s'ehignera pas entiere-
ment de mon sentiment. Cor . . . il avoue, . . que les idees qui riont point leur origine
dam la Sensation , viennent de la reflexion. Or la reflexion n'est autre chose, qu une
attention ä ee qui est en nous . . . Cela etant peut on wer, qu'il y a beaucoup dinne en
notre esprit, puisque nous sommes innes ä nous memes pour ainsi dire? p. 1966. Ainsi je
suis porte ä croire que dans le fonds son sentiment sur ce point n'est pas different du mien
Ott plutot du sentiment commun, (Tautant qu'il reconnoit deux sources de nos connaissances,
les sens et la reflexion.
221) a. a. 0. p. 2066. Je croisf que toutes les pensees et actione de notre ame
viennent de son propre fond, sans pouvoir lui etre donnees par les sens . . . Mais ä present
je meUrai cette recherche ä pari et m'accotnmodant aux expressions re$ues , puisqu' en
effect elles sont bonnes et soutenabks et qu'on peut dire dans un certain sens, que les sens
94] Locke's Lehbe von der mewschl. Erkenntkiss d. s. w. S04
dass, wie es sieb auch mit den sinnlichen Vorstellungen verhallen möge,
die Annahme angeborner Erkenntnisse nicht zu entbehren sei. Der
Grund, auf welchen er sich dafür beruft, ist jedoch lediglich der schon!
im avant-propos geltend gemachte, dass »icht angeborne, sondern durch
die Erfahrung erworbene Vorstellungen unfähig seien, notwendige Wahr-
heiten und Erkenntnisse darzubieten.222) Einen Beweis dafür, dass an-
geborne Vorstellungen nothwendig wahr sein müssen und nicht auch
möglicherweise falsch sein können , dass es also nur angeborne Wahr-
heiten und nicht auch angeborne Irrthümer geben könne, sucht man
vergebens ; denn die Berufung darauf, dass jene, die inteHectuellen Vor-
stellungen immer deutlich, diese, die sinnlichen verworren seien, kann
unmöglich für einen solchen gelten , da die Deutlichkeit eines Begriffs
von der Anwendung geistiger Operationen auf ihn abhängt, die in seiner
Unabhängigkeit von der sinnlichen Empfindung nicht unmittelbar mit-
gesetet sind. Die allgemeine Uebereinstimmung über gewisse Satze ist
für Leibniz kein* ausreichender Beleg ihres Angeborenseins , auch soll
die Berufung auf angeborne Erkenntnisse nicht als Ruhekissen der Ober-
flächlichkeit und Faulheit im Denken benutzt werden;228) gleichwohl er-
klärt er die Annahme solcher angeborner Erkenntnisse für unentbehrlich,
wenn man sich das thatsächlicbe Vorhandensein nothwendiger Wahr-
heiten erklären wolle.
externes sont cause en partie de nos pensees , fexaminerai comment on doit dire d mon
avis, encore dans le Systeme commun (partant de Faction des corps sur Farne ), qu'il y
a des idees et des prtHdpes, qui ne nous viennent point des sens et que nous trouvons en
nous sam les former, quoique les sens nous donnent occasion de nous en appercevoir..
222) a. a. 0. p. 207a. // (Locke) n'a pas assez disUngue ä mon avis Forigine des
verites necessaires, dont la source est dans Fentendement , davec celles du fait, qu'on tire
des experiences des%ens. p. 209a. Les verites necessaires sont innees et se prouvettt par
ce qui est interne, p. 2096. St Fesprit riavait que la simple capacite de recevoir hs oon*
naissances ou la puissance passive pour cela, aussi indeterminee que celle qua la cire de
recevoir les figures et la table rase des recevoir des teures, il ne serait pas la source des
verites necessaires u. s. w. p. 21 26 (§25). La nature ne s'est point donne inutilement la
peine de nous imprimer des connaissances innees , puisque sans elles il n'y aurait aueun
moyen de parvenir ä la connaissance actuelle des verites necessaires dans les sciences de-
monstratives.
223) a. a. 0. p. 207a. Je ne fonde pas la certüude des prindpes mnes sur le con-
sentement universel. — p. 2216. St c'est lä le dessein de vos amis de conseiller, qu'on
eher che les preuves des verites, sam distinguer si elles sont innees ou non, nous sommes
entierement daecord. vgl. p. 2066.
202 6. Hartenstein, P«
Vergleicht man jedoch die Art, in welcher er die Annahme ange*
boroer Erkenntnisse gegen die Locke'scbe Bestreitung derselben gehend
macht, so wird man sagen müssen, dass er dieses Angeborensein gar
nicht in dem Sinne behauptet, in welchem Locke es leugnet. Dieser hält
für die Entscheidung dieser Frage streng den Gesichtspunkt fest, dass
von angebornen Vorstellungen nur dann die Rede sein könne, wenn sich
nachweisen lasse, dass sie, gleichviel ob als Vorstellungen oder als Satze,
nicht nur vor allen andern Erkenntnissen als deren Grundlage, sondern
auch als solche bestimmt und deutlich sich im Bewusstsein ankündigen
und dass, wenn man jener Behauptung die Wendung gebe, dass jene
angeblich angebornen Erkenntnisse nur der Möglichkeit nach in uns an-
gelegt seien, dies nur eine leere Ausflucht sei, welcher gemäss feine
Masse von Erkenntnissen für angeboren erklärt werden müssten, die für
angeboren zu erklären Niemandem einfalle. Gerade diese Wendung aber
ist es, welche Leibniz in der Behauptung seines Satzes nimmt, und er
dehnt sie bis zu einem Umfange aus, innerhalb dessen der ganze Unter-
schied zwischen angebornen und erworbeuen Erkenntnissen schliesslich
wegfallt. Um zuvörderst die Locke'scbe Behauptung zu entkräften, dass
von dem, wovon wir kein Bewusstsein haben, auch nicht gesagt werden
könne, dass es im Geiste vorhanden sei, macht er auf die allgemeine
Thatsache aufmerksam , dass in den Tiefen der Seele eine Masse von
Vorstellungen und Gedanken ruhen, ohne dass wir uns in jedem Augen-
blicke derselben bewusst würden.224) In derselben Weise sind nun auch
die angebornen Vorstellungen nicht actuell, sondern virtuell in uns
vorhanden. Er bedient sich in dieser Beziehung wiederholt des Gleich-
nisses eines Marmorblocks, dessen von aussen unsichtbare Adern eine
bestimmte Gestalt einschliessen , die erst durch Bearbeitung desselben
zum Vorschein kommt. Sinnliche Wahrnehmungen, Unterricht, Reflexion
u. s. w. mögen noth wendig sein, um diese inneren Schätze an das Ta-
geslicht des Bewusstseins zu fördern ; aber sie bringen eben nur zum
Bewusstsein, was obgleich nur virtuell schon in uns liegt.223) Dieses
224) a. a. 0. p. 208a, §5. p. 21*6, §26. p. 217a, § 12.
225) a. a. 0. p. 2086. Rh. Si oti peut dire qu'une chose est dans tarne, quoique
Farne ne tau pas encore connue, ce ne peut etre qu'ä cause qu'eUc a la capacite ou faculte
de Ia connaüre. Th. Pourquoi ceia ne pourroit Ü aioir encore une autre cause, teile que
serait celle-ci, que tarne peut avoir cette chose en eile sans qu'on s'en soü appercu; cor
puisq'une connaissance acquise y peut etre cachee pour Ia memoire, pourquoi ia nature
93] Locke's Lehre von der menschl. Erkeihntisiss u. s. w. 203
virtuelle Vorbandensein will aber Leibniz nicht blos als Fähigkeit oder
Vermögen angesehen wissen ; der Nichtgebrauch einer Sache , die man
besitze, sei mehr, als die Möglichkeit sie zu erwerben ; mit der blos pas-
siven übrigens aber unbestimmten Fähigkeit, dergleichen Erkenntnisse
zu erwerben, werde der Geist immer noch nicht die Quelle notwendi-
ger Wahrheiten sein; er müsse vielmehr eine sowohl active als passive
Disposition haben, dergleichen Erkenntnisse aus sich selbst zu entneh-
men; und weil die Ausübung dieser Disposition dem Menseben natürlich
sei, spreche man eben von angeborenen Vorstellungen.230) So sind die
angebornen Erkenntnisse bei Leibniz tbeils nur Möglichkeiten, theite
mehr als leere Möglichkeiten, und daraus erklärt sich, warum er bald
ihr Hervortreten im Bewusstsein so darstellt, als hänge dies nur von der
Hinwegräumung eines Hindernisses, der Verdunkelung durch die sinn-
lichen Eindrücke ab, bald den Verkehr mit der Sinnenwelt geradezu als
die Bedingung der Reflexion auf sie und somit der bewussten Entwicke-
lung jener angebornep und nothwendigen Wahrheiten bezeichnet.227) In
beiden Fällen bedeutet das Angeborensein eigentlich nur die Anerken-
nung einer von der Erfahrung unabhängigen Zunölhigung des Fürwahr-
haltens oder des Handelns; diese Anerkennung ist auf dem theoretischen
Gebiete der Ausdruck der logischen Notwendigkeit, auf dem praktischen
ne pourraü-elk pas y avoir aussi cache quelque connaissance originale? Der Ausdruck
ebnnaissances virtuelles p. 208a. Das Gleichniss vom Marmorblock z. B. p. 196a, 2456.
226) a. a. 0. p. 209a. Avoir une chose sans s'en servirt est-ce la meme chose que
a" avoir seulement la faculte a* acquerir? Si cela etait, nous ne possederions jamais que
des ehoses dont nous jouissons, au lieu, qu'on sait, qu'outre la faculte et tobjet il faut
souvent quelque disposition dans la faculte . . . pour que la faculte s'exerce sur fobjet.
p. 2096 (vgl. oben Anm. 222). p. 210a. C'est le rapport parUculier de tesprit kumain
d ces verites qui rend Vexercice de la faculte aise et naturel d leur egard et qui fait qu'on
les appelle innees. Ce riest donc pas une faculte nue, qui consiste dans la seul possibiHte
de les entendre: c'est une disposition, une aptitude, une preformation9 qui detenninc notre
arne et qui fait qu'elles en peuvent iure Urees. p. 221a. Ce ne sont que des habitudes na-
turelles, c'est d dire des dispositions et attitudes actives et passives,
227) a. a. O. p. 2186, §20. Les idees et verites innees ne sauraient ilre effaeees,
mais elles sont obscurcies dans tous les hommes (comme ils sont presentement) par leur
penckant vers les besoins du corps . . . Ces caracteres de lumiere interne seraient toujours
eclatans dans lentendement et donneroient de. la chaleur de la volonte, si les pereeplions
confuses des sens ne s'emparoient de notre attention. Dagegen p* 2696. Les sens nous
fournissent la mattere aux reflexions et nous ne penserions pas mSme ? d la pen-
see, si nous ne pensions ä quelque autre chose, c*est ä dire aux particu-
larites que les sens fournissent.
204 G. Hartenstein, [94
der der allgemeinen und natürlichen Motive des Handelns, welche Leibniz
als lumiere naturelle bezeichnet.*8) Er geht daher so weit , dass er die
gesammte Arithmetik und Geometrie , überhaupt alle Conseqoenzen aus
Axiomen und Grundsätzen für ebenso angeboren erklärt, wie diese
Axiome und Grundsätze selbst.229) Dazu kommt endlich, dass er die
Entscheidung der Frage, ob ein bestimmter Begriff angeboren sei, von
der deutlichen Darlegung seines Inhalts abhängig macht, ohne sich dar-
über bestimmt auszusprechen , ob dabei der Inhalt des Begriffs selbst
oder eine neben ihm hergehende besondere Einrichtung des mensch-
lichen Geistes das eigentlich Maassgebende sein soll; vielmehr ist er ge-
neigt , beides in einander fliessen zu lassen ; ao) und so erklärt er nicht
nur im Verlaufe der Erörterung, dass eine Ablehnung der angebornen
Erkenntnisse in seinem Sinne auf einen blossen Wortstreit hinauslaufen
würde, sondern legt am Schlüsse derselben dem Vertreter der Locke-
schen Lehre auch den Satz in den Mund, dass Locke die Ansicht in dem
Sinne, in welchem er sie aufstelle, vielleicht gar nicht bestreite.231) Und
wirklich, wenn man in dem Satze: nihil est in intellectu quod non fuerit
228) a. a. 0. p. 2446, § 4. Vorzugsweise deutlich tritt die theoretische Bedeu-
tung des sogenannten Angeborenseins in den Beispielen hervor, die Leibniz zur Erläu-
terung anführte. So 9agt er p. 2 Ha. Quant d cette proposition : le quarre riest pas un
cercle, on peut dire qu'elle est inneef cor en fenvisageant, on fait une subsumption ou
appkcation du principe de contradiction d ce que l'entendement fournit lui meme, des qu'oti
appercoit que ees idees qui sont innees renferment des notums incompatibles.
229) a. a. 0. p. 208a. Dans ce sens on doü dire que ioute farithmetique et toule
la gSometrie sont itmees et sont en nous dune moniere virtuelle, en sorte qu'on les y peut
trouver en considerant attentivement et rangeant ce qu'on a deja dans Feaprit , sons se
servir daucune verite apprise par Vexperience. p. 2 4 2a. Je ne saurais admettre cette pro-
position : tout ce qu'on apprend riest pas inne. Les verites des nombres sont en nous et
on ne laisse pas de les apprendre. p. 2 476. Je prends toutes les verites necessaires pour
innies. Eben so in praktischer Beziehung p. 2 4 4a, ,2 146.
230) a. a. 0. p. 24 9a. Lorsqu'on demande le moyen de connaitre et dexaminer
les principes innees, je repond, qu'excepte les insUncts dont la raison est inconnue, il faul
tacket de les reduire aux premiers principes , c'estädire, aux axiomes identi-
ques ou immediates par le moyen des definitions, qui ne fönt autre chose, qu'une ex-
posilion distincte des idees. p. 24 46, § 24 antwortet er auf den Einwurf, dass die Zu-
stimmung zu gewissen Sitzen eben so gut auf der Betrachtung der Natur der Sache,
als auf ihrem Angeborensein beruhen könne: L'un et f autre est vrai. La nature des
choses et la nature de l'esprit y concourent ; . .• Ce qu'on appelle la lumiere naturelle
suppose une connaissance distincte, et bien souvent la consideration de la nature des choses
riest autre chose que la connaissance de la nature de tesprit et de ces idees innees.
234) a. a. 0. p. 2446. p. 2246, § 24.
95] Locke's Lbhbe von der menschl. Erkenntniss ü. s. w. 905
in sensu , nisi inlellectm ipse , die drei letzten Worte oft als die Grenz-
scheide zwischen Locke und Leibniz angesehen hat, so bemerkt Leibniz
selbst, dass Locke sich diesen Satz mit jenem Zusätze sehr wohl an-
eignen könne.23*) Angeborne Vorstellungen oder Erkenntnisse würde
Locke aber gleichwohl nicht anerkannt haben, weil er darunter etwas
Bestimmteres gedacht wissen wollte, als Leibniz.
IX.
Bei diesem Sachverhalt kann es nicht überraschen , dass Leibniz
die Art, wie Locke im zweiten Buche die Entstehung und Beschaffenheit
des menschlichen Vörstellungskreises beschreibt und die Elemente, aus
denen er besteht, unter allgemeine Bezeichnungen zusammen fasst, viel
weniger zu bestreiten, als in einzelnen Punkten zu ergänzen und zu be-
richtigen~sucbt. Dass der Vorstellungskreis aus dem , was von aussen
dargeboten wird, und was das Bewusstsein in sich selbst findet, er-
wächst, darüber ist im Grunde kein Streit zwischen beiden; die That-
sache der äusseren und inneren Wahrnehmung bezweifelt Leibniz so
wenig als Locke, und für die Art, wie die äussere Wahrnehmung zu
Stande kommt, ist bei Leibniz die Leugnung des physischen Einflusses
und die an dessen Stelle gesetzte prästabilirte Harmonie nur ein allge-
meiner Gesichtspunkt , der für die Erklärung der concreten Thatsachen
hinter die Berufung auf die bestimmten — gleichviel ob unabhängig von
der prästabilirten Harmonie vorhandenen oder durch sie gesetzten —
Beziehungen der Dinge zu der Seele zurücktritt. Locke hatte sich be-
gnügt, die sinnlichen Empfindungen als einen durch die leiblichen Organe
mitbedingten Erfolg des Verkehrs mit der Aussenwelt zu bezeichnen,
der den sie bewirkenden Ursachen proportional sei, ohne dass die Qua-
lität der Empfindung mit der Qualität der Dinge identisch gedacht wer-
den dürfe; bei Leibniz entsprechen die sinnlichen Vorstellungen der Con-
stitution des Leibes , dessen Veränderungen wieder von den Einwir-
kungen anderer Körper abhängen ; ja er bedient sich zur Bezeichnung
232) a. a. 0. p. 223a. Nihil est in intelleetu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi
intellectus ipse . . . Cela s'accorde assez avec votre auteur de tessai, qui a cherche une
bonne partie des idSes dans ia reflexion de i'esprit sur sa propre nature.
SOG G. Hartenstein, [96
•
dieser Abhängigkeit geradezu des Begriffs der Ursache und Wirkung.233)
Die Locke'sche Unterscheidung erster und zweiler Qualitäten bestreitet
er nicht; vielmehr ist er nur bemüht zu zeigen, dass nicht nur den er-
sten, sondern auch den zweiten Qualitäten ein Verhällniss der Aehnlich-
keit mit den Dingen , auf welche sie sich beziehen, zukomme ; sie ver-
halten sich wie die Protection eines Kreises auf eine Ebene zu dem pro-
jicirten Kreise selbst,2**) ein treffendes Gleichniss, welches Locke viel-
leicht nicht gefunden, aber schwerlich abgelehnt haben würde.
Gegen die Behauptung Locke's dagegen, dass es in der Seele keine
Vorstellungen geben könne ohne ein Bewusstsein derselben, und gegen
die damit zusammenhängende skeptische Frage, mit welchem Rechte
man das Vorstellen eben so für das Wesen der Seele erkläre, wie die
Ausdehnung für das Wesen des Körpers, erhebt Leibniz eine ausführ-
liche und lebhafte Einsprache. Er macht dagegen vor Allem wiederholt
die Thatsache geltend, dass wir eine unbestimmte Mannigfaltigkeit von
Vorstellungen habeu, ohne uns derselben in jedem Augenblicke bewusst
zu sein, und zeigt, dass dies gar nicht anders sein könne, indem es
weder vorwärts noch rückwärts eine unendliche Reihe von Bewusst-
seinsacten geben könne.235) Diese Polemik hängt zusammen mit dem
233) a. a. 0. p. SS 6a. Les perceptions de tarnt repondent tpujours naiureüement
d la Constitution du corps . . . Lame riest jamais privee du secours du corps, parcequ'elle
exprime toujours son corps et ce corps est toujours frappe par les autres, qui tenviron-
nent, dune infinite de monier es, mais qui ne fönt souvent qu'une impression confuse.
p. 332a, § 4 5. 11 est bien raisonnable que Veffet repond d la cause, et comment assurer
le contraire?
m
234) a. a. 0. p. 234 a. II ne faut point s'imaginer que ces idees de la couleur ou de
la douleur soient arbitraires et sans rapport ou conneteion naturelle avec leurs causes; ce
riest pas Yusage de dieu dtagir avec si peu d ordre et de raison. Je dirois plutot quil y a
mne moniere de ressemblattce , non pas entieiv et pour ainsi dvre in terminis; mais expres-
sive ou une moniere par rapport d f ordre, comme une ellipse et mime uns parabole ou
hyperbole ressemblent en quelque facon au cercle , dont elles sont la projections sur le
plan, puisqu'il y a un certain rapport exact et naturel entre ce qui est projette et la pro-
jection. Zu den ersten Qualitäten will Leibniz auch die Kraft gerechnet wissen in den
Füllen, wo ein deutlicher Begriff derselben möglich ist; p. 234a. Je crois qrion pour-
roü dire que hrsque la puissance est intelligible, eile doü itre comptee parmi les qualites
premieres; mais lorsqu'elle riest que sensible et ne dorme qriune idee confuse, il faudra la
mettre parmi les qualites secondes. p. 245a bedien} er sich einmal des Ausdrucks qua-
lites originales ou connoissables distinctement.
235) a. a. 0. p. 224, § Hflgg. — p. 226, § 49. Lorsque vous avancez qriil riy
a rien dans Farne, dont eile ne s'appercowe, c'est une petition de principe ... St nous
97] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss d. s. w. 207
Gewicht, welches er auf die kleinen unmerklichen Vorstellungen legt,
deren Gesammtresullate sich dem Bewusstsein aufdringen, während sie
selbst sich dem Bewusstsein entziehen.236) Die Fruchtbarkeit dieses Ge-
dankens für die Psychologie ist unabhängig von der nach dem System«
der prästabilirten Harmonie der Seele beizulegenden absoluten Sponta-
neität; aber gleichwohl ist er von keinem entscheidenden Einfluss auf
die Lehre von der Erkenntniss, die unmöglich in unbewussten Vorstel-
lungen zu Stande kommen kann , und es darf daher genügen ihn hier
nur kurz bezeichnet zu haben.
Um die Gesammtheit unserer Vorstellungen zu classificiren , hatte
Locke zwischen einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen unter-
schieden und die letzteren in Substanzen , modi und Relationen einge-
teilt. Die erstere Unterscheidung ist Air Leibniz selbst eine der wesent-
lichen Grundbestimmungen seiner eigenen Psychologie, und er begnügt
sich daher Locke gegenüber mit der Bemerkung, dass Einfachheit hier
nur die für den Empfindenden selbst vorhandene Ununterscheidbarkeit
eines Mannigfaltigen bezeichne, wobei die Möglichkeit nicht ausgeschlos-
sen sei , dass das, was wir als einfach empfinden, dennoch zusammen-
gesetzt sei.237) Ebenso erklärt er sich aber auch mit der Unterscheidung
zwischen Substanzen, modis und Relationen einverstanden,238) obwohl er
einige Bemerkungen darüber hinzufügt , dass der Unterschied zwischen
uccordions ce principe, nous croirions choquer Xexperience et la raison. . . . Mais outre
que nos adversaires . . . riont point äpporte de preuve de ce qu'ils avancent, . . il est aise
de leur montrer le contraire, c'est d dire, qu'il n'est pas possible, que nous reflechissions
toujours expressement sur toutes nos pensees. Aulremeni l'esprit ferait reflexion sur chaque
reflexion ä tinfini sans pouvoir jamais passer ä une nouvelle pensee. Par exemple en
mfappercevant de quelque sentiment present, je devrais toujours penser que fy penset et
penser encore que je pense d'y penser et ainsi ä Tinfini. Mais il faut bien que je cesse de
reflechir sur toutes ces reflexions et qu'il y ait enfin quelque pensee qu*on laisse passer sans
y penser; autrement oh demeureroit toujours sur la meme chose.
236) Vgl. u. A. den avant-propos zu den nouveaux essais p. 4 966 — 4 98a.
237) a. a. 0. p. 227a. Je crois qu'on peut dire que ces idees sensibles sont simples
en apparence, parce qu' etant confuses elles ne donnent point d Fesprit le moyen de distin-
guer ce qu'elles contiennent .... Je consens pourtant volontiers qu'on traite ces idees de
simples, parce qu' au moins notre apperception ne les divisc pas. p. 250a, § 30. Dans
le fond, les idees ...des qualites sensibles ne Hennent leur rang parmi les idees simples
ou'd cause de notre ignorance.
238) a. a. 0. p. 238a. Celle division des objets de nos pensees en substances, modes
et relations est assez ä mon gre\
Abhamil. d. K. S. Ges. d.Witf. X. 1 4
208 G. Hartenstein, [98
den modU und Relationen schwankend sei , und die Anwendung des
Substanzbegriffs auf Aggregate einer Vielheit von Dingen zurückweist.239)
Auch die Locke'sche Aufzählung der verschiedenen geistigen Operatio-
nen, durch welche das menschliche Denken den unmittelbar gegenwar-
tigen sinnlichen Vorstellungsinhalt umgestaltet und Überschreitet und in
deren innerer Auffassung Locke die Quelle der von der sinnlichen Em-
pfindung unabhängigen Vorstellungen sucht, nämlich das bewusste Vor*
stellen, das Festbalten der Vorstellungen durch die Aufmerksamkeit und
das Gedächtniss, die Unterscheidung und Vergleichung, die Verknüpfung
und Erweiterung derselben, begleitet er lediglich mit Bemerkungen,
welche nicht gegen die Unterscheidung dieser Thätigkeiten gerichtet
sind, sondern auf ihre nähere Bestimmung und speziellere Schilderung
abzielen .m)
Nur in einem Punkte, der zugleich eine allgemeine Bedeutung hat,
macht Leibniz eine der Locke'schen Lehre entgegengesetzte t oder sie
vielmehr berichtigende Begriffsbestimmung geltend. Sie bezieht sich auf
die ZurUckfbhrung der verschiedenen geistigen Thätigkeiten auf ver-
schiedene Seelen vermögen. Dass Locke mit dem Gebrauch dieses Be-
griffs kein Wissen über das Wesen der Seele in Anspruch genommen,
sondern diesen Ausdruck nur benutzt hatte , um sich in einer der ge-
wöhnlichen Auffassung bequemen Weise versländlich zu machen, ist
oben (S. 144) durch seine eigenen Worte belegt worden; gleichwohl
legt ihm Leibniz wenigstens indirect die Absicht unter, als habe er da-
mit mehr sagen wollen, als der Fall ist» und doch zugleich weniger
sage, als die Sache verlange. Blosse Vermögen ohne ein mit ihnen zu*
gleich gesetztes Streben seien leere Möglichkeiten; man müsse sich
deutlicher darüber erklären , worin ein solches Vermögen — und zwar
zunächst das Gedächtniss — bestehe und wie es wirke, und dann werde
man finden, dass es in der Seele gewisse Dispositionen gebe, als Reste
239) a. a. 0. p. 2386.
240) a. a. 0. L. II, eh. XI — XIII — Psychologisch am wichtigsten ist, was Leib-
niz über die Perception und ihren Unterschied von der Apperception sagt. Es nag
nicht unerwähnt bleiben , dass er diesen Unterschied im Wesentlichen blos als einen
quantitativen bestimmt, p. 233a. faimerais mieux distmguer entre pereeptüm et
entre apperception. La perception de la lumiere . . par exemple, dont nous nous apperce-
vons, est composee de quantite de petites pereeptions, dont nous ne nous appercevons pas
et un bruit dont nous avons perception, mais ou nous ne pretions pomt garde, devient
apperceptible par une petite addition ou augmentation.
•ö] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntmss u. s. w. 209
früherer Eindrücke , die nur gelegentlich zum Bewusslsein kommen.241)
Die Frage, ob diese Seelenvermögen sammt den in ihnen liegenden Dis-
positionen verschiedene Wesensbestimmungen der Seele selbst sind,
berührt er an dieser Stelle nicht; vermöge seines Begriffs von der Sub-
stanz als dem Träger einer unbestimmten Mannigfaltigkeit von Kräften
hatte diese Frage eigentlich für ihn gar keine Bedeutung und desshalb
sagt er später einmal ganz kurz, nicht die verschiedenen Vermögen seien
das eigentlich Thätige , sondern die Substanz vermittelst ihrer Vermö-
gen.242) Die Lücke jedoch, welche in der Frage nach den Bedingungen '
bestimmter Tätigkeiten entweder der einzelnen Seeleo vermögen
oder der Seelensubstanz liegt, ist bei Leibniz so wenig ausgefüllt als
bei Locke, da er es unterlässt über die Art, wie die »kleinen unmerk-
lichen Vorstellungen« im Bewusstsein wirken, eine ins Einzelne gebende
Rechenschaft zu geben. Locke legt der Seele eine gewisse Anzahl von Ver-
mögen bei, ohne dadurch ein Wissen über die Art und die Ursachen ihrer
Thätigkek zu beanspruchen; Leibniz beruft sich auf eine unbestimmte
Vielheit unter sich zusammenhängender Thätigkeitsacte, deren Resultat
das sei, was im -Bewusstsein innerlich wahrnehmbar wird ; aber in der
unbestimmten Allgemeinheit, in welcher er diesen Gedanken Ittsst, passt
seine Vergleicbung des Geistes mit einer nicht einförmigen und blos
passiven, sondern gefalteten, elastischen, auf die empfangenen Einwir-
kungen selbstständig reagirenden Membrane, nur mit Ausnahme der
durch die Falten dieser Membrane angedeuteten angebornen Begriffe,
auf die Ansicht Locke's vom geistigen Leben so gut wie auf die sei-
nige. **)
241) a. a. 0. p. 236a. Je vne tonne que vous vous puissiez toujours payer de ces
puissances ou facultes nues, que vous rejetteriez apparemment dans les philosophes de
Feeole. 11 faudrait expliquer un peu plus distinctement , en quoi consiste oette faculte et
comtnent eile s'exerce, et cela feroit connaitre qu'il y a des dispositions, qui sont des restes
des impressions passees, . . . dont on ne s'appercoit, que lorsque la memoire en trouve
quelque oceasion. p. 2226. Les facultes sans quelque acte, les pures puissances de fe'cole,
ne sont que des jictions, que la nature ne connoit point et qu'on riobtient qu'en faisant des
abstractions. p. 2236. Les puissances veritables ne sont jamais des simples possibilites.
p. 251a. fentends la puissance dans le sens plus noble, %. ou la tendance est Joint e d la
faculte. cf. p. 2716.
242) a. a. 0. p. 252a. Ce ne sont pas les facultes ou qualites, qui agissent} mais
les substances par les facultes.
s 243) a. a. 0. p. 238a.
210 G. Hartenstein, [400
X.
Ganz anders gestaltet sich dagegen das Verhältniss zwischen Leib-
niz und Locke rücksichtlich der Frage nach dem Erkenntnissgehalt,
der den Begriffen, in welchen der factisch vorhandene Vorstellungskreis
sich bewegt, zugesprochen werden kann. Es mag erlaubt sein*, die Kri-
tik Leibniz's in dieselbe Reihenfolge zu ordnen, in welcher oben die
Erörterungen Locke's dargelegt worden sind.
Der wesentliche Grund der Verzichtleistung' Locke's auf alle Meta-
physik im Sinne einer Erkenntniss des Wesens der Dinge Hegt in seinen
Bedenken gegen den Begriff des Dings mit der Mehrheit seiner Eigen-
schaften und Kräfte , dem die Schulphilosophie die Worte Substanzen,
Attribute und Accidenzen substituirt hatte. Dieser ganze Begriff war für
ihn ein — seiner psychischen Genesis nach freilich nicht genauer unter-
suchtes — Product aus dem Zusammenwirken der äusseren Wahrneh-
mungen mit der Vorstellungsthätigkeit, welches über die wahre Be-
schaffenheit dessen , was dadurch bezeichnet werden soll , keinen Auf-
schluss gibt. Es ist oben bemerkt worden , dass Locke in dieser that-
sächlich vorhandenen Vorstellungsart, vermöge deren wir für die erfah-
rungsmässig gegebenen Complexionen von Eigenschaften das Ding als
ihren Träger voraussetzen und hinzudenken, ein Problem eines fort-
schreitenden Denkens weder gefunden noch auch nur gesucht habe; er
betrachtet sie einfach als eine dunkle Region , welche aufzuhellen dem
menschlichen Denken nicht vergönnt ist. Für Leibniz war der Begriff
der Substanz als eines mit einer Mehrheit nicht ruhender Eigenschaften,
sondern thätiger Kräfte ausgestatteten Wesens der Fundamentalbegriff
seiner Metaphysik , die dadurch im Allgemeinen den Charakter einer
Reaction der aristotelischen Anschauungsweise gegen die mechanische
Naturphilosophie namentlich der Cartesianischen Schule bekommt. Man
wird in seinen Schriften vergeblich nach einer Deduction, nach dem
Versuch eines Beweises der Notwendigkeit suchen, den Begriff
der Substanz in diesem und keinem andern Sinne an die Spitze der Me-
taphysik zu stellen; um so interessanter ist es zu untersuchen, in wel-
cher Weise und mit welchem Erfolge er die Locke'sche Behauptung der
gänzlichen Dunkelheit und wissenschaftlichen Unbrauchbarkeit dieses
Begriffs zu entkräften sucht. '
*<M] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss ü. s. w. 21 1
Dass er nämlich an den von Locke geltend gemachten Schwierig-
keiten keinen Anstoss nimmt, verräth sich schon da, wo bei Locke zuerst
des Begriffs der Suhstanz als eines solchen , den man voraussetze, ohne
eigentlich zu wissen, was man damit meine , Erwähnung geschieht. Er
bemerkt dazu ganz kategorisch, dieser Begriff sei keineswegs so dunkel
als man denke ; man könne daran so viel erkennen als nöthig sei und
als man an den Dingen überhaupt erkennen könne.244) Den Commentar
zu dieser kurzen Aeusserung enthält zunächst das 23. Capitel des zwei-
ten Buchs« Hier leugnet Leibniz zuvörderst, dass wir dem das Ding be-
zeichnenden Vorstellungscomplexe »unbedachter Weise« die Einheit des
Dings voraussetzen; die Vorstellung oder der Begriff des einen Sub-
jects brauche desshalb nicht eine einfache Vorstellung zu sein.345) Locke
hatte die wesentliche Schwierigkeit in der Frage gefunden, mit welchem
Rechte wir, da den Eigenschaften oder auch den Kräften der Dinge keine
selbstständige Existenz beigelegt werden könne, und sie doch unter
einander in einer Weise verknüpft seien , über welche sie selbst keinen
Ausschluss geben, ihrer Gesammtheit die Voraussetzung eines Substrats,
einer Substanz unterschieben, die selbst nicht wahrgenommen wird und
gleichwohl der unbekannte Träger der Eigenschaften und Kräfte sein
soll. Leibniz erwidert, man thue ganz recht so zu denken und man habe
sich an die Voraussetzung dieses Substrats zu gewöhnen, weil wir von
vorn herein Subjecte mit mehreren Prädicaten denken oder zu denken
haben. Es ist nicht ganz deutlich, ob Leibniz damit einen Parallelismus
des logischen Verhältnisses zwischen dem Begriff und seinen Merk-
malen, und des reellen zwischen dem Dinge und seinen Eigenschaften
geltend machen will, vermöge dessen diese zusammen gehören, wie
jene; er fügt jedoch hinzu, das Ding ohne die Eigenschaften (die abs-
tracte Substanz) und die Eigenschaften ohne die Substanz (die Wärme,
die Schwere als Abstracta), würden unbegreiflich sein, aber eine Sub-
stanz mit ihren Eigenschaften zu denken habe keine Schwierigkeit und
244) a. a. 0. p. 2386. L'idee de la substance riest pas si obscure qu'on pense.
On en peut connoitre ce qui se doit et ce qui se connoit en autres choses; et meme la con-
naissance des concreto est toujours anterieure ä cellc des abstraüs; on concoü plus le
chaud que la chaleur.
245) a. a. 0. p. 2716. Je ne vois rieft dans les expressions recues qui merite dMtre
taxe dinadvertance, et quoiquon reconnoisse un seul sujet et uns seule idee, on ne recon~
»not* pas wie seule idee simple.
212 G. Hartenstein, [102
ihr Begriff sei keines weges leer, denn durch die Eigenschaften erfahre
man eben, was die Substanz ist.'246) Lässt man nun die Frage, ob das
logische Verhältniss zwischen dem Begriff und seinen Merkmalen einen
genügenden Aufschluss über das Verhältniss zwischen dem Dinge und
seinen Eigenschaften , der Substanz und ihren Attributen darbiete , da-
hingestellt sein,*47) so trifft doch Locke nicht der Vorwurf leerer Abs-
traclionen, durch welche er Schwierigkeiten erkünstele, die in der Auf-
fassung des Gegebenen nicht Hegen. Locke spricht nicht von der Sub-
stanz im Allgemeinen, d. h. von einer von ihren«Eigenschaften losge-
lösten Substanz; sondern von dem allgemeinen Begriff des Ver-
hältnisses zwischen Substanz und Accidenz und behauptet, dass dieser
Begriff weder über die Art der Verknüpfung der letzteren untereinander
and mit der erste reu, noch über das eigene Was der Substanz eine Er-
kenntniss enthalte; Leibniz ist der Ansicht, dass diese Erkenntniss sich
von selbst darbiete, wenn man eine bestimmte Substanz mit ihren be-
246) a. a. 0. p. 27 Ja, § \ . Je crois qu'on a raison de penser ainsi et nous riavons
que faire de nous y accoutumer ou de le (le substratum) supposer, puisque dabord
nous concevons plusieurs predicats d'un meme sujet et ces mots metaphoriques de
soutien ou de substratum ne signißent que cela; de sorte que je ne vois point pourquoi on
s'y fasse de la difficulte. Au contraire c'est plutot le concretum, comme savant, chaud,
hrisant, qui nous vient dans tesprit, que les abstractions ou qualites {ear ce sont elles, qui
sont dans l'objet substantiel et non pas les idees), comme savoir chaleur lumiere etc., qui
sont bim plus difficiles ä comprendre . . . Ainsi cest nodum in scirpo quaerere, si je lose
dire, et renverser les choses que de prendre les qualites ou autres lermes abstraits pour ce
qu'il y a de plus aise et les concreto pour quelque chose de fort difficile. § 2 . En distin-
guant deux choses dans la substance, les attributs ou predicats et le sujet commun de ces
predicats, ce riest pas merveille, qu'on ne peut rien concevoir de particulier dans ce sujet.
II le faut bien puisqu'on a deja separe tous les attributs ou Ion pourroit concevoir quelque
detail. Ainsi demander quelque chose de plus dans ce pur sujet en gen erat, que ce
qu'il faut pour concevoir que cest la meme chose, . . cest demander timpossible et contre-
venir ä sa propre supposition, qu'on a fait en faisant abslraction et concevant separement
le sujet et ses qualites ou accidences. On pourrait appliquer la meine pretendue difficulte
ä la notion de Ntre; . . . cor tout detail etant exclus par la, on aura aussi peu ä dire que
lorsqu'on demande ce que cest que la pure substance en gen erat.
t47) Die aristotelisch-scholastische Metaphysik findet süllschweigend in der Ver-
knüpfung einer Mehrheit von Merkmalen in der Einheit des Begriffs den Rechtferti-
gungsgrund für den Begriff der Substanz mit mehreren Attributen oder Acctdenzen.
Der Widerspruch dagegen ist alt, und trieb die Megariker zu dem entgegengesetzten
Extrem in der Verwerfung aller nichtidentischen Sätze. Vgl. meinen Aufsatz: über dte
Bedeutung der megarischen Schule für d. Gesch. d. metaphys. Probleme in d. Berich-
ten der Kön. Sachs. Ges. d. Wissensch. Bd. 1, p. 203flgg.
403] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. b. w. 213
stimmten Accidenzen auffasse. Dies verräth sich in der Art, wie er
später den Locke'schen Satz bestreitet , dass wir nicht im Stande sind,
über die Dinge, insofern wir auf sie die Begriffe der Substanz und der
Accidenzen übertragen, streng allgemeine Satze zu erkennen.248) Gerade
weil sich in den Eigenschaften das Wesen der Dinge kund gebe, kön-
nen wir von ihnen allgemeine Sätze aussagen ; und selbst, wenn unsere
Begriffe von den Dingen nur eine provisorische Bedeutung haben und
durch neue Erfahrungen einer Erweiterung oder näheren Bestimmung
unterliegen sollten, würde es gleichwohl gestattet sein, den Dingen ein
inneres Wesen beizulegen, welches sich durch die wahrnehmbaren
Eigenschaften zu erkennen gibt.249) Dass wir die Art des Zusammen-
hangs der Eigenschaften unter sich und mit der Substanz nicht erkennen
können, gibt Leibniz zu; wir wissen lediglich durch die Erfahrung,
dass im Wesen des Goldes die Schwere mit der Dehnbarkeit verbun-
den ist; aber wir lernen dadurch einen Körper kennen, dessen specifi-
sches Wesen, obgleich uns unbekannt, der Grund dieser Eigenschaf-
ften ist und sich uns wenigstens dunkel dadurch zu erkennen gibt.260)
Nur müsse man nicht verlangen, dass selbst wenn wir die innere Con-
stitution des Körpers und damit die Ursachen seiner sinnlichen Eigen-*
248) L. IV, eh. VI. Die Erörterung Locke's im 31. Cap. des zweiten Buchs über
diesen Gegenstand übergeht Leibniz mit Stillschweigen.
249) a. a. 0. p. 3566. Nous pouvons itxe assures de mille verites, qui regardent
Vor ou ce corps dont l' essence interne se fait connaitre par la plus grande pe-
santeur comme ici bas ou par la plus grand duetilite ou par d'autres marques. Car nous
pouvons dire que le corps de la plus grande duetilite connue est aussi le plus pesant de
tous les corps. Nach einer längern Auseinandersetzung, darüber dass viele dieser We-
sensbestimmungen möglicherweise nur provisorisch seien, schliesst er p. 3576: cepen-
dant il sera toujours permis et raisonnable dentendre qu'il y a une essence reelle interne
appartenante par une proposition reciproqne sott au genre, soit aux especes, ktquelle se
fait connaitre ordinairement par les marques externes.
250) a. a. 0. p. 359a. Nous savons presque aussi certainement que le plus pesant
de tous les corps connus ici bas est fixe, que nous savons certainement qu'il fera jour de-
rnam. Cest paroe qu'on fa experimente cent müle foisf c' est une certitude ex-
perimentale et de fait, quoique nous ne connaissions point la liaison de la fixüe
avec les autres quaUtes de ce corps. Au reste il ne faut point opposer deux choses qui
s'aecordent et reviennent au m&ne. Quand je pense ä un corps, qui est en mime temps
jaune, fusible et resistant ä la coupelle, je pense ä un corps dont V essence speeifi-
que, quoique inconnue dans son intörieur9 fait emaner ces qua-
Utes de son fonds et se fait connaitre confusement au moins par elles. Je ne vois rien de
mauvais en cela.
214 G.Hartenstein, [104
Schäften (der qualites secondes) wirklieb erkennen könnten, uns nun auch
in sinnlich anschaulicher Weise deutlich werden solle, wie diese sinn-
lichen Phantome entstehen , die ein verworrenes Resultat der Einwir-
kungen der Körper auf uns sind; es würde das heissen, eine Täuschung
durch ihre Erklärung zerstören und sie sich doch erhallen wollen.351)
Gerade dieser Begriffeines unbekannten Wesens aber, dessen
Was sich durch seine wahrnehmbaren äusseren Eigenschaften zu er-
kennen und auch nicht zu erkennen geben soll, dergestalt, dass wir
rücksichtlich des Zusammenhangs desAeusseren mit dem Inneren nichts
wissen, als was uns die empirische Thatsache der Verknüpfung der
Eigenschaften in der vorausgesetzten Einheit des Dings lehrt, ge-
rade dieser Begriff ist es , an dem Locke Anstoss genommen und wel-
chem er jede wissenschaftliche Brauchbarkeit abgesprochen hatte. Leib-
niz ist hier in seinen Anforderungen an ein Wissen über das Wesen der
Dinge jedenfalls viel genügsamer als Locke; es stört ihn darin nicht
einmal die von ihm übrigens gebilligte Auseinandersetzung Locke's,
dass der allergrösste Theil dessen, was wir den Dingen als Eigenschaft
beilegen, auf Beziehungen und Verhältnissen zu andern Dingen beruht
und ihnen folglich gar nicht als ihr eigenes Wesen beigelegt werden
kann252) Dass Alles das , was wir von dem Wesen der Dinge wissen,
lediglich auf der Erfahrung beruhe, erkennt Leibniz so vollständig an,
als es nur der entschiedenste Empirist thun könnte, und gesieht desshalb
am Schlüsse der ganzen Erörterung zu, dass dieses Wissen kein mela-
25 t) a. a. 0. p. 358a. Ces idees sensitives dependent du detail des figures et mou-
vemens et les expriment exaetement, quoique nous ne puissions pas y demiler ce detail
dans la confusion dun Irop grande muUilude et petitesse des actions mecaniques, qui frap-
pent nos sens. Cependant si nous elions parvenu d la Constitution interne de quelque
corps nous verrions aussi quand ils devraient avoir ces qualites, qui seroient reduites elles
meines d leurs raisons intelligibles ; quand meme il ne seroit jamais dans notre pouvoir de
les reconnaitre sensiblement dans. ces idees sensitives, qui sont un resultat confus des actions
de corps sur nous, ... p. 3586. De vouloir que ces pkant&mes confus demeurent et que
cependant on y demile les ingrediens par la pnantaisie meme c'esl se contredire , c'est
vouloir avoir le plaisir d'Stre trompe par une agreable perspective et vouloir qu'en mime
tems Cocil voie la tromperie. Wie wenig Leibniz das Bedürfniss fühlt, in diesem Punkte
die gewöhnliche Vorstellungsart zu berichtigen, zeigt u. A. p. 2986, wo er bei Gelegen-
heit einer Erörterung über die Präpositionen sich auf die Inh'ärenz der Accidenzen in
ihrem Subject oder der Substanz als die natürliche Vorslellungsart, die in der Sprache
ihren Ausdruck finde, beruft.
252) a. a. 0. p. 359a, § H.
105] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. s. w. 215
physisches, d. h. aus den Begriffen selbst abgeleitetes sei, sondern nur
eiüe moralische oder physische Gewissheit ei nsch Hesse;253) aber er
übersieht dabei , dasö Lotke zwar den Belehrungen der Erfahrung so
zugänglich war, wie er selbst, dass er aber dabei zugleich eine, wenn
auch nicht aus blossen Begriffen abgeleitete, aber doch eine mit den
Ansprüchen auf Erkenntniss , mit denen eine gewisse Vorstellungsart
auftritt, vereinbare und ihnen entsprechende Begriffsbestimmung ver-
langt, welche er eben in dem hergebrachten Substanzbegriff vermisst.
Zu der Zeit, zu welcher das Werk Locke's ihm bekannt wurde,
hatte Leibniz seine eigene Metaphysik schon festgestellt und es ist nicht
zu verwundern, dass er den Mittelpunkt derselben, den Begriff der Sub-
stanz, Locke's Einwendungen gegenüber nicht fallen lassen wolhe. Für
Leibniz war die Substanz nicht sowohl der Trager einer Mehrheit ruhen-*
der Eigenschaften , als vieiraehr der Mittelpunkt einer Mannigfaltigkeit
von Thtttigkeiten. Der damals durch Naturforscher und Philosophen,
die er häufig als Reformatoren bezeichnet, im Gegensatze zu der aristo-«
telisch- scholastischen Lehre geltend gemachten mechanischen Natur-
philosophie gegenüber hatte sich ihm, zunächst mit Beziehung auf die
Veränderungen der Körperwelt, die Unentbehrlichkeit des Begriffs der
Kraft aufgedrängt; und mit ausdrücklicher Berufung auf den Begriff der
aristotelischen Entelechie und der subslanziellen Formen definirt er die
Substanz als elre capable d'action. Der Vergleichungspuukt für die Art,
wie die Wirkungsart dieser primitiven Thätigkeitsquellen zu denken sei,
war ihm das psychische Leben ; die innere Erfahrung schien ihm eine
unmittelbare Spontaneität derjenigen Entelechie , welche die Seele ist,
zu verbürgen, und die Unbegreiflichkeit eines physischen Einflusses
äusserer Dinge auf die vorstellende, denkende uud wollende Seele ihre
Annahme notwendig zu machen , und so suchte er die Entelechieen
der Körper nach den abgestuften Graden ihrer Aehnlichkeit piit der Seele
verständlich zu machen.351) Da er nun an die Stelle äusserer Einwir-
853) a. a. 0. p. 3596.
254) Die nähere Ausführung dieser kurzen Andeutungen sammt den Belegen
enthält meine Abhandlung de matetiae apud Leibnüium notione et ad monadas relatione
(Lips. 1846). Dass Leibniz den Entelechieen gegenüber die Annahme eines materiel-
len, rein passiven Stoffs, als dessen, worin und worauf die Entelechieen wirken, nicht
aufgegeben hat, glaube ich daselbst ausreichend nachgewiesen zu haben. Es ist eine
durch Leibniz's eigene Darstellung nicht gerechtfertigte Ansicht, wenn man seine Lehre
216 G. Hartenstein, [*©6
kungen einer Entelechie auf die andere (des injluxus physicus) eben so,
wie an die Stelle des Occasioualismus der Cartesianischen Schule, das
eine, alle speziellen Wunder überflüssig machende Wunder der prasta-
bilirlen Harmonie gesetzt halte, so konnten die ohnedies nicht sehr tief
gehenden Erörterungen Locke's über den Begriff der Ursache und der
Kraft nur ein untergeordnetes Interesse für ihn haben; aus dem 26. Ca-
pitel des zweiten Buchs hebt er nur die Locke'sche Definition von Ur-
sache und Wirkung hervor, um daran die Bemerkung zu knüpfen , dass
sie nur auf die wirkenden Ursachen passe und dass, wenn Locke sage,
Ursache sei das, was mache, dass etwas anderes zu existiren anfange,
eben in diesem Machen die eigentliche Schwierigkeit stecke , ohne sich
zu erinnern, dass Locke selbst die Art dieser Wirksamkeit für gänzlich
unbekannt erklärt hatte und in so fern für die darin liegende Schwierig-
keit nicht so ganz blind war.395) Rücksichtlich der Begriffe Vermögen
und Kraft stimmt Leibniz Locke' n darin bei, dass es eigentlich die innere
Erfahrung, nicht die Beobachtung äusserer Vorgänge ist, welcher wir
diese Begriffe verdanken , nur seien sie bei weitem nicht so einfach als
Locke annehme;260) die Frage, was deun durch die Berufung auf Ver-
mögen und Krüfte, die man dem beobachteten Thatbestand des Verlaufs
der Veränderungen unterschiebt, erklärt werde» übergeht er mit Still-
schweigen und begnügt sich eine Reihe von Unterscheidungen und No-
minaldefinitionen der Begriffe active und passive Potenz, ursprünglicher
und abgeleiteter Kräfte, u. s. w. aufzustellen, die mit seinem Begriffe
von den Entelecbieen und der Materie zusammenhängen,257) wie denn
so auffasst, als erkläre er die Monaden für die einzigen Realprincipien der Erscheinungs-
welt: im Gegentheile bezeichnet er, wo er ein Interesse hat sich bestimmt auszu-
drücken , durch dieses Wort diejenigen natürlichen Einheiten, in denen eine Entelechie
mit der Materie verbunden ist ; die Monade ist das Resultat aus der Verbindung von
Stoff und Kraft. Vgl. a. a. 0. p. 20.
255) a. a. 0. p. 277a. Vous ne definisses que la cause efficiente . . // faut avouer,
qu'en disant que cause efficiente est ce qui produit et effet ce qni est produü, on ne se
sert que des synonymes. II est vrai que je vous ai entendu dire un peu plus distinctement
que cause est ce qui fait qu' une autre chose commence ä exister, quoique ce mot faxt
iaisse. aussi la prineipale diffieulte en son entier. Die Worte, welche Leibniz hinzufügt :
mais cela s'expüquera mieux aüieurs, beziehe ich auf seine Auseinandersetzungen über
die prästabilirte Harmonie. Vgl. oben Aum. 75.
256) p. 250, § 3. 4.
257) Vgl. oben Anm. 8t . 82. — Leibniz's eigene Definitionen p. 2496, § I.
107] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. S17
überhaupt die ganze Frage nach dem Begriff der Kraft durch seine Auf-
fassung des Begriffs der Substanz für ihn erledigt war. Die übrigen sehr
sorgfältigen Erörterungen dieses Capitels beziehen sich auf die Frage
nach der Willensfreiheit und müssen hier aus demselben Grunde, wie
oben bei Locke übergangen werden.
Bei weitem kürzer behandelt Leibniz die Erörterungen Locke's über
Raum, Zeit und Zahl. Der grösste Theil der hierher gehörigen Capitel
(L. II, eh. XIH — XVI) besteht in schärferen Bestimmungen einzelner
hierher gehöriger Begriffe z. B. des Begriffs der Distanz (p. 239a. fr),
der Figur (p. 2396), des Orts (p. 240a, § 7), des Moments (p. 241 fr), der
Zahl (p. 243a) und der Art des Zählens (p. 243b, § S). Sein mathema-
tischer Scharfsinn ist hier Locke'n durchaus überlegen ; das psycholo-
gische Interesse dieser Berichtigungen besteht in der Nach Weisung, dass
diese räumlichen und zeitlichen Vorstellungen bei weitem nicht so ein-
fach sind, als Locke behauptet.94*) Dem Locke'schen Bekenntniss der
Unwissenheit, was der Raum sei, stellt er die Erklärung gegenüber, der
Raum sei das Abstractum des Ausgedehnten und Raum und Zeit der
Ausdruck geordneter Verhältnisse nicht blos des Wirklichen , sondern
auch des Möglichen, deren Ordnung, wie die aller ewigen Wahrheiten,
in letzter Instanz in Gott gegründet sei.250) Damit hängt die Erklärung
zusammen, dass die Reflexion auf die Aufeinanderfolge der Vorstellun-
gen die Vorstellung der Zeit in uns nur erwecke, nicht erzeuge, obgleich
der Grund, den Leibniz dafür anführt, sich nicht sowohl auf die allge-
meine Vorstellung .einer unbestimmten Dauer, als vielmehr auf das Maass
derselben bezieht,260) für welches Locke selbst auf die Noth wendigkeit
258) Vgl. z. B. a. a. 0. p. 240a, § 6. 2436, § 5.
259) a. a. 0. p. 240a, § 15. Vetendue est l'abstraction de Ntendu. p. 2406-
Vespace n'est pas plus une substance que le temps. . . . (Test un rapport, un ordre, non
seulement entre les existans, mais encore entre les possibles, comme s'ils existaient. Mais sa
verite et realite est fondee en dieu, comme toutes les verites eternelles.
260) a. a. O. p. 2416. Une suile de pereeptions reveille m nous Cidee de la duree,
mais eile ne la faxt point. Nos pereeptions riont jamais une suite asse* eonstante et regu-
liere pour repondre ä teile du tems , qui est un continu uniforme et simple comme une
Ugne droite. Le thangement des pereeptions nous donne occasion de penser au tems et
on le mesure par des changemens uniformes; mais quand il riy auroit rien d uniforme
dans la naturc, le tems ne laisserait pas 4tre determine u. s. w. ... Cest que connaissant
les reglet des mouvemens difformes on peut toujours les rapporter ä des mouvemens uni-
formes mteUigibles.
?I8 G. Hartenstein, [*08
einer als gleichförmig sich erweisenden oder als solche vorausgesetzten
Bewegung hingewiesen hatte. Dass die Vorstellung der Zeil als Vor-
stellung ohne den Wechsel anderer Vorstellungen nicht vorhanden
sein würde, wird dadurch nicht widerlegt; Locke seinerseits würde sich
vielleicht durch die Behauptung, dass der Wechsel der Vorstellungen
die Vorstellung des Zeitlichen erwecke, nicht hervorbringe, zu der Frage
veranlasst gefunden haben, was denn die Vorstellung des Zeitlichen für
das Bewußtsein irgend bedeute, so lange sie nicht im Bewusstsein vor-
handen sei.
An die Begriffe von Raum, Zeit und Zahl hatte Locke den des Un-
endlichen angeknüpft, um zu zeigen, erstlich, dass er ein Grössenbegriff,
und zweitens, dass er ein lediglich negativer Begriff, der eines mög-
lichen Fortschritts ohne Ende sei. Der ganze Begriff ist- ihm ein Gedan-
kenproduct , oder vielmehr der Ausdruck für eine Operation des. Den-
kens ; daher zwar die Unendlichkeit des Raums, der Zeit und der Zah-
lenreihe, aber nicht der unendliche Raum, die unendliche Zeit oder Zahl
vorgestellt werden könne. Diese Auffassung des Unendlichen erkennt
Leibniz innerhalb der von Locke selbst bezeichneten Grenzen an;261)
denn dass er auf die Möglichkeit eines Fortschritts ohne Ende rücksicht-
lich der Intensität der Qualitäten d. h. des Grades aufmerksam macht,
ist mehr ein Zusatz, als ein Einwurf, ebenso wie die Hinweisung dar-
auf, dass der Fortschritt in der Reihe nach derselben Regel und unter
den gleichen Verhältnissen stattfinden müsse. Wenn er ein Gewicht
darauf legt, dass die Regel des Verfahrens in uns selbst liege und nicht
von der sinnlichen Erfahrung entlehnt sei,262) so trifft das Locke's An-
sicht nicht, welcher den Ursprung des Begriffs des Unendlichen keines-
wegs in der äussern Erfahrung, sondern lediglich in der Thätigkeit des
Denkens sucht. Gleichwohl deutet Leibniz hier noch auf einen andern
Begriff des Unendlichen hin , der nicht auf der Zusammenfassung von
261) a. a. 0. p. 244a. 11 est vrai qu'ü y a wie infinite de c hos es, (fest ä dire qu'ü
y en a toujours plus qu'on n'en peut assigner. Mais il n'y a point de nombre infini ni de
ligne ou autre quantüe infinie, si Von les prend pour des touts verüables. p. 2446. On
se trampe en voulant s'imagtnet un espace absolu, qui sott un tout absolu, cotnpose de
parties. II n'y a rien de tel. Cest une notion qui implique contradiction et ces tous infi-
nis et leur opposes , infiniment petits, ne sont de mise que dam les calculs des geometres,
tout comme les racines imaginaires.
262) a. a. 0. p. 2446, §4. §6.
409] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 219
Grössen beruhe und als solcher dem Begriff des Endlichen vorhergehen
soll.'0) In sofern jedoch dieses Unendliche identisch sein soll mit dem
Absoluten, liegt es wenigstens nicht in der Reihe der Begriffe, mit wel-
chen Locke den Begriff des mathematisch Unendlichen in eine von Leib-
niz nicht bestrittene Verbindung setzt, und Leibniz nnterlässt, den Zu-
sammenhang dieses mathematisch Unendlichen mit oder seinen Gegen-
satz zu dem, was er das wahre Unendliche nennt, irgendwie näher dar-
zulegen. Dass die Uebertragung des Begriffs des Unendlichen auf den
Begriff und die Eigenschaften Gottes , wenn sie etwas mehr sein will,
als der Ausdruck dafür, dass seine Macht, Weisheit u. s. w. jedes uns
bekannte Maass überrage, die Grenze dessen, was uns begreiflich sei,
überschreite, hatte Locke gleich im Eingange seiner Erörterung über
das Unendliche hervorgehoben und in der Erklärung Leibniz's, dass das
wahre Unendliche Gott und die göttlichen Attribute seien, liegt nichts,
was das jenseits dieser Grenze liegende Dunkel aufhellte.
Eine der wichtigsten Erörterungen Locke's hatte endlich der An-
wendung des Begriffs der Identität sowohl auf die Dinge ausser uns als
auf uns selbst gegolten, d. h. der Frage, was uns in unserer natürlichen
Auffassung veranlasst,, sowohl jedes individuelle Ding ausser uns für
dasselbe zu erklären, als auch uns selbst für dieselbe Person zu halten ;
woran sich für ihn die weitere Frage geknüpft hatte, ob in der Einheit
des Selbstbewusstseins auch schon der Beweis für die Einheit der Sub-
stanz als des Trägers dieses Selbstbewusstseins, mithin für die reelle
Einheit der Seele liege. Er hatte die zwingende Kraft des Schlusses
von diesen lhatsächlich vorgestellten Einheiten auf die Einheit der Sub-
stanz geleugnet; bei den unbelebten äusseren Dingen ist es die Gleich-
heit der Vorstellungen von dem Dinge im Moment der früheren und der
jetzigen Auffassung, bei den belebten Wesen, den Menschen nicht aus-
genommen , ist es die Einheit der Organisation und der Lebensfunetio-
nen, rücksichtlich unserer eigenen Persönlichkeit ist es der continuir-
liche Zusammenhang des Bewusstseins unserer eigenen Vorstellungen,
263) a. a. 0. p. 244a, § \. Lc vrai infmi ä la rigueur n'est que dans Vabsolu qui
est anterieur ä toute composition, et n'est point forme par faddition des parties. § 2. Z/fa-
fini veritable riest pas une modification, c'est fabsolu ; au contraire, des qu'on modifie, on
se borne et föime un fini. p. 2446. L'idee de fabsolu est en nous interieurement comme
celle dfitre. Ces absolus ne sont autre chose que les attributs de dieu , et on peut dire
qu'ils ne sont pas moins la source des idees, que dieu est lui mime le principe des e*tres.
g£0 G. Hartenstein, [440
woran die Vorstellung der Identität haftet , so dass namentlich in dem
letzten Falle die Vorstellung des mit sich selbst identischen Ich nicht
gebunden erscheint an die Identität der Substanz. Diese ganze Reihe
von Erörterungen bestreitet Leibniz keineswegs als irrthümlich, in so
fern sie sich auf die vorgestellte Einheit der Dinge und unserer
eigenen Persönlichkeit beziehen ; aber er tadelt die Genügsamkeit Locke's,
dass er auf der Grundlage dieser vorgestellten Einheit nicht einen Schritt
weiter zur Entscheidung über das Wesen der Sache selbst fortgehe.
Er leugnet desshalb, dass die Dinge nur nach ihren räumlichen und
zeitlichen Verhältnissen einerlei oder verschieden seien; es müsse in
ihnen selbst ein Princip der Verschiedenheit und damit der Unterscheid-
barkeit liegen ; und während Locke mit einer gewissen Ironie die Be-
deutung des sogenannten Princips der Individuation eben auf diese Gleich-
heit räumlicher und zeitlicher Verhältnisse beschränkt hatte, legt Leibniz
auf die Anerkennung desselben im Sinne eines die Individualität der
Dinge von innen heraus bestimmenden Princips ein grosses Gewicht.164)
Dass für ihn dieses Princip der Individuation und der Identität der Dinge
mit sich selbst in den mit der Materie verknüpften Entelechieen, in den
Monaden liegt, würde sich von selbst verstehen, auch wenn er es nicht
ausdrücklich ausspräche.965) Wenn er hinzufügt, dass ohne eine solche
substanzielle Einheit die den Dingen beigelegte Einheit und Identität
264) a. a. 0. p. 2776, § 2. // faut loujours qu'outre la difference du tems et du
Ueu, il y aitun principe interne de distincHon. ... § 3. Le principe d individuation revient
dans les indmdus au principe de disUnction dont je viens de parier. Dann, nachdem er
die bekannte Geschichte von dem zwei vollkommen identische Blatter vergeblich
suchenden Edelmann erzählt hat, setzt er hinzu : On voit par ces considerations negli-
gees jusqu' ici, combien dans la philosophie on s'est eloigne des notions les plus naturelles
et combien on a ete eloigne des grands principes de la vraie metaphysique 1 Als ob Locke
in Gefahr gewesen sein würde, zwei an verschiedenen Zweigen gewachsene und über-
dies durch allerlei kleine Verschiedenheiten unterscheidbare Blätter ohne Hülfe des
Princips der Individuation für identisch zu halten !
265) a. a. 0. p. 278a. L' Organisation ou configuration sans un principe de vie
subsistant, que j'appelle monade, ne suffirait pas pour faire demeurer idem numero ou le
meme mdividu . . . Quant aux substances, qui ont en elles memes une veritable et reelle
unite substantielle, ä qui puissent appartenir les actions vitales proprement dites, et quant
aux etres substantielles, quae uno spiritu contmentur, comme parle un ancien jurisconsulte,
c'est d dire qu'un certain esprit indwisible anime, Qti a raison de dire qu'eUes deineurent
parfaitement le mime individu par cette ame ou cet esprit, qui fait le moi dans Celles qui
pensent.
44 <] Locke's Lehre von dbb mbmschl. Erkenntniss u. 8. w. 224
nur eine scheinbare sei ,266) so muss bemerkt werden , dass Locke die
metaphysische Frage , ob und in welchem Sinne die Dinge eins sind,
eigentlich gar nicht berührt und sich eben begnügt hatte, zu zeigen, dass
die vorgestellte und den Dingen beigelegte Einheit über jene Frage
nichts entscheide.
Gleichwohl behauptet Leibniz rücksichtlich der Identität der Per-
son keineswegs, dass der Begriff des identischen Selbstbewusstseins
die Identität der Seelenmonas einschliesse, sondern nur, dass die That-
sache der Identität des Ich mit sich selbst eine ausreichende Bürgschaft
für diese darbiete. Dass das empirische Ich an die Continuität dessen,
was in das individuelle Bewusstsein fällt, gebunden sei, gibt er nicht
nur zu , sondern fübrl es auch in seiner Weise , geistreich wie immer,
weiter aus; nur könne die unmittelbare Selbstauffassung rücksichtlich
der Voraussetzung, dass der Identität des empirischen Ich eine identi-
sche Substanz zu Grunde liege, unmöglich täuschen; höchstens durch
einen Act der göttlichen Allmacht, also durch ein Wunder, sei es mög-
lieh , dass bei einem Wechsel der Substanz die Identität des Selbstbe-
wusstseins unangetastet bleibe.267) So ist es nicht eine Deduction aus
966) a. a. 0. p. 2786; Si on ne se rapporte point ä Farne, il riy aura point la
meme vie ni union vitale non plus. Amsi cette identüe ne seraü qu' apparente,
267) a. a. 0» p. 280a. II semble que vous tenez, que cette identüe apparente
se pourrait conserver, quand il n'y en aurait point de reelle. Je croirois que cela se
pourrait peut-etre par la puissance absolue de dieut mais suivant Vordre des choses Viden-
tite apparente d la personne mime, qui se sent la mime, suppose Videntite rielle d chaque
passage prochain, aecompagne de reflexion ou de sentiment du moi, une pereeption
intime et imme diäte ne pouvant tromper naturellement. ... 7/ suffit pour
trouver Videntüe morale par soi mime, qu'il y ait une moyenne liaison de consciosite dun
etat voism ou meme un peu elotgne d taufte, quand quelque saut ou Intervalle oublie y
seroitmSle. Es folgt eine Erläuterung durch Beispiele, dann fährt Leibniz p. 2806 fort:
Pour oe qui est du soi, il sera bon de le dütmguer de Vapparenee du soi et de la
consciosite. Le soi fait Videntite reelle et physique, et V apparence du soi, ac-
compagnee de la verite , y Joint Videntite personelle. Ainsi ne voulant point dire,
que Videntite personelle ne seiend pas plus hin que le souvenir, je dirais encore
moins, que le soi ou Videntite* physique en depend. L'identite reelle et perso-
nelle se prouve le plus certainement qu'il se peut en mattere de fait, par la refle-
xton presente et immediate cf. p. 279a. 284a. favoue que si toutes les apparences etoient
changees et transferees dun esprit ä un autre, ou si dieu faisoit un echange entre deux
esprits, donnant le corps visible et les apparences et consciences de Vun d V autre, Videntite
personelle, au Heu d'e*tre attachee ä celle de la substance, suwroit les appa-
rences constantes u. s. w.
/
222 G. Hartenstein, [MS
dem Begriffe der Persönlichkeit oder des- Ich, sondern die Bernfang auf
eine Thatsache der innern Erfahrung, durch die sich Leibniz zu einer
Voraussetzung berechtigt glaubt, welche Locke durch diese Thatsache
für nicht hinlänglich gewährleistet gehalten hatte. Für Locke bleibt da-
her die Identität des Ich mit sich selbst lediglich ein empirisches Factum,
welches für unsere Selbstauffassung an die ContinuRät der Zustände des
Bewusstseins gebunden ist; für Leibniz jst diese Continuität eine Folge
des Zusammenhangs , kraft dessen jeder spätere Zustand oder Thötig-
keitsacl der Seele durch ihre früheren bedingt ist;208) in der Sonderung
des Begriffs vom Ich vom Begriff der Seelensubstanz stimmen beide
überein.
XI.
So weit sich in dem Bisherigen bei grosser Uebereinstimmung in
wichtigen Punkten ein principieller Gegensatz zwischen Locke und Leib-
niz gezeigt hat, bezieht sich derselbe durchaus auf metaphysische Fra-
gen; und man könnte, weil Leibniz zu der Richtigkeil seiner Metaphysik
die Zuversicht einer sehr lebhaften Ueberzeugung hat, Locke dagegen
auf eigentliche Metaphysik Verzicht leistet, vielleicht sagen, dass beide
in dieser Hinsicht unvergleichbar sind , wenn nur der Leibnizische Be-
griff der Substanz und der Kraft über das Wesen der Dinge und die
Wirkungsart der von ihm den Erscheinungen vorausgesetzten Realprin-
cipien ausgiebigere Belehrungen darböte, als der Fall ist und nicht in
seiner Anwendung auf dieselbe Erfahrung zurückwiese, deren gegebene
Formen Locke nicht sowohl als die Quelle, als vielmehr als die Schranke
des Wissens ansah. Der weitere Verlauf der betreffenden Werke beider
Denker gibt nun Veranlassung, ihr VerhäHniss rücksichtlich solcher Fra-
gen zu untersuchen, die sich direct auf die Fundamente, die Methoden
und die Arten der Erkenntniss beziehen. Locke hatte diesen Unter-
suchungen eine Reihe von Unterscheidungen theils der Art, wie die
Vorstellungen gedacht werden, theils ihrer Beziehung auf das, was
durch sie gedacht wird, vorausgeschickt; es ist in dieser Beziehung an
268) a. a. 0. p. Stba.Lavenir dann chaque substance a une parfaite liaison avee U
passe. Cest ce qui faxt lidentüe de findividu.
443] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 223
seine Unterscheidung klarer und deutlicher, vollständiger und unvoll-
ständiger, reeller und chimärischer oder phantastischer, wahrer und fal-
scher Vorstellungen zu erinnern. Leibniz ist weit entfernt, diese Unter-
scheidungen zu verwerfen, aber er bestimmt sie zum Theil schärfer, zum
Theil anders als Locke und diese Bestimmungen verdienen zuvörderst
angegeben zu werden.
Die Locke'sche Unterscheidung klarer und deutlicher Vorstellungen
(vgl. oben Anm. 145, 116) verwirft Leibniz als ganz ungenügend. Er
schliesst sich vielmehr dem Sprachgebrauch der Cartesianischen Schule
an, dem gemäss eine Vorstellung zugleich klar und verworren sein kann,
wenn sie ausreicht, das Vorgestellte von anderem Vorgestellten zu unter-
scheiden, während ihre einzelnen Merkmale nicht gesondert von einander
gedacht werden.200) Locke hatte dabei Unklarheit und Verworrenheit als
Unangemessenheit an die für gewisse Vorstellungen und Vorstellungscom-
plexe in der Sprache schon festgestellten Zeichen erklärt. Leibniz , ob-
wohl mit ihm über die scientifischen Nachtheile einverstanden , welche
die Unbestimmtheit der sprachlichen Bezeichnung und die dadurch veran-
lasste Vieldeutigkeit und Confusion des mit diesen Sprachzeichen operi-
renden Denkens nach sich zieht,270) hebt hervor, dass Klarheit und Deut-
lichkeit einer Vorstellung nicht an die Art ihrer Bezeichnung, sondern an
die Art gebunden ist, wie ihr Inhalt gedacht wird.271) Er. findet darin die
Veranlassung, den von Locke unbeachtet gelassenen Unterschied zwi-
schen Bild und Begriff geltend zu machen. Locke hatte gesagt, dass
eine und dieselbe. Vorstellung von der einen Seite deutlich, von der
andern verworren sein könne, wie wenn Jemand z. B. bei der Vorstel-
269) a. a. 0. p. 2886. Je dis qu'une idee est claire, lorsqu'elle suffit pour recon-
naitre la chose et pour la distinguer; . . . sans cela Videe est obscure. . . . Suivant celte
notion, que vous donnez de Videe distincte, je ne vois point le moyen de la distinguer de
Videe claire. Cest pourquoi fax coutume de suivre ici le langage de M. Descartes , chez
qui une idee pourra iure claire et confuse en meme tems . . . Ainsi quoique selon nous les
idees distmctes distinguent Vobjet d'un autre, neanmoins, comme les claires, mais.confuses
en elles-mSmeSy le fönt aussi, nous nommons distinctes non pas toutes celles, qui sont bien
distinguantes ou qui distinguent les objets, mais celles, qui sont bien distinguees, c'est ä
dke qui sont distinctes en elles-memes et distinguent dans Vobjet des marques qui le fönt
connaäre u. s. w.
270) a. a. 0. p. 2906, § 9. 294a, § 12.
27 1) a. a. .0. p. 290a. // ne s'agit point des noms, mais des proprietes distinctes,
qui se dowent trouver dans Videe lorsqu'on en aura demtte la confusion.
Ablm.wil. d. K. S. Ger d. Wim. X. .15
224 6. Hartenstein, [H4
lung eines Tausendecks , von dem er sich keine hinreichend deutliche
Vorstellung machen könne, um es von einem Neunhundertundneunund-
neunzigeck zu unterscheiden , doch aus der deutlichen Vorstellung der
Zahl 1000 Schlüsse ziehe. Die Undeutlichkeit, bemerkt Leibniz, gilt hier
dem Bilde, nicht dem Begriffe des Tausendecks. Der Begriff kann
deutlich, das Bild unklar und verworren , und umgekehrt das Bild klar
und doch der Begriff undeutlich sein.271)
Ebenso unterlägst Leibniz nicht die Unbestimmtheit zu rttgen , de-
ren sich Locke im Gebrauche der Bezeichnung: reelle Vorstellungen
schuldig macht. Leibniz versteht unter Realität einer Vorstellung ihre
logische Gültigkeit, d. h. eine Vorstellung ist reell, deren Bedeutung für
das Denken durch keinen Widerspruch aufgehoben wird ; Locke hatte
darunter zugleich ihre empirische Gültigkeit verstanden, so dass für ihn
der Widerspruch , mit welchem eine phantastische Vorstellung behaftet
ist, entweder in einer prätendirten, aber nicht nachweisbaren Beziehung
auf die Wirklichkeit oder in ihrem eigenen Inhalt liegt (vgl. oben S. 1 58).
In seinen Ausdrücken hat es aber anfangs den Anschein, als werde die
Realität einer Vorstellung abhängig gemacht lediglich von ihrer Bezie-
hung auf die empirische Wirklichkeit, obwohl er später die Vorstellungen
der Relationen und der gemischten tnodi gerade desshalb für reelle er-
klärt, weil sie keinen empirischen Vergleichungspunkt haben. Desshalb
bemerkt nun Leibniz, eine Vorstellung könne in der Natur gegründet,
also empirisch gültig sein, ohne mit dem; worin sie gegründet sei, über-
einzustimmen ; den Namen der Realität oder Gültigkeit verdiene sie nur
dann, wenn sie möglich sei d. h. logische Gültigkeit habe, obgleich ihr
nichts Existierendes entspreche.373) Damit falle auch der Unterschied
zwischen Einbildungen und gültigen Vorstellungen , den Locke rück-
sichtlich der Vorstellungen der Dinge einerseits und der tnodi anderer-
seits in ganz verschiedenem Sinne geltend mache; beziehe man dieRea-
272) a. a. 0. p. 294 6. On confond ici Videe avee Vimage u. s. w.
273) a. a. 0. p. 2926. Lidee peut avoir un fondement dans la nature, saus itre
con forme ä ce fondement . . . Une idee aussi sera reelle quand eile est possible, quoiqu'
auetm iure ewistant riy reponde. p. 2936. Les relations . . et les modes mixte* . . seit
qu'ils dependent ou ne dependent point de l'esprit, il suffit pour la reakte de leurs idees,
que ces modes soient possibles ou, ce qui est la mime chose, mtelligibles distinctement.
Et pour est effet, il faut que les ingrddiens soient compossibhs, €est ä dire qu'ils puissent
oonsister ensemble.
445] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 225
litat der Vorstellungen auf die Wirklichkeit, so lasse sich nie ganz genau
bestimmen , ob eine Vorstellung reell oder eingebildet sei, denn, was
noch nicht existiere, könne später zum Dasein kommen, und vieles exi-
stieren, wovon man nichts wisse.274)
Rücksichtlich der Locke'schen Unterscheidung adäquater und in-
adäquater Vorstellungen bemerkt er, dass diese Unterscheidung viel-
mehr eine Unterabtheilung der Deutlichkeit der Vorstellungen sei.975)
Er lehnt desshalb auch die Anwendung ab , welche Locke von diesem
Unterschiede gemacht hatte ; einfache Vorstellungen , wie sie uns die
sinnlichen Empfindungen darbieten, sind niemals adäquat;876) Vorstel-
lungen der modi und Substanzen dagegen können adäquat sein , wenn
die den Begriff bildenden Theilvorstellungen die Möglichkeit des Ge-
dachten begreiflich machen ; in diesem* Sinne haben die Substanzen so
gut, als die modi ihr Maass an der Denkbarkeit des Gegenstandes.377)
Bei der Wichtigkeit, welche die Feststellung des Beziehungspunk-
tes und die Definition der Wahrheil Air die Ansiebt von der mensch-
lichen Erkenntniss bat, weil alle Erkenntniss nach gar nichts Anderem
strebt als nach Wahrheit, ist die grosse Kürze auffeilend, mit welcher
274) a. a. 0. p. 1936. De cette moniere, prenant le tertne de reel et de chitnerique
autrement par rapport aux idees des tnodes, que par rapport ä ceües, qui farment wie
chose substantielle , je ne vois point quelle notion est commune d tun et ä tautre cos; . .
cor les modes vous soni reels quand ils sont possibles, et les choses substantielles riont des
idees reelles chez vous que lorsqu'elles sont existantes. Mais en se voulant rapporter ä
Cexisteiice on ne sauroit gueres de'terminefi si une idee est chimerujue ou non, parceque
ce qui est possible . . . peut avoir existe autrefois ou existera peut+itre «n jour o. s. w,
275) a. a. 0. p. 294a. Tai defini autrefois ideam adaequatam (une idee ac-
complie) celle qu'est si distinete que tous les Ingrediens sont distmetes et teile est d peu pres
tidee d'un nombre. Mais lorsqu'une idee est distinete et conüent la deßnition ou les mar-
ques reeiproques de tobjet, eile pourroit itre inadaequata ou inaecomplie, savoir lors-
que ees marques ou oes ingrediens ne sont pas aussi toutes distinetement eonnues. . . Chez
tnoi la dwision des idees en aeeomplies ou inaceompUes niest qu'une sousdivision des idees
distinetes.
276) a. a. 0. II ne me parait point , que les idees confuses, comme celle que nous
avons de la douceur, meritent ce nom; cor quoiqu'elles expriment la puissance, quipro-
duit la Sensation, eties ne t expriment pas enUerement ou du moins nous ne pouvons point
le savoir u. s. w.
277) a. a, 0. p. 2946. Videe du triangle ou du courage a ses archetypes dans la
possibiUte des choses aussi bien que Videe de tor. . . . Une idee, soit qu'elle soit celle d'un
mode ou celle dune chose substantielle pourroit itre complette ou incomplette sehn qu*on
entend bien ou mal les idees partiales qui forment fidde totale.
15*
226 G. Hartenstein, [^6
Leibniz im 23. Capitel des zweiten Buchs die ziemlich ausführlichen
Erörterungen Locke's über den Unterschied wahrer und falscher
Vorstellungen mehr übergeht, als entweder bestreitet oder berichtigt.
Locke hatte wahr und falsch für Prädicate nicht der Dinge, sondern der
Vorstellungen erklärt, und zwar nicht isolirter Vorstellungen, sondern
in so fern sie in der Form eines Satzes oder eines Urtheils rücksichtlich
ihrer Einstimmung mit etwas Anderem gedacht werden. Ohne an die-
ser Stelle eine positive Entscheidung darüber auszusprechen, worin die
Wahrheit eines Urtheils bestehe, hatte er die Fälle angegeben, in denen
man in der Regel von Wahrheit oder Falschheit der Vorstellungen spre-
che, indem man das eigene Urtheil entweder mit den Vorstellungen
Anderer, oder mit seinen eigenen Vorstellungen, oder mit der Wirklich-
keit der Dinge vergleiche (vgl. oben S. 160). Leibniz fügt, ohne auf die
Auseinandersetzung Locke's, in wie fern in diesen Fällen von Wahrheit
gesprochen werden könne, einzugehen, nur die Worte hinzu (p. 294fr):
Je crois quon pourrait eniendre ainsi les vraies et les fausses idees; mais
comme ces differens sens ne conviennent point entr' eux et ne sauroient etre
ranges commodemmt sous une notion commune , j'aime mieux appeller des
ideqs vraies et fausses par rapport ä une autre affirmation tadle , quelles
retiferment toutes9 qui est celle de la pössibilite . Ainsi les idees possibles
sont vraies et les idees impossibles sont fausses. Das Hauptgewicht
dieser Bestimmung liegt in der bei Leibniz immer wiederkehrenden Be-
rufung auf die Möglichkeit als Kriterium der Wahrheit, und es ist not-
wendig sogleich hier die Art zu berücksichtigen, wie er sich der späte-
ren definitiven Bestimmung Locke's über den Begriff, und die Bedingun-
gen der Wahrheit gegenüber ausspricht. Für Locke gibt es keine Wahr-
heit der Dinge , sondern nur eine Wahrheit der Urtheile oder allgemein
der Gedanken. Wahr ist ihm ein Satz, wenn er eine den Verhältnissen
des Gedachten entsprechende Verknüpfung und Trennung der Zeichen
enthält (vgl. oben S. 181). Darin liegt, dass sich die Wahrheit zunächst
auf die Verhältnisse der Begriffe und erst vermittelst dieser auf die
wirklichen oder für wirklich gehaltenen Dinge bezieht, und es ist ein
wesentlicher Grundzug seiner Lehre, dass sie die Wahrheit der Erkennt-
niss im strengen Sinne des Worts in das Gebiet verlegt, in welchem das
Denken mit seinen eigenen Begriffen beschäftigt ist, aber ihm die Mittel
abspricht, die Uebereinstimmung der Gedanken mit den Dingen positiv
nachzuweisen. Leibniz, obgleich er mit den Ausdrücken der Locke'schen
M7] Lockk's Lkiire von drr mensghl. Erkenntmss U.S.W. 227
Definition eines wahren Satzes nicht zufrieden ist,*78) ist doch mit ihm
vor Allem darüber einverstanden, dass Wahrheit und Falschheit Prädr-
cale der Gedanken sind; den Ausdruck: metaphysische Wahrheit in
dem Sinne , dass darin (etwa nach Art des Satzes : omne ens est unum,
verum, bonum) die Wahrheit Prädicat des Seienden sei , erklärt er Air
einen unnützen und fast sinnlosen. Aber die Wahrheit soll in einer
Uebereinstimmung der Sätze mit den Dingen, um die es sich handelt,
bestehen, und nun setzt er auch hier hinzu , dass er die Sätze für wahr
erkläre, welche die Möglichkeit des Gegenstandes der Vorstel-
lung bejahen.-79) Man muss sich fragen , was soll hier die Möglichkeit
bedeuten? Bedeutet sie die blos logische Möglichkeit, so verbürgt
diese weder die Wirklichkeit, noch viel weniger die Notwendigkeit des
Gedachten, und wenn Leibniz das blos nicht Undenkbare im Ernste auch
schön für wahr erklären will , so begreift sich dies nur durch die Erin-
nerung daran, dass ihm das Mögliche als möglicherweise Seiendes
allerdings eben so wohl für ein Seiendes galt als das Wirkliche; begeg-
net es ihm doch , dass er das Mögliche einmal geradezu das Wirkliche
nennt (vgl. unten Anm. 288). Dächte man aber bei dieser logischen
Möglichkeit an die aus hypothetisch angenommenen Möglichkeiten mit
logischer Nothwendigkeit abgeleiteten Wahrheilen, wie die der reinen
Mathematik durchaus sind , so liegt die Wahrheit derselben nicht in der
blossen Möglichkeit der Voraussetzung, sondern in der Nothwendigkeit
der Abfolge. Für diese kommt der Begriff des Möglichen nur in soweit
in Betracht, als logische Nothwendigkeit Unmöglichkeit des Gegentheils
ist, und in diesem Sinne sagt Leibniz (p. 309a): la connaissance des posL
sibüites et des necessites (car necessaire est , dont l'oppose liest point pos-
sible) fait les sciences demonstratives. Sollte jedoch die Möglichkeit die
reale Möglichkeit bedeuten , so entbehrte die Frage darnach bei wirk-
278) a. a. 0. p. 355a. La convenance ou la disconvenance riest pas proprement ce
quon cxprime par la proposiüon. Deux oeufs ont de la convenance, et deux ennemis oni
de la disconvenance. II s'agit ici dune moniere de convenir ou de disconvenir toute parti-
culiere. Ainsije crois que cette definiHon riexplique point le point , dont il s'agit.
279) a. a. 0. p. 3556. La verite metaphysique est prise vulgavrement par les meta-
physieiens pour un attribut de l'etre, mais c'est un attribut bien inutile et presque vide de
sens. Contentons nous de chercher la verite dans la correspondence des propositions , qui
sont dans Fesprit, avec les choses, dont il s'agit. 11 est vrai que j'ai attribue aussi la verite
aux idees en disant que les idees sont vraies et fausses; mais alors je l'entends en effet de
la verite des propositions , qui affirment la possibilite de l'objet de l'idee.
228 G. Habtbnstbik, [4 48
liehen Dingen jedes Anknüpfungspunktes , bevor man ihre Wirklichkeil
erfahren hal, und fällt dann mit der Untersuchung ihrer Bedingungen
und Ursachen d. h. mit einem Denken über die gegebene Wirklichkeit
zusammen , welches sich mit dem Versuche, ein ihm von dieser Wirk*
lichkeit aufgegebenes Problem zu lösen, an sich selbst gewiesen findet,
und die Wahrheit kann wenn irgendwo nur in dem nothwendigen Zu-
sammenhang der Gedankenbestimmungen liegen, welche die Lösung des
Problems enthalten. In beiden Fallen ist also der Begriff der Wahrheit,
wie Locke es ausspricht ', an die Verhältnisse des Gedachten gebunden ;
und wenn man sich die Berufuifg Leibniz's auf die Möglichkeit als Kri-
terium der Wahrheit entwickelt, so scheint zwischen beiden keine prin-
cipielle Verschiedenheit in Beziehung auf den Begriff der Wahrheit ob*
zuwalten, zumal da der Gegenstand, die Sache, mit welcher die
Wahrheit übereinstimmen soll , bei Leibniz durchaus eben so den blos
gedachten, als den wirklich gegebenen Gegenstand bezeichnet.
Locke hatte , um den Werth der in dem natürlichen Vorstellungs-
kreis vorhandenen Erkenntnissformen zu prüfen, in den ersten Capiteln
des dritten Buchs die Sprache als den Ausdruck dieses Vorstellungs-
kreises einer Erörterung unterzogen. Was Leibniz dazu bemerkt, hat
zunächst durchaus keinen polemischen Charakter, sondern er benutzt
diese Gelegenheit, um sich über diesen ihm selbst wichtigen und inter-
essanten Gegenstand nicht ohne das Gefühl einer gewissen Ueberlegen-
heit über Locke zu verbreiten. Wenn er jedoch daran erinnert, die Affen
hatten wahrscheinlich dieselben Sprachorgane wie der Mensch, ohne
doch darum zu sprechen, und das zeige, dass zur Entstehung der Sprache
9
noch etwas mehr gehöre, als diese Organe, so bedurfte Locke dieser
Belehrung nicht.280) Ebenso, wenn Locke die Bedeutungen der Worte
für willkührlich festgestellte erklärt und Leibniz in einer weitläufigen,
mit etymologischer Liebhaberei ausgeführten Nachweisung auseinander-
setzt, dass natürliche Verhältnisse und zufällige Umstände den articulir-
len Lauten ihre Bedeutung gegeben hätten, und dabei auf eine lange Di-
380) L. ÜI, eh. I, § t; bei beiden.
449] Lockk's Lehkk von dbr mbnschl. ERKENNTNI8S ö. s. w. 229
gression über die Wichtigkeit der Sprachforschung für die Völkerge-
schichte eingeht,*1) so zeigt sich darin zwar seine bewunderungswür-
dige Vielseitigkeit, aber das worauf es Locke ankam , dass die Sprache
ein System von Zeichen für die Gedanken und ihre Configoration ist,
wird dadurch eben so wenig berührt, als durch die Hervorhebung des
für die Psychologie allerdings sehr wichtigen, aber auch von Locke nicht
übersehenen Umstands , dass die Sprache nicht abschliessend der Mit-
theilung, soudern auch der Reproduction und Fixirung der eigenen Ge-
danken dient.282) Nur die Erinnerung daran , dass die Entstehung der
Sprache und. die im Verlaufe ihrer Ausbildung stattfindende Uebertra-
gung sinnlicher Bezeichnungen auf unsinnliche Verhältnisse nichts über
die Begriffe, ihren Inhalt und ihre Verhaltnisse entscheide, würde von
Wichtigkeit sein,383) wenn nicht Locke selbst hierauf eben desshalb auf-
merksam gemacht hatte, um zu zeigen, wie vielfach die »natürliche Ord-
nung« der Begriffe durch diese Art ihrer Bezeichnungen gestört und
verwirrt wird.
Gleichwohl liegt hierin die Vorbereitung einer Polemik , die in den
folgenden Capiteln über die allgemeinen Begriffe und den Erkenntniss-
werth, den diese oder, was für Locke dasselbe ist , die sie bezeichnen-
den Worte in Anspruch nehmen können , hervortritt. Locke's Ansicht
von den allgemeinen Begriffen reduciert sich im Wesentlichen auf folgende
Satze: 1) allgemeine Begriffe sind lediglich Producte der Reflexion und
Abstraction und (wenigstens für den gewöhnlichen Gedankenlauf) ihrer
Bedeutung nach an das Wort geknüpft; 2) sie sind zum grossen Theil
willktthrlich gebildete und bezeichnete Vorstellungscomplexe und diese
ihnen anklebende Zufälligkeit erstreckt sich über den ganzen Gebrauch,
der mittelst der Definitionen und Classificationen von ihnen gemacht
wird, und eben desshalb sind sie 3) überall, wo es sich um die Erkennt-
niss der wirklichen Dinge handelt, ungenügend und unsicher, wahrend
da, wo die Reflexion durch gewisse Allgemeinbegriffe lediglich Producte
des Denkens ohne Beziehung auf ein Wirkliches bezeichnet, eine Incon-
gruenz zwischen dem Begriffe und dein, was er bezeichnen will , nicht
stattfindet (vgl. oben S. 163fgg.}. Den Erörterungen Locke's über die
281) a. a. 0. p. 899— 30«.
282) Vgl. a. a. 0. p. 297a, § 2 mit Locke B. III, cb. IX, § 2.
283) a. a. 0. p. 2976, § 5.
230 G. Hartenstein, [*20
Entstehung allgemeiner Begriffe, in sofern sie gedacht werden, und
ihre Unentbehrliehkeit für den Verkehr durch die Sprache versagt nun
Leibniz seine Zustimmung nicht,*84) und auf die anticipirende Bemerkung
Locke's , das ganze Geheimniss der Gattungen und Arten , von denen
man in den Schulen so viel Lärm gemacht habe , reduciere sich zuletzt
auf. die Feststellung mehr oder weniger abstracter Begriffe , denen man
bestimmte Namen gebe, erwidert Leibniz abspringend, dass die Classi-
fication der Dinge denn doch von grosser Bedeutung sowohl für das
Gedächtniss als für das Urtbeil sei.*85) Denn nicht diese Nützlichkeit der
logischen Classificationen hatte Locke in Zweifel gezogen ,. sondern ihn
beschäftigte die Frage, ob eine logisch geordnete Reihe von Begriffen
das Wesen der Dinge ausdrücke, mit andern Worten: ob den Gattungen
und Arten, nach welchen wir die Dinge classificieren, reelle Gattungen
und Arten entsprechen, so dass unsere Classification die objective Ord-
nung dessen, was die Dinge sind, darstellen. Die folgenden Erörterun-
gen haben zu zeigen, in welchem Sinne Leibniz geneigt ist, die Realität
der Arten anzunehmen und ihre Erkenntniss durch Begriffe wenigstens
annähernd für möglich zu halten, während Locke die Berufung auf die
»specifischen Differenzen« und die damit prätendirte Erkenntniss der in
der Natur vorausgesetzten Arten für illusorisch erklärt.
Sein Widerspruch beginnt bei dem Satze Locke's, dass eben dess-
halb, weil die Allgemeinheit des Begriffs ein Product der Reflexion und
Abstraction sei , der allgemeine Begriff keine Bürgschaft dafür enthalte,
Ausdruck * der Wirklichkeit zu sein , wie sehr man auch das Wesen
der Arten durch solche Allgemeinbegriffe erkannt zu haben gemeint
habe. Leibniz leugnet diese Folgerung; die Allgemeinheit des Begriffs
beruhe eben auf der Aehnlichkeit der einzelnen Dinge und diese Aehn-
lichkeit sei selbst eine Realität; und indem der die Ansicht Locke's ver-
tretende Unterredner hinzufügt, Locke selbst bemerke, dass die Art-
begriffe sich auf dergleichen Aehnlichkeiten gründen, erwidert Leibniz,
eben darum könne man wenigstens versuchen, das Wesen der Gattungen
und Arten durch allgemeine Begriffe zu bestimmen. Selbst wenn man
zugebe, dass die menschliche Reflexion Begriffe und Benennungen fest-
284) Zu § \ — 5 des 3. Capitels p. 303a bemerkt er: Ces remarques sont bonnes
et il y en a qui conviennent avec Celles que je viens de faire,
285) a. a. 0. p. 304a, § 9.
<84] . Locu's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. 6. w. 231
stelle, die den Dingen nicht entsprechen , so ändere das nichts an den
Dingen und ihren Aehnlichkeiten;286) aber während man nun die Weisung
erwarten sollte, es komme darauf an , statt willktthrlicher Abstractionen
solche Allgemeinbegriffe zu bilden , die diesen Aehnlichkeiten entspre-
chen, spricht Leibniz zunächst die Erklärung aus, die ganze Frage nach
dem Wesen und den dasselbe ausdrückenden Gattungs- und Artbegriffen
beziehe sich überhaupt nicht auf das in der Natur vorliegende Wirkliche,
sondern auf ein von unseren Gedanken unabhängiges Mögliche; gerade
desshalb seien die Arten unvergänglich, weil es sich hier nur um Mög-
lichkeiten handle.287)
Von diesem SaUe aus verwirft nun Leibniz die Locke'sche Unter-
scheidung zwischen dem nominellen und reellen Wesen (vgl. oben
S. 1 65) als eine verwirrende Neuerung mit grossem Eifer. Er übersieht
dabei, dass Locke sich dieser Ausdrücke nicht in dem Sinne, als gebe
es zweierlei Arten von Wesen, sondern lediglich desshalb bedient hatte,
um darauf aufmerksam zu machen, dass das, worin man den Ausdruck
des Wesens zu finden wähne, nichts als ein durch ein Wort bezeichne-
tes Abstractum sei. Dennoch findet Leibniz nöthig zu bemerken, es gebe
nicht zweierlei Wesen,, sondern nur einerlei; und das Wesen sei im
Grunde nichts Anderes, als die Möglichkeit dessen, was Gegenstand
der Untersuchung sei. Dieses Mögliche werde durch die Definition aus-
gedrückt ; drücke die Definition es nicht aus, so sei sie eine blosse No-
minaldefinition ; denn dann bleibe der Zweifel übrig, ob sie etwas
Wirkliches, das heisse etwas Mögliches, ausdrücke, bis die
Erfahrung darüber entscheide, während eine Real- oderCausaldefinition
die Realität des Gegenstandes begreiflich machen würde, indem sie seine
Ursachen und mögliche Entstehung vor Augen lege. Die Dinge haben
daher nur ein Wesen, aber es sind verschiedene Definitionen von ihnen
286) a. a. 0. p. 305a. Je ne vois pas assez cette consequence. Cor la generaUle
consiste dans la ressemblance des choses singuheres entre elles et cette ressemblance est une
reaHte. Ph. faüais vous dire moi meme que ces espices sont fondees sur les ressemblance*.
Th. Pourquoi donc riy point chercher aussi Xessence des genres et des especes. ... Si les
hommes different dans le nom, cela change-t-ü les choses ou leur ressemblances?
287) a..a. 0. p. 3056. Au reste, que les hommes joignent telles ou telles idees ou
non et meme que la nature les joigne actuellement ou non, cela ne fait rien pour les essen-
ces , genres ou especes , puisqu'il ne s'y agit que des possibüües qui sont mdependantes de
notrepensee. p. 3066. Les especes sont perpetueUes, parcequ'il ne s'y agit que du pos-
sible. Vgl. oben Anna. 4 46.
932 6. Hartenstein, [IS9
möglich ; m) und selbst eine blosse Nomingldefinition drücke immer noch
etwas Reelles aus, nicht an sich, sondern als Ausdruck der Erfahrung,
die uns eine Verknüpfung gewisser Eigenschaften und Wirkungen in den
Dingen zeige, obwohl sie uns keine Erklärung dieser Verknüpfung dar-
biete.289)
Hiermit ist jedoch die Streitfrage schwerlich entschieden ; obwohl
Locke den Unterschied zwischen Nominal- und Realdefinitionen nirgends
geltend macht, so besagt doch seine Unterscheidung zwischen dem
nominellen und reellen Wesen dasselbe, und Realdefinitionen sind eben
das, was er vermisst. Es ist daher nöthig, der Art nachzugehen, in wel-
cher Leibniz die Bestimmungen Locke's über den Erkenntnisswerth der
allgemeinen Begriffe rücksichtlich der einfachen Vorstellungen, der ge-
mischten modi und Relationen, endlich der Substanzen weiter verfolgt*
In Beziehung auf die einfachen Vorstellungen geht er auf die Behaup-
tung Locke's, dass bei ihnen der Name auch die Sache bezeichne, gar
nicht ein ; da er mehrmals hervorgehoben hatte, dass die sinnlichen Em-
pfindungen mit Unrecht für objectiv einfach gehalten werden, und wir
gleichwohl über die Art, wie sie entstehen, keine ausreichende Rechen-
schaft geben können, so durfte er diesen Punkt für erledigt halten. Dass
er die von Locke geltend gemachte Beziehung auf äussere wirkliche
Dinge für nicht noth wendig erklärt, ist hier ein Nebenpunkt;290) die
Frage, in wie fern von einfachen Vorstellungen Definitionen möglich
sind , beantwortet er dahin , dass das streng Einfache allerdings nicht
288) a. a. 0. p. 3056. L'essenee dans le fond riest autre chose que la possibilite de
:e quon propose. Ce qrion suppose possible est exprime par la definition ; mais cette de-
finition riest que nominale , quand eile ri exprime point en meme tems la possibilite; cor
alors on peut douter, si cette definition exprime quelque chose de riet, c'est ä dire
de possible, jusqu' ä ce que lexperience vienne ä notre secours pour nous faire con-
naüre cette reakte a posteriori, lorsque la chose se trouve effeetwement dans k monde; ce
qui suffit au defaut de la raison , qui feraü cormaüre la reakte a priori en ewpoeanl la
cause ou la gmeration possible de la chose definie ... . II riy a qriune essence de la chose,
mais il y a plusieurs definüions qui expriment la meme essence.
289) a. a. 0. p. 306a. fatmerois mieuw de dire suivant i'usage commun
recu, que l'essenee de For est ce qui le constitue et qui tui donne ces qualiies sensibles,
qui le fönt reeonnaUre et qui fönt sa definition nominale. . . . Cependant la defimkon no-
minale se trouve id reelle aussi, non par eile meme (cor eile ne faü oonnaitre la possibiUie
ou la generaUon des corps), mais par fewperience u. s. w.
290) a. a. 0. p. 307a, § 2.
1*3] Locke's Lehre von dsr mbnschl. Erkbnntiuss ü. s. w. 333
defintert werden kann, dass aber bei dem, was für unsere Auffassung als
einfach nur erscheint, Definitionen möglich sein würden.391)
Rucksichtlich der modi und Relationen hatte Locke die Congruenz
des Begriffs mit der Sache und somit ihre Erkennbarkeit durch allge-
meine Begriffe behauptet. Leibniz ist natürlich weit entfernt, dies zu
bestreiten, sondern es ist nur die von Locke behauptete Beliebigkeit
dieser Begriffe, die er, wenn sie sich auch ausserhalb des wissenschaft-
lichen Denkens nicht wegleugnen lasse, innerhalb des letzteren zurück-
weist, indem es für dergleichen Begriffe eben so gut objective Maass-
stäbe gebe, als für Begriffe, die sich auf das Wirkliche im gewöhnlichen
Sinne beziehen. m)
Mit grosser Sorgfalt und Ausführlichkeit ist dagegen Leibniz bemüht,
den Locke'schen Säte , dass wir das Wesen der Dinge (der Substanzen)
durch die ihre Arten bezeichnenden Begriffe nicht erkennen, zu ent-
kräften, und dennoch darf man bezweifeln, ob ihm dies durch ein ande-
res Mittel gelingt, als dadurch, dass er von der Strenge der Forderungen
Locke's gerade das nachlässt, worauf es diesem ankam. Auf die Wider-
legung des Hauptsatzes , dass wir kein anderes Mittel zur Bestimmung
dessen, was die Dinge sind, haben, als die Auffassung ihrer erscheinenden
Merkmale, und dass es ein Irrthum ist, die durch Zusammenfassung
der gleichartigen Merkmale entstehenden Begriffe für solche zu halten,
welche dem Wesen der Arten entsprechen (vgl. obenS. 168), geht er gai*
nicht ein; es stand für ihn fest, dass das Wesen der substanziellen For-
men oder Entelechieen durch das, was sie wirken, wenn auch nur un-
vollkommen erkennbar ist; aber es ist fast eine Missdeutung, wenn er
Locke gelegentlich die Meinung unterlegt, als hange das Wesen und die
Natur der Dinge von unseren Vorstellungen ab.**) Eben so unzweifel-
194) a. a. 0. p. 308a. 6.
391) a. a. 0. p. 3096. La remarque est bonne quant o/uao noms et quant aux cour
tumes des hommes, mais eile ne change rien dans les soienees et dans la natare des ehoses.
. . . Dans la soience m4me% separee de son histoire ou existenee, U ri empörte poi$U, si les
peuples se sont confomes ou non ä ee que la raison ordonne. p. 3 4 Oft. Les patrons des
idees des uns sont aussi reels que ceuao des ictöes des autres. ... II est vrai qu'on ne voü
pas la justice comme un cheval, mais on ne tentend pas moins, ou pkttöt on tentend
mieux; eile riest pas moins dans les actions, que la droiture et Fobhquüe est dans les mov-
vemens, soit qu*on la eonsidire ou non*
393) a. a. 0. p. 323a. Je ne sais pomquoi on veut toujours che* vous faire de-
pendre de notre opinion ou oonnaissanee les vertue, les vtrites ei les espiees. Blies sont
234 G. Hartenstein, [484
haft ist es ibcü auch , dass unsere Classificationen der Natur der Dinge
wirklich entsprechen, wenn wir sie nur mit der gehörigen Vorsicht aus-
fuhren.294) Dass wir die Arten der Dinge nicht vollständig erschöpfen
können, gibt er sehr bereitwillig zu;295) aber die Unvollkommenheit und
Unangemessenheil unserer Classificationen erscheine minder gross, wenn
man nur den Unterschied der Art im mathematischen d. h. im streng
logischen, und im physischen Sinne beachte. Für die Art im ersteren
Sinne bedingt jede, auch die geringste Differenz eine Verschiedenheit
der Art; in diesem Sinne gehören niemals zwei Dinge zu einer Art, ja
selbst dasselbe Ding gehört in der Reihe seiner Veränderungen zu ver-
schiedenen Arten. Aber bei der Aufstellung der physischen Arten bin-
det man sich nicht an diese Strenge; es hängt von uns selbst ab, zu
sagen , dass ein Ding oder ein Körper zu derselben Art gehöre , wenn
man ihn nur wieder unter derselben Gestalt darstellen kann; ein Ver-
fahren, welches man auch da befolgt, wo man bei lebendigen Wesen
die Arten nach der Fortpflanzungsfähigkeit bestimmt296) Obwohl es nun
dans la natun, soit que nous le sachions et approuvions ou non. p. 34 9a. Vgl. oben
Anm. 154.
294) a. a. 0. p. 320a. Si nous combinons les idees compatibles , les limites que
nous assignons aux especes sont toujours exactement conformes ä la nature; et si nous
prenons gar de d combiner les idees, qui se trouvent actuellement ensemble, nos notions
sont encore conformes ä Fexperience; et si nous les considerons comme provisUmelles
seulement pour des corps effectifs, sauf ä Fexperience faxte ou d faire dy decouvrir
davantage, . . . nous ne nous y tromperons pas.
295) a. a. 0. p. 312 a. favois dessein . . . de dtre quelque chose dapprochant de ce
que vous venez dexposer, Monsieur; mais je suis aise detre prevenu lorsque je vois qu'on
dit les choses mieux que je n'aurais esper e de le faire, p. 31 9a. Je vous Fat deja accordc
(quon ne sauroü toujours assigner des bornes fixes des especes) ; car quand il s'agil des
fictions et de la possibilite des choses, les passag es despece en espece peuvent itre insen-
sibles u. s. w.
296) a. a. 0. p. 31 26. II y a quelque ambiguite dans le terme despece ou d4tre de
differente espece, qui cause tous ces em bar ras .. . On peut prendre r espece mathe-
matiquement et physiquement. Dans la rigueur mathematique la moindre diffe-
rence qui- fait que deux choses ne sont point setnblables en tout faxt qu'eUes different
despece. . . . De cette facon deux indwidus physiques ne seront jamais parfaüement sem-
blables et qui plus est, le meme individu passera despece en espece, car il riest jamais
semblable en tout en soi meme au dela dun moment. Mais les hommes etablissant des
especes physiques , ne s'attachent point ä cette rigueur et il depend deux de dire quune
masse qu'ils peuvent faire retourner eux memes sous la premiere forme, demeure dune
mime espece en gener al. Ainsi nous disons que l'eau, For ... le demeurent, . . . mais dans
les corps organises . . * nous defmssions V espece par la gener ation.
*25] Locke's Lehre von der mbnscbl. Erkenntniss u. s. w. 235
in der Natur Aehniichkeiten and Unterschiede gebe , die uns unbekannt
sind, so werden doch die mit Beachtung der in der Natur erkennbaren
Unterschiede aufgestellten Artunterschiede auch der Natur der Dinge
entsprechen. Viele unserer Unterscheidungen mögen in dieser Beziehung
nur einen provisorischen Werth haben ; je mehr wir aber die Entstehung
der Arten kennen lernen, desto mehr dürfen wir hoffen, der naturlichen
Ordnung uns zu nähern;297) jedenfalls existieren die Arten in der N&tur
ganz unabhängig von unserer Erkenntniss derselben. Locke würde das
Letztere vielleicht weder behauptet noch geleugnet haben ; aber er würde
haben fragen dürfen, theils, mit welchem Rechte Leibniz bei der Auf-
stellung der Arten im physischen Sinne etwas — unbestimmt wie viel
— von der logischen Strenge aufgeopfert wissen will, theils, ob die da-
durch gewonnenen Classificationen den Erkenntnissinhalt wirklich dar-
bieten, den Locke vermisst. Wenn Leibniz sagt, bei der Aufsteilung der
physischen Arten halte man sich an die Erscheinungen, und stelle unter
Weglassung der Accidenzen, d.h. der unwesentlichen Merkmale ent-
weder einen bestimmten , aber nur provisorischen Artbegriff auf, oder
man nehme, wo es sich um die innere Wahrheit handle, zu Vermuthtin-
ged seine Zuflucht, indem man für gewisse Glassen der Dinge eine ge-
meinschaftliche Wesenheit voraussetze, m) so setzt die Unterscheidung
897) a. a. 0. p. 34 3a. Cependant quelques reglemens que les hommes fassentpour
leurs denominations . . . pourvu que leur reglement soü suivi ou He H intelligible, il sera
fonde en realite et il ne sauront se figurer des especes que la nature, qui comprend jusqu*
aux possibilites, riait failes et distinguees avant eux. p. 3 4 36. Nous pouvons dire que tout
ee que nous distinguons ou comparons avec verite, la nature le distingue ou le fait con-
vetiir aussi, quoiqu' eile ait des disHncHons et des comparaisons que nous ne savons point
et qui peuvent itre meiUeures que les nötres . . . Plus on approfondira la generation des
especes et plus on suwra dans les arrangemens les oondiUons, qui y sont requises, plus on
approehera t ordre naturel. In dem was vorhergebt und folgt, weist er auf den Unter-
schied natürlicher und künstlicher Classificationen unter besonderer Rücksicht auf die
Botanik mit einer für die damalige Zeit überraschenden Bestimmtheit hin. — Auf den
nur provisorischen Werth der Bestimmung der physischen Arten macht er wiederholt
aufmerksam z. B. p. 3U6. Vgl. oben Anm. *49. Dass dergleichen provisorische De«
finitionen und Classificationen selbst in der Geometrie vorkommen können, erläutert
Leibniz später gelegentlich an dem Beispiel der Perllinien , die man nicht sofort als
eine Art cubischer Paralleloiden erkannt habe. Si oela, setzt er hinzu (p. 3326), peut
arriver en geometrie, s'etonnera-t-on qu'ü est dif fidle de determmer les especes de la na-
ture oorporelle, qui sont inoomparablement plus compose'es?
398} a. a. 0. p. 3 1 { a. Physiquement parlant on ne s'arr4te pas d toutes les variStes
et Fon parle ou nettement, quand il ne s'agit pas que des apparences9 ou con-
836 6. Hartenstein, [496
wesentlicher und unwesentlicher Merkmale die Kenntniss des Wesens
schon voraus und gerade dieses Wesen ist es, nach welchem Locke ge-
fragt und für dessen Bestimmung er sich nicht mit einer im besten Falle
immer wieder lediglich auf die gegebenen Erscheinungen gegründeten
Voraussetzung hatte befriedigen lassen wollen. Wenn Leibniz mehr als
einmal wiederholt, dass die natürlichen Arien wirklich existieren, gleich-
viel ob wir sie erkennen oder nicht erkennen,299) so handelte es sich für
Locke eben um diese Erkenntnis«; wirklich existierende Arten, deren
specifisohe Differenzen unbekannt sind , bieten ftlr eine dem Wesen
der Arten entsprechende Classification ebeif nicht den geringsten An-
baltepunkt dar (vgl. oben S. 1 69). Und wenn Leibniz diese natürlichen
Arten wohl auch lediglich für mögliche Aehnlichkeiten, oder für Mög-
lichkeiten in der Aehnlichkeit erklärt, so würde Locke in Beziehung' auf
die vorliegende Frage in der Berufung auf die Möglichkeit schwerlich
auch nur den kleinsten Aufschluss über die Räthsel der Wirklichkeit ge-
funden haben.
Die Bemerkungen Leibniz's zu den letzten drei Gapiteln des dritten
Buchs über die Un Vollkommenheit der Sprache, den Missbrauch dersel-
•
jecturalement, quand il sfagit de la verite interieure des choses, eny presu-
tnant quelque nature essentielle et immuable, comme h raison est dans F komme. On
presume donc que ce qui ne differe que par des changemens accidentels, . .. est dune
mime espece. II est vrai qu'on rien sauroü juger preeisement faule de conuaUre Finterieur
des choses. Maie . . Fon juge provisumellement ei souvent conjecturettement. Cependant
hrsqu'on ne veut parier que de Fexterieur, de peur de ne rien dire que de sur, üy a de
la latUude; et disputer ators si une differenee est spedfique ou nonf dest disputer du nom.
ftft9) Hierher gehört auch die von Leibniz p. 32Bfr geltend gemachte Unterschei-
dung zwischen abetraüs reels und abetraüs hgiques. Wenn er übrigens p. £2 2 a die
Bestimmung der physischen Arten mit grösserer Strenge als in den eben angefahrten
Stellen von der Kenntniss des Wesentlichen und Unveränderlichen abhXqgig macht,
die uns eben fehlt (p. 387a Fesaence interieure est dons la chose, mais fon eontrient,
qu'elle ne sauroü servvr de patron) , so liegt darin eine Annäherung an Locke, die, den
Gegenstand des Streits fast verschwinden macht. Entre tes differences specifiques pure-
ment logiques, setzt er hinzu, ou la moindre Variation de defmüHon assignable suffit,
quelqu* aceidenteüe qu'elle soü, et entre les differenoes specifiques, qui sont purement phy-
siques, fondees sur Vessentiel ou immuable, on peut mettre un miUeu, msw
qu'on ne saurait deterwuner precisement; on s*y regle sur les apparenees les plus ecnsi-
derables, qui ne sont pas tout d faü unmuabhs, mais qui ne ehangent pas facUement, tun
approehant plus de Feeseutiel, que lautre; et comme un connoisseur ausei peut aller plus
hm que Fautre, la chose paroU arbitraire et a du. rapport aum hommes et il paroit eoas-
tnode de rigler aussi les noms sehn les differenoes prmcipales. Vgl. Locke B. KI, eh. XI,
§«9. 24. 25.
497] . Locke's Lehre von der mrnschl. Erkenntniss u. s. w. S37
ben und die Mittel , die dadurch bedingten Verkümmerungen der Er-
kenntniss zu beseitigen oder wenigstens zu vermindern, enthalten, ab-
gesehen davon, dass er manche von Locke angeführte Beispiele, nament-
lich solcher Begriffe, auf weiche sich die bisherigen Discussionen bezo-
gen hatten, ablehnt, durchaus keine Polemik, sondern Zustimmung nnd
Erläuterung. Namentlich insofern Locke eines der wesentlichsten Mittel,
aus der Verworrenheit und Unbestimmtheit des gewöhnlichen in der
Sprache sieb ausdrückenden , aber auch unter den in der Sprache lie-
genden Unbestimmtheiten leidenden Gedankenkreises herauszukommen,
in der Sorgfalt für genaue Begriffsbestimmungen und die damit zusam-
menhängende bestimmte Bedeutung der Worte sucht, stimmt ihmLeibniz
ohne Rückhalt zu, indem er (p. 3346) sagt: Tout revient sans doute aux
definitum, qui peüvent aller jusqu aux idees primitives.
«ii
In diesem Satze ist nun zugleich eine viel grössere Uebereinstim-
mung beider Denker über die Grundlage und die Methode der mensch-
lichen Erkenntniss angedeutet, als man bei der Verschiedenheit ihrer
Ansichten über metaphysische Fragen erwarten sollte. Gegen die Fun-
damentalbestimmung, mit welcher Locke das vierte Buch eröffnet, dass
alle Erkenntniss sich zunächst auf das Verhältniss der Vorstellungen zu
einander beziehe und in der Entscheidung über ihre Uebereinstimmung
und Nichtübereinstimmung bestehe, erhebt Leibniz, wie schon bemerkt,
keinerlei die Sache selbst berührende Einwendung. Denn wenn er er-
innert, man nehme den Begriff der Erkenntniss auch noch in einem
weiteren Sinne , indem man dabei lediglich den grösseren oder gerin-
geren Reichthum des Vorstellungskreises berücksichtige, ohne nach sei-
ner Wahrheit zu fragen *") so legt er darauf selbst kein Gewicht Die
Locke'sche Definition der wahren Erkenntniss erkennt er ausdrücklich
an ; nur fügt er hinzu, es sei nicht allgemein richtig, dass diese Erkennt-
niss immer mit der inneren Wahrnehmung, dem Bewusstsein der Ver-
baltnisse der Vorstellungen verbunden sei, wie z. B. bei allen empirischen
300) a. a. 0. p. 336a.
238 6. Hartenstein, [128
Erkenntnissen;^1) auch passe die Locke'sche Definition nur auf Sätze
von kategorischer, nicht auf die von hypothetischer Form,90'*) eine Bemer-
kung, die sich von selbst erledigt, da die hypothetische Gedankenver-
knüpfung so gut, wie die kategorische, ein Urtheil über das Verbal tniss
der Begriffe enthält und es Locke nicht eingefallen war, Wahrheit jind
304) a. a. O. p. 3366. Prenant la connaissance dans tm sens plus etroit comme
vous faites ici, je dis qu'il est bien vrai, que la verite est toujours fondee dam la conve-
nance ou disconvenance des idees; mais il n*est point vrai generalemeni , que notre con-
naissance de la verite est une perceplion de cette convenance ou disconvenance. Cor lorsque
nous ne savons la verite qu'empiriquement, pour tavoir experimentee, sans savoir la con-
nexion des choses et la raison, . . . nous riavons point de perceplion de cette convenance
ou disconvenance, si ce n'est qu'on l'entende que nous la sentons confusement sans nous en
appercevoir. Locke halte wohl fragen dürfen, ob die Kenntniss einer empirischen That-
suche ohne jedes Bewusstsein über das Verhältniss der sie bezeichnenden Vorstellun-
gen überhaupt möglich sei oder wenigstens eine Erkenn tniss genannt werden könne.
— Den für die Sache selbst sehr unwichtigen Unterschied zwischen actueller und
habitueller Erkenntniss (vgl. oben Anm. 4 60) erkennt Leibniz ebenfalls an, und ver-
breitet sich über ihn ziemlich ausführlich ; es geht aber dabei nicht ohne ein starkes
Missverständniss ab. Locke hatte gesagt (B. IV, eh. I, § 9): The immutability' of the
same relations between the same immutable things is the idea that shews htm, that if the
tree angles of a triangle were once equal to two right onest they will always be equal lo
two right ones. And hence he comes to be certain, that what was once true in the case, is
always true; what ideas once agreed, will always agree and consequently what he once
knew to be true, he will always know to be true. Upon this ground it isf that particular
demonstrations in mathematics afford general knowledge. If the perceplion, that the same
ideas will eternally have the same habitudes and relations, be not a sufficient ground of
knowledge, there could be no knowledge of general propositions in mathematics. Darauf
findet Leibuiz (p. 3386) nöthig zu erwidern: Je ne demeure point daecord qu'en mathe-
matique les demonstrations particulieres sur la figure qu'on trace, fournissent cette certi-
tude generale, comme vous semblez le prendre. Cor il faut savoir que ce ne sont pas les
figures, qui donnent la preuve che* les geometres; . . . ce sont les propositions universelles,
c'est ä dke, les axiomes et les theoremes deja demontres qui fönt le raisonnement. In der
That eine sehr unnöthige Belehrung, da die particular demonstrations bei Locke auf den
beiondern Fall geben , in welchem Jemand eiuen mathematischen Beweis eingesehen
hat, nicht auf die particulare Gültigkeit des Beweises selbst , und Leibniz anderwärts
z. B. selbst darauf aufmerksam macht, dass die Veranschaulichung durch Figuren und
die Controle der Erfahrung wichtige Hülfsmittel des mathematischen Denkens sind.
Vgl. p.*343a, 3496.
302) a. a. 0. p. 3"37a. Enfinfai encore une remarque ä faire sur votre deftnition;
cest qu'elle paroit seulement aecommodee aux verites categoriques, . . . mais il y a encore
une connaissance des verites hypothe'tiques ; . . ainsi il peut y entrer plus que
deux idees.
J29] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 239
Erkenntniss auf das Verhältniss von blos zwei Vorstellungen zu be-
schränken.
Für die vier Classen von Fällen , in welchen das Denken über die
Uebereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Vorstellungen eine
Entscheidung zu treffen Veranlassung findet, stellt Leibniz eine bessere
Anordnung nach einem, jedoch von Locke selbst angedeuteten Gesichts-
punkte (vgl. oben Anm. 163) auf. Wo es sich um Uebereinstimmung
oder Nichtübereinstimmung der Vorstellungen handle, sei der allge-
meinste Begriff der der Beziehung oder des Verhältnisses ; und das Ver-
hältniss sei ein Verhältniss entweder der Vergleichung oder der Ver-
knüpfung. Der erstere Fall ergebe Identität oder Nichtidentität; zu dem
zweiten gehöre, was Locke Coexistenz nenne. Dazu gehöre im Grunde
auch die Existenz; denn wo man sage ein Ding existiert, verknüpfe sich
der Begriff des Seins mit der Vorstellung des Gegenstandes; ja man
könne sagen, dass die Existenz eine Verknüpfung des vorgestellten Ob-
jecls mit dem vorstellenden Subject bezeichne. Alle Verhältnisse seien
also Verhältnisse entweder der Vergleichung oder der Verknüpfung, von
denen aber die der Identität und der Existenz besonders hervorgehoben
zu werden verdienen.*08)
Wichtiger als diese Gorrectur ist jedenfalls, dass Leibniz gegen den
für die verschiedenen Arten der Erkenntniss wesentlich maassgebenden
Unterschied zwischen intuitiver und demonstrativer Erkenntniss nicht
den allermindesten Einwurf macht, was nicht zu verwundern ist, da er
selbst ganz unabhängig von Locke die ganze Methodik des wissenschaft-
lichen Denkens gerade hieran geknüpft hatte. Die Verschiedenheit bei-
der Denker besteht lediglich darin, dass Leibniz auf die strenge Form
des logischen Denkens einen viel grösseren Werth legt als Locke , und
keineswegs damit einverstanden ist, dass identische Sätze, allgemeine
303) a. a. 0. p. 337a. Je crois qu'on peut dire, que la liaison riest autre chose
que le rapport ou la relation prise generaleinent. . . Tout rapport est ou de com"
paraison ou de concours. Celui de comparaison donne la diversite et Videntiti
Le concours contient ce, que vous appellez coexistence dest ä dire connexion cT existence.
Mais lorsqtion dit, qu'une chose existe, . . cette existence meme est le predkat, c'est ä dire,
eile a une notion Uee avec Tidee, dont il s'agit et il y a connexion entre ces deux notions.
On peut aussi concevoir t existence de Tobjet dfune idee, comme le concours de Tobjet avec
moi. Ainsi je crois qu'on peut dire, qu'il n'y a que comparaison ou concours , mais que la
comparaison, qui marque Tidentiti ou diversite et le concours de la chose avec moi sont
les rapports, qui meritent Üitre disHngues parmi les autres.
Ahlimi.ll. d. K. S. Ge*. d. Wi<8. X. < 0
240 G. Hartenstein, [430
lediglich analytische Urtheile und die Anwendung der Formen des Syl-
logismus für die Erkenntniss so unfruchtbar seien, als Locke meint.
Dies verräth sich sogleich in der Sorgfalt, mit welcher er den Be-
griff und den Umfang der intuitiven Erkenntniss zu bestimmen sucht»
Es gibt, sagt er, zwei Arten primitiver, unvermittelter Wahrheiten, Ver-
nunftwahrheilen und thatsächliche Wahrheiten ; jene sind noth wendig
(im Sinne des begriffsmässigen Denkens), diese zufällig. Die primitiven
Vernunftwahrheiten sind aber lediglich die identischen Satze, und diese
sind entweder positiv oder negativ; die logischen Satze der Identität
und des Widerspruchs nehmen unter ihnen eine der wichtigsten Stellen
ein.304) Auf die Nachweisung, dass alle demonstrative Erkenntniss in
letzter Instanz auf solche identische Satze zurückgeführt werden müsse,
legt er ein so grosses Gewicht , dass er nicht nur eine grosse Anzahl
solcher Satze beispielsweise anführt, sondern auch die Beziehung der-
selben auf die Ableitung der Schlussfiguren als der formen des demon-
strativen Denkens ausführlich darlegt.905) — Für die primitiven factischen
Wahrheiten erklart er die unmittelbaren Thalsachen der innern Erfah-
rung; in den Beispielen, die er dafür anführt, beschrankt er sich hier
streng auf das, was wirklich Thalsache der' innern Erfahrung ist. —
Beide Classen primitiver Wahrheiten haben das mit einander gemein,
dass man nicht im Stande ist, sie durch irgend etwas zu beweisen, was
gewisser wäre als sie selbst.306)
Gründet sich alles demonstrative Wissen zuletzt auf identische Satze
als den unmittelbaren und unabweisbaien Ausdruck des Verhältnisses
der Begriffe selbst,307) so begreift sich die Ausführlichkeit, mit wel-
304) a. a. 0. p. 3386. Les verites primitives qu'on satt par intuition, sont de deux
sortes comtne les derivatives. Elles sont du notnbre des verites de raison et des verites de
fait. Les verites de raison sont necessaires et celles de fait sont contingentes. Les verites
primitives de raison sont celles , que fappelle d'un nom general les identiques, parce qu'il
semble qu* elles ne fönt que repeter la mime chose , sans nous rien apprendre. Elles sont
affirmatives ou negatives. Vgl. p. 360a.
305) a. a. O. p. 339. 340.
306) a. a. O. p. 3406. Pour ce qui est des verites primitives de fait, ce sont les
experiences immediates internes dune immediation du sentment. ... On voit que toutes
les veritis primitives de raison et de fait ont cela de commun, qu'on ne sauraü les prouver
par quelque chose plus certaine.
307) Dass es für Leihniz wesentlich auf das VerhSltntss der Begriffe, also auf den
Inhalt derselben ankam, zeigen u. A. Auseinandersetzungen wie p. 380a — 382. Selbst
434] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntniss u. s. w. 241
eher Leibniz die scientifische Unentbehrlichkeit der Axiome gegen die
Locke'sche Behauptung ihrer Werthlosigkeit darlegt. Locke hatte zu
zeigen gesucht, dass die Entscheidung über Identität und Nichtidentität
der Begriffe sich dem Denken in jedem einzelnen Falle unmittelbar auf-
dringe und dass es dazu nicht erst der Subsumtion unter ein in der
Form eines allgemeinen Satzes gedachtes Axiom bedürfe. Diese That-
sache gibt Leibniz vorlaufig zu, wiewohl er durch Beispiele aus der
Mathematik darauf aufmerksam macht, wie leicht man rücksichtlich der
Nichtidentität gewisser Begriffe Irrthümern ausgesetzt sei;906) aber er
leugnet auf das Entschiedenste die von Locke behauptete Entbehrlich-
keit der Axiome für allgemeine wissenschaftliche Untersuchungen. Es
mag richtig sein, dass unmittelbare Uitheile über Einzelnes sich früher
aufdringen, als allgemeine Sätze und dass Erfindung und Unterricht an
ihnen ihren Leitfaden finden ; es handelt sich aber hier nicht um die
Geschichte , sondern um die Begründung des Wissens, und dieses Wis-
sen selbst verliert ohne die Grundlage allgemeiner, unmittelbar gewisser
Sätze den Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit.300) Er lässl
sich daher die Mühe nicht verdriessen, an der Auflösung einer Gleichung
und dein ausführlichen Beweise des Satzes: 2.2 = 4, die Notwendig-
keit des Zurückgehens auf allgemeine Axiome und den Unterschied
einer nur particulären von einer allgemeinen Auflösung einer mathema-
lischen Aufgabe vor Augen zu legen.310) Dass die Berufung auf die
für den Satz: ich bin, ist er (p. 3626) nicht abgeneigt, die Bezeichnung eines Axioms
fallen zu lassen, cor c'est une proposition de fait, fondie sur une experience iminädiate
et ce riest pas une proposiUon necessaire, dont on voie- la necessite dans la con-
venance des idees. Vgl. p. 373a, § t.
308) a. a. 0. p. 3606.
309) a. a. 0. p. 3626. II ne s'agit pas ici de l'histoire de nos decouvertes, qui est
differente en differens hommes, mais de la liaison et de Vordre naturel des verites, qui est
toujours le mSme. p. 364a. Si tmventeur ne trouve qu'üne verite particuHere, il riest
irwenteur qriä demi u. s. w. p. 389a. Si vous voulez que cette liaison des idees se voie
et s'exprime distinetement , vous serez oblige de recourir aux depmUons et aux aariomes
identiques , comme je le demande, et quelquefois vous serez obligS'de vous contenter de
quelques axioms tnoins primtifs , . . . lorsque vous aurez de la peme d parvenir ä une
parfaite analyse.
340) a,a. 0. p. 364. 363. — Wie weit gleichwohl Leibniz von der Pedanterei
entfernt war, die minutiöse Darlegung des logischen Zusammenhangs jedes Theorems
mit seinen Gründen in allen einzelnen Theilen zu verlangen, zeigen Auseinander-
setzungen wie p. 342, 367, 368a, 396.
46*
242 G. Hartenstein, [123
Axiome nur bei der Widerlegung falscher Meinungen von Nutzen sei,
erklärt er, abgesehen davon, dass dies gar. nicht so unwichtig sein
würde, mit Berufung auf die Geometrie einfach für falsch.811) Ueberhaupt
gibt der ironische Ton, mit welchem Locke daraufhinweist, dass die
Berufung auf solche Axiome lediglich der unfruchtbaren Disputirsuchl
der Schulen Nahrung gegeben habe, Leibniz zu einer langen Reihe mo-
dificierender und berichtigender Bemerkungen Veranlassung, die die Ab-
sicht haben zu zeigen , dass die Axiome selbst an diesem Missbrauch
unschuldig und trotzdem die unentbehrlichen Grundlagen des erkennen-
den Denkens sind.312) Gilt dies selbst von identischen Sätzen, so wer-
den auch Sätze, die ein bestimmtes Merkmal eines schon bekannten
Begriffs ausdrücklich hervorheben und somit einen Theil des Inhalts des
Begriffs wiederholen, nicht werthlos sein; sie bieten der Reflexion
Haltepunkte dar, deren sie für bestimmte Untersuchungen nicht entbeh-
ren kann.315)
Mit derselben Sorgfalt, wie auf die Axiome, geht Leibniz auf Locke's
Erörterungen über die syllogistischen Formen des Denkens ein. Man
muss sich dabei erinnern , dass Locke diese nicht für falsch , aber die
Anwendung derselben für ziemlich unfruchtbar erklärt hatte, wo es sich
um eine Erweiterung des Wissens handle. Leibniz ist damit ganz und
gar nicht einverstanden. Er beginnt seine Erwiderung mit dem Zuge-
ständniss, dass Locke's Auseinandersetzung eine Menge triftiger und
guter Bemerkungen enthalte; gleichwohl gesteht er, dass er die Ent-
deckung der syllogistischen Formen für eine der schönsten und wich-
tigsten halte. Er erklärt die Logik für eine Art universeller Mathematik,
für eine Kunst der Unfehlbarkeit, vorausgesetzt, dass man ihre Weisun-
gen richtig anwende.314) Die Gesetze der Logik sind allerdings nur die
34 4) a. a. 0. p. 3706. Comptez vous cela pour rien, et ne reconnoissez-vous pas
que reduire une proposition ä l'absurdite, c'est demontrer sa contradktoire? — p. 3636.
On ne sauroü se passer des axtomes identiques en geomStrie, comme par exempk du prin-
cipe de contradiction.
34 9) a. a. 0. p. 3676, 368a.
34 3) a. a. 0. p. 374 erläutert dies Leibniz an mehreren Beispielen.
3 4 4) a. a. 0. p. 395a. Votre raisonnement sur le peu d'usage des syllogismes est
plein de quantite de remarques solides et belies. Et il faut avouer que la forme des syllo-
gismes est peu etnployee dam le monde et qu'elle seroit trop longue et etnbrouilleroit si on
la vouloit employer serieusement. Et cependant le croiriez-vous ? je tiens que finvention
de la forme des syllogismes est une des plus belies de l'esprit humain, et meme des plus
133] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntnis u. s. w. 243
Gesetze des gesunden Menschenverstands und unterscheiden sich von
diesen , wie geschriebenes Recht vom Gewohnheitsrecht ; aber der ge-
sunde Menschenverstand ohne Bewusstsein der Regel würde über den
Zusammenhang und die Richtigkeit der Folgerungen oft im Unsichern
bleiben.*16) Die ganze lange Erörterung hierüber, in welcher er sogar
speziell auf die einzelnen syllogis tischen Figuren eingeht, beschliessl er
mit der Erklärung, dass die scholastische Form der Argumentation oft
unbequem, ungenügend, übelangebracht gewesen, dass aber gleichwohl
nichts wichtiger sei, als die Kunst, Folgerungen nach den Gesetzen der
Logik formell zu vollziehen, d. h. vollständig rücksicbtlich des Stoffs und
deutlich rücksichtlich der Ordnung und des Zusammenhangs.310)
Findet zwischen beiden Denkern rücksichtlich der intuitiven und
der demonstrativen Erkenntniss eine Meinungsverschiedenheit nicht über
das Wesen derselben statt, sondern lediglich über die bewusstvolle An-
wendung der allgemeinen Gesetze, nach welchen namentlich die letztere
zu Stande kommt, so ist Leibniz endlich auch keineswegs abgeneigt, die
sinnliche Erkenntniss d. h. das Fürwahrhalten der Voraussetzung der
Existenz der sinnlich wahrgenommenen Dinge unter die Arten der Er*
kenntniss aufzunehmen. Er wiederholt in seinem eigenen Namen, was
Locke gesagt hatte, dass im strengen metaphysischen Sinne es nicht
geradezu unmöglich sei , dass die uns umgebende Sinnenwelt nur ein
Traum sei; eine solche Annahme sei aber gleichwohl so unvernünftig,
als die , dass der Text eiües Buchs durch zufälliges Schütteln der Let-
tern entstanden sei;'317) die Gewissheit der Existenz der sinnlichen Welt
considerables. Cest une espece de mathematique universelle, . . et ton peut dire, qu'un
ort d'infaillibilüe y est contenu, pourvu qu'on sacke et qu'on puisse s'en bien servir.
34 5) a. a. 0. p. 396a. Les loix de la logique . . ne sont autres que Celles du bon
sens, mises en ordre et par ecrit et qui rten different pas davantage que la coutume dune
province differe de ee qu'elle avoit ete, quand de non-ecrüe eüe est devenue ecrite.
34 6) a. a. 0. p. 397a. Pour conclure, favoue que la forme d argumenter scolasti-
que est ordinairement incommode, insufßsante, mal menagee, mais je dis en mime tems,
que rien ne seroü plus important, que Fort rf argumenter en forme sehn la vraie logique,
c'est ä dire, pleinement quant a la matiere, et clairement quant d t ordre et ä la force des
consequences , sott evidentes par elles m4mes% soit predemontrees. — Mit der Bemerkung
Locke's, dass die hergebrachte Stellang der Prämissen nicht die natürliche ist, ist Leib-
niz einverstanden (vgl. p. 3986); die Behauptung, dass ein Syllogismus concludent sein
könne, ohne dass eine der beiden Prämissen allgemein sei, widerlegt er p. 398a, § 8.
317) a. a. 0. p. 344a. // riest point impossible, metaphysiquement parlant, qu*H y
ait un songe suivi et durable u s. w.
244 6. Hartenstein, [434
beruhe auf der Verknüpfung der Ereignisse , zu der er auch ausdrück-
lich die übereinstimmende Erfahrung verschiedener Menschen rech-
net. m)
In der Beurtheilung der Schranken der Erkenntniss ferner, weiche
Locke aas der Definition derselben abgeleitet hatte, ist die Bemühung
Leibniz's nicht darauf gerichtet, die allgemeinen Gesichtspunkte, nach
welchen Locke jene Schranken bestimmt hat, als unpassend abzulehnen,
sondern vielmehr darauf, an einzelnen Beispielen darzulhun, dass im
Gebiete des Wissens entweder schon mehr erreicht sei , als Locke zu-
geben wolle, oder wenigstens mehr erreicht werden könne. Er bestrei-
tet nicht den Hauptsatz Locke's, dass unsere Erkenntniss nicht nur an
den Umfang unserer Vorstellungen, sondern auch an die Einsicht in die
Verhältnisse derselben gebunden sei; aber er macht sehr ausführlich
auf die Kunstgriffe des Denkens aufmerksam , durch welche es der Ma-
thematik gelingt, verwickelte Probleme zu lösen, und benutzt die skepti-
schen Erörterungen Locke's über die Frage, ob die Materie denken
könne, zu einer Darlegung seiher eigenen Lehre vom Wesen der Seele
und der prästabilirten Harmonie.310)
Auch die Anwendung dieser allgemeinen Grenzbestimmungen auf
die einzelnen Gebiete der Erkenntniss (vgl. oben S. 175) gibt ihm Ver-
anlassung zu einer Reibe von Erläuterungen , die sich den Resultaten
Locke's bei weitem mehr anschliessen , als ihnen widersprechen. Dass
die Vorstellungen der sinnlichen Qualitäten verworrene Vorstellungen
sind , und dass diese Verworrenheit sich auch auf unsere Vorstellung
der Kräfte überträgt, welche die sinnlichen Empfindungen hervorbrin-
gen, dass wir daher über diese Zusammenhänge nicht mehr wissen, als
die auf bestimmte Regriffe zurückgeführt^ Erfahrung uns lehrt,*20) besagt
3 t 8) a. a. 0. Je erois que le vrai criterion en mattere des objets des sens est la
liaison des pkenomenes, cest ä dire la connexion de ce qui se passe en differens lieux et
tems, et dans Yexperienoe de differens kommet, qui sont eux meines les uns aux autres
des pkenomenes tres importans sur cet ar fiele. — p. 3786 schlägt er vor, diese Art des
Fürwahrhaltens durch das Wort Gewissheit (certitude) von der Evidenz der intui-
tiven und demonstrativen Erkenntniss zu unterscheiden.
349) a. a. O. p. 3456 — 348a.
320) a. a. 0. p. 3486, § 8. Les idees des quaktes sensibles sont confuses, et les
puissanees, qui les doivent produire, ne fournissent aussi par consequent que des idees ou
il entre du confus: ainsi on ne saurait connaitre les liaisons de ces idees autrement que
par V experience qu'autant qufon lesreduit d des idees distinetes, qui les aeeompagnent.
435] Lockk's Lkhrb von der mknschl. Erkenntniss c.s.w. 245
nichts als was Locke selbst behauptet, obgleich dieser die Empfindungen
als (subjectiv) einfache Erfolge eines uns unbekannten Causalzusam-
menhangs bezeichnet hatte; dem Satze Locke's, dass die Mathematik
das grosse Gebiet sei, in welchem sich ein strenges Wissen immer mehr
ausbreiten könne, ohne ausschliessend auf Grössen Verhältnisse beschränkt
zu sein, zollt er eine stark accentuirte Anerkennung, und wenn er bei
dieser Gelegenheit eine kurze Andeutung seiner eigenen metaphysischen
Lehren mit der Erklärung hinzufügt, in alle dem sei nichts, was er nicht
für demonstrirt oder demonstrabel halte,321) so ändert die Frage, ob
Locke dies zugegeben haben würde, nichts an den Grundsätzen und
Methoden, an denen Leibniz selbst die wahre Erkenntniss gemessen
wissen wollte. Obgleich dieser seine Hoffnungen auf .die Fortschritte
der Erkenntniss lebhafter ausdrückt, als Locke, so ist es doch bezeich-
nend, dass er in derselben Art wie Locke eine Erweiterung des Wissens
über die wirkliche Welt lediglich von einer fortschreitenden Erfahrung,
die uns mehr als ausreichende Data für die Erkenntniss darzubieten im
Stande sei , und von der Anwendung der Mathematik auf diese Data
erwartet.322)
So ist denn die Erfahrung für Leibniz so gut wie für Locke für die
mögliche Erkenntniss der Wirklichkeit der unentbehrliche Anknüpfungs-
punkt, indem sie allein die Data der Untersuchung darzubieten vermag,
und für Locke gibt es so gut wie für Leibniz ein Gebiet eines notwen-
digen und allgemeingültigen, von der Erfahrung unabhängigen Wissens,
ein Gebiet ewiger Wahrheiten , welches sich in den Verhältnissen und
Beziehungen der Begriffe eröffnet (vgl. oben S. 178). Das, was für beide
in letzter Instanz über Wahrheit und Irrthum entscheidet, ist der Inhalt
des Gedachten selbst. Denn auch bei Leibniz gibt es für die Notwen-
digkeit der Erkenntniss, um deren willen er sich auf angeborne Begriffe
3JM) a. a. 0. p. 3486, § 48.
322) a. a. 0. p. 3506. — p. 351a. Je crois bien que nous n'irons jamais aussi
hin, qtSU sauraU ä souhaiter; cependant il me semble qu'on fera quelques progres con-
siderables avec le tems dam Fexplication de quelques phenomenes , parceque le grand
nombre des experiences, que nous sommes d portee de faire, nous peut fournir des data
plus que suffisans, de sorte qu'ü manque seulement l'art de les employer, dont je ne des-
espere point qu'on poussera les peius commencemens depuis que Vanalyse infinitesimale
nous d donne le moyen (fallier la geometric ä la physique ei que la dynamique nous a
fourni les loix generales de la nature.
246 G. Hartenstein, [136
berufen zu müssen glaubt, zuletzt keinen andern Hallepunkt als diesen
Inhalt der Begriffe. Seine wiederholte Berufung darauf , dass die Mög-
lichkeit eines Begriffs das Kriterium seiner Wahrheit sei, hat nur unter
dieser Voraussetzung einen verstandlichen Sinn und an der Stelle, wo
Locke den Begriff ewiger Wahrheiten einführt und bestimmt, bemerkt
Leibniz, dass diese im Grunde sämmtlich die bedingte Form haben: ge-
setzt, es sei A, so ist B,m) wodurch jede Entscheidung über dieselben
auf das von dem Inhalt abhängige Verhältniss der Begriffe zurückge-
wiesen wird.
Nun geht zwar Leibniz hier , wie anderwärts , noch einen Schritt
weiter. Wo sind denn , könne man fragen , die Begriffe, wenn kein sie
denkender Geist existiert und wo ist ohne einen solchen die Grundlage
dieser Gewissheit der ewigen Wahrheiten? Die Antwort ist, dies weise
zurück auf Gott, dessen Intelligenz die Region der nolhweadigen und
ewigen Wahrheiten sei, die vor der Existenz der zufälligen Dinge in ihr
als Gesetze des Universums enthalten seien.324) Statt dessen ßndet sich
bei Locke rücksichtlich der Hülfsmittel der menschlichen Erkenntnis*
nur die Hinweisung auf die weisen und gütigen Einrichtungen und An-
ordnungen Gottes; aber auch für Leibniz, obwohl er das reelle Urbild
der intelligibeln wie der sinnlichen Welt in der göttlichen Intelligenz
voraussetzt, gibt es kein anderes Mittel der Erkenntniss der Wahr-
323) a. a. 0. p. 3796. Pour ce qui est des verites eternelles y il faut observer, que
dans le fonds elles sont toutes conditionnelles et disetit en effet: teile chose posee, teile autre
chose est. . . . Les scolasliques ont fort dispute de constantia subjecti, comme ils Vappel-
latent, c'est ä dire, comment la proposition faxte sur un sujet peut avoir une verite reelle,
si ce sujet riexiste point. C'est que la verite ixest que conditionnelle et dit, qu'en cos que
le sujet existe jamais on le trouvera tel. Mais on demandera encore, en quoi est fondee
cette connexion, puisqu' il y ade la realite lä dedans qui ne trompe pas ? La reponse sera,
quelle est dans la liaison des idees. p. 353a. Le fondement de notre , certitude ä Vegard
des verites universelles et eternelles est dans les idees memes; ... et le fondement de la
verite des choses contingentes et singulieres est dans le succes, qui fait que les phenomenes
des sens sont lies justement, comme les verites intelligibles le demendent.
324) a. a. 0. p. 3796. Mais, on demandera , ou seroient ces idees, si aucun espril
riexistoit et que deviendroit alors le fondement reel de cette certitude des verites eternelles ?
Cela nous mene enfin au dernier fondement des verites, savoir d cet esprit supreme et um-
versel qui ne peut manquer dexister, dont fentendement* ä dire vrai, est la region des
verites universelles. . . Et . . il faut considerer que ces verites necessaires contiennent la
raison determinante et le principe regulatif des existences mimes et en un mot les loix de
Vunivers u. s. w.
437] Lockk's Lkhre von der menschl. Erkenntnis« u. s. w. 247
heil, als die Sorgfalt , Genauigkeit und Umsicht eines in den Inhalt der
Begriffe sich vertiefenden und den Beziehungen derselben nachgehenden
Denkenß.325) Mehr bedeuten ihm auch die angebornen Vorstellungen
nicht (vgl. oben S. 203); und die göttliche Intelligenz ist ihm nicht we-
niger als die menschliche an den Inhalt des Gedachten gebunden.3*9)
Wenn er daher gegenober den Bestimmungen Locke's über die Realität
der Erkenntniss nochmals auf den Satz zurückkommt, die Gewissheit
unserer Erkenntniss würde sehr klein und vielmehr gar keine sein, wenn
sie keine andere Grundlage hätte, als die, welche ihr die Sinne darbie-
ten,3*7) so war dies um so weniger nöthig, als Locke gerade in dem be-
treffenden Capitel die nothwendige Erkenntniss in ein Gebiet von Be-
griffen verlegt, welche sich auf die äussere Erfahrung beziehen mögen,
aber nicht von ihr entlehnt sind. Den merkwürdigen Gedanken Locke's,
dass die notwendigen Erkenntnisse der Mathematik desshalb über die
Grössen Verhältnisse der wirklichen Dinge entscheiden, weil es sich dabei
nicht um eine Uebereinstimmung unserer Vorstellungen mit den Dingen,
sondern um die Uebereinstimmung der Dinge mit den Vorstellungen
handle, übergeht Leibniz mit Stillschweigen.
Bei diesem Einverständniss über die wichtigsten Hauptpunkte dürfte
die Gereiztheit, in welche Leibniz ausnahmsweise in seinen Bemerkun-
gen über das 5. Capitel des vierten Buchs verfällt, Wunder nehmen,
wenn es nicht deutlich wäre , dass er hier eben so in einem Missver-
ständnipse befangen ist, wie oben bei seiner Polemik gegen die Unter-
scheidung des nominellen und reellen Wesens (vgl. S. 231). Dass Wahr-
heit ein Prädicat der Urtheile und nicht der Dinge sei, darüber ist er
mit Locke einverstanden (vgl. oben Anra. 279) ; gleichwohl verwirft er
hier die Locke'sche Definition der Wahrheit, dass sie eine den Verhält-
nissen der Sache d. h. des Gedachten entsprechende Verknüpfung und
Trennung der Zeichen sei. Aus den etwas kleinlichen Ausstellungen, die
325) Es ist in dieser Beziehung charakteristisch, dass Leibniz (p. 364a) der
Locke'schen Berufung auf die Wahrhaftigkeit Gottes riicksichllich geoffenbarier Wahr-
heilen entgegenhält: Ce principe mime de la veracite de dieu, sur lequel vous recon-
noissez que la certilude de revelation est fonde'e, riest il pas une maxime prise de la theo-
logie naturelle?
326) Vgl. z. B. a. a. 0. p. 348a. 355a.
327) a. a. 0. p. 353a.
248 G. Hartenstein, 1438
er dagegen macht,988) muss man schliessen , dass es zunächst die Ver-
knüpfung oder Sonderung in der Form des Urtheils ist, welche er in
der Definition vennisst; Locke hatte aber in der Thal so oft und so be-
stimmt ausgesprochen, dass alle Wahrheit in Sätzen, also in Urtheilen
besteht, dass er in der betreffenden Stelle (s. oben Anm. 188) sich der
minutiösen Sorgfalt Überheben durfte, statt: tnith seems to meto signify
zu sagen: a true proposition seems to me to be u. s. f., zumal er unmittel-
bar darauf selbst hinzusetzt: truth properly belongs to proposition*.
Ganz unwillig aber wird Leibniz über die Locke'sche Unterscheidung
zwischen begriffsmassiger und sprachlicher Wahrheit (veritS mentale und
nominale), indem er Locke'n die Ansicht unterschiebt, dass er der letz-
teren denselben Werth beilege wie der ersteren, oder überhaupt mehrere
Sorten von Wahrheit einführen wolle. Die Wahrheit bestehe nicht in
den Worten ; daraus würde folgen, dass eine in lateinischer, deutscher,
englischer, französischer Sprache ausgesprochene Wahrheit je nach den
verschiedenen Sprachen immer eine andere Wahrheit sei, und dass man
nicht nur eine veritä mentale und nominale, sondern auch eine Htterale
annehmen könne, indem man die Wahrheiten unterscheide, je nachdem
sie auf Pergament oder Papier gedruckt, in gewöhnlicher Tinte oder mit
Druckerschwarze sichtbar seien.320) Es genügt hier wohl die Erinnerung
daran, dass Locke die ganze Unterscheidung lediglich desshalb einge-
führt hatte, um die sprachliche Richtigkeit eines Satzes von seiner be-
griffsmässigen Gültigkeit zu sondern; eben weil er einen Hauptgrund
der Mangel clor Erkenntniss darin fand, dass das menschliche Denken
sich von der schon vorhandenen und tixirten Sprache nur mit Mühe und
eigentlich niemals ganz vollständig losmachen kann , ging seine Absicht
dahin zu zeigen, dass das an den Worten klebende Denken nur ein ein-
328) a. a.O. p. 355a. Un epitkete ne faxt pas une proposition; par exemple
r komme sage. Cependant il y a une conjonction de deux termes. Negation est aussi
autre chose que Separation; car disant V komme, et apres quelque Intervalle prononcant
sage, ce n'est pas nier. La convenance aussi ou la disconvenance riest pas proprement
ce qu'on exprime par la proposition. Deux oeufs ont de la convenance et deux ennemis
ont de la disconvenance. II s'agit ici dune maniere de convenir et disconventr toute par-
ticuliere. Diese maniere toute particuliere bestimmt anzugeben unterlägst Leibniz.
329) a. a. 0. Ce que je trouve le moins ä mon gre dans votre deftniüon de la verite
c'est qu'on y ckercke la verite dans les mots. Dann folgen die obigen Consequenzen mit
den angeführten Beispielen.
139] Locku's Lehuk von der mbnschl. Erkbnntniss ü. s. w. 249
gebildetes Wissen enthalte. Dergleichen Albernheilen, wie ihm Leibniz
hier aufbürdet, Hess er denn doch nicht an sich kommen.
Von grösserem Interesse ist schliesslich die Art, wie Leibniz
Locke'n gegenüber den Begriff der Wahrscheinlichkeit behandelt. Die
von Locke gezogene Grenzlinie zwischen strengem Wissen und einem
auf Wabrscheinlichkeitsgründen beruhenden Fürwahrhalten erkennt er
im allgemeinen an, aber während Locke die Wahrscheinlichkeit als auf
einen scheinbaren Zusammenhang der Vorstellungen gegründet betrach-
tet, fasst er, so weit sich dieselbe nicht lediglich auf die Constatirung
von Thatsachen durch das Zeugniss Anderer bezieht, ihren Begriff schär-
fer auf; für die Wahrscheinlichkeit bedarf es nicht scheinbarer, sondern
ebenfalls wirklicher Gründe, die aber so beschaffen sind, dass aus ihnen
nicht die ganze Wahrheit, sondern nur ein Theil der Wahrheit folgt;
das Wahrscheinliche ist eine unvollständig bewiesene Wahrheit.390) Ne-
ben einer ausführlichen Erörterung über die Bedingungen und Grade
der historischen Wahrscheinlichkeit*31) weist er daher auf die Möglich-
keit hin, die Grade der Wahrscheinlichkeit mathematisch zu bestimmen;
in einer erschöpfenden Ausführung der Wahrscheinlichkeilsrechnung
sieht er eine neue Art der Logik, ein wichtiges Hülfsmittel für die Kunst
der Erfindung.35*)
Auf die Anwendungen endlich, welche Locke von dem Unter-
schiede zwischen strengem Wissen und einem nicht streng begründeten
Fürwahrhalten auf das Verhältniss zwischen Vernunft und Offenbarlings-
glauben gemacht hatte, geht Leibniz in einer Weise ein, die den schlich-
ten Entscheidungen Locke's mehr auszuweichen^ als sie zu widerlegen
sucht. Zwar darin , dass man in Sachen des Offenbarungsglaubens auf
den Gebrauch der Vernunft nicht Verzicht leisten dürfe, stimmt er
Locke'n bei ; er billigt es, dass der Glaube auf Vernunft gegründet wer-
den soll ; welchen Grund hätten wir sonst , die Bibel dem Koran oder
den Büchern der BramineQ vorzuziehen? Verständige Personen hätten
daher nie ein sonderliches Zutrauen zu Leuten gehabt, die behaupten,
330) a. a. 0. p. 3936. Ces Haisons [des idees) sont m&nes necessaires quand ellcs
ne produwent qu'une opinion, lorsqu' apres une exacte recherche la prevalence de la pro-
babilüe autant qu'on peutjuger peui 4tre demontree, de sorte qu'il y a demonslration
alors non pas de la verite de la chose, mais du parti.
334) a. a. 0. p. 389a — 3916.
331) a. a. 0. p. 3886.
260 G. Hahtbnstkin, [4*0
dass man in Glaubenssachen sich um Gründe nicht zu bekümmern
'brauche; ein ohnedies unmögliches Ding, wenn Glauben etwas mehr
bedeuten solle, als Wiederholen und Hersagen.333) Aber schon die Frage,
ob, wo der buchstäbliche Sinn der Religionsurkunde eine logische oder
eine physikalische Unmöglichkeit enthalte, es vernünftiger sei, den buch«
stäblichen Sinn oder das philosophische Princip fallen zu lassen , ent-
scheidet er nur in dem Falle zu Gunsten des letzteren, wo es keine
Schwierigkeit mache, den buchstäblichen Sinn aufzugeben, wie z. B.
wenn Gott menschliche Gliedmassen beigelegt werden.334) Auch mit der
Grenzlinie, welche Locke zwischen dem, was gegen und was Über die
Vernunft sei, gezogen hatte, ist er nicht ganz einverstanden. Die De6-
nilion, das übersteige die Vernunft, wovon die Wahrheit oder Wahr-
scheinlichkeit nicht mit Hülfe der Vernunft aus den Principien der Er-
kenn tniss abgeleitet werden könne, sei theils zu weit, theils zu eng; sie
umschliesse Alles das , was wir nach unserer gegenwärtigen Lage nicht
wissen und nicht wissen können, z.B. ob in einem bestimmten Jahre
ein Ausbruch des Vesuvs erfolgen werde; und schliesse das aus, was
zwar für uns, aber nicht an sich unmöglich sei, wie z. B. die Berechnung
einer Sonnenfinsterniss, ohne die Feder zu Hülfe zu nehmen und in einer
Zeit, in der man ein Vaterunser betet.335) Selbst wenn man das Merkmal
hinzunehme , dass das , was über die Vernunft sei , die natürliche Er-
kenntnissfohigkeit jedes geschaffenen Geistes überschreite, so reiche dies
nicht aus; denn Gott sei immer im Stande, Mittel darzubieten, durch
Sensation und Reflexion jede Wahrheit zugänglich zu machen, wie denn
in der That die grössten Mysterien uns durch das Zeugniss Gottes be-
kannt würden, die man kraft gewisser von Sensation und Reflexion ab-
hängiger Glaubensmotive anerkenne.™) Zuletzt gesteht er aber der
333) a. a. 0 p. 4026. Je vous applaudis fort, Monsieur, lorsque vous voukz que
la foi soü fondee en raison; sans cela pourquoi preferions-nous la bible d Falcoran ou
aux anciens livres des Bramines? p. 403a. Aussi les personnes sag es ont toujours tenu
pour suspects ceux qui ont pretendu qu'il ne falloit point se mettre en peine des raisons
et preuves, quand ü s'agit de croire ; chose impossible en effet d moins que croire ne signifie
que reciter ou repeter et laisser passer sans s%en mettre en peine,
334) a. a. 0. p. 405a. 6.
335) a. a. O. p. 402a.
336) a. a. 0. p. 4026. Dieu pourra toujours donner des moyens tfapprendre par
la Sensation et la reflexion quelque verite que ce sott; comme en effet les plus grands my-
4M] Locke's Lehre von der menschl. Erkenntniss u. s. w. 251
ganzen Erörterung über das Verhältniss zwischen Vernunft und Offen-
barungsglauben nur unter der Bedingung eine unwiderlegliche Berech*
tigung zu , dass man unter Glauben eben ein auf Motive der Glaublich-
keit gegründetes Fürwahrhalten verstehe, ohne dabei auf die innere
Gnade, die den Geist unmittelbar bestimme, eine Rücksicht zu nehmen.
Diese innere Gnade ergänze den Mangel der Glaubensmotive auf über-
natürliche Weise. Nun wirke zwar Gott durch diese innere Gnade immer
nur in den Fallen, wo der Inhalt des Glaubens auch auf die Vernunft
gegründet sei; ausserdem würde er die Mittel, die Wahrheit zu erken-
nen , selbst zerstören und der Schwärmerei Thür und Thor eröffnen ;
andrerseits sei es aber auch nicht nöthig , dass alle die , welche unter
dem Einflüsse dieser Gnadenwirkungen stehen und diesen gottgewirk-
ten Glauben haben , die Gründe dessen , was sie glauben, kennen und
immer gegenwärtig haben/137) Locke würde diesen Salzen gegenüber
vielleicht gefragt haben, woran man solche unmittelbare Gnadenwir-
kungen von jeder beliebigen schwärmerischen Einbildung unterscheiden
könne; soll die Wahrheit des Glaubens den Rückschlags auf die Gna-
denwirkung bedingen, so hatte er sich eben in dem Capilel über den
Enthusiasmus viele Mühe gegeben zu zeigen, dass die Entscheidung
über die Wahrheit oder Glaublichkeit der Glaubenssätze eben dem ver-
nünftig prüfenden Denken anheimfalle. Dass Leibniz zugesteht , wenn
man von den unmittelbaren Gnadenwirkungen absehe, sei Alles das,
was Locke sage, unwiderleglich, ist jedenfalls wichtiger, als die theolo-
gische Belesenheit, die er bei dieser Gelegenheit ausbreitet.**)
XIV.
Die Gegenüberstellung der Erörterungen beider Denker über die
Grundlagen der menschlichen Erkenntniss berechtigt nicht nur, sondern
nöthigt zu dem Satze, dass die Differenzen zwischen beiden bei weitem
stires nous deviennent connus par le temoignage de dieu, qvlon reconnoü par les motifs
de credibilite . . Et ces motifs dependent sans doute de la Sensation et de la refleacion.
337) a. a. 0. p. 4046.
338) a. a. 0. p. 404a. 6. Si vous prene* la foi pour et gui est fonde dans les
motifs de credibilite' et la detachez de la graee interne, qui y ddtermine Tesprit immediate-
ment, tout ce, que vous dites, est incontestable u. s. w.
£52 6. Hartenstein, [<«
nicht so durchgreifend sind als die Uebereinstimmung, ja dass jene hin-
ler diese rucksichtlich der Principien als nichts entscheidend zurück-
treten. Den stärksten Gegensatz zwischen beiden hat man fast allge-
mein in der Leugnung oder Behauptung angeborner Begriffe oder Er-
kenntnisse gefunden; aber dieser Gegensatz ist nicht vorhanden, indem
Leibniz angeborne Erkenntnisse nicht in dem Sinne behauptet, in wel-
chem Locke sie leugnet. Das Motiv der Annahme angeborner Erkennt-
nisse liegt für ihn in der Einsicht, dass die Erfahrung zu keiner not-
wendigen und streng allgemeinen Erkenntniss führe; das Angoborensein
einer Erkenntniss bedeutet ihm wesentlich die Unabweisbarkeit eines
Denkens , welches gewissen Begriffen und Begriffs Verbindungen unab-
hängig von den Belegen der Erfahrung in Folge einer unmittelbaren
oder mittelbaren Evidenz Gültigkeit beizulegen nicht umhin kann. In
diesem Sinne sagt er, dass, um angeborne Erkenntnisse zu prüfen, d. h.
um zu entscheiden, welche Erkenntnisse angeboren sind, weil sie den
Charakter einer unabweislichen von der Erfahrung unabhängigen Not-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit haben, man suchen müsse, sie mit-
telst der Definitionen auf identische Axiome zurückzuführen (vgl. oben
Anm. 228. 230); in diesem Sinne kommt ihnen ihre Gewissheit ledig-
lich von dem , was in uns ist ; und wenn er einzelne Begriffe wie den
des Seins, der Möglichkeit, der Gleichheit u. s. w. für angeboren erklärt,
so verliert diese Berufung auf das Angeborensein bestimmter Begriffe jede
sie vorzugsweise charakterisierende Bedeutung gegenüber der Erklärung,
dass diese Begriffe nur virtuell in uns sind und dass alle aus nothwendigen
Folgerungen hervorgehende Erkenntnisse ebenfalls angeboren genannt
werden können. Nimmt man dazu die Erklärung, dass alle ewigen Wahr-
heiten die Form eines hypothetischen Unheils haben, d.h. abhängig sind
von dem Inhalte und der Verknüpfung der Begriffe, um die es sich han-
delt (vgl. oben Anm. 323), und dass mithin jede als angeboren auftretende
Erkenntniss sich eine Kritik ihrer Gültigkeit und Noth wendigkeit gefallen
lassen müsse,390) so darf man sagen, dass die Streitfrage, ob und in wel-
chem Sinne es angeborne Begriffe oder Erkenntnisse gebe , weder für
Locke noch für Leibniz principiell entscheidend ist ; beide berufen sich
339) Beispielsweise mag noch angeführt werden, dass Leibniz den Cartesiani-
sohen Beweis für das Dasein Gottes aus dem Angeborensein der Idee Gottes a. a. 0.
p. 375a für ganz untriftig erklärt.
**3J Locke's Lehre von ob* mejnschl. Erkenntniss u. s. w. 253
nicht auf die Naturgeschichte des Begriffs, wo es sich um die Notwen-
digkeit der Erkenntniss handelt, sondern fUr beide ist diese Notwendig-
keit durch den Inhalt der Begriffe und die davon abhängige Verknüpfung
derselben bedingt. Mit einem Worte , beide finden die Stützpunkte der
wahren Erkenntniss nicht in der Psychologie, sondern in der Logik, und
zwar in der über die Zulässigkeit oder Notwendigkeit der Gedanken-
verbindungen nach dem Satze der Identität und des Widerspruchs ent-
scheidenden Logik.
Es ist in dieser Beziehung von Interesse zur Feststellung der Leib-
nizischen Lehre den kleinen Aufsatz : meditationes de cognitione, verilaie
et ideiß aus dem Jahre 1 684 ins Auge zu fassen , auf welchen Leibniz
so grossen Werth legt, dass er in den nouveaux essais mehrmals (p. 288,
307) auf ihn ausdrücklich verweist. Die Veranlassung dazu gab ihm das
Cartesianische : quidquid clare et distincle de re aliqua percipio, id est verum
seu de ea enuniiabile; die Absicht desselben gibt er dahin an, seine An-
sicht über die Unterschiede und Kriterien der Begriffe und der Erkennt-
nisse auszusprechen.740) Ohne die leiseste Berührung der Frage nach
dem Ursprünge der Begriffe beginnt er hier mit den Definitionen der
Klarheit und Dunkelheit, der Deutlichkeit und Verworrenheit eines Be-
griffs, in derselben Art, wie er diese Unterschiede Locke gegenüber
bestimmt (vgl. oben Anm. 269). Zusammengesetzte Begriffe, bei denen
die Merkmale zwar klar, aber nicht selbst wieder deutlich gedacht wer-
den, sind inadäquat; wird die Analyse bis auf die einfachen Begriffe fort-
gesetzt, so ist der Begriff und die in ihm liegende Erkenntniss adäquat ;
eine Art der Erkenntniss , der, wie wenig sie auch in den meisteu Fällen
erreichbar sein mag, die Arithmetik sich in hohem Grade annähert,
Meistentheils begnügen wir uns oder müssen uns begnügen mit einer
unvollkommenen Analyse; eine solche Erkenntniss ist die symbolische;
intuitiv dagegen ist die Erkenntniss , wo alle in einem zusammengesetz-
ten Begriffe enthaltenen Vorstellungen wenigstens annähernd deutlich
gedacht werden ; die Erkenntniss zusammengesetzter Begriffe ist meist
nur symbolisch.841)
340) Opp. p. 79a. Placet, quid mihi de discriminibus et criterüs idearum et cognt-
Uonum stotuendum videatur, expiicare.
34J) n « 0. p. 796. 80a. Das Wort intuitiv wird also hier in einem andern
Sinne gebraucht, als bei Locke.
254 G. Hartenstein, H **
Deutliche Erkenntniss haben wir also nur insofern, als wir zugleich
den Begriff in intuitiver Weise denken. Daher glauben wir oft lediglich
desshalb Begriffe zu haben, weil wir ihre Analyse nicht weit genug
fortsetzen ; thäten wir dies , so würde sieb vielleicht finden , dass der
Begriff einen Widerspruch einschliesst. Zur Erläuterung beruft er sich
auf ein Beispiel, auf welches er häufig mit Vorliebe zurückkommt, näm-
lich auf den .Anseimischen oder Cartesianischen Beweis für das Dasein
Gottes, der erst dann concludent werde, wenn man untersucht habe,
ob der Begriff des vollkommensten Wesens möglich sei d. h. ob er nicht
etwa einen versteckten Widerspruch enthalte.348) Die Realdefinition ist
demgemäss eine solche, in welcher zugleich die Entscheidung über die
Möglichkeit d. h. zunächst die Widerspruchslosigkeit des Begriffs Hegt;
Realdefinitionen entziehen sich daher der Willkühr, weil nicht alle Be-
griffe mit allen verknüpft werden können. Daraus erhellt, welche Vor-
stellungen wahr und welche falsch sind; wahr sind die, deren Begriff
möglich ist, falsch, deren Begriff einen Widerspruch einschliesst. Die
Möglichkeit oder Widerspruchslosigkeit wird auf doppeltem Wege er-
kannt, entweder a priori, durch Analyse der Begriffe, wenn wir uns
dadurch überzeugen , dass der Begriff keinen Widerspruch einschliesst,
und ein besonderer Fall davon sind die Gausaldefinitionen, die über das
Wie der Möglichkeit Aufschluss geben; oder a posteriori, durch Auf-
fassung des erfahrungsmässig Gegebenen ; denn was wirklich ist, muss
möglich sein.343) An vero unquam , setzt er hinzu , ab hominibus perfecta
institui possit analysis noHonutn, sive an ad prima possibilia ac notiones
irresolubile8 sive (quod eodem redit) ipsa absoluta altributa dei9
netnpe causas primas atque ultimam verum rationem cogilationes suas redu-
cere possint, nunc quidem definire non ausim.
Die in den letzten Worten ausgesprochene Gleichstellung der
schlechthin einfachen Begriffe mit den absoluten Attributen Gottes und
den ersten Ursachen ist jedenfalls hier überraschend , aber sie ändert
3 42) a. a. 0. p. 80a. Ex hisjampatet, nos eorwn quoque, quae distinete cogno-
seimus, ideas non pereipere, nisi quatenus cogüatione intuitiva utimur. Et sane cohüngit,
ut nos saepe falso credamus habere in animo ideas rerum, cum falso supponimus, terminos
quibus utimur, jam a nobis fuisse explicatos .... Quia hac cogüatione caeca contenti
sumus et resoluüonem notionum non satis prosequimur, fit, ut lateat nos contradictio, quam
forte notio composita involvit.
343) a. a. 0. p. 806.
4 45] Locke's Lehre von der mknschl. Erkenntniss u. s. w. 255
nichts an dem Hauptgedanken, dass die Erkenntniss vor allem Andern
in der möglichsten Deutlichkeit dessen besteht, was wir denken; und
in dem kurzen, in raschen Gedankenwendungen fortschreitenden Dia-
logtis de connexione inter res et verba et veritatis realitate aus dem Jahre
4677 hatte Leibniz schon früher hervorgehoben, dass es eigentlich V er-
häitnisse sind, deren Gleichheit und Unveränderlichkeit die Grundlage
und, darf man hinzusetzen, der Gegenstand der Erkenniniss sind.344)
Und die oft wiederholte Hinweisung darauf, dass das erkennende Den-
ken Rechenschaft über die Möglichkeit der Begriffe geben müsse, weist,
abgesehen von der angeblich reellen Gültigkeit, welche Leibniz in
metaphysischer Beziehung dem Möglichen gibt, zuletzt auf eine Vertie-
fung des Denkens in den Inhalt der Begriffe und die durch diesen Inhalt
mitgesetzten Verhältnisse derselben hin , die ihre Norm lediglich in den
Gesetzen der Logik ßndet.345) Desshalb gibt es für Leibniz wie für Locke
Gebiete eines strengen demonstrativen Wissens, bei welchen es auf die
empirische Wirklichkeit der Gegenstande dieses Wissens gar nicht an-
kommt , und desshalb weist jener eben so wie dieser da , wo es sich
um die Erkenntniss der empirischen Wirklichkeit handelt, auf die Er-
fahrung hin, welche allein die Data zu, dieser Art von Erkenntniss dar-
zubieten im Stande ist. Obgleich daher Leibniz rücksichtlich der1 Me-
thode schärfere und strengere Forderungen an das Denken stellt als
Locke, der den logischen Formalismus als einen für den wirklich den-
kenden Menschen überflüssigen Ballast betrachtete, und obgleich Locke
der lebhaften Zuversicht, mit welcher Leibniz seine Metaphysik als eine
344) Opp. p. 776. Etsi characteres sint arbitrarii, eorum tarnen usus et connexio
habet quiddam, quod non est arbürarium, scilicet proportionem quandam inter characteres
et res, diversorum characterwn, easdetn res exprimentium , relationes inter se. Et haec
proporiio swe relatio est fundamentum veritatis (vgl. p. 78a. 6). Es ist vielleicht nicht
überflüssig zu bemerken , dass das Wort res hier, wie in ähnlichen Fällen die Worte
objet, chosen. s. w. sowohl den gedachten, als den wirklichen Gegenstand, insofern
er eben gedacht wird, bedeutet.
345) Vgl. darüber auch P. Einer's vortreffliche Abhandlung »über Leibnizens
Universal-Wissenschafl« (aus d. Abhandll d. K. Böhmisch. Ges. d. Wiss. V. Folge 3. Bd.
Prag 1843). »Die Logik«, sagt Exner am Schluss derselben S. 40, »war ihm, was sie
wirklich ist, die Wissenschaft, welche das Ideal aller Wissenschaften zeichnet, dem
eine jede auf ihre Weise sich zu nahern hat. Und dieses Ideal selbst ist nichts Anderes
als vollkommene Deutlichkeit aller Begriffe und ihrer Beziehungen. Echte Wissenschaft
und Kinigkeit der Denker Messen allein aus der Klarheit der Gedanken. «
. Abhandl. d. K. S. Ges. d.Wis*. X. 1 7
256 6. Hartenstein, [146
die verschiedenartigsten speculativen Gegensätze glücklich vermittelnde
Entdeckung betrachtete, die kühle Unerschütterlichkeit eines kritischen
non liquet entgegengestellt haben würde, so erkennen doch beide die
Thalsächlichkeit des in der innern und äussern Erfahrung Gegebenen
und die Notwendigkeit eines nach dem Inhalte der Begriffe sich rieh-
tenden und den Beziehungen derselben nachspürenden Denkens als das-
jenige an, was in letzter Instanz über alle Theorieen, selbst die der Er-
kenntniss nicht ausgenommen, zu entscheiden hat.346)
Es ist nicht die Absicht, die Parallele zwischen Locke und Leibniz
auf Kant auszudehnen; dass aber das Urtheil, welches dieser über beide
ausspricht, nicht zutrifft, muss die vorliegende Darstellung gezeigt ha-
ben. »Leibniz, sagt Kant,™7) intellectuirt die Erscheinungen, sowie
Locke die Verstandesbegriffe sensificirt, d. i. für nichts, als empiri-
sche und abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte. Anstatt im
Verstände und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene .Quellen von
Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objeetivgültig von
Dingen urtheilen können, hielt sich ein jeder dieser grossen Männer nur
an eine von beiden , die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge
an sich selbst bezöge, indessen die andere nichts thal, als die Vorstel-
lungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen.« Vielmehr müsste
man, wenn man den Kantischen Schematismus der Erkenntnissvermögen
auf Locke und Leibniz übertragen will, sagen, dass beide im Verstände
und in der Sinnlichkeit zwei verschiedene Quellen von Vorstellungen
angenommen haben; dass ferner Leibniz die Erscheinungen eben so
wenig intellectuirt, da ihm alles sinnlich Wahrnehmbare eben nur ein
System wohlgeordneter Phänomene ist, als Locke die Verstandesbegriffe
sensificirt, da das Gebiet der streng demonstrativen Erkenntniss mit der
3 46) In dem oben Anm. 3 angeführten Briefe Leibniz' s an Retnond de Montroort
vom J.I7Ü sagt Leibniz : Mr. Locke avait de la subtilite et de ladresse et quelque espiee
de metaphysique superficiale qu'ü savoit relever, mais ü ignoroit la methode des mathe-
maticiens. Auf dieses Urtheil ist vielleicht die geringschätzige Art nicht ohne Einfluss
gewesen, mit welcher Locke Leibniz's reflewions sur Fessai de fentendement humain
de Mr. Locke in einem Briefe an Molyneux mit den Worten abgelehnt hatte: des futiti-
tes de ce gerne me fönt penser qu'il riest pas ce tres grand komme dont on nous a parte.
Locke hat keine oberflächliche Metaphysik , sondern er leistet mit vollem fiewusstsein
der Gründe auf Metaphysik als Erkenntniss des Wesens der Dinge Verzicht; seine For-
derungen sind in dieser Beziehung strenger aU die Leibniz's.
347) Kril d. r. V. S. 261.
147] Locke'* Lehre vom der menschl. Erkenntniss u. *. w. 257
sinnlichen Erfahrung bei ihm an sich gar nichts zu thun hat und in die-
ser Beziehung bei ihm, gerade wie bei Kjint, unsere Begriffe nicht an
den Dingen , sondern diese an unseren Begriffen gemessen werden (s.
oben Anm. 485) und dass es wenigstens Locke, der die Dinge an sich,
ebenfalls wie Kant, für unbekannt erklärt, nicht beigekommen ist , die
sinnlichen Empfindungen in einem andern Sinne, als Kant selbst, auf die
Dinge an sich zu beziehen.
Aber Kant halte für die Erkenntniss in der Frage: wie sind synthe-
tische Urtheile a priori möglich? einen Gesichtspunkt aufgestellt, der die
Untersuchung über den Gesichtskreis Locke's sowohl als Leiboiz's hin-
auszuheben im Stande gewesen wäre;348) denn in dieser Frage liegt die
unmittelbare Aufforderung , ihre Beantwortung in den Begriffen selbst
und deren nicht blos analytischen Verhältnissen, sondern synthetischen
•
Beziehungen zu suchen. Statt an die Begriffe selbst wendet sich jedoch
Kant an die Erkenntnissvermögen; der Grund der Synthesis soll eben
nicht in den Begriffen, sondern in den Functionen der Sinnlichkeit, der
Einbildungskraft des Verstandes liegen. Desshalb sind psychologische
Voraussetzungen bei Kant von viel grösserem Einflüsse, als bei Locke,
der viel weniger die Erkenntnissvermögen, als die menschliche Erkennt-
niss zum Gegenstande seiner Kritik gemacht hatte."0) Gleichwohl lässt
sich die Frage aufwerfen , ob Kant seine Resultate lediglich oder auch
nur hauptsächlich auf Seinen psychologischen Unterbau gegründet habe,
oder habe gründen können.
Den Mittelpunkt seiner theoretischen Ansicht bildet der Satz, dass
wir die Dinge an sich nicht kennen, weil wir nun einmal an die reinen
Formen der sinnlichen Anschauung und die zwölf Kategorieen gebunden
sind und diese factische Gebundenheit unseres Anschauens und Denkens
348) Der Begriff eines synthetischen Urlheils kommt weder bei Locke noch bei
Leibniz vor. Wie nahe er gleichwohl Locke lag, darüber vergl. oben S. 4 82. Ebenso
findet sich bei Leibniz nouv. essais p. 395a eine merkwürdige Stelle, wo er sagt-: il
faut savoir qu'il y a des consequences asyllogistiques bonnes et qu'on ne sauroü demontrer
ä la rigueur par aucun syllogisme sans en c hang er un peu les termes et ce changement
mime des termes faxt la consequence asyllogistique. Die Beispiele, die er dafür anführt,
sind synthetisch verbundene Begriffe.
349) Wenn man den Titel seines Werks essay conceming human understanding
gewöhnlich übersetzt Versuch über den menschlichen Verstand, so muss bemerkt wer-
den, dass understanding ebenso das Verstand niss als den Verstand, ebenso die Erkennt-
niss als das Erkenntniss vermögen bedeutet.
47*
858 6. Hartenstein, [1 48
nicht abstreifen können , dergestalt dass wir gar nicht wissen können,
ob nicht die Dinge an sich ganz anders beschaffen sind , als wir sie an-
schauen und denken. Gesetzt nun , es läge wirklich »im menschlichen
Gemüthe« eine Summe oder ein System festbestimmter und unüber-
scbreitbarer Anschauungsformen und Begriffe »a priori bereit«, durch
welche wir den gegebenen Empfindungsstoff aufzufassen unabänderlich
bestimmt sind, so Hesse sich gerade dann nicht einsehen, wie auch nur
der leiseste Gedanke daran sollte entstehen können, dass die Dinge mög-
licherweise anders beschaffen seien, als wir sie vorzustellen genöthigt
sind; alles menschliche Denken wäre an den von der Natur vorgezeich-
neten Vorstellungskreis gebunden und eine Unterscheidung zwischen
Phänomenen und Noumenen wäre unmöglich. Wenn also eine Incon-
gruenz zwischen unseren Vorstellungsarten und den Dingen behauptet
oder nachgewiesen wird, so dürfen diese Vorstellungsarten keine unab-
änderlich und fest bestimmten sein, sondern der in uns vorhandene,
gleichviel wie entstandene Gedankenkreis muss so weit veränderlich
und beweglich sein , dass sich die Gedanken selbst an einander messen
und gegenseitig modificiren können; nur unter dieser Voraussetzung ist
es möglich, dass sich in dem factisch vorhandenen Gedankenkreise
Lücken oder Widersprüche verrathen, die es verbieten sich bei ihm
schlechthin zu beruhigen. Alle Philosophie ist ein Zersetzungsprocess
des alten und ein Bildungsprocess eines neuen Gedankenkreises.
Fragt man nun nach den Mitteln, durch welche Kant die unbefan-
gene Voraussetzung zerstört, dass die Welt wirklich so beschaffen sei,
wie wir sie vorstellen , so liegen diese nicht in seiner Sonderung einer
bestimmten Anzahl von Seelenvermögen sammt den jedem einzelnen
derselben beigelegten Functionen, sondern in Begriffsbestimmungen,
die von diesem psychologischen Apparat ganz unabhängig sind. Vor
allem in der Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen. Zum Er-
kennen gehört zweierlei, Anschauung und Begriff; wo ein gegebener
Gegenstand nicht durch Begriffe gedacht, und für einen gedachten Be-
griff kein Gegenstand gegeben werden kann, ist keine Erkenntniss, son-
dern dort eine gedankenlose Thatsache, hier ein leerer Begriff. Dieser
Fundamentalsatz hängt in seiner Gültigkeit nicht davon ab, dass gerade
nur die Sinnlichkeit die Gegenstände gibt und der Verstand sie denkt;
wohl aber steht für Kant diese in den Begriff der Erkenntniss aufge-
nommene Beziehung der Gedanken auf empirische Objecte dergestalt
U9] Lockb'8 Lehre von der mbnscbl. Erkenntniss u. s. w. 859
•
fest; dass nicht nur die Kategorieen keine Erkenotniss darbieten, als
nur »durch ihre mögliche Anwendung auf empirische Anschauung«, son-
dern dass er selbst der Mathematik nur in so fern den Namen der Er*
kenntniss zugestehen will, als die mathematischen Begriffe auf empi-
rische Anschauungen angewendet werden können.990) Dieser Bestim-
mung des Begriffs der Erkenntniss im Gegensatze zu dem blossen Denken
liegt aber bei Kant stillschweigend noch ein anderer, von ihm allerdings
erst in der Kritik des ontologischen Beweises für das Dasein Gottes hervor-
gehobener Begriff zu Grunde, nämlich der des Seins; und erst durch die
in dem Begriff des Seins liegende Unabhängigkeit des Seienden von dem
Denken bekommt die Unterscheidung des Dings an sich von der Vorstel-
lung ihren Haltepunkt. Indem nun die Dinge an sich und die in uns lie-
genden Formen der Anschauung und des Denkens einander gegenüber-
treten, bewegt sich die Kantische Kritik allerdings vorzugsweise auf
dem auf der Seite des Subjects liegenden Gebiete und der positive In-
halt seiner Analytik der Begriffe und Grundsatze des reinen Verstandes
besteht zum grossen Theil lediglich in der Exposition der durch die
altere Schulmetaphysik formulirten Vorstellungsarten, jedoch unter der
fortwährenden Erinnerung daran , dass alle diese Begriffe und Grund-
satze eine Bedeutung nur durch ihre Beziehung auf mögliche Erfahrung
erhalten und dass wir die Dinge an sich dadurch nicht kennen lernen.
Es ist nicht ohne Nutzen, in dieser Hinsicht den ganzen Abschnitt:
»systematische Vorstellungen aller synthetischen Grundsatze des reinen
Verstandesgebrauchs« durchzugehen, vorzüglich die auf die Begriffe der
Substanz und der Gausalitat sich beziehenden Parthieen, in denen er
auf jede Untersuchung des Begriffs entweder geradezu Verzicht leistet
oder dessen Unbegreiflichkeit einfach durch die Berufung auf die Gewalt
der sinnlichen Anschauung umgehen zu können glaubt.951)
350) Kr. d. r. Yern. S. 4 38. 139. Wenn Kant erklärt, dass die Möglichkeit der
Mathematik als Wissenschaft nur durch seine Lehre von Raum und Zeit als den reinen
Formen der sinnlichen Anschauung begreiflich werde (Kr. d. r. V. S. 46flgg. 65), so
ist es der Mühe werth, damit zu vergleichen was Leibniz nouv. essais p. 364 — 363
über die Gründe der mathematischen Erkenntniss sagt. Die Arithmetik geht bei Kant
ohnedies ziemlich leer aus ; die Geometrie aber hat es überall lediglich mil bestimmten
räumlichen Verhältnissen zu tbun und der allgemeine Begriff des Raums ist für sie
sehr gleichgültig; in der allgemeinen Form des Raums liegt aber nicht der geringste
Entscheidungsgrund über irgend ein bestimmtes räumliches Verhiiltniss.
351) Rücksichtlich des Begriffs der Substanz vgl. Kr. d. r. V. S. 4 90 — 195. —
860 G. Härteste! fr, [*50
Wo jedoch Kant die die Grenze der Erfahrung überschreitenden
Behauptungen einer dogmatischen Metaphysik bestreitet und widerlegt,
zeigt sich , dass seine Beweise der Unmöglichkeit einer dogmatischen
Beantwortung der betreffenden Fragen entweder auf den Mangel aus-
reichender Data der Erfahrung oder auf die den dogmatischen Behauptun-
gen nach weisbareu Sprunge und Fehlschlüsse oder auf die Begriffe selbst
und die in ihnen liegenden unauflöslichen Schwierigkeiten sich stützen.
Das erste tritt besonders deutlich in der Kritik aller speculativen Theo-
logie hervor, in welcher Beziehung er selbst abschliessend sagt (S. 488):
»Wollte man lieber alle obige Beweise der Analytik in Zweifel ziehen,
als sich die U eberred ung von dem Gewichte der so lange gebrauchten
Rücksichdieb der Veränderung und der Causalität sagt er a. a. 0. S. 234: »Um Ver-
änderung als die dem Begriffe der Causalität correspondirende Anschauung darzustel-
len, müssen wir Bewegung, als Veränderung im Räume, zum Beispiele nehmen....
Veränderung ist Verbindung contradictorisch einander entgegengesetzter Bestimmungen
im Dasein eines und desselben Dings. Wie es nun möglich sei, dass aus einem gege-
benen Zustande ein ihm entgegengesetzter desselben Dinges folge , kann nicht allein
keine Vernunft sich ohne Beispiel begreiflich, sondern nicht einmal ohne Anschauung
verständlich machen und diese Anschauung ist die der Bewegung des Punkts im Räume.«
Also würde wirklich durch die Bewegung des Punkts im Räume das Gelbwerden der
Blätter im Herbste verständlich und durch ein solches Beispiel die Veränderung für die
Vernunft begreiflich? — Wie wenig die Frage nach einer berichtigenden Umbildung
der vorhandenen gleichviel ob a priori gegebenen oder erworbenen Vorstellungsarten
in dem Gesichtskreis Kant's.Lag, zeigen solche Stellen, wo er eigentliche Definitionen
der Kategorieen und der davon abhängigen Begriffe für eine gar nicht so schwere Sache
erklärt. »Der Definitionen der Kalegorieen überhebe ich mich in dieser Abhandlung
geflissentlich, sagt er S. 412, obwohl ich im Besitze derselben sein möchte ... Aus
dem Wenigen, was ich hievon angeführt habe, leuchtet deutlich hervor, dass ein voll-
ständiges Wörterbuch mit allen dazu erforderlichen Erläuterungen nicht allein mög-
lich, sondern auch leicht sei zu Stande zu bringen. « Und S. 207 sagt er: »diese Cau-
salität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den der Kraß, und dadurch auf
den Begriff der Substanz. Da ich mein kritisches Vorhaben . . . nicht mit Zerglieder-
ungen bemengen will, ... so überlasse ich die umständliche Erörterung derselben
einem künftigen System der reinen Vernunft ; wiewohl man eine solche Analysis in
reichem Maasse auch schon in den bisher bekannten Lehrbüchern
dieser Art trifft.« Die Ausführung des »Systems der reinen Vernunfta scheint er
sich so gedacht zu haben, dass es nicht nöthig sein würde, an den hergebrachten
metaphysischen Begriffen sonderlich viel zu ändern , nachdem einmal die Kritik der
reinen Vernunft das dogmatische Vorurtheil zerstört habe, dass sie eine Bedeutung für
die Erkenntniss der Dinge an sich haben. »Die Fächer sind einmal da, es ist nur nöthig
sie auszufüllen« S. H3.
154] Locke's Lehre von der mbnschl. Erkenntnis u. s. w. 261
Beweisgründe rauben lassen, so kann man sich doch nicht weigern, der
Aufforderung ein Genüge zu thun, wenn ich verlange, man solle sich
wenigstens darüber rechtfertigen, wie und vermittelst welcher Erleuch-
tung man sich denn getraue, alle mögliche Erfahrung durch die Macht
blosser Ideen zu überfliegen. ... Ich halte mich an der einzigen billigen
Forderung, dass man sich allgemein .aus der Natur des menschlichen
Verstandes, sammt allen übrigen Erkenntnissquellen darüber rechtfertige,
wie man es anfangen wolle, sein Erkenntniss ganz und gar a priori zu
erweitern, und bis dahin zu erstrecken, wo keine mögliche Erfahrung
und mithin kein Mittel hinreicht, irgend einem von uns selbst ausgedach-
ten Begriffe seine objective Realität zu versichern.« Für das zweite kann
vornehmlich die Darlegung des Paralogismus der reinen Vernunft als Bei-
spiel gellen, die eben den Fehlschluss von der Einheit des Selbst be-
wusstseins auf die Einfachheit des Seelenwesens aufdeckt. Das dritte
endlich belegt der ganze Abschnitt von den Antinomieen ; der dialekti-
sche Widerstreit besteht hier ganz und gar in der Darlegung der Con-
sequenzen, die aus gleich möglichen Voraussetzungen sich ableiten las-
sen. Die Antinomieen sind Schlussreihen, deren entgegengesetzte
Resultate (vorausgesetzt, dass die Annahmen, aus welchen Kant argu-
mentirt, alle gleich möglich und die Argumentationen fehlerlos sind,)
lediglich darauf hinweisen, dass der angebliche Widerstreit der Vernunft
mit sich selbst oder mit dem Verstände ein Widerstreit der Begriffe selbst
sei. Und so verwandelt sich unwillkührlich selbst für Kant die Kritik,
der Erkenntnissvermögen in* eine Kritik der Begriffe.
Alle Wissenschaft will sein ein System notwendiger, unter einan-
der durchgängig übereinstimmender Gedanken. Und wenn die Frage
j
nach derCongruenz dieser Gedanken mit den Dingen immer wieder eine
Frage an das Denken ist und ihre bejahende oder verneinende Antwort
nur durch das Denken und für das Denken finden kann, so wird der
Versuch, unabhängig von den Objecten der denkenden Untersuchung
eine Theorie der Erkenntniss aufzustellen, unsicher sein, so lange nicht
das System derjenigen Gedanken, durch welche die Phänomene und
Thätigkeiten des geistigen Lebens als besondere Fälle einer allgemeinen
Gesetzmässigkeit begreiflich werden sollen, bis zu einer gewissen Reife
und Sicherheit gediehen ist. Getrieben von den Lücken und Wider-
sprüchen des eigenen Gedankenkreises, gleichviel ob er seine Quelle in
der Erfahrung oder in einer von der Erfahrung unabhängigen Mitgift
262 G. Hartenstein, Locke's Lehre v. d. menschl. Erk. u. s. w. [< 62
der Natur hat, — denn warum sollte es blos angeborne, der Verdunkelung
ausgesetzte Wahrheiten und nicht auch angeborne, der Berichtigung fä-
hige Irrthümer geben können? — getrieben von diesen Lücken und
Widersprüchen vertieft sich das Denken in die Gedanken und dadurch
in die Dinge, welche es denkt; so arbeitet es fort, fortschreitend von
Gedanken zu Gedanken, wie ein Bergmann in einem dunkeln Schachte,
und von den in den Begriffen selbst und deren Verbältnissen und Be-
ziehungen liegenden Weisungen hängt es ab, ob es auf diesem dunkeln
Wege die bunte und heilere Welt der objectiven Realität verliert oder
sie und in ihr sich selbst als Product oder Glied eines erkannten
Systems in einander greifender Ursachen, Gesetze und Zwecke wieder-
findet.
Verbesserungen.
S. 417, Anm. Z. 9 v. u. 1. they f. the.
» 4 4 8, » » 4 0 v. u. 1. the f. tho.
■ 4 A3, Z. 6 v. o. 1. was von aussen ins Bewusstsein eintritt f. was im Bewusstsem
geschieht.
» 139, » 4 9 v. u. 1. talke f. take.
9 4 48, • 5 v. o. 1. unsere Vorstellung des Zeillichen bleibt f. unsere Vorstellung
bleibt.
9 4 53, » 2 v. u. streiche thaU
9 4 57, 9 5 v. o. 1. entspricht f. entsprechen.
9 4 83, »14 v. o. I. diese f. diesen.
•
DIE
DEUTSCHE NATIONALÖKONOMIK
AN DER
GRÄNZSCHEIDE DES SECHZEHNTEN UND SIEBZEHNTEN
JAHRHUNDERTS.
VON
WILHELM RÖSCHER.
Ablinndl. d. K. S. Gt§. d. Wto. X. * *
I.
Der Verfall der Reformationsblüthe.
Die vielseitige and herrliche Blttthe , welche das deutsche Volks-
leben in der Reformationszeit getrieben, war eine schnell vorüberge-
hende. Man hat die Verkümmerung ihrer Früchte gewöhnlich dem
dreißigjährigen Kriege zugeschrieben, doch mit Unrecht. Der
dreissigjährige Krieg ist das Strafgericht, welches die Sünden, eigent-
lich aller Glieder, des deutschen Volkes mit furchtbarer Allmälichkeit
und desshalb Unentfliehbarkeit heraufbeschworen hatten. Wer aber so-
viel historisches Auge besitzt, um die geistigen Ursachen über die ma-
teriellen Wirkungen, die Principien über die Massen zu stellen, der kann
unmöglich verkennen, dass in sehr vielen Stücken die Zeit unmittelbar
vor dem Kriege noch schlimmer war, als die Zeit während des Krieges
selbst. Ich erinnere nur an das Fürsten - und Hofleben, wie es in den
Tagebüchern des Junkers von Schweinichen erscheint, verglichen mit
dem, zwar wenig productiven, aber doch edlern Aufschwünge, der sich
z. B. in der Stiftung und Ausbreitung der fruchtbringenden Gesellschaft
(seit 1 61 7), sowie in dem zwar geistlosen, aber wohlgemeinten Mäce-
natenthume so vieler Grossen während des dreissigjährigen Krieges1
äussert. Das Aufkommen der Opitzischen Poesie (seit 1617) hat man
von jeher für ein, wenn gleich unvollständiges, Wiedererwachen der
deutschen Muse gehalten. Auch der schwere Druck, welchen das Pfaf-
fenthum aller drei Confessionen auf das geistige Leben ausübte, ist ge-
4) Die vielen damaligen Gesellschaften mit ihrer gegenseitigen Lobhudelei, ihren
Dedicationen an grosse Herren etc. scheinen doch zum Theil nothwendige Schutz-
und Trutzbündnisse gegen das unmässige Pasquillwesen der Zeit gewesen zu sein,
worüber damals alle Welt klagt (Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung III,
S. 4 88 ff.).
48*
266 Wilhelm Röscher, [*
rade während des Krieges selbst gemildert worden ; ebenso der vorher
und nachher für alle Niederen so demüthigende schroffe Unterschied der
Stände 2.
Betrachten wir also das Ende des 16. Jahrhunderts als den
grellen Abfall von der Höhe seines Anfanges, so dürfen wir
freilich nicht tibersehen, wie beinah Alles, was uns an den Epigonen der
Reformation betrübt, zum Spotte reizt oder empört, auch in der besten
Zeit des Jahrhunderts schon vorhanden war. Nur immer in ganz an-
derem Verhältnisse! Aehnlich, wie sich z. B. aus dem vortrefflichen,
echt populären Deutsch und dem ebenso vortrefflichen, echt humanisti-
schen Latein, welches die Luther und Hütten etc. geschrieben hatten,
bald nach der Mitte des Jahrhunderts eine immer barbarischere Meng-
sprache bildete. Selbst in Luthers Werken lässt sich mancher Ausbruch
des Lehrfanatismus, des Hexenwahns, derCriminalbarbarei, der Bauern-
verachtung und Ftirstendienerei, endlich auch jenes Grobianismus nach-
weisen, dessen berühmtester Typus — Dedekinds Grobianus — bereits
1 549 erschien. Aber wie schrumpft das Alles zu kleinen Sonnenflecken
zusammen, wenn man es der menschlichen, sittlichen, wissenschaftlichen
und christlichen Grösse des ganzen Mannes gegenüberstellt! Aehnlich
ist es mit seiner Zeit im Allgemeinen.
Die ersten, reinsten und schönsten Jahre der Reformation kenn-
zeichnen sich hauptsächlich durch ein harmonisches Zusammenwirken
von drei verschiedenen Tendenzen : Wiederherstellung des reinen Evan-
geliums, des klassischen Alterthums, des nationalen Staates, und zwar
alles Diess in echter Humanität auch für die niederen Klassen zugäng-
lich gemacht. Aber die Harmonie und Volkstümlichkeit hört fast ur-
plötzlich auf mit dem Bauernkriege, dessen Ausbruch und Nieder-
lage ich überhaupt für den grossen Wendepunkt halte, der alles
Unheil des folgenden Jahrhunderts veranlasst hat. Eine hoffnungsreiche,
im besten Gange befindliche Reformbewegung, die bei ruhiger Durch-
führung sicher bald eine ähnliche Ablösung der bäuerlichen Frohndienste
und Naturallieferungen bewirkt hätte, wie sie in der freien Schweiz
2] Der prologartige »Inhalt« von Laurembergs Scherzgedichten, V. 25 ff., be-
zeugt klar, dass gleich nach dem dreissigj ährigen Kriege (und wohl durch denselben)
die Standesunterschiede sehr verwischt waren. Lauremberg tadelt diess als Verach-
tung einer Ordnung Gottes. Erst später muss im längern Frieden der Unterschied
wieder verschärft worden sein.
5] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 267
wirklich erfolgte3, wird in Ermangelung des rechten Führers auf dem
Throne durch Ungeduld der Emancipationsbedttrftigen zur wilden Revo-
lution, woran sich die Besten des Volkes nicht bet heiligen konnten.
Welche fürchterliche Reaction das Scheitern des Aufstandes nach sich
zog, kann am kürzesten mit den Worten des grossen Statistikers Se-
bastian Münster bezeichnet werden: nihil est, quod senilis et misera
gern (die deutschen Bauern) dominis debere non dicatur; nihil etiam, qvod
jussa facere absque periculo recusare audeat4. Nicht genug, dass alle
Verbesserungen des bäuerlichen Zustandes, selbst die reifsten und not-
wendigsten, einer mehr als zweihundertjährigen Vertagung anheimfie-
len, so traten zugleich die positivsten Verschlechterungen ein. Gerade
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gehört die Ausbreitung der un-
gemessenen Frohnden, die Ueberbürdung des Bauernstandes mit allen
neuaufkommenden Staatslasten, die Entstehung der neuern Leibeigen-
schaft, ja die Anfänge zu völliger Legung der Bauerdörfer hauptsächlich
an 5. Alles diess nur zu begreiflich in einer Uebergangszeit, wo die mit-
3) Ygl. meine Nationalökonomik des Ackerbaues, §. H7 fg.
4) Costnographia, (1550) p. 376. Auch das ist bezeichnend für die Stellung der
verschiedenen Stände zu jener Zeit, dass der Belagerer Magdeburgs, Herzog Georg
von Mecklenburg, die gefangenen Bürger um Lösegeld freigab, die Soldaten in seinen
eigenen Dienst zog, die Bauern aber niederhauen liess. (K. A. Menzel, N.Geschichte
der Deutschen III, S. 341 .)
5) Man kann diess in den meisten deutschen Territorien so lange beobachten,
bis die immer mehr wachsende landesherrliche Macht es in ihrem eigenen Interesse
fand, die Bauern zu schützen. So wurde z. B. in Brandenburg 1541 den Ständen er-
laubt, »nach ihrer Gelegenheit etliche Bauern auszukaufen.« Der Landtagsabschied
von 1 550 hebt die bisherige Ordnung auf, wonach das Kammergericht den Bauern
»gesetzte Dienste« gemacht und den Herren vorgeschrieben hatte, sie während der
Frohnde zu speisen. (Mylius C. C. M. V, S.90 ; vgl. Droysen Preuss. Gesch. 11, 2,
S. 286. 293.) Die oppeln-ratiborsche Landesordnung von 1562 gestattet schon dem
Herrn, seine Bauern zum Verkauf ihres Hofes zu zwingen; im Fall der Säumniss darf
er den Hof nach der Taxe an sich nehmen. In Pommern beginnt die Einziehung der
Höfe gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts, und die Bauemorduung von 1616 stellt
Leibeigenschaft, ungemessene Frohnden und Nichterblichkeit der Höfe als Regel auf.
In Mecklenburg werden gewöhnlich die Reversalien von 1616 als Durchbruch der
bäuerlichen Entsetzbarkeit angesehen; doch schildert bereits Co ler (1609) in seiner
Oeconomia ruraHs et domestica FV, 8 die dortigen Bauern als Zeitpächter, deren ganzes
Inventar dem Junker gehört, und die oft davon laufen, nachdem sie Alles durchge-
bracht haben, lieber Schleswig- Holstein ist die bekannte Meinung Hanssens
neuerdings von K. W. Nitzsch sowohl bestätigt als berichtigt worden: S. H. L.
Jahrbücher V, S. 97 ff.
268 Wilhelm Röscher, [6
telalterlichen Formen des Verhältnisses zwischen Bauer und Gutsherr etc.
jedenfalls umgestaltet werden mussten, wenn nun dieser Process von
exclusiv römischen Juristen 6 unter dem frischen Eindrucke einer nieder-
getretenen Bauernempörung vollzogen wurde. Aber das Unglück be-
schränkte sich nicht auf den Bauernstand. Die Bauern sind ein so gros-
ser, mehr noch ein so fundamentaler Bestandtheil des Volkes im Gan-
zen, dass ihre wirkliche Verkümmerung und Demoralisirung unfehlbar
das ganze Volksleben vergiften muss. Diess der eigentliche Kern der
Krankheit, woran Deutschland mehr als zweihundert Jahre lang so
schwer darniedergelegen hat , deren Heilung alsdann vornehmlich von
den grossen Herrschern, Denkern und Dichtern des 18. Jahrhunderts
eingeleitet worden ist.
Zwar unterdrückt wurde Gottlob die evangelische Idee nicht.
Auch die beiden vornehmsten Brücken, die von ihr zu der Gesammtheit
der Nation führten, die lutherische Bibelübersetzung und der kirchliche
Gemeindegesang, bewährten sich als unzerstörbar. Aber ihre Weiter-
entwickelung war gehemmt. Das eigentliche Gemeindeleben verküm-
merte gegenüber einem Pastorenthume, das ebenso hierarchisch nach un-
ten, wie abhängig nach oben zu war. Denn nach dem Bauernkriege
mussten die Reformatoren zufrieden sein, wenn sie durch engsten An-
schluss an die fürstlichen und aristokratischen Mächte wenigstens den
Kern ihres bisherigen Strebens festhalten konnten. — Die religiöse Klas-
sicität, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, beruhet auf der Stärke
und gleichmässigen Ausbildung folgender vier Elemente: des mystischen,
ohne welches keine Andacht, des pietistischen, ohne welches keine
Frömmigkeit, des orthodoxen, ohne welches keine Kirche, und des ra-
tionalen, ohne welches keine Theologie möglich ist. Bei Luther die
höchste Macht und schönste Harmonie aller vier Elemente, wogegen
schon bei seinen nächsten Epigonen in tyrannischer Einseitigkeit ein or-
thodoxer Rationalismus vorherrschte. Es vollzog sich jetzt in ebenso
viel Jahrzehnten , wie das Urchristenthum dazu Jahrhunderte gebraucht
hatte, das Herabsinken von der propheten- und apostelähnlichen Glorie
Luthers zu einer fast byzantinischen Hoftheologie, in der z. B. ein Sel-
6) Die also ihre Studien gemacht hatten an einer klassischen Zeit des Militärdes-
potismus, der Latifundienwirthschaft, der Sklaverei oder doch eines halbsklavischen
Colonats.
7] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 269
necker an Kurftlrst August schrieb, »er wolle gern auf allen Vieren von
Wolfenbüttel nach Dresden kriechen,« um den Verdacht zu beseitigen,
worein er gebracht sei7. Der Satz: Cuius regio eins religio, wurde so be-
thätigt, dass z. B. in Thüringen bei der Austreibung der Flacianer (1 573)
von 533 Geistlichen überhaupt 111, darunter 9 Superintendenten, ab-
gesetzt wurden. Aus der Pfalz verjagte die Lutheranisirung von 1 578
an 1000 Prediger und Schullehrer. Die Reichsstadt Oppenheim, die an
den Pfalzgrafen verpfändet war, hat von der Reformation bi6 1648
zehnmal ihre Confession wechseln müssen8. Solche Dinge verdarben
natürlich den Volkscharakter um so mehr, je mehr damals noch alles
geistige Leben überhaupt kirchlich und theologisch gefärbt war9.
Dass nationalpolitische Ideale nicht auf der Grundlage eines
zertretenen Bauernstandes erreicht werden können, leuchtet schon aus
den Anfangsgründen der politischen Mechanik ein. Bei der Stellung des
Kaisers gegen die Reformation musste die Schwenkung zum Absolutis-
mus, welche das Lutherthum seit dem Bauernkriege machte, nur den
Landesherren zu Gute kommen. Diesen wuchs aller Einfluss zu, wel-
chen die römische Kirche verloren hatte. Freilich war eben damit die
allmäliche Auseinandersprengung des Reiches in eine Menge von Parti-
cularstaaten vorbereitet, um so gewisser, als das äussere Wachsthum
der deutschen Reformation seit Luthers Tode so gut wie stillestand,
folglich die beiden grossen Confessionen schon früh in das Verhältniss
eines ziemlichen Gleichgewichtes zu einander traten. Dieses Gleichge-
wicht aber der Gegensätze auf einem Lebensgebiete, welches damals
selbst politisch Air das bei Weitem bedeutendste galt, ist offenbar die
allerungünstigste Form , um an Wiederherstellung der Reichseinheit zu
7) Planck, Geschichte des protest. Lehrbegriffes V, 2, S. 600 fg. Nicht ganz
so verletzend in der Form, aber sachlich ein wahres Musterstück, den Landes-
herrn zum unbeschränkten Herrn der Gewissen zu erklären, ist Aodreii's Bericht an
Kurf. August vom Febr. 1578, bei K. A. Menzel, N. Geschichte der Deutschen IV,
S. 513 ff.
8) Pfanner, Eist, pacis Westphal. Vt 42; vgl. K. A. Menzel FT, S. 429.489.
9) Für die ganze Literatur nach Melanchthons Abscheiden ist es charakteristisch,
dass selbst ein Arzt und Mathematiker , wie Peucer , so durchaus in der Theologie
lebte ; ebenso aber auch für die Mässigung des damaligen Wittenberg, dass ein sol-
cher Laie so Ungeheuern theologischen Einfluss haben konnte. Man wird die Ver-
folgung des Kryptocalvinisnius in Sachsen kaum halb verstehen, wenn man nicht diese
beiden Seiten zusammenfasse
270 Wilhelm Röscher, 8]
denken. Wir sehen desshalb auch sehr bald schon jede Partei des zwie-
trächtigen Deutschlands ihre Bundesgenossen im Auslande suchen.
Wenn die Protestanten diess scheinbar zuerst gethan haben (seit 1 552
mit Frankreich), so darf man nicht vergessen, wie Karl V. schon im
schmalkaldischen Kriege vornehmlich durch spanische und italienische
Truppen gesiegt hatte. Ohne den Bauernkrieg und die von ihm her-
rührende Trennung der Huttenschen Fdeale von der Reformation wäre
weder die Selbstzerfleischung Deutschlands im dreissigjährigen Kriege,
noch die Schande gegenüber Ludwig XIV. möglich gewesen. Und
wenn in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die vielen grossen Per-
sönlichkeiten unter den Landesherren den Weg zum Absolutismus ver-
schönert hatten, wie selten wurden solche Persönlichkeiten gegen
Schluss des Jahrhunderts l
Was endlich die humanistische Seite der Reformation be-
trifft , so ist es eine bekannte Thatsache, dass bei allen neueren Völ-
kern die wirkliche Blüthe der altklassischen Studien mit der Blüthe der
eigenen Nationalliteratur als Ursach und Wirkung im engsten Zusam-
menhange steht. Hätte sich unser Volk im 16. Jahrhundert normal ent-
wickelt, ohne Revolution und Gegenrevolution, so würden Männer wie
Sebastian Brant und der Homer der Reineke-Fuchsdichtung, wie Hütten,
Luther und Hans Sachs rasch eine ebenso herrliche als volkstümliche
Literatur von Poesie und Kunstprosa vorbereitet haben ; und auch die
Philologie der Reuchlin und Erasmus, der Melanchthon und Camera-
rius etc. wäre entsprechend fortgeschritten. So aber gerieth gleich nach
Luthers Tode die deutsche Sprache selbst, als Bauernsprache, in Ver-
achtung, so dass es eine Art von Auferweckung war, als Opitz die Dich-
tung, oder gar später Thomasius die Wissenschaft wieder in Anspruch
für sie nahm. Wie Flacius erklärte, durch Schriften in deutscher Sprache,
die quisvis vel minimi pagi aedititus machen könne, lasse sich kein Ruhm
erwerben10, da musste ziemlich gleichzeitig auch der deutsche Huma-
nismus für lange verstummen« K. A. Menzel nennt die schöne Vertei-
digung Melanchthons, welche die Wittenberger 1569 gegen die Flacia-
ner ausgehen Hessen, den Schwanengesang des deutschen Humanismus
im 1 6. Jahrhundert. Wenn Fischart den Uebergang von der Volkslite-
ratur zur Gelehrtenpoesie vermittelt, (gleichsam die Mitte zwischen Hans
4 0) C. Schluesselburg, Catalog. haereticorum XIII. p4 824,
9] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 271
Sachs und Opitz !) so meint Gervinus ohne Zweifel mit Recht , dieser
Uebergang sei nöthig gewesen, um Deutschland nicht in die roheste und
zugleich armseligste Pöbelhaftigkeit versinken zu lassen ".
Ein volkswirthschaftliches Sinken von Deutschland während
der zweiten Hälfte des 1 6. Jahrhunderts möchte ich nicht mit Zuversicht
behaupten. Man denke nur an Kurfürst August von Sachsen! Aber selbst
aus der Fortdauer eines ungeschmälerten Wohlstandes würde man nicht
gar zu viel schliessen dürfen, da zwar eine gewisse Unterlage mate-
rieller Güter für die geistige Kultur unentbehrlich ist, hingegen die
grösste Fülle des Reichthums sowohl bei Völkern wie bei Individuen
dem Höhepunkte des geistigen Lebens zu folgen pflegt. Uebrigens se-
hen wir schon damals eine Menge wirtschaftlicher Veränderungen, die
ein völlig gesundes Volk unschädlich gemacht, wohl gar zu seinem Vor-
tbeil gewandt hätte, die aber unter den geistig-politischen Krankheits-
verhältnissen jener Zeit auch ein wirtschaftliches Sinken vorbereiten
mussten. — Vom Landbau wird kein Nationalökonom bezweifeln, dass
er durch die Reaction nach dem Bauernkriege auf Seiten der Bauern
noch mehr verlor, als auf Seiten der Gutsherren gewann ; obwohl das
Hof leben noch am Schlüsse des Jahrhunderts den Adel nicht abhielt, eine
gute Selbstwirthschaft für eine Ehre anzusehen 12. Den städtischen Ge-
werbfleiss berührte die Niederlage der Bauern schon dadurch bedeut-
sam, weil die nun folgende Reaction in den meisten Städten das Zunft-
regiment schwächte, d. h. also die Herrschaft des Handwerkerstandes.
Trotzdem war für grosse Fabriken mit ihrer Ueherlegenheit an Kapital
und Intelligenz noch lange kein Boden ; ebenso wenig für Gewerbefrei-
heit. Vielmehr haben sich gerade in dieser Zeit viele neue Beschrän-
kungen vorbereitet, wie die Meisterstücke, die Geschlossenheit der Mei-
ster- und Gesellenzahl, die obrigkeitlichen Taxen etc.: Beschränkungen,
welche zum Theil das Sinken des Absatzes unschädlich machen sollten,
in Wahrheit aber das Uebel verschlimmern mussten. Nur die Bannmeile
der Städte wurde jetzt an vielen Orten weniger streng beobachtet, weil
die Fehdeunsicherheit des platten Landes abnahm, die sonst schon fac-
tisch jeden Gewerbfleiss daselbst verhindert hatte l3. Indess wird auch
\ I) Geschichte der deutschen Dichtung III, S. 124.
\l) Vgl. die Vorrede zu Coleri Oeconomia ruralis et domestica.
4 3) Die hannoverschen Städte klagen zuerst 4 563 über Beeinträchtigung durch
Landgewerbe. (Spiltler, Hannov. Geschichte I, S. 980.) In Brandenburg heftiger
272 Wilhelm Roscheb, 10]
hier, bei der sinkenden Lebenskraft des Ganzen, die Aendernng den bis-
her Privilegirten mehr geschadet, als den bisher Nichtprivilegirten ge-
nützt haben. Der Handel von Deutschland gewann zwar in der letzten
Hälfte des 1 6. Jahrhunderts durch die grössere Sicherheit der meisten
Strassen im Innern. Er verlor aber nach Aussen hin durch drei grosse
Veränderungen: einmal die Abnahme des italienischen Welthandels in
Folge der portugiesischen Entdeckungen, der türkischen Eroberungen
und gewiss am meisten der spanischen Herrschaft Ober Italien selbst;
ferner den Fall Antwerpens und die Sperrung des Rheins durch den
spanischen Krieg und die holländische Handelspolitik u ; endlich das Sin-
ken der Hansa im Streite mit den Ostseemächten und ganz besonders
mit England. Der erste Vorgang drückte schwer auf die oberdeutschen
Städte, der zweite auf das Rheingebiet, der dritte auf Norddeutschland15.
Denn auf einer Kulturstufe, wie die unseres Vaterlandes im 1 6. Jahrhun-
dert, pflegt der auswärtige Handel noch wichtiger, namentlich zum wei-
tern Fortschreiten noch unentbehrlicher zu sein, als der Binnenhandel.
Uebrigens konnte auch die gesteigerte Abhängigkeit, in welche damals
so viele Städte gegenüber den Landesherren geriethen, dem Handel
nicht wohl günstig sein. Die damaligen Höfe, mit ihren theils junker-
lichen, theils juristischen, theils geistlichen Behörden waren gewiss noch
nicht im Stande , was sie am Handelsinteresse weniger hatten , als die
städtischen Magistrate, durch grössern Gemeinsinn und höhere Einsicht
zu ersetzen.
Zu den merkwürdigsten Proben dieser tiefen Gesunkenheit auch der
volkswirtschaftlichen Einsicht gehört des Cyriacus Spangenberg16
Kampf darüber auf dem Landtage von 4 602, während in Sachsen bereits 1537 von
Seiten des Landesherrn eine Schlichtung erfolgt war.
4 4) Die sich durch ein engherziges Ausbeutungssystem gegen ihre Hinterländer
sehr von den Freihandelsprincipien der bisherigen flandrisch -antwerpischen Politik
unterschied.
1 5) Wenn Sachsen unter Kurfürst August in wirtschaftlicher Hinsicht das erste
Land des Reiches genannt werden kann, so hängt das zum grossen Theil damit zu-
sammen) dass es diesen drei commerciellen Schlügen verhältnissmttssig ferner lag.
Daneben ist dann auch der Umstand wichtig, dass Sebast. Münsters Satz: hodie
revera inveniunt Germaniam prae ceteris regionibus metallis abundare, für Sachsen be-
sonders lange wahr blieb .
16) Der Verfasser ist 1528 in Calenberg geboren, studirte zu Wittenberg, war
Prediger in Eisleben, Mansfeld etc., hatte als Flacianer viele Kämpfe zu bestehen, oft
**] Aelterk deutsche Nationalökonomik, 273
»Nützlicher Tractat vom rechten Brauch und Missbrauch der Müntzen.«
(Hinter Tilemann Friesens Mttntzspiegel, Frankfurt a. M. 1 592, S.209—
265.) Diess Büchlein, von einem zu seiner Zeit recht berühmten Manne
herrührend, ist ein wahres Meisterstück wohlmeinenden, aber unwissen-
den und anmasslichen Pastorenthums.
ifonefo kommt her \on tnonere. »Das Geld soll eine Ermahnung und
Erinnerung sein, nicht allein zu gedenken dessen, der die Mttntz ge-
schlagen, der Zeit wann sie geschlagen und ihres Wehrts, sondern viel
mehr der Gerechtigkeit, gleich und richtig damit umzugehen, und das
Geld zu geben und zu nemen, wie wir wollten, das ein ander geben
oder von uns nemen solle.« (S. 209.) 17 Die Münze ist erfunden, statt
des altern Tauschverkehrs, damit man »in allerley Handeln besser zu
und von einander kommen möchte « Den Vorzug des Geldverkehrs setzt
Spangenberg ziemlich roh in den leichten Transport des Geldes ; übri-
gens behauptet er einfach, dass man sich über Geld leichter vergleiche,
da sonst der Eine oft die Waaren nicht bat, die der Andere braucht.
(S. 244 fg.) Wie ungleich besser ist diese Frage von Mannern wie
Agricola oder der albertinische Mttnzpublicist, ja schon von dem alten
Biel erörtert worden ! — Nun aber die Predigt des Gepräges. Die älte-
sten Münzen sollen ein Schiff und einen Januskopf enthalten haben, »un-
gezweiffelt,« weil Noah damit ein ewiges Gedachtniss der Rettung aus
der Sündfluth stiften wollte ; der Janus ist Noah selbst , der zwei ver-
schiedenen Weltaltern angehörte. (S. 212.) Das Bild des Landesberrn
auf unseren jetzigen Münzen soll (nach Christi Beispiel mit dem Zins-
groschen) die Menseben taglich erinnern »an die Wohlthaten ihrer Erb-
herren gegen Land und Leuten«, damit sie fleissig für diese beten,
auch »dester gehorsamer sich nach derselben Landordnungen in allen
Handeln richten, auch für Auffruhr und anderer Meuterey hüten.« (S. 21 3.)
Der Ochse auf vielen Münzen ist eine Mahnung, »Gelt und Kaufhandel
nicht so hoch zu lieben, dass sie darumb den Ackerbau wolten anstehen
lassen. Ja vielmehr zu bedencken, wenn der Ackerbau nicht thet, dass
man auch nicht viel Gelt haben oder ohne den Ackerbau das Gelt wenig
zu flüchten und starb 1604 zu Strassburg. Seine Schriften sind meist Chroniken
oder theologischen Inhalts ; die berühmtesten, ausser unserem Buche, sein Jageteuffel
und Adelsspiegel.
47) Aehnlich bereits Thomas Aquinaa De reg. pr. //, 13.
274 Wilhelm Röscher. [12
nütze sein würde ; denn was hülffe es einen, wenn er gleich alle Beutel
und Kasten voll Geltes und doch kein Korn noch Brot hette!« (S.215.)1*
Das Schaf auf jüdischen und arabischen Münzen soll »an das einige wäre
Schlachtlemlin, Jesum Christum, erinnern«. (S. 216.) Die dünnen mittel-
alterlichen Münzen mit Bischofs-, Heiligenbildern etc. sind Gottespfen-
nige fllr diejenigen, welche zu einem Kirchenbau gesteuert hatten.
(S. 220.)
Als Pflicht der Münzobrigkeit wird zwar ein richtiges Schrot und
Korn, richtige Würderung auch der fremden guten Münze etc. genannt.
Doch soll in Nothfällen eine Steigerung oder Ringerung erlaubt sein, so
viel wie möglich »ohne mercklichen Schaden des gemeinen Nutzens.«
Als eine solche erlaubte Massregel bezeichnet Spangenberg ausdrücklich
das Verfahren des Leukon, (Polyaen. Strat. VJ, 9, 1 ) der alles Geld einrief,
mit neuem Gepräge versah und es schliesslich zu doppeltem Nennwerthe
wieder ausgab »ohne einiges seiner Unterthanen Schaden.« (S. 223.)
Als Pflichten der Unterthanen rücksichtlich der Münzen werden fast nur
solche Pflichten genannt, die auf Benutzung des Reichthums Bezug ha-
ben : dankbar gegen Gott zu sein, sein Herz nicht ans Geld zu hängen,
vornehmlich den Kirchen etc. zu schenken, auch den Armen, der Obrig-
keit zu steuern , die Seinen zu ernähren , ehrliche Hanthierung zu trei-
ben. Namentlich wird die Armenpflege speciell geschildert , allerdings
nur mit patristischen etc. Gemeinplätzen (S. 233 ff.)
Als Missbrauch der Münze wird zuerst die obrigkeitliche Münzver-
ringerung getadelt, freilich aus keinem tiefern Grunde, als weil, (nach
Matthesius) »wenn Schrott und Korn sich endert, so endern sich gemei-
niglich auch Schlag und Überschrift, und gibt newe Herrschaft.«
(S. 239.) Spangenberg stellt hier nicht bloss die hauptsächlichsten
Missbräuche des Münzregals zusammen, sondern auch zu hohe Steuern,
Anleihen, Staatsverschwendung ; speciell die zu jener Zeit üblichen Re-
galfinanzquellen : als Regierungsmonopole, übermässige Frohndienste,
Geldstrafen, Begnadigungen für Geld etc. (S. 242 ff.) Unter den Miss-
bräuchen auf Seite der Unterthanen wird aller Art Habgier, Hartherzig-
keit, Mammonsdienst, am ausführlichsten wieder Kirchenraub, ferner
Yergrabung des Geldes, Knauserei gegen die eigenen Kinder etc., Aem-
18) Dieselbe Ansicht spricht übrigens Davanzati Lezione sutle monete (<588)
;;. 25 aus.
13] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 275
terkauf, Ablasswesen ; zuletzt aber nur ganz in der Kürze das Kippen,
Wippen und Falschmünzen erwähnt.
In derselben Weise ungefähr, wie Spangenberg die geistliche, so
charakterisirt Waremund von Erenbergk die juristisch-humanisti-
sche Volkswirtschaftslehre des Zeitalters. Dieser, praktisch wie theo-
retisch damals gleich sehr geschätzte, Mann hiess eigentlich Eberhard
vonWeyhe. Geboren 1353 aus einer bekannten niedersächsischen Adels-
familie, führte er, wie die meisten damaligen Gelehrten, ein stürmisch
bewegtes Leben. Um 1 587 wurde er Professor der Rechte zu Witten-
berg, kam auch bald mit dem kursächsischen Hofe zu Dresden, damals
unstreitig dem ersten reichsfürstlichen Deutschlands, in nahe Verbindung,
wurde jedoch \ 593 des Kryptocalvinismus verdächtig und wegen ver-
weigerter Unterschrift der Concordienformel seines Amtes entsetzt und
Landes verwiesen. Im folgenden Jahre treffen wir ihn als landgräflichen
Kanzler zu Kassel, welchen Dienst er nachher mit dem Kanzleramte
zuerst von Bückeburg, dann von Braunschweig-Wolfenbüttel vertauscht
hat. Er starb, jedenfalls nach 1 633, auf seinen Gütern im Lüneburgi-
schen. Das Ansehen, worin seine geistige Bedeutung bei den Zeitge-
nossen stand, erhellt aus der Art und Häufigkeit, wie seine Schriften ci-
tirt wurden : Aulicus-politicus (1 596) und Vetisitnilia Iheologica, iuridica
ac politica de regni subsxdiis ac oneribus subditorum, I. Samuel. 8 traditis,
perPh. Melanlhonem, theologorum et politicorum coriphaeum proposita, re-
pelita et defensa discursim contra Bartolum, Bodinum, Rossaeum cett.
(1606.)19 Nebenher auch aus seiner Aufnahme in die fruchtbringende
Gesellschaft. Um so beweisender zeugt seine wissenschaftliche Art und
Kunst für die Niedrigkeit der damaligen Durchschnittsbildung.
Denn es ist wirklich ein recht unsystematisches, geistloses, fast nur
registratorisches Buch, diese volkswirtschaftliche Hauptschrift des
Waremund! Vornehmlich schöpft er aus der Bibel und dem Corpus
Juris nebst dessen Glossatoren. Was die in der Bibel nicht gefädelten
Herrscher thun, wird immer für rechtmässig, nicht tyrannisch gehalten
(p. 131*); ebenso was sich durch Vorschriften des Corpus Juris stützen
lässt. (p. 134.)20 Bei allen Schimpfreden auf schlechte Fürsten meint der
Verfasser doch, es müsse ihnen gehorcht, oder aber durch Auswande-
4 9) Ich citire nach der dritten Ausgabe von 4 624, 497 S. in klein Octav.
#
SO) Diese Ansicht, die sich damals fast bei allen bedeutenden Juristen findet, ist
für die innere Geschichte derReception des römischen Rechts von grosser Wichtigkeit.
276 Wilhelm Röscher, [U
rung entgangen werden; man könne sie indessen aoch »todt beten.«
(p. 1 58 ff.) Zölle von solchen zu verlangen, die vor Raubern oder Fein-
den flüchten, sei tyrannisch, (p. 1 52.) Eine Concessionsgebtthr von Bor-
dellen wird als heidnisch getadelt ; hingegen eine Besteuerung derselben
als Geldstrafe der Unzucht sehr gerühmt, (p. 59.) Den französischen
Aemterverkauf nennt er tributum turpissimum. (p. 67.) Das ist Alles,
was ich an irgend selbständigen, charakteristischen Aeusserungen aus
dem »berühmten« Buche habe entnehmen können !
Man hat oft beobachtet, dass ein bescheidenes Handwerk zwar
nie den geistigen Aufschwung nimmt, aber im ungünstigen Falle auch
nie verhältnissmässig so tief sinkt, wie die entsprechende, an sich freiere
und idealere, mehr künstlerische Richtung. So finden wir denn auch
gegen Schluss des 16. Jahrhunderts in der handwerksmäßigen Münz-
meisterliteratur durchaus keinen solchen Abfall gegen die Zeiten des
vortrefflichen G. Agricola, wie in den gleichzeitigen Schriften höherer
Art. Ein Beispiel davon bietet der 1 592 von dem Göttinger Bürger-
meister Tilemann Friesen herausgegebene Müntzspiegel. Daß Werk
hat vier Bücher: Nr. 2 handelt geschichtlich von den antiken Münzen,
Nr. 3 von den deutschen, jedes Jahrhundert in einem Kapitel, Nr. 4 von
den Münzsorten seiner Zeit bei den verschiedenen Hauptvölkern. Etwas
Theorie findet sich nur im ersten Buche. Die Erklärung von Münze
(S. 2), »ein Stücklein Geld etc. . . . darzu erfunden, andere Wahre damit
zu kaufen, dadurch man desto leichter handeln könne etc.,« giebt doch
gar keinen Grund dieses Vorganges an. Indess meint Friesen (S. 1 3)
gegen die, welche es für gleichgültig erklären, ob Geld von Blei oder
Leder sei, wenn es nur gangbar wäre : »recht Gelt so! nicht alleine die
eusseriiche Tugent und Krafil haben, dass man damit kauffen könne,
sondern auch die innerlichen Tugent, die der Wahre, dafür man solch
Gelt giebt, gleichmessig sey, wenn gleich die auffgestempelte Geprege
verginge, dass denn die innerliche Materi ebenso gut were.« Freilich ist
er in dieser Einsicht durchaus nicht fest. Die »fürnehmsten« Autoren
lehren, (gegen Aristoteles) das Gepräge mache den Werth der Münze
aus, fügen jedoch hinzu : »besonders wenn kein arglist darunter, son-
dern jede Münze nach dem innerlichen Korne valuirt wird.« (S. 39.)
Gewiss nichts weniger, als ein Fortschritt im Vergleich mit Agricola;
aber die volkswirthschaftliche Theorie steht in diesem Buche überhaupt
sehr zurück hinter der numismatischen Technik, Geschichte und Statistik,
15] A ELTER E DEUTSCHE NATIONALÖKONOMIK. 277
und diese Partien sind nicht übel 21. — Aehnlich verhält es sich mit dem
Werke des cölnischen Münzdirectors Renerns Budelius von Ruhr-
münde: De monetis et re numaria Libri IL (Cöln 1591.) Die erste
Hälfte behandelt die Technik des Münzwesens, die zweite eine Anzahl
Rechtsfragen, die sich alle darum drehen, ob das Geld bei vertragsmas-
sigen Zahlungen nach seinem obrigkeitlichen Nennwerthe, oder seinem
Realwerthe berechnet werden soll. Offenbar greift diese Fragstellung
tief in das volkswirtschaftliche Wesen des Geldes ein; sie ist daher
auch von dem Verfasser höchst ungenügend erörtert worden ; verwor-
ren im Ausdrucke und beim Hin- und Herschwanken zwischen ver-
schiedenen Auctoritäten reich an Widersprüchen. Der technische Theil
hingegen verdient auch hier alles Lob22.
IL
Das Eindringen des welschen Regalismus.
Georg Obrecht, der Ahnherr einer lange Zeit berühmten Gelehr-
tenfamilie, war 1 547 zu Strassburg als Sohn des städtischen Syndicus
geboren. Er studirte zuerst in Tübingen, dann mehrere Jahre in Frank-
st) Vgl. z. B. die gute historische Uebersicht des Preisverhältnisses zwischen
Gold und Silber : S. 21.
22) Einen sehr ahnlichen Gegensatz finden wir in der Landbauliteratur jener
Zeit. Conrad Heresbach (Rei rusücae Libri IV, vor J674) steht noch ganz auf
dem Boden der jüngeren Reformationsgenossen, während Johann Coler (Oecono-
miaruralis et domestica, 1609) ganz ein Rind seiner Zeit ist. Jener durchaus klas-
sisch gebildet, ein berühmter Jurist, hatte Strabon, Thukydides, Herodot, die Psal-
men etc. übersetzt, deprincipum educaHone geschrieben und sich zuletzt, als Beschäf-
tigung seiner Altersmusse, auf Theorie und Praxis der Landwirtschaft geworfen. Mit
ihm verglichen ist Coler ein Barbar. Während sieb Heresbach überall von der edelsten
Religiosität durchdrungen zeigt, eine schöne Ausnahme von der sonst überall schon her-
einbrechenden Gonfessionswutb, — ihm sind die Propheten, Apostel und Kirchenväter die
Prediger seiner Hausandacht, quos cum majore fruetu audire me arbitror, quam vestros
aliquot spermologos et plerosque in templis ineptos concionatores (p. f 3) — empfiehlt
Coler z, B. die Schalzucht damit, dass »nächst Gott die Schafe am meisten zum Reicb-
thum helfen. a (XII. I.) Wo es sich um ethische und unmittelbar psychologische Dinge
handelt, ist H. vortrefflich, so z.B. in seiner Lehre von den Pächlerverhältnissen.
(p. 4 86 ff.) Dagegen spricht er vom Dünger auffällig kurz : ne in sterquiünüs diutius
moremur. (p. 48. ioö.) C. hingegen, der es für nöthig hält, seiner wüsten Recept-
masse nicht bloss ein Kochbuch und eine Anweisung zur Destillation , sondern sogar
278 Wilhelm Röscher, 16]
reich, wo ihn die mit der Bluthochzeit verbundenen Tumulte in Lebens-
gefahr stürzten und ihm den Verlust seiner Bibliothek zuzogen. Heim-
gekehrt, wurde er 1 575 Professor der Rechte zu Strassburg, 1 595 Rec-
tor der Universität, 1604 vom Kaiser geadelt, 1607 zum Comes palaiinus
ernannt, und starb 1612 in hohem Ansehen, wobei ich daran erinnere,
dass zu jener Zeit die Strassburger Universität ein Hauptsammelplatz
gerade vornehmer junger Leute aus allen Theilen von Deutschland war.
Obrechts zahlreiche Abhandlungen über Gegenstände des Civilrechts,
der römischen Rechtsgeschichte und des Lehnrechts werden von Savigny,
soweit dieser von ihnen Kenntniss genommen, in Bezug auf den Inhalt,
wie auf die leichte natürliche Form geschätzt1. Seine »Erklärungen
über das politische Bedenken über die Stadteinkünfte Lübecks« (1610) sind
mir bis jetzt noch unzugänglich gewesen 2.
Die volkswirtschaftlichen Hauptarbeiten von Obrecht sind nach
des Verfassers Tode mb secreto durch seinen Sohn, Johann Thomas 0.,
gesammelt herausgegeben worden 3 : »Fünff underschiedliche Secreta po-
litica von Anstellung, Erhaltung und Vermehrung guter Policey und von
billicher, rechtmässiger und notwendiger Erhöhung eines jeden Regen-
ten jährlichen Gefällen und Einkommen. Allen hohen und niederen
Obrigkeiten besonders dess Heyligen Römischen Reichs Ständen in die-
sen letzten und hochbetrengten Zeiten zum besten gestellt.« (Strassburg
1617.) Die Sammlung besteht aus fünf Schriften, die zu sehr verschie-
dener Zeit verfasst sind, aber in ihrem Inhalte doch wesentlich zusam-
menhängen. Die Form ist so kirchlich, wie man damals allgemein fttr
nöthig hielt; so beginnt z. B. die erste Schrift mit der Formel: Auspice
Deo triuno optumo maxumo ; alle schliessen mit dem Ausrufe : Deo soll
8tt law et gloria. Im eigentlichen Räsonnement aber findet man von
dieser theologischen Färbung keine Spur; selbst aus der Bibel werden
wohl Einrichtungen der respublica Judaeorum als Beispiele (S. 291), aber
ein Traumbuch und eine rohabergläubische Hausmedicin beizufügen, hat seine grosse
Stärke darin, dass er allenthalben auf die wirklichen Preise der Productionseleraente
und Producte, d. h. also die Unterlagen des Reinertrages, in echt praktischer Weise
Rücksicht nimmt.
4) Savigny, Recht des Besitzes, (1822) S. XXIII.
2) Vgl. Sinceri Vitae Ictorum I. p. 92 flf.
3) Vorher soll der Herausgeber sie für 200Ducaten an den Herzog von Pommern
verkauft haben.
47] Aeltere deutsche Nationalökonomie 279
nicht leitende Ideen geschöpft. Viel mehr bezieht sich der Verfasser auf
das Corpus Juris. Eigentlich klassische Anspielungen kommen wenig
vor ; aber viele Citate aus Bodinus, Waremund von Ehrenbergk, Hippo-
lytus de Collums u. A. Die Sprache des Obrecht ist der pedantische
Gelehrtenjargon jener Zeit, wo mitten im Deutschen ohne allen Grund
lange Sätze lateinisch werden.
Die erste Schrift: Discursus Bellico-politicus, in quo, quomodo adver-
sus Turcicum tyrannum bellum commode geri possit, quam felicissime osten-
ditur, zum Theil auf Grund einer zu Strassburg 1 590 gehaltenen akade-
mischen Disputation, ist ein vom Kaiser 1 604 verlangtes Gutachten, 59 S.
stark. Hier wird dem Bodinus nachgeschrieben, dass non capita s. per-
sonae, sed bona subditomm bei der Besteuerung geschätzt werden sollen.
(p. 1 3.) Ebenso, dass nicht die nothwendigen Lebensbedürfnisse zu be-
steuern sind, sondern die Luxusartikel, (p. 1 4.) 4 Beides Grundsätze,
welche zur damaligen Praxis der meisten Länder in grellem Wider-
spruch standen!5 Schon hier macht Obrecht den Vorschlag, welcher
nachmals zu seinem Lieblingsgedanken wurde, allen Hochzeitsluxus zu
verbieten und statt dessen Einlagen in ein aerarium liberorum (Kinder-
versorgungskasse) mit fiscalischem Nebenzweck anzubefehlen, (p. 1 6 fg.)
Ferner empfiehlt er Geldstrafen für Gotteslästerung6 und Uebertretung
von Aufwandsgesetzen. Alle Processführenden sollen eine verhältniss-
mässige Geldsumme niederlegen, und derjenige, welcher den Process
verliert, sein Depositum zu Gunsten des Fiscus einbüssen. Der Verfasser
hofft hiervon, namentlich bei den so häufigen Injurienklagen, einen be-
deutenden Ertrag, (p. 21 fg.) Ebenso von der fiscalischen Ausbeutung
der Lehnsvacanzen beim Tode jedes Vasallen, (p. 43) und von freiwilli-
gen, aber doch halberpressten Geschenken der Unterthanen nach Art
4) Vgl. Bodinus De rep. VI, 2. p. {034.
5) Von Frankreich sagt Bodinus mit Recht: apud quos nihil est plebe contem-
tius. (De rep. VI, 2.) In Deutschland besteuerte der gemeine Pfennig von 4 495 das
über 4 000 FI. steigende Vermögen doch eigentlich bloss nach Belieben des Pflichtigen:
»soviel sein Andacht ist.« So zahlten selbst in Sachsen bei der Türkensteuer von
4 552 Geistliche nur 2 Pfennige pro Schock, Bürger, Bauer, Dienstboten 3 Pfennige.
Ueberhaupt aber war dies die Zeit, worin die früher wohlbegründeten Steuerfreihei-
ten durch das Abkommen der dafür 'äquivalenten Dienste etc. grundlos wurden, und
gleichwohl noch immer fortdauerten.
6) In jener klassischen Zeit der Intoleranz und confession eilen Streitsucht wäre
das ein ergiebiges Feld gewesen !
Abhandl. d. K. 8. Ge». d. Wim. X. 4 9
280 Wilhelm Röscher, M8
der englischen Benevolenzen unter Eduard IV. und Heinrich VII. (p. 46.)
Das Finanzmittel der Münzverringerung, wie zu Rom während der pu-
tschen Kriege, sollen die viri politici wenigstens in Erwägung ziehen,
(p. 47.) Von Verleihung des Adels für Geld, sowie von Aemterverköu-
fen erwartet Obrecht viel. (p. 47 fg.) — Dabei ist er kein »Mercantilist.«
Er rühmt mit Stobaus : agriculturam aliarum verum parentem et nutricem,
qua bene haben te etiam cetera vakant, cett. In gleicher Linie werden
artißcia et nundinae genannt : mercatores non solum res utiles et necessa-
rias proprio sumpiu et periculo convehunt, sed etiam alia, quibus regna et
provinciae abundant, in alias regiones deferunt ut ademta mercandi facul-
täte provinciales continuo ad inopiam redigantur. (p. 50 ff.) Also eine verstän-
dige Mitte zwischen der Ansicht der Reformationszeit, wo z.B. Luther den
Ackerbau hoch über das Handwerk gestellt, die vornehmsten Handelszweige
aber Tür unsittlich oder doch gemeinschädlich erklärt hatte7, und andererseits
dem sog. Mercantilsysteme. Daneben hält Obrecht von der Macht der je-
weiligen Staatsregierung so viel, dass ein »ernstliches Edict« des Kaisers,
den Ackerbau gut zu treiben, nach seiner Meinung das Land in Ueber-
fluss versetzen und dem Fiscus grosse Einkünfte bringen würde, (p. 51 .)
Die zweite Schrift (S. 1—135) führt den Titel: »Ein Politisch Be-
dencken und Discurs Von Verbesserung Land und Leut, Anrichtung gu-
ter Policey und fürnemblich von nützlicher Erledigung grosser Aussga-
ben und billicher Vermehrung eines jeden Regenten und Oberhern Jähr-
lichen Gefällen und Einkommen.« Beendigt 1609. — In der respublica,
als corpus dvile, sind Geld und Gut die Nerven, die Obrigkeit das Hirn,
welches »Alles vollkömmlich zu regieren und dahin Alles zu dirigiren
hat, das an notwendiger Underhaltung nimmer kein Mangel erscheinen
möge.« (S. 6.) Die Staatseinnahme kann entweder mit, oder ohne Be-
schwer der Unterthanen erhöht werden. Jenes geschieht : A. durch Er-
höhung der Steuern. Der Verfasser warnt hier vor Uebermass, wie
z. B. Albas zehntem Pfennig, der sich bei derselben Waare, falls sie
mehrmals verkauft wurde, ebenso oft wiederholte (S. 12); desgleichen
7) Vgl. Luthers Werke ed. Irmischer XXII, S. 284. XXXVI, S. *72 ff. LVH,
S. 342. LXI, S. 352 ff. Ganz besonders die Schrift vom Kaufhandel und Wucher.
Dagegen hatte freilich Calvin auch den Handel für nützlich und ehrenwerth aner-
kannt, so dass er selbst mehr einbringen könne, als der Landbau, ex ipsius mercato-
ris diligentia atque industria. (Opp. ed. Amstelod. 1664, IX, p. 223.) Vgl. Wiske-
mann Darstellung der in Deutschland zur Zeit der Reformation herrschenden national-
Ökonom. Ansichten, S. 48. 80.
19] Aeltebe deutsche Nationalökonomik. 281
wieder vor Besteuerung notwendiger Lebensbedürfnisse. (S. \ 4.) Mit
Bodinus empfiehlt auch Obrecht, mehr die Fremden, als die Einheimi-
sehen zu besteuern; geringe Einfuhr- und hohe Ausfuhrzölle von Waa-
ren, die uns unentbehrlich sind ; geringe Besteuerung fremder Rohstoffe,
ohne jedoch an den mercantilistischen Zweck dieser Massregeln viel zu
denken. (S. 15 fg.) B\ Durch allerlei gemeinnützige Anstalten, womit
eine Abgabe zu verbinden wäre. So z. B. Verbot der kostbaren Hoch-
zeiten und Kindtaufen, woneben dann genaue Geburts- und Sterbe-
listen etc. geführt, und eine Steuer dafür entrichtet wird, Zahlung von
Geld in eine Kasse, um es den Kindern später, wenn sie erwachsen
sind, mit Zinsen zurückzugeben, oder aber, wenn sie gestorben, an den
Fiscus fallen zu lassen. Ferner Stiftung einer Assecuranz von Dörfer-
gruppen, mehr noch Städten etc. gegen unverschuldete Unglücksfälle,
zumal durch Raub und Diebstahl. (S. 22.) C. Durch Schätzungen, wo-
bei Obrecht an die damals üblichen Reichssteuern denkt. D. Durch
Uebernahme von Schulden durch die Landstände. — Ohne Beschwer
der Unterthanen: A. Durch gute Haushaltung, wobei der Verfasser
ziemlich unerwartet auf Gottes- und Nächstenliebe als deren Grund,
Sparsamkeit und Ordnung als deren Aeusserung kommt. B. Güterver-
kauf, in der Regel sehr zu widerrathen a ; doch lässt sich der Verkauf
nur für eine bestimmte Anzahl Jahre, oder auch mit vorbehaltenem Rttck-
und Vorkaufsrechte eher empfehlen. (S. 52 fg.) C. Durch neue Gefälle,
die mit der Rechtspflege zusammenhängen. Hier wird dann neben dem
fiscalischen noch ein juristischer Zweck erreicht. (S. 56.) Also Geld-
bussen für schlechte Richter und Anwälte, für Processparteien, die sich
vergehen, für leichtsinnige Querulanten und Appellanten etc., wobei der
Verfasser eine ziemlich pedantische Rechtskunde auskramt. Allerlei
media extrajudicialia : so z. B. dass der Fiscus an die Stelle unwürdiger
Erben tritt. (S. 66 ff.) Bona damnafarum et proscriplorum. Eine Menge
von Geldbussen für Sabbathsfrevler, Flucher, Trunkenbolde, auch solche,
die das neuaufgekommene Gesundheitstrinken üben, (S. 80) überhaupt
für Luxusgesetzübertreter: namentlich soll Jeder Strafe zahlen, der
einem prodigus ohne obrigkeitliche Erlaubniss etwas darleihet oder ab-
kauft. (S. 84.) Aus derselben Mischung polizeilicher und fiscalischer
Zwecke werden Arbeitshäuser für ungerathene Kinder und Unterthanen
8) Aehnlich Bodinus De rep. VI. p. 4 000 ff.
49*
282 Wilhelm Röscher, [20
empfohlen9. (S. 85.) Jede Bürgschaft für grössere Summen ohne obrig-
keitliche Erlaubniss soll bei Geldstrafe verboten sein. (S. 88.) Daneben
wird zum Anbau aller noch unkultivirten Plätze gerathen , wobei nach
Catos Vorgange agricultura und parsimonia als die beiden provenius rei
famüiaris erscheinen. Auch hier die Ansicht , dass eine blosse Vermah-
nung des Fürsten an sein Volk, den Acker gehörig zu bauen, von gros-
ser Wirksamkeit sein würde. (S. 97.) Wenn Obrecht dasselbe in Bezug
auf Mineralien empfiehlt, kommt doch zwischen edlen und unedlen Me-
tallen gar kein (mercantilistischer !) Unterschied zur Sprache. (S. 102.)
Ausser dergleichen tnediis naturalibus werden als media civilia die her-
renlosen Güter, Schätze etc. erwähnt. Hinsichtlich des Münzwesens
eifert Obrecht sehr scharf gegen Verringerung am Schrot oder Korn,
wie »etliche Mammonsbrüder« sie vornehmen. (S. 108.) Er hatte eben
seit 1 590 durch die immer steigenden Missbräuche der Praxis gelernt.
Dagegen verwirft er den Handelsbetrieb durch hohe Personen nicht
(S. 110 ff.); namentlich preiset er den Staatskornhandel aus guten Jah-
ren in schlimme, nach dem Vorbilde Josephs im A. T., wobei er jedoch
immer auf den so zu erzielenden fiscalischen Gewinn blickt. (S. 1 1 3.)
Sehr flach ist der Rath , aus den Gemeindekassen etwas an den Fiscus
steuern zu lassen. (S. 114 ff.) Endlich sollen noch mancherlei Abgaben
von lachenden Erben, sehr grossen Erbschaften, Geschenken etc. ver-
langt werden. Nur ganz beiläufig erscheint S. 127 ff. die Regel, das
baare Geld so viel wie möglich im Lande zu behalten, indem man lieber
von Einheimischen, als Fremden, kauft, borgt und Arbeit verrichten lässt.
Die dritte Abhandlung (vom Jahre 1610), »Constüutio von notwen-
diger und nützlicher Anstellung eines Aerarii Sancth, schildert speciell
den für ausserordentliche Fälle bestimmten Staatsschatz nach des Ver-
fassers Plane. (S. 137 — 162.) Er geht von dem Grundsatze aus, dass
es viel besser ist, Geld aus dem Schatze zu nehmen, als zu borgen :
(S. 1 60) bekanntlich ein Grundsatz, der auf allen niederen und mittleren
Kulturstufen herrscht und herrschen muss. Diesem Schatze werden
nun die meisten der obigen, vom Verfasser empfohlenen, Staatseinkünfte
9) Nach niederländischem Vorbilde, wie denn von damaligen deutseben Aucto-
riläten sowohl das Zwangsarbeitshaus zu Amsterdam, als die Freiwilligen-Arbeitshäu-
ser zu Antwerpen und Delft sehr häufig gerühmt werden: vgl. Bornitius De rerum
su ff., p. 74. Besold Vitae et mortis consideraiio polit. (4 641) je». 4 7.
24] AfiLTERE DEUTSCHS NATIONALÖKONOMIK. 283
zugewiesen : Processstrafen, unurbare Ländereien, bona vacantia, Schätze,
Abgaben von Erbschaften etc. Ebenso die Ueberschttsse der von Ob-
recht angerathenen Feuerversicherung.
Viel umfangsreicher ist die vierte Abhandlung : »Ein sondere Po-
liceiordnung und Constitution, durch welche ein jeder Magistratus, ver-
mittels besonderen angestellten Deputaten, jederzeit in seiner Regierung
eine gewisse Nachrichtung haben mag, 1 ) wie es gleichsam mit seiner
gantzen Policei, als eines Politischen Leibs, und allen desselben Glie-
dern, den Underthanen, beschaffen ; 2) wie gemelter Policei, derselben
Gliederen und Administration Auff- und Zunemmen zu befürdern, Ab-
und Undergang zu verhüten, sodann 3) wie auch die gemeine Wolfarth,
so aus vorgedachten dreien Stücken herkompt, zu vermehren und zu er-
haltenseyen.« (S. 1 83 — 296.) Es ist eigentlich nur der Gedanke einer sehr
genauen und immer mit Abgaben verbundenen Bevölkerungsstatistik, der
hier als Polizeiideal vorgetragen wird, freilich mit einer furchtbar weit-
gehenden Inquisition durch die Behörden und in Folge davon einem
sehr despotischen Behördeneinflusse 10. Die Geburtslisten, die auch den
Namen der Pathen aufführen müssen (S. 1 90), werden in zwei verschie-
dene Alba getrennt : der ehelich und der unehelich Gebornen. Ebenso
die Verzeichnisse der unter Vormundschaft stehenden Kinder, der Er-
wachsenen, endlich auch die Trauungs- und Sterbelisten. Von den Er-
wachsenen (zwischen dem 20. und 65. Jahre) hat jede Altersstufe, von
3 zu 3 Jahren gerechnet, ihr besonderes Album, so dass man z. B. mit
dem 23., 26., 29. etc. Lebensjahre aus dem bisherigen in das nächst-
folgende Verzeichniss übergetragen wird. Dabei soll die Behörde auch
über die Sittlichkeit des ganzen Lebens von allen Eingeschriebenen ge-
naue Aufsicht führen und auf dessen Besserung hinwirken. (S. 202;
detail lirter S. 210. 221.) Es ist sehr charakteristisch, dass ein Mann,
dem eine so bedenklich dehnbare Bestimmung für die Polizei genügt,
10) Etwas Aehnliches hatte schon Bodintis [De rep. VI, 1) vorgeschlagen, frei-
lich in ganz humanistischer Weise als Wiederherstellung der alten Censur : also eine
Vermischung nichtrichterlicher Sittenpolizei und statistischer Aufnahme. Das Volk soll
gezählt, jedes Vermögen katastrirt werden, um die Steuern besser anzulegen, der fis-
calischen Willkür, auch dem Wucher etc. mit dem Lichte der Oeffentlichkeit zu be-
gegnen, Besitzstreitigkeiten vorzubeugen etc. Bod in us' Plane sind geistvoller und frei-
heitlicher, als die von Obrecht ; aber die letzteren haben mehr Zeitcharakter.
284 Wilhelm Röscher, [28
•
S. 213 — 244 nöthig findet, die Formulare sämmtlicher Scheine, den
Preis derselben etc. auf das Genaueste auszuführen.
Endlich noch : »Constitutio und Ordnung von einem hochnützlichen
Aerario liberorum, in welches von den Eltern allerhand Summen Gelts,
ftlmemblich ihren neugebornen Kindern und in eventum ihnen selbs,
auch der Obrigkeit und gemeinen Wolfahrt zum Besten angelegt wer-
den, sampt allerhand Erklärungen und zweyen Kinderrechnungen. «
(S. 297 — 351.) Auch hier ein fiscalischer Nebenzweck der Versiche-
rungsmassregel. Alle ehelichen wie unehelichen Aeltern, soweit sie
dazu im Stande, sollen bei der Geburt der Ihrigen eine Geldsumme nie-
derlegen, die für Söhne bis zum 21., für Töchter bis zum 1 7 . Jahre mit
6% jährlicher Zinsen aufbewahrt und schliesslich ausgezahlt wird. Ster-
ben die Kinder vor Ablauf dieser Frist, so fällt das Depositum in der Re-
gel an den Fiscus, jedoch mit theilweiser Uebertragung an schon vor-
handene oder noch zu erwartende Geschwister11. Uebrigens ist der
ganze Vorschlag sofort als Gesetzentwurf gefasst: man pflegt dies
auf solchen Kulturstufen, wie die von Obrecht war, »praktisch« zu
nennen ,2.
Fragen wir jetzt nach der wissenschaftlichen Bedeutung
dieser Schriften Obrechts, so lassen sich alle geschichtlich bedeu-
tenden Menschen in zwei Gruppen theilen : solche, die über das Niveau
ihrer Zeit hervorragen, die also der Zukunft gleichsam Bahn brechen,
sei es durch praktische Umgestaltungen, oder aber durch theoretische
Entdeckungen ; ferner solche, in denen nur eben die Eigentümlichkeit
ihrer Zeit besonders scharf entwickelt, gleichsam personificirt ist. Unser
Obrecht gehört durchaus der zweiten Gruppe an; seine geistigen Kräfte
sind für die erste schon absolut zu gering. Und es sind namentlich zwei
Hauptrichtungen seiner Zeit, welche in ihm Gestalt gewonnen haben:
die Anlehnung des westlichen, zumal reformirten Deutschlands an Frank-
U) Das Ganze offenbar eine Nachahmung der in Italien damals nicht seltenen
Anstalten (so z. B. in Lucca, Siena, Florenz) , neugeborenen Mädchen eine im 18. Jahre
fällige Mitgift zu versichern, gewöhnlich das Zehnfache der Einkaufssumme, die jedoch
im Fall ihres früher eingetretenen Todes verloren ging. Vgl. Bodinus De rep. VI,
1, p. 4 040. Chr. Besold Synopsis doctr. polit., p. 2 45.
\ 1) Dass für jene Zeit wirklich ein Fortschritt darin lag , beweisen z. B. die be-
rühmten Libri IV rei rusticae von Conrad Heresbach, deren Formulare zum Vieh-
kauf noch gänzlich als damals praktisch aufgeführt werden, obschon sie lediglich —
altrömisch sind! (111, p. 500. 530. 568.)
23] Akltere deutsche Nationalökonomik. 285
reich und England, sowie damit zusammenhängend der Regalismus und
Absolutismus in der Staatshaushaltung.
Ueber diesen Regalismus habe ich der K. Gesellschaft der Wissen-
schaften bereits in einem frühern Vortrage einige Andeutungen gemacht13.
Das Ueberwiegen der Regal wirth seh aft im Finanzwesen pflegt der Zeit nach
die Uebergangsstufe zu bilden zwischen dem mittelalterlichen Ueberwie-
gen der Domänen wirthschaft und dem Ueberwiegen des Steuerwesens bei
jedem hochkultivirten Volke. Nicht mehr genug Domanium, aber noch
nicht genug Steuern ! Der Name »Regalien« oder »Finanzregalien« ist
ebenso unbestimmt, wie der Gegenstand selbst, der etwas auffallend
Buntes, scheinbar Systemloses und Chaotisches w hat, den aber das Auge
des Historikers doch ebenso einfach erklären, wie ordnen kann. Es
lassen sich nämlich bei den wichtigsten neueren Völkern zwei Hälften
ihrer Periode des Regalismus unterscheiden. Von diesen schliesst sich
die erste ebenso an das sinkende Domänenthum an, wie die zweite das
herannahende Vorherrschen der Steuern gleichsam einleitet. Was den
politischen Charakter betrifft, so ist die erste Hälfte ebenso feudalistisch,
wie die zweite absolutistisch.
Je mehr gerade auf dem Wege der Belehnungen das Domanium
zusammenschmolz, um so eifriger waren die kraftvollen Herrscher des
spätem Mittelalters bemühet, durch Ausbeutung der Lehnsgefälle
den Schaden wieder einzubringen. Ich erinnere an die Abgaben bei
Gelegenheit der drei grossen Lehnscasus, (Kriegsgefangenschaft des
Lehnsherrn, Ritterschlag seines Sohnes, Aussteuer seiner Tochter,)15
namentlich an die ungeheuere Bedeutung, welche das Lösegeld kriegs-
gefangener Herrscher activ und passiv ftlr die Finanzen des spätem
Mittelalters hat16. In England, wo aller Grandbesitz ftlr Lehen galt,
4 3) Berichte der historisch -philologischen Klasse vom 4*. December 1861,
S. 4 56 fg.
4 4) Matthaeus de Afflictis nimmt 4 25 verschiedene Regalien an, C Hassanen* 208,
ja Petr. Anton, de Petra sogar 44 3!
45) In dem kreozzugseifrigen Borgund auch, wenn der Lehnsherr nach Jerusalem
zog; bei geistlichen Fürsten, wenn sie zum Concile reisten.
4 6) Berühmt sind die Lösegelder für Richard Löwenherz, den heiligen Ludwig,
die Könige von Schottland und Frankreich, die Eduard III. zu Gefangenen machte.
Der Aufstand der sog. Jacquerie war grossentheils eine Folge der Lösegelder des bei
Poitiers gefangenen französischen Adels, die 15, ja 50 Procent des Güterwerthes be-
trugen und nun von den Bauern erpresst werden sollten. {Sismondi Hist. des Fr. X,
286 Wilhelm Röscher, [24
war jeder grössere Landeigentümer als Vasall zu Kriegsdienst und Pa-
rade verpflichtet, oder musste sich durch eine Geldzahlung, scutagium,
davon loskaufen. Ebenso einträglich waren die Abgaben von den Tur-
nieren, sowie vom Ritterschlage, wozu jeder bedeutende Vasall genö-
thigt werden konnte. Beim Tode eines Vasallen pflegte der Nachfolger
den einjährigen Ertrag seines Gutes abgeben zu müssen. Ueber min-
derjährige Kinder eines verstorbenen Vasallen hatte der König die Vor-
mundschaft, (tutela frucluaria, französisch guardia, in Bretagne bau, in
England wardship) so dass er den Ueberschuss ihres Einkommens über
ihren standesmässigen Unterhalt für sich nehmen, auch die weiblichen
Mündel nach seinem Belieben verheirathen konnte, was dann wieder zu
einer Menge von Erpressungen führte 17. Die Erlaubniss, ein Lehngut
zu veräussern, musste theuer bezahlt werden (in England mit 3 3 Vi bis
1 00 Procent des jährlichen Ertrages, in Frankreich unter dem Namen
quinl et requint meistens mit 24 Procent des Kaufschillings). Dazu das
Heimfallsrecht beim Aussterben der Vasallenfamilie, in Zeiten, wo der
Ritterdienst noch eine Wahrheit, und Weiberlehen schon desshalb selten
waren, gewiss eine bedeutende Einnahmsquelle 18. Das Recht des Herr-
schers, die für den Bedarf seiner Hofhaltung nöthigen Lebensmittel auf
Reisen und in der Umgegend seiner Residenz entweder ganz unentgelt-
lich oder für einen selbstgesetzten Preis zu requiriren, (droit de prise,
purveyance and preemption) fand seine Stutze in dem Lehnsgedanken,
wonach die meisten Landgüter eigentlich Domanialboden waren, der nur
unter Vorbehalt gewisser Rechte ausgethan worden. Die schweren
Willkürlichkeiten , die sich der Ausübung aller dieser Fiscalrechte bei-
mischten, erkennt man am besten aus den englischen Great Charters seit
K. Johann, worin deren gesetzliche Beschränkung eine Hauptrolle spielt.
p. 486.) Wirklich schätzt Leber die Kanzion des Königs Johann auf 247% Mill.
Franken nach heutigem Verbällniss. (Essai sur Fappreciation etc., App.)
47) In England konnte von dem Mündel, wenn dieser ablehnte, so viel gefor-
dert werden, wie irgend Jemand bona fide bereit war, für die Heirath zu bezahlen.
(Blackstone Commentaries II, p. 70.) Auf die wardship wurden förmlich Gehalte
fundirt: so bezog der Protector Heinrichs VI., Herzog von Gloucester, jährlich 4000
Mark von den Lancasterschen Einkünften, 4700 M. aus dem königlichen Schatze und
2300 M. von zwei minderjährigen Lords. Förmlich verzichtet hat die Krone auf dies
Recht erst 4 648.
4 8) Nach Latherus De censu (f 4 640) III, 1 : perraro accidere solet, ut non
intra eentwn annorum curriculum feuda ad dominum reverlantur.
25] Aklterk deutsche Nationalökonomik. 287
Eine zweite Gruppe von Massregeln, um das geschmälerte Doma-
nialeinkommen zu ersetzen, bestand darin, dass alle herrenlose Gü-
ter für Erongut erklärt wurden: also im Kleinen gleichsam die
Wiederholung des Actes, welcher im Grossen früher auf erobertem oder
neubesiedeltem Gebiete das Domanium geschaffen hatte. Dahin gehören
z. B. in Schweden die Ansprüche Gustav Wasas, dass sämmtliche All-
menden, früher Gemeindegut, jetzt der Krone angehören sollten ; alles
unbebaute Land, alle Wälder, Flüsse mit Fischereien und Mühlwerken,
Seen etc. Lauter Ansprüche, die wohl schon früher einmal anklingen 19,
aber doch nun erst recht deutlich und systematisch ausgeführt werden.
Gustav stellte sogar die Ansicht auf, als wenn alle steuerbaren Höfe
eigentlich auf Kronland errichtet wären und ihren Bauern wegen schlech-
ter Wirthschaft etc. genommen werden könnten. Welche Handhabe für
Grundsteuern und Wirthschaftspolizei ! — Dahin gehören ferner die An-
sprüche des Staates auf die Erbschaft ausgestorbener Familien20: in je-
ner Zeit der Fehden und Seuchen finanziell weit bedeutsamer, als wir
heutzutage meinen, zumal auch das jus albinagii den König als Patron
der Fremden zum Erben ihres Nachlasses machte. Das Recht des Staa-
tes auf gefundene Sachen, zu denen kein Eigenthümer nachweislich war,
[droit d'epaves), auf Schätze : damals wiederum finanziell sehr bedeutend,
weil die herrschende Unsicherheit so häufig Schätze vergraben liess ; die
Regalerklärung der bergmännischen Fossilien , der jagdbaren Thiere, in
Preussen des Bernsteins, in Brasilien der Diamanten, in warmen Län-
dern auch wohl des Schnees etc. 21 ; endlich noch das Strandrecht und
der nicht selten auftauchende Anspruch, dass selbst das Meer dem Kö-
nige gehöre. (Mare clausuni der Stuartischen Zeit !)
Wie schon bei dieser zweiten Gruppe die rein fiscalischen Zwecke
wesentlich controlirt und gefördert wurden durch wirthschaftspolizeiliche
Gedanken, so beruhet eine dritte Gruppe von Massregeln darauf, dass
sich die Regierung für ihre eigentlich politische Thätig-
49) In dem angeblichen Gesetze von Helyandsholm : 4288; vgl. Geijer Scbwed.
Gesch. II, S. 404 ff. 248 ff.
20)In Frankreich droit de desherence; daneben noch droit de bdtardise, Recht
auf die Verlassenscbaft solcher Bastarde, die ohne eheliche Nachkommen starben.
24) Von Sicilien vgl. Brydone Letter 8; von Portugal: Link Reise III, S. 123;
von Mexico : Humboldt Neuspanien V, S. 2 ; vom Kalifate : Stüve Handelszüge der
Araber, S. 4 64.
288 Wilhelm Rösche*, [26
keit von denjenigen bezahlen l&sst, welche zunächst damit in Be-
rührung kommen. Am Schlüsse des Mittelalters war dies um so na-
türlicher, als gerade damals die Ansprüche des Volkes an den Staat,
folglich die Kostspieligkeit des Staatsdienstes selbst immerfort wuchsen.
Zugleich aber leitete es die spätere Vorherrschaft der Besteuerung im
Staatshaushalte um so natürlicher ein, als ja nach Grundsätzen des Mit-
telalters die Steuern regelmässig eine Zahlung waren, durch welche der
Unterthan eine ganz bestimmte, äquivalente Gegenleistung des Staates
erkaufte. — Hierher gehört nun zunächst der Antheil des Herrschers an
der Kriegsbeute, d. h. also die fiscalische Nutzung der Kriegshoheit. So-
dann der Verkauf von Privilegien, Titeln und Aemtern : der erste sehr
gewöhnlich schon im Zeitalter des blühenden Lehnstaates B, der letztere
namentlich im 15. bis 17. Jahrhundert verbreitet, als die gänzlich ver-
alteten Lehnsämter durch die Anfänge des neuern Beamtenwesens er-
setzt wurden. In Frankreich schätzte man den Gesammtwerth der ver-
kauften Staatsämter 1614auf200Mill.Livres, 1664 auf beinah 800MH1.
In der Zeit von 1 691 bis 1709 wurden aus Finanzverlegenheit mehr als
40000 neue Kaufämter geschaffen ; und die Nationalversammlung be-
rechnete bei Aufhebung des ganzen Instituts allein die gerichtlichen Stel-
len zu 800 Mill. M Wenn man zu Gunsten dieses Aemterkaufsystems sei-
nerzeit anführen konnte, dass es die Unabhängigkeit der Beamten ge-
genüber dem sonst ganz willkürlichen Absolutismus gefördert hat, so
wurde ihm dagegen auf dem französischen Reichstage von 161 4 haupt-
sächlich vorgeworfen , dass es eine Art von Domänenveräusserung ent-
halte. — Hierher gehörten ferner die Abgaben, welche der Staat un-
mittelbar für den Schutz von Leben und Eigenthum forderte, nach Art
einer Assecuranzprämie. So die Geleitrechte zu Lande und zu Wasser,
aus denen sich nicht bloss unmittelbar die Meerengen - und Stromzölle
als zeitwidrige Ueberreste erhalten haben, sondern auch mittelbar, durch
zeitgemässe Umformung, die neueren Gränzzollsysteme hervorgegangen
sind. So die Marktzölle für Handhabung des Marktfriedens, die Juden-
22) Richard Löwenherz erklärte vor seinem Kreuzzuge, das grosse Staatssiegel
sei verloren gegangen, daher müsse sich Jedermann seine Privilegien etc. für Geld neu
bestätigen lassen.
23) Vgl. Forbonnais Reekerches et con&iderations sur les finances de la France
I, p. U0 ff. 3S9. Chaptal De Industrie Fran$oi$e 11, p. 332. v. Sybel Gesch.
der Revolution I, S. 198.
* 7] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 289
schutzgelder24 für das Patronat dieses heimathlosen Volkes u. dgl. m. —
Hierher gehören endlich die zahllosen Einkünfte von der Gerichtsbarkeit,
die zum Theil in Privathände verönssert wurden, aber doch regelmassig
in der Hand des Staates blieben. So die Geldstrafen und Vermögens-
confiscationen, ein natürlicher Uebergang aus dem Bussysteme des
Mittelalters in das neuere Strafsystem. Für Dänemark hat am Schlüsse
des Mittelalters das Hecht, in einem gewissen Sprengel die Strafgelder
einzukassiren , das Hauptmoment gebildet , woran sich das Aufkommen
der Aristokratie und die völlige Unterdrückung der freien Bauern knüpfte.
In Schweden belief sich unter K. lohann das Staatseinkommen aus den
Geldstrafen fast höher, als das aus den Steuern25. In Böhmen ist zu
Anfang des dreissigjährigen Krieges der grösste Theil des Nationaladels
durch Güterconfiscationen26 zu Grunde gerichtet. In England haben
während der Bürgerkriege des 1 7. Jahrhunderts die von beiden Seiten
willkürlich erpressten Geldstrafen eine fast noch grössere Bedeutung27.
Das Recht, welches Karl I. in Anspruch nahm, durch Proclamation
eigenmächtig Verordnungen erlassen und deren Uebertreter sodann ver-
mittelst seiner Sternkammer beliebig an Gelde strafen zu können, wäre
factisch einem ganz freien Besteuerungsrechte gleichgekommen. In
Frankreich haben vornehmlich die Chambres ardenles eine grosse Rolle
gespielt, ausserordentliche Commissionen, um die Verbrechen der Fi-
24) Von der Bedeutung dieses Regals mag es eine Vorstellung geben, dass in
England binnen 7 Jahren (von 50. Henry KL bis 2. Edward I.) nach jetzigem Gelde
1260000 £. St. von den Juden erpresst sein sollen. (Anderson Origin of Commerce,
a. 1290.) Hieraus erklärt sich das £ dictum Bavillense von 1392, dass Juden, welche
sich taufen Hessen, zuvor ihr Vermögen an den Staat abtreten sollten, »damit der
Teufel nichts mehr an ihnen hätte.«
25) Geijer Schwed. Gesch. II, S. 207.
26) Insgesammt meistens zu 40 Mill. Fl. geschätzt.
27) Lord Strafford beförderte in Ireland die Confiscationen besonders dadurch,
dass er den Richtern 20 Procent der erstjährigen Einnahme von allen eingezogenen
Gütern verbiess, dagegen Geschworaen, die sich der Hülfeleistung weigerten, durch
Einsperrung zu Geldbussen von bis 4000 £. St. zwang, (v. Raumer N. Geschichte
V, S. 29. 53. 126. 450. 244. 320. 336.) Die Zeit von 1640 bis 4659 würde nach
früherem Masstabe an Steuern etwa 4 0 Mill. £. St. gekostet haben. In der Wirk-
lichkeit aber trieb man ein: durch Geldbussen der Royalisten 1305000 £., durch
Gütereinziehungen 6044000, durch Vergleich statt der Einziehung 4 277000,
durch Verkauf von Domänen und Kircbengütern 25380000 £ St. {Ungar d Eist.
of England XI, p. 347.
290 Wilhelm Röscher, [?8
nanzbeamten zu untersuchen und äusserst willkürlich mit Geldstrafen
zu belegen. Colbert wusste auf diesem Wege 1662 und 1663 den sog.
Partisans mehr als 70 Mül. Livres abzupressen. Freilich meinten Kenner,
die Art dieses Verfahrens gebe den Finanzbeamten fast ein Recht des
Unterschleifes % ; so dass man es mit dem türkischen System vergleichen
könnte, die Paschas erst sich vollsaugen zu lassen und dann in den
grossherrlichen Schatz auszudrücken! — Auch die Behördensporteln
waren zu jener Zeit, verglichen mit den Kosten der Behördenverwal-
tung, sehr viel bedeutender, als auf späterer, höherer Kulturstufe. Ich
erinnere nur an die Geringfügigkeit der festen Besoldung selbst für die
höchsten Beamten damals, so dass z. B. in Bacos Zeit der Attorney-
General 6000 £. St. jährlich einzunehmen hatte, wovon bloss 81 — 6 — 8
unmittelbar vom Staate kamen; der Lordkanzler 10 — 15000 £. St.,
worunter gar keine feste Besoldung 29. Oft wurden Staatsleistungen den
Unterthanen förmlich aufgezwungen, nur um die Gebühren dafür heben
zu können30. Die Bezahlung für Dispensation von einem Gesetze ist
insofern zu billigen, als wirklich manche allgemeinen Gebote und Ver-
bote persönliche Ausnahmen zulassen, und hier die nöthige causae cogni-
tio Beamtenarbeit im Privatinteresse herbeiführt, auch durch angemes-
sene Bezahlung derselben vom blossen Queruliren abgeschreckt werden
mag. Aber freilich, wenn solche Dispensgelder einen bedeutenden Po-
sten der Staatseinnahme bilden , so ist das immer ein Zeichen entweder
despotischer Zuvielgesetze, oder anarchischer Zuweniggesetze. Man
kennt die unermessliche Bedeutung, welche dieser Gegenstand im 1 5.
und 1 6. Jahrhundert für die päpstlichen Finanzen gehabt hat, wo er gar
auf rein geistliche Gesetze ausgedehnt wurde und durch solchen Miss-
brauch ganz wesentlich beigetragen hat zum Ausbruche der Refor-
mation 31.
38) Vgl. das sog. Testament polüique de Richelieu l, p. tt%. II, p. U3 ff.
29) Die berüchtigte Bestechungsgeschichte Bacos war ein Theil von der Ueber-
gangskrise aus der Besoldung der Richter m fees zu der Besoldung in salary. (Athe-
naeum 28. Jan. 1860.)
30) So die droits de poids et de easse zu Marseille, indem eine von den Kaufleu-
ten freiwillig errichtete Wage, die Streitigkeiten entscheiden sollte, nachmals in die
Hände des Staates gerieth, worauf alsbald die Gebühren verdoppelt und ein allgemei-
ner Zwang, alle Packete über 3 6 Pfd. wiegen zulassen, eingeführt wurde. {Forbon-
nais Finances de France /, p. 359.)
3 1 ) Vgl. besonders H u 1 1 e n s Vadiscus.
29] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 291
Die vierte Gruppe endlich besteht aus den Gewerbe- und Han-
delsgeschäften des Staates, welche gewöhnlich mit dem Vor-
rechte des Alleinbetriebes versehen waren, wobei es aber filr das fisca-
lische Princip gleichgültig ist, ob sie unmittelbar durch Staatsbehörden,
oder im Namen des Staates durch concessionirte Privaten , Pächter etc.
verwaltet wurden. Ihrem Grundgedanken nach beruhet diese Gruppe
auf einer Gombination aller drei früher besprochenen : abgesehen davon,
dass schon die Naturalwirtschaft der Domänen, sowie die Naturalerhe-
bung der Steuern dem spätem Mittelalter manche Zweige von Staats-
handel sehr nahelegen mussten 32. Ein Grundherr, also auch das Doma-
nium, wird leicht daran denken, die auf seinem Boden zu treibenden
Gewerbe sich selbst oder seinen Leuten vorzubehalten. Wo der Satz :
Nulle terre sans seigneur, wirklich ganz oder annäherungsweise durchge-
führt ist, wo mithin das vornehmste Gewerbe des Volkes, die Landwirt-
schaft, nur auf Grund einer Art von Staatsconcession getrieben werden
kann : da liegt es nahe, dieselbe Abhängigkeit auf die Industriegewerbe
zu übertragen. Bei vielen Gewerben machte sich dies um so leichter,
als sie eben ganz neue Gewerbe waren, ihr Betrieb folglich eine Art
herrenloses Gut und ihre Regalisirung für kein vorhandenes Interesse
eine Verletzung schien. Dieser Umstand hat noch im 16. und 17. Jahr-
hundert grossen Einfluss gehabt bei der Entstehung des Postregals,
des Lotterieregals, des Regals der Zettelbanken, bei der Staatsmonopo-
lisirung so vieler Handelszweige mit neuentdeckten Ländern, dem ita-
lienischen Regale des Kornhandels im Grossen u. dgl. m. * Die meisten
dieser neuen Gewerbzweige empfahlen sich jener Zeit schon dadurch
für den Staatsbetrieb, dass die Privatindustrie noch zu unreif schien, um
sie zu übernehmen, und man doch keine Zeit hatte, auf deren Reife zu
warten34. Hierzu kommen alsdann polizeiliche Rücksichten. Bei man-
32) Auch das Droit de prise hat in Frankreich wie in England oft zum Verkaufe
der im Uebermasse requirirten Waaren geführt; vgl. Sismondi Hut. des Francais
All, p. 225. 268. Bacon Spech againt purveyors : Works IV, p. 305 fg.
33) Unter Clemens VII. steigerte die Annona den Kornpreis zu Rom auf das Drei-
fache. In Neapel wurde dies Regal 1540 ff. so gehandhabt, dass man in guten Jah-
ren schlechteres Brot hatte, als früher die Armen während einer Theuerung. (Sis-
mondi Gesch. d. ital. Republiken XV, S. 454. XVI, S. 4 94.)
34) Als die Florentiner ihren Seehandel begannen, vermietbete die Regierung die
Schiffe dazu an den Meistbietenden; erst seit 4 480 freie Concurrenz.
292 Wilhelm Roschbh, [30
chen Gewerben scheint der Privatbetrieb noch jetzt gemeingefährlich,
worauf u. A. das Münzregal beruhet, das freilich bei noch unausgebil-
deter volkswirtschaftlicher Einsicht nur zu leicht in ein beliebiges Mttnz-
verringerungsrecht ausartet. Das Tabaksregal ist in vielen Staaten un-
mittelbar aus den polizeilichen Luxusverboten hervorgegangen35. Bei
anderen Gewerben war doch in jener Zeit das nöthige Zutrauen der
fernwohnenden Abnehmer nur durch Aufsicht, Stempel etc., überhaupt
Intervention des Staates mit seiner publica fides zu erreichen. Ueberall
herrschte bekanntlich gegen Schluss des Mittelalters und im Anfange der
neuern Zeit die Ansicht, dass obrigkeitliche Taxen nötbig wären, um das
Publicum vor Uebervortheflung zu schützen. Hierzu kam noch die un-
unterbrochene Schutzbedürftigkeit der Gewerbetreibenden in einer Zeit,
wo die corporative Selbsthülfe des Mittelalters nicht mehr passte, und
gleichwohl die neuere Rechtssicherheit noch keineswegs durchgebildet
war. Hiermit hängt z. B. das vormals so häufige Vorkaufsrecht des
Landesherrn an allen eingeführten Waaren zusammen 36 ; ebenso das Re-
gal der Umwechselung ausländischer gegen inländische Münzen. (Jus
cambii, recatnbii et excambii,) v Es ist ein Hauptgedanke des sog. Mer-
cantilsy stems , dass auch der Staat allerlei Gewerbe treiben soll und
seine Industrialbehörden zugleich polizeilich über den entsprechenden
Privatbetrieb die Aufsicht führen. In Frankreich wurde 1 577 aller Han-
del für droit domanial erklärt ; daher sich die Kaufleute in Gilden verei-
nigen und für die Erlaubniss, noch ferner zu handeln, bedeutend zahlen
sollten. Acht Jahre später ward dieselbe Massregel auf die Gewerbe
ausgedehnt. Gleichzeitig hielt sich die englische Elisabeth befugt, jeden
Handelszweig zum Staatsmonopole zu erklären. Oft wurden alle bishe-
rigen Betreiber dadurch ruinirt; oft auch hatten sie nur durch eine Ab-
gabe das Privilegium des Fortbetriebes zu erkaufen. Viele solcher Mo-
nopolien wurden an Günstlinge der Krone verschenkt, und von diesen
hernach an Fachleute verkauft. Die Regalisirung betraf u. A. Korinthen,
35) In Bayern war der Tabak noch 4 656 wegen Feuersgefahr untersagt; 1670
das Verbot aufgehoben; 4 675 der ganze Verkehr mit Tabak zum Rauchen oder
Schnupfen, sowie mit Pfeifen an Kaufleute verpachtet. (Zscbocke Bayerscbe Gesch.
III, S. 376.)
36) So in Russland zu Anfang des 16. Jahrhunderts: Karamsin Russ. Gesch.
VII, S. 4 64.
37) Von England unter Heinrich VII. s. Bymer Foedera XIII, p. 24 6.
34] Aeltebe deutsche Nationalökonomik. 393
Salz88, Eisen, Pulver, Karten, Kalbleder, Felle, Segeltuch, Potasche,
Weinessig, Thran, Steinkohlen, Stahl, Branntwein, Barsten, Flaschen,
Töpfe, Salpeter, Blei, Oel, Galmei, Spiegel, Papier, Stärke, Zinn, Schwe-
fel, Tuch, Sardellen, Bier, Kanonen, Hörn, Leder, spanische Wolle, iri-
sches Garn. Vermittelst der Gontrole konnten Privatpersonen die ärg-
sten Eingriffe ins Innere der Häuser machen; so dass z. B. die Salpe-
termonopolisten förmliche Tribute erpressten, falls man von ihren Stall-
Visitationen etc. verschont bleiben wollte 39. Man sieht, eine solche Mo-
nopolisirung ist ebenso wohl eine Besteuerung, wie die höchste Accise,
und in ganz besonders lästigen Formen ! Als Karl L manche Staatsmo-
nopolien wiederherstellte, ward ihre Form doch insofern verbessert, als
sie nicht mehr an einzelne Günstlinge, sondern an regulated companies
vergeben werden sollten, und dadurch factisch einer Accise, freilich
ohne parlamentarischen Consens, näher kamen 40. Doch sollen alle diese
neuen Monopolien etc. 200000 £. St. roh, aber nur 4 500 £. St. rein
ertragen haben ; wesshalb Lord Clarendon meint, der König habe damit
nur dem Yolke zeigen wollen, dass es Thorheit sei, die notwendigen
Steuern zu verweigern41.
Alle diese Regalien stehen mit der gleichzeitigen absolu-
ten Monarchie sowohl negativ, als positiv im engsten Zusam-
menhange. Wie ich oben von den Regalien sagte, dass sie in der
Uebergangszeit vorherrschen, wo es nicht mehr genug Domänen, aber
noch nicht genug Steuern giebt, so lässt sich die negative Unter-
lage des Absolutismus im engern Sinne dahin formuliren: Keine
mittelalterlich aristokratischen Stände mehr, aber auch noch keine mo-
derne Volksvertretung; keine übermächtige Kirche mehr, aber auch
noch keine starke öffentliche Meinung etc. Positiv ist das L'&tat cest
moi ganz übereinstimmend mit der Ansicht Ludwigs XIV., dass der
König absoluter Herr alles Privateigentums 42, der Geistlichen wie der
38) Der Salzpreis stieg in Folge dessen von 4 6 Pence pro Bushel auf 4 4 bis 4 5
Schillinge.
39) Sir S. d'Ewes Journal of both houses, (4 683) p. 644 ff.
40) Vgl. Lingard Hist. of England IX, p. 448.
44) Zu den relativ grossartigsten Beispielen eines vom Staate betriebenen Han-
dels gehört das Finanzwesen der mediceischen Grossherzoge von Toscana.
42) Memoire* kistoriques de Louis XIV., II, p. 4 24. Derselbe König sagt in
seiner Instruction für den Dauphin : Les roi$ sont seigneurs absolut et ont naturelkment
294 Wilhelm Röscher, [32
Weltlichen sei. Viele Staatsmänner jener Zeit hielten die Regalien sogar
filr eine besonders milde Form, die Staatsbedürfnisse zu befriedigen. Das
französische Edict von 1616, welches die Flusszölle verdoppelte, setzt
in merkwürdiger nationalökonomischer Verblendung hinzu : pour soula-
ger le peuple. Und noch ein Mann, wie Forbonnais, war der Ansicht, die
Staatseinnahme aus dem Aemterverkauf drücke das Volk gar nicht43.
Hierin liegt wenigstens die Wahrheit, dass die Last der Regalien nicht
so allgemein und gleichmässig empfunden wird, wie die eines guten
Steuersystems: freilich die schwerste Verurtheilung der ersteren vom
Standpunkte des wahren Staatsrechtes und Volkswohles, aber doch vor-
übergehend eine grosse Empfehlung für den Absolutismus, nach dem
Grundsatze : Divide et impera. Auch die schrankenlose Willkürlichkeit
und Volksbevormundung, welche uns bei dem Regaliensysteme zunächst
Anstoss geben, waren im Zeitalter des Absolutismus für den Herrscher
geradezu erwünscht, für die Unterthanen wenigstens erträglich, bei dem
tiefen Misstrauen, welches damals alle Welt gegen die ausgearteten mit-
telalterlichen Freiheiten (Vorrechte) zu hegen begann, während die
moderne Freiheit kaum geahnt wurde. Die vielen kleinen Status in
Statu waren unhaltbar geworden, und der grosse Staat hatte eben noch
keinen andern Vertreter, als die Krone. — So finden wir denn bei dem
Absolutismus aller neueren Völker dieselbe charakteristische Wichtigkeit
der Regalienwirthschaft. In Italien schon am Schlüsse des 1 5. Jahrhun-
derts, wovon z. B. die Zeitgenossen Commines (Memoire* VII, 13) und
Machiavelli (Discorsi III f 29) reden44; ganz besonders aber seit der spa-
nischen Herrschaft. Ebenso im spanischen Hauptlande, sowie in des-
sen amerikanischen Besitzungen45; in Russland46; auch in Schweden
la disposition pleine et Ubre de tous les biens, qui sont possedes. Desgleichen Louvois
in seinem politischen Testamente : Tous vos sujets, quelsqu'ils soient, vous dowent leur
personne, leurs biens, leur sang, sans avoir droit de rim pretendre. En vous sacrifiant
tout, ils ne vous donnent rien, puisque tout est ä vous.
43) Finanees de France I, p.!8i. 440 ff. So vertheidigte in England Fabian Philips
das Regal der purveyance and Preemption vor seiner Aufhebung (1 663) in der Schrift :
The antiquity, legality, reason, duty and necessity of p. and p. for the king, the smaU
Charge and burthen thereof to the people etc.
44) Vgl. Sismondi Gesch. der ital. Republiken XI, S. 523 ff. 354. XIII, S. 265.
45) Vgl. Townsend Journey through Späth. IL p. 231 ff. Humboldt Neu-
spanien V, S. 2 ff. 38.
46) Vgl. Karamsin IX, S. 284 mit Herrmann Russ. Gesch. III, S. 342. 540.
33] Aeltebe deutsche Nationalökonomie. 295
während des 16. und 17. Jahrhunderts, wo so kräftige und fast erfolg-
reiche Versuche zur absoluten Monarchie gemacht wurden47. Wie in
Frankreich das Pariser Parlament zur Zeit der Fronde auf Beseitigung
dieser regalistischen Finanzwirthschaft drängte, so wurden umgekehrt
in England unter Elisabeth und den beiden ersten Stuarts eine Menge
eingeschlafener Regalien wieder aufgeweckt, als die Krone bei ihrem
Streben nach Absolutismus das parlamentarische Steuerrecht umgehen
wollte. — Ja selbst andere Formen der unbeschränkten Monarchie, die
mit dem vorzugsweise sog. Absolutismus nur mehr oder minder Aehn-
lichkeit besitzen, wie z. B. der orientalische Sultanismus, die abendlän-
dische Militärdespotie (Cäsarismus), welche der ausgearteten Demokratie
zu folgen pflegt, haben dieselbe Vorliebe für regale Finanzquellen. Wir
sehen dies im Alterthume bei den griechischen Tyrannen der spätem
Art48; mehr noch bei den römischen Imperatoren, wo es z. B. 29 Ver-
brechen gab, die Vermögensconfiscation nach sich zogen, darunter das
unendlich weite der laesa majestas 49. Wir sehen dasselbe im merkwür-
digsten Grade bei Napoleon I. M
In die deutschen Finanzen ist der Regalismus viel später und im
Ganzen auch weniger tief eingedrungen, gerade wie der Absolutismus.
Dieselbe Mittelstellung der meisten deutschen Landesherren zwischen
grossen Reichsunterthanen und souveränen Staatsoberhäuptern, welche
die Macht ihrer Landstände bis zum dreissigjährigen Kriege und länger
lebendig erhielt, beugte der Verschleuderung ihres Domaniums vor. In
724 und der Darstellung aus Gesandtschaftsberichten Gustav Adolfs bei G ei j er Hl,
S. 99.
47) Ueber Gustav Adolf in dieser Beziehung s. Geijer Iü, S. 55 ff.
48) Auch bei den früheren, die genauer unserem Absolutismus am Schlüsse des
Mittelalters entsprechen; vgl. Aristot. Oeconom. //, passim.
49) Vgl. Naudet Des ehangements dans l'administration de tempire R. sous Dio-
cletien, I, p. 4 95.
50) Napoleon führte das droit daubaine und den Abschoss wieder ein. An der
Strafe der Vermögensconfiscation hielt er so fest, dass er sie auch in seinem Acte adr-
düionel von 4 84 5 nicht aufgeben wollte. Bei Creirung des neuen Majoratadels ward
eine Gebühr von 20 Procent der einjährigen Einkünfte an den Siegelrath gefordert. |
Wie Napoleons Cautionen für aller Art Aemter, selbst Gewerbe, deren Betrag er be- !
liebig erhöhete, deren Zinsfuss er beliebig herabsetzte, dem alten Aemterverkaufe ent-
sprechen, so ist sein Verfahren gegen den Lieferanten Ouvrard (Ouvrard Memoires
1, 64 fg. Bourrienne Mem. VII, 6) gegen Bourrienne etc. [Memoires de Lasca-
s es II, 34 4) ganz ein Wiederauffrischen der alten Chambres ardentes. \
Abhandl. d. K. 8. Oet. d. WiM. X. *0
296 Wilhelm Röscher, [34
Preussen z. B. hat erst der grosse Kurfilrst, unter heftigem Widerspruch
der Stande, das Salzregal eingeführt, desgleichen eine Art von Aemter-
verkauf; Friedrich Wilhelm I. beides wesentlich verschärft, Friedrich
d. Gr. endlich gegen 500 verschiedene Waaren zum Gegenstande seines
Staatshandels gemacht. Aus anderen Ländern ist im 1 8. Jahrhundert
namentlich der Aemter verkauf des mecklenburgischen Karl Leopold und
des bayerschen Karl Theodor bekannt, sowie auch das berüchtigte Fi-
nanzsystem des luden Süss in Württemberg ein wesentlich regalistisches
war51. Zu den schlimmsten Anwendungen des Regalismus im 18. Jahr-
hundert gehört die Soldatenvermiethung an England oder Holland,
welche von Hessen-Kassel und Braunschweig in einem, selbst popula-
tionistisch, schwer begreiflichen Extreme geübt wurde: dort bis zu
12600, hier bis zu 4300 Mann auf einmal! Oder auch die holländisch-
französische Zahlung von 9y2 Millionen Fl., wofür sich ein Herrscher,
wie Joseph IL, die Fortdauer der Scheidesperrung gefallen liess. Aber
in Obrechts Zeit waren es nur ganz wenige deutsche Fürsten, welche
an dem Regalsysteme, wie es damals in Frankreich, England und Italien
blühete, wirklich Gefallen hatten. Am meisten noch der Erzbischof von
Salzburg seit 1 587 52 ; einigermassen auch Württemberg, wo das früh-
zeitige Ausscheiden des Adels aus dem Landesverbände die Regalisirung
erleichterte 53.
Indess, wie gesagt, die Mehrzahl der praktischen und theoretischen
Staatsmänner im damaligen Deutschland war nicht für den Regalismus
eingenommen, dessen System wir in Obrechts Zeit als ein wesentlich
ausländisches dem deutschen gegenüberstellen können. Man darf aber
die vielseitigen Verbindungen des südwestlichen Deutsch-
lands, wo Obrecht lebte, mit Frankreich, England und Hol-
land nicht übersehen. Schon damals konnten sich die Tieferblickenden
54) In Mecklenburg scherzte man seit 4 742, wo so viele Pfarren meistbietend
verkauft wurden, dass die Prediger mit Recht ihre Zuhörer »theuer erkaufte Seelen«
nennen könnten. (Boll Meckl. Gesch. II, S. 4? 5.) Im bayerschen Addresskalender
von 4799 haben die meisten Beamten gleich ihre Nachfolger neben sich verzeichnet
stehen, weil die Anwartschaft darauf verhandelt war. (Perthes Deutschland zur
Zeit der französ. Herrschaft, S. 441.)
52) Vgl. Ranke Päpste II, S. 133.
53) Sogar allgemeines Schäfereiregal in Württemberg seit dem 4 6. Jahrhundert,
das erst 1828 aufgehoben wurde.
35] Abltbre deutsche Nationalökonomik. 297
immer weniger täuschen über das Herannahen der grossen Krisis, die
im dreissigjährigen Kriege ausgefochten wurde. Immer schwächer wur-
den auf beiden Seiten die vermittelnden Elemente : solche Katholiken,
wie Kaiser Max IL, und solche Protestanten, wie die Lutheraner der
Goncordienformel. Dagegen verschärften sich auf beiden Seiten die
Ultras, und wie die katholischen immer enger an Papst und Spanien
festhielten, so die calvinischen an den Generalstaaten, Heinrich IV. und
England. Eine welthistorisch .wichtige Folge der Thatsachen, dass Calvin
kein Deutscher gewesen war, und seine Kirche damals, bei wachsender
Verknöcherung der lutherischen, alle treibenden Kräfte des Protestan-
tismus beinahe ausschliesslich und deshalb ohne gehöriges Gegenge-
wicht in sich vereinigte. Schon 1 594 hatten die zu Heilbronn versam-
melten Bundesgenossen, Kurpfalz, Baden, Württemberg etc., Heinrich IV.
Subsidien bewilligt, wofür er den brandenburgischen Bewerber des
Bisthums Strassburg gegen den lothringischen unterstützen sollte. Das
förmliche Bündniss der Union, das 1610 mit Heinrich IV. geschlossen
wurde, hätte ohne dessen plötzlichen Tod für den ganzen Bestand des
europäischen Staatensystems unberechenbare Gefahren heraufbeschwo-
ren. Noch im Mai 1613 schloss die Union ein 15jähriges Bündniss mit
den Generalstaaten. Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, dessen böh-
mische Thronbesteigung zum Ausbruch des dreissigjährigen Krieges
führte, war der Sohn einer Prinzessin von Oranien, der Schwiegersohn
des Königs von England. Dessen vornehmster Rathgeber, Christian von
Anhalt, war früher in französischen Diensten gewesen, und hat seine
Französirung u. A. dadurch bethätigt, dass er seinen amtlichen Bericht
über die verlorene Schlacht am weissen Berge in französischer Sprache
schrieb ! — Von allen diesen Bewegungen war nun Strassburg mit sei-
ner blühenden Universität, Obrechts Wohnsitz, aufs Lebhafteste mit er-
griffen : ich erinnere beispielsweise nur daran , dass der vermählte und
protestantisch gewordene Erzbischof von Köln, Truchsess von Waldburg,
dessen Vertreibung lange Zeit einen Hauptstreitpunkt der grossen con-
fessionellen Parteien gebildet hatte, und der eben deshalb mit Frank-
reich und England im wichtigsten Verkehr gestanden, zu Strassburg
1601 nach langjährigem Aufenthalte als Domherr starb.
Als eine in mancher Hinsicht lehrreiche Folie von Obrecht mag
Hippolytus a Gollibus dienen. Geboren 1561 zu Zürich, war er
20*
298 Wilhelm Röscher, [36
der Sohn eines italienischen Edelmannes, der um seines protestantischen
Glaubens willen auswandern musste. In den Jahren 1 584 bis 1 591 lebte
er als Professor der Rechte abwechselnd in Basel und Heidelberg. Um
1591 trat er als Kanzler in die Dienste des vorerwähnten Christian von
Anhalt, der ihn zu Gesandtschaftsreisen nach England, sowie an viele
deutsche Höfe gebrauchte. Seit 1 593 aber finden wir ihn bis an sein
Lebensende wieder in kurpfälzischen hohen Aemtern. Er starb 1612.
Hippolytus schrieb ausser mehreren , civilistischen Arbeiten 54 fol-
gende politische Werke: Nobilis (1 589 ;) Princeps, (1592) dem »heros«
Christian von Anhalt gewidmet; Palatinos $. au licus, (1595) eine Schil-
derung, wie der Hofmann etc. gebildet werden, gesinnt sein und han-
deln müsse : lauter Dinge, die in sehr gemeinplätzlicher Weise aus dem
Alterthume belegt werden. Sein Hauptbuch, das zu damaliger Zeit
grossen Ruhm erlangte, Incremenla urbium s. de causis magnitudinis ur-
bium (Hanau, 1 600), erinnert bloss durch den Titel und zu seinem eige-
nen grössten Schaden an das kurz vorher erschienene Meisterwerk Bo-
teros. Kein Gedanke an die vortreffliche Handels- und Bevölkerungs-
theorie des letztern ! M Nur ganz äusserlich und mit allerlei klassischen
Reminiscenzen aufgeputzt, reden hier 24 Kapitel vom Ursprung der
Städte, von ihrer Lage und Gesundheit, von der Fruchtbarkeit des Bo-
dens, der Schönheit der Umgebungen, von den Wasserverbindungen,
der Befestigung, der Bequemlichkeit und Pracht, den Heerstrassen und
Gränzstädten, den Badeörtern, Bergstädten, Universitätsstädten, Haupt-
und Residenzstädten, Sitzen des Adels, Handelsstädten, Gewerbestädten;
vom Zuwachs durch leichte Ertheilung des Bürgerrechts, durch Begün-
stigung der Ehen, durch Asyle, Schauspiele etc. ; zuletzt noch de urbi-
bus, quae aerario Student, quae annonae prudenler curam gerunt, de iis quae
diversa oppida in unum contrahunt vel vicinas urbes diruunt, de urbium le-
gibus et politeia, de urbibus nonnullis, quae ad summam magnitudinem per-
venerint. — Der Abschnitt de politeia ist nur eine ganz oberflächliche
dem Aristoteles nachgehende Notiz, wie man Demokratien und Aristo-
kratien anders behandeln müsse , als Monarchien. Ebenso wenig kann
54) Vgl. Jugler Beiträge zur juristischen Biographie III, S. 495 ff.
55) In seinem 4 7. Kapitel (von der Ehe) räth Hippolytus ganz einfach, dass der
Staat die Ehen befördern soll. Dass ein sehr frugales und wohlfeiles Leben zur Volks-
vermehrung anreizt, begreift er nur, sofern es sich um das Leben der Kinder handelt.
(Princeps, p. 4 60.)
\
37] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 299
Hippolytus mit der Idee anfangen, dass auch die Staaten, wie die Indi-
viduen, ihre Kindheit, Jugend, ihr Alter etc. haben. (Princeps, p. 175.)
Vor allen Wirtschaftszweigen lobt er den Ackerbau : nulla ars locuple-
tandae reipublicae utilior et honeslior. Deshalb soll der Fürst, und zwar
ganz allgemein, durch Lohn und Strafe zum Anbau jedes Grundstückes
veranlassen. (Princeps, p. 150.) Uebrigens versteht Hippolyt seine al-
ten Klassiker in diesem Punkte so wenig, dass er die bekannten Abstu-
fungen des Cato hinsichtlich des Ertrages der verschiedenen Boden-
benutzungsarten (vineae, horlus irriguus etc. : Cato R. R., c. 1.) als Eigen-
schaften eines guten Ackers deutet. (Incrementa urbium, p. 18.) Beim
Gewerbfleisse warnt er vor monopolia, factiones et conjurationes, praetextu
societalum, empfiehlt dagegen Schauanstalten. (Ibid. p. 65.) Zur Beför-
derung des Handels räth er Börsen, Messprivilegien, eigene Handelsge-
richte, (summarie et de piano administrari et bona fide conservari,) end-
lieh Verleihung einer gewissen Beweiskraft an ordentlich geführte Han-
delsbücher. (Ibid. p. 58 ff.) Man sieht, er ist damit seiner Zeit zwar
nicht voraus, aber doch von den besten, damals noch keinesweges all-
gemein gewordenen Neuerungen wohl unterrichtet. Die Schiffahrt hält
er nicht bloss für nützlich, sondern für nothwendig : vix credibile, quan-
tum maritimis subvectionibus regna ditescant. (Princeps, p. 1 51 .) Im Korn-
handel strenges Wucherverbot M und grossartig entwickeltes Staatsmaga-
zinwesen, nach Art der venetianischen Annona. (Incrementa urbium, p.
88 ff.) Wo Hippolytus das Geld mit den Nerven vergleicht, ist damit
doch nur eine humanistisch-bellettristische Ausdrucksweise filr Steuern
gemeint. (Ibid. p. 82 ff.) Er warnt dabei nur ganz gemeinplätzlich vor
drückenden Steuern, deren Ertrag alsdann vergeudet wird ; räth auch*
neue Ansiedler einstweilen damit zu verschonen. Ein sehr auffallender
Gegensatz zu Obrecht, mit dem er sonst beinahe ganz auf demselben
geistigen Boden steht, ist seine Abneigung gegen Aemterverkauf :
nullum mercaturae genus sordidius et damnosius, quam honorum magistra-
tuumque mercatura. (Princeps, p. 174.)57
56) Selbst ein Volkswirth wie Kurfürst August von Sachsen hatte 1583 alles Auf-
kaufen von Getreide in reichen Jahren »auf Theuerung«, als der christlichen Nächsten«
liebe zuwider, verboten. (Cod. August. I, S. 144.)
57) Dies erinnert an Bodinus' Wort über den Verkauf so vieler Finanzämter in
Frankreich : de rebus omnibus absurdissimis nulla mihi absurdior visa est. (De rep. VI,
2, p. 1018. 1062.)
300 Wilhelm Röscher, [38
III,
Die Anfänge der systematischen Volkswirtschaftslehre.
Vom Leben des Jacob Bornitz kann ich ausser seiner schrift-
stellerischen Thätigkeit nur anführen, dass er, geboren zu Torgau, spä-
ter als Doctor der Rechte und kaiserlicher Rath zu Schweidnitz lebte.
Bei den Kaisern Rudolf IL und Matthias scheint er in Sachen der öko-
nomisch-juristischen Verwaltung etwas gegolten zu haben : wenigstens
rühmt er sich, ihre regalia, feuda, privilegia et reservata seien ihm com*
missa et concredita gewesen. Sein Werk De verum sufßcientia ist Kaiser
Ferdinand IL gewidmet1. Gleichwohl litt er, ohnehin kränklich, im
dreissigjährigen Kriege viel Noth durch die Soldaten, die ihm z. B. seine
Bibliothek raubten 2. Sein Leben war übrigens nicht lang genug, um
alle seine wissenschaftlichen Pläne zu vollenden : an mehreren Stellen
seiner Bücher verweist er auf künftige Erörterungen, von denen mir
nichts weiter vorliegt.
Bekanntlich hat Schlesien während des 17. Jahrhunderts relativ
seine höchste Literaturblüthc gehabt : die Mehrzahl der in Deutschland
jenerzeit hervorragenden Dichter etc. gehört der schlesischen Schule an.
Ich gedenke nur der Opitz, Andreas und Christian Gryphius, Tscherning,
Scultetus, Heerman, Logau, Hoflmannswaldau, Lohenstein, Assmann von
Abschatz, Neukirch, Schmolke, Angelus Silesius bis auf Joh. Christ. Gün-
ther herab. Die Uebersiedelung unseres Bornitz von Sachsen nach
Schlesien kann auch als Beitrag zu dieser Uebertragung des geistigen
Principats von einer Landschaft auf die andere betrachtet werden.
Volkswirtschaftliche Bücher hat Bornitz drei verfasst. Zuerst De
nummis in republica percutiendis et comervandis, Libri //, ex systemate po-
lilico deprompti: nach II, 9. am 15. Julius 1604 vollendet, aber erst 1608
zu Hanau erschienen. Die Quartausgabe, die von mir benutzt worden ist,
zählt 1 02 Seiten. Hierin wird die Lehre vom Geld- und Münzwesen, zu-
gleich aber auch die obersten Grundsätze der Volks wir thschafts- und Han-
delspolitik im Allgemeinen vorgetragen. Sodann seine Finanz Wissenschaft :
\) Freilich daneben auch allen den Königen, Fürsten, Herren, Reichsstädten etc..
welche, jeder in seinem Gebiete, rerum sufficienUae invigilant.
2) Vorrede des eben genannten Werkes.
39] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 301
Aerariwn s. tractatus polüicus de aerario sacro, civili, militari, communi
et sacratiori, ex reditibus publicis, tum vectigalibus et collationibus singulo-
rum ordinariis et extraordinariis conficiendo, X. libris summatim et brevi-
ter comprehensus. Zu Frankfurt 1612 in 94 Quartseiten erschienen. Dies
ist überwiegend3 nur eine Aufzählung von Gegenständen, ein Fachwerk,
das jeder Leser durch Eintragung seiner eigenen Notizen ausfüllen soll,
(Vorrede) bedeutsam durch seine systematische Vollständigkeit, aber
ohne viel Eindringen in die Tiefe. Ganz dasselbe gilt von der dritten
Schrift: Tractatus polüicus de rerum sufficientia in republica et civitate
procuranda, (Frankfurt 1625, 253 Seiten klein 40.)4 welche zu Frankfurt
a. 0. 1622 im Laufeines einzigen Monates verfasst ist. Der Autor hatte,
wie er selbst sagt, in seinen früheren Werken die sufficientia rerum civi-
lium behandelt ; jetzt will er die sufficientia rerum naturalium hinzufügen,
nachdem er viel mit Handwerkern etc. verkehrt und während seiner
Reisen durch Holland, England, Frankreich, Italien und Deutschland
immer vorzugsweise hierauf geachtet. Er vertheidigt sich in seiner
zweiten Vorrede ausführlich dagegen, als ob solche Studien eines Juri-
sten unwürdig seien, wobei er gegen die herkömmliche, zu niedrige Auf-
fassung des Begriffes Polüicus eifert. Generalia suppeditat politica, at
specialia historia rerumpublicarum Hebraeorum, Graecorum, Romanorum
cell, et hodie Romano-Teutonici Status. Uebrigens ist es nicht seine Ab-
sicht, die Gewerbe des Ackerbaues, Bergbaues, der Industrie und des
Handels selbst zu beschreiben, sondern nur zu lehren, quomodo hisce
mediis bona naturalia in republica paranda et in usum communem dabo-
randa. Also eine Art von Encyklopädie der Cameralwissenschaften, aus
volkswirtschaftlichem Gesichtspunkte entworfen, deren Hauptverdienst
in ihrer systematischen Vollständigkeit und Natürlichkeit 5 besteht. So
werden z. B. im zweiten Abschnitte (S. 77) die opificia in solche einge-
3) Obschon es in der Vorrede heisst, der Verfasser wolle die modos licitos, qui-
bus luto utendum, empfehlen, die modos illicitos verwerfen.
4) Sehr gerühmt von Besold Synopsis politica, p. 251 . Ein ähnliches Buch von
Hieron y raus Marstaller De divitiis erschien als Tübinger Inauguraldissertation 1698«
wohl unter Besolds Einflüsse.
5) Das Verdienst solcher Natürlichkeit erhellt am besten aus einer Vergleichung
mit Hippolytus a Collibus Princeps, p. 4 49, wo die artes mechanicae, welche der
Fürst befördern soll, eingetheilt werden in solche, die mit der Erde, (Landbau, Jagd,)
mit dem Wasser, (Schiffahrt, Fischerei,) mit dem Feuer (fabricaria) oder mit der Luft
(Vogelfang) zu thun haben !
302 Wilhelm Röscher, [40
theilt: 4) quae vitae nee non victui et sanitati inserviunt; 2) amictui et re-
liquo corporis eultui; 3) habilationi et aedifieiis; 4) supellectili et instru-
mentis variis domesticis; 5) militiae togatae, h. e. rei liierariae; 6)mili-
tiae sagatae, h. e. bello speciatim; 7) ornatui et voluptati ; 8) lusui. Der
ganze vierte Abschnitt handelt von den ministeriis, welche die Neueren
als persönliche Dienste zusammenzufassen pflegen. Ueberall will der
Verfasser nur durch viele Citate etc. zum Selbstudium des Ackerbaues,
Gewerbfleisses, Handels etc. anleiten, und hofft auf einen Nachfolger,
qui cyclum artificiorum humanorum tnethodo s. ordine concinno editurus sit.
Er selbst macht das Einzelne meist sehr obenhin ab, nicht selten vermit-
telst einer blossen Nomenclatur, und die zwischendurch eingestreuten
Verse sind oft geradezu albern.
Ueberhaupt darf man sich die Bildung unsers Bornitz ja nicht zu
hoch denken. In falsche Theologie freilich geräth er nur selten, wie
z. B. De rerum sufficienlia, p. 201 bei Gelegenheit des Gartenbaues, dass
uns die Gärten an Adams Fall und Christi Begräbniss in einem Garten,
also an unsere Sterblichkeit und Auferstehung, erinnern sollen. Desto
mehr leidet er an falscher Jurisprudenz. Unter den zahllosen unnützen
Citaten, lateinischen Spruch Wörtern etc., von denen seine Bücher wim-
meln, sind die meisten aus dem Corpus Juris. Die Aufhebung einer
Steuer im römischen Recht hat für ihn doch immer soviel Gewicht, dass
er ihre etwanige Zweckmässigkeit für die neuere Zeit dann mit ganz be-
sonderer Umständlichkeit nachweiset6. Seine Philosophie ist eine über-
aus pedantische , die mit der seines genialen Zeitgenossen und Lands-
mannes, Jacob Böhme, nur zu ihrem grossen Nachtheile verglichen wer-
den kann. So wird De nummis I, 2 zuerst von der Materie, dann von
der Form des Geldes gesprochen, das letztere mit den Worten eingelei-
tet : causa altera, quae dat esse, forma est. Das folgende Kapitel handelt
von der constitutio, conservatio et curatio, audio und mutatio nummorum.
Da heisst es u. A. : Constitutio deducitur ex causis. qualilatibus, partibus
et speciebus. Inquirendum itaque est in causas nummorum, si quidem rem
scire est rem per causas cognoscere, quarum quaedam essentiam ingrediun-
tur nummi, (materia et forma,) quaedam nummos extrinsecus efficiunt, (ef-
fectrix et finis.) Von Bornitz' historischem Geschmacke zeugt u. A. die
Erzählung : Noa et Dionysius-Bacchus, qui et Bacchanalia instituit, culto-
6) Vgl. De aerario V, 13.
M] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 303
res primi habentur vinearum. (De rerum sufficientia, p. 29.) So betrachtet
seine Worterklärung des Geldes pecunia, aes u. dgl. m., ohne irgendwie
an den geschichtlichen Grund dieser Ausdrücke zu denken. Aus Juve-
nalsl. Satire (1 4 3) schliesst er sogar auf das Vorhandensein einer Göttin
Pecunia bei dei Römern ! (De nummis I, 1 .) Zu diesem Allen noch eine
lästige Menge von Gemeinplätzen und Wiederholungen , sowie die ge-
wöhnliche barbarische Sprachmengerei seines Zeitalters.
Gleichwohl nimmt Bornitz in der Entwicklungsgeschichte der Na-
tionalökonomik , nicht bloss von Deutschland, sondern überhaupt, eine
wichtige Stelle ein. Ohne hauptsächliche Entdeckungen im Einzelnen,
hat er sich die gesammte volkswirtschaftliche Erkenntniss seiner Zeit
in achtungswerthem Grade angeeignet, hat sie mit reicher Gelehrsam-
keit (im damaligen deutschen Geschmacke!)7 verarbeitet, durch Selbst-
erfahrung belebt und geklärt, und zuerst den Versuch gemacht, sie in
systematischer Vollständigkeit darzustellen. Der gesunde, praktische,
jedem Extrem abholde Sinn, welcher dazu erfordert wird, ist ihm durch-
aus eigen, so dass er in jener halbbarbarischen Periode einen ähnlichen
Platz einnimmt , wie in unserer glücklichern Zeit der ehrwürdige Rau.
Solche Männer sind auch für die Fortentwickelung der Wissenschaft von
grossem Nutzen, obschon dies bei Bornitz durch die Sündfluth des
dreissigjährigen Krieges unterbrochen wurde. Vergleichen wir ihn mit
Bodinus, wohl dem grössten Staatsgelehrten unter Bornitz' älteren
Zeitgenossen, so ist der Franzose dem Deutschen unstreitig überlegen
an Weite des Gesichtskreises, — die Theilnahme an den Reichstagen
und Gesandtschaften einer Grossmacht hatte ihre Frucht getragen!
Ebenso an Feinheit (und behaglicher Breite!) der philologischen Bil-
dung, wie sie bei dem Landsmanne von Cujacius, Donellus, Brissonius,
Muretus, Scaliger, Thuanus, Casaubonus zu erwarten stand. Im Allge-
meinen jedoch haben die beiden Männer an Persönlichkeit und Richtung
viel Aehnliches, nur dass man nach heutiger Ausdrucksweise Bodinus
mehr einen Publicisten, Bornitz mehr einen Cameralisten nennen möchte.
Gehen wir jetzt zur Darlegung seines Systems über.
Wie im Körper eine perpetua et mutua spirituum consumtio et resti-
tutio virtute alimeniorum et sanguinis stattfindet, so im wirthschaftli-
7) Sehr gerne citirt Bornitz die Ausgabe der aristotelischen Oekonomik von Ca-
merarius.
304 Wilhelm Roscheh, [42
chen Leben durch die bona, gleichsam ein alter sanguis. (De verum suffi-
cientia, p. 8.)* Alle Güter werden in solche getheilt, welche animum,
corpus oder fortunam betreffen9. Die notwendigen Lebensbedürfnisse
(naturalia) stehen zwar den geistigen Dingen an wahrem Werthe nach,
müssen jedoch vor diesen erstrebt werden, weil es zuerst auf das vivere
et se sustentare ankommt, dann auf das civiliter vivere. (De nummis, I, 1 .)
Die Vorzüglichkeit des Staates beruhet hauptsächlich auf einer rechten
Harmonie der ftlr öffentliche Zwecke zurückbehaltenen Güter mit denje-
nigen, welche Privatleuten zugewiesen sind ; wobei der Verfasser gegen
die Gütergemeinschaft eines Piaton, Th. Morus u. A. eifert. (De nummis
J, 4.) 10 Gleichwohl ist er von der absolutistischen Strömung seiner Zeit
dermassen ergriffen, dass er dem politicus und prineeps doch eine fast
hausvaterliche Gewalt zuschreibt, insbesondere praescribendo et dirigendo,
quod unusquisque in domo et in urbe agere, quod genus vitae sequi, quibus
modis rede et rite bona acquirere, acquisita conservare et amtiere debeal.
(De rerum suff., p. 12.) Dass obrigkeitliche Taxen wünschenswerth sind,
versteht sich nach damaligen Begriffen eigentlich von selbst. (Ibid.
p. 246.)
Den Ursprung des Geldes erklärt Bornitz aus der Ungenüglich-
keit des blossen Tauschverkehrs, obwohl er in dieser Hinsicht keinen
höhern Standpunkt erringt, als den bereits Gabriel Biel und Georg Agri-
cola eingenommen hatten. Aliud quidpiam legis beneficio et disposiiione
politica adinveniendum fuit, quod rerum naturalium viees aequabili com-
mensuratione subireU (De nummis /, 1. 4.) Auch De rerum suff., p. 10
betont die gleichzeitige Notwendigkeit der bona cpvosi (Waaren) und
bona roftm (Geld) ; weil man doch Geld und Gold nicht essen kann, aber
auch die Waaren allein nicht genügen, falls kein Geld vorhanden ist,
womit der Eine, was ihm fehlt, zu seinem Gebrauche von Anderen er-
langt. — Der Zweck des Geldes ist, die übrigen Yermögensobjecte
(x(ff/ftara) zu messen und abzuschätzen, und dadurch im Allgemeinen
nützlich zu sein. (De nummis I, 4.) Ebenso meint Bornitz, das Geld
diene nicht per se dem menschlichen Bedürfnisse , sondern vno&iatt
8) Bornitz war ein warmer Verehrer der »Cbimiatrik«, (a. a. 0. p. 99) d. h. der
von Theophrastus Paracelsus begründeten ärztlichen Schule.
9) Also ganz wie bei Agricola De pretio metallorum et monetis, in der Dedica-
tion. Aehnlich schon in G. Biel Collectorium sententiarum IV, \ 5, %.
10) Aehnlich bei Bodinus De rep. V, 2.
*3] Aeltkre deutsche Nationalökonoiuk. 305
tantum constat, obwohl sein Stoff von der Natur gegeben ist. (/. c. /, 1 .)
Dessen ungeachtet hebt er energisch hervor, dass jede Münze einen
Stoff haben muss, der natura suat communi hominum consensu volarem et
pretium in se continet. Wo dies nicht der Fall ist, da spricht er von
einem Attentate gegen Recht und Billigkeit zum Schaden sowohl der
Unterthanen, wie der Ausländer. Gleichwohl meint er, im Innern des
Staates sei es wenigstens möglich, das Gesetz des Preises nach Belieben
zu dictiren. (/. c. I, 5.) Ueberall klingt eine Ueberschätzung der obrig-
keitlichen Vorschrift durch: nummus non est, quod ex auro, argento et aere
est, sed quod hisce metallis potestas nummi auctoritate publica tributa est
.... nummus non qyuou, sed vofim. (I. c. I, 7.) Edelsteine passen nicht
zu Geldzwecken, weil sie keine Formbarkeit besitzen. (/. c. /, 5.) Als
tiefsten Grund der Thatsache, dass Gold von allen Metallen das wert-
vollste ist, betrachtet Bornitz die medicinische Bedeutung des aurum po*
labile. (De verum suff., p. 42.) Ebenso theilt er die seiner Zeit so be-
liebte Ansicht, dass die verschiedenen Metalle nur verschiedene Reife-
grade eines und desselben Körpers seien, daher z. B. das Glück des
Bergmanns darin besteht, weder zu früh, noch zu. spät zu kommen. (/. c.
p. 40.) Doch ist er mit den übrigen Lehren der Goldmacherei durchaus
nicht ganz einverstanden11. — Vortrefflich erklärt er das Eupfergeld:
in citri tatibus, quae auri et argenli copia destiluuntur, quarum fines non ja*
eile egrediiur, ex quo nummi minimi pretii percutiendi, egenorum gratia,
quum argenti etiam minima particula pretiosa sit. (De nummis /, *>.)
Ebenso unterscheidet er ganz fein, das Geld gehöre zwar dem Jus Gen-
tium an, sei aber doch nicht so, wie dieses, mit dem Menschenge-
schlechte selbst von gleichem Alter. Ratio naturalis veluti lex quaedam
\ I ) Wo er De nummis I, 5 vom Golde als erstem Metalle spricht , fügt er hinzu :
id ntmtrtim, quod ex venis metallicis natura et effossum, vel ex arenulü fluminum col-
lectum. Ueber das aurum artificiale s. chymicum will er nicht entscheiden. Aehnlich
De aerario II, 5. Er möchte auch keinem Fürsten rathen, den Mangel der Natur durch
solche Kunst ersetzen zu wollen. Res periculi plena. Aliorum me vestigia terrent. [De
nummis II, 6.) Um dies zu würdigen , darf man nicht vergessen , dass selbst Kur-
fürst August von Sachsen Adept zu sein glaubte. Eo usque pervenmus, ut ex VJII ar-
genti unciis auri perfcctissimi undas III singulis VI diebus eomparare possimus : mit die-
sen Worten ladet er einen italienischen Adepten zu sich ein, falls dieser noch weiter
gekommen sei. (Peiferi Epist., p.til.) Wie verbreitet der Alchymismus damals war,
siebt man u. A. aus dem Spotte inRollenhagens Froschmeuseler (1595), sowie
schon früher aus Joh. Clajus* Satire AltkumisUca etc. (1586.)
306 Wilhelm Röscher, [44
lacita cum genere humano prodiit, singula tarnen effecia eodem tempore $i-
mul non prodidit. Gegen Tadler des Geldes im Sinne von Plinius d. AelL,
Th. Morus u. A. bemerkt er treffend, Verbrechen seien nicht den Sachen,
sondern der Bosheit der Menschen zuzurechnen. (7, 4.)
Ueber das Wesen des Kapitals finden wir bei Bornitz wenig
mehr, als Ahnungen. Als eine zweite Brauchbarkeit des Geldes (neben
dem ursprünglichen Nutzen : dimensio earum rerum, quae meicis loco ha-
bentur,) nennt er dessen Fähigkeit, verliehen zu werden. Diese beruhe
auf seiner fungibeln Natur. Wer die Zinsen abschaffte, würde eben da-
mit potissimam partem negotiationis abschaffen. (De nummis I, 4.) 12 Er
ist auch dem Schatzwesen des Staates nicht günstig, weil thesauri oc-
culti nihil foenoris parianl. (De aerario X, 6.) *?
Ungleich höher entwickelt ist sein Verständniss vom Mtinzwe-
sen: ein neuer Beleg für die alte und wohlthuende Erfahrung, dass je-
des Zeitalter die für sein praktisches Bedürfniss unentbehrlichen Ein-
sichten früher zu gewinnen pflegt, als die zunächst minder unentbehr-
lichen. Dass freilich nur der Staat das Recht haben soll, Münzen zu
prägen, wird von Bornitz sehr ungenau bewiesen, obschon er fast bei
jedem Satze eine Stelle des Corpus Juris citirt. Si cuivis privato ex suo
auro et argento nummos facere liceret, qua auctoritate acciperenlur a con-
civibus et ex traneis? Nulla sane. Cum legis potestas tantum publica ....
Legum potestas etiam nummum complectitur, quippe qui lege sit et exsi-
statu. (De nummis /, 3.) Die Zumischung eines unedlen Metalles sollte
stets mit Rücksicht auf die communis lex gentium vorgenommen werden,
ut duritiem tantum conciliet et saltem expensas aliquantillum resarciat, ut
fertne eadem ratio sit metalli et pretii nummi. (/, 6.) Auch über die Not-
wendigkeit des gleichen Gewichtes gleicher Münzen durchaus solide
Ansichten. (/, 7.) Jedenfalls ist die Legirung ein Hauptanlass zur
Münzfälschung ; daher auch keinem Goldschmiede gestattet sein sollte,
für seine Producte ein anderes Korn zu wählen, als das gesetzliche.
Ebenso gehört ein festes und massiges Verhältniss zwischen Scheide-
4 2) Also ganz verschieden von Bodinus, (De rep. V, 2, p. 825) der selbst die
römischen Zinsen, die er für %bis \ Procent jährlich hält, im Principe verwerflich Ondet.
4 3) Hierbei citirt er Girol. Frachetla De principe I. Camerar. Medit. 73. Comi-
naeus De beüo Neapol. II und Th. Morus Utopia.
\ 4) Neben manchen Beispielen, wo auch Prinzen, Magnaten etc. das Münzrecht
geübt, wird noch als singulare exemplum erwähnt, dass Christus potentia divina im
Munde eines Fisches gemünzt habe. (1. c.)
*5] Aeltere deutsche Nationalökonomtk. 307
münze und grobem Gelde zu den Hauptmitteln, der Münzverschlechte-
rung vorzubeugen. (//, 5.) ,5 Bornitz lobt deshalb das Gesetz K. Fer-
dinands vom J. 4 559, dass Niemand über 25 Fl. in Scheidemünze an-
zunehmen brauchte. (/, 1 1 .) Die Prägung mit dem Bilde des Fürsten
erkennt er als Mittel gegen Fälschung an ; doch fügt er hinzu : o magna
prudentum inventa, o laudabilia instituta majorum, ut et imago principum
8ubject08 viderelur pascere per commercium, quorum consilia vigilare non
desinunt pro salule cunctorum! (/, 8.) Die Stückelung der Münzen soll
nach solchem Verhältniss geschehen, dass möglichst viele Theile noch
als ganze Ziffern der kleinsten Einheit erscheinen : wie z. B. der halbe
Gulden 30, der Viertelgulden 1 5 Xr. hält. Wenn Bornitz anheimgiebt,
die Gold- und Silbermünzen von gleicher Grösse und Prägung zu ma-
chen, so dass sich der Werth jener zu diesen genau wie 12 zu 1
verhalte (/, 1 1 ) 16 : so beruhet das freilich auf einer grundlosen Vor-
aussetzung der Unwandelbarkeit des damaligen Preisverhältnisses. Da-
gegen ist seine Erörterung I, 12, dass die von Privaten besessene
Münze nicht mehr dem Münzherrn gehöre ", dass sich also das Wort :
»gebet dem Cäsar, was des Cäsars ist«, nicht auf die Münze beziehe,
sondern auf die Steuer, durchaus nicht so curios, wie es dem ersten
Blick scheinen möchte. Ich erinnere nur an die früher so beliebten
willkürlichen Einziehungen der Münzen, um sie verringert wieder aus-
zugeben! Bornitz missbilligt alle solche Massregeln. Wie er sich auf
15) In Sachsen hatte die Gesetzgebung schon 1474 den Grundsatz ausgespro-
chen, »wo mehr kleiner Münze ist, denn man zur Entscheidung der Oberwehr bedarf,
ist Schadena. (Erb stein in v. Langenn's Albrecht der Beherzte, S. 586 ff.)
16) Ganz nach Bodinus, dessen Kapitel De re nummaria (De rep. VI, 3) Bor-
nitz überhaupt sehr benutzt hat. Schon Bodinus hatte die Legirung aus dem Grunde
verworfen, quia natura ipsa ferre non potest, ut metallum Simplex alterius loco substi-
tuatur, propter metallorum naturas colore, eonitu, volumine, pondere plurimum inter se
dücrepantes. Ungleich feiner argumentirt in dieser Hinsicht Scaruffi Sülle tnonete,
(1579), der in Gontracten gewisse Quantitäten reinen Goldes etc. zu stipuiiren räth
(p. 98. 104 Cust.), obschon auch er das Preisverhältniss von Gold zu Silbers 12 : i
als ein von Gott unwandelbar gegebenes ansieht und sich dafür auf den göttlichen
Piaton beruft, (p. 84.)
17) Wie noch Pothier meint, dass der Fürst sa monnaie unter die Privaten ver-
theile, um ihnen als Werthzeichen zu dienen, {Traue du prit de comomption I, 3, No.
37) so kommen ähnliche Ansichten bereits im alten Rom vor. (Puchta Inst. I, S. 1 31 .)
Uebrigens hat schon Nicolaus Oresmius De mutaHonibus monetarum gleich nach
der Mitte des 4 4. Jahrhunderts dieselbe Auslegung des Bibelspruches, wie Bornitz.
308 Wilhelm Röscher, [46
das Stärkste gegen die Kipper und Wipper ausspricht, (De rerum suff.,
p. 11. 121.) so widerräth er jede obrigkeitliche Münzverringerung mit
dem Nachweise, dass alle Waarenpreise dadurch erhöhet, alle Steuer-
erträge vermindert werden. (De nummis II, 1.) Ebenso entschieden
verwirft er die Finanz massregel, dieselben Münzen bei der Staatsein-
nahme niedrig, bei der Staatsausgabe hoch zu valviren. (I. c. II, 3.)
Ueberhaupt missbilligt er im Interesse der allgemeinen Sicherheit jede
Münz Veränderung. Es sei vernunftgemäss, dass der Fürst eine solche
nur vornehmen könne, entweder causa gravissima urgente, oder mit
ausdrücklicher oder stillschweigender Genehmigung des Volkes. (II, 9.) lg
Ein verwandter Gegenstand sind die Quasinummi, d. h. nummi
materiae extraordinariae formaeque imperfectioris. Bornitz denkt hier-
bei u. A. an Papiergeld, Ledergeld etc. Wenn er dessen Creditcha-
rakter auch nicht versteht, so betont er doch sehr, dass es nur in
Nothföllen ausgegeben, und sofort nach Beendigung der Noth mit gu-
tem Gelde wiedereingelöst werden soll. (De nummis I, 1 4.)
Für die Entwickelung des sog. Mercantilsystems haben die
Mittel grosse Bedeutung, welche Bornitz empfiehlt, um der amissio
nummorum vorzubeugen. Alle Geldausfuhr soll untersagt, alle Waa-
renausfuhr, damit sich kein Geldschmuggel dahinter verstecke, über-
wacht werden: so lange, bis alle Nachbarvölker mit uns dieselben
Münzgesetze haben und wirklich beobachten. Auch fremde Glücks-
töpfe und Schauspieler sind zu verhindern, dass sie unser Geld weg-
saugen. Ein sehr gutes Mittel besteht darin, den ganzen Handel mit
edlem Metall dem Fürsten als Regal vorzubehalten, wobei Wechsler
(wie in England, Italien etc.,) den ausländischen Verkehr möglich ma-
chen. Zugleich werden Luxus verböte gegen kostbares Silbergeschirr,
Tressen etc. empfohlen, wobei der Verfasser meint, dass die Frem-
den, um recht viel Geld abzuholen, besonders merces speciosas, vo-
luptarias et arte elaboratas, in quibus nihil nisi manus opera et voluptas
inest, einführen, v. c. suffimenta, gemmas, perlas, quarum rerum Maxi-
mum pretium, sei usus frustraneus. (II, 4. 6.) Also ein Schwanken
zwischen der altern Ansicht, die sich auf Münz- und Luxuspolizei-
gründe stützt, und dem neuern Mercantilismus ! tt — Eine förmliche
4 8) Auch Bodinus lehrt : principi non magis licet, mproba numismata cudere,
quam occidere, quam grassari. (De rep. VI, 3.)
4 9) Dagegen hatte Bodinus seine zumTheil sehr ähnlichen Mercantilideen mehr
*7] Aeltere deutsche Nationalökonomie. 309
Theorie des letztern findet sich aber De numtnis II, 8: de incremento
uummorum in republica parando. Dies wird ausdrücklich von der Ver-
mehrung des Staatsschatzes unterschieden: die Geldvermehrung be-
treffe sowohl den öffentlichen, wie den Privatnutzen. Publice interest,
non tantum nummos in republica exsistere, verum eliam ad potentiam
ejus stabiHendam summopere opus est , eos maxima copia adesse. Sunt
enim nummi nervi rerum Imbellem dixeris civitatem, quae aliis bonis
abundet nummis destituta ... Ut duobus modis nummi parantur, ita quo-
que rempublieam iisdem ditari consequens est : nummorum fabricatiane et
illalione alienarum. Jener ersten dient der Bergbau, welcher den Stoff
liefert. Daher muss der Forst eifrig sein zur Bebauung der alten Gru-
ben, wie zur Aufsuchung neuer. In diesem Punkte hegt Bornitz für
Deutschland immer noch grosse Hoffnungen. Wo aber die Natur des
Landes Gold und Silber verweigert, da muss ars naturam imitari. Vi-
deat princeps, quibus modis tnediisque nummos exoücos quasi aucupari
possit. Dies geschieht entweder durch Handel, oder conversatione po*
pulorum. Wer also ein Land geldreich machen will, der muss den
Handel befördern durch Einrichtung von Messen und Märkten, durch
allerlei Immunitäten für die Kaufleute, namentlich zur Messzeit. Ut 00
casio praebeatur in tua republica nummis inferendis, operam adhibe, ut
studio agriculturae et opificia assiduis laboribus tractentur . . . Tellus na-
tura et foecunditate sua variam materiam profert ... Rudern indigestam*
que et effbrmem (informem?) pkrumque materiam, quae effbrmata decies
materiem manus pretio superare 20 solet. Daher müssen collegia ingenio-
sissimorum opißcum errichtet werden, die nicht blos6 für ihr Land,
aus finanziellen Grundsätzen entwickelt: De rep. VI, p. t02t ff. Der etwas spätere
Antonio Serra (1613) dringt mit seinem Merkantilismus doch schon viel tiefer in
die Natur der Gewerbe ein. Es ist vorteilhafter, Fabrikate auszuführen, als andere
überschüssige Waaren, weil jene sicherer sind, nicht von der Witterung etc., son-
dern nur von den Menschen selbst abhängen, leichter aufbewahrt und transportirt
werden können, ganz vornehmlich aber, weil ihre Masse beliebig gesteigert werden
kann, und der Gewinn doch entsprechend bleibt, ja wegen Verringerung der Pro-
ductionskosten wohl gar noch grösser wird, zum grossen Unterschiede z. B. vom
Saatkorn. (Sülle cause, che possono far abbondare tw regno di monete etc., /, 3.) Um
auch eines Spaniers hier zu gedenken, so will Maria na die fremden Gewerbepro*
ducte hoch besteuert wissen, damit nicht so viel Geld ausser Landes geht, und zu-
gleich die fremden Handwerker durch Uebersiedeiung nach Spanien dessen Volkszahl
vermehren. (De rege et regis institutione, 4 598, ///, 7 10).
20) Sehr ähnlich Boter o Delta ragion di stato, (1594) p. 92 fg.
310 Wilhelm Röscher, [48
sondern auch fiir das Ausland arbeiten. Dolendum est, populos quo**
dam2x admodum vecordes et caecos exteris nationibus materiam rudern ve-
nalem exponere, spe exigui lucelli, quam indutam postmodum vartis for-
mte centuplo revendant iis, a quibus eam nacti fuerint. Auch der tech-
nologische Abschnitt des Buches De rerum sufficientia betont es ener-
gisch, wie die Natur von der Kunst besiegt werden könne, indem die
Arbeit einen grössern Werth hervorbringt, als der Rohstoff, (p. 59.)
Daher man Rohstoffe nicht aus-, sondern einführen soll, kein Geld ftir
Luxusartikel aus dem Lande lassen etc. (p. 68. 232.) Kann ein Land
nicht mehrere Gewerbzweige haben, so doch wenigstens einen, worin
es hervorragt. (De nummis II, 8.) Bornitz scheint zu ahnen, dass je-
des Land in seiner ökonomischen Eigentümlichkeit etwas Unnachahm-
liches besitzt, (De rerum suff., p. 231) obschon er andern Ortes wie-
der meint, von der Seidenzucht sollte man sich ja nicht durch geo-
graphische Bedenklichkeit abschrecken lassen. (/. c, />. 34.)22 — Unter
der conversatio populorum versteht er die wirthschaftliche Anziehung,
welche durch aulae principum, summa tribunalia, academiae, ludi publici,
urbium amoenitas, thermae etc. ausgeübt wird. (De nummis II, 8. De
rerum suff., p. 53.) M
Die Handwerksverfassung, welche Bornitz empfiehlt, ist
ganz die zu seiner Zeit praktisch übliche ; selbst Manches darin, was
dem geschriebenen Rechte zuwiderlief. (De rerum suff., p. 69 fg. 72.)
Auch in Bezug auf die Bäckerpolizei trägt er wesentlich das damals
praktische System vor. (/. c, p. 87.) Dabei finden sich schöne An-
fänge einer Gewerbestatistik seiner Zeit, indem wenigstens von vie-
len Zweigen der Ort, wo sie am meisten blühen, genannt wird.
2 1 ) Wie kosmopolitisch, nach deutscher Weise 1
SS) Wahrscheinlich dachte Bornitz hierbei an den berühmten Streit zwischen
Heinrich IV. und Sully, wovon die Economies royales, Livre XVI berichten. Sully war
gegen die Berufung von Seidenarbeitern, Pflanzung von Maulbeerbäumen etc. in Frank-
reich. Dieser neue Gewerbzweig, während das französische Volk ohnehin vollbe-
schäftigt sei, erfordere zu grosse Opfer. Jedes Land habe seine eigenthümlichen Vor-
züge, die es kultiviren müsse ; für den Seidenbau hingegen sei das französische Klima
zu rauh. Der Erfolg hat gezeigt, wer bei diesem Streite mehr Einsicht bewährte, das
Genie des Königs, oder das Talent des Ministers.
2 3 ) Dies sind Gegenstände, worüber Hippolytus a Collibus und sehr viel
geistreicher Botero gehandelt hatten.
49] Abltbbe deutsche Nationalökonomik. 311
(p. 108 ff.) Es hängt wohl hiermit zusammen, dass schon Bornitz an
die Möglichkeit einer Gewerbesteuer denkt. (De aerario V, 8.) 24
Seine Finanzwissenschaft bildet den grellsten Gegensatz zu
Obrecht. Zwar sagt auch Bornitz in der Zueignung seines Buches
De aerario an die Finanzm&nner, dass in den nervis publicis poientiae,
dignitalis et aulhoritatis, adeoque salutis publicae, post religionis etjustitiae
fulcra maxima vis continetur. Das Bedttrfhiss des Staates an Natura-
lien und Geld vergleicht er mit dem Nahrungsbedttrfnisse der aus Leib
und Seele zusammengesetzten Einzelmenschen. (De aerario I, 1 .) Da-
gegen ist er ein entschiedener Lobredner der Domänenwirthschaft 2&9
ohne die weder einem Staate, noch einer Schule etc. die gehörige Si-
cherheit könne zugeschrieben werden. (/, 3.) Princeps omnia possi-
det, haud tarnen possidet dominio, sed impeiio. (VII, 3.) Beim Jagd-
regale ist von den Jagdschaden keine Rede; wohl aber halt es Bor-
nitz für nöthig, die Anständigkeit des Verkaufes von Wildpret des
Fürsten an Privatpersonen zu vertheidigen. (/, 4.) Er ist in der Re-
gel sehr gegen den Betrieb von Gewerben oder Handel durch den
Staat, ausgenommen die Falle, wo das Gemeinwohl es fordert, wie
beim Münzen; oder wo die Privatkräfte für einen unentbehrlichen
Handelszweig nicht ausreichen; oder endlich, wo der Fiscus eines
solchen Einkommens gar nicht entbehren kann. (//, 1. 2. Aehnlich
De rerum suff., jp. 73 fg.)26 Von Lotterien sagt er: nee suadeo, nee
dmuadeo. (De aerario II, 4.) Gegen Aemterverkauf ist er sehr; höch-
stens den Fall ausgenommen, wo derselbe als Form einer Staatsan-
leihe gebraucht wird. (II, 6. VII, 1.) Uebrigens pflegt Bornitz bei
24) Wahrend noch 4 758 v. Justi etwas ganz Neues vorzuschlagen meinte, in-
dem er als Gegensatz zu den bisherigen Accisen eine Gewerbesteuer empfahl. (Staats-
wirthschafl II, S. 373 ff.)
25) Auch Bodinus zieht die Domänen jeder andern Staatseinnahmsquelle vor.
Wenn er die Unveräusserlichkeit und Unverjährbarkeit des Domaniums so sehr be-
tont, so z. B. jeden Rathgeber, der um des grössern Vortheils willen Domänen zu ver-
kaufen räth, beschuldigt: tyrannidem et reipublicae perniciem molitur (De rep. VI, 2),
so konnte dergleichen freilich unserem Bornitz kaum einfallen, da in den deutschen
Territorien kein Praktiker an Domänenveräusserung dachte.
26) Botero hatte den Staatshandel in folgenden Fällen gebilligt: wenn das Ge-
schäft zu kostspielig oder gefährlich ist, als dass Privatpersonen es treiben könnten ;
wenn die Privatbetreiber sich zu sehr bereichern würden ; wenn es zum Öffentlichen
Nutzen geschieht. (Ragion di Stato, p. 100.) Bornitz steht in dieser Lehre offenbar
höher.
Abhandl. d. K. 8. Oct. d. Witt. X. 2*
312 Wilhelm Rosciieb, [50
jeder Polemik auch seinem Gegner billig das Wort zu lassen. Das
Lehnwesen halt er noch immer für nothwendig. (7/, 7.) Gütercon-
fiscation als Strafe scheint ihm sehr bedenklich27, (///, 6) obschon er
Geldbussen, wie Luxussteuern, wegen des sittlichen Nutzens lobt. (IV, 6.)
In Bezug auf Steuern überhaupt stellt er den Grundsatz auf: ut nemo
plus oneris sustineal, quam emnlumenti et lucri ex rebus capiat (V, 2):
also Verhältnissmässigkeit der Besteuerung nach dem Einkommen.
Gleichwohl erklärt er es für die grösste Ungerechtigkeit, wenn alle Un-
terthanen besteuert würden. Manche Personen wie Sachen müssen
einer Immunität geniessen, die bei anderen gehässig wäre : so z. B. Ge-
sandte, Scholaren, Geistliche, Edelleute ; von Sachen besonders alimenta.
(IV, 2.),2S Vor zu hohen Steuern wird schlechthin gewarnt: pluris ma*
gistratui opulentia subdilorum esse debet, quam reditus. (IV, 3.) Die Steuer
von Auswanderern sucht Bornitz ebenso naiv als absolutistisch aus der
Dankbarkeit wegen des früher genossenen patrocinium zu erklären, weil
die Obrigkeit als Vater des Vaterlandes gelten müsse. (IV, 7 ; besser V, 9.)
Von Staatsanleihen ist er durchaus kein Freund; er meint, ein Fürst
komme dadurch so leicht in übeln Ruf, dass er sie lieber auf den Namen
eines Unterhändlers gehen lassen sollte. (VII, 1.)20 In dem Kapitel: de
vectigalibus illicitis eifert er mit grosser Wärme gegen Hurensteuern etc.
(VIII, 1.) Wie sehr es Bornitz an Schärfe mangelt, sieht man u. A. im
X. Buche, von den Schätzen, wo nur Kap. 6 vom wirklichen Staats- -
Schatze handelt, alles Uebrige bloss von Kassen, die nur ganz uneigent-
lich Schätze genannt werden.
Wir haben im Eingange dieses Kapitels an Opitz erinnert, um da-
durch von einer gewissen Seite her Bornitz' Verhältnisse klarer zu ma-
chen. Dieselbe Analogie bewährt sich aber auch insofern, als die schöne
Literatur in Opitzens Zeit, sowie die Thätigkeit der fruchtbringenden Ge-
sellschaft überwiegend auf Uebersetzungen gestellt war. Freilich hat
27) Bodinus billigte zwar die Vermögensconfiscation im Allgemeinen nicht;
doch hielt er eine theilweise Gütereinziehung (etwa der Errungenschaften des Verbre-
chers) für nothwendig, schon weil ohne praemia delatorum vix ulla scelerum ultio fu-
Iura est. (De rep. V, 3, p. 842.)
28) Diese damals beinahe von allen guten Theoretikern eingeschärfte Lehre trägt
auch M a r i a n a vor : De rege III, 7 .
29) Dagegen hatte Bodinus, welcher Steuern nur im grössten Nothfalle billigt,
Anleihen für ein kleineres üebel gehalten: De rep. K/, 2,,/j. 1022.
51] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 313
ein compilatorisch-encyklopädisches Wirken auf dem Gebiete der Poesie
noch weniger Verdienstliches, als auf dem der Wissenschaft. Wie un-
ser Bornitz durch Reisen und Leetüre von jedem Auslande zu lernen
suchte, ganz besonders aber ein Bewunderer Hollands war 30, so erklärte
Opitz in der ersten Ausgabe der Gedichte, (S. 11) dass die hollandische
Poesie die Mutter der hochdeutschen sei. Besonders verehrte er Grotius
und Heinsius, und in derselben Weise hielt sich Andreas Gryphius spä-
ter an Yondel. So hatte Schuppius in seiner Schrift von der Einbildung
(Opp. /, 508) von Holland zu rühmen, dass sich dort unter den Hand-
werkern Leute fänden, vor denen mancher Studierte sich schämen
müsse31.
IV.
Die Anfänge der geschichtlichen Volkswirtschaftslehre.
Christoph Besold ist 1577 zu Tübingen geboren, hat ebenda
4 595 bis 1597 die Rechte studiert, 1598 den Doctortitel und 1610 die
Professur der Rechte erlangt. Wenn ein so glänzendes akademisches
Talent verhältnissmässig so spät dieses Ziel erreichte, so liegt das zum
grossen Theil an der Ungeheuern Vielseitigkeit seiner Studien, die an
Hugo Grotius erinnert. Besold verstand Griechisch, Hebräisch, Chal-
däisch, Syrisch, Arabisch 1 ausser den vornehmsten neueren Sprachen ;
neben der Staats- und Rechtswissenschaft im weitesten Sinne des Wor-
tes, neben Geschichte und Philosophie trieb er die heilige Schrift in ih-
ren Ursprachen, und eine ausgedehnte Leetüre der Kirchenväter, Scho-
lastiker, Mystiker etc. Jugler hat in seinen Beiträgen zur juristischen
Biographie I, S. 82 ff. ein Verzeichniss von 92 Schriften Besolds zu-
sammengestellt, die 1598 bis (posthum) 1646 erschienen sind, zum Theil
von mächtigem Umfange und viele davon in wiederholten Auflagen. Un-
ter diesen Schriften sind Pandektencommentare , Werke über Theorie
und Praxis des Processes, der grosse juristische Thesaurus practicus2,
30) Vgl. De rerum suff., p. 38. < 10. 233.
31) Vgl. Gervinus Gesch. der deutschen Dichtung III, S. f 82. 420.
1) Vgl. A. Rath Luctus academiae Ingolstadt, in obitum Chr. Besoldi, p. f 0.
2) Nach einem oft bestätigt gefundenen Urtheile, mit Wehners ähnlichem Werke
verglichen, uberfate major, judicio, ordine ac selectu minor.
314 Wilhelm Rose heu, [52
Werke über allgemeines Staatsrecht, deutsches Reichsrecht, württem-
bergisches Landesrecht, über Völkerrecht und Diplomatie, Politik, Volks-
wirtschaft, mehrere Zweige der Specialgeschichte, allgemeine Weltge-
schichte, aber auch über Philosophie und Theologie im Allgemeinen.
Der Verfasser galt nicht allein für eine glänzende Zierde seiner Univer-
sität, sondern war auch bei seiner Regierung so angesehen, dass er Aus-
sicht auf die höchsten Staatsämter hatte. Um so tiefer musste es seine
Landsleute empören, als er nach der Nördlinger Schlacht, wie der Her-
zog von Württemberg floh und eine österreichische provisorische Regie-
rung das Land verwaltete, in diese letztere als Geheimer Rath eintrat,
öffentlich katholisch wurde und sogar in einer Reihe von, archivalisch
sehr wohlbeschlagenen, Werken den Beweis versuchte, dass die würt-
tembergischen Klöster durchaus vom Herzoge unabhängig seien. Fast
ein Drittel seines damaligen Umfanges wäre dem Lande hiermit abge-
sprochen gewesen ! Kein Wunder also, wenn ihn Job. Peter von Lude-
wig deshalb arcanorum istius prineipatus malevolum proditorem nennt;
oder wenn Spittler meint, »sein frommes, ruhmvolles Leben krönte end-
lich die schändlichste Apostasie, den zwanzigjährigen treuen Dienst für
Fürst und Vaterland endigte die elendeste Verräthersbosheit !« Aber
auch Oesterreich scheint die Klosterschriften Besolds mit keinem gün-
stigen Auge betrachtet zu haben , da es Württemberg wohl schon ganz
ftlr seine eigene sichere Beute hielt. Jedenfalls sehen wir Besold 1 637
als kurbayerschen Rath und Professor nach Ingolstadt ziehen. Wie be-
rühmt er war, zeigte sich bald in dem Wetteifer, mit welchem der Kai-
ser ihn für Wien, der Papst ftlr Bologna3, ja u. A. selbst der däni-
sche Hof in gewinnen suchten. Indessen starb er bereits am 1 5. Sep-
tember 1638 zu Ingolstadt.
Spittler hat die Umwandlung Besolds geschichtlich in ein milderes
Licht zu stellen gesucht4. Er weiset nach, dass der förmliche Ueber-
trilt zum Katholicismus lange vor der Nördlinger Schlacht, am I . Au-
gust 1630, erfolgt, alsdann freilich vier Jahre lang verheimlicht worden
ist. Auch vorbereitet war er seit lange, zumal durch Besolds patristi-
sche. tbeosophische und mystische5 Studien. Schon 1626 hatte dessen
3) Angeblich mit dem für jene Zeit enormen Gehalte von 4000 Scudi jährlich.
4) Werke Xlf, S. 983 ff.
5) Besold citirt namentlich den Eckard sehr gern; Schriften von Tauler, Staupitz,
Savonarola hat er herausgegeben.
53] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 31$
Lehrer und Freund, der grosse Kepler, zu Linz das Gerücht seines Ab-
falls vom Lutherthume vernommen6. Den. Ausschlag seiner Zweifel gab
die Geburt einer Tochter nach 29jähriger unfruchtbarer Ehe , die er als
wunderbare Erhörung eines Gelübdes ansah. Nach alle diesem zweifelt
Spittler nicht an seiner Uneigennützigkeit , und möchte ihn mehr be-
dauern, als verdammen.
Wir gehen unbedenklich noch weiter. Kein Historiker wird heut-
zutage verkennen, dass im Anfange des 17. Jahrhunderts das verknö-
cherte Lutherthum der Concordienformel wenigstens nicht mehr geistige
Freiheit gewährte, als der Katholicismus. Gerade Keplers Schicksal be-
weiset dies aufs Deutlichste, dessen Verfolgung in Württemberg durchaus
nicht so aus Persönlichkeiten zu erklären ist, wie die Galileis im Kir-
chenstaate. Nach dem Buchstaben des Rechts waren die Ansprüche der
katholischen Partei damals in der Regel besser gegründet, als die prote-
stantischen. Hierzu kommt nun, dass unser Besold ein wesentlich
historischer Kopf war, obschon keiner vom ersten Range. Wie er
bei jeder Gelegenheit sein Herz ausschüttet über die Vergänglichkeit aller
Staaten 7, so haben auch seine Urtheile über das, was sein soll, durchweg
etwas sehr Relatives. Keine Staatsform hält er für unbedingt vorzüg-
licher, als eine andere. (De rerumpublicarum inter se comparatione, 1 623,
p. 195.) Er nimmt bei solchen Fragen immer die grösste Rücksicht
auf die Verschiedenheit der Volkscharaktere : dass z. B. die Franzosen
keine Freiheit, die Schweizer keine Knechtschaft ertragen. (Synopsis po-
liticae doctrinae, 1623, p. 90.) 8 Besonders wichtig sind die methodo-
logischen Bemerkungen, welche die Vorrede zu der Schrift Principium
et finis politicae doctrinae enthalt. Non aliquant descripsi civitatis ideam,
h. e. talem reipublicae formam, qualem esse velim ex meo sensu : id quod
Plato, Morus, Campanella aliique fecerunt. Sed de politiis jureque publico
dissero, qualia nunc sunt» vel fuerunt olim ; id quod proderit forsan cum
ad kistoricorum, tum rerum, quae indies geruntur, aliqualem dijudicationem
6) Kepleri Epütolae, p. £81.374. Besold war zu wiederholten Malen in Glau-
bensuntersuchung gewesen: I69S mehr als »fanatisch- verdacht ig,« I6S6 mehr als
»katholisch- verdächtig.« (Spittler a. a. 0., S. 300.)
7) So z. B. Principium et finis politicae doctrinae, (1625) p. 78 ff.
8) Auch in der Form ist er nichts weniger, als apodiktisch ; indem er am lieb-
sten jede Frage durch eine Menge \on Citaten beantwortet, denen bloss im Eingange
kurz beigepflichtet wird.
316 Wilhelm Röscher, (54
Ego omnia disctUienda magis a lectoribus, quam statuta ac de finita
soleo semper proferre. Qui quaerunt cauta sollicitudine veritatem, parati,
quum invenerint, cedere, haeretici non sunt, ait D. Augustinus. Pulo haue
libertatem multo minus in politico scripto mihi denegatum tri. Namque hie
cumprimis praescribo, imo adjuro tibi, lector, quisquis es, ea, quae de re-
bus disputo gravissimis, non judicare me, sed disserere ; haud decisionis me
agere arbitrum, sed quaesitoris instar umae praeesse. — Eine solche Sin-
nesart ist vortrefflich geeignet zur historischen Forschung, wofern sie
nicht an der Oberfläche der menschlichen Dinge haften bleibt, sondern
mit scharfer Urtheilskraft in deren Inneres eindringt9. Aber sie ist auch
in Zeiten grosser Parteikämpfe ein fruchtbarer Boden sittlicher Versu-
chungen, selbst für reine und gute Menschen, die nicht entweder Selbst-
kenntniss und Vorsicht genug besitzen, um streng das : Bene vixit, qui
bene latuit, festzuhalten, oder von einer ungewöhnlichen Charakterstärke
getragen werden.
Besolds politische Ansichten, die natürlich mit seiner Volks-
wirtschaftslehre auf das Engste zusammenhängen, erkennt man am
klarsten in seiner Synopsis politicae doctrinae, die er zuerst 1 623 als
Tübinger Professor veröffentlichte, zuletzt in vierter, sehr bereicherter
Auflage 1637 von Ingolstadt aus10. Hier wird gegen die Naturstands-
lehrer auf die natürliche Geselligkeit der Menschen in aristotelischer Weise
Bezug genommen, (p. 1 7.) Republikanisch gesinnt ist Besold nicht. Seine
9) Schon Chr. Thoinasius bemerkt von Besold, er sei zwar durchaus kein skla-
vischer Aristolelesjünger gewesen, habe jedoch neben multa diligentia, magnum inge-
nium nur exiguum Judicium gehabt. Seine Schriften seien oll blosse collectanea, abs-
que iudicio conscripta, male cohaerenlia, frequentibus digressionibus adhuc magis con-
fusa. (Oratt. acadd,, p. 522.) Nach einer nicht unglaubwürdigen Notiz bei Arnd.
Bibliotkeca politico- heraldica p. 246 halte Besold ungeheuer viel gelesen, seine Ex-
cerpte aber grösstenteils durch Candidaten, welche er in seinem Hause hielt, regi-
striren lassen. Die vielen Ungenauigkeiten seiner Bücher seien namentlich dadurch
entstanden, dass seine Gehülfen die Excerpte falsch aufgefasst oder in falsche Rubri-
ken eingetragen, er selbst aber den Fehler nachher zu berichtigen versäumt. Uebri-
gens giebt er, auch hiervon abgesehen, nur zu häufig statt wirklicher Theorie oder
Geschichte eine blosse Nomenclatur mit angefügter Rechtscasuistik : vgl. z. B. die
Stelle von den servis modernis, d h. Bauern etc., in der Schrift: De tribus domesticae
societatis speciebus, (4 626) p. 27.
10) Ein Auszug aus der Sammlung von Abhandlungen, die schon. 161 4 unter
dem Titel: Collegium politicum, ( 6 1 8 vermehrt als Po lilicorum libri //. erschienen sind.
Die Synopsis erlebte noch drei Auflagen nach des Verfassers Tode.
55] Aeltebe deutsche Nationalökonomik. 317
klassischen Erinnerungen bewirken nur die Anerkenntniss, dass die Re-
publik eigentlich die beste, Gott wohlgefälligste Staatsform sei, aber wie
ein Instrument, das am schwersten gelernt und am leichtesten verstimmt
werde. (Vorrede.) In der Wirklichkeit sei es jedoch immer noch besser,
einen schlechten Herrscher zu haben, als gar keinen, (p. 25.) Auf der
andern Seite will Besold aber auch kein monarchischer Absolutist sein.
Wenn er selbst dem englischen Parlamente nicht das Recht zugesteht,
praefracte regt contradicendi, sed tantummodo dissuadendi (p. 97) ; wenn
er sogar solche morts d'etat, wie bei Guise, Marschall d'Ancre etc. für
diejenigen Falle gelten lässt, wo kein ordentlicher Process gegen einen
Staatsverbrecher möglich, (p. 74): so verwirft er doch entschieden die
Staatsvergötterung des Machiavellismus (p. 20) und eifert gegen alle
Theorien, welche dem Fürsten, statt des Imperium omnium, das dominium
omnium zuschreiben, (p. 28.) Alle von Deutschen gegründeten Reiche
detestantur absolutem dominationem, et saltem ralione gubernationis ad an-
slocraticam rationem declinanl. (p. 240.) Dabei hebt doch Besold ener-
gisch hervor, dass allein der Kaiser das Prädicat »Majestät« habe, alle
übrigen Herrscher nur »königliche Würden«, (p, 36.) Wie z. B. Wal-
lenstein selbst in seiner Glanzperiode keine majestas hatte, (p. 46) so
verleihen auch die Kurfürsten nicht eigentlich dem Wahlkaiser seine
Macht, sondern bezeichnen bloss die Person, welche die von Gott un-
mittelbar stammende Kaisermacht ausüben soll. (p. 40.) Die Beschrän-
kung der Krone, die Besold wünscht, soll hauptsächlich von der römi-
schen Kirche ausgehen. Zwar die Tendenzen eines Rossäus und ähn-
licher Monarchomachen erklärt er für Missverständnisse, die vom Papste
selber verdammt seien, (p. 21.) Aber er meint doch, si nou omnia ad
catholicae religionis cultum tendunt, ut illa vel promovealur, vel non impe*
diatur, atheismo prona sternüur via, quae ad interitum, si non temporalem,
at certe aeternum ducit. (Vorrede.) Dass der Papst als paslor communis*
soweit es zum Seelenheil nothwendig ist, eine potestas directiva besitzen
muss; dass er z. B. Unterthanen ihres Eides entbinden kann, wenn ein
katholischer Fürst elhnicus, s. infidelis, alhcus celt. würde: hierüber
stimmt Besold mit Bellarmin völlig zusammen, (p. 43.) Den landes-
herrlichen Novalzehnten erklärt er für omnino absurdum, weil die sämmt-
lichen Zehnten ipso jure der Kirche gehörten, (p. 79.) Ebenso absurd
scheint ihm der landesherrliche Kirchensupremat, (p. 60.) Ueber das Recht,
die Ketzer zu verfolgen, denkt er ziemlich unklar; selbst manche Kalho-
318 Wilhelm Röscher, [56
liken billigen es nicht, wenn die Ketzer nicht zugleich Rebellen sind;
doch verfolgen auch die Protestanten ihre Gegner, wenn sie nur kön-
nen. Es ist auch zwischen pertinacibus dolosis, zelosis et dubilantibus zu
unterscheiden, (p. 63 fg.) Dringend räth Besold, allen Deutschen das
Studieren im Auslande zu verbieten, vornehmlich in Genf und Leyden,
wo sie nur Hass gegen die Katholischen, gegen das Haus Oesterreich
und das ganze Reich einsaugen, (p. 206.)
Sehr vorzüglich ist Besold in der Theorie der Statistik: wie er
denn auch nicht zugeben will, dass die bekannte Pest der Davidischen
Zeit eine Strafe Gottes für die Volkszählung an sich gewesen. (De aera-
rio, p. 176.) !i Von einem fürstlichen Rathe verlangt er folgende Kennt-
nisse : Principem et aulam ex omni parte indagabit, ut et caeterorum ad"
ministronim et eonsiliariorum naturam et mores. Quae quantaqüe sit omni*
ditio principis ; quae provinciae, civitales, oppida, loca Uli ditioni subjeeia
sint ? Provinciae quot millia passuum habeant in longituditie, quot in cir-
cuitu? Locorum ambitum, situm. Vtrum montibus, man, flumine, valb,
fossa, lacu tnunita sint? Quae eornm opportunitates ; an commeatu prohi-
beri possint; an sit überlas vel inopia rei frwneniariae? Quae commoda et
incommoda habeat respublica ? Quidnam in principatu controversum et cum
quibus ac quibus de causis; quae ratio provinciae administrandae, quae le*
ges fundamentales 9 quaejura, leg es, libertates? Quo more utantur, quake
disciplina, usu et consuetudine regantur, quibus rebus delectentur cives, qw*
bus se sustentent9 quomodo erga principem sint affectiv Quodnam vectigal
eorum, quae invehuntur vel evehuntur, ex pascuis agrorum publicorum, ex
sale9 vino, oleo, frumento, ex mercatura, ex subditorum tributist Quodnam
aerarium: an subditi nimiis tributis, vectigalibus, aliisve oneribus preman-
tut? An mercaturae studio teneantur, an opibus abundent? Quantus iro-
litum numerus in qualibet provincia conscribi possit? Quaenam principis
familiae origo ; quae conjunctiones, afßnitates et amicitiae, quae foedera et
quae ex Hs speranda? Quorumnam partes princeps defendendas suscepe-
ritn. (De aerario p. 172 fg.) Alles dies soll nicht bloss auf seiner, durch
II) Die 4 620 erschienene Ausgabe dieses Buches soll bereits die zweite sein.
Ich citire nach der von 4 639.
**) Vergleichen wir dies Ideal mit dem von Heinrich IV. projectirten Staatscabi-
net, wie es Sully im XXVI. Buche seiner Memoiren schildert, so ist das letztere viel
mehr geschäftsmassig praktisch, das erstere dagegen viel mehr wissenschaftlich voll-
ständig. Besold steht damit zwischen Sully und dem vortrefflichen Sir William
57] Akltkre dbutscrk Nationalökonomie . 349
Reisen zu erweiternden Privaterfahrung beruhen, sondern auch histo-
risch auf demjenigen, was Andere gefunden haben, auf der Yergleichung
mit anderen Staaten etc. Zugleich wird dem Forsten ein Personalver-
zeichniss empfohlen, das alle ausgezeichneten Männer jeder Provinz,
jedes Faches etc. enthalt : nicht bloss zu seiner Belehrung, sondern auch
um den Ehrgeiz der Unterthanen dadurch, nach Art eines Ordens, an-
zufeuern. (Ibid.)
Wenn Besold meint, die Oekonomik gehe der Politik voran, (Prin-
cip. et finis potiticae doctrinae, p. 35 ff.) so denkt er dabei nur an die
Privatökonomik. Seine volkswirtschaftliche Lehre ist doch
vielfach mehr ethisch, als ökonomisch gehalten. So z. B. De aerario
publico, p. 15 die entschiedene Betonung: partrimonia summum est vectu
gal. Ebenda, p. 33 sehr unmalthusische ,3 Grundsätze der Armenpflege,
wobei die ausTacitus (Ann. lh 38). bekannte Warnung des Tiberius vor
unbesonnenem Almosengeben schlechtweg impia objectio heisst. Sehr
interessant ist in dieser Hinsicht Besolds Lehre vom Eigenthum. Gott
habe dem Menschengeschlechte ursprünglich alle Dinge als Gemeingut
verliehen, jedoch ohne damit ihre Theilung zu verbieten, die vielmehr im
Interesse des Friedens und der bessern Verwaltung durchaus notwen-
dig war. Sonach ist das Privateigentum zwar menschlichen Ursprungs,
aber in der heiligen Schrift gebilligt. Auch wird man alle, mit demsel-
ben verbundenen Uebelstände nicht durch Wiederherstellung der Güter-
gemeinschaft, sondern durch verbesserte Gesinnung der Eigenthümer
heben können : qui kommet aequare mit, non opes subtrahere debet, sed
arrogantiam, ut Uli potentes atque elati, pares se esse apud Deum mendi-
cissimis suis, 8 ex an t. {De jure et divisione rerum, 1624, p. 24 fg.)
Am hervorragendsten zeigt sich Besolds volkswirtschaftliche Ein-
sicht in seiner Beurtheilung der Kapitalzinsen, die er bereits in sei-
ner Doctordissertation, Quaestiones aliquot de uswis, 4 598 vortrug, um
sie dann später, multifarie nuetam et interpolatam, in der Schrift Vitae et
mortis consideralio polilica (1623) als Kapitel 5 des ersten Buches wieder
Petty {Political anatomy of Ireland, 1691,) nngeffihr m der Mitte. Vgl. meine Ge-
schichte der altern englischen Volkswirtschaftslehre, S. 68 ff.
4 3) Obwohl schon Botero die Hauptpunkte des sog. malthusischen Gesetzes
vortrefflich erörtert hatte, also ein übrigens von Besold gar nicht selten benutzter
Schriftsteller: Ragion di stato, 1592, VIII, p. 93 ff. Dells cause della grandezza deUe
ciitä, 1598, Libro III.
320 Wilhelm Röscher, [58
abdrucken zu lassen14. Hier wird die Unfruchtbarkeit des Geldes im
Verkehr geleugnet. Jedermann darf sich einen Yortheil sichern , wenn
er Anderen dadurch keinen Nachtheil zufügt ; und selbst beim zinsbaren
Darlehen streitet die Yermuthung dafür, dass es dem Borgenden nütz-
lich gewesen, (p. 27.) Besold stellt es daher mit der locatio-conducüo
zusammen (p. 28) : offenbar ein wichtiger Schritt, um den Unterschied
zwischen Kapital und Geld, sowie den Kapitalkern der Gelddarlehen zu
begreifen. Die bekannten Einwände der Theologen wider alles Zins-
nehmen hebt er damit, dass theologia animum informal, politica extemam
conversationetn et socielatem conservat. So muss denn auch das Darlehen
nicht avare, neglecta caritate zurückgefordert werden. Zinsen dürfen
wir nur verlangen, wenn wir gewiss sind, unser Geld habe dem Schuld-
ner Yortheil gebracht, oder uns selbst dessen Ermangelung geschadet,
(p. 33.) Das mosaische Yerbot erklärt Besold aus dem Charakter des
jüdischen Yolkes, ita durae cervicis, ut se gerer e circa usuras tum laesa ca-
ritate vix potuisset. (p. 35.) Auch gilt das Yerbot nur Air den Verkehr
mit Armen ; vielleicht sei es bei den Juden nicht üblich gewesen, mit
geliehenem Gelde Handel zu treiben, Güter zu kaufen etc. (p. 35.)
Uebrigens wünscht Besold, weil der Zins nicht natura, sondern jure ist,
eine obrigkeitliche Festsetzung seiner Höhe (p. 28), zumal wegen der
Schwierigkeit, im einzelnen Falle die Höhe des Interesse zu constatiren.
(p. 36.) Sonst ist gegen wirkliche Wucherer das beste Mittel ein öffent-
liches Leihhaus, (p. 8.)"
14) Ich kenne bloss diese zweite Ausgabe, in einem neuen Abdrucke von 4 641.
15) Halten wir diese Ansichten mit den zum Theil 40 Jahre später geäusserten
des Salmasius zusammen, der insgemein für den ersten wissenschaftlichen Vert hei-
diger der Zinsen gilt, so nehmen wir, verglichen mit dem Standpunkte Besolds, kaum
einen Fortschritt wahr. Auch Salmasius spricht immer von der compensativen Bedeu-
tung des Zinses, wegen lucrum cessans, damnutn emergens und perieuhm (De usuris, p.
176 IT.); auch er stellt das foenus mit der localio zusammen. (j>. 193 ff.) Wenn er
sagt: non pro sorte usura exigitur, sed pro usu sortis [p. 195); wenn er die Un-
fruchtbarkeit des Geldes leugnet , ausser wo der Besitzer es absichtlich unfruchtbar
lässt (p. 198): so führen diese Gedanken doch nicht tiefer in das Wesen der Kapital-
nutzung ein, da er unmittelbar nachher (p. 199) auch die Fruchtbarkeit der Krank-
heiten (für die Aerzte,) der Todesfälle (für die Leicheubesorger,) der Prostitutiou
(für die Dirnen selbst) behauptet. Eigentlich nur durch seine, aus reicher holländi-
scher Beobachtung geschöpfte, sehr viel tiefere und klarere Geldtheorie steht Salmasius
der vollen Einsicht in die Productivilät des Kapitals näher, als Besold. — Ein grosser
älterer Zeitgenosse, Bacon, war von den altherkömmlichen Vorurtheilen gegen das
59] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 321
Der Mercantilismus von Besold ist weniger ausgebildet, als
der von Bornitz. Unser Verfasser steht in dieser Hinsicht ziemlich in
der Mitte zwischen Bornitz und Sully, dessen Verbote der Geldausfuhr
und Waareneinfuhr hauptsachlich auf seiner Abneigung gegen Luxus be-
ruheten ". Besold ist der Ansicht, dass zum Reicbthum eines Landes die
Industrie seiner Bewohner viel mehr beiträgt, als die Fruchtbarkeit des
Bodens oder Edelminen. (De aerario, p. 70.) Er empfiehlt Luxusge-
setze, um die Unterthanen reich zu erhalten ; et omnibus, quibuscunque
fieri pstest, rationibus efficiatur, ne pecunia ad exteros pervenire possil9
(p. 71) wofür namentlich auch Luther citirt wird. Summa studio studere
debet princeps, ut non solum eas dornt habeat merces, quibus ad se extero*
rum monetam aUrahat, sed et imprimis ne praetextu mercium exolicarum
pecunia ad gentes exteros deferatur. (p. 72.) In Bezug auf Münzverrin-
gerungen, die Sully zur Verhinderung der Geldausfuhr empfohlen, (Me-
moires, Livre XIII,) ist Besold freilich ganz abweichender Ansicht : nur
ein massiger Schlagschatz soll erhoben werden ; vielleicht wäre es so-
gar besser, auch diesen fallen zu lassen, (p. 151 ff.) Ebenso deutet
seine hübsche Erörterung über die allgemeine Caritas sine inopia in Folge
der Geldvermehrung (Vitae et mortis consideraHo, p. 13 fg.) aufrichtige
Ansichten vom Wesen des Geldes.
Auf ag rarpolitischem Gebiete zeigt Besold an der Hand der
Geschichte die Verderblichkeit des Zusammenhaufens grosser Ländereien
in Einem Besitze, was neuerdings viel zu wenig beachtet werde. Hier-
mit bringt er das Jubeljahr der Israeliten, die Unveräusserlichkeit der
neueren Familiengüter etc. in Zusammenhang. (Vitae et mortis consid.,
p. 22 ff.) Er scheint in dieser Hinsicht zu den Ersten zu gehö-
Zinsnebmen immer noch stark influirt. Nur wegen der menschlichen Herzenshar-
tigkeii will er den Zins dulden, weil Darlehen schlechterdings nothwendig, ohne Zins
aber ganz unwahrscheinlich seien. Eine Ahnung der Wahrheit geht ihm erst da auf,
wo er den Kaufleuten gegenüber ein höheres gesetzliches Zinsenmaximum vorschlugt,
als für das übrige Volk : nicht allein weil der Handel für einen niedrigen Zinsfuss zu
gefährlich sei, sondern auch weil der Kaufmann seines eigenen höbern Gewinnes hal-
ber einen höhern Zinsfuss ertragen könne. (Sermones fideies, Gap. 39.) Selbst Hugo
Grotius steht in diesem Punkte hinter Besold zurück {Jus belli et paeis II, 4 2, 20);
er hat dem seinerzeit bewundernswürdigen Fortschritte Calvins (Epistolae et re-
sponsa, iVo. 383) das Geld sei nicht unfruchtbar, weil man dafür etwas kaufen kann,
das wieder Geld hervorbringt, kaum etwas hinzuzufügen.
4 6) Vgl. Memoire*, I. XI, XII, XIIIt und besonders XVI.
322 WttoBUi Röscher, [60
reu17, welche die damals immer mehr üblichen Familien/ideicommisse
und Landesgesetzgebungen zur Erhaltung der Bauergüter in weltge-
schichtlichem Zusammenhange theoretisch begründeten. — In Bezug auf
den Kornhandel freilich theilt er noch das ganze Vorurtheil seines
Zeitalters, weiss aber als guter Jurist seine Wucherfurcht wenigstens in
präcisere Worte zu fassen, als damals gewöhnlich. li soUtm vendant,
quorum opera terrae frttclus producti fuerunt. (Synopsis politicae doctr., p.
253.) Also gar kein eigentlicher Handel (Kauf zum Wiederverkauf) mit
Korn! In tbeuerer Zeit soll die Ausfuhr untersagt werden. Ferner
Zwang des Staates gegen alle Kornbesitzer, ihre Vorräthe zu verkaufen,
selbst zu niedrigen Preisen. (Vilae et mortis consid., p. 10 ff.) 18
Von der Gewerbepolitik im engern Sinne des Wortes handelt
Besold eigentlich nur mit Rücksicht auf die Zünfte. Hier tragt er die
Meinung seines Zeitalters vor, aber in ihrer gelagertsten Form. Auto-
nomie der Zünfte über alle ihre Angelegenheiten : nur muss deren An-
wendung eine rahonabilis sein und weder den Staatsgesetzen, noch den
guten Sitten zuwiderlaufen. Keine Abreden zur Monopolisirung der
Waaren, zur Festhaltung hoher Preise etc., zur Beschränkung des Pu-
blicums in der freien Wahl unter den Zunftmeistern. Kein Vertrinken
der Geldstrafen, die vielmehr der Armenkasse zufallen müssen. Die
Fernhaltung der Bader, Müller, Hirtenkinder etc. von der Zunftfähigkeit
verwirft Besold mit den Reichsgesetzen seiner Zeit; die der unehelich
Geborenen nennt er eine proba conmetudo. (Dissertationes de iure rerum,
familiarum etc., 1624, p. 47 ff.) Das meisterhafte Gemälde der spanisch-
portugiesischen Trägheit und Ueberschätzung persönlicher Dienste, (Vitae
17) Auch B od in us war für ein massiges Vorrecht der Erstgeborenen, (keine
spanischen Fideicommisse!) ein geringeres Erbrecht der Töchter, sowie einige Be-
schränkungen der Testamentsfreiheit vornehmlich deshalb, damit allzu grosse Reich-
Ihümer in Einer Hand verhület würden. (De rep. V, 2, p. 823 ff.)
18) Selbst in Holland gehört zu den frühesten Vertheidigern des freien Kornhan-
dels D. Graswinkel Aawnerkingen oude Bewachungen etc., 4 651. Je mehr Koni-
Wucherer im Lande, um so weniger Monopol. Man soll in der Theuerung die Last
nicht allein auf die Kornbesitzer legen, sondern (mittelst Armensteuer elc.) gleich-
massig auf alle Wohlhabenden. Aehnlich de la Court Polit. Discoureen (4662)
/, 4. Und doch hatte bereits in Luthers Zeit Sebasl. Frank die Ahnung ausge-
sprochen, dass die Bosheit der Korn Wucherer von Gott für Nothzeiten gebraucht
werde! (Sprüchwörter gemeyner tütscher Nation; vgl. auch Seb. Franks Wellbuch
fol. 63'.)
61] Aeltebk deutsche Nahonaiökonomik. 388
et mortis consid., p. 19,) ist zwar von Besold nur aus Clenard entlehnt;
doch spricht diese Herübernahme nicht bloss für seine eigene richtige
Ansicht von solchen Dingen, sondern namentlich auch dafür, dass er
sich durch seine politisch-religiöse Parteistellung nicht ganz über Spa-
nien verblenden Hess.
Besolds Regaltheorie ist eine sehr gemässigte. Im Allgemeinen
lehrt er: nova regalia non sub praelexlu absolutae potestalis esse inslu
tuen da. (De iuribus maiestatis, 1625, p. 144 ff.) Wiederholentlich äus-
sert er seinen Abscheu gegen die novi poliHci ex Italia redeuntes, qui
quavis fraude principibus a subdilis pecuniam exlorquere fas licitumque esse
pulant, Machiavelli plerumque praeceptis et exemplis principum, quorum
rationes non capiunl, ad id abutentes. (De aerario, p. 59. 165.) Wider
Geldbussen ist er nicht unbedingt ; er warnt aber strenge, ja nicht den
Rechtszweck derselben hinter den Finanzzweck zurücktreten zu las-
sen. (De aerario, p. 41.) Vermögenseinziehung missbilligt er schlecht-
hin. (Synopsis doctr. polit., p. 243.) Dagegen empfiehlt er, nach Ana-
logie der Sklaverei, die Verbrecher, statt der Verbannung, Geisselungetc,
durch Strafarbeiten nützlich zu machen, sofern dies ohne Verletzung
göttlicher Vorschriften geschehen kann. (De aerario, p. 50.) Aemterver-
käufe nur im dringendsten Nothfalle gestattet. (Ibid., p. 161.) Staats-
monopolien sollen bloss caute et nonnisi ab antiquo ita fuerit observatum
fortdauern: nicht allein, um den Erwerb der Unterthanen nicht zu schmä-
lern, sondern auch, quia in negotiationibus major industria et sollicitudo
requiri videtur, quam quae in officiales publice conductos cadat. (Synopsis
doctr. polit. , ;;. 243 ff.) Aeusserst wichtig! Deshalb ist aller Staats-
handel nur unter drei Voraussetzungen zu empfehlen : dass der Verkehr
dadurch nicht erschwert, sondern gefördert, namentlich von Betrug
freier wird; dass der Staat nicht inländischen, sondern ausländischen
Kaufleuten Concurrenz macht ; dass der betreffende Handelszweig für
Privatleute unmöglich ist. (De aerario, p. 44.) Das Lotterieregal verwirft
Besold schlechthin, quum non tantum finis, sed et media debeant esse ho-
nesta. (Ibid. p. 47.)
In Bezug auf die Steuern hält er das Bewilligungsrecht der Land-
stände mit voller Entschiedenheit fest, wobei er ein Wort Kaiser Maxi-
milians I. anführt, der deutsche Kaiser sei re dei re, der König von Spa-
nien re degli uomini, der König von Frankreich re degli asini. (De aerario,
324 Wilhelm Röscher, [62
p. 63 fg.)19 Von Eduard III. erzählt er ganz ernsthaft, dass er einst-
mals um einen Haufen erpressten Steuergeldes den leibhaftigen Teufel
spielen gesehen, (p. 40.) Er empfiehlt auch eine strenge Controle der
Stände über die Verwendung der bewilligten Steuern, was für die Herr-
scher nichts weniger als ehrenrührig sei. (p. 67.) Hört der Grund der
Bewilligung auf, so muss auch die Steuer aufhören, (p. 69.) Alle fürst-
lichen Räthe müssen sich ins Herz schreiben, consulenles principi, ut nova
imponat tributa et vectigalia sine magna causa, esse in inferno poems tarla-
reis cruciandos perpetuo. (p. 1 67.) Besold erinnert daran, dass harter
Steuerdruck nach Salvian den Barbaren die Strasse zur Eroberung des
römischen Reiches gebahnt hat. (p. 82.) Von den einzelnen Steuerarten
ist er mehr fllr indirecte Steuern, (vectigalia von vectura,) als für directe,
(tributa,) weil man verhältnissmässig leichter etwas abgiebt, wenn man
selbst eben gewonnen hat. Ebenso lobt er Ausfuhrzölle mehr, als Ein-
fuhrzölle * namentlich wenn sie den Fremden vor den Einheimischen
treffen, (p. 77.) Seine Abneigung wider Steuern auf nothwendige Le-
bensmittel, sowie gegen Albas zehnten Pfennig (hoc onus Belgium Hi-
spano ademisse videturf) war damals keine persönliche Eigentümlich-
keit, (p. 79 ff.) Bei directen Steuern ist er sehr für die aliquote Form:
humanuni magis est, imponere cerlam frugum partem, »denn wan man
jährlich etwas Gewisses für Hagel und Wind reichen thut«. (p. 87.)
Die Steuerfreiheiten verwirft er entschieden. Wenn bisher für die Frei-
heit der Ritter genügende militärische Gründe sprechen, so haben diese
doch jetzt sämmtlich aufgehört, (p. 91 fg.)21
Besolds Aeusserungen über Staatsschulden sind ebenso cha-
rakteristisch für den Uebergang aus der rein privatrechtlichen Auffassung
des Staates in die staatsrechtliche, wie für das gänzliche Fehlen der
neueren Creditideen. Sind die Unterthanen verpflichtet, ihres Fürsten
Schuld zu bezahlen? Nein, falls die Schuld aus Gründen des Luxus etc
4 9) Wenn die zu wünschende Freiwilligkeit der Steuerzahlung u. A. auf das eng-
lische Institut der Benevolenzen gestützt wird, (p. 1 54) so ist das freilich eine grosse
Verkennung dieses letztern.
SO) In der Wirklichkeit sind bei den meisten Völkern Ausfuhrzölle früher üblich
geworden, als Einfuhrzölle : in Frankreich z. B. jene für eine Menge wichtiger Han-
delsgegenstände schon 4 304, diese erst 1549.
21) Von S. 94 — 4 50 enthält das Buch De aerario eine sehr weitläufige Abhand-
lung von Fragen aus dem Steuerrechte.
63] Aeltebe deutsche Nationalökonomie. 325
entstanden ist ; ja, wenn sie aus einer notwendigen Ursache herrührt !
Auch kann das Volk nicht glücklich sein , wenn sein Land nicht von
jedem Pfandnexus frei ist. Daher werden sich kluge Stände nicht im-
mer gegen Debernahme einer Steuer zur Schuldtilgung sträuben, und
nur desto sorgfältiger die Wiederkehr des Uebels zu verhüten suchen.
(De aerario, p. 55.) Uebrigens stimmt Besold ganz mit Bodinus über-
ein, dass jede Staatsanleihe ausser im dringendsten Nothfalle, aerarii ac
civitatis moliri eversionem. Namentlich sei nichts verderblicher und thö-
richter, als einen Krieg von vorne herein auf Anleihen zu stützen.
(p. 155.)
Ein in vieler Hinsicht interessantes Gegenstück zu Besold bildet der
so oft von ihm citirte AdamContzen22, ein angesehenes Mitglied des
Jesuitenordens, Beichtvater bei den Fürstbischöfen von Bamberg und
Würzburg, eine Zeitlang sogar am Hofe Maximilians von Bayern, dann
Professor zu Mainz. Sein Hauptwerk: Politicorum libri X (1629) ist
»dem unbesiegten« Kaiser Ferdinand II. gewidmet. Er steht recht im
Mittelpunkte der damaligen katholischen Reaction, obwohl seine Ansich-
ten für diesen Standpunkt verhältnissmässig moderirte heissen können.
Aber wie viel geringer ist er in wissenschaftlicher Hinsicht, als Besold !
Von Geschichte redet er zwar genug : seine furchtbare Weitschweifig-
keit besteht zum grössten Theile in übel gewählten , pedantisch breiten
und doch im Einzelnen oft sehr ungenauen Geschichtsbeispielen. Aber
höchst selten findet sich eine Spur von geschichtlichem Geiste23. Ueberall
nur der jesuitische Doctrinär, der nach dem Grundgedanken seines Or-
dens einen wesentlich mittelalterlichen Zustand von Staat und Gesell-
schaft durch geschickte Benutzung einiger modernen Kunstgriffe wieder-
herstellen, ja verschärfen will.
Seine volkswirtschaftlichen Ideen sind im VIII. Buche : De poten-
tia reipublicae, enthalten. Hier äussert er sich über die Notwendig-
keit des Reichthums mit einem Enthusiasmus, der im Munde eines Geist-
lichen, ja Mönches doch etwas geradezu Verletzendes hat. (Cap. 5.)
Daneben die strengste Wuchertheorie des kanonischen Rechts: Zins-
tt) Gestorben 1 635 in einem Alter von mehr als 60 Jahren.
23) Wie z. B. p. 662, wo er den Luxus roher Völker dahin Charakteristik : quo
quaeque getis magis barbara est, eo pluribus imperitare domi gaudet.
3S6 Wilhelm Roscra, [64
glaubiger sollen wie Diebe peinlich gestraft, alle Joden als venenalae be-
stiae mit Verlust ihres Vermögens zum Lande hinaus gejagt werden.
Contzen erinnert an die glorreichen Herrscher, welche dies wirklich
gethan ; er zeigt , wie es den Juden selbst zum Heil gereichen müsse.
(Cap. 17.) Ausserdem sollen montes pietatis dem Wucher steuern.
(Cap. 18.) — Er lobt die Gewerbe und empfiehlt deren Beförderung,
freilich in unpraktischer Allgemeinheit, als im eigenen Interesse des Staa-
tes liegend. (Cap. 1 5.) Gelegentlich denkt er auch an ein Verbot, inferri
merces, quibus patria et nativa viliora fitmt. Dem Handel rühmt er nach,
dass die Waaren durch seine Transportarbeit verbessert (d. h. brauchbarer
gemacht) würden, selbst wenn einige physische Verschlechterung damit
verbunden wäre. (Cap. 10.) Gewiss ein nicht unbedeutender Fortschritt
gegen die Ansicht von Montaigne: Le proufict de Vun est le dommage de
Faultre, und von Bacoo: Quidquid alieubi adiicitur, alibi detrahiluru.
Auch das Lob. welches der Rechtspflege durch sachverständige Berufs-
genossen ertheiR wird, ist eine geistvolle Zukunftsahnung; (Cap. 11)
wenn es schon vielleicht gemeint war als Reminiseenz aus dem Mittel-
alter. Um so schroffer sticht dagegen ab die ganz rohe Lobrede auf die
Sklaverei, die sowohl aus Gründen der Wohlfeilheit, als der Arbeitswirk-
samkeit empfohlen wird, selbst für die Staatsfinanzen Ä. (Cap. 1 5.) —
So missbilligt er die meisten Regaltyranneien seiner Zeit (Cap. 1 9) ; des-
gleichen die meisten jener Plusmachereien, welche im zweiten Buche
der aristotelischen Oekonomik aufgezählt sind. (Cap. 16.) Daneben räth
er jedoch, wie sein Orden mit so grossem Erfolge praktisch gethan, statt
der Besteuerung des Volkes Regierungshandel zu treiben. (Cap. 10.)
Einen fast noch grellern Gegensatz bildet sein Eifer gegep Steuerfrei-
heiten, sowie die Forderung, dass jede Steuer, um gut zu sein, potesta-
tem, causam und proporlionem voraussetze und eessante causa aufhören
müsse, (Cap. 7) zu dem höhnischen Worte, (Cap. 6) die Niederländer
seien von Spanien abgefallen, um nicht den zehnten Pfennig zahlen zu
müssen, und jetzt würden sie froh sein, wenn sie den zehnten Pfennig
24) Montaigne Essais /, 21. Baco Sermones fideles, Cap. 45.
25) Contzen denkt hier freilich nur an eine milde Sklaverei, will sie auch vor-
zugsweise für gefangene Türken oder solche Inländer bestimmt wissen , die aus Na-
turfehler, schlechter Erziehung, Verführung etc. ihre Freiheit nicht wohl ertragen
können.
65] Aeltehe deutsche Nationalökonomik. 327
behielten. Echt mittelalterlich ist die mehrfach geäusserte Vorliebe
Contzens für Natural- und Arbeitsstenern, (Cap.7) namentlich für leichte
Staatsfrohnden, welche nach eigener Wahl der Pflichtigen entweder in
Natura oder in Gelde abgemacht werden können (Cap. 8.)
V.
Die Kipper- und Wipperliteratur.
Bei der grossen Bedeutung, welche das Mttuzwesen ftlr die ganze
Volkswirtschaft, und das Münzregal insbesondere für die Staatsgewalt
hat1, ist es kein Wunder, wenn sich in der Münzgeschichte wie in
einem engen Rahmen die ganze Geschichte des Volkes und Staa-
tes abspiegelt. So verbanden z. B. die altfränkischen Könige bis auf
Karl d. Gr. mit ihrer verhältnissmassig starken und concentrirten Staats-
gewalt auch das ausschliessliche Münzrecht : beides zum grossen Theil
auf Anknüpfungen an das römische Staatswesen beruhend. Wie nach-
mals die Staatsverfassung durch das Aufkommen der Landeshoheit zu
einer wesentlich aristokratischen wurde, erfolgten gleichzeitig die zahl-
losen Verleihungen des Münzrechtes an grosse Unterthanen; und zwar
machten sich in beiden Fällen ziemlich parallel erst die geistlichen, dann
die weltlichen Herren, hierauf die Reichsstädte, zuletzt sogar, wenig-
stens factisch, viele Landstädte von der frühern Abhängigkeit los. Wenn
es in Deutschland auf der Höhe des Mittelalters gegen 600 verschiedene
Münzstätten gab 2 ; wenn jeder Münzherr in seinem Gebiete den Umlauf
anderer deutschen Münzen verbieten, die fremden Kaufleute zwingen
konnte, ihr Geld mit seiner Landesmünze zu verwechseln ; wenn es eine
der beliebtesten Finanzspeculationen war, alle umlaufenden Münzen ein-
zurufen und nach Abzug eines hohen Schlagschatzes umgeprägt wieder-
4 ) Letzteres nicht bloss wegen des Schlagschatzes und der Handelspolizei, son-
dern auch aus allgemeineren Gründen, welche die tiefsten Wurzeln des Verhältnisses
zwischen Volk und Herrscher berühren. Noch heutzutage ist im Orient das Prägen
von Münzen das anerkannteste Zeichen der Souveränetät; und von den Ursachen,
welche den schlafenden Bonapartismus während der Restauration und Juliusmonarchie
lebendig erhielten, ist es keine der geringsten, dass die übliche Goldmünze im Volks-
munde immerfort den Namen Napoleons führte.
2) Vgl. Heineccius De nummia Goslar., p. 4.
Abhandl. d. K. 8. Oet. d. Witt. X. 22
328 Wilhelm Rose heb, [66
auszugeben3: so ist das eine Periode im Mttnzwesen, die sich wohl ver-
gleichen lässt mit dem politischen Interregnum und Faustrecht des 1 3.
Jahrhunderts. Nicht viel geringer 4 war die Münzanarchie in Frankreich
während der aristokratisch-territorialen Zeit ; sie wurde hier aber durch
eine schrittweise Rückkehr zum Mtlnzregale in derselben Zeit gehoben,
wo auch politisch durch Unterwerfung der Grossen die spätere absolute
Monarchie sich vorbereitete. In Deutschland war dieser Weg nicht
möglich. Doch entsprechen den vielen Bündnissen, welche im 1 4. und
1 5. Jahrhundert zwischen Fürsten, Rittern und Städten geschlossen wur-
den, zum Ersätze dessen, was Kaiser und Reich versäumt, die vielen
Münzverträge derselben Zeit. Das Ende des 1 B. und der Anfang des
1 6. Jahrhunderts sind in politischer Hinsicht ausgezeichnet durch eine
Menge wohlgemeinter, zum Theil grossartig angelegter Versuche zur
Concentrirung und Organisirung des Reichs : ich gedenke nur der Reichs-
gerichte, der Kreistheilung, der Reichspolizeiordnungen, der peinlichen
Gerichtsordnung etc. Leider waren die wirklichen Ergebnisse von
alle Dem sehr gering. Und gerade so ging es mit den drei- Reichsmünz-
ordnungen derselben Zeit. Vielmehr wie am Ende, trotz jener politi-
schen Einigungsversuche, der dreissigjährige Krieg die Anarchie des
Reiches vollendete, so im Münzwesen trotz jener Reichsmünzordnungen
die Kipper- und Wipperzeit.
Wollte man diese Kipper- und Wipperzeit von einem ganz
bestimmten Zeitpunkte an datiren, so würde man in Verlegenheit kom-
men. Denn die wetteifernde Ausprägung einer immer geringern Scheide-
münze, weit über den Scheidebedarf hinaus, wodurch allmälich die gu-
ten groben Sorten verdrängt und die gesammte Circulationsmasse ent-
werthet wurde, geht durch mehr als ein Menschenalter. Auf dem Reichs-
3) Hier und da sogar zweimal in einem Jahre! (Glosse zum Sachs. Landrecht
II, 86.)
4) Ganz so schlimm, wie in Deutschland, wohl nicht, obschon zu Philipps IV.
Zeit 300 geistliche und weltliche Vasallen das Münzrecht aasübten. Aber auch nach
Thomas Aquinas De reg. prineiputn II, 13 muss Deutschland besonders schwer an
kranken Münzsystemen gelitten haben. In England hat sich das Münzregal viel unge-
störter behauptet, gerade so, wie auch die Staatsgewalt im englischen Mittelalter keine
solche aristokratische und provinziale Zersplitterung erfuhr, wie in Deutschland und
Prankreich. Der Einfluss dieser Thatsache auf das Münzwesen lässt sich danach mes-
sen, wie sehr viel weniger die englischen Pfunde Sterling, Schillinge etc. gegen frü-
her an Silberwerth verloren haben, im Vergleich mit den französischen oder deutschen.
67] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 329
tage von 1566 wurde bestimmt, dass 68 Kreuzer gleich einem Thaler
gelten sollten5; indess fuhren gleich damals einzelne bedeutende Terri-
torien mit ihrer bisherigen Prägung von 72 Kr. = 1 Thaler ruhig fort.
Um 1 585 nahmen die Kaufleute der Frankfurter Messe den Thaler zu
74 Kr. an. Im December 1 596 ward er von kaiserlichen Gommissarien
zu Strassburg auf 84 Kr. »erhöhet«. Ganz besonders aber nimmt die
Mttnznoth in den ersten Jahren des dreissigjährigen Krieges zu , wo ein
förmliches bellum omnium contra omnes unter den Münzstätten geführt
wurde. Nach der Au ff- und Absteigungstafel in David. Thoman. ab
Hayelslein Acta publica monelaria l,p. 54 ward der Reichsthaler an mass-
gebenden Stellen amtlich gewttrdert :
1616 und 1617 zu 90 Kreuzern
1618 »92 »
1619 » 108—124 »
1620 » 124—140 »
1621 » 140—270 »
1 622 (Februar und März) bis zu 600 »
Und zwar hatte namentlich das Jahr 1 62 1 jeden Monat eine andere Val-
vation, oft sogar mehrere in demselben Monate. Selbst in Kursachsen
wurde z. B. dem Münzpächter zu Hayn am 12. Mai 1621 gestattet, die
feine Mark in Groschen und Schreckenbergern zu 6272 Gulden auszu-
bringen, wofür er dem Kurfürsten wöchentlich 300 Gulden Schlagschatz
entrichten sollte ö. Unter den Heilversuchen, die auf der Höhe des Ue-
bels gemacht wurden, ist ausser den zahlreichen Verboten der Waren-
ausfuhr sowie der Ausfuhr guten Geldes am auffälligsten die grosse
Menge obrigkeitlicher Zwangstaxen für alle wichtigeren Lebensbedürf-
nisse, die namentlich 1 623 erlassen wurden, als man sich ernstlich ver-
abredet hatte, wieder zum Mttnzfusse von 1617 (90 Kreuzer auf den
Thaler) zurückzukehren. Wissenschaftlich viel interessanter sind die
Girobanken zu Hamburg (seit 1619) und Nürnberg (seit 1621), die in-
mitten der allgemeinen Sttndfluth auf halbprivatem Wege doch wenig-
stens zwei sichere Inseln bildeten.
Die Literatur dieser trostlosen Epoche können wir am
besten in zwei Gruppen theilen : populäre Schriften, die namentlich in
5) Hirsch Münzarchiv II, S. 13.
6) Vgl. Klotz seh Chursächsische Münzgeschichte II, S. 463 ff.
22*
330 Wilhelm Roschei, [68
bellettristischem Gewände gegen das Kipper- und Wipperthura ankämpfen ;
sodann wissenschaftliche Erörterungen. Sind die letzteren bezeichnen-
der fUr den Zustand der Doctrin, so die ersteren für den Grad der Volks-
bildung, zumal Geschmacksbildung ihrer Zeit.
Wie man die damals so beliebte Form der Allegorie7 auf das
vorliegende Gebiet anwandte, davon mögen folgende Auszüge ein Bild
geben.
»Discurss etzlicher Personen von dem itzigen Zustande der Kipper
und Wipper : wie nehmlich ein Messpfaffe so viel Goldt und Geldt bey-
sammen hat, dass er nicht gewusst, wo er damit hin soll. Endlich gibt
sich ein einfeUiger Wipper an, und weil auch ein Landtjuncker in einer
Stadt ein Wagen voll Schaffs-Käse feil hat, da seynd mehr als in die zwei-
hundert Wipper, die drungen sich auff den Wagen, dass kein arm Mensche
dazu kommen kundte ; zuletzt, als der letzte Wipper vom Wagen herun-
ter steigt, so hat er fast ein Centner Geldt am Halse und tritt dem Edel-
mann die eine Ax am Wagen entzwey. Item, was es auch endlich mit
diesen Personen fllr einen Aussgang gewinnt. Gedruckt zur schweren
Müntze bei Wippershausen, Anno 1621.« — Ein überaus lederner, mit
Schimpfworten angefüllter Dialog, worin Pfaff, Narr, Handwerker, Jun-
ker, Wipper, Bauer, Bettler, Landsknecht, Tagelöhner und Tagelöhnerin
vorkommen.
»Der Wartzken-Mann von Kippern und Wippern, Bericht gebendt,
wo die K. hergekommen, wo Müntz ihre Roth genommen. Etwa auff-
gefilhrt, in Reim torquirt, mit Wahr geziert und erudiert durch den Jun-
gen Caspar Kinkeln von Klosterlitzsche. Im Jahr: Herr Wipper soL
aVffs hohe RaDt, Dann ers ganz LanD beraVbet hat.« (1 621.) — Einem
7) Sehr charakteristisch ist in dieser Hinsicht die Siegesmünze, welche Kurfürst
August von Sachsen auf den Sturz der Melanchthonianer prägen liess. Er selbst im
Harnisch, mit der einen Hand das Kurschwert, mit der andern die Wage haltend, ,
steht auf dem Schlosse Harten fels, wo der entscheidende Landtag gehalten war. Ue- i
her der Wage schwebt die Dreieinigkeit. In der sinkenden Schale sitzt das Christ-
kind mit der Umschrift: »die AlmachU; in der steigenden sitzen die vier Wittenberger
Theologen, über ihnen der Teufel, die sich vergeblich anstrengen, ihre Schale, deren
Umschrift: »die Vernunft« lautet, herabzudrücken. (Tenzel Saxonia nutnismatica, i
Albertin. Linie, S. 4 37 ff.) Seit dem niederländischen Aufstande war die, den Jesui-
ten sehr empfindliche, Literatur der satirischen Flugschriften mit Holzschnitten be-
deutend geworden, in der z. B. Fischarts Gemälpoesien hervorragen. ,
69] Aeltkre deutsche Nationalökonowk. 33|
Arzeneihändler in den Mund gelegt. Die Kipper sind aus dem Samen
einer Blume, die aus dem Blute hingerichteter Verbrecher entsprossen.
Weil sie Kipper heissen, darum »kuppern Geldt,« und ähnliche Witze.
Besser ist die aus dem Leben gegriffene Erörterung, wie alle Uebrigen
ihre Waarenpreise steigern, bloss die Beamten, Pfarrer, Schulmeister,
Studenten, Regenten nicht, überhaupt der nicht, »der sein gewisse Sol-
dung hebt.«
»Jedermannes Jammerklage von der falschen Wipper Wage.« Ohne
Druckort, 1621. — Nach einander klagen hier in Knittelversen Bettler,
Tagelöhner, Gesinde, Boten, Spielleute, Bergleute, Handwerksmann,
Bauer, Kaufmann, Student, Theolog, Medicus, Jurist, Hoffrath, Edelmann,
Prälat, Graff, Fürst, Hertzog, König, Kayser, Gott. Hierauf klagen alle
Münzsorten einzeln, vom Heller bis zum Ducaten; dann Silber, Gold,
Kupfer. Zum Schluss die Grabschrift eines Kippers in Form eines Ge-
sprächs. Alles in hohem Grade langweilig und geistlos.
»Wachtelgesang, d. i. warhafftige, gründliche und eigentliche Nah-
mens-Abbildung, wie man nemlich jetziger Zeit das schändliche heillose
Gesindlein der guten Müntz-Ausspäher und Verfälscher, welche der Teuf-
fei als ein Meister alles Betruges in diesen letzten Häfen der Welt auss-
gebrütet hat, in dem Wachtelschlag oder Gesang so artig und deutlich
mit ihrem rechten Nahmen genennet und nahmhaQl gemacht worden.
Darbei dann Augenscheinlich zu sehen, was vor unaussprechlicher Schaden
das Teuffelische Geldverfälschen unserm lieben Vaterland Deutscher Na-
tion zugefilget wird, wie auch aller Stände, sonderlich aber des lieben
Armuts eusserstes verderben muthwilliger weise dardurch verursacht
und mit Fleiss gesucht wird. Gestellet von Crescentio Steigern, Valde-
Joachimico. Gedrucket zu Kipswald, am kleinen Schreckenberg 8 gele-
gen. Im Jahr Dar Innen GoLD VnD SILber rein In KVpffer Ist Verkehrt.
0 Pein!« (1621.) — In Knittelversen. Der Witz drehet sich um den
Wachtelruf: Kippdiwipp. Von der Poesie genügt folgende Probe.
»Dass solche loss verfluchte Leut
In Rürtzen es dahin gebracht,
Welchs kein Mensch auff der Welt gedacht,
Dass ein Reichst haier in der Summen
Sobald sollt auf 5 Gulden kummen.
8) Man erkennt die witzlosen Anspielungen auf die JoachimsthaJer, die Schrecken-
berger Münzen etc.
332 Wilhelm Röscher, [70
Welches mein Nachbarn wird missfallen,
Der jetzund sol sein Hauss bezahln
Andre wercjen dess auch nicht froh,
Die Species in deposito
Genommen haben vor vier Jahren,
Müssens mit Schaden jetzt erfahrn etc.«
»Historische Relatio, dass jüngst 1 . und 2. Nov. Allerheiligen dieses
1 621 . Jahres in Parnasso unter den Göttern über jetzigen in Teutschland
wesendem Kriegs - und Müntzwesen gehaltenen Rathschlag. Wie der-
selbige observiret und aufgenommen durch Chrislodorum Pistopatriotam
Vargium.« (Ohne Druckort.) — Mit sehr viel eingemengtem Latein, über-
haupt sehr zopfig, aber nicht ohne Geist, grobianischen Geist9. Mars mit
seinen Genossen und Mercur mit den seinigen wird bestraft. Den Krieg
giebt der Verfasser hauptsächlich den Essuiten oder Jesuwiddern Schuld,
wobei u. A. selbst die engen Hosen der Ordensbrüder vorkommen. (»Da-
mit, wenn sie bei jungen Weibern liegen, nicht allzeit die Hosen auff-
binden, oder durch dicke Kleyder gehindert, jnen der Pinsel zu kurz
werde.«) Schliesslich wird den Kippern und Wippern aus dem Corpus
Juris nachgewiesen, dass sie sacrilegium, crimen laesae majestalis began-
gen, die lex Julia de vi publica, lex Cornelia de sicariis, lex Julia de an-
nona übertreten haben, crimen falsi, Injurien, Diebstahl üben, usurarii
sind u. dgl. m.
»Mysterium mysteriorum mundanorum, d. i. ein Welt- und Geldge-
heimniss, oder kurze Satyra und freyer Discurs, darinnen öffentlich recht
und respective theologico-politice von dem grossen Mangel, so bey Reichen
und Armen mit grossem klagen und seufltzen in der gantzen Christen-
heit im schwang gehet, tractirt und die Welt proponirt wird: 1) der
hochschädliche Weltschad der Geld Aufschlag ; 2) der schändliche un-
leidliche unerträgliche und unverantwortliche Wucher dess interesse per-
cento; 3) der schändliche und unleidliche auffkauff der Victualien und
Wucher zu wohlfeilen Zeiten auf künftige Thewrung, Auffschlag und
Unglück.« Von MM. C. (Ohne Druckort, 1 620.) — Eine sehr geschmack-
lose Erfindung. Dem Verfasser träumt 10 von einer unermesslichen Volks-
9) Wer diese Schrift mit dem Hans Sachsischen Götterrathe über Deutschland
(1544) vergleicht, der wird freilich einen merkwürdigen Abstand zu Ungunsten jener
finden. Näher liegt die Vergleichung mit Fischart.
10) Gerade, wie im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts die Pritschmeislergc-
?*] Aeltebe deutsche Nationalökonomik. 333
Versammlung, die über die schweren Zeiten betrübt ist, und von wel-
cher er nun aufgefordert wird, seine Vorschlage zur Abhülfe der Noth
zu machen. Dieser Eingang ist 9 Seiten lahg, die eigentliche Rede 1 4V2
Seiten. Wenn S. 26 über den Zinsfuss von 7 — 20 Procent geklagt
wird, so ist das in jener Zeit des Krieges und der Münzfälschung nicht
unbegreiflich.
Auf einer Mittelstufe zwischen der bellettristisch -populären und
wissenschaftlichen Behandlung der grossen Zeitfrage steht: »Vindicatio
et excusatio publicanorum germanicorum propria, d. i. Eigene Ehrenret-
tung und Entschuldigung der jetzigen Deutschen Zöllner, Wipper, Kip-
per, newer Müntzer, Land- und Leut-Betrieger etc. Auch derselben
überaus grosser Nutz, empfindliches Heil und erspriessliche Wolfahrt,
die sie unserm lieben Vaterlande (wie sie gentzlich darfür halten) sollen
und wollen gestiftet haben etc. Durch Fochum Neunmann Ramburgen-
sem, Theol. Stud.« 1622. (Ohne Druckort.) — In sehr schlechten Ygr-
sen wird hier die Selbstverteidigung der Kipper und Wipper ausge-
führt und widerlegt. Namentlich, dass ihr Verfahren sie bereichere,
ohne doch jemand Anders zu schaden ; (die Theuerung schadet Allen,
auch den Kippern selbst, oder doch ihren Kindern mit.) Dass ihre Theue-
rung in der Bibel geweissagt sei ; ja, aber mit Ungeziefer, Heuschrecken
etc. zusammen, und denen gleichen die Kipper wirklich.) Endlich,
dass es doch eben ihr Handwerk sei, dem auch der göttliche Segen
nicht fehle ; (der Verfasser stellt es mit dem Diebstahle zusammen.) Die
Theuerung der Waaren erklärt unser Buch nur daher, dass die Kipper und
Wipper ihr ttbersilbertes Kupfer auszugeben suchten, bevor es roth wurde,
auch sonst wegen ihres leichten Erwerbes furchtbar verschwendeten.
Eine sehr eigentümliche Ausartung der damals allmälich abster-
benden Gewohnheit, alles geistige Leben theologisch zu färben, sind die
zahlreichen Parodien geistlicher Themata zu weltlichen Zwecken. So
z. B. »Ein newe Litaney, Beedes für die arme nohtleydende Christen
unnd für die reichen unbarmherzigen Juden. Gestellt durch Lazarum
Patientem von Armutheya. Gedruckt zu Pressburg im Hungerland, 1624,
Im Monat : Wenn man singt von dem heyligen Geist, da das Korn gilt
am allermeyst.« — Nach unserem Gefühle durchaus blasphemistisch.
dichte gern mit einem Traume eingeleitet werden: vgl. Gervinus Gesch. der deut-
schen Nationalliteratur HF, S. 4 44.
0
334 Wilhelm Roscheb, [72
Links steht das Christliche, rechts das angeblich Jüdische. »Kyrie Eley-
son. (Gieb mir meh Geld z'Iösen.) Ghriste Errhöre uns. (Kiste Bereiche
uns.) Herr Gott Vater im Himmel. (Herr Mammon unser Vater.) Herr
Gott Sohn der Welt Heiland. (Herr Gold unser Heiland.) Herr Gott hei-
liger Geist. (Herr Geld heilloser Geist.)« U. s. w. — So ist das »Evange-
lium zu lesen von dem hochstraffbarlichen Unwesen der Kipper und
Wipper« (Ohne Druckort, \ 622.) eine sehr frivole wörtliche Parodie von
Matth. 11, 2 ff. Ganz nach Art eines geistlichen Liedes geht die Schrift :
»Der Armen Seufftzen über der Ungerechtigkeit, so überhand nimpt diese
zeit, durch übermacbtes Müntzn und Wippen, die d' Armen ins Verder-
ben kippn. Gestellt zu Nutz dem Vaterland durch einen der Gregor
Ritzsch genandt. Leipzig : im Jahr, da gute Müntz verschwandt, Kipper
VerDerben eVr LeVt VnD LanD.« (1621.)
Unter den zahllosen Predigten, welche gegen die Kipp wipperei
./ gehalten und zum Theil auch gedruckt sind, hebe ich nur eine hervor
^ ^ von Joh. (fepfelbach, Pfarrer zuLössnigk: »Wippergewinnst, d. i. christ-
liche und wohlmeinende Erinnerung an die unchristlichen Geldhändler,
so den zuvor unerhörten Namen K. und W. führen, durch welche aller-
ley Landsbeschwerung eingeflihret und verursacht worden, da sie zwar
Geld und Gut gewinnen, doch hingegen Gottes ernste und unausblei-
bende Straffe verdienen. Ob doch etliche etlicher Massen in sich gehen,
und ihrem eigenen Verderben, danach sie gehen, entgehen möchten.«
(Leipzig, 1621.) — Eine nicht üble Predigt in Versen. Gleich Anfangs
wird der Krieg mit Recht als eine günstige Gelegenheit für die Wipper
bezeichnet. Ebenso treffend geschildert, wie diese letzteren alles gute
Geld zurückhalten, mit dem schlechten Immobilien kaufen etc. Die
Gründe, womit sie ihr Thun zu vertheidigen pflegten, waren vornehm-
lich folgende : Kaufleute müssen von ihrem Handel leben ; Geldhandel
ist ebenso erlaubt, wie Handel mit Waaren ; thue ich's nicht, so thun es
andere Leute ; man muss sich nach der Zeit richten ; viele Dinge wer-
den jetzt üblich, die es früher nicht waren ; u. dgl. m.
Als wissenschaftliche Bekämpfer des Münzunwesens
gelten in dieser Zeit besonders Geitzkofler, Henckel, de Spaignart und
Lampe, die nicht bloss von den Zeitgenossen als Auctoritäten citirt wer-
den, sondern zum Theil noch lange nach ihrem Tode11.
4 4) So ist z. B. während einer spätem Münzverwirrung, gleichseitig mit den
Raubkriegen Ludwigs XIV., zu Frankfurt und Leipzig 4 690 eine anonyme Schrift
73] Aeltere deutsche Nationalökonomie. 335
ZachariasGeitzkoflerzu Gaylenbach, Ritter und kaiserlicher
vornehmer Rath, gehörte unter K. Matthias und Kiesel zu den Gemäs-
sigten, welche vor den Heisspornen der katholischen und absolutisti-
schen Partei, wie z. B. der nachmalige K. Ferdinand IL, zu warnen
pflegten 12. Seine Schrift : »Ausführliches in den Reichs Constitulionibus
und sonsten in der Experienlz wolgegrttndetes Fundamental Bedencken
über das eingerissne höchstsch&dliche Mttntz Unwesen und stäygerung
der groben Geltsorten von Golt und Silber,« ist ein dem Kaiser gegebe-
nes Gutachten, welches nach dem Tode seines Verfassers von einem
»Liebhaber der Gerechtigkeit der teutschen Nation zum Besten« 1622
zum Druck befördert wurde. — Er bemerkt hierin treffend, dass »zwi-
schen Gold und Silber per naturam rerum im Werck nimmermehr keine
gewisse Vergleichung zu finden,« obschon das Reichsmttnzedict eine ge-
wisse Proportion festsetze. (S. 28.) »Der wesentliche Reichthum besteht
in der Substanz des Goldes und Silbers.« (S. 31«) Dieser münzpolitisch
ganz richtige Gedanke wird dann freilich zur Unterlage eines Mercantil-
systems gemissbraucht. Es sei wfinschenswerth, Gold und Silber mög-
lichst im Reiche festzuhalten. Deutschland werde alljährlich ärmer, weil
die ausgehenden Waaren viel weniger Werth haben, als die eingehen-
den, zumal solche unnützen Scheinwaaren, als Borten, Seiden, Sam-
met etc. Daher sollte man streng auf die Luxusverbote der Reichspoli-
zeiordnungen halten, die Ausfuhr ungemttnzten Goldes und Silbers ver-
bieten, die des gemünzten an jeweilige obrigkeitliche Erlaubniss bin-
den etc. (S. 48 fg.) 13
erschienen: »Das bey dieser Zeit landverderbliche Müntzwesen, worinnen vornemblich
dieser Hauptpunkt und Frage mit vielen' Beweissgründen examiniret und ausführlich
erörtert wird : Ob eine hohe Christliche Obrigkeit, umb ihres eigenen Nutzens willen,
die Müntze von Zeit zu Zeiten umbzumüntzen, schlechtere und geringere daraus zu
machen, mit gutem Gewissen zulassen und billigen könte, u. s. w.c — Fast ganz der
wiederaufgewärmte Spaignart, doch ohne dessen Namen zu nennen 1
4 2) Vgl. sein merkwürdiges Schreiben bei Londorp Acta publica /, S. 4 84 fg.,
worin er sich auf Thuanus beruft und den Gang des spätem dreissigjährigen Krieges
ziemlich voraussagt.
4 3) Geistig verwandt mit Geitzkofier ist eine Reihe mehr oder minder lehrrei-
cher Münzbedenken der Reichskreise, die, zwischen 4 603 und 4 607 ergan-
gen, alle schon über grossen Verfall des Münzwesens klagen. Das fränkische Beden-
ken trägt besonders auf Luxusverbote an, um die Geldausfuhr zu hindern ; das bayer-
sche unmittelbar auf Verbot der Geldausfuhr, daneben freilich auch auf Verbote der
Einfuhr schlechter Münzen, des unmässigen Scheidemünzen*, des Umwechseins
336 Wilhelm Röscher, P*
Wesentlich anders lauten die Systeme der Geistlichen, von denen
zu jener Zeit die protestantischen an wissenschaftlicher Bildung den ka-
tholischen nichts weniger als überlegen waren. Tobias Henckel,
Pastor zu Halberstadt, ist der Verfasser von drei hierher gehörigen
Schriften. 1) »Gewissenstritt aller sicheren Leugenhöltzer, Geldhändler
und Müntzer. Darum erörtert wird die dreyfache Frage : ob jemand mit
gutem Gewissen könne seinen Beruff verlassen, ein Geldhändler werden
und sich zum heutigen Mttntzwesen begeben. Anfangs gepredigt bey
Anlass des Evangeliums auf den V. Trinitatis « (Halberstadt, 1621.) —
Hier wird gezeigt, dass die Ausschiessung und Wegsendung der guten
Münzen dolus malus, stelliotialus (»Finanzerei«) und Wucher sei (S. 1 3 ff.) :
Alles ohne im Mindesten auf das Wesen der Sache einzugehen, aber mit
sehr weitschweifiger Berechnung, wieviel Procent ein Kipper bei ra-
schem Umsatz jährlich gewinnen könne. Dagegen lauter moralische und
juristische Trümpfe. »Betrachte, was das Dir Leute seyn, die da wehrt,
dass sie unredlich gemacht, das Entwendete mit Hohn oder Spott wie-
dergeben, auss ehrlichen Emptern und Zünfften gesetzt, den Dieben
gleich geachtet und an Leib und Leben gestrafft werden sollen.« (S. 1 3.)
— 2) »Gewissensspiegel aller eigennützigen Käuffer und Verkäuffer.«
(Halberstadt 1621.) Später, als die vorige Schrift. Beantwortet die Fra-
gen, ob der heutige Aus- und Vorkauf einem Christen anstehe, und ob
eine gewissenhafte Obrigkeit ihn zulassen dürfe. Von der grossen Waa-
rentbeuerung wird »nächst unserer Sünde« als Hauptursache die Münz Ver-
ringerung bezeichnet, namentlich da die Geldhändler, »weil sie des Dreckes
ohne sonderliche Mühe viel haben, es aufs Tollste ausgeben.« Dazu aber
noch die Bosheit der Verkäufer, welche die Waaren zurückhalten oder
exportiren. Die volkswirtschaftlichen Ansichten des Herrn Pfarrers
sind naiv antimercantilistisch. So z. B. dass man billigerweise haupt-
sächlich mit den Landsleuten verkehren soll, der Handel »zum Nutz des
ganzen Regiments, d. h. aller und jeder Einwohner,« dienen muss (S.7);
dass es »in nützlichen Kaufmannschaften erfordert wird,« für unsere
Waaren andere nöthige Waaren wiederzuerhalten, da sonst Mangel und
schwere Theuerung entstehen muss. (S. 9.) — 3) »Extract funfzehner
schlechter gegen gute Münze, (ausser von Staats wegen, um die schlechte einzuzie-
hen.) Im oberrheinischen Bedenken wird als gültige Entschuldigung vieler Münzver-
ringerungen die Erschöpfung der Bergwerke angeführt, deren Baukosten doch immer
noch gewachsen seien.
7S] AELTERE DEUTSCHS NATIONALÖKONOMIK« 337
Trostreden wider die neulich erregte and noch nicht ganz beigelegte
Thewerung und Verwirrung, wie auch in eventum noch ktinfftige, wohl
grössere. Neben angehengte Tröstungen fUr bussfertige Kipper und
Mttntzere.« (Magdeburg, 1 622.) Hier wird vornehmlich eingeschärft, in
der Mttnznoth Gottes Strafe zu erblicken, die wir überreichlich verdient
haben, die auch immer noch milder ist, als Krieg, Feuer, Peslilenz und
ahnliche Heimsuchungen. Sie kann auch durch Menschenkunst geheilt
werden, indem man das Münzrecht wieder unmittelbar an den Staat
zieht, die Münzgesetze streng befolgt, Taxen festsetzt, die Waarenein-
sperrung verbietet etc. Auch bei diesem Uebel ist Ungeduld und Ver-
stockung das Schlimmste. — Man sieht, eine Menge von Wahrheiten,
mehr aus Systemlosigkeit, als aus richtigem System, eben darum von
dem Verfasser selbst in ihrer Tragweite gänzlich verkannt und durch
beigefügte Irrthttmer geradezu paralysirt.
Andreas Lampius, Pfarrer zu Hall in Sachsen, schrieb ver-
muthlich im Jahr 1 622 : »De ultimo diaboli foetu, d. i. von der letzten
Bruth und Frucht des TeufFels, den K. und W., wie man sie nennt,
welche einen newen Ranck erdacht, reich zu werden, und für niemand,
als für sich und die ihrigen gross Gelt und gut zusammenkratzen, wie-
wol mit eusserstem Verderb der gantzen deutschen Nation, vom höch-
sten bis auff den Nidrigsten Grad, der Landesftirsten, sowol, als der al-
lergeringsten Bettelleute in der Christenheit, was von denselben, und
ihren Helffershelffern, etlichen Mttntzern, Juden und Jüdengenossen zu
halten, den Elenden armen Kippherrn, wie reich sie auch sonsten sein,
zur Nachrichtung Buss und Bekehrung geschrieben.« Hier wird fol. 17 ff.
in grosser Breite gezeigt, dass die Kipp wipperei jedes der Zehngebote
verletze 14. — Ungleich wichtiger ist eine scheinbare Gegenschrift : »Ex-
purgatio oder Ehrenrettung der armen K. undW., so mit grosser Leibes-
und Lebensgefahr jetziger Zeit ihre Nahrung mit dem Wechsel suchen.
Gestellet durch Cniphardum Wipperium Kiphusanum, jetzo bestellten
speäal-Vf echssler in The wringen.« (1 622.) Mit dem Motto : Dat veniam
corvis, vexat cenmra columbas, wird die sehr richtige nnd in damaliger
Zeit fast unerhörte Betrachtung eingeleitet, dass man doch nicht bloss
1 4) Dass Lampius in Folge dessen mit einer Injurienklage heimgesucht worden,
behauptet die Schrift : »Das bey dieser Zeit landverderbliche Müntzwesen«, (Frankf .
und Lpzg. 1690) S. 38.
338 WauELM Roschkb, [76
die K. und W. selbst, sondern zugleich deren hohe Beschützer angreifen
sollte. »Die kleinen Diebe hengt man, die mittelmessigen lest man lauf-
fen, vor den grossen helt man den Hut in der Handt und setzet sie an
Fürstliche Taffein.«
Ueberaus charakteristisch für seine Zeit ist Christian Gilbert
de Spaignart, Pfarrer zu Magdeburg15: »Theologische Müntzfrage,
ob christlich-evangelische Obrigkeiten umb ihres eigenen Nutzes willen
die Müntz von Zeit zu Zeiten mit gutem Gewissen schlechter und gerin-
ger können machen lassen ? Kürtzlich und einföltiglich nach Inhalt dess
heiligen ewigwehrenden Wortes Gottes erörtert und beantwortet.« (Mag-
deburg, 1621.) Nach vielen captationes benevolentiae an die Magdebur-
ger Behörden, welchen das Buch gewidmet ist, unterscheidet der Ver-
fasser vier Arten von Recht : Exempelrecht, das er missbilligt, nur in
Nolhföllen zulässt; Juristenrecht, das gegen die obrigkeitlichen Falsch-
münzer streitet; Kirchenrecht, wobei er mehrere Stellen des A. T. an-
führt ; Gewissensrecht. Hiernächst werden alle die Sittenregeln herge-
zählt, welchen das Kipper- und Wipperthum widerspreche. Verbot des
Geizes, des Druckes gegen die Kirche, die Prediger nicht zu bösen Hän-
deln zu reizen, ihnen das Strafamt nicht zu legen, die Schulen nicht zu
zerstören16, den Armen ihr Almosen nicht zu schmälern, die Waisen nicht
zu berauben , den Fremdlingen nicht wehzuthun , die Kranken nicht zu
betrüben, kein Aergerniss zu geben, der Obrigkeit nicht zu widerstre-
ben, frommer Vorfahren Gedächtniss nicht auszulöschen17, die Obrigkeit
nicht zu verachten18, anderen Obrigkeiten ihr Einkommen nicht zu schmä-
lern, keine neuen Steuern aufzulegen 19t die Leute nicht arm zu machen.
\ 5) Er hatte sich schon früher als rechtgläubiger Kämpfer gegen die Fama fra-
temitatis R. C, (der Rosenkreuzer) 16t 4, hervorgethan.
\ 6) Weil jetzt die Studenten wegen der Theuerung nicht mehr auszukommen
wissen.
47) Durch Umprägung des Bildes auf alten Münzen, obschon Christus selbst des
heidnischen Kaisers Bild und Umschrift so hoch gewürdigt, dass er sie in seine heili-
gen Hände genommen.
\ 8) Wenn sie durch Kipp wipperei sich selbst verächtlich macht, so entspricht
das jenem Verbote ebenso, wie der Selbstmord dem Verbote der Tödtung.
4 9) Nach Rehabeams Art, sobald die Preise ihr Maximum erreicht haben werden,
die Obrigkeit also viel Geld braucht, und man doch mit der Münzverringerung nicht
weiter gehen kann.
77] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 339
keine Ursache zum Kriege zu geben20, die Soldaten nicht zum Raube zu
verführen, nicht zur »Vertühlichkeit« zu locken21, die adeligen Geschlech-
ter nicht zu unterdrücken, die Gewerbe nicht zu vertreiben, den Bücher-
kauf nicht zu hindern 22, die Handwerker nicht um ihren Beruf zu brin-
gen, jungen Ehepaaren nicht ihr Hochzeitsgeschenk, Täuflingen ihr Pa-
thengeld zu mindern, Testamente nicht umzustossen, den Feinden keine
Ursache zur Lästerung zu geben, Jähzornige nicht zum Blutvergiessen
zu reizen23, die Jugend nicht von ihrem Berufe abzubringen, nicht zum
Lügen und Stehlen zu verfuhren, nicht Ursache zur Unordnung, Unge-
rechtigkeit, Landplagen zu geben, die Zehngebote nicht aufzuheben,
den Ackerbau nicht zu hindern 2\ um Christi Willen sich böser Münzen
zu enthalten25, der Frommen Gebet nicht von sich zu wenden, keinen
Fluch auf sich zu laden etc. Ben Beweis der Regel führt Spaignart mei-
stens ganz durch Bibelstellen, vornehmlich aus dem A. T., Sirach etc.
Sein Geschmack für die Form zeigt sich u. A. im Folgenden : Solte ein
Maler den Geitz malen, so müsse er ihm ein umb sich fressendes Lö-
wenmaul machen, einen unersätigen Wolffsmagen, einen schmeichleri-
schen Crocodillkopff, durchstankernde Katzenfüsse, ein bahr Greiffsklawen
und darinnen einen diebischen Judasspiess«. (S. 47.) *
Von demselben Spaignart rührt noch her : »Die ander theologische
Müntzfrage, was evangelische christfromme Obrigkeiten bey jetzigem
entstandenem bösen Müntzen in acht nehmen sollen, damit sie, soviel
möglich, ihres Gewissens pflegen können.« (Magdeburg, 1621.) w —
20) Weil jetzt mit einem Thaler so viel gemacht werden kanfi, wie früher mit
fünf. (!!)
2 1 ) Weil Niemand das schlechte Geld lange festhalten mag.
22) Die Landprediger können jetzt nicht einmal die Biblia regia oder glossata
mehr kaufen.
23) Wenn sie von den Münzern betrogen sind.
24) Durch den hohen Preis der Werkzeuge etc., wobei also an die gleichzeitige
Preissteigerung der Ackerbauproducte gar nicht gedacht wird.
25) Weil nämlich Christus von Paulus einigemal (Rom. U, 29. Kol. 4,15) mit
Münzen verglichen wird.
26) Ebenso barbarisch ist die Gelehrsamkeit, die S. 75 auf Anlass der Hoch-
zeitegeschenke ausgekramt wird, wo z. B. ausführlich die Rede ist von den Hochzei-
ten Peleus-Thetis, Kadmos-Harmonia, Alexander d. Gr.-Statira, der Hochzeit zu
Rana etc.
27) Den Hamburger Behörden gewidmet, die auch im Münzwesen ehrlich und
mit des Verfassers Wohnorte im engsten Handelsverkehr stünden.
340 Wilhelm Röscher, [78
Hier wird zuerst nach Anleitung des salomonischen Thrones die Pflicht
jeder Obrigkeit im Allgemeinen erörtert. Die sechs Stufen des gedach-
ten Thrones entsprechen der pietas, eruditio, experienlia, prudentia, boni
publici observatio und assiduiias in officio ; so haben auch die zwei Löwen
auf jeder Stufe ihre allegorische Bedeutung, und alles Uebrige bis zur
Krone hinauf. Nachher wird gezeigt, wie die Mttnznoth eine grössere
Landplage ist, als Pestilenz w, wilde Thiere und Ungeziefer, Misswachs,
Feuers* und Wassersnoth, zumal wegen der grössern Allgemeinheit.
Selbst dem Kriegselende ist die Münznoth gleichzustellen. Gegen die-
jenigen, welche von der Theuerung damaliger Zeit auch den Krieg, Miss-
wachs etc. als Mitursachen geltend machten, bemerkt Spaignart, dass
umgekehrt alle diese Uebel nur Strafen Gottes wegen der Münz Verrin-
gerung seien; er findet hierzu Analogien im Anfange des Jesaias. (S.35fg.)
Zu den schlimmsten Freveln der Kippwipperei zählt er die Beraubung
des Altars, welche daraus hervorgehe, indem jetzt so viele kleinere
Städte den theuern Abendmahlwein nicht mehr erschwingen können.
(S. 57.) Unter seinen wirthschaftspolitischen Vorschlägen sind die wich-
tigsten folgende. Keine Obrigkeit soll gestatten, dass Korn, Vieh, Waa-
ren, Arbeit und ähnlicher Gottessegen mehr ausgeführt werden, bevor
nicht das Land selbst durch und durch zur Genüge damit versehen ist.
(S. 69.) Ebenso, dass nöthige Bedürfnisse »verhalten,« d. h. aufgespei-
chert werden. (S. 74 ff.) Ausserdem fordert er ein allgemeines System
obrigkeitlicher Zwangstaxen, (S. 78 ff.) ferner strenge Aufwandsordnun-
gen, weil sonst »Geldmangel und Theuerung« (!) entstehen mttssten.
Uebrigens hat Spaignart alle seine Ermahnungen bloss für lutherische
Obrigkeiten, um diese zu bessern, geschrieben; allen anderen ruft er
mit orthodoxer Gemttthsruhe einfach ein Wehe zu. (S. \ 02 fg.)
Aus den zahlreichen Facultätsgutachten über die Münzver-
wirrung hebe ich das der Jenaer Theologen vom September 1 691 her-
vor : »Von dem hochsträfflichen Müntzunwesen , so jetzt eine zeithero
hin und wieder verübet worden ist, rahtsames, schrifilmässiges, auss-
fUhrliches Bedencken.« (Halberstadt, 1 622.) — Im Eingange wird ge-
zeigt, dass ein Theolog zwar nicht im einzelnen Fall sagen könne, wie-
viel und wann die Obrigkeit Steuern erheben soll, aber doch im Allge-
28) Das Verderben ist bei der Münznoth viel allgemeiner, die Nolh verstärkt sich
selbst wieder, überlebt die etwa sterbenden Urheber des Unglücks etc.
79] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 341
meinen vor zu hohem Steuerdrucke warnen rauss. Ebenso wird auf
Christi Verfahren gegen die Wechsler im Tempel gedeutet, um das Be-
gutachtungsrecht der Facultät zu beweisen. Hiemächst belegen die Ver-
fasser sehr weitschweifig aus der Bibel, dass der Christ neben dem Glau-
ben auch nach einem guten Gewissen trachten muss ; dass unrechtmäs-
sige Erwerbung zeitlicher Güter dem Gewissen widerstrebt; endlich,
dass die jetzige Mttnzwirthschaft in vieler Hinsicht unrecht ist, sowohl
ratione causae principialis, (da sie nicht von Gott herrührt,) als ratione
causae impulsivae, (da sie der Habgier entspringt,) und causae Instrumen-
talis, (wobei die Verfasser den Juden alle möglichen Lästerungen Christi,
Schlachten christlicher Kinder etc. vorwerfen: S. 28 ff.) Weil das Geld
communis rerum mensura ist, so muss eine Münzverringerung alle wirt-
schaftlichen Verhältnisse zerrütten. (S. 42 ff.) Sie schadet sämmtlichen
drei Ständen : den orantes, (wobei wegen der Prediger, Studenten etc.
sehr lange verweilt wird,) den defensores und dem Hausstande. Bei dem
letzten freilich übersieht das Gutachten ganz, dass die Bürger und Bauern
doch nicht bloss theuer kaufen, sondern auch theuer verkaufen ; ebenso
dass die Schuldner gewinnen, was ihre Gläubiger durch die Münz Verrin-
gerung einbüssen. Alles immer vom Standpunkte des einzelnen, philiströ-
sen Professors betrachtet! So wird z. B. S. 50 das Steigen des Gesin-
delohns daraus erklärt, dass Jedermann bei den Münzern Dienst nehme.
Am meisten verlieren die Armen, »weil keine kleinen Münzsorten mehr
vorhanden.'« Sehr mangelhaft wird der Beweis geführt, dass die Kipp-
wipperei dem Staate selbst schädlich. Da heisst es u. A. : jetzt schickten
alle Wohlhabenden ihr Silberzeug auf die Münze ; wenn nun das Land
einmal in Noth geräth, so sind alle Nothpfennige verschwunden, »weil
der wesentliche zeitliche Reichthum, so in der Substantz des Goldes und
Silbers besteht, mehrentheils hinweg, und das leichte Geld sich mit der
Zeit auch verloren.« (S. 54.) Die Kippwipperei sündigt wider Gott, den
Nächsten und sich selbst : was Alles mit sehr äusserlicher Benutzung von
Bibelstellen und in gewaltigen Tautologien M erörtert wird. Als Mittel
gegen die Münznoth wurden zu jener Zeit folgende empfohlen, aber von
dem Gutachten (S. 74 ff.) verworfen: Erwartung des nahen tausendjäh-
29) So z. B. (sub 4b), weil Gott verboten hat, den Nächsten um Hab und Gut
zu bringen, (1d) weil Gott will, dass man sich der Gerechtigkeit befleissige, (3b) weil
die Kippwipperei Gottes Wort zuwiderläuft, (3f) weil sie auf den Sünder selbst und
dessen Nachkommen Gottes Zorn ladet.
342 Wilhelm Röscher, [80
rigen Reiches, Gütergemeinschaft, Murren gegen die Obrigkeit, ja sogar
Aufruhr gegen die Juden etc. *° Wahre Mittel hingegen sind folgende :
vera conversio, wobei wir die Münznoth als Strafe unserer Sünde erken-
nen, uns selbst als den verlorenen Groschen im Evangelium, und uns
würdig machen, als Münze mit dem Gepräge von Gottes Ebenbild in die
himmlische Schatzkammer gelegt zu werden ; ferner seria oratio, eincera
emendalio, disciplinae ecclesiaslicae instauratio, indem zu kräftiger Ver-
weigerung der Pathenschaft, Absolution, Communion und kirchlichen Be-
stattung gegen die Uebelthäter gemahnt wird.
Einen erfreulichen Gegensatz bildet es zu diesen Salbadereien, wenn
die Juristenfacultäten zu Leipzig (4 622) und Wittenberg (1623) sich in
Gutachten dahin aussprechen, dass bei Schuldverhaltnissen immer auf
den valor intrimecus der Münzen gesehen werden soll 3i. Es war dies
gerade in Sachsen durchaus nicht so selbstverständlich, wie es scheint,
da 1609 das kurfürstliche Decret der Appellation-Rhäte verordnet hatte,
mehr auf die bonitas extrinseca, als intrinseca zu achten.
Wir beschliessen diese Auszüge mit einer Schrift, welche selbst eine
Art von Encyklopädie der ganzen hierher gehörigen Literatur sein will.
»Speculum Kipperorum, d. i. Kipper- und Schacherspiegel, darin zu sehen,
wer sie seyn, was von ihnen zu halten, wie sie zu respectiren, wiederumb
was sie angerichtet und übels gestiftet, auch desswegen verdienet. Dess-
gleichen was von den Auff- und Ausskäufeln zu halten, ob sie es mit
gutem Gewissen thun, und eine christliche Obrigkeit gestatten könne
oder solle? Allen frommen ehrliebenden Christen, die sich dess Kippen
30) In dieser Hinsicht schliesst sich dem Gutachten folgende Schrift an : »Wohl
meinende Warnung vor Tumult und Auffruhr, dar innen erwiesen wird , dass
der gemeine Pöbel, als privat Personen, nicht recht und fug haben, derer Öffentlichen
Wipper, Kipper, Juden, Juden genossen, falschen Müntzer, Vor- undAuffkSuffer, Auff-
wechsler und dgl. Betrüger Hauser zu stürmen , und also hierdurch die gegen-
wertige grosse Thewrung abzuschaffen. Durch Johannem Weinreicher, Isenacensem.*
(Erfurt, 1622.) — Einen merkwürdigen Contrast bilden hier, wie in den meisten
'ahnlichen Schriften, die vielen lateinischen etc. Citate und die Beweisführung, welche
gegen die allerdümmsten Vonirtheile gerichtet ist: so z. B. gegen die, welche Selbst-
hülfe des Pöbels mit den Steinigungen des A. T. rechtfertigen. (S. 37 ff.) Der Ver-
fasser meint aber mit Recht, irgendwie seien fast alle Menschen mitschuldig an der
Rippwipperei ; hier also die Selbsthülfe zu gestatten, hiesse einen Krieg Jedes wider
seinen Nächsten heraufbeschwören. (S. 53.)
34) Aehnlich die zu Augsburg 16 23 bei Sebast. Müller herausgekommenen Tria
responsa juris.
84] Aeltere deutsche Nationalökonomik. 343
enthalten, zum Trost; den verdampten Gottesvergessenen Land- und
Leuteverderbten, hochmütigen, stoltzen ärgerlichen Schacherern und
Geitzhalsen aber zur Nachricht, auch Hohn und Spott im Druck verfer-
tigt durch Johann Winterfeld Haygnensem, Juris divini et humani culto*
rem.it (Hagenauw im Jahr VLtor MqVItatVM glaDIVs est.) (1624.) —
Das Verfahren der Kipper, die kleinen Münzsorten zu fälschen, die gro-
ben im Preise zu steigern, erklärt das Buch als gegen die Natur der Münze
streitend : denn nummus est res sterilis et ideo inventus, ut esset instrumen*
tum contractu» legitimi, non ut esset merx, quae venderetur, quaeque suo
usu ingentem pareret fructum. (S. 6.) Mit komischer juristisch-theologi-
scher Gelehrsamkeit wird den Kippern zwanzigerlei schuldgegeben:
u. A. dass sie den Armen das Almosen geschmälert uüd dadurch Mörder
geworden seien ; auch sonst zu Morden Ursach gegeben, zu militärischer
Plünderung, Diebstahl etc. gereizt haben, (weil die Menschen mit ihrer
bisherigen Einnahme nicht mehr auszukommen vermögen.) Sie haben
gegen alle fünf Hauptstücke des Katechismus gesündigt32, ebenso gegen
die drei juristischen Grundregeln, (Neminem laede etc.) haben ein sacri-
legium begangen, (weil man nun nicht mehr so viel in den Gotteskasten
legt,) Kinder im Mutterleibe durch Hunger umgebracht, (also die Ldx
Cornelia de sicariis übertreten,) Fürstengepräge zerbrochen und in den
Tiegel geworfen, (also ein furtum cum atroci injuria!) alle Waaren gestei-
gert, (also Verletzung der Lex Julia de annona !) »Aller Ehr und dignitet
seid ihr unfähig und unwürdig. Non digni etiam communione s. sacra
coena nee sepultura, dass man euch zum Nachtmahl gehen, zu Gevatter
stehen, für Zeugen passiren, endlich auch begraben soll. . . . Euer ge-
raubtes Gut gehört der hohen Obrigkeit als fisco, und ist solches eueren
Kindern zu extorquiren, ne alieno scelere ditescant. Und ihr als Dieb,
Mörder und Geldverfölscher gehöret an den Galgen, auff das Rad und
in das Fewer, wie die beschriebenen Rechte . . . (mehrere Citate) euch
Kippern solche poenam dictiren. . . . Welches ihr Geldmauscher euch nicht
wollet verschmähen lassen und für ein calumniam anziehen ; dann die-
weil ihr nach aussweisung der Kayserlichen Recht nicht aHein Leibs
32) Eine Redeform, die bis ins 18. Jahrhundert sehr beliebt war, so dass z. B.
der Hamburger Neameister noch 4720 nachwies, die Union der Lutheraner und Re-
formirten Verstösse gegen alle Zehngebote, alle sieben Bitten des Vaterunsers, alle
drei Glaubensartikel, sowie die Artikel von der Taufe, vom Amte der Schlüssel und
Abendmahl.
Abhandl. d. K. S. Oe«. d. Wiu. X. S8
344 Wilh. Ros€hbr, Aeltere deutsche Nationalökonomik. [82
und Lebens, sondern auch aller Ehr verfallen, so kan keine calumnia
oder Ehrenrührige schmach wieder euch geredt werden. Ich bin gar
gelind mit euch umbgangen.« Nun folgen allerlei Kraftstellen wider Gei-
zige, Wucherer etc. von Augustin, Basilius, Ambrosius, Luther und an-
deren Theologen. So z. B. : »alle Dieb, so in hundert Jahren gehenckt
worden, so viel nicht gestolen haben, als die Kipper Die Schweden
haben solche Gesellen zum teil in zerschmoltzener Mttntz gebrüet, theils
in heissen Wasser ersäuft, theils an hohe Baume gehencket. 0 dass
doch solche scharffe Exemtion wider etliche solche Grundschelme anheut
vollzogen würde ! Sed nondutn otnnium dierum sol occidit, es kann die
Straff noch hernach kommen.« — Dieser scharfrichterliche Beigeschmack
war damals nicht bloss in der juristischen, sondern auch in der theolo-
gischen Polemik zu beliebt, als dass man hier, in dieser halbjuristischen,
halbtheologischen Abhandlung, sich darüber wundern sollte. Merkwür-
dig ist hier nur, dass nationalökonomische Gründe eigentlich gar keinen
Platz daneben gefunden haben. In vielen damals geachteten Schriften
gegen die Kippwipperei werden die Gründe sogar durch blosse Schimpf-
reden ersetzt. So heissen die Kipper z. B. in Georg Zeaemann Wucher-
ArmSe, S. 498: »schädliche gemeine Landräuber, Schelme, die ärger
als gemeine Dieb, Arger als Unkraut, Meyneidige, Eyd- und Pflichtver-
gessene Leut, Verächter Gottes Wort, und der hochwürdigen Sacrament»
Epikurer« etc. Göldelius in seiner Predigt : Aetatis ulcerosae fomes et fu-
mos nennt sie : »Höllstinckende Wucherer, eingeteuffelte und durchteuf-
feite Geitzhälss, abgefaumte, abgeriebene und durchtriebene Ertzkipper,
leichtsinnige Schandfunken, Ertzdieb, Grundschelmen« u. dgl. m.
Man sieht aus diesem ganzen Kapitel, wie sehr die Obrecht, Bor-
nitz und Besold über dem Durchschnitte ihrer Zeitgenossen hervorrag-
ten, wie lange folglich das im ersten Kapitel aus Männern wie Spangen-
berg und Erenberg entlehnte Bild seine Gültigkeit bewahrte.
&* ■
H
©
DIE
SCHLACHT VON WARSCHAU.
1656.
VON
JOH. GUST. DROYSEN
AbhandT. d. K. 8. Oe». d. Wim. X.
•t
Die Schlacht von Warschau.
1656.
Die grosse dreitägige Schlacht, die in den letzten Julitagen .4656
bei Warschau geschlagen worden, ist mililairisch wie politisch von her-
vorragendem Interesse.
Es ist die erste grosse Feldschlacht, von der man nachweisen kann,
dass sie nicht bloss im Handgemenge, sondern durch eine Reihe com-
binirter Bewegungen entschieden ist, Sie zeigt in einem besonders spre-
chenden Beispiel das Uebergewicht der Disciplin und der tactischen
Ausbildung über eine Kampfweise , welche die Eigentümlichkeiten der
mittelalterlichen Militairverfassung fast noch vollständig enthält.
Es ist die erste Schlacht der preussischen Armee. In ihr hat das
Haus Brandenburg recht eigentlich seine Souverainetät begründet. Mit
ihr tritt der werdende Staat in die Reihe der Mächte der baltischen
Politik.
Nicht diese Gesichtspunkte sind es, welche im Folgenden entwickelt
werden sollen ; sie durften angedeutet werden , um in der Bedeutung
des Ereignisses, von dem ich handeln will, eine Rechtfertigung dafür zu
finden, dass ich es einer kritischen Erörterung unterziehe. Meine Auf-
gabe beschränkt sich darauf, das Material namentlich für die militairische
Beurtheilung dieser tactisch und strategisch gleich anziehenden Vorgänge
zu sichten und zurecht zu legen.
Ich werde zuerst von den Quellen sprechen, aus denen die Schlacht
kennen zu lernen ist» dann den Verlauf derselben nach ihren einzelnen
Momenten festzustellen suchen., endlich die politisch-militairischen Fä-
den, die sich zu diesem Knoten verschürzt haben, verfolgen.
34
348 Jon. Gist. Droysen, [4
I. Die Quellen.
Bekanntlich hat Samuel von Pufendorff in seinem 1 695 veröffent-
lichten Werk de rebus gestis Friderici Wilhelmi Magni Electoris die Acten
des Berliner Staatsarchive in völliger Freiheit benutzen können und in
wahrhaft bewundernswerter Weise benutzt. Es schien nach ihm nicht
nöthig zu sein von Neuem die urkundlichen Materialien jener Geschichte
des grossen Churfllrsten zu durcharbeiten ; das was Pufendorff gab, galt
dafür richtig und erschöpfend zu sein.
Auch in Betreff der Warschauer Schlacht , deren Verlauf er aus-
führlich darstellt (VI. 3G — 40) blieb in der preussischen Militairliteratur
bis in die neueste Zeit seine Darstellung maassgebend. Und die allge-
meine Kriegsgeschichte nahm wenig Notiz von dieser Schlacht wie über-
haupt von den Kriegen Karl Gustavs von Schweden, da in dieser Disci-
plin Frankreich seit Turennes Kriegen und Feuquteres Memoiren das
allgemeine Urtheil bestimmte.
Erst Professor S t u h r t der sich mit Vorliebe dem Studium der Mi-
litairgeschichte Preussens zuwandte, versuchte einen Schritt weiter zu
gehen. In einem Aufsatz vom Jahr 1830 (in v. Ledeburs Archiv ///.
p. 1 ff.) »die Schlacht von Warschau aus grösstentheils bisher unbenutz-
ten Quellen« benutzte er auch Pufendorffs Werk de rebus a Carolo Gu-
slavo gestis, das 1 696 erschienen ist, auch einen Schlachtbericht, den
der Bitter von Terlon in seinen Mcmoires IL p. 536 mitgetheilt hat; es
scheint ihm nicht aufgefallen zu sein, dass diese beiden Darstellungen
weder untereinander noch von der in Pufendorffs F. W. irgend erheb-
liche Abweichungen boten ; um so zuverlässiger mochte ihm jeder dieser
drei Berichte erscheinen. Auch das Theatrum Europäerin citirt er , das
(VII. p. 963) einen ziemlich sporadischen Bericht über die Schlacht
bietet.
Bald darauf (1836) veröffentlichte Herr v. Orlich seine Schrift
»Friedrich Wilhelm der grosse Churftirst« in der eine neue Darstellung
der Schlacht versucht ist und zwar auf Grund eines allerdings in vor-
züglichem Maass lehrreichen Actenstttckes. Es ist der eigenhändige
Bericht des Churftlrsten über die Schlacht, rasch geschrieben und mit
mancherlei während des Schreibens entstandenen Correcturen die Ori-
5] Die Schlacht von Warschau. 1656. 349
ginalität bekundend. Es stammt aus dem Berliner Staatsarchiv und ist
von dort wie andere Archivalien durch den Sammler Konig, der lange
Jahre im Archiv gearbeitet hat, in seine eigenen Sammlungen hinüber
genommen worden ; Königs gesammter Nachlass kam dann an die Kö-
nigliche Bibliothek zu Berlin , die jenen Schlachtbericht als ein beson-
ders kostbares Autographon aufbewahrt (Ms. Bor. foL 356). Herr
v. Orlich hat diess Schriftstück (Beilage p. 1 39) leidlich genau abdrucken
lassen.
Er hat noch auf einen zweiten merkwürdigen Umstand aufmerksam
gemacht ; die Gebrüder Merian, sagt er, hotten sich, da sie das Thealr.
Europ. herausgaben, an den Churfürsten mit der Bitte uro einen Bericht
von brandenburgischer Seite gewandt , mit dem Vorgeben , dass ihnen
nur solche von schwedischer Seite zugekommen seien; der Churfttrst
habe seinem Geheimenrath v. Jena befohlen einen solchen anzufertigen,
weil er dabei gewesen , doch habe sich dieser ansser Stand erklärt es
genügend zu thun, worauf ein anderer damit beauftragt worden. Herr
v. Orlich führt eine Stelle des Briefes an , mit dem der Bericht an die
Herausgeber des Th. Eur. gesandt worden und aus dem hervorgehe,
dass der Churfbrst den Bericht sich habe vorlesen und in demselben
einige allzu lobende Stellen streichen lassen.
Herr v. Orlich hat dann 1 838 in seinem grösseren Werk (Geschichte
des Preussischen Staates im siebzehnten Jahrhundert mit besonderer
Beziehung auf das Leben Friedrich Wilhelms des grossen Churfilrsten
/. p. 127 — 137) seine frühere Darstellung der Schlacht mit einigen Er-
weiterungen wiederholt, auch einen Plan der Schlacht beigefügt.
Seitdem ist die Schlacht eingehender und nach selbstständiger
Forschung so viel mir bekannt nur von Herrn Carlson (Geschichte
Schwedens IV. p. 146 — 152 in der Uebersetzung von Petersen) dar-
gestellt worden. Herr Carlson bemerkt, dass er »hauptsachlich nach
E. Dahlbergs im Reichsarchiv aufbewahrtem Bericht« gearbeitet habe.
Wie kam der Churftlrst dazu jenen Schlachtbericht zu schreiben?
wann schrieb er ihn? wie verhalt sich dieser Bericht zu dem, der dem
Theatrum Europaeum zugesandt wurde? Herr v. Orlich hat es unterlas-
sen sich diese Fragen aufzuwerfen.
Als ich in den Vorarbeiten zu meiner Geschichte der preussischen
Politik an den Feldzug von 1656 kam, fiel mir zunächst die Ueberein-
stimmung der Berichte bei Terlon und in Pufendorffs beiden Geschichte-
350 Joh. Gusr. Droyser, [6
werken auf1. Ter Ion kam im Februar 1657 als französischer Gesandter
in Karl Gustavs Lager, seine Memoiren sind 1684 publicirt; der Zeit
nach wttre es möglich, dass Pufendorff sie benutzt hätte, wie er wohl
hie und da ausser den Archivalien auch Geschichtswerke seiner Zeit
z. B. Aitzema benutzt hat2. Dass es in Betreff Terlons nicht geschehen
ist, zeigte sich bei genauerer Yergleichung sofort; und unter andern
darin , dass Kleinigkeiten , die Pufendorff hat , bei Terlon fehlen '. Sie
mttssten beide aus denselben Quellen geschöpft haben.
Wer einiger Maassen mit dem Quellenstudium der Geschichte des
siebzehnten Jahrhunderts vertraut ist , wird voraus setzen , dass ein so
denkwürdiges Ereigniss wie jene Schlacht, sogleich in allerlei Zeitungen,
Brochttren , fliegenden Blättern behandelt sein wird. Er wird weiter
vermutben, dass der Sieger den Sieg möglichst gross, die Besiegten die
Niederlage möglichst klein darzustellen versucht haben werden, dass
namentlich Danzig, wo man so gut polnisch gesinnt war, seine grossen
Verbindungen benutzt haben wird, die öffentliche Meinung gegen die
Sieger zu stimmen , dass es im Haag, damals einer Gentralstelle ftlr die
politischen Neuigkeiten4, mit seinen antischwedischen »Zeitungen« will-
kommen gewesen sein wird. Erzählt doch das Tkeat. Europ. p. 965
man habe einen Cornet, der die falsche Nachricht von der Gefangen-
1 ) Nur als Beispiel folgende Stellen gleich im Eingang der Darstellung (§ 2 der
gleich zu besprechenden gemeinsamen Quelle).
Terlon: Mais ces deux ponts n'estoient Pufendorff: Sed cum uterque pons
pas encore achevez lorsque les eauoo prope absolutus esset, aqua uti eo tem-
s'enflerent comrne elles fönt tous les pore omni suevü, ita intumuerai, ut ab
ans dans la mesme saison et il fallut opere tantisper desistendum esset quo-
attendre qü 'elles fussent ecoulees pour ad ista Herum subsedisset.
les mettre en estat de s*en servir.
2) Die Benutzung Aitzemas zeigt sich u. a. bei Pufendorff F. W. IV. 33 ober die
Vorgänge am Hofe zu Düsseldorf in der Nacht vor der Zusammenkunft in Angerort
(21. Aug. 1651 ); die da erwähnten sacerdotes eoncursantes , von denen sich in den
Archivalien in Berlin nichts findet, stammen aus Aitzema VII. ed.i0 p. 4 77: »man
seyde dat seife eenige Geestelijcke liepen dien morgen met hopen«; und ähnliches mehr
in diesen Capileln 33. 34 bei Pufendorff.
3) So die Ankunft des Trompeters bei den Verbündeten am 28. ioli (§40 der
gemeinsamen Quelle), so der Name Heinrich Horns als Commandireoden des dritten
Treffens dqr Schweden (§ 4 2),
4) So schreibt jemand aus Amsterdam an Wicqüefort : Jam Haga te habet rerum
quae Ate et alibi geruntur proma conda.
7] Die Schlacht von Warschau, 1656. 351
schaft des Polenlrttaögg nach Thorn brachte, »auf den Esel gesetfct,« mit
dem Zettel auf der Brust, darauf »neue Zeitung« staid, man habe erst
schreiben wollen »Ranziger Zeitung,« wäre aber von einem gute* Gönnet
der Stadt Ranzig davon abgebalten worden. Es ist dieselbe Geschichte,
die Scheffer in seinen Memoräbilia Sucticae gtnlis XI. 9 genauer erzählt.
In der That findet sich die Bestätigung solcher Annahmen bereite
in den gleichzeitigen Schriftstellern. Thuldenius, auf de* wir später zu**
rttckkommen werden, sagt VI. p. 282: his proeliis eo triduo vel quatri-
duo eonserüs mendaciorutn ingens farrago de victoria Suedi et Brandenburg
e Prussis in Germaniam ällata est, ut non modo fugatus Poloni regte exer-
citus verum etiam Gonsiaevum Lühuaniae quaestorem interfectum regem*
que Casirnirtm capttm esse phirimormn literis in vulgus spargeretur. Und
auf diese Aeusserung antwortet Loocenius in der Vorrede zur zweiten
Ausgabe seiner hisloria rerim Suecicarum 1662 p. 36: quae mendacia
de Su&is Dototisd et m Belgio saepe Manie hello Sueco^Polanico spare*
sint, ut satis nctum hie non repsiam.
Noch eine weitere Voraussetzung wird man machen dürfen, wenn
man die Lage der Verhältnisse genauer erwägt.
Die Verbindung des Churfürsten mit Schweden wird wohl so dar-
gestellt, als wenn er schlau nach beiden Seiten hin politisirend den Mo-
ment erpasst hatte die Sache Polens zu verlassen und seinen Gewinn
bei Schweden zu suchen , um demnächst eben so Karl Gustavs Sache
aufzugeben und von Polen noch grösseren Gewinn zu erhalten. Wer
seinen Pufendorff mit einigem Verstand gelesen hat muss erkennen, dass
die Sache sich sehr anders verhielt.
Nicht erst in den spateren Jahren hat der Churfiirsi in den Schwe-
den seine nächsten und gefährlichsten Feinde erkannt ; schon die Ver-
handlungen in Osnabrück, mehr noch die über die Abgrenzung des an
Schweden zu überlassenden Theiles von Pommern hatten ihm gezeigt,
was er von ihnen zu gewärtigen habe: »ihr Muth,« schreibt der brau-
denburgische Agent in Stockholm 1651 , »ist so hoch gewachsen, dass
man keines. Nachbarn er sei wer er wolle aohtet noch, von demselben
schimpflich zu reden sich enthält,« Auf das Peinlichste empfand Hkan am
Hofe zu Berlin. die Drohungen und Insolenzen der schwedischen Ueber-
macht; nur noch bedrohlicher wurde 4ie, als der kühne Pfalzgraf Karl
Gustav den Thron Christinens bestieg ; sofort begannen Vorbereitungen,
welche zeigten, dass »vastissima consilia« gefasst seien. Schon war das
352 Jon. Gust. Däoysen, [8
schwedische Heer in Vorpommern versammelt, als man mit dem Chur-
fürsten zu verhandeln begann ; man forderte von ihm unerhörte Dinge :
Abtretung von Memel und Pillau , Aufhebung jeder andern Allianz, wie
der Churftlrst am 24 Juli an seine Gesandten in Stettin schreibt: »dass
wir aller Hülfe und Freundschaft in der Welt beraubt sein und von S.
Maj. allein dependiren sollen« (Berl. Arch.). Karl Gustav begann seinen
Feldzug gegen Polen mit einem Act rücksichtslosesten Uebermuthes ge-
gen den Churfürsten, mit dem Durchmarsch durch sein Gebiet, als ob
es ihm »jure gentium* offen stehe. Es folgte jener glanzende Eroberung^
zug durch Polen, bis Krakau hinauf, die Flucht des Polenkönigs, die frei-
willige Unterwerfung der polnischen Truppen, der Magnaten, der Woy-
woden, der ganzen Republik. Nur das Herzogthum Preussen stand noch
neutral zur Seite ; Karl Gustav eilte mit dem Schluss des Jahres dort-
hin, drängte des Churfürsten Truppen auf Königsberg zurück, schtoss
ihn dort ein, zwang ihm den Unterwerfungsvertrag von Welau auf
(17. Jan. 1 656), mit dem das Herzogthum ein Lehen der Krone Schwe-
den wurde. Aber schon begann der Abfall Polens , der geflüchtete Kö-
nig kehrte zurück, stellte sich an die Spitze der Bewegung, die lawi-
nenhaft wachsend die Weichsel hinabwärts auf Warschau hindrängte.
Die Schweden begannen inne zu werden, dass sie in Gefahr seien, dass
sie dringend der fremden Hülfe bedürften. Ihre Regimenter waren sehr
zusammengeschmolzen ; die Besatzungen von Krakau, Warschau, Posen,
andern Festungen hatten die Starke der verfügbaren Truppen auf etwa
42000 Mann sinken lassen; von diesen standen einige tausend Mann
vor Danzig, mit ihnen die 1 500 Mann die der Churftlrst nach dem We-
lauer Vertrage hatte stellen müssen. Schon war Krakau hart bedrängt ;
jetzt wurde auch Warschau eingeschlossen, Karl Gustav War nicht mehr
stark genug die tapfere Besatzung zu entsetzen , am 1 . Juli musste sie
capituliren. Er hatte sein Heer hinter den Bug zurückgezogen, er war
in Gefahr von den mehr als hunderttausend Mann, mit denen Johann
Casimir ihm gegenüberstand erdrückt zu werden. Er musste um jeden
Preis seine Heeresmacht verstärken ; es gab für ihn keine andere Ret-
tung als die Armee des Churflirsten zu gewinnen, die wenigstens 4 8000
Mann stark und völlig kriegsbereit im Herzogthum stand; er musste
ihn bewegen mit seiner ganzen Kriegsmacht für Schweden einzutreten.
Darüber wurde seit Anfang Mai in Frauenberg unterhandelt ; begreif-
lich dass der Churftlrst sehr wenig entgegenkommend war, dass ihn
9] Die Schlacht von Warschau. 4 656. 853
selbst die Aassicht, vier Woywodenschaften im westlichen Polen zu
gewinnen , nicht bestach ; am wenigsten war er gemeint seine Armee
aus der Hand zu geben, sie anter schwedisches »Kriegsdirectorium« zu
stellen. Mit Indignation sahen die Oxenstjierna, de la Gardie, Hörn, dass
der Churftrst jetzt die Entscheidung in der Hand habe. Er verstand
sich zu der ersehnten »conjunctio armorum* endlich nur unter der Be-
dingung, dass die brandenburgische Armee selbstständig an der Seite
der schwedischen operirte ; er Hess dem Könige die oberste Kriegslei-
tung nur in der Weise , dass ihm selbst die Zustimmung zu jedem ein-
zelnen Act der gemeinsamen Kriegführung vorbehalten blieb1. Die
schwedischen Herren waren auf das Aeusserste verstimmt, dass der
König so viel habe nachgeben müssen ; sie beobachteten den Churftlr-
sten, seine Generale und Räthe mit doppeltem Mistrauen, mit wachsen*
der Eifersucht ; es begann eine Rivalität, die schwedischer SeHs in dem
Maasse bitterer und insolenter wurde, als die brandenburgische Armee
und ihre Führung sich über ihre Erwartung tüchtig zeigte.
Schon wahrend des grossen deutschen Krieges haben die Schwe-
den es wohl verstanden die militairischen Leistungen der deutschen Re-
gimenter, ihrer deutschen Kampfgenossen in den Schatten zu stellen;
man kann es in einzelnen Fallen noch nachweisen , wie sie mit Zeitun-
gen und Flugblättern die öffentliche Meinung zu leiten und zu machen
verstanden haben. Soll man annehmen, dass sie es jetzt in Betreff der
Warschauer Schlacht anders gemacht haben ? darf man nicht vielmehr
vermuthen , dass sie dafür gesorgt haben werden den Ruhm der glor-
reichen drei Tage so viel wie möglich für sich allein zu behalten ?
Eine zufällige Entdeckung setzt mich in den Stand, nachzuweisen,
dass diess allerdings der Fall war.
In dem Düsseldorfer Archiv wird aus dem Nachlass des clevischen
Kanzlers Weymann eine Reihe von Foliobanden aufbewahrt , die für die
politischen Verhältnisse von 1655 — 1660 vom höchsten Interesse sind.
Dr. Daniel Weymann war ein Jahrzehent hindurch als churbrandenburgi-
i) In dem Marienburger Vertrag vom^--j — r 4 656 betest es Art. VII: es sollen
Conferenzen zwischen beiden Fürsten gehalten werden «I certus conjuncUonis seopus
proponatur et canstituatur ; sodann: conjunctione facta quamvis praesente S. S. E*
suprema directio belli competat S. Ä. MH; ea autetn quae cofsiUo pritu commtmicoto
cum S. S. £li tüfofiimt consensu decreia f nennt, S. S. E** facienda generaHbus suis in-
smuet et iis convenienter cum exercitu suo tiberrime disponat.
354 Job. Gusr. Dhoysen, [*o
scher Bevollmächtigter namentlich in Sachen der Vormundschaft für
Prinz Wilhelm HI. von Orauien im Haag beglaubigt; auch persönlich
stand er der Princessin Hoheit, der Grossmatter Wilhelms III« und Mut-
ter der Churfärstin , nahe ; er theilte ihre Anschauungen in Betreff der
schwedischen Allianz, welche die Beziehungen Brandenburgs zu den
Staaten und zu Oestreich auf das Aeusserste gefährdete; er bemühte sich
mit ihr, dem Churftlrsten den Rücktritt aus derselben zu ermöglichen.
Er galt ftir einen besonders thätigen und scharfsichtigen Diplomaten und
namentlich die Gegner der schwedischen Allianz in des Churftlrsten
Umgebung, Schwerin, Hoverbeck, Somnitz standen mit ihm in sehr leb-
haftem Briefwechsel ; durch seine Hand gingen die vertrautesten Ver-
handlungen mit dem Rathspensionair, mit Brüssel, Paris u. s. w. Nach
einer schon damals bei Diplomaten: üblichen Geschäftsweise führte Wey-
mann sein Journal in der Weise, daes er alle Briefe, die er empßng und
die er schrieb, alle Instructionen, die an ihn kamen, die Verhandlungen,
die er mündlich fUbrte, die wichtigeren Neuigkeiten, die er erfuhr, Tag für
Tag eigenhändig eintrug. So entstand diese Sammlung, die mit dem
4. Jan. 1655 beginnt; sie ist nicht mehr vollständig; es fehlt wahr-
scheinlich der II. und III. Band; erst vom Sept. 4 656 an ist die Reihe
lückenlos. Der letzte Band , jetzt der zehnte , enthält eine Sammlung
von Concepten , Originalbriefen , Berichten u. s. w. aus verschiedenen
Jahren.
In dem jetzt zweiten Bande des Journals, der vom 8. Sept. bis
17. Oct. 1656 reicht, befindet sich ein Schreiben des Herrn Martiz, der
so scheint es von Seiten der Princessin Hoheit beim Churftlrsten beglau-
bigt war1. Der Brief ist aus Königsberg 8. Oct. 1656 und lautet:
Puis quon nous envoye de tous costes de differentes et (res extravagan-
tes rehtions de la bataille que nous avons gagnee a Warsou, Sa Serenite
Electorale a trouvee a propos den faire imprimer une qui fut tont a faä
exacte. Pour cet effect eile a ebauche eelle que je vous envoye ici de sa pro*
pre main et ne l'ayant donie a copier Elle iria comnumdi de Vous lern*
voyer et de vous prier que vous la fassiez imprimer chez vous au plüstot et
I ) Diese gehl aus einzelnen Andeutungen in den Acten der Oranischen Tutel
hervor. Es ist derselbe Ifartitias, der später als Secrelair des Churfürsten am Hole zu
Berlin blieb , der sieh dann auf einem Platz , den ihm der ChurfÜrst schenkte , ein
sehr prächtiges Haus baute, das später in den Besitz der Krone überging und jetzt des
Kronprinzen Palais ist.
44] Die Schlacht von Wabschail 4656. 355
que vous nous en euveyassiez quelques exemplaires. Je fais cela taut en-
semble vous laissant la liberte si vous la voulez corriger am peu , ee que je
riay pu faire a cause de la haste , et si vous la voulez faire imprimer dans
la mesme langue dans la quelle vous la voyez ou si vous la voulez faire tra-
duire, il sera tout un, pourvu que vous fassiez mettre quelque commence-
ment devant$ du eontenu erwiron que puisqu'on avoit decouvert que eeux du
party contraire avoyent faU imprimer de si extravagantes relations 9 qtion
avoit jugi a propos d'en faire imprimer une et Ires veritable, esctite dun
amy a Fautre, qui a este le spectateur aussi bien que le combattant. Failes
en, Monsieur, ce que bon vous semblera et pardonnez a la haste.
Hierauf folgt in dem Journal das »Concept einer Relation von der
Warschauwischen Bataille, welches seine Churf. Durch), mit eigner Hand
aufgesetzt.« Es ist eine Wiederholung des oben erwähnten Aufsatzes
von des Churfbrsten eigner Hand in der Berliner Bibliothek '.
Aus jenem Schreiben des Martiz ergiebt sich, dass der CHurftlrst defc
Bericht wenige Wochen nach der Schlacht aufgesetzt hat, dass er ihn
geschrieben hat als Berichtigung der über die Sehlacht verbreiteten ex-
travaganten Relationen. Also es gab deren , und zwar zahlreiche , die
»von allen Seiten« dem churfürstlichen Hofe zukamen , solche die eeux
du party contraire haben drucken lassen. Gewiss meinte Martiz mit party
contraire nicht bloss die Polen, die Danziger; für ihn und für Weymann
waren eben so und noch mehr die Schweden und die schwedisch Ge-
sinnten am churfürstlichen Hofe die party contraire, und deren zu Gun-
sten Schwedens und zum Nachtheile der brandenburgischen Waffen
übertreibende Relationen verdienten mehr als die der gemeinsamen
Feinde eine Berücksichtigung«
Also es gab bereits im August und September 1 656 eine Menge
gedruckter Berichte über die Schlacht , die im schwedischen Interesse
verfasst waren.
Gewiss hat Weymann den ihm zugesandten churfürstlichen Bericht
drucken lassen, mit oder ohne jene Einleitung, die ihm Martiz zu verfas-
sen überliess ; gewiss hat er Abzüge davon an den churftlrstlichen Hof
gesandt. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen ein Exemplar dieses Druckes
aufzutreiben. Ich gebe diesen eigenhändigen Bericht des Churfürsten in
I) Aus Weymanns Journal bat Wortniann den Beriebt in seiner noch ungedruck-
ten i> historischen Beschreibung* Um. ///.angenommen. (Berl. THisseld. Archiv-.)*
356 Joh. Gust. Droyseh, [12
Beilage 1 . nach der Abschrift in Weynianns Journal mit den Varianten
des Autographons.
Auf eine zweite Reibe von Erörterungen führt uns das Theatrutn
Europaeum. Der siebente Theil desselben der die Jahre 1651 — 1657
umfasst, bearbeitet von Joh. Georg Schieder aus Regensburg, wurde
1663 publicirt. Er brachte von der grossen dreitägigen Schlacht einen
auffallend kurzen Bericht (p. 963 — 965), in dem von den Brandenbur-
gern so gut wie gar nicht gesprochen war. Entweder hatte man in
Frankfurt jene Weymannsche Publication nicht erhalten oder Schieder
hielt es für angemessen dieselbe nicht zu beachten.
Indess wuchs der Name Brandenburg. Der Churflirst hatte in dem
Fortgang jenes nordischen Krieges eine hervorragende Rolle gespielt,
er hatte die Souverainetat Preussens gewonnen ; in den hochbewegten
sechziger Jahren war er überall in der Reihe der Machte die die euro-
paische Politik machten; als Frankreich 1 673 mit dem Angriff auf Holland
jenen schweren Krieg begann , dem sich so bald ein schwedischer an-
schliessen sollte , war er mit seiner Kriegsmacht der erste auf dem Plan
und bemüht Kaiser und Reich gegen Frankreich in's Feld zu bringen.
Er stand im Spatherbst 1672 mit seinem Heere am untern Main.
Dort im Lager zu Risselheim kam der Mahler Matthaus Merian, der
Sohn des Kupferstechers Matthaus Merian , der das Theatr. Europ. be-
gründet hatte , zu ihm ins Hauptquartier , trug ihm vor , dass »wegen
Mangels genügsamen Berichtes von der Polenschlacht bei Warschau des
Churfürsten unförmlich gedacht worden sei, so dass er Sinnes sei in
einer neuen Ausgabe desselben eine ausführliche Relation nebst Kupfer
zu bringen.«
In Anlass dieser Bitte erwuchs ein Actenstttck das hn Geh. Staats-
archiv zu Berlin (A. 9. Nr. 5. E. e. 1) aufbewahrt wird.
Der Churfürst versprach die Bitte zu erfüllen. Er erliess an seinen
Ingnieur Memmert den Befehl (29. Nov. St. V) »ein Kupfer oder Abriss
der erwähnten Schlacht mit dem Förderlichsten« zu übersenden. Unter
demselben Datum erging ein Befehl an den Geheimrath Jena , eine Be-
schreibung der Schlacht anzufertigen : »weil ihr jene Zeit mit dabei und
an dem Orte gewesen , wo sich dieselbe zugetragen , so habt ihr nach
13] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 357
der euch davon beiwohnenden Wissenschaft eine ausführliche Relation
dessfalls aufzusetzen und dieselbe zu überschicken und weil sich auch
zweifeis frei noch einige Nachricht darüber in unsenn Archive finden
wird, könnt ihr euch auch dessen dabei bedienen.«
Aus einem zwölf Jahre später geschriebenen Briefe Merians ergiebt
sich, dass ihm noch in Risselheim 4 672 »die drei gezeichneten Bataillen«
übergeben worden sindt, »welche ich auf das schönste in Kupfer stechen
lasse.« Die drei sehr instructiven Abbildungen von der Schlacht, die sich
in der zweiten Ausgabe des Th. Eur. VII. von 4 685 finden, sind also nach
den Zeichnungen des brandenburgischen Ingenieur Memmert gestochen
und haben den Werth von originalen Quellen.
In Betreff des geforderten Schlachtberichtes antwortet Jena in einem
ausführlichen Schreiben d. d.Cöln a.d. Sp. 48. Decb. 4672 (Beilage 9):
er sei zwar zugegen gewesen , aber er vermöge weder über die Ein-
zelnheiten hinreichend Nachricht zu geben , noch finde sieh in dem Ar-
chiv das Allergeringste , auch müsse der, welcher solchen Aufsatz ver-
fassen solle »die Kriegsactionen und die rechten terminos« wissen, woran
es ihm mangele. Der Secretair Hartmann habe ihm eine gedruckte Re-
lation zugestellt, welche jedoch in einer Reihe von Einzelnheiten, die
er dann ausführt , dem was er selbst gesehen habe, nicht. entsprechend
sei. »Wenn nun E.Cf.D. gnädigst gefallen möchte durch einen kriegser-
fahrenen und welcher bei der Action gewesen und alles, was soldatisch,
verstünde, durchsehen und an allen Orten zu recht einrichten zu lassen,
welches doch , wenn die bataüie in Kupfer gebracht werden soll , ohne
dem nöthig, so würde diese beikommende Relation wohl zu gebrauchen
sein. Es ist ja gesetzet, als wenn der König alles gethan, gerathen, ver-
richtet etc. Sonst, gnädigster Churfürst und Herr, muss ich unterthünigst
berichten , dass so lange ich die Gnade gehabt in E. Cf. D. Diensten z»
sein, alles was Merian in seinem Theal. Europ. und sonst von E. Cf. D.
und dero acliones drucken lassen , durchaus parteiisch und alles , was
er E. Cf. D. oder deroselben Soldateska beilegen sollen, deroselbigen
entgegen oder doch alles corrumpiret.« Man wird wohl thun sich diese
Aeusserung Jenas für die Benutzung des Theatr. Eur. in der Kriegsge-
schichte des grossen Churfürsten zu merken.
Es ist aus den uns vorliegenden Acten nicht zu erkennen , ob die
Bearbeitung der gedruckten Relation in dem von Jena angegebenen
Sinne sofort vorgenommen worden ist.
358 Jon. Gcst. Dboysbn, [U
In demselben Actenstück findet afch ein Schreiben des Matthäus
Merian an den Cbnrftkrsten d. d. Frankfurt a. M. 19. Aug. 1684, in dem
es beisst: er woUe den siebenten Theil des Theat. Ew. neu drucken
lassen; der in der ersten Ausgabe abgedruckte Bericht sei ihm «von
dem Könige Karl Gustav aus Polen, damals communicirt worden« ; er
legt die Copie dieser Zusendung bei , die er Wort für Wort habe ab-
drucken lassen; Es sei in dieser Erzählung des Churfilrsten »gar wenig
gedacht worden,« und der Reichsfeldherr Wrangei, »dem er 1664 in Wol-
gast aufgewartet« habe ihm erzählt, »dass diese herrliche Victoria dem
Churfilrsten durch Dero hohe conduile allein zuzuschreiben wäre«, weil
der ChurfUrst »mit seinen Völkern die Tartaren anfänglich angegriffen,
geschlagen und verfolgt habe, dadurch die ganze polnische Armee in die
Flucht gebracht worden sei,« Wrangel selbst sei dem Churfilrsten mit
wenigen Truppen vom Könige zugegeben gewesen. Wrangel habe ihm
noeh weitere Einzelheiten erzählt/ die ihm aber entfallen seien. Er bittet
den Churfilrsten ihm »diese action aufnotiren zu lassen«. . . »Denn gleich-
wie E. Cf. D. aimo 4672 in Rissdheim mir die drei gezeichneten bair
taglien gnädigst Überreichen lassen , welche ich jetzt auf das schönste
in Kupfer stechen lasse, also will ich mich versehen, dass ich auch mit
einer exacten Beschreibung derer Actione» werde begnadigt werden,
damit der posterität eine wahrhafte hUtorutm zu £. Cf. D. immerwähren-
der gloria hinterlassen möge.«
Durch diese Veranlassung scheint die früher angeregte Abfassung
des Berichtes wieder aufgenommen zu sein. Es findet sich in dem be-
zeichneten Actenheft ein Zettel , ohne Datirung. Dieser lautet : »Wenn
einige wahre und gewisse particularien vom polnischen Feldzug und
der Schlacht von Warschau sich finden möchten, haben S. Cf. D. befoh-
len Herrn Merian solche zu communiciren , und es erinnert sich sonst
S. Cf. D, dass Herr Martitius hie von vor diesem einen Aufsatz gemachet.«
Der Churfilrst wird weiter befohlen haben , dass ihm der für das
Theat. Ew. bestimmte Bericht erst vorgelesen werde, bevor er abgehe.
Das ist dann geschehen. Ein zweiter gleichfalls undatirter Zettel in den
Acten lautet.
»Mittatur dem Herrn Merian nach Frankfurt. Endlich hat sich die
»Stunde gefunden die Warschawische bataille fttrzulesen, Und habe
»ich darin ausstreichen und corrigiren müssen, wie daraus zu ersehen
»seyn wird. S. Cf. D. modestia hat nicht das darin zugelegte Lob
*&] Die Schlacbt von Warschau; 1656. 350
»ertraget* können* Und sagt Sie das Sie lieber 4u wenig. als zu viel
»rühme dabey haben wollte.«
Leider ist nicht ihit Sicherheit zu constatired, von wessen Hand
dieser Zettel geschrieben ist. Nach dem Wortlaut des Zettels muss maä
annehmen, dasb nicht eine Abschrift des oorrigirten Exemplars son-
dern das Exemph? mit den Cornecturfen selbst nach EVankfurt geschickt
wordöh. :
Von diesem fttr Merian btotimmteii Bericht defr weä den Worten be*
ginht »Wo rinnen resolvirt worden,* sind viei4 Abschriften in jenem
Actebheft; die eine (No. \ } ist sichtlich die dem Churftkrsten vorgele-
sene; m mehreren durch strichenen Stellen, die des Churftirsten Lob ent-
halten, zeigt sich wie er die Sache veröffentlicht haben Wollte. Sie und
zwei von ihr genommene Copieü (No, % 8) beginnen mit den Worten
bjio&tverba: die gefangenen waren bei 5&0..*in Preufr-
sen auch gehauset hatten,«
da al& seil der Bericht eingeschaltet werden. Diese Worte stehen im
Theat. Eur. ei. \ so wie ed. Ä p. 9&5 und da folgt in der ed. ST von
16B$in der That der neue Bericht; ungeschickt g&rag, da sich dort der
Satz mit »worinnen resolvirt worden* gar nicht anscMiesst. Wie diese
Verkehrtheil; entstanden ist zeigt sichtlich die Abschrift No. 4> die der
Zeit nach die früheste ist und in No. i abgeschrieben wurde, um dem
Churftirsten vorgölegt zu werden : sie beginnt
»Indem Theat.Eur, ad ann. i656j*. 936 circa ftnemposl verba
hielten doch diesen Tag mit dem Churftirsten von
Brandenburg und der Generalität Kriegsrath könnte
contmuirt wenden Worinnen resolvirt worden
folgt hernach der ganze Aufsatz, und am Schluss desselben steht : i
quibu* insertie omitlanktr ämnia wqu* ad p. 985 § mittler-
> weile, womit weiter fortgefahren wenden kann,
das mittlerweile steht p. 988 ed. % und bfa dahin reicht jetzt der
abgedruckte bratndeftburgische Bericht.
Das Thiülrum Ewtopaeum fand ft*r gut den Aufeaftz ohne Beachtung
der vom Churftirsten befohlenen Veränderungen abzudrucken; es/wird der
Mühe werth sein in der Beilage die betreffenden Satze zu bezeichnen.
Ist nun dieser Bericht im Theai. Ew. ein originaler?
Herr von Orlich hat von diesem Bericht nicht Notiz genommen ;
wahrscheinlich war ihm nicht bekannt , dass eine zweite Ausgabe des
360 Job. Gust. Dboysin, [16
Theat. Eur. tom. VII. existirt. Er führt zwar jenen Brief Jenas, der die
Abfassung des Berichtes ablehnt an ; er hat also das vielerwähnte Acten-
heft in Händen gehabt; aber wenn er hinzufügt: »hierauf wurde ein
Anderer dazu beordert,« und in Parenthese Kannenberg mit einem Fra-
gezeichen hinzufügt, so ist in den Acten dafür keinerlei Anhalt.
Wer immer diesen für das Theat. Eur. bestimmten Bericht verfasst
haben mag , er hat sich seine Arbeit möglichst leicht gemacht. Er hat
den von Jena gemachten Vorschlag befolgt die gedruckte Relation zu
Grunde zu legen, er hat diese an ein Paar Stellen corrigirt, Einiges, be-
sonders sehr compacte Lobeserhebungen für den Churfürsten eingelegt,
im Uebrigen aber stehen lassen , was er in dem Druck fand, so wenn
der Druck, ein Bericht vom 4. Aug., an einer Stelle sagt« am \ 8/28 pas-
*afo,« so ist dies unverändert stehen geblieben (p. 988 Zeile 1), ohschon
die Erzählung im Theat. Eur. natürlich nicht mehr vom 4. Aug. i 656
datirt ist.
Die mehr erwähnte Relation (Rel. I.), deren Titel beginnt »Letzte
aus Warschau eingelangete gründliche und ausführliche Relation . . .« ist
ein Bericht aus Warschau vom 4. Aug. St. n. 4656 ; sie bezeichnet sich
in dem Titel als »ergangen der Wahrheit begierigen Welt, zur sichern un-
partheyischen gerechten und bestandigen Nachricht wider einige erdich-
tete unverschämte Lttgenzeitungen.« Sie trägt als Vignette einen hübschen
Holzschnitt eine Berg- und Waldgegend darstellend. Dass sie von
schwedischer Seite ausgegangen, ist völlig klar und Jena hat Recht
wenn er von ihr sagt : »es ist ja gesetzet als ob der König alles gethan,
gerathen , verrichtet.« Von einem Kundigen wird mir gesagt, dass die
Vignette, der Druck, das Papier dieser Brochüre auf einen holländischen
Druckort schliessen lasse.
Es giebt noch einen zweiten Druck (Rel. II.) der mit diesem im
Wesentlichen wörtlich übereinstimmt, nur einige Satze austasst und den
Schluss verkürzt. Der Titel beginnt: »Letzte noch gründlichere, ausführ-
lichere aus dem Königl. Schwedischen Feldlager bei Praga vom 5. Au-
gusti eingelangte Relation,« und schliesst, »der wahren Wahrheits~be-
gierigen Welt zum sicheren beständigen Nachricht wider einige gedruckte,
erdichtete, unverschämbte Lttgenzeitungen.« Am Schluss bat dieser Drude
»Datum im Felde bei Praaga gegen Warschau gelegen den 24. Julii Styl,
vet. 4656.« Diess ist der 3. Aug. während im Titel der 5. Aug. ange-
geben ist. Die Form des Titels lässt keinen Zweifel, dass diese Relation
*7] Die Schlacht von Warschau. 1656. 361
nach dem vorher angeführten Druck veröffentlicht ist ; dass sie früher,
am 3. August geschrieben und der 5. Aug. auf dem Titel unrichtig ist,
ergiebt sich aus dem Umstände , dass der Schluss des anderen Druckes,
der hier fehlt, noch Vorgänge vom 4. Aug. er\yähnt.
Ich gebe in der 2. Beilage die Relation I. mit den Varianten aus
Relation IL; es genügt die abweichenden Stellen der brandenburgischen
Bearbeitung und des vom Churfürsten corrigirten Exemplars derselben
unter dem Text beizufügen.
Früher ist erwähnt worden, dass die Darstellung bei Pufendorff Fr.
W. VI. 36 mit dem Bericht in den Mem. du chevalier de Terlon p. 536 l
auffallend übereinstimme. Natürlich, denn beide folgen fast Wort für
Wort der eben besprochenen Relation vom 4. August, Terlon hie und da
ein. Paar Worte auslassend , Pufendorff mit einigen sachlich anziehenden
Zusätzen, von denen der wichtigste wahrscheinlich aus mündlicher
Ueberlieferung stammt.
Noch einmal erzählt Pufendorff dieselbe Schlacht in seinem Karl
Gustav (III . 24) und auf den ersten Blick erscheint diese Darstellung
anderer Art ; aber eine genauere Betrachtung zeigt , dass er — abge-
sehen von der Einleitung bis gegen Ende des cap. 24 — doch nur das
Material jener Relation wenn auch in etwas freierer Weise bear-
beitet hat.
Schon vorher hat Johann Lock aus Itzehoe (Loccenius), der Pro-
fessor in Upsala war , in der zweiten Edition der historia herum Sueci-
carum 1 662 die Schlacht von Warschau durchaus nach dieser Relation er-
zählt, und nur die Verhandlungen am 28. Juli berichtet er ausführlicher.
Endlich habe ich noch des »Europäischen Newen Teutschen F 1 o r u s«
(Frankfurt bey Georg Fickwirtten 1659) zu erwähnen. Derselbe hat
p. 89 ein Stück: »Relation der Hauptschlacht dess Königs in Schweden
bei Praga und Warschau gegen die Pohlen;« es ist ein Abdruck der
Relation IL (vom 24. Juli) von § 32—60.
Ich gehe zu einer dritten Reihe von Nachrichten über. Es ist oben
erwähnt, dass Carlson in seiner Schwedischen Geschichte IV. p. 152
4 ) Voicy la Relation de cette grande Bataille que je mets icy pour la satisfaction
des curieux.
Abhandl. d. K. 8. Oe». d. Wias. X. 2V
362 Joh. Gust. Droysen, [»«
dem im schwedischen Reichsarchiv aufbewahrten Berichte Dahlbergs
folgt. Dieser Bericht liegt mir nicht vor ; aus Carlsons Darstellung er-
hellt, dass er viel Eigentümliches enthalten muss.
Graf Erich Dahlberg, der spätere Feldmarschall, hat, als junger
Mann schon General -Wachtmeister, Karl Gustavs Kriege mitgemacht;
er war ein überaus geschickter Zeichner »outre un nombre infini de des-
Beins de bataüle etc., de plans de forteresses, de chateaux etc., notis devons
d ce meme comte l'ouvrage intitule Suevia antiqua et hodierna representant
les idifices les plus remarquables de la Suede sott dorn les villes , soit ä la
campagne avec les paysoges qui les entourent: auvrage magnifique qui ne
prouve pas moins le talent et le goüt de l'auteur que son activilS infatigable«
(Skjöldebrand, hist. mil. et pol. des Rois de Suede I. p. 5).
Das eben citirte Werk wurde auf Befehl Gustav IV. unternommen ;
es enthält in dem allein erschienenen ersten Theil die Geschichte Karl
Gustavs bis zum Rothschilder Frieden mit Abbildungen der wichtigsten
Actionen »d' apres les tableatuc de Lemke et les desseins pris sur les lieux par
Dahlberg.«
Skjöldebrand spricht sich nicht über das Verhältniss zwischen den
Zeichnungen Dahlbergs und den Gemälden, die der Maler Lembke in
Karl Gustavs Schloss Drottningholm im Auftrag der Königin Wittwe an-
fertigte, aus. Es scheint ihm unbekannt geblieben zu sein, dass es be-
reits eine Prachtausgabe der Dahlbergischen Zeichnungen gab.
Denn so wird man die deutsche Ausgabe von Pufendorffs Karl
Gustav, die 1 697 in Nürnberg erschien, wohl nennen dürfen. Nicht alle
die Hunderte von Radirungen und Kupferstichen , die da beigefügt sind,
sind nach Zeichnungen von Dahlberg ; aber die nach seinen Zeichnungen
gemachten zeichnen sich durch künstlerische Auffassung und militairische
Correctheit namentlich im Terrain vor den andern aus. Wenn man die
drei Bilder der Warschauer Schlacht im Pufendorff mit denen des Skjöl-
debrand vergleicht, so erkennt man sofort, dass Lembke seine Gemälde
nach Dahlbergs Zeichnungen entworfen hat; man sieht es theils an der
grössern Bestimmtheit des Terrains in den Radirungen, welches das Ge-
mälde mehr verwischt und verallgemeinert hat, theils darin, dass die
grossen Abschnitte des Bildraumes, den Dahlberg für seine Erklärungen
mit hübsch ornamentirten Umrahmungen aussonderte , in den Gemälden
mit einer willkürlichen Fortsetzung des Bildes ausgefüllt sind.
Zweien von diesen drei Bildern der Schlacht (41. 42) hat Dahlberg
*9j Die Schlacht von W ab schal. 1656. 363
»ein ad vivim dtlineavit beigefügt. Der Ausdruck ist in seinem vollen
Umfeng für richtig zu nehmen; wenigstens in Betreff des Terrains zeigen
sie sich so vollkommen genau, dass jeder Hügel, jeder Morast, die
Lage der einzelnen Dörfer und Weiler , wie sie die Zeichnung giebt , in
der detaillirten Generalstabskarte von der Umgegend von Warschan,
die mir vorliegt, wieder zu finden und als richtig zu erkennen ist.
So werden diese drei Blatter im deutschen Pufendorff mit den auf
ihnen befindlichen Erklärungen als eine besonders wichtige Quelle , als
«
Darstellungen eines im vorzüglichen Maasse kundigen Augenzeugen 2u
bezeichnen sein1.
Bei weitem geringern Werthes sowohl in militairischer als artisti-
scher Beziehung sind die oben besprochenen Zeichnungen des branden-
burgischen Ingenieurs; sie geben die charakteristischen Punkte des
Terrains und der Truppenbewegung , aber sie sind nicht ad vivum ge-
zeichnet ; sie geben ein so zu sagen Schematisches Bild, wie man es aus
der Erinnerung zeichnen kann.
Noch bleibt mir eine Hatiptquelle für die Warschauer Schlacht zu
besprechen.
Lieirwe van Aitzema hat in dein 8. Theil seiner Historie ofVerhael
van Sahen van Staet en Oorlogh, der 1 663 erschien, in der Quartausgabe
p. 553 — 560 einen ausführlichen Bericht von der Schlacht, den er einführt
mit den Worten : »De heeren Brandeburghsche hebben daer van gesonden
het volgende verbael.« Am Schluss desselben steht : »Datum Warschau
desen vierden Augusti 4656.«
Der letzte Satz dieses Berichtes sagt : »ende det is het, wat van die
tijdt af dat ick 11 Ed. niet hebbe können schryven , is gepasseert ;« eine
Anrede , die wenigstens so viel erkennen lässt, dass das Schreiben nicht
an die Ho. Mog. , die Generalstaaten , noch an die Ed. Groot Mog. , die
Staaten von Holland , noch an die Princessin Hoheit gerichtet war. Die
Bemerkung bei dem Obersten Syburg, dass er ein Glevischer Edelmann
i) Di* Abweichungen in Cartoons Erzählung — namentlich die des driften
Schlachtlages stimmt durchaus nicht mit Dahlbergs Erklärungen seines vortrefflichen
Bildes BI. 42 — zeigen, dass der Dahlbergische Bericht im schwedischen Archiv nicht
identisch ist mit diesen Erklärungen zu den Bildern, obschon sie recht eigentlich einen
Berieht der Schlacht nach* ihren wesentlichen Momenten geben.
2a*
364 Joh. GrST. Dboysen, [**
sei , lässt vermuthen , dass der Empfänger des Briefes ein näheres Inter-
esse für Cleve hatte; man könnte an Weymann, der aus Duysburg war,
an Matthias Doge, den auch als Schriftsteller bekannten Artilleristen,
der in dieser Zeit des Churfürsten Agent in Amsterdam war, denken.
Dass der Schreiber des Briefes ein brandenburgischer Officier (»onsen
Chur-Vorst« heisst es gegen Ende) und zwar aus der nächsten Umgebung
des Churfiirsten war, spricht sich deutlich genug aus !.
Der Bericht ist durchaus original. Dennoch stimmt er in vielen
Sätzen wörtlich mit einer Relation (Relation III.) überein , die in zwei
Drucken vorliegt, einmal als Brochure (4 Blätter 4°. *. /.), sodann als
No. IL der »Einkommenden Ordinari- und Postzeitungen,« einer Art
Kriegszeitung, von der mir auch noch spätere Nummern bekannt gewor-
den sind , und die mit der Bezeichnung »XXXII Woche« die Zeit ihres
Erscheinens (6 — 12. Aug. 4656) bestimmt.
Der Titel dieses Berichts ist :
»Relation oder wahrhaftiger Bericht wie es bey der von Seiten S.
Churfl. Durchl. zu Brandenburg etc. wider die Polen und Tartaren
bei Warschaw erhaltenen Victoria daher gegangen, de dato 31. Juli
1656; aus dem Churfl. Hauptquartier Prag vor Warschaw.«
Die Uebereinstimmung dieses Berichtes mit dem bei Aitzema ist von der
Art , dass man annehmen muss , jener habe bei der Abfassung dieses
späteren und ausführlicheren unmittelbar vorgelegen. Ja eine Stelle in
Aitzema stimmt fast wörtlich mit der früher erwähnten Rel. I. überein2.
\) Wahrscheinlich ist dann der Bericht in Holland gedruckt und rerbreitet wor-
den. Aitzema stand im Herbst 1656 in geschäftlicher Beziehung zu Brandenburg;
er war der Agent der Glevischen Stände im Haag , wo die Parthei de Wittes , höchst
unzufrieden mit der schwedischen Alliance des Churfürsten, ihm Schwierigkeiten
durch die Stünde in Cleve zu bereiten bemüht war. Aitzema äusserte sich gegen
Weymann: »Holland gehe weiter als sie begehrten, es helfe den Ständen an einer
Seite so stark auf das Pferd, dass sie an der andern wieder herunterfielen.« Wey-
manns Schreiben vom 7. Oct. 4 656. (Düsseid. Arch.)
2) Rel. I. § 40: Aitzema VIII. p. 554.
»in massen dann anfangs ein Polnischer dan op halve wegh rescontreerden sy
Trompeter kommen, welcher an Sr. eerstelijck een Trompetter (die een brief
Churf. Durchl. ein Schreiben voll harter van deKoningh van Poolen brachte aen
und schmählicher Bedrohungen gehabt, den Chur-Vorst vol van betterheyt ende
worinnen Sr. Churf. Durchl. so treue d rey gerne n ten , waer by sijn Majesteyt
Vermittelung von Polnischer Seiten nogmaels de mediatie van sijne Cbur-
g'.inlzlich verworflen worden, und dar- Vorstel. Door. verwierp ende daer na
24] Die Schlacht von Warschau. 1656. 365
eine Uebereinstimmung , die sich doch vielleicht aus der Art , wie man
in beiden Hauptquartieren die Vorgänge der letzten Tage sofort sich mit-
getheilt und besprochen haben wird, hinreichend erklärt.
Die Relation III. mit einem Theil der Abweichungen des Berichts
bei Aitzema ist in der 3. Beilage gedruckt.
Wir haben hiermit die wichtigsten Quellen für die Geschichte der
Warschauer Schlacht besprochen. Es sind folgende :
1. a. Der eigenhändige Bericht des Churftirsten und
b. dessen Abschrift in Weymanns Journal (Beilage 4).
2. a. Die im Wesentlichen übereinstimmenden schwedischen Be-
richte, Relation I. vom 4. Aug. und
b. Relation II. vom 3. August (Beilage 2).
Diesen schliessen sich an die Darstellungen
c. im Theat. Eur. nach brandenburgischer Bearbeitung, so wie
d. das vom Churftirsten . corrigirte Original dazu;
e. die in Pufendorff Fr. Wilh. VI. 36 mit zwei oder drei Zu-
sätzen,
f. die in Pufendorff Karl Gmt. III. 24 mit freier Bearbeitung der
Quelle,
g. die in Terlons Memoiren,
h. die in Loccenius hist. Rer. Suec,
i. die im teutschen Florw.
3. Die von Erich Dahlberg stammenden Nachrichten,
a. und zwar sein Bericht, den Carlson in seiner schwedischen
Geschichte benutzt hat,
b. sodann seine drei Blätter von der Warschauischen Schlacht
in dem deutschen Pufendorff,
c. die danach von Lembke gemachten , von Skjöldebrand publi-
cirten und erläuterten Gemälde.
auf der französische Ambassadeur de Monsieur de Lumbres, Ambassadeur
Lombres gekommen van Vranckrijck
§ II: weswegen dan alsofort resolviret hier op wierde gberesolveert den Trom-
worden gedachten Trompeter bey sich petter sonder antwoordt by sich te
zu behalten houden
366 Joh. Gust. Dboysbn, t—
4. Die drei Blätter von der Warschauer Schlacht im Theat. Eur.
von dem brandenburgischen Ingenieur M e ni m e r t.
5. Die brandenburgische Relation aus der Ordinari- und Post-
zeitung Relation III. (Beilage 3.)
6. Der brandenburgische Bericht bei Aitzema vom 4. Aug.
Es bleiben uns noch ein Paar andere Stücke zu besprechen, von
denen wenigstens eins von besonderem Interesse ist.
7. Es ist oben des zweiten Stückes der »Ordinari- und Postzeitung«
erwähnt worden. Auch ein erstes Stück hat mir vorgelegen, ebenfalls
aus der XXXII. Woche (6 — 12. Aug.), enthaltend zuerst ein »Extract
Schreibens aus der Vorstadt Warschau d. 31. Juli.« Es ist besonders
durch die erregte Stimmung, in der es geschrieben ist, von Interesse.
Wir bezeichnen diess Stück als Relation IV. (Beilage 4.) Mit dieser
Relation stimmt in mehreren Steilen der schwedische Bericht in der
ersten Ausgabe des Theat. Eur. pt 963 überein, namentlich die
§§ 5. 6. 1 0 ; in anderen Stellen geht der Bericht des TkmU Eur. seines
eigenen Weges; man möchte vermuthen. dass beide von demselben Ver-
fasser sind.
8. In demselben ersten Stück der Postzeitung folgt der unter No. 7
erwähnten Relation ein kurzes »Extract Schreibens aus der Vorstadt
Warschaw, die Praga genannt, aus des Unterkanzlers Radziewsky Haus
vom vorigen« (31. Juli). Wir bezeichnen es als Relation V. (Beilage 5.)
Da in dieser Relation erwähnt wird , dass »der lithausche Schatzmeister
Gonsewsky« unter den Todten gefunden sei, so ist sie eine von denen,
an welchen sich Thuldenius geärgert hat.
9. Es hat mir ein Doppelblatt 4Q. »Particularzeitung No. 32 anno
1656« vorgelegen, auf dem nach einer Relation ausCracau einschreiben
aus Sacrozin vom 1. Aug. folgt, das um so lehrreicher ist, da es von
polnischer Seite kommt, wenn auch aus der Feder eines Mis vergnügten.
Diese Relation VI. enthält wenig über den Verlauf der Schlacht, aber
Wichtiges über die Dinge kurz vorher und kürz nachher (Beilage 6).
10. Von besonderem Interesse ist einschreiben von deLumbres
dem französischen Gesandten am polnischen Hofe, Varsovie 9» Aug. 4656.
Ich habe eine Abschrift desselben durch die Güte des Herrn Dr. Sim-
son, der sich zur Zeit in Paris befindet mit dem Auftrag, die dort vorhan-
denen Materialien zur Geschichte des grossen Churfiirsten zu sammeln.
1 1 . Einon kurzen aber lehrreichen Bericht über die Schlacht giebt
23] Die Schlacht von Warschau. 1656. 367
ein Schreiben des General-Kriegs-Commissarius v. Plathe an den Statt-'
balter in Berlin Grafen Wittgenstein d. d. Warschau 21/31. Juli 1656,
das sich in mehreren Abschriften im Berl. Archiv befindet. (Relation
VII. in Beilage 7.)
1 2. Endlich befindet sich in dem mehrfach erwähnten Actenstttck
des Berl. Archives eine Aufzeichnung , die sich in ähnlicher Weise als
Einlage in eine schon vorhandene Darstellung wie jene für das Theat.
Eur. bestimmte bezeichnet. (Beil. 8.) Es fängt an:
»pp. als perduellem tractiret und ausgeschrieben. Der
polnische General Zamecki« u. s. w.; folgen dann ibehrere Blätter, in
denen die Schlacht beschrieben wird bis zur Rückreise des Churfilrsten ;
endlich die Worte: »und langeten den 19. Aug. zu Soldau, den 23.
desselben aber wiederumb in der Residenz zu Königsberg an. Hierauf
nun ward Polen des Kriegess et sequentia.«
Es kam darauf an herauszubringen, wo diese Darstellung hatte ein-
geschaltet werden sollen. Ich erinnerte mich die Stichworte, namentlich
die ersten irgendwo gelesen zu haben. Durch einen Zufall fand ich sie
wieder.
In der Berliner Bibliothek befindet sich unter der Bezeichnung
Manuscr. Bor. Fol. No. 50 ein handschriftliches Werk des Titels : »Ent-
wurf etlicher denkwürdiger Actionen so von dem Durchlauchtigsten
Grossmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrich Wilhelm dem
Grossen Markgrafen und Churfilrsten zu Brandenburg sein verrichtet
worden.« Es enthält einige Actionen des Churfilrsten bis zum Jahr 1G64,
unter diesen auch die Schlacht von Warschau ; und da fanden sich die
bezeichnenden Stichworte. Es ist diese Darstellung der Schlacht nichts
als eine Reinschrift des in den Blättern des Actenheftes vorliegenden
Conceptes.
Ueber den Verfasser des »Entwurfs« ist nichts ausfindig zu
machen gewesen; das Goncept zeigt eine auch in den Acten jener
Zeit hie und da vorkommende Handschrift, aber wessen Hand es
ist, kann nicht festgestellt werden. Das Manuscript des »Entwurfs« bil-
det einen sehr stattlichen Band , der erst zur Hälfte vollgeschrieben ist ;
der Einband zeigt, dass es einst zur churftlrstlicben Bibliothek ge-
hört hat.
Die Erzählung von der Schlacht folgt in mehreren Stellen wörtlich
der Relat. I. , an einzelnen corrigirten Stellen des Goncepts sieht man,
370 Ion. Gi st. Droysen, [26
ont Heu en Pologne u. s. w. veröffentlicht hat ; es bietet in Betreff der
Schlacht von Warschau nichts als eine oberflächliche Reprodaction der
Erzählung im Pufendorffschen Karl Gustav.
Endlich muss ich noch einer wunderlichen Schrift erwähnen; sie
führt den Titel Casimir Roy de Pologne, ä Paris chez Jean Ribou au
Palais dam la solle Royale ä P Image Saint Louis 1679, 2 Theile. Es ist
keineswegs ein historischer Roman, wenn schon Liebesgeschichten,
Portraitschilderungen , Beschreibungen von Jagdscenen, Brautzügen,
Geremonien des Brautbades u. s. w. mit den politischen und militairi-
sehen Vorgängen um die Wette dargestellt und oft mit Anmuth erzählt
werden. Dass die Liebesgeschichten und die Beichtväter und die In-
triguen der Damen in der Politik Johann Casimirs, der selbst Cardinal ge-
wesen , eine nicht minder grosse Rolle spielten als demnächst am Hofe
Ludwig XIV. , ist vollkommen richtig ; ebenso richtig , dass die Königin
gerade in dieser Zeit der Warschauer Schlacht sehr lebhaft beschäftigt
war den Obermundschenken Johann Zamoysky — denselben, qui se fii re~
marquer comme danseur au Palais Royal , wie die Königin einer Freundin
in Paris schreibt — für eine ihrer französischen Hofdamen zu interes-
siren , für das Fräulein Marie d'Arquien , die Tochter des Marquis und
späteren Cardinais de la Grange d'Arquien, dieselbe, die als seine
Wittwe 1665 sich mit Johann Sobiesky vermählte; an sie sind die zärt-
lichen Briefe des Helden von Wien aus dem Jahre 4 683 gerichtet, die
Graf Plater übersetzt und Salvandy \ 827 herausgegeben bat. Ob die
Königin, wie unsre Schrift berichtet, diese Vermählung wünschte, damit
Zamoysky nicht das Fräulein von Schönfeld heirathe, die des Königs
Herz gefesselt hielt und ob der östreichisebe Gesandte Graf Isola , der
jetzt an den Hof kam, diese Beziehungen seiner Landsmännin, wie diese
Schrift ausführlich erzählt, benutzte, um den östreichischen Einfluss
desto sicherer zu gründen, das mögen andere bestimmen. Als Verfasser
der Schrift wird in Barbiers Dkiionavre des Anonymes Rousseau de la
Valette genannt. Mir hat nur der zweite Theil vorgelegen; vielleicht
hat der Verfasser ähnlich wie in einer andern Schrift, die er verfasst hat,
»Le eomte d Ulfeid grand maitre de Danemarck, nouvelle historique. Paris
1678,« und welche dem Herzog von Montausier dedicirt ist, sich be-
gnügt mit seinem Namen die Dedication zu unterzeichnen , vielleicht hat
er in der Vorrede zum Casimir Roy de Pologne ähnlich wie im Le Comte
<f Ulfeid sich über die Glaubwürdigkeit seiner Nachrichten geäussert;
271 Die Schlacht von Warschau. 1656. 371
denn hier schreibt er : quoique le lecteur trouve des choses fort surjnrenan*
tes en eette histoire, je puis fasteurer que tout y est tres veritable et que je
nay rien escrit que sur des memoire* qui nCen ont ete donnts par des gens
dupat/8 habiles et des-interessis u. s. w. Genug, in dem zweiten Theil
dieser Schrift »Casimir Roy de Pologne« wird auch die Schlacht von
Warschau ausführlich erzahlt (p. 48 — 66) und zwar in einer Weise, die
sehr sonderbar ist.
Am auffallendsten war mir, dass da aus der dreitägigen Schlacht
eine viertägige gemacht wird, indem der Verfasser von einem neuen
Kampf am 31. Juli, von einem Angriff der Polen gegen die durch den
dreitägigen Kampf völlig erschöpften Sieger meldet. Gerade diese An*
gäbe , für die in den bisher angeführten Berichten auch nicht der ge-
ringste Anhalt zu finden ist, giebt uns die Möglichkeit die Kritik der
Quellen noch einen Schritt weiter zu führen.
Ich habe von einem Geschichtswerk zu sprechen, das seiner Zeit in
mehreren Ausgaben und Uebersetzungen verbreitet war und namentlich
im katholischen Deutschland unbedingt dafür galt für die Zeit von 1618
bis 1674 die rechte Geschichtsquelle zu sein. Es ist die von Adolph
Brächet begonnene, von Christian Adolph Thulden und spater von Hein-
rich Brewer fortgesetzte historia nostri lemporis. Alle drei waren köl-
nische Priester und das Werk erschien in dem seit 1648 begründeten
Verlag des jüngeren Kinches (Johann Anton): es ist in derjenigen
Richtung begonnen und fortgeführt, für welche in Cöln allein mehr
buchhändlerische Firmen thätig waren als im ganzen übrigen Deutsch-
land zusammengenommen. Cöln war der literarische Mittelpunkt des
katholischen Deutschlands, dort ging die Speculation der Buchhändler
und der Betrieb der Autoren Hand in Hand ; wie denn der Name des
Begründers der historia nostri lemporis vermuthen lässt, dass er zu
der buchhändlerischen Familie der Brächet gehört , deren Firma (Peter
v. Brachel) wenigstens seit 1 602 in Cöln nachzuweisen ist. Es würde
mich zu weit führen , wenn ich den Kampf der von Cöln aus gegen die
protestantische Historiographie und deren peinlichst empfundenes Ueber-
gewicht geführt worden ist, verfolgen, die bistoriographische Eigenthttm-
lichkeit dieser clericalen Forscher erörtern wollte.
Uns geht hier der vierte Theil des Werkes an, der die Jahre 4 655
und 1656 umfasst. Er ist von Thulden verfasst, der nach Bracheis Tod
die von diesem in 9 Bänden bis 4652 fortgeführte Erzählung in einer
372 Joh. Gust. Droysen, [28
neuen Ausgabe (1656) mit einem dritten Theil bis 4654 fortsetzte, dann
1657 jenen vierten Theil folgen liess. Mir hat eine spätere Ausgabe vor-
gelegen, welche den Titel führt : Christiani Adolf hi Thuldeni historianim
Europitarwn Enneadis primae libri IV. V. VI. sive pars IL annis 4655 et
1656 gesta explicans. accedunt seorsus ad annos praedictos perünentes
tractatus et codiciüi publici, quibus recessus Imperii ultimus, causarum belli
suecici excussio, literae universales, manifesla aliaque ad hos annos perti-
nentia includuntur. Coloniae Ubiorum apud Joannem Antonium Klinckium.
anno 1665. cum Privilegio S. C. M. 8 Bande 12°.
Thulden stellt jenen schwedisch-polnischen Krieg mit sehr lebhafter
Theilnahme für Polen dar, er beschreibt mit grosser Ausführlichkeit und
als einen sichtlichen Triumph der guten Sache jene Erhebung Polens, in
der die Mutter Gottes von Czenstochau und ihr wirksamer Beistand in
der Rettung ihres Heiligthums eine gebührende Stelle findet. Dann folgt
p. 280 die Darstellung der Warschauer Schlacht; nach der Flucht der
Polen am dritten Tage — hanc Polonorum fugam Suedus et Brandenbur-
gs victoriam suam arbitrati in castris prope triumphum adornant — sam-
meln sich über Nacht die Lithauer und die Tartaren 9 greifen am andern
Morgen ubi jam depugnatum esse Suethici putabant von Neuem an , forte
et fortunatum adversus Suedos proelium committunt.
Dass Thulden sich diese Dinge nicht ausgedacht hat, versteht sich
von selbst. Er hat , wie seine vier Bände Beilagen zeigen, aus Zeitun-
gen , Brochüren , fliegenden Blättern u. s. w. gearbeitet, und dass Cöln
für »neueste Nachrichten« neben Amsterdam, Frankfurt. Danzig und Brüs-
sel ein Hauptplatz war, zeigen die unzähligen brieflichen Nachrichten
aus Cöln, die man aus jener Zeit in so vielen Archiven findet. Auch
seine Warschauer Schlacht wird Thulden aus gedruckten Nachrichten
entnommen haben; natürlich nicht aus denen, die wir bisher kennen
gelernt haben. Die richtige Spur zeigt uns die schon oben angeführte
Aeusserung Löcks : quae mendacia de Suecis Dantisci et in Belgo sparsa
sint, ut satis notum hie non repetam.
Es ist mir bisher nicht gelungen Danziger Drucke über die War-
schauer Schlacht zu finden. Aber auch aus Des Noyers Briefen ist der
überaus thätige und gut polnisch gesinnte Buchhändler Georg Förster
bekannt , aus dessen Verlag u. a. die prunkvollste Darstellung der wun-
derreichen Rettung von Czenstochau hervorgegangen ist. Um die Zeit
der Warschauer Schlacht oder gleich nachher kam die holländische Flotte
29] Die Schlacht von Warschau. 1656. 373
auf die Danziger Rhede, um die Stadt in ihrem Widerstände gegen Schwe-
den zu unterstützen. In Danzig wie im Haag war man beflissen den Aus-
gang der Schlacht so günstig als möglich zu deuten , und man fand in
einem Vorgang, der unmittelbar nach der Entscheidung eingetreten war,
den Anlass von einer Wiederaufnahme des Gefechtes am vierten Tage
und deren günstigem Erfolg der zeitungsgläubigen Welt Nachricht zu
geben. Auf solche Danziger oder Hollander Nachrichten hatte dann Thul-
den seine Darstellung gegründet, nicht ohne eine scharfe Kritik der geg-
nerischen Nachrichten beizufügen: his proeliis eo iriduo aut quatriduo
conserüs mendaciorum ingens farrago de victoria Suedi et Brandenburgi e
Prussia in Germaniam allata est u. s. w.
Die sehr lehrreichen Berichte des Danziger Agenten am polnischen
Hofe, des Stadtschreibers Gregor Barckmann, theile ich auszugsweise
in Beilage 1 1 mit.
II. Feststellung des Thatbestandes.
Nach der Natur der vorliegenden Materialien wird man nicht den
Anspruch machen dürfen den Verlauf der Schlacht so bis ins Einzelne
genau feststellen zu können , wie die militairische Literatur die Schlach-
ten neuerer Zeit darzustellen sich gewöhnt hat. Es bleiben mehrere
Punkte unklar und man muss sich begnügen den Gang der Gefechte in
den wesentlichen Momenten feststellen zu können.
Das Schlachtfeld.
Ich lege der Terrainbeschreibung die früher erwähnte russische
Generalstabskarte zum Grunde die vor etwa 20 Jahren zum Be-
huf eines Manövers in der Umgegend von Warschau lithographirt und
den anwesenden fremden Officieren gegeben worden ist. Ausserdem
benutze ich eine in grossem Maassstabe und mit vorzüglichem Fleiss ge-
stochene Ingenieurkarte von Warschau, die auch einen Theil des
Schlachtfeldes uinfasst. Herr Dr. Krasnosielski hat die grosse Güte ge-
habt Durchzeichnungen beider Karten an Ort und Steile zu controliren
und einzelne zweifelhafte Punkte festzustellen.
Das Schlachtfeld liegt Warschau gegenüber , bei Praga. Südwttrus
ist es durch einen todten Weichselarm abgeschlossen , der sich in einem
sumpfigen Grunde in der Richtung von Grochow fortsetzt. Etwa 500
Schritt nördlich von diesem Weichselarm beginnt eine Dünenreihe, die
374 Joh. Gcst. Droysen, [30
bald zu einer Kette von Hügeln an einander gereibt, sich parallel mit der
Weichsel und etwa 3000 Schritt von ihr entfernt eine halbe Meile weit
hinzieht. Zwischen den Dünen und der Weichsel ist ein welliges Ter*
rain, dessen Senkungen mit Sumpfwiesen gefüllt sind; namentlich nach
Norden hin zwischen dem Ende der Dünen und dem Strom erhebt es
sich in drei Schwellungen, die von sumpfigen Gründen getrennt sind
Es bildet sich so ein eigentümlich geschlossener und zur Vertei-
digung wohl geeigneter Raum um Praga, ein Oblongum von reichlich
V2 Meile Länge, J/4 Meile Breite, dessen West- und Südseite durch die
Weichsel und den todten Weichselarm , dessen Ostseite durch die Du*
nenreihe gedeckt ist. Die Nordseite ist offener; aber theils beherrschen
die Schwellungen des Bodens das tiefere Terrain , das nordwärts davor
liegt, theils macht der Sumpfgrund zwischen den Dünen und der näch-
sten Schwellung, der sich weiter nach Norden fortsetzt, den Zugang
schwierig ; endlich springt in der Fortsetzung der Dünenreihe und von
ihr durch einen breiten Hohlweg getrennt, eine einzelne Düne hervor,
welche das Flachland im Norden und Osten beherrscht.
Diese Terrainbildung ist wie ein natürlicher Brückenkopf fllr War-
schau, und als solcher ist er, wie die drei Dahlbergischen Zeichnungen
zeigen, von der polnischen Armee benutzt und durch Erdwerke ver-
stärkt worden.
Sie hatten auf der zuletzt erwähnten nordwärts vorspringenden
Düne eine geschlossene Schanze aufgeworfen (den Schanzhügel); sie
hatten die Schwellungen zwischen hier und der Weichsel mit Retranche-
ments versehen, deren Kanonen das nordwärts vorliegende tiefere Land
beherrschten (die Schanze Zamoyskys auf der westlichen Schwellung,
dann die Czarneckys, nach Barckmann, der fllr die dritte, östliche Schwel-
lung kein Schanzwerk erwähnt). Sie hatten den südlichsten Theil der
Dünenreihe, die mit Wald bestanden war (das Holz von Praga) mit Erd-
werken gesichert, so dass es der Feind der in das Defite beim todten
Weichselarm eindringen wollte, unter den Kanonen dieser Werke pasaren
musste. Hinter dem Holz von Praga waren noch weitere Verschanzungen.
Mit besonderer Vorsicht war der Uebergang über die Weichsel ge-
deckt. Die Schiffbrücke, die herüber führte — nach Dahlbergs Zeich-
nung ist ihre Lage genau zu bestimmen, — war diesseits und jenseits
durch ein besonderes Schanzwerk gedeckt. Und wie weiter diesseits die
Retranchenients sie schützten, so war jenseits auf der Uferhöhe bei Pulko
34] Die Schlacht von Warschau. 1656. 375
eine Schanze aufgeworfen (Des Noyers p. 214) für den Fall, dass der
Feind auf dem linken Ufer herankam *.
Die beiden neueren Specialkarten, die mir vorgelegen, zeigen
Reste von Schanzwerken vor dem Holz von Praga , hinter demselben,
dann auf zwei von den drei Schwellungen , wo die nördlichen Retran-
chements gelegen haben müssen. Sollten diese Reste aus einer andern
Zeit herstammen als aus der unsrer Schlacht , so würden sie wenigstens
die militairische Bedeutung der gewählten Stellen bezeichnen2. Zur Zeit
der Schlacht füllte Praga noch nicht den ganzen Raum aus, den es jetzt
umfasst. Die Karte von Memmert nennt neben Praga und südlich davon
ein zweites Dorf Skarizowo , und beide führt Des Noyers mit der Be-
zeichnung ces deux grands villages vis-ä-vis de Varsovie an. Bei beiden
lagen mehrere Landhäuser, deren einige die Zeichnung Üahlbergs nennt.
In diesem Bereich bewegt sich die Schlacht des dritten Tages, die
des zweiten im Osten der Dünenreihe, die des ersten im Norden der
Retranchements.
Im Osten der Dünenreihe liegt ein weites Flachland, zum Theil von
Brüchern und Wiesen durchzogen, die ihren Abfluss nordwärts zum
Zonzabach und durch ihn in den Bug haben. Diess Flachland erstreckt
sich etwa 1 Vi Meilen weit ostwärts , wo der weite Wald von Grochow
den Horizont schliesst. In dieser Fläche liegen mehrere Dörfer, zunächst
Kamin zwischen dem todten Weichseiann und dem Holz von Praga,
dann Targoweck dem Nordende des Holzes von Praga gegenüber,
etwa 2000 Schritt ostwärts, am Saum sumpfiger Wiesen, die sich von
hier gerade nordwärts ziehen; dann weiter am Rande derselben das
Dorf Brudno, jenem Schanzhügel gegenüber und etwa 4000 Schritt
von demselben; endlich eben so am Rande des Bruches Bialalenka
mit einem »königlichen Hause.«
Dann das Terrain im Norden, das des ersten Schlachttages. Zwi-
schen Bialalenka und der Weichsel liegt ein Wald, der sich nach Norden
dem Fluss parallel fortsetzt, durchzogen von einer Dünenkette, die in der
♦ ) ou etoit un fort pour la garde de notre pont de ce cöti-ei. Nach der Zeichnung
von Memmert war es nicht eine einzelne Schanze, sondern eine Linie von Retranche-
ments wie auf der rechten Seite des Stromes« Genaueres in Beilage f 1 .
2) Nach Herrn Dr. Krasnosielski's Angabe sind diese und die bei dem Holz von
Praga angezeigten Schanzwerke noch jetzt wohl erkennbar und gelten dafür aus der
Schwedenzeit zu sein.
376 Joh. GrsT. Droysen, [32
Richtung der von Praga nordostwBrts streicht. Der Wald hat bald Sumpf-
bald Sandgrund. Die Dünenkette begleitet an ihrer Westseite ein Sand-
weg, der dem Schanzhügel gegenüber, etwa 1 000 Schritt von ihm ent-
fernt ins Freie mündet; andre Wege durchschneiden ihn von West nach
Ost,, in der Richtung nach Bialalenka.
Zwischen dem Wald und der Weichsel führt die Strasse von No-
wod wor nach Praga und Warschau ; es ist die auf der das schwedisch-
brandenburgische Heer heranzieht. Der Weg geht über die Dörfer Tar-
chemin, Smidry, dann Zyran, das 3A Meile .von Praga entfernt ist. Hier
nähert sich der Wald in einem Bogen der Weichsel, von der ein schma-
ler Arm so einspringt, dass endlich nur ein Defilö von etwa 7 OD Schritt
bleibt. Dann wendet sich der Saum des Waldes ostwärts, doch nicht in
grader Linie abgeschnitten , sondern so dass der Schwedenkönig, als er
durch diess Defilö vorrückte, zu seiner Linken wieder den Wald sah (Reh
1. 1 7). Es ist die Einbiegung auf der Südseite des Waldes, die sowohl Dahl-
bergs Zeichnung Bl. 40 als auch die Generalstabskarte deutlich bezeichnet.
Ein zweites Defilä ist zwischen dem Walde und dem Schanzhügel,
von etwa 1000 Schritt Breite, verengt durch die zum Theil sumpfige
Wiese, die hier aus den Dünen hervortretend an der Westseile des
Schanzhügels sich nordwärts in den Wald hinein fortzieht. Vor diesem
Pass, »allernächst beim Walde,« liegt »eine kleine Colline« (Rel.L), welche
diesen Pass von Osten her beherrscht ; sie ist so gelegen , dass die Al-
liirten mit der Besetzung derselben »gänzlich um den Wald herumkamen«
(Bericht No. 1). Also ist es nicht die kleine Höhe, die in der Richtung der
Dünenreihe dicht an dem Austritt des Sandweges aus dem Walde liegt.
Diese kleine Colline ist der filr den Verlauf der Schlacht entschei-
dende Punkt. Memmert hat in dem Gefühl ihrer Wichtigkeit sie unver-
hältnissmflssig vergrössert, er so wie Dahlberg zeichnet sie ziemlich dicht
an der Südostecke des Waldes , doch so dass zwischen ihr und dem
Wald Raum zur Aufstellung von drei Treffen bleibt, während des Chur-
ftlrsten eigenhändiger Bericht angiebt , dass »das erste Treffen für dem
Holz, die beiden andern in dem Holz aufgestellt wurden.« Auf der rus-
sischen Generalstabskarte ist sie nicht bezeichnet, aber in der Inge-
nieurkarte erkennt man sie in der Höhe, die sich an dem Walde hin-
zieht, ein Wenig über sein Südende hinausragend '.
t ) Herr Dr. Krasnosielski schreibt über diese Colline : vor einigen Jahren war
an der nach Süden vorspringenden Stelle dieses Höhenzugs ein nicht unbedeutender
33] Dm Schlacht von Warschau. 1656. 377
Es ist der Mühe werth die kurze Beschreibung des Terrains hinzu-
zufügen die Kochowsky giebt : Situs loci ad Pragam in protensam plani-
tiem vergit, Vistula dextro laiere praelabente. ab laeva hinc inde coenosi
trajectu8 ex intervenienlibus rim, etiam arenarum cumulis assurgenlibus.
adhaerebat planitiei rarior quidem pinea sylva, sed quae humilibus arbustis
impedita tegendis insidiis plane commoda esset.
Die Starke der Armeen.
Der schnellen Unterwerfung Polens durch die Schweden war ein
mächtiger Rückschlag in der Stimmung des polnischen Volkes gefolgt ;
mit der Rückkehr des geflüchteten Königs, mit jener merkwürdigen Feier-
lichkeit , in der er Polen der Jungfrau Maria weihte , mit den Erfolgen
des Frühlings 1 656 verbreitete sich die Begeisterung gegen die tiber-
müthigen Fremdlinge ; im Anfang Juli war das ganze Land in Waffen.
Die Stärke der polnischen Macht rechnet Des Noyers am 20. Juli
nach gehaltener Revue auf 50,000 M., die der lithauischen auf 10,000
bei Praga und 20,000 die über den Bug detachirt sind. Dazu die Tarta-
ren, 35,000 Herren und 50,000 Diener qui combattent comme les mattres,
am 27sten sagt er sie stehn nur noch drei Lieues von Warschau ; dass sie
beim Beginn der Schlacht nichts weniger als bei einander waren, sagt
sein Schreiben vom 1 1 . Aug. Ungefähr eben so hoch ist das polnische
Heer nach dem Schreiben aus Sacrozin Rel. VI. »In unsers Königs La-
ger hinter Warschau waren 60,000 M. pospolite Ruszenie, in Prag gegen
Warschau über waren über 20,000 M. lithauische Völker; die Quartia-
ner und Husaren waren auf 20,000 und die Tartaren auf 40,000.« Dass
die Polen selbst sich auf 100,000 M. geschätzt, sagt Rel. I. § 57; »über
100,000 M.« Rel. II.; «by twee hondert Duysenh Aitzema. Die brandenb.
Darstellung No. 1 2 sagt »eine Macht welche anfangs 120,000 M. letzt aber
dero eigenem Geständniss nach 84,000 Gombattanten stark gewesen;«
eben so der vom Churftlrsten corrigirte Bericht (No. 2 d). Ganz anders
Hügel, heute ist er verschwunden, weil an dieser Stelle eine Colonie gegründet wor-
den ist. Mit Geschützen kann man heute das Defite am Waldsaume entlang nichl be-
streichen , weil da wo der Waldweg heraustritt, der bewegliche Flugsand eine Erhö-
hung gebildet hat ; die Leute in der Colonie geben an , dass vor i 2 Jahren an der
Stelle noch Sumpf gewesen sei.«
Abhgndl. d. K. 8. Qet. d. Wim. £. 26
378 Job. Gust. Droysen, [34
sind die Zahlen in Rel. I. IL § 57: 8000 Quartianer, 16,000 pospolite
Ruszenie, 5000 Lithauer, 6000 Tartaren, 4000 zu Fuss *; schon die
brandenburgische Bearbeitung verändert diese Zahlen, die vielleicht nur
die wirklich ins Gefecht gebrachten festen Truppenkörper umfassen.
Wie immer die Zahlen schwanken mögen , in allen spricht sich der
Eindruck aus, dass man gegen eine ungeheure Uebermacht »gegen einen
fünfmal stärkeren Feind« gekämpft habe. On peut maintenant, schreibt
Des Noyers 27. Juli, comparer les forces de la Pologne ä un gros taureau et
eelle de Suede ä un renard ; l'un est un gros animal sans conduite que tautre
combat seulement per ses ruses. »Wir hatten ein Mitleid,« sagt der Corre-
spondent aus Sacrozin , der die Alliirten über den Bug marschiren ge-
sehen , »dass diese Völker gleichsam auf die Schlachtbank geführt wer-
den müssten.«
Aber unter den Völkern auf polnischer Seite waren offenbar nur
wenige Schaaren eigentlicher Soldaten; der bei Weitem grösste Theil
bestand aus »irregulären Truppen.« Als solche wird man zunächst die
Tartaren bezeichnen müssen, die mit Pfeilen schössen (Aitzema). Auch
die pospolite Ruszenie, die »Insurrection des gemeinen Adels« gehört hier-
her, die auf 16,000, auch 60,000 angegeben werden; gewiss gilt .von
ihnen, was um dieselbe Zeit der Graf von Coligny - Saligny (Mem.p. 23)
in Betreff der Kämpfe der Fronde beobachtet : »j'ai souvent raisonne sur
ce que cest de gern disciplines au prix de ceux qui ne le sont pas; toute
ooo
I ) Die verschiedenen Angaben übersehen sich am besten in folgender Zusam-
menstellung.
Rel. I. II. Bericht aus Sacrozin. Theat. Bur. ed. 2. Des Noyers.
Quart. 8000 20.000 80,000 |
Husaren — — — Uo,000
Posp.Rusc. 16,000 — 60,000 J
_ f35, 000 Herren l
Tart. 6000 40,000 36,000 {50,000 Knechte J40'1
Lith. 5000 20,000 20,000 30,000 —
Fussvolk 4000 — 4000 6000 4000
Hailoten — — — * 5,000 —
Chrzanowsky hat die Zahlen der Rel. I. II. aus Pufendorff. Er fügt hinzu, le bruü qui
courut alors que Varmee e'tait composee de 4 00,000 kommet avec 80,000 Tartares elait
apparement repandu dans le but de relever le moral des siens et de contenir les Suedois.
Des Noyers schreibt am 27. Juli: notre armie a ele plus de 80,000 kommes, eile est
encore presentemeni de plus de 50,000 hommes sans celle de Lükuanie de 10,000 kom-
mes, qui fait un camp ä part; die detachirten 20,000 Lithauer und die Tartaren rech-
net er nicht mit. Andere Angaben aus Barckmanns Berichten folgen in Beil. < \ .
35] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 379
cetle noblesse estoit composee (Thomtnes fort braves en particulier, cepen-
dant en gros ils nesUrient bon ä rien et faisoient mesme assez mechante
conlenance.« Nicht eben andrer Art dürften die Hasaren gewesen sein ;
schwergepanzerte , mit Lanze (copie) , Pallasch , Hammer , Pistolen be-
waffnete Ritter, deren jeder — nach Art der alten Gleven — zwei bis
vier leicht Bewaffnete zu Pferde hinter sich hatte; auch die Löwen-
und Tigerfelle* die sie trugen , zeigten , dass sie die reicheren Edelleute
des Landes seien. Nur die Quartianer waren Reiter im regelmässigen
Sold. Ueber die Lithauer liegen keine besonderen Nachrichten vor.
Wenn das Fussvolk auf 4000 oder 6000 Mann angegeben wird, so
scheinen damit die »einigen Regimenter deutscher Kriegsknechte« im
polnischen Heer gemeint zu sein , deren ein Schreiben Karl Gustavs an
E. Oxenstjerna vom 31. Juli erwähnt (Carlson p. 152). Denn die 12 —
1 5,000 valets de l'armde, qui est devanl Varsovie, die sich nach Des Noyers
22. Juni zur Erstürmung Warschaus erboten haben , sind eben kein or-
dentliches Fussvolk, sondern das was Rel. L § 15 Halloten nennt, »Ge-
sinde, welche nicht mit Obergewehr, sondern nur Säbeln, Sensen, Prü-
geln und dergleichen Instrumenten versehen.«
Dieser ungeheuren Uebermacht der Zahl nach hatten die Gegner
eine kleinere aber aus Soldaten, aus disciplinirten und tactisch geschlos-
senen Schaaren bestehende Armee entgegenzustellen.
Ueber die Zahlenverhältnisse der »conjungirten Armee« sind wir
leidlich genau unterrichtet. Jn de Lumbres Schreiben vom 9. Aug. heisst
es : Celle de Su&de est forte d'environ dix milk hommes, celle de M. PEle-
cteur est presque de pareil nombre , plus forte d Infanterie mais plus foibk
en cavallerie. Diese Angabe wird im Wesentlichen durch die Berichte
die von der andern Seite her stammen , bestätigt. Am speciellsten und
wohl auch zuverlässigsten ist die Angabe der brandenburgischen Dar-
stellung in Beilage 8: »Die königliche Armee war in 9000, die churflirst-
liche aber in 8490 Mann bestanden.« Und in der dem Churfllrsten vorge-
lesenen Darstellung (No. 2 d) wird die Stärke von »16 bis 17,000 Mann«
angegeben. Carlson (also nach Dahlberg) hat beim Uebergang über den
Bug 22,000 M., am ersten Schlachttag 18,000 M., Aitzemap. 559 20—
25,000 M., gewiss zu gross.
Auffallender als diese Verschiedenheit in den Zahlenangaben ist,
dass die Aufzählung der einzelnen Truppenabtheilungeh in Rel. I. II. und
den davon abgeleiteten Berichten weder mit der genauen Zeichnung
*6»
380 Joh. Gust. Droysbn, [36
Dahlbergs noch mit der Mermnerts stimmt. Die Relationen I. II. (§ 56.
57) geben an, dass das vereinigte Heer gehabt habe
60 Escadronen zu Pferde,
4 Regimenter Dragoner,
1 2 Brigaden zu Fuss,
sie fügen hinzu (§15), dass um beide Flügel gleich zu machen 5 schwe-
dische Schwadronen dem linken Flügel dem des Churfttrsten überwiesen
seien. Danach also waren im Heer 35 schwedische, 25 brandenburgische
Escadronen. Die ordre de bataille die Dahlberg auf Blatt 41 giebt, hat
33 schwedische Schwadronen (davon 5 auf des Churftlrsten Flügel) und
23 brandenburgische (davon 2 auf des Königs Flügel), ohne Bemerkung
darüber, ob 2 schwedische und 2 brandenburgische abcommandirt seien.
Das früher erwähnte Schreiben Jenas erwähnt das (schwedische) Regi-
ment Anhalt , das er selbst in Action gesehen ; aber es fehlt bei Dahl-
berg K — Die 4 Dragoner-Regimenter finden sich in der ordre de bataille,
und zwar ein schwedisches von 1 Schwadron (Pfalz Sulzbach) auf dem
Flügel des Königs, drei brandenburgische auf dem des Churfbrsten, näm-
lich die Regimenter Waldeck zu 2, Canitz zu 2 und Kalkstein zu 1 Schwa-
dron. Dass das Fassvolk in 12 Brigaden getheilt war, und dass davon
3 schwedische , 9 brandenburgische waren , sagt Aitzema und Rel. III.
ausdrücklich und lassen auch die Rell. I. II. § 15 u. 16 erkennen. Eben
so giebt Hemmerts Ordre de bataille am zweiten Tage 12 Brigaden,
von denen 3 (schwedische) auf dem äussersten Flügel des Königs, 3
brandenburgische auf dem äussersten Flügel des Churfbrsten , 6 bran-
denburgische im Centrum der Schlachtlinie stehen. Sehr auffallend ist,
dass Dahlbergs Zeichnung dem schwedischen Fussvolk eine viel grössere
Bedeutung zu geben sucht ; sie führt überhaupt nur 1 1 Brigaden auf,
von diesen sind 6 schwedische und nur 5 brandenburgische *.
Diese verschiedenen Angaben fordern noch einige Erläuterungen.
Es wird von Militairschriftstellern wohl der Fehler gemacht, dass sie
t) Sehr abweichend isl Carlsons Angabe: nach ihm hatte des Königs Flügel
4 schwedische Regimenter, Upland, Smiland, Ostgöta, Pinnen und 21 Escadrons ge-
worbene deutsche Reiter und der Flügel des Churfürsten 32 Escadrons Brandenbur-
ger. Das widerspricht allen andern Nachrichten und den Zeichnungen Dahlbergs.
2) Er nennt die schwedischen: Westrogothen , SmÜland, Upland, Helsing und
ObristNarn; dass letzterer schwedisches Volk bedeutet, ist sicher. Carlson nennt
fünf schwedische Brigaden (die obigen ohne Narn) aber daneben zehn brandenbur-
gische.
37] Die Schlacht von Warschau 1656. 381
Ausdrücke wie Escadronen , Regimenter , Bataillone so verstehen , als
wenn sie stets die gleiche Bedeutung gehabt hatten. Wenn man die tech-
nischen Ausdrücke wie sie sich im dreissigjtthrigen Kriege namentlich auf
schwedischer Seite entwickelt haben, genauer studirt, so zeigt sich, dass
Escadronen (Vierecke) für die Reiter die kleinsten tactischen Körper be-
zeichnen, die in der Regel aus mehreren Compagnien gebildet wurden \
dass für das Fussvolk theils derselbe Ausdruck , theils , wie in diesem
Kriege, daneben auch der Ausdruck Brigaden im Gebrauch war.
Gewiss waren des Churfürsten Compagnien zu Fuss und zu Ross,
da er eben jetzt erst ins Feld rückte, verhültnissmttssig vollzählig, wah-
rend die der Schweden, die schon seit einem Jahre im Felde lägen
und eine Wintercampagne gemacht hatten, sehr zusammengeschmolzen
sein mochten 2.
So konnte es geschehen , dass die brandenburgischen Reiterregi-
menter Kannenberg , Fr. Waldeck, Leibgarde 3, 4, 5 Escadronen bilde*
ten, wahrend auf schwedischer Seite nur die Reiter Königsmarks und
Sadowskys zu 3, ein Paar andre zn 2 Escadronen stark genug waren 3.
Aehnlich beim Fussvolk ; in der That hatte der C hurfürst nur die Regi-
menter Leibgarde, Sparr, Syburg , Goltz und Josias Waldeck ; aber die
Compagnien dieser Regimenter waren zahlreich und vollzählig genug,
dass die Regimenter Goltz , Sparr , Syburg und Waldeck je 2 Brigaden
herstellen konnten ; nur die Leibgarde bildete eine Brigade. Immerhin
mögen auf schwedischer Seite 6 Regimenter Fussvolk wie Dahlberg
angiebt , gewesen 6ein ; aber es ist wohl erklärlich dass sie nur noch
Mannschaft genug zu drei Vierecken hatten. Diese Auffassung wird be-
stätigt, wenn man die schwedischen Truppentheile , die Dahlberg im
Lager von Nowodwor aufführt, mit denen, die sein Schlachtplan giebt,
vergleicht, worauf ich nicht naher eingehen will.
\ ) So schreibt Graf Fritz Waldeck dem Churfürsten nach dem unglücklichen Ge-
fecht von Johannfsburg 8. Ocl. 4 656, »ich habe noch wenig von den Ausreissern,
doch 6 Schwadronen kann ich machen.« (Berl. Arcb.)
2) Des Noyers schreibt 22. Juni, bei Nowodwor seien 26 Regimenter, darunter
3 zu Fuss chaque regiment riest que de 4 compagnies, dan* la pluspart desquelles Ü riy
a que 4 5, 20 au 30 hommes au plus.
3) In dem eben erwähnten Gefecht hatte Radzivil als schwedischer General, wie
Waldeck an Weymann 20. Oct. schreibt sim regiment* qui faüoient six cents komme*
de cheval. (Düsseid. Arch.)
382 Joh. Gcst. Droysen, [38
Eine andere grössere Schwierigkeit ergiebt das Zahlenverhältniss
zwischen den brandenburgischen und schwedischen Völkern.
Die schwedischen Berichte (Rel. I. II. u. s.w.) vermeiden die Stärke
beider Armeen nach der Kopfzahl anzugeben ; sie führen nur die Zahl
der Brigaden und Escadronen an; sie sagen § 57, dass auf jedem Flügel
30 Escadronen gestanden, nachdem sie § 15 angeführt, dass um beide
Flügel gleich zu machen, 5 schwedische dem des Ghurfürsten zugelegt
seien. Der Ghurfürst hat § 57 statt der Zahl der Escadronen corrigirt,
dass die conjungirte Armee 16 — 17000 Mann stark gewesen; und da-
mit ist der Bericht No. 12, der ja auch in Berlin entstand, dass 9000
Schweden und 8490 Brandenburger zur Stelle waren, bestätigt.
Die Schwierigkeit ist nun, festzustellen, wie diese Zahlen sich auf
die Brigaden und Escadronen der beiden Armeen vertheilen. Denn wenn
sich die Stärke der beiderseitigen Fussvölker wie 9 : 3 verhält, so ist das
Verhältniss der Cavallerie 25:35 dem nicht entsprechend, wenn man
nicht den 4 Regimentern Dragoner (nach Dahlberg 1 Esc. Schweden und
5 Esc. Brandenburger) eine unverhältnissmässige Stärke zuschreiben will.
Man sieht es ist die Frage nach der Grösse der Brigaden und Es-
cadroneü, der kleinsten tactischen Körper.
Als der Churfürst 1646 seine Leibgarde zu Fuss errichtete, be-
stimmte er, dass sie »eine Escadron von 500 Mousquetiren« in 4 Com-
pagnien bilden sollte (s. den Bestallungsbrief bei v. Gansauge das brand.
preuss. Heer p. 11 8) K Und in den Zeichnungen von Memmert und
Dahlberg bildet des Ghurfürsten Garde zu Fuss eine Brigade. Wir dür-
fen annehmen , dass jede der 9 brand. Brigaden ungefähr von gleicher
Stärke war.
Von dem brandenb. Heer zu 8490 M.
enthalten die 9 Brigaden 4500 —
bleiben für Dragoner und Reiter .... 3990 M.
Dürfte man annehmen, dass die Escadronen der Reiter und Drago-
ner gleich stark waren , so würde sich für jede derselben ergeben eine
Stärke von 133 M.
4) Zur Vergleichung führe ich an, dass ein churfiirstlicher Beslallongsbrief vom
9. Mai 4 658 für den Oberstleutnant de Lardeau »die Rüstung einer Escadron zu
Fuss« befiehlt, welche aus vier Compagnien zu 4 00 »gemeinen Knechten« bestehen
soll ausser der oberen und unteren prima plana.
39] Die Schlacht von Warschau. 1656. 383
Diese Zahlen, auf die schwedische Armee angewandt, ergeben
ganz verkehrte Resultate. Nimmt man an, dass die schwedischen Reiter
und Escadronen gleichfalls 4 33 M. stark waren, so waren unter
9000 M.
36 Escadronen 4788 —
es bleiben filr das Fussvolk 4212 M.
was für jede der 3 Brigaden über 1 400 Mann ergeben würde. Und
wieder nimmt man an, dass diese Brigaden gleiche Stärke mit den bran-
denburgischen hatten, so waren unter 9000 M.
die 3 Brigaden Fussvolk 1 500 —
und es bleiben für Reiter und Dragoner .... 7500 M.
wonach jede Escadron 208 M. stark gewesen wäre , also um 2/s stärker
als die brandenburgischen. Sollte also doch die Ausgleichung in den
Dragonern zu suchen sein? Dragoner werden als leichte Infanterie ver-
wendet ; sie rücken, wie Memmerts Zeichnungen erläuternd bemerken,
»in kleinen Parthien zwischen die Reiter vertheilt« an; es muss immer
wenn vorgerückt wird, ein Theil der Leute ausser Gefecht bleiben, um
die Pferde der absitzenden zu halten ; um so viel grösser an Kopfzahl
scheint ihr kleinster tactischer Körper sein zu müssen.
In einem Gefecht bei Dirschau 23. Aug. 1657 theilt Josias von
Waldeck sein Reiterregiment, das er auf »beinahe 500 Pferde« angiebt,
wie es zum Angriff geht in 4 Escadronen ; er fügt gelegentlich in sei-
nem Bericht an den Churftlrsten (Stolpe 7. Sept.) hinzu, dass jede seiner
Escadronen nur 2 Compagnien stark gewesen sei. Seine 500 Reiter
bildeten also 8 Compagnien zu etwa 62 Pferden; er machte zum Ge-
fecht Escadronen von 125 Mann. Nehmen wir an, dass auch bei War-
schau die brandenburgischen Reiterschwadronen 125 Mann stark waren,
so befanden sich in der Gesammtstärke des Churfürsten von
8490 M.
Fussvolk in 9 Brigaden 7500 —
Reiter in 25 Escadronen 3125 —
bleiben für die Dragoner 865 M.
so dass die Escadron Dragoner 173 M. gewesen wäre. Aber man
sieht, dass auch damit das Misverhältniss zwischen der schwedischen
und brandenburgischen Formation nicht beseitigt ist.
Es versteht sich von selbst , dass die Zahlen in Wirklichkeit nicht
384 Joh. Glst. Droysen, [40
so schematisch waren, dass einzelne Schwadronen auch bei den Schwe-
den am etwas kleiner, bei den Brandenburgern um etwas grösser sein
konnten. Nur dass die Frage damit um nichts weiter kommt.
Das Resultat ist, dass die Schweden entweder ihre Brigaden oder
ihre Escadrons oder beide stärker ins Gefecht führten als die Branden-
burger.
So bestimmt die Angabe der Rel. I. IL u. s. w. ist, dass um beide
Flügel gleich zu machen und jeden auf 30 Escadronen zu bringen,
5 schwedische an den Flügel des Churfllrsten abgegeben seien , so we-
nig stimmt damit die detaillirte Zeichnung und Erklärung bei Dahl-
berg und Memmert. In Beilage 10 ist die specieilere Zusammenstel-
lung versucht.
Ueber die Zahl der Geschütze hat nur Des Noyers die Angabe, dass
die Schweden und Brandenburger zusammen 50 — 60 Stücke gehabt
hatten ; wie viele davon grobe , wie viele Regimentsgeschütze waren,
ist nicht zu erkennen. Dass auf Seiten der Polen nur etwa 40 Stücke
waren und von diesen kaum die Hälfte in der Schlacht verwendet wurde,
wird sich später ergeben.
Die Einleitung.
Der Ausgangspunkt der Operationen ist auf Seiten der Alliirten
»das Lager bei Nowodwor,« wie es in vielen Briefen Karl Gustavs seit
dem 28. Juni, die mir vorgelegen, genannt wird. Es lag auf dem rechten
Ufer des Bug , hart an seiner Einmündung in die Weichsel ; gegenüber
auf dem linken Ufer des Bug das Dorf Nowodwor, wo noch bis heut
der Name »schwedische Kempe« in Uebung ist. Eine Brücke war hier
über den Bug, eine zweite über die Weichsel bei Sacrozin Vi Meile nord-
wärts vom Lager geschlagen.
Am 1 4. Juli N. St. hatte der Churfhrst mit seinem Heere die pol-
nische Grenze überschritten und bei Schrinsk, 7 Meilen vom Lager
Halt gemacht (Bericht Beil. 8) ; am 27sten folgte die Vereinigung beider
Armeen bei Sacrozin (Rel. I. IL) , noch am Nachmittag desselben Tages
begann der Uebergang der Truppen über den Bug (Ghurf. Bericht Bei-
lage 1); die Artillerie ging zuerst hinüber, dann sollte die Cavallerie,
endlich das Fussvolk folgen. Die Dunkelheit der Nacht und das Einbre-
chen eines schweren Geschützes verzögerte den Marsch , so dass erst
am 28. Juli Mittags (»nicht eher als gegen den Mittag ,« Ghurf. Bericht
44] Die Schlacht von Warschau. 4656. 385
Beil. 1) der Uebergang bewerkstelligt war. Nach Des Noyers blieben
2000 Mann zur Deckung des Lagers zurück; welche Truppen, wird
nicht ausdrücklich angegeben , lässt sich aber aus dem Vergleich der
Dahlbergschen Zeichnung No. 38 mit den Schlachtplänen ziemlich sicher
feststellen.
Man hatte einen Marsch von 4 Meilen bis Praga (Churf. Bericht).
Auf dem Marsch trifft zuerst ein Trompeter mit Briefen des Königs von
Polen an den Churfilrsten ein , dann »auf halbem Wege« (d my*chemin)
als das Heer einen kurzen Halt gemacht , der französische Gesandte de
Lumbres. Wenn Pufendorff F. W. den Trompeter erst nach dem Gesandten
ankommen Ittsst, so liegt in dem mir bekannten Material kein Grund dazu
vor, und es kann nur als eine Ungenauigkeit bezeichnet werden.
Pufendorff (F. W. VI. 33) theilt ein Schreiben des Polenkönigs an
den Churfilrsten mit, das nach seiner Angabe vom 1 5. Juli datirt ist. Ich
habe das Original des Schreibens nicht gesehen, aber dass das Datum von
Pufendorff auf den alten Styl transponirt ist, ergiebt sich aus dem Vor-
wurf den der König dem Churfilrsten macht : coerceri debwsse intra Bo~
russiae fines exercitum; erst am 14. Juli hatte der Churfilrst die Grenze
überschritten l. Wahrscheinlich war diess das Schreiben, in Folge dessen
der Churfilrst sich mit der schwedischen Armee conjungirte; und das
Schreiben, das der Trompeter am 2$sten überbrachte, war ein anderes, dro-
henderes. Inzwischen bemühten sich die beiden französischen Gesandten
Avaugour im schwedischen und de Lumbres im polnischen Lager zu ver-
mitteln. In Warschau hatte de Lumbres »nach viertägiger Bemühung«
am 26. Juli eine wie ihm schien verwendbare Erklärung erhalten ; aber
es war ihm unmöglich gemacht sofort wie er wollte nach Nowodwor zu
eilen. »Je proposai de partir le lendemain pour aller porter cette rdponse
au Roy de Suede; mais la ceremonie de famvie du General des Tartares,
qui vint ce jour saluer le Roy , rriayant empeschi d'avoir un Trompette je
ne pus partir que le jour suivant, qui estoit le 28.« Man sandte polnischer
Seits den Trompeter mit einem »impertinenten und unzeitigen« Schrei-
4) Den Text desselben Schreibens hat Rudawsky mit dem Datum 53. Juli und
ein entsprechendes Schreiben des polnischen Senates vom 24. Juli. Der polnische
Florus giebt des Königs Brief mit dem Datum 25. Jul. Nach Thulden p. 279 ist des
Königs Schreiben vom 25. Juli: pridie ejus diei, quo hanc epistolam suo nomine sub-
scriptam Rex CaHmirus Varsoviae obsignavü, similis argumenta codicillos Gnesnensis Ar-
ohiepiscopm ... scripsit . . . senatus Polonm nomine.
386 Job. Gust. Dhoyseh. [*2
ben des Königs unzweifelhaft in der Absicht voraas , die Bemühungen
de Lumbres vergeblich zu machen. Des Noyers erwähnt die Abschickung
dieses Trompeters am 27sten mit einem Briefe, in dem der König dem
Churforsten befehle , de poser les armes et quitter le parli des Suedtris, ä
faute de quoi il lux declare quil confisque son fief de Pruste et lui declare
la guerre dans tous ses autres pays.
Nach den Mittheilungen de Lumbres beschlossen die beiden Für-
sten ohne Rücksendung des Trompeters vorzugehn. Der Bericht bei
Aitzema , der in den Zeitangaben sehr speciell ist , giebt an, dass man
mit 6 — 7 Stunden angestrengten Marsches Abends 7 — 8 Uhr vor den
Retrancbements der Polen angekommen sei. Die Spitze der Marschco-
lonne wird sich also gegen 2 Uhr in Bewegung gesetzt haben.
Natürlich geschah diess nach der ordre de bataille, wie sie Rel. I. II.
§ 12 — 16 u. s. w. sehr deutlich erkennen lassen. Voran
der rechte Flügel unter Befehl des Königs und seines Bruders des
Prinzen Adolph Johann (»des Herrn Generalissimus« Rel. I.),
die Reiterei unter Feldmarschall Leutnant Douglas in drei Treffen und
zwar
erstes Treffen (12 Esc. und 1 Esc. Dragoner) unter dem Pfalzgra-
fen von Sulzbach, Generalleutnant der Cavallerie,
zweites Treffen (9 Esc.) unter dem Markgrafen von Baden , Gen.-
Major der Cavallerie,
drittes Treffen (1 0 Esc.) unter General-Major der Cavallerie Hein-
rich Hörn,
das Fussvolk (3 Brigaden) unter Gen.-Major Bülow,
die Artillerie unter Gustav Oxenstjerna.
Der Bericht Beil. 8 giebt an , dass »der Churftlrst und seine Gene-
ralität das corps de bataillc und den linken Flügel comroandirt habe,« wäh-
rend an den mehr schwedisch gefärbten Berichten der Führer des »corps
de bataille,« der 7 Brigaden Fussvolk nicht erwähnt wird. Ob in der
Marschcolonne diess corps de bataille die Mitte gehabt , oder der linke
Flügel voran marschirt sei , wird nicht angegeben. Ich nenne hier in
der Aufzählung zuerst den linken Flügel. Die schwedischen Berichte
sagen : der Churftlrst habe ihn commandirt »und unter dessen conduicte
der Feldmarschall Herr Carl Gustav Wrangel.« In der brandenburgischen
Redaction (Theat. Eur. ed. IL) sind diese bezeichnenden Worte gestrichen,
und in dem vom Churftirsten selbst revidirten Exemplar wird Wrangel
43] Dm Schlacht von Warschau. 1656. 387
neben Span-, Josias Waldeck und Goltz als Führer der 7 Brigaden des
corps de bataille genannt1. Eine ähnliche Differenz ergiebt sich in Be-
treff der drei Treffen des linken Flügels; die schwedischen Berichte
nennen als Commandirende der Cavallerie dieses Flügels die drei Gene-
ral-Majors Kannenberg, Graf Tott , Botticher, beide letzteren Schweden,
während die brandenburgische Bearbeitung sagt : »drei General-Majors,
worunter der von Kannenberg sich befunden «
Hiernach würde sich als wahrscheinliche Ordnung des linken
Flügels und des corps de balaitte folgendes ergeben :
Der linke Flügel unter Befehl des Churfilrsten, in demselben
die Reiterei unter Generalleutnant der Cavallerie Graf Friedrich
Waldeck und zwar
das erste Treffen (1 3 Esc.) unter Gen. -Major Kannenberg,
das zweite Treffen (5 Esc. und 4 Esc. Dragoner) unter Gen.-
Major Graf Tott,
das dritte Treffen (9. Esc. und 1 . Esc. Dragoner) unter Gen.-
Major Bötticher (?),
das Fussvolk (2 Brigaden) unter . . . . ,
die Artillerie unter Gen.-Feldzeugmeister Sparr.
Das corps de bataille (7 Brigaden) und zwar
das erste Treffen (3 Brigaden) unter Gen.-Feldzeugmeister Sparr (?),
das zweite Treffen (2 Brigaden) unter Gen.-Maj. Graf Josias
Waldeck,
das dritte Treffen (2 Brigaden) unter Gen.-Major Goltz.
Die uns vorliegenden Berichte sind nicht genau genug , um erken-
nen zu lassen , ob man den Marsch durch Seitenpatrouillen zu sichern
verstand. Wenigstens streiften die Tartaren am 28. Juli bis vor das
Lager von Nowodwor und nahmen da ein Convoy.
Auf polnischer Seite soll man Vormittags 1 0 Uhr gewusst haben,
\ ) In der unter No. K 4 genannten Brochure »Kurtzer Entwurf der rechtmässigen
Waffena heisst es p. 4 2 von den Vorgängen nach der Schlacht : »Aber der König ver-
warft allen guten Rath, hielt des Churfürsten hohe Person und Helden-massige Thaten
für gar geringe , setzte allerley Mißtrauen , ja selbst vor Warschau , in Ihm : Wie man
denn saget, er habe die Churfurstliche Armee mit seinen Völckern zu umbgeben ge-
suchet, und da ihm solches nicht angehen wollen, den damahJigen General Wrangel
mit etwa 400 Mann zu Ihm gesandt, zwar unter dem Praetext, als ob er disgustiret
wäre, und dero wegen Sr. Churfl. Durchl. lieber dienen wolle, in der Thal aber auff
seine Actionen Achtung zu geben. a
388 Joh. Gcst. Droysen, [44
dass der Feind im Anmarsch sei (Chrzanowsky). Die polnische Armee
hatte bereits begonnen über die Schiffbrücke zu gehen, um sich mit
der lithauischen zum Marsch nach dem Bug zu vereinigen. Der König
setzte sich sofort zu Pferde und begab sich zur Armee.
Kochowsky giebt ihre Aufstellung an, freilich in einer mehr homeri-
schen als militairischen Weise : das Heer im ersten Treffen führten Stanis-
laus Potocky als General, Landskoronsky Feldmarschall (?) unter Leitung
des überall gegenwärtigen Königs; in der Mitte mit den Quartianern
Gzarnecky, Johann Sobiesky, Johann Sapieha, Martin Zamoysky aliique
multiplici linea alanm ductores ; auf dem linken Flügel die Lithauer ge-
führt von Gonsiewsky, unter ihm Hilarius Polubinsky und Michael Pac ;
der eigentliche Führer Paul Sapieha war am Morgen mit dem Pferde ge-
stürzt und hatte das Bein gebrochen. Genaueres ergeben Barckmanns
Berichte, Beil. 1 1 . Nach der Schrift Casimir Roy de Pologne führte Czar-
necky den rechten, Sapieha den linken Flügel ; auöh Thulden nennt Cae-
sarneckius und Sapieha als die Commandirenden.
Wenigstens über einen Punkt scheint die Aufzahlung dieser Na-
men zu entscheiden. Gonsiewsky ist mit seinen Lithauern bei Praga,
aber Lubomirsky der Kronmarschall wird nicht genannt — und er war
nach DesNoyers Brief vom 20. Juli mit 20,000 Mann abwesend; die
höchst schwierige Verpflegung machte es unmöglich, so viele Pferde und
Menschen dauernd bei einander zu halten. Ob Lubomirsky nahe genug
stand, um noch zum zweiten und dritten Schlachttage heranzukommen,
muss dahin gestellt bleiben; dass er nicht kam, würde sich aus DesNoyers
Ausdruck in seinem Brief vom 1 8. Aug. Vwrmee de Lithuanie est encore
en son entier ergeben , wenn nicht dabei stünde aussi bien que le petit
carps que commandoit le grand Iresorier de Lithuanie (Gonsiewcky).
Dass die Tartaren nichts weniger als gesammelt waren, zeigen Des
Noyers Briefe ; ein Theil derselben schweifte am 28sten bis Nowodwor,
andere waren bei Czersko , ein Paar Meilen oberhalb Warschaus. Um
die zerstreuten Schwärme zu sammeln, steckte ihr Aga ein Dorf an, c'est
le signal qu'ils donnent ä leurs gern parce que la futnee s'en voit de hin;
diess scheint bereits am Freitag den 28. Juli geschehen zu sein.
In der Darstellung der Gefechte, auf die ich nun übergehe, sind die
polnischen Quellen nicht von der Art , dass man ein deutliches Bild der
Bewegungen ihrer Armee gewinnen kann ; ich werde sie daher nur ge-
legentlich und in Einzelnheiten auf sie beziehen können.
45] Dm Schlacht von Wabschau. 1656. 389
Das erste Zusammentreffen.
Nur aus des Churftlrsten eigenhändigem Bericht erfahren wir, dass
»Vortruppen« vorausgesandt waren, den Feind zu recognosciren. »Gegen
Abend,« sagt er, »kamen wir an ein Dorf, wo unsre gecommandirten
Vortruppen Bericht brachten , dass der Feind hinter dem Holz stünde ;
darauf filirte der König durch das Holz.« »Nach erlangter Kundschaft,«
sagen auch Rel. I. IL, »habe der König bei einem Dorfe 3A Meilen von
Warschau seinen Flügel in balaiüe gestellt.« Also bei dem Dorfe Syran,
wo zwischen Wald und Weichsel ein freies Feld ist , das sich mehr und
mehr verengt, bis zu jenem Defilä am Strom.
Des Churftlrsten Darstellung giebt die Gefechtsmomente des Abends
einfach so an : »darauf filirte der König mit seinem rechten Flügel durch
das Holz, da dann die Vortruppen mit des Feindes Vortruppen scharmu-
zierten ; worauf etliche Escadronen auf den Feind losgingen und ihn bis
in sein Retranchement zurück poussirten ; der Feind gab wacker Feuer
mit Stücken auf uns; hierüber fiel die Nacht ein und zogen wir uns
etwas zurück.«
Mit besonderer Sorgfalt sucht Dahlberg in den Erklärungen seiner
Zeichnungen die einzelnen Momente des Gefechts zu bezeichnen. Er
lässt zuerst Graf Tott mit schwedischen und brandenburgischen Reitern
die polnischen Vortruppen (cohortes aliquot) zwischen Sumpf und Weich-
sel bis an die Verschanzungen verfolgen , wo er mit Geschossen und
Granaten belästigt wird. Darauf rückt das erste Treffen unter dem
Pfalzgraf von Sulzbach vor, wird aber durch das Feuer aus den Ver-
schanzungen des Feindes am weiteren Vordringen gehindert ; bis in die
tiefe Nacht (in seram usque noctem) wird das Feuer auf ihn fortgesetzt.
Dann brechen polnische Geschwader (turmae) von den Dünen (ab locis
editioribus) in das Defil£ zwischen dem Wald und Schanzhttgel vor, um
den vorausgegangenen Schwadronen (Totts) den Rückzug (zu Sulzbach)
abzuschneiden. Der König wirft ihnen die Escadronen (legiones, die
Zeichnung ergiebt, dass es Reiter sind) Waldeck, Canitz (Dragoner),
Taube entgegen und deckt so seine Vortruppen. Nun rücken die Bri-
gaden (peditat. Suec. et Brand.) allmählig durch das Defilä und stellen
sich hinter dem ersten Treffen des rechten Flügels auf, vor beiden die
schwedische Artillerie, die den zum Angriff vorgehenden Feind in
Schranken halt , quibus hoslium adventantium impelus retundebanlur. Die
390 Jon. Güst. Droysen, [46
nächste Angabe bei Dahlberg bezeichnet die Stellung, in der sich das
Heer während der Nacht befindet; es ist hinter dem Defite an der
Weichsel, hinter dem Walde zurückgezogen.
Sehr bedeutend sind die Abweichungen in den Relat. I. II. und den
ihnen folgenden Darstellungen. Danach lässt der König, wahrend er in
aller Eile von Syran anrückt. Wrangel mit 600 commandirten Reitern
und einigen Dragonern vorausgehn , sich der Passage durch den Wald
zu versichern und das Feld zu recognosciren (§ 16). Des Churfürsten
Correctur sagt, es sei diess geschehen »durch einige Vortruppen unter
Commando des O.-L. Canitz,« der zu des Churfürsten Flügel gehorte.
Dann, fährt Rel. I. IL fort, sei der König in aller Eil gefolgt und habe
aus dem Walde herauskommend gesehen, dass er zur Rechten die
Weichsel gehabt, zur Linken wieder den Wald, der sich bis an des Fein-
des Verschanzungen hinziehe; er habe zwischen Wald und Weichsel
nicht Platz gehabt, mit seinem Flügel in einer Fronte vorzugehen und
deshalb die Regimenter nach einander heranrücken lassen. Der Feind
habe sich vor seinen Retranchements und zwischen Wald und Weichsel
gezeigt, gegen diesen habe der König Wrangel (einige brandenb. Es-
cadronen, sagt die Bearbeitung für das Theat. Eur.; »jene Vortruppen«
des Churfürsten Correctur) vorgehen lassen , ihn bis in seine Retranche-
ments zurückgetrieben (§ 19). Die Richtigkeit dieser Relationen wird
von Jena anerkannt; die Dinge seien so verlaufen bis zu dem Moment,
»wo die Kanonen durch den Bruch kamen.« Nach seiner Auffassung hat
also das Eintreffen der Artillerie eine Bedeutung , wie sie in diesen Re-
lationen nicht zu erkennen ist. Wahrscheinlich folgte dann erst, als das
Feuer der Artillerie dem Vorbrechen der Polen aus den Retranchements
Halt gebot, der Angriff aus dem Defil£ zur Linken der Verbündeten.
Dahlberg stellt diesen Angriff als einen plötzlichen und unerwarte-
ten dar. Die Relation I. IL u. s. w. sagen: da sich die so Voraus-
gesandten zu weit von den Regimentern entfernt, habe man vermuthen
müssen , dass »ein Theil von des Feindes Gross« beim Ende vom Walde
hinter demselben stehn und vorbrechen werde, jene abzuschneiden;
daher der König 4 Escadronen, die nächst dem Walde gestanden, unter
Douglas »in vollem Gallopa vorgehen lassen, die auch glücklich den
Feind geworfen und bis an »seine Retranchements und Musquetiere« ge-
trieben habe. Die Correctur des Churfürsten sagt, dass der König selbst
diesen Chock geführt habe, aber sie streicht die Worte, die den Angriff,
47] Die Schlacht von Warschau. 1656. 391
dem er begegnet, als ein neues Moment, als eine Bewegung des Feindes
aus dem Defilä am Walde erscheinen lassen ; »da sich die Vorausgesandten
etwas zu weit von den Regimentern entfernt, haben S. K. M. selber mit
einigen Escadronen secundirt« und den Feind glücklich zurückgetrieben.
Die Relat. I. II. lassen diesem Angriff den Schluss des Gefechtes
folgen. Da man wegen einbrechender Nacht und grossen Staubes nichts
weiter habe vornehmen können , sei , damit die Infanterie herankommen
könne, der rechte und linke Flügel vor des Feindes Retranchement
stehen geblieben , den Wald im Rücken ; »und ist in währender Action
mit Feuern (der Churftlrst fiJgt hinzu »vom Feinde«) nicht gefeieil wor-
den« (§ 22) , und indem damit eine ziemliche Zeit verflossen , ist indess
die sinkende Nacht eingefallen. Man hat nicht rathsam gefunden unter
des Feindes Stücken stehn zu bleiben, hat sich zurück gezogen, um zwi-
schen Wald und Weichsel die Nacht zuzubringen, der rechte Flügel längs
der Weichsel , der des Cburfürsten längs dem Walde , die Infanterie in
der Mitte, nur 1 2 Escadronen und 2 Brigaden in der Front. Von einer
Deckung auf dem linken Flügel, von Besetzung des Waldes und seiner
Ausgänge ist keine Rede.
Endlich bringt noch der Bericht bei Aitzema und der damit meist
zusammenstimmende in Rel. III. einige Abweichungen; sie sind von
brandenburgischer Seite. Danach ist man »mit ankommender Nacht«
also nach acht Uhr »vor des Feindes Retranchement angekommen.« Der
König, der Churftlrst, Graf Fr. Waldeck, Wrangel, Pfalz Sulzbach,
Douglas und andere »Generalspersonen« gehn mit der Reiterei voran,
»und nachdem sie etliche von des Feindes Truppen getroffen, werden
sie sofort chargirt , geschlagen und bis vor das Retranchement verfolgt.«
Darauf befiehlt der König , dass Sparr mit dem Fussvolk avancire ; 9
brandenburgische, 3 schwedische Brigaden stark rücken sie heran ; drauf
avancirt alles und stellt sich »einen Musketschuss vom polnischen Lager«
in Schlachtordnung , das Fussvolk in der Mitte , die Reiterei auf beiden
Flügeln. Wie das der Feind sieht, beginnt er »gewaltig mit Kanonen
unter unsre Infanterie und Gavallerie zu spielen,« das währt zwei Stun-
den, »dass viele von uns blieben,« (tagt der Bericht bei Aitzema hinzu;
er nennt den »schottischen« Obersten Sengler (Sinckler Dahlb.) und einen
brandenburgischen Major, »und wir hatten keine Zeit noch Macht unsre
Kanonen dagegen aufzupflanzen ; nichts desto weniger sind wir keinen
Fuss breit gewichen , sondern haben gegen die immerwährenden Aus-
392 Joh. Güst. Droyskn, [*8
fälle durch die Avantgarde mit unglaublicher Courage gefochten, so dass
die Polen in ihren Vortheil retiriren mussten ;« erst als es ganz finster ge-
worden , haben die Polen aufgehört zu schiessen. »Da haben wir uns
ein wenig auseinander gezogen und die Soldaten ein wenig ruhen
lassen.« Die Relat. IV. sagt: »das Gefecht währte bis ungefähr um
Mitternacht.«
Die Nacht vom 28. nun 28. Juli.
Die Gefechte des Abends zeigten , dass der Feind in dem vollen
Gefühl seiner Uebermacht und seiner günstigen Stellung mit sehr anderer
Haltung als man bisher von ihm gewohnt war, die Entscheidung er-
warte, ja suche.
Auf dem kleinen Schlachtfeld , in dem man sich den Abend bewegt
hatte, war aller Vortheil auf Seiten der Polen. Sie übersahen von ihrer
sicheren Stellung aus die Aufstellung der Gegner, während die Verbün-
deten vor ihrer Front und ihrem linken Flügel nur die Hohen sahen , die
von der Weichsel bis an den Sumpf hinauf mit Verschanzungen gedeckt
waren, dann auf der andern Seite des Sumpfes auf einer etwas vor-
springenden Höhe ein geschlossenes Schanzwerk, das den Pass zwischen
da und dem Wald beherrschte ; endlich ausserhalb dieses Passes und
quer vor demselben »eine kleine Colli ne,« auch sie mit Geschützen be-
setzt, »welche die Avenue commandirten« (Aitzema).
Der Staub und die einbrechende Dunkelheit hatte natürlich unmög-
lich gemacht eine sichere Ueberschau auch nur bis zu den feindlichen
Retran ehernen ts zu gewinnen, und die Abweisung des Feindes auf dem
linken Flügel hatte schwerlich ein Verfolgen über den Pass hinaus zur
Folge gehabt. Nur vom rechten Flügel aus wird man die Weichsel
hinauf bis zur Schiffbrücke haben sehen und da das unaufhörliche
Hinübermarschiren von Reitern und Fussvolk beobachten können.
Von Gefangenen mochte man Einiges erkunden; so dass die
Königin an der Brücke die Völker an sich vorüberziehen lasse und sie
mit feurigen Ansprachen ermunternd unter andern gesagt habe: »sie
sollten die Feinde mit der Peitsche auseinander jagen« (Aitzema) , oder
auch , dass die Antwort der Polen auf ihre Anrede gewesen : »sie seien
so stark , dass sie den Feind mit der Peitsche wegjagen würden« (Rel.
I. II. 54).
In der Nacht wurde nach Carlson p. 148 Kriegsrath gehalten; es
*9] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 393
riethen »Viele unter den Grossen und wie es scheint auch der Churßlrst«
die Schlacht nicht zu wagen; der König aber habe lächelnd geantwortet:
»nachdem ihr zweifelt, dass wir beim Zusammentreffen mit diesem
starken Feinde mit dem Leben davon kommen werden , so will ich euch
lehren nächst Gott, das Feld und den Sieg von ihm zu erobern.«1
Äitzemas Bericht giebt an, wie man sich zum neuen Kampf vorbe-
reitet, die Armee rangirt, die Kanonen »geplant« habe. Er und Rel. III.
bemerken , dass die Armee »in vier Theilen hinter einander« wieder in
Bataille gestellt sei, der rechte Flügel unter dem Churfilrsten an der
Weichsel, der linke unter dem Könige an dem Wald und Morast, die In-
fanterie und Artillerie in Front zwischen beiden. Diese Angabe muss in
Betreff der Führung der beiden Flügel irrig sein, wie der Gang der folgen-
den Bewegungen deutlich zeigt. Wenn eben da angegeben wird, dass alle
brandenburgische Reiterei auf des ChurfUrsten Flügel gestellt worden,
mit Ausnahme einiger weniger, die der König bei der Artillerie und
Reserve behalten habe, so ist diess in sofern richtig, als zwei Escadronen
Waldeck in der Dahlbergischen ordre de bataille des 29. Juli im ersten
Treffen des schwedischen Flügels erscheinen.
Die Gefechte am 29. Juli Vormittag.
Früh Morgens »bei anbrechendem Tage« (Rel. I. II. u. s. w.) , also
wohl vor dem dichten Nebel, den Des Noyers erwähnt, reitet der König,
der Churftlrst und die Generalität zum Recognosciren aus ; man findet,
dass es unthunlich ist den Feind »zwischen seinen rechten Werken und
retranchement anzugreifen,« ein unklarer Ausdruck, der entweder be-
zeichnet , dass man ihn nicht innerhalb seiner Werke oder nicht in jener
Lücke zwischen den Retranchements und dem Schanzhügel, die mit
Sumpf gefüllt war, angreifen könne. Man kommt zu dem Beschluss sich
jener kleinen Colline zu bemächtigen »und von dannen das Feld besser
4 ) Die Angabe Carlsons erregt einiges Bedenken. Loccenius und Scheffer erzählen
von einer ausführlichen Berathung, ob man schlagen solle, aber in Folge derMiltheilungen
des französischen Gesandten ; sie geben mehrere charakteristische Aeusserungen des
Königs an, mit denen er die Bedenklichen zurückweist und sich für diejenigen entschei-
det , die schlagen wollen ; hanc sententiam Hex cum Electore amplexus sagt Loccenius
p. 734. Von dieser Berathung , die den Zeitgenossen so bedeutsam erschien, sagt
Carlson nichts; und die in der Nacht, die er hervorhebt, erwähnt von den mir be-
kannten Quellen keine.
Abh&ndl. d. K. 8. Ges. d. Win. X. 27
394 Jon. GrßT. Dboysen, [50
zu wählen und zu suchen« (§ 25). War diess der Beschluß« am frühen
Morgen, so hatte das Gefecht auf dem rechten Flügel, bis der Hügel ge-
nommen und damit der Stützpunkt für eine neue Aufstellung gewonnen
war, nur die Bedeutung, den Feind in der Nähe der Weichsel festzu-
halten und hinzuhalten.
Die brandenburgischen Berichte, Ael. III., Aitzema, auch die eigen-
händige Aufzeichnung des Churfilrsten bestätigen diess keineswegs. Sie
geben an , erst nachdem dieser Hügel genommen war, und der König
sich tiberzeugt hatte, »dat het onmogelijck was den Vyandt .... voor
sijne . etrenchementen te slaen , so wierde in der baest van de eerste
ordre verändert« u. s. w.
Es währte bis Nachmittag , bevor diese entscheidende Position ge-
nommen und gesichert war, wie nicht bloss Rel. IV., sondern auch der
schwedische Bericht im Theat. Eur. ed. 1 angiebt. Beide stimmen darin
überein, dass es Vormittags »auf unsrer Seiten sehr zweifelbaftig gestan-
den ;« es meinten die Polen gewiss »sie würden unsrer Meister werden,
weil sie von drei erhabenen Orten« (doch wohl den Retranchements, dem
Schanzhügel, der kleinen Colline) »auf uns canoniren konnten, während
wir in der Niederung ihnen, die hinter den Retranchements standen,
wenig Schaden thun konnten ; Nachmittag hingegen gewannen wir ihnen
eine advatitage ab, nemlich einen Pass, durch welchen wir mit der ganzen
Armee filirten.«
Die Bedeutung dieser Position und ihrer Besetzung ist in der Dahl-
bergischen Darstellung und in den Relat. I. II. u. s. w. in sehr auffallen-
der Weise in den Hintergrund gedringt. Aliendings entschied sie an sich
noch keineswegs den Ausgang der Schlacht; aber sie und nur sie gab
die Möglichkeit, die Disposition auf entscheidende Weise zu ändern.
Die Gefechtsmomente vom frühen Morgen bis zu dieser Entschei-
dung sind in den vorliegenden Berichten nichts weniger als überein-
stimmend angegeben und mehr als einmal wird es unmöglich sein zu
bestimmten Ergebnissen zu kommen. Da man voraussetzen darf, dass
jeder der Berichterstatter das , was gerade er gesehen hatte , anführte,
so darf man bis zu einem gewissen Grade die Einzelnheiten mit einander
combiniren und gegenseitig ergänzen; es ist als wenn man aus ver-
schiedenen perspcctivischen Zeichnungen desselben Gegenstandes seinen
Grundriss zu reconstruiren versucht.
Nachdem Seitens der Verbündeten der Signalschuss gelöst, von
51] Die Schlacht von Warschau. 1656. 395
polnischer Seite erwiedert ist (Aitzema) , und nachdem sich die Alliirten
in Schlachtordnung aufgestellt (Rel. III. , Aitzema) , beginnen die Polen
»gewaltig mit Stücken auf sie zu spielen« und wird ihnen »hinwieder
tapfer geantwortet.« In dieser Zeit wird dem Grafen Fr. Waldeck ein
Pferd unterm Leibe erschossen, dem jungen Pfalzgrafen von Sim-
mern zwei.
Dass die von Aitzema und Rel. III. angegebene Schlachtordnung
nicht richtig sein kann, haben wir früher angegeben. Dahlberg giebt
eine sehr andere Vorstellung von dem Aufmarsch. Nach seiner Zeich-
nung tritt da, wo der Weg, der den Wald der Länge nach durch-
schneidet, aus demselben herauskommt und sich mit dem von Bialalenka
nach Praga vereint , der Sumpf aus den Dünen näher gegen den Wald
heran und theilt das Defilö längs dem Walde gleichsam in zwei Hälften.
Der Churfitrst rückt durch die westliche Waldecke in diesen Pass ein
und stellt sich mit dem Rücken gegen den Waldsaum, mit der Front
gegen den Sumpf und den Schanzhügel in Schlachtordnung auf; an sie
schliesst sich rechts das schwedische Fussvolk und vor diesem drei Es-
cadronen des ersten Treffens, während andere weiter hinab stehende
Escadronen das Gefecht gegen die in den Retranchements stehenden
Polen unterhalten . Diess sind die ersten Momente , die Dahlberg zeich-
net; dann lässt er den ersten Angriff der Tartaren durch den Wald
(gegenüber von Bialalenka) folgen ; die Besetzung der Colline wird von
Dahlberg gar nicht besonders bezeichnet.
Des Churfürsten eigenhändiger Bericht sagt : nach dem Beschluss
den kleinen Hügel zu nehmen sei der Churfürst mit dem linken Flügel
und bei sich habenden Dragonern avancirt, der Feind habe den Berg
ohne einige Gegenwehr verlassen. Dann werden einige Stücke drauf
gepflanzt und spielen in des Feindes Lager; »darauf zogen wir aus auf
die linke Hand mit dem linken Flügel neben dem Holz , also dass das
erste Treffen für dem Holz (d. h. Front gegen Bialalenka) , die anderen
zwei aber in dem Holz zu stehen kamen, hinter dem Berge aber stunden
Brigaden (es soll wohl heissen zwei Brigaden) zu Fuss ; auf dem linken
Flügel von unsrer Gavallerie stunden zwei Brigaden nebst den Dra-
gonern. Inmittelst gingen 2000 Tartaren von Weitem um den Busch
herum« u. s. w. Stand der Churfürst Front gegen Bialalenka, so waren
die zwei Brigaden , die rechts vom Hügel Front gegen den feindlichen
Schanzhügel standen, allerdings hinter ihm. Sein rechter und linker
27*
39G Joh. Gust. Dhoysen, [52
Flügel bildeten einen rechten Winkel, dessen Spitze der besetzte
Hügel war.
Jene erste Aufstellung des Churfürsten stellt Memmerls zweites
Blatt dar (»Aufstellung am Vormittag,« wie er sie nennt), leider nicht
ohne eine kleine Ungenauigkeit in den Buchstaben, mit denen er die ein-
zelnen Brigaden bezeichnet. Von der Weichsel an, dem Walde zu stehen
erst die drei schwedischen Brigaden , dann folgen bis zur Westecke des
Waldes zwei Brigaden Sparr (1 . 2) , dann etwas vorgerückt zwischen
Wald und Sumpf von rechts nach links die Brigaden Waldeck 1 , Goltz i
Dragoner, eine dritte Brigade Sparr, Leibgarde; diese ist die nächste
am Hügel ; dann im rechten Winkel , so dass der Hügel dessen Spitze
bildet, am Ostsaum des Waldes die Brigade Waldeck 2, Syburg, dann
7 Escadronen, endlich auf dem äussersten linken Flügel die Brigade
Goltz 2 ; hinter diesen Brigaden die übrigen Escadronen im zweiten und
dritten Treffen. Der Fehler Memmerts ist, dass er drei Brigaden Sparr
und nur eine Syburg angiebt, während die Regimenter Sparr wie Sy-
burg je zwei bildeten. Auch so stimmt er nicht mit dem Bericht des
Churfürsten : er giebt auf dem äussersten linken Flügel nur eine Brigade,
der Churfürst zwei nebst den Dragonern.
Jena schreibt in dem früher erwähnten Brief: »als Ew. Cf. D. am
Sonntag« (soll heissen Sonnabend) »die Polen von dem Hügel jagten , da
habe ich, weil ich dabei war, gesehen, dass Ew. Gf. D. auch Stücke be-
kamen , davon steht in der Relation (No. I.) nichts ;« diess bestätigt die
brandenb. Bearbeitung dieser Relation § 25 (Theat. Eur. ed. 2). Also
besetzt und mit Kanonen besetzt war der Hügel. Des Churfürsten An-
gabe wird darin unrichtig sein, dass er bereits vor dem Angriff der Tar-
taren seine Stücke auf den Hügel gebracht habe ; die schwedischen Be-
richte (Rel. I. II.) so gut wie andre brandenburgische (Aitzema und Rel.
III.) sagen sehr bestimmt, dass sich diess Heranbringen der Artillerie sehr
über den Angriff der Tartaren hinaus verzögerte, dass eben dadurch die
Behauptung der so wichtigen Position so äusserst schwierig wurde.
Der Churfürst, sagt Rel. I. II. § 26, habe des Hügels sich glücklich
bemächtigt, wiewohl es grosse Mühe gekostet die Artillerie sogleich fort
zu bringen wegen der kurzen Sträuche und morastigen Wege, wodurch
man hat marschiren müssen. Von dem Hügel aus habe man des Feindes
Haltung und das Terrain übersehen können, der Churfürst habe »sich
mit dero Flügel längs dem Walde bedeckt von (sie) dero zwei Brigaden
i
53] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 397
zu Fuss und Dragonern, nebst den Stücken , und sich in solche Positur
gesetzt, dass denselben nichts in den Rücken gehen können.« Aus-
drücke, die nichts weniger als deutlich sind, auch nicht deutlicher durch
die brandenburgische Bearbeitung werden, welche schreibt » . . . . längs
dem Walde bedecket und sich in solche Positur gesetzet . . . .« Aber
es sind deutlich die zwei Brigaden nebst den Dragonern wieder zu er-
kennen , welche des Churftirsten eigenhändiger Bericht auf dem linken
Flügel nannte. Es wird hinzugefügt : man sei von dieser Höhe aus gänz-
lich um den Wald gekommen, habe gesehen, »dass lauter flach Land bis
an den Stand des Feindes sei und merken können , dass der Feind seine
Force auf die rechte Hand gezogen habe , sowohl dem Churftirsten in
die Flanque , als auch hinten durch den Wald mit etlichen tausend Pfer-
den besonders Tartaren dem königl. Flügel in den Rücken zu gehen.«
Also der Feind stand nicht mehr bloss innerhalb seiner Verschanzungen,
er hatte seine Schlachtlinie über das Flachland bis Brodno und Biala-
lenka hin ausgedehnt.
Noch enger zusammengedrängt erscheinen die beiden Momente des
Tartarenangriffs und der Einnahme des Hügels in dem Bericht bei
Aitzema und Relat. III. Aitzema, der diesen Hügel als mit einer Schanze
versehen bezeichnet, sagt: der C hurfürst, 't selve over sich genomen
hebbende, sei mit einigen Stücken nebst G.-M. Goltz und drei Escadronen
zu Fuss gegen die Schanze anmarschirt, als Nachricht kam, dass die
Tartaren sich um den Wald zögen. Und Rel. III. »Goltz war kaum von
uns abmarschirt, so kam Bericht dass etliche tausend Tartaren« u. s. w.
Dass noch nicht um die Zeit . da dieser Tartarenangriff statt fand,
die Aufstellung, die Memmert zeichnet, genommen war, ergiebt der
weitere Verlauf der Berichte.
Die Tartaren drangen auf dem Wege von Bialalenka durch den
Wald und auf das offene Feld zwischen Wald und Weichsel, und trabten
gegen den Rücken des schwedischen Flügels an; sie wurden von dem
Könige »mit Umschwingung von 6 Escadronen des dritten Treffens« (un-
ter Gen.-M. Hörn) zurückgejagt; »Hals über Kopf« sagt Aitzema/ muss-
ten sie zurück; es können also nur einzelne gewesen sein, die, wie
Memmerts Zeichnung angiebt , durch die Schlachtlinie der Alliirten hin-
durch an dem Sumpf unter den polnischen Retranchements angelangt sind.
Die so zurückgeworfenen Tartaren, sagt Rel. I., »haben sich darnach
vor der churflirstlichen Armee auf dem Felde präsentirt.« Was aus
398 Joh. Güst. Droysbn, [54
diesen geworden, sagtAitzema und Rel. III.: »Gen.-Leut. F. Waldeck hat
sie hart mitgenommen , hat sie niedergehauen und den Rest derselben
in einen Morast gejagt.« Diesen Vorgang zeigt Dahlbergs Zeichnung in
einem heftigen Gemetzel , das ein wenig nordwärts von Bialalenka vor
sich geht. Wenn er hinzufügte »incensa sylva per paludes dilabuntur,« so
kann damit nicht der oft erwähnte Wald gemeint sein , es muss an dem
Sumpf bei Bialalenka ein Stück Wald gewesen sein, wie denn auch Dahl-
bergs und Memmerts Zeichnungen dort zeigen.
Also G.-L. Waldeck stand bereits, als die Tartaren zurückkamen,
am Ostsaum des Waldes, und Waldeck commandirte die churfilrstl.
heiterei. Dass neben diesen die Brigaden Fussvolk um diese Zeit noch
nicht eingerückt waren, wird sich in folgender Weise ergeben.
Rel. I. sagt gleich nachdem sie den Angriff der Tartaren angeführt
(§ 28) : »inzwischen habe der König zwischen Wald und Weichsel mit
der Artillerie, Infanterie und Gavallerie vor dem Retranchement sub-
sistirt und damit nicht der ganze Schwärm den Ghurfbrstlichen auf
den Hals kommen möchte , seien noch zwei Brigaden den ChurfUrsten
zu sustiniren beordert. Dieser Stand habe so lange gewahrt , bis die
churfilrstl. Stücke , welche auf die Höhe gebracht werden sollten , durch
den Morast geschleppt seien.«
Eben diese Zusendung von einigen Brigaden ist es, welche die
brandenburgischen Berichte bei Aitzema und Rel. III. genauer be-
sprechen. »Kurz nach der Vernichtung der Tartaren, sagen sie, befahl
der König dem Gen.-M. Josias Waldeck mit drei Escadronen zu Fuss
und etlichen groben und Regimentsstücken durch den Wald zu S. Cf. D.
zu gehen.« Der Befehl zeigt, wie gefährdet, wie schwer zu behaupten
dem Könige jene entscheidende Position erschien.
Wenn diese drei Brigaden Waldecks durch den Wald abmarscbir-
ten, so können sie nicht, wie Memmerts Zeichnung angiebt, in Schlacht-
ordnung und zwar in erster Reihe gleich hinter den Geschützen gestan-
den haben ; man hätte hier der Uebermacht des Feindes gegenüber nicht
ungestraft solche Lücken in der Linie gemacht. Diese drei Brigaden und
gewiss noch andere standen noch zurück und in Reserve; sonst hätte
auch nicht der König über sie verfügen und sie dem ChurfUrsten nach-
senden können l.
t) An einem späteren Rtomente lftsst der König nach des ChurfUrsten eigen-
55] Die Schlacht von Warschau. 1656. 399
Josias Waldeck fand , dass der Wald zu morastig sei , um durchzu-
kommen, d. b. doch wohl in der Richtung zur Colline und genauer auf
die rechte Flanke des Churfilrsten ; auch beordert Wrangel und Douglas
ihn wieder zurückzugehen , »andeutend dass der Churftlrst seiner nicht
henöthigt« oder , wie der Bericht bei Aitzema sagt : der Churftlrst liess
ausserdem (daer-en-boven) melden, dass er noch keinen Succurs von
Nöthen hätte, da er sich nicht allein bereits des Hügels bemächtigt, son-
dern auch 4 — 6000 Polen, die ihn von vorn angegriffen, glücklich zu-
rückgeworfen habe.
Schon bis zu diesem Moment des Gefechtes sind mehrere Dinge
nicht mehr aufzuklären. Waren andere Geschütze , als die mit Waldeck
vorzudringen suchten, endlich auf den Hügel gebracht? war die ganze
churfUrstliche Artillerie bereits auf dessen Flügel? war endlich durch sie
der Sumpfweg, den schon so viele Escadronen durchgetreten hatten, so
unpassirbar geworden, dass Waldecks Brigaden und Geschütze nicht
mehr durchkommen konnten? kam jener Angriff von 4 — 6000 Polen,
»die von vorn mit einem schrecklichen Geschrei einen sehr furieusen
Angriff gemacht und in ihren Vortheil wieder zurückgejagt wurden,«
aus der Stellung in den Dünen (dem »Lager«), oder vom Flachland her?
.Noch eines Umstandes muss ich erwähnen, der auffallender Weise
von den schwedischen und brandenburgischen Berichten fast völlig
ausser Acht gelassen wird — nur Dahlberg bemerkt ihn. Er zeichnet
auf dem jenseitigen Weichselufer bei dem Dorf Pulko den Dampf von
Kanonen und bemerkt in den Erklärungen: Regina Poloniae ex altera
Yistulae ripa duobm iormentu Sueäcum ajuiiatum mpetene. Polnischer
Seits hat man dieser Position eine grosse Wichtigkeit beigelegt ; nicht
bloss der Verf. von Casimir Roy de Pologne spricht von den grossen
Wirkungen dieser Geschütze der Königin , sondern auch Des Noyers
(p. 214). Die Königin, sagt er, »begab sioh auf eine Höhe unterhalb
Warschau am Ufer, wo eine Schanze errichtet war, da der rechte Flügel
der Verbündeten drüben ettvas weiter stromabwärts stand und die
Kanonen der Schanze, da der Fluss sehr breit war, wenig wirkten, liess
die Königin die Pferde von ihrer Kutsche spannen und die zwei schwer-
sten Stücke auf eine Landspitze am Fluss gegenüber dem Feinde, die
händigest Bericht tden rechten Flügel nebet der Infenterfe und Artillerie« durch den
Wald gehen.
400 Jon. Gust. Droysen, [56
mit Weiden bewachsen war, führen.« Er fügt hinzu, dass diese Geschütze
gute Wirkung thaten , dass etwa 40 Reiter vom Grafen Waldeck (?) ge-
tödtet wurden , dass namentlich diess schlimme Flankenfeuer den Feind
nöthigte ä quitter le poste et rentrer dans le bois , dass Johann Casimir
seiner Gemahlin für die vortreffliche Wirkung der Geschütze seinen Dank
zusandte. Wenn die Stelle, wohin die Königin die Geschütze brachte,
der mit Weiden bewachsene Werder gewesen sein sollte, den unsre
Karte zeigt \ so war die Entfernung des rechten Flügels der Alliirten
etwa 1500 Schritt und die Wirkung des Feuers konnte schlimm
genug sein. Die Angaben Barckmanns (Beil. 11) sind zu übergehen.
Der Abmanch durch den Wald.
Dass Josias Waldeck nicht hindurch konnte zum Flügel des Chur-
fürsten , lässt einen Umstand erkennen , der für die Verbündeten höchst
gefährlich zu werden drohte. Es folgen die heissesten Stunden des
Tages, der Feind geht auf allen Punkten »gegen alle unsre Regimenter,«
sagt Rel. IV., zum Angriff vor. Erst durch die Abweisung dieser »starken
und furieusen« Angriffe gewinnt die Armee der Verbündeten das freie
Feld und kann — gegen drei Uhr — ihrerseits zum Angriff übergehen.
Am deutlichsten ergiebt sich die Reihenfolge der Momente atis des
Churfürsten eigenhändigem Bericht. Zuerst: der Feind macht einen
Ausfall aus dem Lager und attakirt des Churfürsten Infanterie, wird aber
zurückgeworfen und von der Reiterei bis in sein Lager verfolgt. In der
Handschrift des Churfürsten war geschrieben: »der Feind fiel ausser
seinen retran — «, denn ehe das Wort zu Ende geschrieben, durchstrich
es der Churfürst und schrieb Lager; den Retranchements stand der
Flügel des Königs gegenüber. Es wird mit diesem Angriff der der
4 — 6000 Polen gemeint sein, den der Churfürst abgewiesen hatte, als
Josias Waldeck auf dem Wege zu ihm war.
2. Der König kommt in Person auf den linken Flügel und »findet
gut,« dass sein rechter Flügel nebst der Infanterie und Artillerie durch
den Wald gehe , reitet zurück die Ausführung anzuordnen. Also diess
ist der Moment, wo die Veränderung des Schlachtplans beschlos-
sen wird.
I) Im Casimir Ray de Pologne p. 59 heisst es von der Königin : eile passa dans
une petite Ue qui est au milieu de la Vistule.
4
M] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 401
3. Kaum dass der König durch den Wald zurück ist, so kommt ein
zweiter schwererer Tartarenangriff. Die Tartaren kommen »in die Flanke
unsers linken Flügels wie auch in den Rücken der Reserve bis auf unsre
Musquetiere.« Gleichzeitig machen die Quartianer, »die in unsrer Front
standen,« einen Angriff und werden zurückgeworfen. »In wahrender
Attaque« fällt der Feind »aus seinem Lager« auf die Infanterie und wird
von dem Könige mit seiner Cavallerie in die Retranchements zurück-
getrieben.
4. Dann beginnt der König durch den Wald zu filiren; es folgt ein
neuer Ausfall des Feindes , er kommt bis an die schwedischen Kanonen,
wird aber von denen so empfangen , dass er zurück muss. Nun endlich
kann der König seine neue Aufstellung nehmen.
Die Relationen I. II. u. s. w. stimmen mit dieser Reihenfolge gut
zusammen. Nach ihrem oben ausgeführten Ausdruck: »dieser Stand hat
so lange gewährt, bis die churfürstlichen Stücke auf den Hügel gebracht
sind,« (Uhren sie an (§29), dass der König »aus des Feindes Anschickung
und andern Umstanden rathsam befunden« die »polnische Aufstellung«
auf ihrer rechten Hand zu umgehen, aber den Weg zu nehmen, den des
Churfürsten Flügel passirt, sei wegen Enge des Weges und durchgetre-
tenen Morastes nicht ausführbar gewesen und dafür der Weg , den die
Tartaren genommen (der Waldweg nach Bialalenka) , gewählt worden.
Natürlich habe man sich dabei »nach des Feindes contenance regulieren«
müssen ; man habe also, da der Feind »zu unterschiedlichen Malen Miene
gemacht« beide Flügel zugleich anzugreifen, noch länger in dem vorigen
Stande, wo »Sr. M. bei der Weichsel und S. Cf. D. jenseits des Morastes
waren,« verweilen müssen.
Folgt dann jener zweite Tartarenangriff (§ 32) , »der Feind sei mit
allen seinen Tartaren den Churfürstlichen in Flanke , Rücken und Front
zugleich eingebrochen, aber zurückgewiesen.« Die Beifügung, dass die,
welche den Brandenburgern in den Rücken gehen wollen, von dem
dritten schwedischen Treffen zurückgeschlagen, streicht die branden-
burgische Bearbeitung. Wir erinnern uns, was Wrangel gegen Merian
1661 inWolgast geäussert hat; es ist die siegreiche Zurückweisung eben
dieses furchtbaren Tartarenangriffes, um desswillen Wrangel dem Chur-
fürsten allein »die herrliche Victoria« bei Warschau zuschreibt. Es dient
zur Charakteristik der Dahlbergischen Zeichnung , dass sie diesen Vor-
gang nicht darstellt, auch in den Erklärungen seiner nicht erwähnt.
402 Joh. Gust. Droysen, [58
Die Rel. I. u. II. fahren (§ 33) fort ; in demselben Moment mit diesem
Tartarenangriff habe der Feind gesucht gegen des Königs Flügel »mit
seiner grössten Force nebst Infanterie« zu avanciren, sei aber »von den
Stücken und Kartätschen« so empfangen worden , dass er nach wieder-
holtem Angriff endlich in die Retranchements zurückgewichen sei und
dann zugleich versucht habe nach seiner rechten Hand mit aller Force
auf den Churftlrsten loszugehen. Man wird hier aus Rel. IV. einfügen
dürfen, dass der Feind auch seine Stücke aus den Retranchements gezo-
gen und nach dem rechten Flügel gebracht habe. Dadurch »gewinnt der
König Zeit« sich durch den Wald zu ziehen (§ 34).
Die Erklärung zu Dahlbergs Zeichnung sagt : gegen Mittag stellt
sich ein Theil der polnischen Armee, in der Absicht den Churftlrsten an-
zugreifen, in Schlachtordnung auf; die Zeichnung zeigt die Aufstellung
in zwei Treffen, die hinter dem Schanzhügel genommen ist, acht Haufen
in zwei Treffen rechts bis ins Flachland, links bis an den Sumpf, jenseits
desselben vor den Retranchements noch vier Haufen wieder in zwei
Treffen stehend. Wahrend dessen, sagt die Erklärung, führt der König
seine Truppen schnell durch den Wald , die Cavaüerie auf dem Wald-
wege (nach Bialalenka) , das Fussvolk mehr rechts dem Gefecht näher.
Der König rückt dann dem brandenburgischen Unken Flügel sich an-
schliessend an dem Ostrande des Waldes auf. Er lässt Bülow mit den
3 schwedischen Brigaden jenseits des Waldes Front gegen die Weichsel
zurück um Pfalz Sulzbach (das erste Treffen des schwedischen Flügels)
aufzunehmen, der den Abmarsch zu decken vor den Retranchements
stehen geblieben ist.
Der Wortlaut dieser Erklärungen Dahlbergs enthält manches Son-
derbare. Pars exercitui Polonici circa meridiem exercitum Brandenburg-
cum aggredi instituem aciem formal (NB. hinter dem Schanzhügel). Cm
Reg. Maj. Suec. peditatu ad N et equitatu ad 0 (0 ist der Weg nach Bia-
lalenka, N ein andrer Weg durch den Wald, zwischen 0 und dem Süd-
rande desselben) , per sylvam Biallalenkensem promotis aciem ad P. (am
Ostsaum des Waldes) celeriter opposuit, dextra Electori relicta et prae-
fecto Bulow duabue legumibus ad Q (wo der Weg von Bialalenka aus dem
Westsaum des Waldes hinaustritt) consistere jm$o ut hostem obsetvareh
donec princeps Pal. Sulz, mbaidia adduceret.
Sollte Bülows Aufgabe sein ut hoetem obtervaret, so durfte er nicht
stehen bleiben, wo die Cavallerie in den Wald gezogen war; und wenn
SO] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 403
er hier halten sollte , bis der Pfalzgraf subsidia ferret, so musste , wenn
die Hälfe nöthig wurde , bereits zwischen dem Pfalzgrafen und Bttlow
der Feind eingedrungen , der Pfalzgraf in seiner linken Flanke umgan-
gen sein.
Nicht minder auffallend ist der Ausdruck : cid Reg. Maj. . . . aciem
ad P. celeriler opposuü; denn diejenige Schlachtlinie, der sich der König
so entgegengestellt haben soll, steht unter dem Schanzhttgel Front gegen
die Südseite des Waldes, gegen den rechten Flügel des ChurfUrsten,
während der König den linken Flügel der Brandenburger verlängernd
an dem Ostsaum des Waldes Front gegen Bialalenka sich aufstellt.
Wir haben also folgende Reihenfolge von Vorgängen. 1 . Der An-
griff der 4 — 6000 Polen gegen die kleine Colline; 2. des Königs Be-
sprechung mit dem ChurfUrsten ; es folgt 3. der schwere dreifache An-
griff der Tartaren, der Quartianer und aus den Retranchements ; 4. wie
dieser zurückgeschlagen ist , nimmt der Feind circa meridiem seine neue
Aufstellung hinter dem Schanzhttgel, um 5. einen zweiten schweren Stoss
gegen den Churfürsten zu führen.
Noch bleibt in dieser Reihenfolge von Gefechten ein Vorgang ein-
zuschalten, der, wenn es gelingt ihn genau zu bestimmen, Klarheit über
das Vorher und Nachher bringt.
Josias Waldeck hatte mit seinen 3 Brigaden und Geschütz , weil er
nicht durch den Morast kommen konnte , wieder zurückgehen müssen,
die Rel. III. sagt : »er stellte sich sobald mit den drei Squadronen auf
der Seite des Waldes und Hess die Stücken vor den Squadronen stel-
len , welches als es kaum geschehen , rückten etliche Fahnen Quartia-
ner hervor und gingen mit guter Resolution auf die Garde an in Mei-
nung zwischen solchen und einen Berg durchzukommen und etliche
Stücke so wir auf dem Berg hätten wegzunehmen, aber sie wurden von
der Garde und einer Squadron so empfangen , dass sie die Stücke ver-
gassen ; im Zurückgehn gab ihnen Obrist Syburg wie auch die Stücke
so Gen. Waldeck bei sich hatte, eine Salve in die Seite, durch welches
ihnen ziemlicher Schade geschehen. Ungefähr eine halbe Stunde darauf
pr&sentirteo sich viel Stück Esquadronen vom Feind gegen unsre Armee,
auf welche F. Z. M. Sparr wie auch der schwedische G.-M. Bttlow so
gewaltig mit Stücken Feuer geben lassen, dass der Feind endlich gezwun-
gen ward sich wieder in sein Lager zu ziehen. Wenig hernach mar-
schierte I. Kön. M. mit der Reiterei und Fussvolk ab und zogen sich durch
404 Joh. Güst. Droysbn, [60
den Wald« u. s. w. Im Wesentlichen wenn auch mit zum Theil andern
Worten erzählt der Bericht bei Aitzema eben so; nur dass er nicht
das Lager sondern die Retranchements nennt, in die schliesslich der
Feind zurückgejagt sei.
Man wird in dem ersten Angriff, dem der Quartianer auf die Garde
wohl einen Theil des oben unter 3 berichteten dreifachen Angriffs wieder-
erkennen. Aber wo stand da Jösias Waldeck? Wenn gesagt ist: er
stellte sich an die Seite des Waldes , so ist vollkommen klar , dass nicht
der Waldsaum gegen Bialalenka gemeint sein kann ; er war ja eben nicht
*
hindurchgekommen, nicht einmal bis zum rechten Flügel des Chur-
fürsten. Wo war der Wald so »morastig« dass er nicht hatte durch-
kommen können?
Nach Dahlbergs Zeichnung erstreckt sich der Sumpf der den
Schanzhügel von den Retranchements trennt, gegen den Südsaum des
Waldes hin bis auf geringe Entfernung von demselben, und endet da,
wo der Längenweg aus dem Walde heraustritt, in zwei Ausbuchtungen.
Die beiden neueren Karten zeigen, dass der Sumpfgrund sich noch wei-
ter nordwestwärts in den Wald herein erstreckt ; der Weg , der jetzt an
der südlichen Lisiere des Waldes entlang zieht ist etwa 400 Schritte
westlich von dem Längenwege überbrückt ; der Sumpfgrund selbst hat
eine Breite von 3 — 400 Schritt, weiter waldeinwärts wird er noch
breiter. Diess muss der Sumpf gewesen sein, den man nicht oder nicht
mehr passiren konnte. Denn allerdings lässt Dahlbergs Zeichnung am
Morgen eben hier »durch den Wald« des Churfürsten Flügel anmarschi-
ren ; hier muss das mit niedrigem Gebüsch bewachsene Terrain gewesen
sein , welches das Durchkommen der brandenburgischen Geschütze so
erschwerte ; durch diese Geschütze war hier der Grund so tief aufge-
fahren.
Der Angriff der Quartianer richtete sich gegen die Garde, d. h. die
brandenburgische Leibgarde zu Fuss, die nach Memmerts Zeichnung zu-
nächst rechts von der kleinen Colline stand. Die neueren Karten zeigen
unmittelbar da, wo der Längenweg aus dem Walde tritt, nach der Seite
der kleinen Colline hin, eine Erhebung, die wohl »een kleyn ghebergkte«
(Aitzema) genannt werden kann; das wird die Höhe- sein, auf der etliche
(drei, Aitz.) Geschütze standen; zwischen diesem Berg und der Garde
suchen die Quartianer einzubrechen, um die Geschütze zu nehmen. Sie
werden von der Garde und einer andern Escadron zurückgeschlagen.
61] Die Schlacht von Warschau. 1656. 405
Also dieser Stoss kam den Quartianern von rechts und sie gehen natür-
lich in der Richtung des Stosses zurück. Nur so zwischen Wald und
Sumpf zurückgebend können sie »een seer furieuse salve« von Waldecks
Musquetiren und Geschützen in die Flanke bekommen.
Wenn das richtig ist, und ich denke es kann nicht anders gewesen
sein, so war das Defite vom Waldweg westlich noch zum Theil passir-
bar , aber der passirbare Theil desselben , durch welchen am Morgen
der Churftlrst aufmarschirt war , war nicht mehr von den Alliirten be-
herrscht, sonst hätte Waldeck bis zu demselben vorgehen und sich dann
links wendend die Garde auf dem rechten Flügel der churfürstlichen
Aufstellung erreichen, sich ihr anschliessen können. Waldeck hatte sich
nicht so aufstellen können, dass er den weichenden Quartianern das
Defil6 sperrte; er musste sich mit einer furieusen Salve begnügen; er
stand weiter rückwärts . den Sumpf vor sich , als die Quartianer vor-
überjagten.
Also die nächste Verbindung zwischen dem rechten und linken
Flügel der Alliirten , die durch das Defite, war unterbrochen, sie hatten
nur noch auf weitem Umwege »durch den Wald« ihre Verbindung. Der
Stoss der Quartianer war sehr richtig gegen die Mündung des Längen-
weges durch den Wald gerichtet ; gewannen sie diesen Weg, so waren
die beiden Flügel auseinandergesprengt. Und mit diesem Angriff war
die zweite Umgehung der Tartaren, der Ausfall aus den Retranchements
combinirt gewesen ; in Wahrheit, das Schicksal der Schlacht hatte auf
des Messers Spitze gestanden. Es war hohe Zeit die getrennten Flügel
zusammenzuschliessen , ehe der Feind einen ähnlichen Angriff wieder-
holte. Und die Bewegungen, die man zu dem Zweck der schon einge-
leiteten Vereinigung zu machen hatte, waren zugleich das Mittel, den
am meisten gefährdeten Punkt zu verstärken ; die durch den Wald ge-
henden zwei Colonnen waren gleichsam Reserven für den Posten am
Ausgang des Waldweges in das Defite. In solchem Zusammenhang hat
Dahlbergs Ausdruck : cid aciem .... oppomit nicht ganz Unrecht.
Allerdings wiederholte der Feind den Stoss gegen die Mündung
des Waldweges; es ist der Angriff, den Rel. III. mit den Worten ein-
führt : »eine halbe Stunde später « und dessen Zusammenhang Rel. I.
II. u. s. w. §33 wenigstens andeuten, indem sie sagen: nach wieder-
holtem vergeblichem Vorgehen aus den Retranchements habe der Feind
versucht mit aller Force auf den Churfürsten loszugehen. Dieser Angriff
406 Joh. Gust. Droysen, [62
ist es, zu dem der Feind circa meridiem in die von Dabiberg angegebene
Stellung hinter dem Schanzhügel einrückt; jene zwölf Schlacbtbaufen
rechts und links vom Sumpf durften wohl von Rel. III. als »viele Stück
Escadronen« bezeichnet werden. Die Bewegung, die sie zu machen
hatten, war durch den Sumpf, zu dessen beiden Seiten sie standen, vor-
gezeichnet ; die 8 Escadronen , die zunächst hinter dem Schanzhügel
standen, mussten vorgehend den rechten Flügel des Churfürsten be-
schäftigen , bis die 4 andern Escadronen um den Sumpf in das Defil6
kamen und dann beide Massen zugleich den entscheidenden Stoss gegen
die Mündung des Waldwegs führen.
Wie weit sich diess Gefecht entwickelt hat , wird nicht angegeben.
Wir erfahren nur aus Rel. III. und Aitzema, dass diese Trappen mit
grosser Heftigkeit anrückten, aber dass GFeldzeugmeister Sparr nnd
Gen.M. Bülow »so gewaltig« mit Stücken auf sie feuern lassen, dass sie
gezwungen wurden sich wieder in ihr Lager oder wie Aitzema sagt
»mit den andern sich wieder in die Betranchements« zurückzuziehen.
Sparr commandirte die brandenburgische Artillerie; dass sie den
rechten Flügel dieser Angriffslinie, die 8 Schwadronen, beschoss.
kann nicht zweifelhaft sein. Wie kommt es, dass nicht neben Sparr
Oxenstjerna genannt wird, der die schwedische Artillerie befehligte,
sondern Bülow ? Bülow kann nur die Regimentsgeschütze seiner Bri-
gaden zur Verfügung gehabt haben; entweder stand die schwedische
Artillerie weiter abwärts nach der Weichsel zu noch in Linie , oder sie
war, was wahrscheinlicher, bereits abgerückt und die Escadronen von
Pfalz Sulzbach maskirten ihren Abzug. Der König hatte seinen Abmarsch
durch den Wald begonnen, als der Feind in jene Schlachtlinie circa me-
ridiem einrückte ; er konnte noch nicht weit sein , noch nicht so weit,
dass auch die Brigaden Bülows schon ihre Stellung verlassen mussten,
um den Posten am Eingang des Querweges nach Bialalenka zu be-
setzen; Bülow stand mit seinen Brigaden noch vor der Südwestecke
des Waldes; er konnte von dort aus die auf etwa 1200 Schritt vorüber-
trabenden Züge des Feindes sehr gründlich bestreichen. Aber warum
that Waldeck jetzt nicht dasselbe wie vorher bei dem Rückzog der
Quartianer? Er wird nicht mehr an derselben Stelle gewesen sein ; der
König hatte den Abmarsch durch den Wald begonnen , und Waidecks
Brigaden waren wohl die ersten in der Marschcolonne des Fussvolks.
Diess ganze Gebäude von Gombinationen scheint der eigenhändige
63] Die Schlacht von Wabschau. 4656. 407
Bericht des Churfilrsten über den Haufen zu werfen , der hier wörtlich
so lautet : »I. Kön. M. marschierten ab und filirten durch das Holz, der
Feind aber fiel wieder aus und kam bis an I. Kön. M. Stücke, welche ihnen
sehr grossen Schaden zufügten, darüber sie sich wieder retirierten.« Hält
etwa Sparrs heftiges Feuer die 8 polnischen Escadronen in respectvol-
ler Entfernung? zögerten sie vorzugehen, weil sie sahen, dass die
4 Escadronen statt an das Defite zu eilen , sich bei den schwedischen
Geschützen aufhielten?
Es ist unmöglich hier zu irgend sichern Ergebnissen zu gelangen.
Genug, die Intentionen der polnischen Aufstellung circa meridiem mislan-
gen völlig. Der vollständige Abmarsch des Königlichen Flügels und
dessen Durchziehen durch den Wald war sicher gestellt. Die eingeleitete
Umformung der Frontstellung konnte bewerkstelligt, der bisherige rechte
Flügel zum linken Flügel gemacht werden.
Jena in dem mehrerwähnten Schreiben tadelt auch an diesem Punkt
die Rel. I.: »so wird auch nicht gemeldet, dass als am Sonnabend
nach Mittag die Bataglie zu ändern (beschlossen worden) , dass diesel-
bige Aenderung vom Hr. Feldzeugmeister Sparr dergestalt gemachet, dass
ich selbst von theüs hohen schwedischen Befehlshabern mit dem gross-
ten Ruhme davon sprechen hören.« Des Churfilrsten Leibgarde zu Fuss
und eine Brigade Sparr waren am Morgen die Spitze des linken Flügels
gewesen ; sie werden in der neuen Schlachtordnung die Spitze des rech-
ten Flügels, jede Brigade und Escadron des Churfilrsten zieht sich hin-
ter ihnen durch in die neue Stellung ein und endlich steht die Reihe der
Schlachthaufen in umgekehrter Folge wie am Morgen gegen den Feind.
So Angesichts des Feindes , unter währendem Kampf die ordre de
bataüle umformen, die neue Aufstellung nehmen und auf einem neuen
Schlachtfelde die Offensive ergreifen , das war — und wäre vielleicht
auch noch jetzt — ein tactisches Meisterstück , das man nur mit völlig
festen und geschlossenen Truppen ausfuhren konnte. Diese grosse Wen-
dung der Schlacht war nur dadurch möglich, dass der Churfilrst sich
Standen lang gegen immer neue mörderische Angriffe behauptete ; die
von ihm besetzte Höhe war gleichsam der Angelpunkt, um den sich die
Schwenkung der conjungirten Armeen drehte.
408 Joh. Gust. Droysen, l6*
Die neue Schlachtlinie am Nachmittag des 29. Juli.
Die Rel. IV. giebt in allerdings summarischer Darstellung der Be-
wegungen ein Bild des Ganzen in dem Moment des Wechsels, wenn ich
so sagen darf den Gesammteindruck der Situation. Sie sagt : »Nachmit-
tag gewannen wir dem Feind eine Advantage ab , nemlich einen Pass,
durch welchen wir mit der ganzen Armee filirten« (diess ist incorrect).
»Als die Polen solches vermerketen , verliessen sie ihre Retranchements
von vorne und stellten ihr Geschütz von hinten recta auf uns an und
gingen darauf mit ihren ganzen Armeen ins offne Feld. Gewiss ist es
dass es damals mit uns etwas hart hielte , angesehen auf unsrer Seiten
so wohl als hinter uns nichts anders als lauter Morast und ganz keine
Retraite war, .musste also ehrlich gefochten sein, wer nicht schändlich
sterben wollte. Und in Wahrheit es bezeigeten unsre Soldaten vom
grössten bis zum kleinsten hierin eine so treffliche courage , dass sie das
Gefecht mit allen Freuden angingen , unangesehen der überaus grossen
Menge, mit welcher sie angehen sollten. Dieses muss ich bekennen, dir
Polen thäten einen so starken und furieusen Angriff, dass sie zugleich
auf alle unsre Regimenter ansetzten. Als es aber zum Generaltreffen
kam, welches ungefähr um drei Uhr Nachmittag anfing, hat der höchste
Gott verliehen dass wir nach fünfstündigem Gefecht« u. s. w.
Also die Polen hatten ihre Geschütze auf die Dünenreihe gebracht,
die sich vom Schanzhügel nach Süden zieht und deren südlichen Theil
das Holz von Praga bedeckt. Sie hatten sich in Schlachtlinie über das
Flachland bis Bialalenka hin aufgestellt, »in einer Fronte bis an ein Kö-
nigliches Haus« sagt der Bericht des Churftbrsten. Noch genauer geben
Rel. I. II. u. s. w. an : der Feind habe seine grösste Force und alle seine
Husaren auf seine rechte Hand gesetzt und sei in guter Ordnung über
das Feld anmarschirt gekommen.
Das nächste Interesse des Königs war »Feld zu gewinnen um den
Feind in der Ebene ins Gesiebt gehen zu können« (Rel. I. § 35). Er
fand »een schon groen pleyn« vor sich , die in einer Breite von y4 Meile
sich südwärts zog, begränzt von den buschigen Sumpfwiesen hinter
Bialalenka ; diese boten ihm wenn er vorging eine Deckung für seine
linke Flanke.
Von den Bewegungen , die dem »Generaltreffen« unmittelbar vor-
ausgehn, berichten Rel. I. II. u. s. w. eingehend. Der König streckt, wie
65] Die Schlacht von Warschau. 1656. 409
er die feindliche Schlachtlinie vor sich sieht, sich nach links hin, um die
Breite der Fläche bis an die Sumpfwiesen zu gewinnen , er nimmt auf
seinen linken Flügel etliche commandirte Stücke und 3 Escadronen zu
Fuss (also die 3 schwedischen Brigaden) , ihnen folgt die Cavallerie sei-
nes Flügels in 3 Treffen. Wie er vorrückt, steckt der Feind das Dorf
Bialalenka an, um während der König vor dem Dorfe vorüberzieht, hin-
ter demselben ihm mit Cavallerie in den Rücken zu gehen. Der König
lässt sein drittes Treffen unter Gen. Hörn hinler das Dorf gehn und avan-
ciren, worauf sich der Feind auf Brudno zurückzieht. Brudno, ein lan-
ges Dorf, das sich nah an den Sumpfwiesen hinzieht, wird gleichfalls in
Brand gesteckt, und hinter dem Dorf setzt sich der Feind.
Die Bewegung der Polen ist klar ; ihre Front hatte schräg über die
Ebene etwa vom Schanzhügel bis Bialalenka gestanden, sie ziehen ihre
Aufstellung bis zu der Linie zwischen dem Schanzhügel und Brudno
zurück, sie locken den Gegner immer weiter hinaus ins Flachland, um
ihn endlich in seiner linken Flanke zu tourniren.
Der König folgt, avancirt »mit den Knechten« gegen Brudno (§38);
da er das brennende Dorf wegen des Morastes (?) nicht umgehen kann,
lässt er »die Infanterie vor(?) den 3 Escadronen zu Fuss«(?) beim Dorf
und Morast stehen , und zieht mit den beiden ersten Treffen Cavallerie
am Dorf vorüber, das dritte Treffen hält beim Fussvolk, »um es zu suste-
niren.« Schon stehn die beiden ersten Treffen Front gegen die Sanddtt*-
nen ; während einer lebhaften Canonade von beiden Seiten rücken die
3 Brigaden am Dorfe vorüber nach und stellen sich hinter dem zweiten
Treffen im Haken, der Front links gewandt auf, so dass sie das Dorf im
Rücken haben; »beim Kreutz» sagt die Relation, und die Dahlbergische
Zeichnung giebt genau das Crucifix an, das gleich südwärts von Brudno
am Wege steht (§ 40).
Diese Aufstellung im Haken ist nothwendig, da bereits Tartaren und
Husaren im Anzüge sind, die linke Flanke der Schweden zu umge-
hen ; der König lässt Halt machen, damit auch das dritte Treffen heran-
komme.
Diese Darstellung in Rel. I. II. § 35 — 42, die in der brandenburgi-
schen Bearbeitung fortgelassen ist, hat zwei unklare Stellen. Die eine
betrifft die Umgehung des Dorfes Brudno : dass der König es wegen des
Morastes zu umgehen nicht für rathsam hält, sondern zur Linken zu
gehen. Allerdings zeigt die Generalstabskarte auch rechts von Brudno
Abbandl. d. K. 8. Om. d. Witt. X. 28
410 Jon. Gust. Droysen, [66
eine Sumpfwiese, die mit Gräben durchzogen ist, vor dieser müsste das
Fussvolk Halt gemacht haben, während die Cavallerie links und hinter
dem Dorfe vorgegangen wäre. Aber links vom Dorfe ist nicht minder
Sumpfwiese von Gräben durchschnitten , und Dahlbergs genaue Zeich-
nungen geben keinerlei Andeutung von Sümpfen rechts vom Dorf; wie
ja auch die polnische Schlachtlinie von Bialalenka auf Brudno zurückge-
hen konnte.
Diese Schwierigkeit wird noch vergrössert durch die zweite Un-
klarheit die oben bemerkt ist, die in dem Ausdruck »der Infanterie vor
den dreyen Esquadronen zu Fuss.« In dem Abdruck des Florus p. 91
steht »die Infanterie von den dreyen Es. zu Fuss.« Pufendorff F. W.
VI. 38 sagt: tegendo lateri tres pedilum phalanges apud vicum et paludem
consistere jussit ; und etwas kürzer im Carol. Gust.: tres peditum phalanges
apud vicum et paludem consistere jussit.
Allerdings könnte man sich einen Verlauf der Bewegungen denken,
in dem die übrigen Brigaden der Infanterie vor die drei schwedischen
(dem Feinde zu) einrücken , während das erste und zweite Treffen der
schwedischen Cavallerie das Dorf zur Linken d. h. hinten und vom
Feinde abwärts umgehen. Aber diess Manöver wäre ein so überktinst-
liches, der Aufmarsch der Cavallerie , nachdem sie das Dorf zur Linken
umgangen, ein so exponirter, dass man es aufgeben muss die Rel. I. IL
mit ihrem Wortlaut für correct zu halten. So wie, wohl irrig, zur Lin-
ken geschrieben war, wo es heissen sollte zur Rechten, so mag in der
Handschrift der Relationen nach damals nicht eben seltener Ausdrucks-
weise gestanden haben,« die Infanterie vdl. (videlicet) die 3 Escadronen zu
Fuss,« was der unkundige Setzer dann in »vor den dreyen« veränderte.
Allerdings geben wir damit die einzige Andeutung auf, die die Rel.
I. IL möglicher Weise über die übrigen Brigaden der Infanterie bieten
könnten. Ergänzend tritt da die brandenb. Rel. III. ein, indem sie die
Vorgänge vom Durchmarsch durch den Wald an kurz zusammenfasse
Ehe die Infanterie ankam , sagt sie , sah der König den Feind in voller
Bataille anrücken; er nahm seine schwedische Cavallerie und etliche
Escadronen von uns (2 Esc. Waldeck) , stellte solche auf den linken Flü-
gel in Bataille , Hess den Oxenstjerna mit der Artillerie avanciren und
marschirte sacht auf den Feind , liess bisweilen auf dem Marsch etliche
Stücke umkehren und Feuer geben. Indessen kam unsre Artillerie und
Infanterie auch an, und wurde gleicbmässig neben dem linken Flügel in
67] Die Schlacht von Warschau. 1656. 4H
2 Treffen in Bataille gestellt, der Churftirst blieb mit dem rechten Flügel
»in den 3 Escadronen zu Fuss * so G.-M. Goltz bei sich hatte« am Walde
stehen.
Dieser Bericht sagt nicht ausdrücklich, dass sich die Cavallerie des
Churfürsten auch aufstellt; aber er lässt die neue Schlachtlinie recht gut
erkennen : der Churftirst hat 3 Brigaden auf seinem rechten Flügel wie
der König deren 3 im Haken auf seinem linken Flügel hat ; das Gentrum
bilden die übrigen 6 Brigaden , rechts und links vom Gentrum die Ca-
vallerie der beiden Flügel in drei Treffen. Genau so zeichnet Memmert
die Schlachtordnung des Nachmittags, nur dass er die 6 Brigaden im
Centrum nicht in zwei Treffen hat , sondern 3, 2, 4 Brigade hinter ein-
ander stellt : auf dem äussersten rechten Flügel hat er 4 Brigade Goltz,
4 Brigade Sparr, die Leibgarde.
Allerdings weicht die Zeichnung Dahlbergs sehr davon ab. Da
stehen keine Brigaden auf den äussersten Flügeln, sondern ihrer zehn in
drei Treffen im Cenlrum, die zwei noch fehlenden sind nirgends ver-
zeichnet. Die Schwenkung der Schlachtlinie der AUiirten beschreibt die
beigefügte Erklärung mit den Worten exercitm collocatis in fronte for-
mentis, sese movens ea ratione ut dextra ala procedentem sinislram tormen-
torum explonione tutaretur , idemque ageret dextra dum sinisira procederet,
tandemque coeuntes lunalam aciem componerent. Die Zeichnung zeigt
diese mondförmige Schlachtlinie, deren rechter Flügel vor der Colline an
die Waldecke gelehnt ist, der linke Flügel links über das brennende
Brudno hinausreicht.
Es ist bereits erwähnt , dass sich der Bericht von Aitzema in die-
sem Theile der Darstellung von der Rel. III. trennt ; er ist mehr schil-
dernd als genau ; er verwechselt früheres und späteres. Aber er hebt
dasjenige hervor, was hier wie in der ganzen Schlacht das Entscheidende
ist. Wie sich der König auf den linken Flügel gesetzt hat, fbrmirt er seine
Schlachtordnung auf einer schönen grünen Ebene und avancirt gegen
das polnische Lager in guter Ordnung ; er aber sieht den Feind so vor-
teilhaft postirt (fehlerhaft ist gedruckt »so avantageus gepasseert te zijn«),
dass er gerathen findet Halt zu machen »ende de aveneus van allen kan-
ten wel te recognosceren.« Da lässt der Feind zuerst die Tartaren aus-
gehen , um zur Seite und von hinten anzufallen , es geschahen »noch
4) Der andre Adbruck hat »in der 3ten Escadron zu Fuss.«
28*
41 2 Jon. Gust. Droysen, [68
viele andre Attaken« aber es war »von unsera Officieren an allen Enden«
so gnte Ordnung, dass der Feind nichts als Schläge erbeutete. Als dann
die Armee in vollkommener Schlachtordnung stand — der König links,
der Churftirst rechts nach dem Walde zu, die Infanterie in der Mitte —
so fing man um 4 oder ö Uhr Nachmittag an recht gegen den Feind zu
marschiren, um denselben zum Haupttreffen zu zwingen. Die Tartaren
werden von hinten durch Gen. Hörn »tapfer abgewehrt.« Die Polen
weichen »von vorn, von einem Platz zum andern,« »wir folgen Schritt
vor Schritt tödtend was nicht entlaufen kann« und kommen so »geschlos-
sen bleibend« endlich vor das »letzte Dorf nach Warschau,« wo sich die
Polen endlich entschliessen aus ihrem Vortheil zu kommen.
Also um 4 bis 5 Uhr beginnt die Hauptaction nach diesem Bericht ;
nach Ret. IV. und dem schwedischen Bericht im Theat. Eur. ed. 1 um
3 Uhr.
Die Generalaction am Nachmittag des 29. Juli.
Mit der schwedisch -brandenburgischen Armee zugleich hat die
polnische ihre Aufstellung vollendet. Sie hat sich ganz nach der Dünen-
reihe gezogen , diese mit Kanonen besetzt. Der südliche Theil dieses
Höhenzuges, das Holz von Praga ist an seinem Fuss mit Retranchements
gedeckt. Auf den Höhen und hinter denselben steht das Fussvolk, we-
nige Escadronen bleiben bei ihnen , der bei weitem grösste Theil Husa-
ren, Quartianer, Pospolite Rusczenie, Tartaren schicken sich zu einem
gleichzeitigen Angriff gegen alle Punkte der feindlichen Linie an , wäh-
rend die Alliirten im Avanciren sind , der König »bis an ein Wäldchen«
in der Richtung auf das Holz von Praga gekommen ist.
»Sie stürzten sich, sagt der Bericht bei Aitzema, aus ihren Vortei-
len auf das Blutfeld , und zwar mit so erschrecklich grosser Fronte und
so barbarischem Geschrei , dass es grauenhaft war zu sehen und zu hö-
ren; wir sahen uns von so entsetzlichen Massen von allen Seiten auf
einmal umzingelt, dass es unmöglich schien einen guten Erfolg für uns
zu hoffen.«
Unsre Quellen zählen folgende gleichzeitige Angriffe auf:
1) Den der Husaren »nebst 5000 Pferden« sagt Rel. I. § 41, »der
Husaren welche noch drei Treffen hinter sich hatten ,« des Churftirsten
eigenhändiger Bericht ; sie stürzen sich »mit ihren Gopien« auf des Kö-
nigs Flügel ; sie stossen nach Dahlbergs Zeichnung auf die Escadronen
69] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 44 3
Upland und Smaland und durchbrechen sie : »sie sind aber von dem an-
dern Treffen und von den Seiten dergestalt empfangen worden, dass
ihrer wenige durchgekommen, die aber welche ihnen gefolgt, zurückge-
worfen sind.« Denselben Angriff berichtet Aitzema : er sei auf des Kö-
nigs Regiment Garde zu Fuss gerichtet gewesen, das vier Stücke, die
mit Musketkugeln gefeuert, wie eine Brustwehr vor sich gehabt habe.
Nach Bericht III. war es das Feuer der königlichen Leibgarde zu Fuss,
das den Feind zum Weichen zwang. Es war keine Garde des Königs zu
Fuss in der Schlachtlinie , aber des Königs und der Königin Garde zu
Pferde stand nach Dahlbergs Zeichnung zunächst links neben den wei-
chenden Escadronen. Aitzema fügt hinzu , dass bei diesem Gefecht der
König mit einer Lanze unter dem linken Arm durch die Kleidung gesto-
chen sei.
Dahlberg bemerkt in den Erläuterungen, der Feind habe sich in der
Meinung, dass der Churfürst den linken Flügel habe, diesen zum Angriff
ersehen. Auch die Rel. I. II. geben an, dass es nur ein Theil der hier
Zurückgeworfenen gewesen sei, der sich dann gegen den churftlrstlichen
Flügel gewandt habe und dann auch dort abgewiesen sei.
2) Des C hur forsten eigener Bericht sagt: »die Quartianer trafen
(»stracks darauf,« fügt er am Rande bei) auch auf den rechten Flügel, thä-
ten aber schlechten Effekt, indem sie auf 30 Schritt ihr Gewehr lösten
und dann zurückgingen.« Nach dem Bericht bei Aitzema waren es Tar-
taren, Quartianer und Adel (Pospolite Rusczenie), die hier angriffen, aber
dann , nachdem gegenseitig »pesle mesle met een groote opiniastreteyt«
gefochten war, von dem Chorfürsten, Wrangel, Frd. Waldeck und Kan-
nenberg zurückgeworfen wurden ; »bei dieser Gelegenheit war des Chur-
fürsten Person in grosser Gefahr.«
3) Ein andrer Angriff traf das Centrum der Schlachtlinie, die In-
fanterie ; von Sparr, Bülow und Jonas Waldeck wurden die Polen mit
Kanonen so empfangen, »dass sie auch das Basenpanier aufwarfen»
(Rel. HL).
Aitzema nennt hier im Gentrum auch G.-M. Goltz, der nach Mem-
merts Zeichnung auf dem äussersten rechten Flügel mit 3 Brigaden
stand. Sollte Goltz mit seinen 3 Brigaden nach dem Gentram abmar-
schirt sein , um den Flügel für alle Fälle beweglicher und die Mitte desto
stärker zu machen ? Jena schreibt : »ich habe am Sonnabend gesehen,
dass als die Husaren auf das anhaltische Regiment treffen wollten , sie
444 Jon. Gust. Droysen, [70
vorher von E. Chi. D. Garde zu Fuss mit einer stattlichen Musquetade em-
pfangen worden, davon schweigt die Relation (I.) auch.« Allerdings gab
es in der schwedischen Armee ein Reiterregiment des Fürsten Johann
Georg von Anhalt ; Dahlberg verzeichnet es unter der Besatzung des
Lagers von Nowodwor; aber weder den Fürsten führt er in den na-
mentlich aufgeführten Personen der königlichen Suite (Blatt 40), noch
sein Regiment in der Schlachtordnung (Blatt 41) auf. Man wird doch
wohl annehmen dürfen, dass das, was Jena sah, in seiner Nähe vor sich
ging, und dass er als Nichtcombattant sich da aufhielt, wo der Churfürst
sein Gefolge von Räthen, Eriegscommissarien u. s. w. halten liess, d. h.
hinter dem für jetzt am wenigsten exponirten rechten Flügel. Also da
in der Nähe wird die Leibgarde gestanden haben, und ihm mag eine der
schwedischen Escadronen auf des Churfürsten Flügel als das Regiment
Anhalt erschienen, es mag allenfalls mit dem Regiment Westgothen, das
2 Escadronen bildete, combinirt gewesen sein.
4) Einen vierten gleichzeitigen Angriff machen die Tartaren, indem
sie das Dorf (Brudno) umgehen; sie kommen bis an die Bagage (Rel. III.) f
der König lässt 4 Schwadronen unter Führung seines Bruders gegen sie
gehn, der sie, wie Rel. I. II. sagen, in den Morast jagt. Die brandenbur-
gische Bearbeitung oder vielmehr des Churfürsten Aendrung in dersel-
ben schreibt dafür: »welche Acht auf sie geben müssen, damit sie nicht
von hinten einfielen.«
Mit einiger Ausführlichkeit behandelt diesen Angriff der Tartaren
die Dahlbergische Erläuterung: 6000 Tartaren, sagt er, brechen aus
dem Walde (?) hervor, versuchen die Hinterhuth (subsidiariutn miliiem)
zu werfen, da geht der König bei dem Dorfe Brudno auf sie los mit den
Escadronen (legionibus) Leibgarde, Meklenburg, Sadowsky und der bran-
denburgischen Garde zu Fuss ; dann rem gessit ut multi cader ent, mulli
in paludes se conjicerent, pauci vero saht redirent. Bei diesem Anlass hat
der König persönlich gegen sieben Tartaren, die mit eingelegter Lanze
auf ihn einstürmten , gekämpft , zwei erschossen, des dritten Lanze mit
dem Säbel parirt, während Trauenfeld und andere herzueilend die an-
dern vier niederwarfen.«
Also auch nach dieser Angabe ist die churfürstliche Leibgarde dem
Könige nahe genug, um von ihm mit gegen Brudno geführt zu werden,
d h. doch wohl im Centrum. Vielleicht war also der oben erwähnte
Vorfall, von dem Jena berichtet, eben dieser?
74] Die Schlacht von Warschau. 1656. 415
Dahlbergs Angabe erscheint doch in mehr als einem Punkt bedenk-
lich. Er selbst hat in seiner Aufzählung der schwedischen Escadronen
die des Herzogs von Meklenburg nicht, die im Lager bei Nowodwor von
ihm genannt ist. In seiner Ordre de bataille ist die Leibgarde des Königs
im ersten Treffen noch an der Spitze des linken Flügels, die 3 Escadro-
nen Sadowsky stehn im dritten Treffen ganz rechts neben dem Centrum ;
allerdings nennt er unter den 1 0 Brigaden des Centrums die churfürst-
liehe Garde zu Fuss, aber sie steht nach ihm da im zweiten Treffen.
Wie hätte die Schlachtlinie in Auflösung sein müssen , wenn der König
diese weit auseinander stehenden Truppentheile gegen den Feind im
Rücken hatte führen können. Endlich scheint die ganze Geschichte von
dem persönlichen Kampf des Königs an dieser Stelle mehr als zweifel-
haft, wennschon in Drottningholm ein stattliches Gemälde eben diesen
Moment darstellt. Allerdings sagt Rel. IV. »Ich habe es gesehen , dass
S. Maj. unter den Tartaren schon vermischt war, so stunden auch S.
Cf. D. einmal sehr gefährlich darunter,« aber sie sagt nicht, dass es
in diesem Moment der Schlacht war. Die durchaus schwedisch ge-
haltene Rel. I. IL sagt (§ 58), »während der dreitägigen Schlacht sei so-
wohl der König als der ChurfUrst in grosser Gefahr gewesen, denn sie
in eigner Person sehr grossmüthig gefochten, so dass S. Cf. D. einmal
gar von den Tartaren umringt gewesen, dass man eine gute Weile nicht
gewusst, wo sie hingekommen.« Also vom Churftirsten, nicht vom Kö-
nige wird da gesagt, dass er in Mitten der Tartaren gewesen sei. Die-
selbe schwedische Relation I. II. giebt an, dass der König nicht selbst
gegen die Tartaren in seinem Rücken gegangen sei, sondern seinen Bru-
der gesandt habe ; der König hatte vollauf zu thun, den durchbrechen-
den Husaren zu begegnen. Kurz diese ganze Scene dürfte sich als eine
nachträgliche Ausschmückung erweisen, und dass auch Pufendorff C. G.
III. § 26 sie erzählt, würde nichts dagegen beweisen. Weder Scheffer
noch Loccenius haben diese Tartarengeschichte.
Aber Scheffer erzählt eine andere Geschichte (XV. 4) , die den er-
wähnten Lanzenstich des Husaren, der dem Könige unter dem linken
Arm durchging , weiter ausmahlt ; es hätten sich drei edle Polen ver-
schworen , den König in der Schlacht zu tödten , so sei nun der eine
in voller Heftigkeit auf ihn losgestürmt u. s. w. Ungefähr dieselbe Ge-
schichte erzählt Kochowsky p. 453, er nennt den tapferen Husaren
Jacob Kowalowsky. Der König selbst habe über den jungen Hei-
416 Joh. Gust. Droysen, [72
den , den er auf den Tod getroffen , Worte höchster Bewunderung ge-
sprochen.
Doch zurück zu dem Verlauf der Schlacht.
Dahlberg erwähnt noch eines zweiten späteren Tartarenangrifis ;
10,000 Tartaren nicht weit vom Wald von Praga hervorbrechend stür-
zen sich auf den Flügel des Königs , der mit einigen Escadronen (cum
cohortibus quibusdam) sie empfängt und mit grossem Verlust zurück-
weist. Mag jener erste Angriff, der nach Brudno kam, durch eine Um-
gehung eingeleitet sein, die von den 3 schwedischen Brigaden des lin-
ken Flügels zu fern war , um von ihnen abgewehrt zu werden , dieser
zweite Angriff gegen den Flügel des Königs selbst musste diese, welche
Front nach links standen, treffen. Wenigstens braucht Dahlberg den
Ausdruck cohortes bisweilen auch vom Fussvolk (hostium peditatus in
cohortes divisus).
Mit dem anbrechenden Abend (Aitzema) sind diese Angriffe alle
abgeschlagen. Der König, sagt Rel. I. II., findet es nöthig die Regimen-
ter »in vorige Ordre und Platz wieder zu bringen« um den Sturm auf
den Wald von Praga zu unternehmen. »So hat man avancirt, aber zu
dem Berge nicht mehr gelangen können, bis es ganz finster geworden.«
Die Itycht vom 29. auf den 30. Juli.
»Unsre hohen Häupter beschlossen Nachts auf dem Felde zu blei-
ben bis an die Morgenstunde , obschon unter des Feindes Kanonen, um
ihn dann in seinem Lager zu forciren.« Einige brandenburgische Schwa-
dronen, die zu weit vorgegangen, wurden zurückgezogen , bei dieser
rückgängigen Bewegung der G.-M. Kannenberg durch einen Falconet-
schuss verwundet (Aitzema).
In den Dispositionen für die Nacht ist ein Wäldchen von Bedeu-
tung, das sich links vom Flügel des Königs befand. In des Churfürsten
eigenhändigem Bericht ist es schon früher erwähnt ; jetzt sagt er »es ward
vom Könige mit etlichen hundert Musketiren besetzt, welche sich darin
verhauen sollten.« Der König, sagen Rel. I. IL, hat sich, da es ganz finster
war, zurückgezogen, seine Cavallerie bei einem Walde zur Seite des
Dorfes gesetzt, nebst den 3 Escadronen zu Fuss, die Infanterie aber ist
vor dem Dorf — »vor einem Dorf welches man zur Linken gehabt,« sagt
die brandenb. Bearbeitung — die churfUrstl. Armee auf dem Platz stille
stehend geblieben.«
73] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 417
Auf den neueren Karten ist dieser Wald nicht mehr zu finden. Ver-
suchen wir seine Lage zu bestimmen.
Die Bewegung des Königs war gegen das Holz von Praga d. h. von
Brudno an halblinks gerichtet, Rel. I. 44; vor diesem also muss »das
Wäldchen« liegen. Auf Dahlbergs Zeichnung ist es wohl zu erkennen ;
sie giebt den Namen des Porfes Targoweck nicht , sie zeigt nur weiter
südwärts in dem Defilä zwischen dem Holz von Praga und dem todten
Weichselarm das Dorf Kamin, das nicht mehr existirt. Aber sie zeichnet
ein Paar Häuser nahe an einem Wege, der von Brudno in das Holz von
Praga hinaufführt ; in einiger Entfernung von diesen Häusern, dem Holz
zu, kommt ein zweiter Weg von links her und vereinigt sich mit jenem
noch vor dem Holz ; in dem Abschnitt zwischen beiden Wegen, links bei
den Häusern liegt das Wäldchen '.
Also diess Wäldchen wurde besetzt und mit Verhauen gesichert ;
es war der Stutzpunkt der linken Flanke, die allerdings dem Feinde am
nächsten war, kaum 500 Schritt von den Kanonen des Prager Holzes.
Die Brigaden des Gentrums lagerten so, dass ihnen das Dorf links blieb.
Dahlberg giebt an, dass das ganze Heer in einem Dreieck gelagert
habe; er zeichnet es so, dass dessen breite Seite von Brudno südwärts
sich hinzieht (also wohl an den Sumpfwiesen entlang, die einige Deckung
boten", während die linke Seite des Dreiecks gegen das Wäldchen, die
rechte gegen den schon entfernten Schanzhttgel gerichtet ist.
Des Churfilrsten eigenhändiger Bericht sagt : »wir blieben in einem
Dorf, das die Tartaren in Brand gesteckt hatten, die Nacht über stehen,«
also wohl in Brudno. Er fügt hinzu , dass »über Nacht unterschiedliche
Allarmen vom Feind gemacht wurden« 2.
Der Feind muss sehr entmuthigt gewesen sein, dass er diese mehr
als tollkühne Aufstellung nicht zu einem ernstlichen Ueberfall benutzte.
Im Lauf des letzten Tages hatte er sich schon einmal — wohl als die
Husaren den schwedischen Flügel durchbrachen — des Sieges so gewiss
geglaubt, dass der König seiner Gemahlin Botschaft sandte, die Schlacht
sei gewonnen (Aitzema). Dass nach dem Scheitern dieses grossen An-
4) Herr Dr. Krasnosielski hat in Targoweck erfahren, dass an der bezeichneten
Stelie früher ein Gehölz gestanden habe.
2) Thulden p. 280 sagt, neutris adhuc victoriam Mars annuebat: nisi quod per
noctem Tartari tumultuosius pro Sarmatis agerent et Suedorum stationibus haud parum
incommodarent
418 Joh. Gust. Dboysen, [74
griffe die Entmuthigung um so grösser war, sagt Rudausky ausdrück-
lich. Jetzt zur Nacht hatten sie sich hinter die Dünen und das Holz
von Praga zurückgezogen , indem sie diese nur mit ihrer Vorijuth be-
setzt hielten.
Die Entscheidung am Sonntag 80. Juli.
Die Gefechte des dritten Tages werden fast mehr noch als die der
beiden früheren von den verschiedenen Berichten verschieden darge-
stellt, je nachdem der Berichterstatter dem oder jenem Flügel naher ge-
standen.
Am weitesten von der Wahrheit dürfte sich die Zeichnung Mem-
merts entfernen, der auf seinem dritten Blatt ein völlig unmögliches Bild
der Aufstellung giebt.
Aber auch Dahlbergs vortreffliche Zeichnung giebt sehr unglaubliche
Dinge. Er lässt, während das Heer sich zu neuem Kampf ordnet, schwe-
dische Escadronen sub castris et munilionibus hostium scharmuziren, und
zwar gegen den Schanzhügel und die nächsten Dünenhöhen, also ganz
auf dem linken Flügel des Feindes, dem unfehlbar die brandenburgische
Reiterei naher war. Mehr noch tritt im Weiteren sein Bemühen hervor,
die Ehre des Tages den schwedischen Waffen allein zuzuwenden.
Die Aufstellung am frühen Morgen ist im Wesentlichen die des vo-
rigen Tages — nisi quod nonnihil peditum in ulroque cornu disponeretur
sagt Dahlberg, nachdem er irrig am Tage vorher alle Infanterie im Cen-
trum vereinigt gezeichnet hat.
Die entscheidende Position ist das Holz von Praga mit seinen Re-
tranchements. Sowohl die Rel. I. II. u. s. w. wie namentlich der Be-
rieht bei Aitzema hebt dessen Bedeutung völlig sachgemäss hervor.
Dieser Bericht charakterisirt die Aufstellung des Feindes so : »die
Tartaren und ein Theil der Polen standen in dem Feld, das von dem
Holz von Praga rechts ablief — also sie hatten das Defite von Kamin
besetzt ; ein zweiter Theil der Polen stand in dem Holz selbst, wohl
verschanzt; der dritte Theil besonders die Infanterie hinter dem Holz
auf Höhen (op een gheberghte) in einigen Forts, die mit Kanonen wohl
versehen waren.« Nach diesen drei Positionen des Feindes stellt der
Bericht die drei Momente der Schlacht dar, zuerst des Königs »furieusen
Anfall« gegen die Tartaren, die sofort Reissaus nehmen, dann Sparrs
Erstürmung des Holzes, endlich des ChurfUrsten Vorgehen über die
7&] Die Schlacht von Warschau. 1656. 419
Dünen gegen die Schanzen hinter dem Holz. Der sonst sehr vortreffliche
Bericht hat einem gewissen Schematismus zu Liebe die Beziehung der
einzelnen Momente zu einander verabsäumt.
Sachlich stimmt mit demselben auch hier Rel. III., aber sie ist min-
der schematisch und im Einzelnen genauer. Sie beschreibt die Haupt-
stellung des Feindes genau : er sei in jenem Holz von Praga verschanzt
gewesen, es habe ein Regiment zu Fuss, etliche hundert Dragoner, auch
einige Reiterei darin gelegen, seine meiste Cavallerie und 6 Regimenter
Infanterie hätten hinter dem Wald auf einem Berg gestanden, auf dem
auch Kanonen aufgepflanzt gewesen seien, die Tartaren aber und einige
Polen hätten auf einem Felde, das neben dem Holze lag, in Bataille ge-
standen. Diess habe den König veranlasst mit dem meisten Theil seiner
Cavallerie und Infanterie auf die Tartaren loszugehen , indessen Sparr
auf das Holz avancirt sei.
Nach Rel. I. II. u. s. w. beschliesst der König zwischen dem Wäld-
chen und dem Holz von Praga zu avanciren, die Infanterie in die Avant-
garde zu nehmen, um mit ihr, der Artillerie und 5 schwedischen Esca-
dronen zu Pferd das Holz zu stürmen. Während Sparr, der damit be-
auftragt wird, seinen Angriff auf das Holz mit einer Kanonade eröffnet,
zieht der Feind seine ganze Infanterie nach dem Wald (in der brand.
Bearbeitung steht »aus dem Wald«) und geht mit seiner ganzen Caval-
lerie vor, sowohl dem Könige wie dem Churfürsten in die Flanke zu
kommen, »derowegen S. K. M. so wohl als S. Cf. D. Cavallerie unter-
schiedliche Fronten nach Situation des Ortes , um des Feindes Einbre-
chen zu hindern, formiret, dass also an allen vier Ecken Fronte ist for-
mirt worden« (§ 47).
Also keineswegs stürmt der König, wie der Bericht bei Aitzema
sagt , sofort auf die Tartaren los, sondern alles wird vorerst darauf ge-
wandt, dass der Angriff gegen das Holz sicher von Statten gehen kann.
Auch der schwedische Bericht (Rel. I. II.) sagt, dass der Feldzeug-
meister Sparr den Auftrag »mit sonderbarer Dexterität und guter dispo-
sition verrichtet habe.« »Nachdem Sparr den Wald eine Weile canonirt,«
fährt er fort, »ist er mit der Infanterie und 500 commandirten Musketie-
ren in den Wald hinein avancirt neben den 5 Schwadronen Reiter,« den
schwedischen. Dass diese Angaben irrig sind bemerkt der mehr erwähnte
Brief Jenas : Sparr habe nur brandenburgisohes Fussvolk, brandenbur-
420 Jon. Gist. Droysbn, [76
gische Artillerie bei sich gehabt, und sein eignes Regiment unter Oberstl.
Moll habe den ersten Angriff gemacht.
Noch eingehender berichtet Aitzema und Rel. III. : »Sparr liess mit
den schwedischen und unsern Stücken mit grosser Furie in den Wald
spielen, der Feind schoss mit Stücken und Musqueten wieder tapfer
heraus; diess wahrte etwa eine Stunde,« bis endlich G.-Bf. Josias Waldeck
beauftragt wird, 500 Commandirte unter Oberst Syburg in den Wald
zu schicken, den Feind zu attaquiren; so wie dieser im Wald ist (too
haest de selve den vyandt soude hebben geengageert tot vechten), rückt
Waldeck mit einer andern Escadron hinein an einen Ort des Waldes, wo
der Feind zwei Stücke stehn hat; der Feind thut zwar zwei Salven, aber
ohne Erfolg ; dann weicht er aus seiner Position ; auch die Reiterei , auf
die man trifft, macht Kehrt.
Der Berichterstatter der Rel. III. scheint sich bei diesen Truppen
befunden zu haben , wenigstens berichtet er so weiter , als ob mit der
Fortsetzung dieses Angriffes alles zu Ende gebracht sei. »Wir verfolgten
(jene Reiter) bis auf den Berg, wo G.-M. Waldeck 2000 M. zuFuss nebst
einiger Cavallerie und Kanonen fand, wovon derselbe den G. Sparr aver-
tirte , der sofort mit etlichen Esquadronen zu Fuss und etlichen Stücken
zu ihm kam und den Feind sobald in die Flucht brachte , auch sie her-
nach nur mit 500 Commandirten und 200 Reitern bis in die Schanze
vor Warschau verfolget« u. s. w.
Der eigenhändige Bericht des Churfürsten giebt einige lehrreiche
Bemerkungen mehr. Wie Sparr den Befehl erhält das Holz zu nehmen,
geht er mit 1000 commandirten Musketieren und den Stücken auf den
Feind, lässt die übrige Infanterie folgen ; aber er muss den Feinden die
Seite geben , »und geht um sie herum,« wobei er dann Feuer von Mus-
keten und Stücken erhält. Es ist nicht gesagt, ob er dem Feind die
rechte oder linke Seite geben muss ; nach Dahlbergs Zeichnung mttsste
man glauben, dass sich Sparr die Höhe hinauf, rechts gezogen, dem
Feind die linke Seite geboten habe ; aber ist das denkbar , da in diesem
Moment noch der Feind unversehrt hinter den Höhen stand , Sparr also
den Feind vor sich und in der Seite gehabt hätte? konnte Sparr anders
als links hin an der langen Seite des Holzes marschiren , wo er in dem
vorgeschobenen königlichen Flügel Deckung gegen einen Angriff von
vorn hatte?
Der Hauptstoss Sparrs, den Waldeck führte, ging, nachdem er sich
77] Die Schlacht von Warschau. 1656. 421
längs dem Holz hingezogen , in der Richtung auf Warschau ; verfolgend
kommt Waldeck gegen eine Höhe , auf der auch Kanonen stehen , wohl
eines der Forts, von denen Aitzema berichtet. Die neueren Karten zeigen
auf diesem hinteren Höhenzug Reste eines Schanzwerks, die, wenn es
auch aus neuerer Zeit stammen sollte, doch die Stelle bezeichnen, die
militairisch wichtig ist.
Mit der Erstürmung des Holzes von Praga ist die Kraft des Feindes
gebrochen1. Sofort gehen die beiden Flügel vor, die Niederlage zu
vollenden.
Begleiten wir zunächst den Flügel des Churfilrsten. In Relat. I. IL
heisst es : wie die feindlichen Musketiere den Wald verlassen , sei der
Churfilrst in eigner Person mit sechs Escadronen auf den Berg avancirt,
oder wie die brandenburgische Bearbeitung sagt : »sofort auf der rechten
Seite auf dem Fuss gefolgt und auf den Berg zu avancirt.« Genauer
noch sagt des Churfilrsten eigener Bericht : er sei auf den hohen Sand-
berg hinaufgegangen.
An der weiteren Darstellung der Relat. I. II. findet die branden-
burgische Bearbeitung vieles zu bessern. Die Relat. I. II. sagen, der
Churfilrst habe die auf dem Berg befindliche Reiterei hinunter gejagt,
diese sei dann links hin nach dem Morast geflüchtet , wo vorigen Tages
die Tartaren sich hinbegeben (also wohl nach Bialalenka), aber von
Wrangel und Friedrich Waldeck verfolgt und in den Morast gejagt wor-
den, wo sie meist elend umgekommen. Diess alles streicht die branden-
burgische Bearbeitung, obschon auch Memmerts Zeichnung diese Flucht
in der angegebenen Richtung darzustellen versucht.
Noch weniger billigt die Bearbeitung die weiteren Angaben der
Rel. I. IL, dass der Churfilrst sich resolvirt habe, nachdem die feindliche
Infanterie ihre Stücke verlassen, auf sie loszugeben ; weil sie aber gleich
zu accordiren begehrt, habe der Churfilrst sie nicht water verfolgt, aber
wahrend des Unterhandelns habe sich die Infanterie nach der Schiff-
brücke retirirt, und sie hinter sich ruinirt.
Jena hat in dem mehrerwähnten Briefe auch auf diese Stelle auf-
merksam gemacht; »ich habe dazumal gehört, was zwischen E. Cf. D.
I) Auch der polnische Florus p. 602 schreibt, Sparr habe mit der Erstürmung
des Holzes von Praga » in Summa bei dieser Action fast das rechte Hauptstuck der
Victoria verrichtet.«
422 Job. Gust. Droysek, [78
und des Königs Bruder (dem Generalissimus) geredet ward und dass,
wenn es von diesem nicht divertirt worden wäre , das Fussvolk wohl
E. Cf. D. gewesen wäre und nicht über die Brücke hätte kommen kön-
nen.« So corrigirt denn auch die brandenburgische Bearbeitung, »der
ChurfUrst habe resolvirt auf das Fussvolk loszugehen,« wie auch wohl
geschehen und vielleicht nicht das geringste von demselben entkommen
wäre, es sind aber S. Gf. D. durch des Königs Bruder davon divertirt
worden , so dass die Infanterie dadurch Zeit gewonnen , mit den Feld-
stücken sich davon zu machen und über eine Brücke, die sie daselbst
gefunden und welche sie hinter sich ruinirt, sich zum Theil zu salviren.
Den Schluss corrigirt der ChurfUrst selbst so : »Zeit gewonnen , über
einen Morast , da sie nicht wohl verfolgt werden können , sich zu sal-
viren, bei welcher reürade ihrer eine grosse Menge geblieben und sammt
den Pferden im Morast umgekommen.«
Nur im Detail ist des ChurfUrsten eigenhändige Darstellung ab-
weichend. Er sagt : wie er auf den Sandberg hinaufgekommen , habe
eine grosse Menge Volks dahinter gestanden ; wie diese gesehen , dass
Reiterei und Stücke, auch Fussvolk auf den von ihnen verlassenen
Bergen gestanden , habe die Reiterei Reissaus genommen , das Fussvolk
aber begonnen in einen Ring durch einander zu gehen ; es sei mit den
Stücken auf sie gespielt , gegen sie avancirt worden , aber eine hohe
Generalsperson sei gekommen, habe zu zweien Malen für gewiss be-
richtet , dass die Infanterie die Hüthe aufgesteckt und um Quartier ge-
beten habe ; man möge sie nicht zur desperation treiben. Indessen hätte
sich diess Volk über einen Morast gezogen , sei von da der Brücke zu-
geeilt und über dieselbe gegangen.
Der ChurfUrst schliesst : »Sparr verfolgte sie , nahm dem Feind die
vor der Brücke gemachte Schanze , während drüben von Warschau und
von einer Schanze jenseits der Brücke aus canonirt wurde.« Dem ent-
spricht Relat. III., wo hinzugefügt, dass der Feind die Brücke in Brand
gesteckt habe. Also während der ChurfUrst vor dem Sumpf, der hinter
der Dünenreihe liegt, aufgehalten wurde, hatte Sparr das höhere Terrain,
das vor dem Südende des Sumpfes liegt, vor sich und konnte ungehin-
dert bis an die Brückenschanze nachfolgen.
Die Vorgänge auf dem linken Flügel , dem des Königs , bezeichnet
der eigenhändige Bericht des ChurfUrsten in folgender Weise: »Der
König setzte die ganze Reiterei in zwei Treffen , das erste blieb wie es
79] Die Schlacht von Wabschau. 1 656. 423
gestanden, das andere wandte sich mit der Fronte um gegen die lithaui-
sehe und tartarische Armee, welche dem Bericht nach uns in den Rücken
gehen wollten.« Das bezeichnet doch wohl die Aufstellung während des
Angriffes auf das Holz von Praga; »nach erhaltener Victoria ist der
König dem Feind auf eine Meile weit von der Wahlstatt nachgefolgt.«
Nicht viel bedeutender erscheint die Action des Königs nach der
Relat. I. II. »Nachdem des Feindes linker Flügel und Infanterie sich
retirirt hat,« ist auch der rechte Flügel schon zur Flucht bereit und macht
sich frühzeitig, grösstenteils zwischen Praga und dem nicht weit davon
liegenden Wald \ in voller Gonfusion davon. Zwar hat der polnische
König die Hailotten mit Gold und Worten animirt, sowohl die Quartianer
als auch die Pospolite Rusczenie vom Ausreissen abzuhalten , sie haben
es auch anfänglich mit vielem Geschrei zu thun versucht, sind aber end-
lich alle miteinander ausgerissen. Der König hat sie zwar verfolgt, aber
die Pferde und Menschen , »welche in der dreitägigen Action nichts ge-
gessen haben,« sind zu ermattet gewesen, um noch weit nachzusetzen.
Von dem dargestellten Verlauf des Kampfes am Sonntag, der in sich
völlig klar und einfach ist, weichen die Angaben, die Dahlberg in den
Erklärungen seiner Zeichnung giebt, in auffallender Weise ab.
Die Scharmützel am frühen Morgen, die von schwedischen Schwa-
dronen gemacht sein sollen, sind schon erwähnt.
Dann folgt bei Dahlberg richtig der Angriff auf das Holz von Praga,
aber er sagt , Sparr und Graf Jacob de la Gardie seien mit demselben
beauftragt worden. Graf Jacob stand in dem Corps , das Steenbock an
der unteren Weichsel commandirte: von seiner Anwesenheit in der
Schlacht von Warschau ist sonst keine Spur : Dahlberg führt ihn nicht
unter der Generalität auf, deren Verzeichniss er Blatt 40 giebt. Er sagt
ferner, der Angriff sei mit 4200 Commandirten zu Fuss, zwei Brigaden
Infanterie und 300 Reitern sub Gollo tribuno unternommen worden.
Unter den zahlreichen finnländischen Regimentern giebt es eins unter
Obrist Galle, in der Ordre de bataille nennt Dahlberg nur Behrends Finn-
länder in zwei Schwadronen.
Darauf bezeichnet Dahlberg das Vorgehen gegen die Sandberge
I ) Inier Pragam et Sylvam ei Vietnam Puf. F. W. , dagegen tnter Pragam et non
longe inde süam villam in Puf. C. G. wohl eine blosse Veränderung des Setzers ; ihr
ist Stuhr gefolgt.
424 Jom. Gi st. Droysen, [80
rechts vom Holz von Praga : der König habe den Obersten Taube cum
cohorte praetoria et aliis formt* vorgehen lassen , der den Feind bis an
die Weichsel zurückgetrieben habe. Dass der Ghurfürst in Person diesen
Angriff führte, ist durch alle andern Zeugnisse bestätigt.
Dahlberg lässt dann den König mit seinem Bruder an der Spitze
des ersten Treffens vom schwedischen Flügel über eben diese Höhen
folgen und sich auf das feindliche Heer werfen , das in drei Treffen von
der Gegend der Brücke bis über Praga hinauf aufgestellt ist. Von diesem
Angriff zersprengt habe sich die feindliche Linie in zwei Theile getheilt
und seien die einen dahin , die andern dorthin gewichen reliciis multis
caesis captivisque cum signis et tympanis; während dessen habe dasFuss*
volk Zeit gewonnen sich über die Brücke zurückzuziehen. Wenigstens
dass Prinz Adolph Johann sich hier eingefunden, wird bestätigt durch
die Angabe Jenas und die brandenburgischen Berichte , der Prinz den
Churfürsten habe abgehalten die polnische Infanterie zu vernichten.
Dann, so fährt Dahlberg fort bei lit. H., versucht der polnische
General Pulobinsky * mit 7000 Reitern nach dem Wald von Bialalenka
zu entkommen. Ihm schickt der König den Churfürsten und Wrangel
mit dem ersten und zweiten Treffen des rechten Flügels nach , die ihrer
die meisten niederhauen oder in den Sumpf jagen, — und die Zeichnung
zeigt bei H. diesen Vorgang zwischen dem Schanzhügel und dem Sumpf
dort , innerhalb der Retranchements — indessen das dritte Treffen des
rechten Flügels bei Brudno steht, den Rücken zu sichern.
In derselben Zeit, heisst es bei lit. I., brechen 1 5,000 Tartaren mit
grossem Ungestüm vor, apud vicum Brudnam per angustias viae crasmi
(lies evasuri) , gegen sie sendet der König den Pfalzgrafen von Sulzbach
mit dem zweiten und einem Theil des dritten Treffens seines Flügels,
der sie schlägt und viele Tausende von ihnen tödtet. Die Zeichnung
selbst zeigt, dass diess Vorbrechen nicht bei Brudno stattfindet, sondern
zwischen dem Holz von Praga und dem Wäldchen ; eine Bewegung, die
nichts weniger als die Absicht der Flucht bezeichnen würde ; fliehend
hätten sich die Tartaren auf die Strasse von Grochow gewandt; es ist
vielmehr ein sehr sachgemässer Angriff auf den linken Flügel der alliirten
Armee, um den verhängnissvollen Gang der Schlacht im Centrum und hinter
1 ) Hilarius Polubinsky campestris Lith. notarius , aus dessen regia cohon hatten
torum der früher erwähnte Kowalowsky ist. Kochowsky j>. 4 5*.
8J] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 425
den Sandbergen noch zu brechen. Ferner : der Pfalzgraf von Salzbach
ist Gen.-Major und führt das erste treffen des schwedischen Flügels;
Markgraf Carl Magnus von Baden, der das zweite Treffen führt, ist
»Generalleutnant über die Cavallerie« (Rel. I. § 12); soll man glauben,
dass Pfalz Sulzbach nicht mitgegangen ist, wenn das von ihm comman-
dirte erste Treffen dem Könige und seinem Bruder folgt? soll man
glauben, dass der König ihm, dem Gen.-Major, den Gen. -Leutnant der
Cavallerie unterordnet?
Den Rest des dritten Treffens vom königlichen Flügel lässt Dahl-
berg unter Gen.-M. Hörn, dem auch ein Theil der Infanterie untergeben
wird, den Sandberg zunächst am Holz von Praga besetzen, legende* regis
tergo. Carlson (p. 151), der »Dahlbergs im Reichsarchiv aufbewahrtem
Bericht« folgt , giebt an , dass »als Sparr gegen das Holz von Praga vor-
ging,« ihm Hörn und Bülow mit zwei Brigaden zu Fuss und einigen
Reiterregimentern gefolgt seien. Also damals standen die schwedischen
Brigaden unter Bülow und das dritte Treffen unter Hörn Front gegen
das Holz , während das erste und zweite Treffen (Sulzbach und Baden)
Front gegen Süden standen. Welche confusen Bewegungen müsste man
Angesichts der südwärts stehenden feindlichen Massen gemacht haben,
um das erste Treffen rechts nach den Sandbergen hin durchzuziehen?
und was bedurfte es einer Reserve auf den Höhen , während die den
Pass zwischen dem Holz von Praga und dem Wäldchen haltenden Trup-
pen den Rücken der über die Sandberge vorgehenden Truppen deckten?
Der Schluss der Dahlbergischen Schlachtschilderung ist merkwür-
diger als alles bisherige. Der Rest des polnischen Heeres hat sich zwi-
schen dem Holz von Praga und dem todten Weichselarme von Neuem
in drei Treffen aufgestellt, Front gegen Warschau ! Der König , der von
den Sanddünen herab gegen die Weichsel vorgedrungen war, bat zu den
Schwadronen des ersten Treffens einen Theil derer vom dritten Treffen
(Horbs, der in Reserve auf der Düne stand) herangeholt, und geht mit
einer Linksschwenkung gegen die polnische Schlachtlinie; es wird auf
sie losgestürmt, sie weicht in wilder Flucht, relictis penes Regem gloria,
vicloria, machinis, impedimentis, signis et multis servitiorum mülibus.
Auch nicht eine von den übrigen Schlachtdarstellungen hat eine
Spur von dieser höchst seltsamen Auffassung, als habe der König, nach-
dem er die Mitte der feindlichen Linie durchbrochen, rechts und links
schwenkend ihre Flügel vernichtet ; denn auf diess Schema scheint Dahl-
Abhandl. d. K. S. G<*. d. Wtat. X. 20
426 Joh. Gust. Droysen, [82
bergs Anschauung hinaus zu wollen. Er fasste die Dinge so auf, um
den König an die Spitze des eindringenden Keiles stellen , um ihm die
Entscheidung zuschreiben zu können.
Der Ausgang.
»Sonntag gegen Mittag sind die Polen in die Flucht gebracht wor-
den,« sagt Relat. V., und Relat. IV. sagt: »die Schlacht hat fünf Stunden
gewährt.«
Der Verlust auf Seiten der Verbündeten wird auf drei bis vier hun-
dert, »die gequetscht oder geblieben sind,« angegeben; Relat. IV. sagt:
»in allem sind nicht über 300 und selbige mehrentheils unter dem Gestttck
geblieben.« Von todten Körpern der Feinde, sagt Rel. I. IL, hat man
im Feld und im Morast ungefähr 3- bis 4000 — nach der brandenburgi-
schen Bearbeitung 5- bis 6000 — gefunden.
In einzelnen Momenten der dreitägigen Schlacht zeigt sich, dass es
den polnischen Truppen weder an Muth, noch ihrer Führung an richtigen
Intentionen gefehlt hat. Aber eben so deutlich tritt es hervor, worin der
Gegner ihnen überlegen war. #
Der Bericht aus Sacrozin vom 1 . Aug. (Rel. VI.) hebt besonders »das
unaufhörliche Schiessen und Feuereinwerfen, welches die Unsrigen zu
erdulden nicht gewohnt,« hervor, und Plathens Bericht an Wittgenstein
sagt: »die Canonaden haben das Beste gethan.« Das polnische Heer
war offenbar an Artillerie unverh<nissmassig schwach , wie denn nach
des Churfürsten eigenhändiger Angabe dem Feinde nur 42 Geschütze
und 1 Mortier abgenommen , in Warschau dann noch 27 Stück und 1
Mortier erbeutet sind ; denn dass nicht viel über die Brücke zurückge-
flüchtet sein kann, versteht sich von selbst. Nach schwedischer Angabe
sind »die eroberten Canonen in etwa 50 Stücken bestanden.« 1
Wahrhaft staunenerregend sind die Leistungen der etwa 17,000
Mann der conjungirten Armee. Erst am 28. Juli ein Marsch von vier
Meilen, dann ein noch mehrstündiger Kampf bis Mitternacht ; am folgen-
den Tage von Sonnenaufgang bis in die sinkende Nacht unausgesetzt
Kampf; dann die Nachtruhe von mehrfachen »Allarmen« unterbrochen
«
) Thulden sagt von den Verbündeten : campestrium machinarum multitudine et
apparatu iis infarciendo abundabant; von den Polen : mUitaria tormenta majora quae
Samoscia ad numerum triginta advexerant.
83] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 427
und vom frühen Morgen an wieder Kampf. Man begreift , dass endlich
die Verfolgung »wegen abgematteter iPferde und da in dieser dreitägigen
Action die schwedischen und brandenburgischen Völker bei einer sehr
grossen Hitze fast nichts genossen hatten« (Bericht No. 8) , nicht sehr
energisch war. Mochte man auch des Himmels besondere Huld darin
erkennen , dass der Wind sich immer mit den Bewegungen der Verbün-
deten änderte und den Feinden den Staub und Pulverdampf ins Gesicht
trieb (Rel. I. § 4), das Entscheidende war die tactische Ueberlegenheit auf
Seiten der Verbündeten, ihre Disciplin ; an ihren geschlossenen Vierecken,
diesen »wandelnden Festungen,« brachen sich die lockeren Haufen der
Gegner.
Ueber die Vorgänge unmittelbar nach der Schlacht ist der eigen-
händige Bericht des Churfürsten am vollständigsten. Während der König
die Tartaren eine Meile weit — also nach den Wäldern von Grochow
hin — verfolgt , geht der Churfürst und Wrangel wieder zurück »nach
Praga ,« um zu sehen ob man die Brücke noch gebrauchen könne oder
ob es eine Fürth durch die Weichsel gebe ; das Wasser aber ist zu hoch,
man muss die Brücke ausbessern ; »unsre Völker sind in voller Arbeit,«
schreibt Rel. IV. am 31. Juli aus Praga, »die Brücke, so die flüchtigen
Polen hinter sich abbrannten , zu repariren , und hoffen wir noch diesen
Abend darüber in die Stadt zu gehen.«
Schon am Sonntag Morgen ist der König und die Königin aus
Warschau geflüchtet, »in solcher Confusion , dass sie den kriegsgefange-
nen Grafen Benedix Oxenstjerna mitzunehmen vergessen haben.« So
der Bericht bei Aitzema, er fügt hinzu : um Mitternacht sei ein Trompeter
vom Graf B. Oxenstjerna an des Churfllrsten Garosse gekommen, mit
der Meldung , dass der Magistrat von Warschau bereit sei die Stadt zu
öffnen; am Morgen des 31sten habe man dann die Leibgarde des Königs
und die des Churfürsten übergesetzt die Stadt in Besitz zu nehmen.
Aehnlich der Bericht aus Sacrozin (Rel. VI.) : »die churfürstlichen Völker
haben sich in Weichselkähnen und Skuten nach der Stadt übersetzen
lassen, woselbst sie zwar die Stadt geschlossen und alle Passwege mit
Stücken aber mit keinem Volk besetzt gefunden , daher auch der Rath
und die Bürger, um sich vor gänzlichem Ruin zu erhalten , die Schlüssel
der Stadt dem Churfürsten übergeben und dessen Besatzung ange-
nommen.«
Etwas abweichend der Bericht des französischen Gesandten; Lc
29»
428 Joh. Gust. Droysen, [84
Roy de Pologne se trouva des premiers aux ocasions et des demiers ä la
relraicte; apres avoir fait rompre wie partie dupont, il laissa trois ou quatre
regiments d'infanterie pour la garde de place, mais depuis ayant considere la
foiblesse de cette ville il en retira la gamison , cequi obligea les bourgeois ä
aller offrir leurs clefs au Roy de Suede, qui y est entre quelques jours apres.
Nachdem die Brücke hergestellt ist (Montag Abend den 3 1 . Juli),
beginnen die Regimenter hinüberzugehen. Es kommt Nachricht, dass
sich 40 — «50,000 Polen bei Gzersko fünf Meilen oberhalb Warschaus ge-
setzt haben; Karl Gustav gehl noch am 1. Aug. ihnen nach, kehrt aber
folgenden Tages zurück, ohne sie dort gefunden zu haben. Am 5. Aug.
ist der Uebergang des Heeres auf die Ostseite der Weichsel vollendet. Der
französische Gesandte deLumbres wird ersucht, sich zum König von Polen
zu begeben und von Neuem Unterhandlungen anzubieten (Aitzema).
Die polnischen Angaben.
Dass sich in den Augen der Polen der Verlauf der Schlacht sehr
anders darstellte, liegt in der Natur der Sache. Die Berichte, die uns
vorliegen, sind leider so wenig militairischer Natur, dass wenig aus ihnen
zu lernen ist. Auch der Barckmanns (Beil. 11) erläutert nur den Anfang
des Kampfes.
Nur Des Noyers giebt einige Punkte, die wenigstens erkennen
lassen , wie man sich in der Umgebung der Königin den Verlust der
Schlacht erklärte. Wir müssen ihn bis zum Mittag des 29. Juli zurück-
begleiten.
Zweimal, sagt er, hatten die Polen den Feind geworfen ; und wären
sie hinreichend von den Escadronen unterstützt worden , die es hätten
thun sollen, so würden sie zum Handgemenge gekommen sein, und das
war alles was sie wünschten. Aber gerade das wollten die Schweden
vermeiden und zogen sich in den Wald zurück, wo sie durch die Ueber-
legenheit ihrer Artillerie und Infanterie geschützt waren. Des Noyers
schliesst unmittelbar hieran, ohne vorher oder nachher die Gefechte vom
29sten Nachmittags zu erwähnen, eine sehr merkwürdige Angabe in Be-
treff der Tartaren. Ihrer sind nur 5000 bei der Schlacht gewesen, indem
die andern theils bei Czersko mehrere Meilen oberhalb Warschau , theils
bei Nowodwor standen. Der Aga rieth dem Könige, es nicht zu einer
Generalaction kommen zu lassen : der Feind habe nur auf drei Tage
Proviant bei sich, leide an Wasser Mangel ; gegeq^eine festgeschlossenen
85] Die Schlaft von Warschau. 165(5. 429
Vierecke , chateaus marchanls nennt er sie , müsse man nur mit Reiterei
agiren ; der König möge seine Infanterie und Artillerie zurückziehen, die
Tartaren und die Cavallerie den Feind umschwärmen lassen, ihn ein-
wickeln, ihn aushungern. Diesem heilvollen Plan gab der König seine
Zustimmung , mais le destin de la Pologne ne le permit pas , und der Adel
Polens, der glaubte, dass man aus Feigheit diesen Entschluss fasste, be-
gann mit der Nacht von dannen zu gehen.
Das ist also die Nacht vom Sonnabend zum Sonntag. Am Morgen
des Sonntags , als sich der Nebel gesenkt , will man gegen 5 Uhr den
Kampf beginnen , mais dejä ä la faveur des brouillards tonte la noblesse
polonaise s'enfuyait. Vergebens stellt der König selbst mit dem Degen
in der Hand die Reihen auf, vergebens bittet und beschwört er die ein-
zelnen , vergebens setzt er sich selbst dem heftigsten Feuer aus. Wie
der Kampf beginnt, macht der ganze Rest dieses Adels Kehrt und bringt
mit seiner Flucht den Rest der Armee in Unordnung. Die Schweden
gehen trotzdem nur langsam vor, sie lassen die Flüchtigen an sich
vorübereilen ohne sie zu verfolgen oder auch nur eine Pistole auf sie
abzuschiessen. Johann Casimir , voyant le desordre si grand taut pour la
petitissc de Heu , tant pour la terreur oii itait touie cette noblesse , lässt die
Infanterie und die Quartianer sich zurückziehen, theils über die Weichsel-
brücke, theils mit den Tartaren. Dass die Schweden in so fester Ord-
nung blieben ohne zu verfolgen, davon war der Grund, dass sie die Tar-
taren hinter sich hatten, die sie fürchteten.
Des Noyers führt später noch an : dass die Tartaren während des
Gefechtes , als sie die Polen fliehen sahen , die beiden Dörfer Praga und
Skariczowo anzündeten , damit die Schweden sich ihrer nicht bemäch-
tigten , dass man eben so die Brücke angezündet habe , damit sich der
Feind nicht der Schiffe bemächtige und eine neue Brücke mache.
Im Casimir Roy de Pologne p. 62 ff. stehen ähnliche Dinge zu lesen,
aber verbunden mit dem höchsten Preise der polnischen Tapferkeit. Auch
da zieht sich (also Sonnabend Mittag) der Schwedenkönig dans un bois pour
se mellre ä couvert du canon, auch da der Wassermangel, aber erst am
Sonntag Morgen wird er erwähnt. Hätte man, sagt der Verf., diesen Um-
stand benutzen wollen, sich verschanzt und in der Defensive gehalten, so
würde man den Feind ohne alle Mühe haben vernichten können ; mais
la fierte naturelle de cette nation leur fit m&priser un avantage si conside-
rable ne voulant devoir la victoire qua leur courage. Der Grosskanzler
430 Job. Gust. Dioysen, [86
von Polen habe dem Könige gerathen, die Bagage nach Warschau
zurückzuschicken, afin de mieux combatire; aber diese Vorsicht er-
schreckte die Truppen , so dass sie nicht mehr mit dem früheren Muth
kämpften. Vergebens gab der König das Beispiel bewunderungs-
würdiger Tapferkeit, die Flucht riss unaufhaltsam alles hinweg u. s. w.
Zum Schluss folgt dann die merkwürdige Geschichte vom Kampf am
vierten Tage : Charnezki avec les Tarlares et ce quil avoit pü ramasser
des Fuyards , le batit le quatrieme jour et an peut dire que la perle fut
presque egale et que le Roy de Suede eut seulement l'honneur du champ de
bataille qui luy demeura.
Dass Tiiulden mit dem Verf. des Casimir Roy de Pologne in Betreff
dieses Gefechtes am vierten Tage zusammenstimmt, ist früher erwähnt;
aber Thulden nennt Sapieha, nicht »Caesarneckius,« als denjenigen,
der den Angriff veranlasst habe. In der Nacht vom Sonntag zum
Montag, sagt er, habe Sapieha mit den Scythen sich verabredet,
zuerst seien die Scythen vorgegangen, hätten das Dorf Praga an
drei Stellen in Brand gesteckt, dann seien sie und Sapiehas Lithauer
in geordneten Reihen (rectis ordinibus) gegen den Feind vorgerückt
und hätten stark und glücklich gegen ihn gekämpft, auch einen
Theil der Geschütze, die von dem Feind in den Schanzen genommen
worden seien , wieder gewonnen : cominus pugnabatur tanta conteniione
ut non modo Lilhuani tormenta ea quae amiserant recipercnt , verum etiam
Suedo sua e manu extorquerent secumque abducerent.
Man wird wohl annehmen dürfen . dass der von Des Noyers er-
wähnte Brand der beiden grossen Dörfer Praga und Skariczowo der
Kern zu dieser Geschichte vom Gefecht des vierten Tages gewesen ist ;
und wenn unsre Vermuthung richtig ist , dass eine Danziger Zeitung die
Quelle war, aus der Thulden geschöpft hat, so ist sehr leicht zu sehen,
wie aus den ersten nach Danzig gelangten Gerüchten vom Brand Pragas
nach der Schlacht jene Geschichte combinirt werden konnte.
Von Thuldens Angabe über die Gefechte der ersten Tage ist es nicht der
Mühe werth eingehend zu handeln; sie lassen kaum ungefähr den entschei-
denden Moment erkennen, und geben auch nicht ein neues Moment, man
müsste denn dafür die Angabe nehmen wollen, dass die Polen am zweiten
Schlachttage sich ganz iv der Defensive hätten halten wollen: castris
se teuere neque in hostes eruptionem faeere sed vim tanlum a se defendere
oplimum ducebant; wir wissen, dass diess entschieden nicht der Fall war.
87] Die Schlacht von Warschau. 1656. 431
III. Die mil itairisch-politischen Zusammenhänge des
Feldzugs von 1656.
Die Schlacht von Warschau ist nach ihrer Dauer und nach der
Masse der Streitkräfte , die auf dem Kampfplatz waren, eine der bedeu-
tendsten jener Decennien , die des grossen deutschen Krieges mit ein-
geschlossen. Um so auffallender ist die geringe politische Wirkung, die
sie nach dem Urtheil der Zeitgenossen hat. Minor ejusdem fructus quam
pro gloria fuil, sagt Pufendorff C. G. ///. 28 und DesNoyers schreibt am
5. Sept. : *La derniere victoire du Roi de Suede lui sera bien plus domma-
geable qu? utile.« Selbst im Casimir Roy de Pologne heisst es p. 65 quoy-
que cette perle fut assez considerable Charles rien tira pourtant pas bcau-
coup d'avantage.
Allerdings ist die Wirkung der Schlacht gering, wenn man nur
Polen und Schweden ins Auge fasst. Aber ihre Bedeutung liegt nicht in
der Alternative: entweder Schweden oder Polen; man könnte sagen
ihre Entscheidung laute : weder Schweden noch Polen.
Unzweifelhaft war Karl Gustav unter den Feldherren , die aus der
blutigen Schule des dreissigjährigen Kriegs hervorgegangen waren, einer
der grössten ; man wird keinen zweiten finden, in dem sich mit gleicher
Leichtigkeit und Unerschöpflichkeit militairischer Conceptionen, mit glei-
cher Genialität der Heeresführung so wilde Gewalt des Wollens, solche
Leidenschaft und »Thürstigkeit« des herrischen Geistes, solcher Cynismus
der Waffengewalt verband. Unter seiner Führung war der Soldat gewiss
zu siegen; seinen Gewaltstössen widerstand auch doppelte und drei-
fache Uebermacht nicht. Mehr als einmal wagte er Unglaubliches, und
das Unglaublichste gelang ihm nur um so sicherer. Des Noyers charak-
terisirt ihn vortrefflich, indem er sagt: l'action la plus imprudente de
loute sa vie est sa venue ä Varsovie — il eioit impossible qu'il echappait, et
sa folle l&miritb Va fait triompher.
Aber sein militärisch staunenswürdiger Krieg in Polen zeigt, dass
er in der Politik ein Epigone war.
Verfolgt man die verschiedenen Projecte , die ihn in Betreff Polens
beschäftigt haben , so erkennt man , wie er umhertappt ; er kämpft und
erobert ohne ein bestimmtes politisches Ziel , ohne einen schöpferischen
Gedanken : er will nur schlagen und immer nur schlagen. Der Krieg ist
432 Jon. Gust. Deoyskn, [88
ihm nicht Mittel , sondern Zweck ; er kennt ihn und versteht ihn nicht
anders als wie die Krone Schweden so bald nach Gustav Adolphs Tod
sich gewöhnt hat ihn in Deutschland zu führen, als ein Mittel den Kriegs-
staat zu ernähren und fort und fort zu mehren, mag aus dem fremden
Land und Volk darüber werden was da will. Der Krieg ist ihm nicht
der Weg, eine neue dauernde sich in sich selbst tragende Zuständlich-
keit zu schaffen, sondern der eigentliche Zustand, der Beruf, die dau-
ernde Beschäftigung, die er für sein Volk sucht. Vielleicht erkannte oder
glaubte Karl Gustav so und nur so der mächtigen Spannungen im In-
nern seines Staates Meister bleiben zu können ; nur dass diese selbst in
dem Maasse wuchsen als man Adel und Volk durch den Ruhm, die
Beute, die Demoralisation soldatischen Herrenthums überreizte.
So gewiss die Zustände des alten Europa, die im dreissigjährigen
Kriege zusammenbrachen, unhaltbar geworden waren, gleich denen des
achtzehnten Jahrhunderts, denen die französische Revolution ein Ende
gemacht hat, eben so gewiss ist, dass dort so wenig der Krieg wie hier
die Revolution das neue Princip war, dessen die Welt bedurfte, nach
dem sie suchte und rang.
Der grosse deutsche Krieg hatte die alte Staatsweise der ständi-
schen Libertät gerichtet. Noch stand sie in Polen in breitester Wucher-
ftille da ; der schwedische Krieg kam über die Republik, das gleiche Ge-
richt zu vollziehen; bei dem ersten Ansturz Karl Gustavs brach sie zu-
sammen. Aber eine neue lebensvolle Form verstand weder er ihr zu
geben, noch sie selbst, indem sie sich erhob, sich zu schaffen ; sie wusste
und wollte nichts als die Rückkehr zur alten Libertät.
So war es möglich und an der Zeit, dass sich zwischen beiden
und auf Kosten beider eine neue Machtbildung erhob, eine Monarchie,
welche die Libertät eben so wie den Kriegsstaat überholte und in ge-
bührende Schranken wies, welche nicht bloss herrschte sondern regierte.
Auch Russland, auch Dänemark erhoben sich ; aber während in Dä-
nemark mit der Gründung der lex Regia von 1 660 nur der »Lakayismus«
an die Stelle der Libertät trat, und in Russland die nur nach Aussen ge-
wandte Macht das innere Leben lähmte und erschöpfte, wuchs der Staat
des grossen ChurfUrsten gleichen Schrittes an Kraft im Innern und Macht
nach Aussen. Auf ihn gravilirte fortan die baltische Politik ; er fand den
Weg , auf dem er für Deutschland und für Europa wichtig und unent-
behrlich wurde; er fand seine Aufgabe. Denn da, in der baltischen
89] Die Schlacht von Warschau. 1656. 433
Frage, an den Küsten der Ost- und Westsee liegt die Lösung der deut-
schen Frage, nicht in Frankfurt, in der Mainlinie, im deutschen Parla-
ment oder ähnlichen Palliativen. Und mit tiefstem Verstündniss dessen,
was die Zukunft bestimmen werde, hat Friedrich der Grosse in seinem
iestament politique von 1752 gesagt, wenn Preussen Danzig besitze, dann
müsse es sich eine Flotte bauen.
So viel zur aUgemeinen Orientirung.
Die Erhebung Polens.
Wir sahen, wie rasch Karl Gustav im Feldzug von 1 655 Polen er-
obert hatte. Wahrend Johann Casimir nach Schlesien flüchtete , hatten
sich die Bischöfe, die Magnaten, der Adel, die Quartianer unter Potocky,
Koniecpolzky , anderen Generalen freiwillig unterworfen und gehuldigt ;
nur der tapfere Czarnecky hielt noch die Sache seines Königs. Karl Gu-
stav durfte sich als Herrn der Republik ansehen ; er liess Münzen prä-
gen auf denen er sich protector Potaniae nannte (Des Noyers 12. Dec.
1655). Mit dem Ausgang des Jahres eilte er nach Preussen, um den
letzten Magnaten der Republik , den Churftlrsten , im Welauer Vertrage
zur Unterwerfung zu zwingen.
Aber eben da begann die Wendung der Dinge ; rasch folgte der
Abfall des Adels und Volkes, des Heeres, die Rückkehr Jobann Casimirs
aus Schlesien. Karl Gustav brach im Winter aus Preussen auf, eilte die
Weichsel aufwärts bis Sendomir und Jaroslaw, die überall sich bildende
Insurrection zu erdrücken, die Vereinigung des Aufstandes im Süden,
Westen und Osten der oberen Weichsel zu hindern ; es gelang ihm nicht
mehr. Die lithauischen Quartianer unter Sapieha, die wieder abgefalle-
nen Grosspolen unter Potocky, die Heerhaufen Czarneckys vereinigten
sich; auch Lubomirsky dachte jetzt nicht mehr daran das Königthum in
Polen abzuschaffen und ein Regiment der Magnaten zu gründen, er eilte
mit seinem Anhang zu Johann Casimirs Fahnen ; der lilbauiscbe Unter-
Schatzmeister Gonsiewsky, der mit Radzivil übergetreten war und sich
in Königsberg aufhielt , verliess verkleidet die Stadt und eilte zur polni-
schen Armee. Nach dem Verlust Sendomirs musste Karl Gustav wei-
chen und Krakau dem Muth seines Generals Wirth überlassen. Er ging
auf Warschau zurück ; auch da war es unmöglich Halt zu machen ; er
überliess die Verteidigung der Stadt, die erst befestigt werden musste,
434 Joh. Gdst. Droysen, [90
dem General Wittenberg 9 Hess einen Theil seines Heeres in der Stellung
bei Nowodwor unter seinem Bruder, mit der Weisung sich dort zu ver-
schanzen und Ober Bug und Weichsel Brücken zu schlagen. Er selbst
ging nach Preussen, um die Weichsellinie, Thorn, Marienburg, Elbing zu
sichern.
Mit dem Ausgang April halten die Schweden im eigentlichen Polen
nur noch die Städte Krakau, Warschau, Posen, ein Paar Festen zwi-
schen Krakau und Warschau ; alles Land umher war in der Gewalt des
Polenkönigs oder in Waffen gegen Schweden, voll Hass und Wuth gegen
den , dem man sich vor Kurzem unterworfen hatte. Schon stand auch
Lithauen auf. Gzarnecky drang gegen Posen und Gnesen vor, sandte
Zamecky weiter, Pomerellen zu occupiren und die Verbindung Schwe-
dens mit Stettin und den Odermündungen zu zerreissen. Die Lithauer
unter Sapieha, dem Palalin von Witepsk, belagerten Warschau und mit
erdrückender Uebermacht zog Johann Casimir heran, seine Residenz
wieder zu nehmen. Schon war ein Tartarenheer auf dem Wege ihn zu
unterstützen und fluthete bis an die preussischen Grenzen schweifend
auf Warschau heran. Der Adel in Masuren und Podlachien , zwischen
der preussischen Grenze und dem Bug, erhob sich, zunächst Tycozin zu
belagern, die Feste des Fürsten Boleslav Radzivil, der auf schwedischer
Seile geblieben war; mit derlnsurreclion hier war die nächste Verbindung
mit Lithauen geöffnet. Dort war bereits der Grossfürst von Moskau, jetzt
ein Verbündeter Polens , eingerückt , dessen Heere zugleich Ingerman-
land, Liefland überschwemmt, Dorpal, Dünaburg eingenommen hat-
ten, sich an der Düna abwärts nach Riga wälzten.
Mit jedem Tage wurde die Schwedenmacht enger umschnürt, ihre
Verbindung mit der See schwerer bedroht. Noch stand das mächtige
Danzig ungebeugt ; es nahte eine holländische Flotte die Stadt zu sichern
und dem schwedischen Dominium maris Baitici fllr immer ein Ende zu
machen.
Für Schweden erhob sich niemand ; der Protector von England gab
schöne Worte, aber leistete nichts ; und Frankreich, nur gegen das Haus
Habsburg in Spanien und im Reich gewandt, wollte weder Polen sinken
noch Schweden zu mächtig werden lassen ; es mühte sich ab hinzuhal-
ten und zu vermitteln. Es gab nur einen Fürsten , der nahe genug und
militärisch stark genug war helfen zu können, den von Brandenburg.
Wir haben die Frauenburger Verhandlungen schon oben bespro-
9*] Die Schlacht von Warschau. 1656. 435
chen. Der Churftirst hatte durchaus nicht das Interesse den Abschluss zu
beeilen , auf den Karl Gustav brannte ; er suchte zwischen den beiden
Kronen zu vermitteln. Von ihm ging der Vorschlag aus , zu dem sich
auch Karl Gustav bereit erklären musste, den de Lumbres an Johann
Casimir überbrachte : de faire changer son royaume en monarchie höredi-
laire avec pouvoir d'en disposer pour qui bon luy sembleroit s'il se vouloit
joindre avec eux.
Die kluge und stolze Königin trug sich wohl mit ähnlichen Gedan-
ken; aber um keinen Preis meinte sie dem »Usurpator« der schwedi-
schen Krone das Geringste nachgeben, dem abtrünnigen Vasallen im
Herzogthum Preussen irgend etwas danken zu dürfen. Der Enthusias-
mus , mit dem sich Polen erhob , gab ihr die Zuversicht grössler Erfolge
und ersehnter Rache.
Nicht die Versprechungen des Schwedenkönigs , sondern die Dro-
hungen der Polen bestimmten den Churfürsten die Waffen zu ergreifen.
Er hatte gleich beim Beginn des Krieges dem Polenkönige sich zu
jeder Hülfe bereit erklart, namentlich mit den Ständen im königlichen
Preussen gemeinsam den Schutz des Landes zu übernehmen sich ver-
pflichtet ; er war mit Heeresmacht an der untern Weichsel, als Karl Gu-
stav über Posen nach Warschau vordrang ; er forderte Johann Casimir
auf, das Kriegsaufgebot im polnischen Preussen mit der brandenburgi-
schen Armee sich vereinigen zu lassen. Aber die Stände in Preussen
waren und blieben »ohne Rath und in Confusion , in zerschnittener Mei-
nung ;« und vom Könige und etlichen Senatoren kamen Schreiben an die
Städte und Woywoden des Weichsellandes , dem Churfürsten nicht zu
trauen, nirgends seine Truppen in die Städte zu lassen1. Dann als
Johann Casimir bereits landflüchtig und sein Reich in des Schweden Ge-
walt war , hatte er dem Churfürsten die Souveränetät des Herzogthums
Preussen angeboten , wenn er gegen Schweden eintreten wolle. Sollte
der Churftirst sich und seinen »Staat« in die schlechte Concursmasse der
Republik werfen ? sie war nichts mehr , der Abfall des polnischen Hee-
res und Adels verdoppelte Karl Gustavs Heer ; mehrere tausend Quar-
tianer zogen mit nach Preussen , den Churfürsten zur Unterwerfung zu
\ ) Aus der sehr merkwürdigen Brochure : Eines getreuen preussischen Patrioten
eylferlige Interimsbeantwortung derer dreizehn Motiven , welche im vergangenen Mo«
nat alihie in Danzig bey Philipp Christian Rhat gedruckt worden «657.
436 Ion. Gust. Droysen, [9«
zwingen. Als diese Uebermacht das Herzogthum überschwemmte, als
sie endlich vor den Wällen von Königsberg stand, da konnte der Chur-
fllrst nicht anders als den Vertrag von Welau annehmen.
Dass diess geschehen, dass der Churfilrst 1 500 Mann dem neuen
Lehnsherrn nach dem Vertrage stellte , darüber war in Polen sofort die
grösste Erbitterung ; sie wuchs in dem Maasse als die Erhebung weiter
schwoll und Zuversicht gewann. Warum auch that der Churfilrst nicht
gleich den Potockys und Koniecpolskys, die ja auch ein Treueid an Karl
Gustav band, nicht gleich dem lithauischen Unterschatzmeister, der ihm
so dringend zum Welauer Vertrage gerathen hatte {vehementer suaserat
Puf. VI. 30) und nun einen Theil der lithauischen Armee commandirte?
Man sprach am Hofe und im Heer Johann Casimirs vom Churfürsten als
von einem Abtrünnigen , dem man den Process machen müsse ; Jobann
Casimir forderte drohend in einer Frist von drei Tagen seine Rückkehr
zum Gehorsam (pro imperio exigebat ut sub perduellionis poena intra tri-
duum relictis Suecis Polonico exercitui sese jung er et).
Vergeblich waren die Vorschläge die der Churfilrst machen liess,
die Mahnungen des französischen Gesandten; ce Roy riy a pas voulu
prexter Vor eilte. Es wurde der polnische Oberjägermeister Georg Mai-
dell nach Königsberg gesandt , die früheren Forderungen zu wiederho-
len (satis imperiose postulabat. Puf.), zugleich Mandate an die Stände des
Herzogthums Preussen zu überbringen, die sie verpflichteten dem Chur-
ftlrsten allen ferneren Gehorsam zu versagen. Schon vorher waren
Briefe aufgefangen , die dem Gen. Zamecky befahlen »des ChurfUrsten
deutsche Lande mit Feuer und Schwert zu verwüsten« x. Und in den
ersten Junitagen brachen Zameckys Schaaren in die Neumark und Hin-
terpommern ein (Puf.). Zugleich wurden Tartarenschwärme »von Polen
geführt,« in das Herzogthum Preussen geworfen, »wo von ihnen viele
Ackerleute gefesselt und in Dienstbarkeit abgeführt worden sind« (Bei-
lage 8).
4 ) So der Anfang des in Beilage 8 abgedruckten Berichtes. Das Schreiben des
Churfürsten an den Polenkönig, das Puf. VI. 33 hat, muss damals, wohl von branden-
burgischer Seite als Rechtfertigung, veröffentlicht worden sein, denn Thulden p. 278
führt daraus die Worte an : pari $e semper studuisse .... jetzt sei er gezwungen sich
mit den Schweden zu verbinden cum non modo constans rumor afferat Caesarnerium in
Prussiam hostilia moliri, verum etiam in mandatis eum ab Reg. Mte accepme ut id fariat
interceptae a suis literae testentur. Der Brief ist vom t/1 \ . Juli.
03] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 437
»Was konnte S. Cf. D. nun anders thun als um sich und dero
von Gott anvertraute Lande wie auch mithin das Römische Reich von
Gefahr und Desolation zu befreien, diejenigen Mittel, so noch übrig, zur
Hand zu nehmen« (Beilage 8). Wahrend in Marienburg der Vertrag
zwischen Schweden und Brandenburg sehr rasch zu Ende verhandelt
wurde, hatten beide Fürsten eine persönliche Zusammenkunft in Preus-
sisch Holland (17/27. Juni), das gemeinsame weitere Verfahren gegen
Polen festzustellen.
Aber gleich darauf (21 . Juni — 1 . Juli) hatte Graf Wittenberg in War-
schau capituliren müssen; der Besatzung ward freier Abzug gewährt,
aber ihn selbst und andere hohe Officiere führten die Polen gefangen
nach Zamosc ; nur Benedict Oxenstjerna liess man , da er schwer er-
krankt war, in Warschau zurück.
Der Anfang des brandenburgischen Kriegs1.
Nach dem Fall Warschaus hatten die Polen vordringen, sich na-
mentlich auf das Lager von Nowodwor werfen müssen2, bevor die
schwedische und brandenburgische Armee sich vereinten und dem Prin-
zen Adolph Johann einen Rückhalt boten. Der Prinz selbst fürchtete,
dass der Feind ihn überfallen und erdrücken werde ; er fragte bei sei-
nem königlichen Bruder an , ob er nicht die Position aufgeben und nach
Thorn zurückgehen solle ; er erhielt den Befehl zu bleiben. Der Ver-
such, den die Polen machten, vom linken Weichsel ufer her die Brücke,
die zum Lager führte, zu nehmen, wurde mit zu schwachen Mitteln un-
ternommen und mit schwerem Verlust zurückgeschlagen.
Am 8. Juli N. St. kam Karl Gustav mit ein Paar tausend Mann von
der untern Weichsel herauf nach Nowodwor. Sofort schrieb er dem
Churfürsten (Berl. Arch.) : er möge eilen ut nostras quoque utrinque vires
quantocyus congregemus et armi$ et coimliis conjunctis non vero separalim
agamus. Er meldet ihm die Stellung des Feindes : der grösste Theil der
polnischen Streitkräfte sei bei Warschau vereinigt , das lithauische Heer
unter dem Palatin Sapieha stehe bei Praga ; Czarnecky sei, sobald er er-
\) Diesen Ausdruck »brandenburgischer Kriege braucht Rudausky, er scheint
der in Polen damals übliche gewesen zu sein.
2) So Passes Denkwürdigkeiten p. 8; dass es nicht geschehen, nennt er »eine
unkluge Anordnung. «
438 Job. Gust. Dboysen, [9*
fahren, dass bei Sacrozio eine Brücke über die Weichsel gelegt sei, auf
die linke Seite des Stromes gegangen und stehe bei Warschau ; so seien
die beiden Theile des feindlichen Heeres getrennt ; er gedenke gegen die
Lithauer und die von den Polen bei Praga geschlagene Brücke einen
Handstreich zu versuchen (aliquid tentare).
Folgenden Tages schreibt der König (Bert. Arch.). dass er im Be-
griff sei »über die Weichsel« zu gehen. Also sein Plan ist geändert, er
will jetzt nicht auf die Lithauer , sondern auf Czarnecky seinen Angriff
richten. Sollte das geschehen , so war vor Allem wichtig, dass die Na-
rewlinie gesichert werde , damit der Feind nicht in nostri exercitus ab-
sentia gegen das Herzogthum vordringe. Am Narew »18 Meilen« auf-
wärts von Nowodwor liegt Tycozin, eine Festung des Fürsten Bogislaw
Radzivil ; sie war jetzt von dem Adel Masoviens und Podlachiens bela-
gert. Der König besorgte , dass die Feinde den Narew bei Ostrolenka
oder Pultusk überschreiten könnten ; da Gefahr im Verzuge sei und der
Churfllrst vielleicht noch Hindrung habe , so habe er vorgezogen einige
Regimenter (unter Radzivil und Douglas) nach Tycozin zu schicken, zu*
gleich auf dem Marsch alle Brücken und Schiffe zu zerstören; er fordert
den Churfllrsten auf mit seinen Truppen, die unter Oberst Wallenrodt (bei
Johannisburg) lägen, Douglas in itu et reditu zu decken, 800 bis 1000
Dragoner nach Ostrolenka zu senden.
In der That versuchten die Polen dort durchzubrechen. Mit jedem
Tage wuchs in Warschau die Zuversicht und die Wulh gegen den Chur-
fllrsten. König und Königin , imaginaria foriuna elati, wie Karl Gustav
schreibt (13. Juli), wiesen alle Erbietungen, die der französische Ge-
sandte machte , zurück ; sie weigerten sich namentlich den Churfllrsten
mit in die Verhandlungen über ein accorntnodement aufzunehmen, ä cause
qu'il est leur vasal (de Lumbres Schreiben vom 9. Aug.).
Am 1 3. Juli meldet der König , es sei Nachricht gekommen, dass
der Feind (unter dem Grossmarschall Lubomiersky, unter dem Gon-
siewsky stand) vorgehe, zwischen Pultusk und Ostrolenka in nosiros
eruplionem facere ; er bittet dringend Wallenrodt »oder wen sonst« zur
Deckung vorgehen zu lassen, vor Allem aber selbst recht bald heranzu-
kommen : quamdiu nostras utrinque vires separatim stare et in unum non
coivisse senserint, haud dubie nihil de illo animi tumore remittent.
Man war schwedischer Seits sehr entfernt, dem Churfllrsten zu
trauen ; man glaubte, dass er immer noch mit Johann Casimir verhandle.
95] Die Schlacht von Warschau. 1656. 439
In einem viel spatern Schreiben (6. Decb. 1 657) sagt der König : quod
plane eos latere non potuit qui videbant quae subinde miscebantur per Ge-
orgium Maydel et cum proteclo iunc etiam Gomievio ogebantur. Also auch
jetzt noch, so glaubte man, Heimlichkeit mit Gonsiewsky, der gegen den
Narew vorrückte.
Man wird sehr beruhigt gewesen sein, dass der Churfürst endlich
heranzog , am 1 1 . Juli jenes Schreiben an den Polenkönig erliess , das
seine Conjunction mit den Schweden aussprach , den 1 4. Juli die pol*
nische Grenze überschritt ; er stand nun bei Schrinsky, nur einen Marsch
von Nowodwor entfernt.
Der König brannte darauf die Offensive zu ergreifen. Die Brücke
bei Warschau, schreibt er 16. Juli dem Churfürsten eigenhändig und
deutsch, ist bei dem hohen Wasser gebrochen, eine neue Brücke »unter-
halb der Stadt« erst angefangen und nicht sobald fertig. Die lithauische
Armee steht getrennt von der übrigen , »welcher ich gewiss vermeine
man etwas könne beibringen, dieweil man den Bug oberhalb bleiben
kann , wenn man den Narew erst passirt.« Also die lithauische Armee
stand zwischen Bug und Narew ; wir entnehmen aus Des Noyers Brief
vom 20. Juli, dass nur 10,000 M. bei Praga (unter Paul Sapieha) geblie-
ben; die übrigen 20,000 M.(?) unter Lubomiersky standen am rechten Ufer
des Bug. Dort also wollte sie Karl Gustav, den Narew oberhalb seiner
Einmündung in den Bug überschreitend , getrennt von dem Hauptheer
überfallen.
Noch war Douglas von Tycozin nicht zurück ; war die lithauische
Armee ausgesandt ihn abzuschneiden ? Des Noyers sagt : Gonsiewsky sei
mit 2000 M. abgesandt worden pour empecher le secours de Tycozin, que
Douglas conduisait; aber, fügt er hinzu, il arriva irop tard. Der König
meldet am 1 8ten, dass Douglas Tycozin glücklich entsetzt habe, dass er
auf dem Rückmarsch sei und folgenden Tages eintreffen werde. Er kam
unversehrt an.
Gonsiewsky rückte vor , als Douglas vorüber war ; am 23sten ist
im schwedischen Lager die Nachricht, dass er Ostrolenka besetzt habe,
Pultusk einschliesse. Sofort eilt der König (24. Juli) in eigner Person
»mit einer starken Parthie« Schweden und Brandenburgern den Narew
aufwärts. Gonsiewsky zieht sich bei seinem Herannahen schleunigst von
Pultusk und »über den Bug auf Warschau« zurück. Am 27. Juli ist der
König wieder im Lager.
440 Job. Gust. Däoysen, [96
Bis zu diesem Tage hatte der Churßtrst noch gezögert den letzten
Schritt zu thun, den, sich mit dem Könige vollständig zu conjungiren
d. h. die entscheidende Offensive möglich zu machen. Er hatte gehofft,
dass man in Warschau endlich zur Besinnung kommen, »sich endlich
zum Frieden bewegen lassen werdea (Rel. I. § 5). Das Schreiben des
Polenkönigs vom 25sten, das des Gnesner Erzbischofs vom 24. Juli
konnten ihm zeigen, dass es eines schärferen Druckes bedürfe, den
Uebermuth der Polen zu brechen. Am 27. Juli erfolgte die »Conjunction.«
Halten wir einen Augenblick inne. Die militairischen Bewegungen
in den vier Wochen , die seit dem Fall von Warschau verflossen waren,
zeigen auf das deutlichste die geistige Ueberlegenbeit Karl Gustavs, die
Schwäche der polnischen Uebermacht. Acht Tage lang steht das Häuf-
lein Schweden in Nowodwor, so schwach, dass der Generalissimus selbst
verzweifelt sich halten zu können, nach Thorn zurtickgehn will ; aber die
Polen lassen ihn ungestört. So wie Karl Gustav angekommen , beginnt
er rechts und links hinaus zu schlagen ; am 1 1 . Juli streift Bttlow bis
Blonie , südwestlich von Warschau, den Polen den Marsch nach Thorn
zu verlegen ; zugleich eilt Douglas und Radzivil Tycozin zu entsetzen ;
dann folgt des Königs Zug den Strom hinauf, den Feinden das Durch-
brechen nach Preussen zu hindern. Karl Gustav versteht es die unschlüs-
sigen Gegner bald da bald dort zu Überraschen; er weiss sie hinzu-
halten, bis die Conjunction ihn in den Stand setzt den entscheidenden
Stoss zu flihren.
Auf polnischer Seite scheint man sich immer noch nicht stark genug
su fühlen ; man wartet noch auf die Ankunft der Tartaren. Johann Casi-
mir wirft wohl auf die Nachricht von Bulows Zug nach Blonie ein Corps
dorthin ; aber wie es ankommt, sind die Schweden schon hinweg ; man
folgt bis an die Brücke von Sacrozin , da aber erlahmt der Stoss (Puf.
C. G. III. 24). Es wird jener Versuch gemacht den Uebergang über den
Narew zu gewinnen, aber die Lilhauer weichen vor dem Anmarsch des
Königs zurück. Was hilft die Uebermacht, die Johann Casimir hat, il y a
vingt sept jours, schreibt Des Noyers am 27. Juli , que tout cela est ici a
faire bonne chere ei hisse le Roy de Suade camper six lieues (Tivi , lequel
depuis qu'il y est ria pas eu plus de 10,000 komme* effectifs et 13,000 de
FElecteur ; fai honte de le dire.
97] Die Schlacht von Warschau. 1656. 441
Die Einleitung zur Schlacht.
Es ist nicht meine Aufgabe, aus allgemeinen strategischen Gesichts-
punkten die Schlacht von Warschau zu entwickeln; auch militairisch
von grösserem Interesse ist es festzustellen, wie und aus welchen An-
lassen man von der einen und andern Seite zur Schlacht kam.
De Lumbres nennt in seinem Bericht an Mazarin die Schlacht une
rencanlre inopintie de deux armees qvi se cherchaient Pune et lautre , sans
avoir aucun advis de la marche ny du dessein de Vune Fautre. Ist diese
Bezeichnung richtig?
Pufendorff berichtet (F. W. VI, 36) , der Polenkönig habe de Lum-
bres Antrftge (vordem 27. Juli) mit den Worten abgelehnt: »er habe das
schwedische Heer den Tartaren zum Frühstück geschenkt, den Churfiir-
sten wolle er in ein Verwahrsam bringen, wohin weder Sonne noch
Mond scheine.« Also man wollte den Feind schlagen und vernichten ;
und wo er zu finden sei , wusste man sehr wohl ; man brauchte ihn
nicht erst zu suchen.
Und bedarf es noch eines Beweises, dass Karl Gustav die Schlacht
suchte? Als de Lumbres ihn bei jenem Zusammentreffen am 28. Juli
Mittags zurückzuhalten suchte, ihm die Uebermacht des Feindes dar-
legte , ihn vor der fast unvermeidlichen Niederlage nach so vielen ruhm-
vollen Erfolgen warnte, antwortete der König nach Locceniusp. 734
und Scheffer XVII. 8 : »wenn nur alle meine Feinde hier auf Einem
Felde mir gegenüber ständen, dass ich sie mit einem Male niederwerfen
könnte.«
Und doch ist in dem Ausdruck une rencanlre inopinde etwas
Richtiges.
Die Verbündeten hatten ihren Plan darauf gestellt , dass die neue
Brücke bei Warschau noch nicht fertig , die Verbindung zwischen der
lithauischen und polnischen Armee noch nicht hergestellt sei; ob sie
wussten , dass von der lithauischen Armee die grössere Hälfte noch am
Bug stehe , nur 1 0,000 Mann unter Paul Sapieha und das am Narew
zurückgewiesene Corps von Gonsiewsky bei Praga stehe, ist nicht zu
ersehen.
In der Rel. I. II. u. s. w. wird der Plan der Verbündeten mit fol-
genden Worten angegeben (§ 8) : »dass man der lithauischen Armee so
bei Praga eine Weile gestanden, eines beizubringen, oder da solche sich
Abhtndl. d. K. 8. Gc«. d. Wist. X. 30
442 Job. Gcst. Droysen, [98
retiriren thäte , vorerst die Brücke bei Warschau gänzlich zu ruiniren
und alsdann wieder den Bug bei Nowodwor zu repassiren und nachdem
man über die bei Zacrozin verfertigte Brücke gekommen , jenseits der
Weichsel bei Warschau mit dem Feind zu einer Hauptaction zu gelangen
suchen wolle.« Auch in den brandenburgischen Bearbeitungen der Re-
lation I. ist diese »Intention« unverändert gelassen '. Und de Lumbres
berichtet, dass die Verbündeten, als er sie auf dem Anmarsch traf ihm
gesagt haben: que leur dessein estoit, (faller attaquer Varmee de Lituanie
separee de celle de Pologne par la riviere de Vislule et puis les forte de
terre qui sont fort proches du pont, et enstäle brusler une partie du
wesme pont.
Also die Absicht beim Aufbruch am 28. Juli ist nicht die ganze
feindliche Armee zu treffen. Die Eile des Aufbruches und des Marsches
zeigt, dass man einen Ueberfall zu machen gedenkt, ehe die Verbindung
beider polnischer Heeres t heile ermöglicht ist, dass man den rechten Flü-
gel der feindlichen Armee zu sprengen und dann in raschem Rückmarsch
den linken Flügel zu erreichen und zu vernichten hofft. Man nimmt nur
Proviant auf drei Tage mit.
lieber den Plan der Polen geben Rel. I. II. u. s. w. folgendes : »Es
hat sich zugetragen, dass der Feind gleich selbiges Tages (28. Juli) suchte
mit seiner um Warschau bei sich gehabten Force über seine Brücke zu
Warschau zu gehen und nach beschehener Conjunction mit der lilhaui-
schen Armee und den angekommenen Tarlaren vor dem schwedischen
Lager bei Nowodwor sich zu setzen und mit den Partheien die schwe-
dischen und brandenburgischen Fouragiers zu incommodiren.a
Diesen Krieg gegen die Fouragiere wird man wohl auf sich beru-
hen zu lassen haben. Kochowsky führt p. 1 7 8 an : »nach der Nachricht
von der Ankunft des ChurfUrsten in Plonsk sei in Warschau Kriegsrath
gehalten worden, ob man am Stromufer entlang, das keinen Unterhak
mehr biete, vorgehen und den vorstürmenden Feind aufhalten solle,
oder ob es nicht besser sei ihn innerhalb der Verschanzungen zu erwar-
1 ) In dem Beilage 8 angeführten Bericht heissl es : » in der Intention sich zu be-
mühen ob der ohnweit daselbst (bei Praga) stehenden lilbauischen Armee eins beige-
bracht oder da (solches nicht möglich) dieselbe sich retiriren (dürfte) sollte, ob die
Bracke bei Warschau ruinirt und wenn man über den Bug zurück gegangen , ob man
bei Sacrozin über die Weichselbrücke kommen und dann füglich mit dem Feinde an-
binden konnte.« Die eingeklammerten Worte sind im Concept gestrichen.
99] Die Schlacht von Warschau. 1656. 443
ten , um nicht die zusammengebrachten Magazine unvorsichtig aufzuge-
ben; werde man im freien Feld(?) geschlagen, so bleibe immer noch ein
sichrer Rückzug hinter die Yerscbanzungen.ee Quod po litis visum fügt
er hinzu.
Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass diese Angabe Kochowskys
unrichtig, nicht bloss unlogisch ist. Am 27. Juli bereits schreibt Des
Noyers : cependant notre armie passe la Vistule sur notre pont de batteaux,
pour ensuiie aller passer le Bug pour trouver l'ennemi, qui ne sorl point de
ses retranchements; les Tartares doivent Vinvestir par derriere, et sil se
laisse enfermer, il est per du assurement, mais je crois quil se reürera en
Prusse aussitot qu'il sauta quon ira ä lui. Daher sagt de Lumbres am
2 8s ten den Verbündeten, als er sie auf dem Anmarsch trifft: quils ne
trouveroieni pas les trouppes de Lituanie, parce qu'elles marchaient pour
gagner la riviere de Bouc ...et que Celles de Pologne commengoient ä filer
en degä du pont pour se joindre aux Tartares et suivre celles de Lituanie.
Also der Plan der Polen war den Feind in Nowodwor einzuschlies-
sen; man wollte zu dem Ende Ober den Bug gehen, natürlich nicht un-
ter den Augen des Feindes, sondern weiter stromaufwärts, so dass man
ihm den Rückzug nach Preussen sperrte. Aber musste dazu die ganze
Armee nach dem Bug gehen? musste nicht zugleich das linke Weichsel-
ufer bei Sacrozin gedeckt, die Brücke dort zerstört werden? Unsre
Quellen geben keine Antwort auf diese Fragen. Inzwischen plante man
schon ins Weite hinaus; das Herzogthum Preussen sollte als ein verfal-
lenes Lehn angesehen und mit der Krone vereinigt werden ; eben des-
halb wollte man es nicht heimsuchen (il ne faul pas ruiner cette province,
Des Noyers am 27. Juli) wohl aber die Tartaren nach der Mark und
Pommern werfen u. s. w.
Man sieht, in welchem Sinn de Lumbres Bezeichnung der Schlacht
als une rencontre inopinie richtig ist. Weder die Polen hatten den An-
marsch des Feindes, von dem ihnen am Morgen des 28. Juli Nachricht
kam , vorausgesehen , noch waren die Alliirten darauf gefasst auf die
ganze feindliche Armee bei Praga zu stossen. Darauf gründete dann
de Lumbres den Versuch noch jetzt den Zusammenstoss zu hindern
[cette rencontre inopxnie . . . pouvait faire prendre de nouveaux conseils,) ;
er meint, es wäre möglich gewesen, si Xarmie de Suede et de Branden-
bourg tCen eussent esti trop avancies pour rebrousser chemin.
Schwerlich war das der Grund. Vielmehr de Lumbres weitere
441 Job. Gcst. Diotskh, [100
Angabe, que Celles de Pologne commencoient dejä ä filer au deca de pont
pour se joindre aux Tarlares, zeigte , dass man eilen müsse heranzukom-
men , um wo möglich die Brücke zu zerstören bevor noch mehr Yolk
herüberkomme. Namentlich der Churfürst hatte allen Anlass zum Vor-
gehn zu mahnen ; für ihn stand jetzt noch mehr anf dem Spiel als ftr
die Schweden.
Die Schlacht.
Es darf wohl auffallen , dass die Verbündeten auch da noch ihren
ursprünglichen Plan festhielten, als sie schon erkennen mussten, dass
die Bedingungen, auf die derselbe berechnet war, sich verändert hatten.
Aber wenn sie nach einem schweren Marsch in der Hitze und dem
Staub eines Julitages , noch bei Sonnenuntergang den Angriff gegen die
verschanzte Stellung des Feindes versuchten, so mussten sie hoffen noch
überraschen und durch Ueberraschung etwas erreichen zu können. Die
Richtung des Stosses, den sie führten, ist auf den linken Flügel des
Feindes gerichtet; sie wollen zur Brücke durchbrechen und sie zer-
stören.
Nicht bloss diess mislingt, man bekommt zugleich einen harten Chock
von der linken Flanke her, der sehr deutlich zeigt, dass der Feind voll
Kampflust und Zuversicht ist.
Ob es richtig ist , dass in dem Kriegsrath der Alliirten nach diesem
Abendgefecht der Vorschlag gemacht worden zurückzugehen , muss da-
hingestellt bleiben. Vielleicht war der Rückzug unter den Augen eines
an Reiterei überlegenen Feindes noch bedenklicher als eine Schlacht.
Dass man so nahe den Verschanzungen des Feindes, einen langge-
streckten Wald zur Seite, ohne Verhau und sonstige Deckung lagerte,
war nicht viel mehr als eine Bravade. Warum strafte der Feind sie nicht
mit einem nächtlichen Ueberfall? Noch war nicht seine ganze Armee
diesseits der Weichsel ; die ganze Nacht durch währte das Herttberziehn
der Colonnen. Er hatte eine Stellung, in der er des Erfolges in jedem
Fall sicher zu sein glauben durfte. Sie beherrschte die der Verbündeten
vollständig.
Dass jenseits der Weichsel bei Pulko schwere Stücke postirt wur-
den, die rechte Flanke der Alliirten zu bestreichen, scheint zu beweisen,
dass man darauf rechnete, die Gegner vor den Retranchements zwischen
Wald und Weichsel festzuhalten. Auch die kleine Colline neben dem
*<M] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 445
Wald war mit Stücken besetzt, um dem Feind das Debouchiren nach
links in das offene Feld unmöglich zu machen , ihn in der Sackgasse , in
die. er gerannt war, schliesslich zusammenzuquetschen.
Die Lage der Verbündeten war arg genug. Vor sich verschanzte
Höhen , das Feuer des Feindes von dort , von der rechten und linken
Flanke, einer vier- bis fünfmal stärkeren Truppenzahl gegenüber, so be-
gannen sie die Schlacht am 29sten früh.
Wir haben in der Besprechung der einzelnen Gefechtsmomente dar-
auf hingewiesen, dass der Schlachtplan der Verbündeten am Sonnabend
früh nicht deutlich zu erkennen , dass namentlich durch die Quellenan-
gaben nicht festzustellen ist, ob von früh an die Absicht darauf gerichtet
war, die Schlacht ins freie Feld zur Linken zu verlegen und zu diesem
Zweck die Colline zu nehmen, oder ob man diese nur zu nehmen be-
schloss, um das Feuer des Feindes gegen die linke Flanke zu beseitigen
und einen Stützpunkt für diese zu gewinnen.
Es mochte im Hauptquartier einer und der andere sein — Radzivil,
Fr. Waldeck, der Churfürst selbst — der aus früherer Anwesenheit ii>
Warschau eine ungefähre Kenntniss von dem Terrain um Praga hatte ;
es mochte durch die Recognoscirungen am vorigen Tage ermittelt sein,
dass der Wald von Bialalenka nicht breit, dass auf dessen Ostseiie freies
Feld sei. Wollte man da hinaus, so wäre unzweifelhaft die nächste
Maassregel am Morgen des 29sten gewesen, sich seiner Ostausgänge zu
versichern, um von dort aus debouchiren zu können. Der Gang des
Gefechtes am 29sten Vormittags zeigt, dass der Wald nicht besetzt
worden war; die Tartaren konnten auf dem Wege von Bialalenka her
durch den Wald kommen, ohne bemerkt zu werden.
Was also war beim Beginn des Gefechts am 29sten die Absicht der
Alliirten, die ja angreifen wollten und die Entscheidung forciren muss-
ten? Es konnte keine andre sein als angelehnt an die Weichsel und an
die Colline irgend wo die feste Stellung des Feindes zu durchbrechen,
wie sie schon Abends vorher versucht hatten ; also kein neuer Plan, ob1
schon die Verhältnisse nicht mehr dieselben waren , auf die der frühere
gegründet war.
Vielleicht fässt sich hieraus eine zweite Folgerung entwickeln. War
die Absicht die Retranchements zu durchbrechen , so erscheint die Be-
sitznahme der Colline nur als eine defemsive Maassregel, und diese wies
446 Joh. Gust. Droysen, [JOS
der König dem brandenburgischen Flügel zu, während er seinen Schwe-
den die active Rolle, den Ruhm des Tages bestimmte.
Erst jener Tartarenangriff und der »furieuse« Anprall der 4 — 6000
Polen, den der Churfiirst auszuhalten hatte, bevor die Colline mit Stücken
besetzt war, zeigte, dass der Schwerpunkt des Kampfes entschieden
nach der Linken hin gehe, dass man, ohne Aussicht auf entscheidenden
Erfolg auf dem rechten Flügel, bei längerem Festhalten des früheren Pla-
nes in Gefahr sei, völlig in die Defensive gedrängt zu werden. Erst jetzt,
nachdem Karl Gustav selbst von der Colline aus das Terrain zur Linken
übersehen, wird die völlige Veränderung der Disposition beschlossen.
Ehe ihre Ausführung beginnt, ergreifen die Polen an allen Punkten
zugleich die Offensive ; sie ihrerseits suchen die Linie der Alliirten, deren
beide Flügel schon nicht mehr in unmittelbarer Verbindung stehen , zu-
gleich von den Retranchements aus zu durchbrechen und von Bialalenka
aus zu umgehen. Sichtlich nicht ohne Mühe gelingt es den Alliirten sich
gegen diesen schweren Anprall zu behaupten.
Der polnische Angriff mislingt, weil man es versäumt hat auf Einen
Punkt den entscheidenden Stoss zu richten. Man eilt diesen Fehler gut
zu machen; man sammelt die besten Truppen zu beiden Seiten des
Schanzhügels, dem brandenburgischen Flügel gegenüber, um gegen die
schwächste Stelle der feindlichen Linie vorzudringen und da durchbre-
chend den Eingang in den Wald zu gewinnen, damit die beiden Flügel
des Feindes völlig auseinander zu reissen.
Auch dieser Angriff mislingt; er scheitert an der Festigkeit der
brandenburgischen Vierecke ; und Karl Gustav gewinnt Zeit, seine Trup-
pen in den Wald und durch denselben zu ziehen.
Der Wald von Bialalenka ist in diesem Moment der Schlacht gleich-
sam die Festung , in der sich die Armee der Alliirten sammelt um sich
zum Ausfall nach links hin zu rangiren. Man darf wohl fragen, ob die
Alliirten nicht gleich am Morgen damit hätten beginnen können den Wald
so zu benutzen , ob sie nicht durch Besetzung des Waldes in der Nacht
die feste Stellung des Feindes, die man am Abend schon hatte kennen
lernen, zu tiberhohlen, von ihm aus die Colline, deren Besetzung so viele
Mühe kostete, um so leichter zu nehmen.
Mit dem Abzug des schwedischen Flügels in den Wald waren die
Retranchements des Feindes gleichsam todt gelegt ; die Geschütze wur-
den abgefahren, auf die Dünen und nach dem Holz von Praga gebracht.
103] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 447
Von den Polen scheint auch nicht ein Versuch gemacht zu sein, den ab-
ziehenden schwedischen Flügel festzuhalten; ihre ganze Streitmacht
drängt sich nach den Dünen und macht Front gegen Osten.
Die neue Aufstellung, die -die Polen am Nachmittag des 29. Juli
nahmen bis Bialalenka hin , das allmählige Zurücknehmen ihres rechten
Flügels bis hinter Brudno, dann, als die feindliche Schlachtlinie der Du-
nenreihe ziemlich parallel steht, der plötzliche Ansturz gegen deren Front
und zugleich gegen ihre linke Flanke , scheint zu zeigen, dass eine ge-
schickte Hand die Leitung hat; nach Rudausky darf man schliessen,
dass Czarnecky diese Bewegungen leitete. In der That schien sich der
Erfolg auf die Seite der Polen zu neigen, als hier die Husaren das erste
schwedische Treffen durchbrachen ; Kochowsky erzählt , dass Karl Gu-
stav an dem Ausgang des Tages verzweifelnd einen Trompeter abge-
schickt habe Waffenstillstand anzubieten ; id verumne an pro um prae-
scnti vulgatum haud affirmo, fügt er hinzu. Aber die brandenburgischen
Brigaden im Centrum, die Escadronen auf dem brandenburgischen Flügel
standen unerschüttert; und der schwedische Flügel gewann schnell seine
Haltung wieder ; der Feind wurde überall zurückgeworfen.
Karl Gustavs Absicht, als er am Rand des Waldes den linken Flü-
gel genommen hatte and auf den rechten pivotirend über Bialalenka, über
Brudno vorging, war, so scheint es, den Feind zu tourniren. Darum schob
er sich immer weiter nach links , nahm mehr und mehr seinen Flügel
vor, indem er den des Churfürsten von seinem früheren Stützpunkt,
der kleinen Colline, entfernte und gegen Brudno hin nach sich zog. Der
Abend brach ein , ehe er seinen Zweck erreicht hatte ; er musste sich
begnügen den Feind mürbe gemacht zu haben.
Die Gefechte am Sonntag zeigen, dass diess keinesweges in dem
Maasse der Fall war , wie Des Noyers in seinem Unmuth angiebt : les
nötres senfuirent sans combattre. Auch war die Disposition der Alliirten
nichts weniger als darauf berechnet , einem völlig entmuthigten Feinde
nur noch den letzten Stoss zu geben. Vielmehr gab Karl Gustav den
Plan auf, den Feind in seinem rechten Flügel zu umfassen, ihn aus sei-
ner festen Stellung heraus zu manövriren; es wurde jene Sturmcolonne
brandenburgisches Fussvolk formirl, die das verschanzte Holz von Praga
nehmen und damit das Centrum der feindlichen Linie durchbrechen
musste ; mit der Einnahme des Holzes war die Schlacht entschieden.
Die Uebergabe Warschaus war die nächste Folge des Sieges.
448 Joh. Gust. Dboysen, [104
Nach der Schlacht.
»Die Schlacht, schreibt d'Avaugour an seinen Hof (bei Carlson p. 1 52),
ist mehr eine Zerstreuung des Feindes «als eine Niederlage gewesen.«
Der König floh nach Lublin, die Königin nach Landshut in Galizien ;
aber die zersprengten Schaaren sammelten sich in den nächstfolgenden
Tagen; schon am 1 1 . Aug. waren deren bei 50,000 um den König.
Nach Karl Gustavs Sinn wäre es gewesen, den Feind nicht mehr
zu Athem kommen zu lassen, dem Könige auf dem Wege nach Zamosc
zuvorzukommen, ihn zu einer zweiten Schlacht zu zwingen, ihm den
Frieden zu dictiren.
Mochte das seinen Interessen entsprechen, die des Churfiirsten
waren anderer Art.
Und schon zeigte sich deutlich genug, dass es keineswegs die Mei-
nung der europäischen Politik sei, Polen dem wilden Ungestüm der
Schwedenmacht zur Beute zu lassen. Schon lag eine mächtige staatische
Flotte auf der Rhede von Danzig (de Lombres Schreiben vom 1 1 . Aug.);
der Wiener Hof schickte sich an ernstlich einzuschreiten , Isola erhielt
den Auftrag zu melden, dass ein kaiserliches Heer mit 60 Geschützen
nach Pommern vorgehe, dass mit dem Moscowiter ein Schutz- und
Trutzbündniss eingeleitet werde (Des Noyers 26. Aug.). Schon drangen
die Moscowiten auf Riga ein ; demnächst kam ein moscowitischer Bot-
schafter an den Churfiirsten , von ihm zu fordern , dass er sein Herzog-
thum Preussen von dem Grossfllrsten zu Lehen nehme »und zwar iisdem
condilionibus wie es bei Polen gewesen;« er fügte hinzu, »sein Zaar sei
ein so grosser Herr, dass er den Churfiirsten wohl schützen könne, habe
Geldes genug, ihm fehle nur ein Hafen, so wolle er Schiffe genug bauen
lassen und sollten andre Schiffe dann wohl wegbleiben.« (Schwerin an
Weymann 11. Sept. 1656. Düsseid. Arch.)
Der Churftlrst drängte zum Frieden, aber zu einem solchen Frieden,
den Johann Casimir sofort annehmen könne. Was sollte aus seinen
Landen werden, wenn der Kaiser, der Zaar, die Staaten thaten, was sie
zu thun drohten ? Karl Gustav konnte, wenn die Fiuthen, die von allen
Seiten heranschwollen, zusammenschlugen, sich in sein Nordland zurück-
ziehen; aber das Haus Brandenburg lag wie zwischen Hammer und
Amboss.
Es ist vollkommen richtig, dass der Churftlrst Schuld daran war
405] Die Schlacht von Warschau. 1656. 449
» •
dass der gewonnene Sieg nicht weiter ausgebeutet wurde '. Was sollte
ihm das Erbieten des Königs , ihn als Generalissimus an die Spitze der
Armee zu stellen — so wird man Des Noyers Nachricht vom 27. Aug.
zu verstehen haben. Wie peinlich es den Schweden sein mochte, die
Warschauer Schlacht hatte dem Brandenburger tbatsächlich eine eben-
bürtige Stellung neben der schwedischen Macht gegeben ; fortan konnte
man nicht mehr unternehmen, als er geschehen zu lassen für gut fand.
Und dass er forderte in die Defensive zurückzugehen , um Preussen und
Kaiisch-Posen zu decken, zeigen die Bewegungen der nächsten drei
Wochen.
Dass Karl Gustav sehr bald die Unvermeidlichkeit dieses Zurück-
gehens erkannte, sieht man aus dem Befehl, den er bereits am 1 1 . Aug.
an Bülow, der in Warschau blieb , erliess , die Festungswerke zu schlei-
fen, die Marmorsäulen der Schlösser, die Gemälde, die sonstigen Kost«
barkeiten , die irgend fortgeschafft werden könnten , mit Schiffen strom-
abwärts zu schicken. Des Noyers berichtet, dass von den Schweden
selbst die Gräber aufgewühlt, die Leichen umhergeworfen seien ; er fügt
hinzu: les gern de Brandenbourg ont empörte les festes de pavis et des
marbres que les Suedois avoient laissds. II est vrai que ce na 6ti qu apres
le depart de FElecteur et que tont quil y a ite on riy a point fait de
dtsordre2.
Wir erfahren aus Des Noyers (26. Aug.) von Karl Gustavs Frie-
denserbietungen : il menace de tont brüler , si nous refusons la paix.
Seine Bewegungen, nachdem der Uebergang bei Warschau ausge-
führt war (4. Aug.), konnten den Feind glauben machen, dass er
mit Energie verfolgt werde; vielleicht dass die Furcht ihn zu einer
Uebereilung brachte. Karl Gustav war am 1 1 . Aug. in Radom, der Chur-
fürst folgte bis Novomiasto an der Pilica (nicht an der Warte , wie Puf.
C. G. III. 28 sagt). Aber der Zweck dieser Bewegung war nur, die
schwedischen Besatzungen aus den Festen Ilza , Janowicz , Chrzistopor
und andern im südlichen Polen an sich zu ziehen ; nur in dem grossen
1) Fuf. C. G. ///. 39: ita Brandmburgici fructum victoriae, cui parandae ipsi
plurimum contulerant t magnam partem corruperunt hosüque ut retpiraret viresque rt-
pararet spatium dederunt.
%) ObPöllnitz mit seiner Erzählung von den Marmorsäulen imSchloss zu Oranien-
burg Recht hat (Mem. /. p. 76), bleibt dahingestellt. Rudatisky p. 270 weiss nur von
Plünderungen des Chutförsten.
4o0 Jon. Gi st. Diotsen, [106
Waffen platz Krakau blieb die schwedische Besatzung, wahrscheinlich
schon in Hinblick auf Fürst Rakoczy von Siebenbürgen , mit dem wenig
später ein Schutz- und Trutzbttndniss geschlossen, der neue Feldzug
verabredet wurde. '
Der König blieb bis zum 16. August in Radom; dann zog er sich
nach Lowicz (23. Aug.) in die neue Stellung zurück, die sich von Lowicz
über Ploczk bis Pultusk ausdehnte. Diese Aufstellung schien ihm zu ge-
nügen die Polen in Schach zu halten, während er selbst mit einigen
Regimentern die Weichsel hinab in Steenbocks Lager eilte, um Danzig
endlich niederzuwerfen.
Für Schweden war die Warschauer Schlacht politisch ohne alle
Frucht; ja sie diente nur dazu, die Mächte, die bisher die Sache Polens
lau betrieben hatten, Dänemark, Oestreich, die Staaten, in Eifer zu
bringen und die verhängnissvolle Allianz Polens mit Russland fester zu
schnüren. Mit jedem Tage trat es deutlicher hervor , dass »die Balance
von Europa«, wie man damals sagte, sich gegen die »vasta consilia ,« die
»wilden Pläne« Schwedens kehren müsse.
Aller Gewinn der Warschauer Schlacht fiel auf Brandenburg. Das
Verdienst der brandenburgischen Politik war , dass sie als ihre Aufgabe
erkannte, »eine richtige balance zwischen Polen und Schweden zum
Besten aller Interessirten herzustellen ;« so der Ausdruck Wevmanns in
einer Conferenz mit den staatischen Commissarien (Journal 30. Sept.
1656. Düsseid. Arch.). Und die Warschauer Schlacht gab dem Chur-
fllrsten die militairische Bedeutung , deren er zur Durchführung solcher
Politik bedurfte.
Aber, so fügt Weymann hinzu, »dass jetzt der Moscowiter mit dazu
komme, mit Schweden breche, Lief land nehme, Preussen zum Lehn, und
dass S. Cf. D. von Schweden abtrete und sich mit ihm conjungire, mit
einer unerhörten Obstination und Arroganz begehre, damit wird die
balance völlig zerstört.« Man ist sich in der Umgebung des Churflirsten
der Gefahr völlig bewusst , welche »die grossen desseinen der Barbaren«
in sich tragen ; »wenn Brandenburg nicht freie Hand bekommt, die Sache
im aequilibrio zu halten, wenn Schweden unterkommt und die Mosco-
witen mit Riga einen Hafen an der Ostsee bekommen, so ist die aller-
höchste Gefahr da und S. Cf. D. wird dann erst nicht vor der Hölle
wohnen.« (Schwerin an Weymann 13. Oct. 1656. Düsseid. Arch.)
Der Churfürst hatte Preussen als Lehn von Polen gehabt und Johann
107] Die Schlacht von Warschau. 1656. 451
Casimir hatte ihm nach seinen ersten Niederlagen die Souveränität an-
geboten , wenn er sich für die Republik in die Schanze schlagen wolle.
Er hatte sich, völlig von Polen im Stich gelassen , zu dem Welauer Ver^-
trage verstehen, in demselben Preussen als Lehen von der Krone
Schweden nehmen müssen ; für sein Eintreten gegen Polen, für das Ein-
treten mit seiner ganzen Macht hatte ihm der Schwedenkönig den
souverainen Besitz von vier Palatinaten , Posen , Kaiisch , Siradien und
Lancicz zugestanden. Jetzt bot er ihm die Souverainetät auch Preussens,
wenn er zur Unterwerfung Danzigs die Hand bieten wolle. »Ich würde,«
schreibt Schwerin, »den für einen Verräther halten, der S. Cf. D. riethe
sich gegen Danzig feindlich zu erweisen.« Schon hatte auch der Mosco-
witer gefordert, das Herzogthum in ein russisches Lehn zu verwandeln ;
er drohte mit Feuer und Schwert, wenn der Churfürst sich dem versage.
Weder Polen noch Schweden hätte Preussen schützen können und wol-
len ; der Churfürst musste sich und sein Land selber zu schützen wissen.
»S. Cf. D. haben sich resolvirt, schreibt Schwerin am 1 1 . Sept. an Wey-
mann , dieses Land hin führ o von niemanden' zu recognosciren ;« er fügt
hinzu : »ich sehe nicht was daran fehlen sollte , dass S. Cf. D. sich jetzt
in pristinam hujus regionis libertatem wieder setzen sollte.«
Vor der Schlacht hat es ein Moment gegeben, wo, wie de Lumbres
schreibt, der Kaiserhof ein Heer in Schlesien zusammenziehen wollte, das
in den Dienst des Erzherzog Leopold übergehen sollte qui prelend avoir
droit sur la Prusse comme grand-maistre de l' ordre Teutonique. Und die be-
geisterte Erhebung Polens hatte des Polenkönigs Schwager , den Pfalz-
grafen von Neuburg entzündet; er rüstete, nicht ohne Gutheissung Frank-
reichs, nicht ohne Hoffnung auf die Hülfe der »Cabale« im Haag, und des
rechtgläubigen Eifers in der Hofburg zu Wien, Rache zu nehmen für die
Vorgänge von 1651 und dem verhassten Ketzer von Brandenburg seinen
Theil der Jttlichschen Erbschaft Cleve, Mark und Ravensberg zu ent-
reissen. Mit der Schlacht von Warschau erkannte man , dass der Chur-
fürst von Brandenburg eine Armee habe und sich ihrer zu bedienen
wisse. Der französische Gesandte meldet jetzt nach der Schlacht seinem
Hofe : von Pfalz Neuburgs Rüstungen spreche der Churfürst nicht mehr :
il affecte en ses discours de paroistre, qu'il ne craint rien de ce cosle /d, riy
mesme de celuy de FEmpereur , qu'il dit l * avoir fait asseurer , qu'il ne se
meslera pas des affaires de Pologne. De Lumbres bemerkt mit auf-
richtigem Bedauern, wie wenig der Churfürst auf diejenigen höre,
452 Joh. Gust. Dkoysen, [< 08
die ihn warnen ; er beklagt die passion qu'ü a paur la souveraineie de
Prusse!
Es ist der Mühe werth zu beachten , dass am brandenburgischen
Hofe nicht erst die Wechselfelle des schwedisch -polnischen Krieges
gleichsam gelegentlich die Pläne hervorriefen , deren Erfüllung dann der
Friede von Oli va bringen sollte , dass man nicht Politik aus dem Steg-
reif machte , sondern ein bestimmtes System verfolgte , einen festen Ge-
danken durchführte. Man war sich in den leitenden Kreisen völlig be-
wusst, was die Politik des werdenden Staates fordere. »In unserer
Mark,« schreibt Matthias Doge schon 1 653, »ist zwar der Sitz und Glanz
des Churhauses von Brandenburg, in Preussen aber und Cleve ist des
selben Hauses Kraft und Stärke .... Diese beiden Länder bei dem
churfilrstlichen estat erhalten, können alle übrigen Länder und Völker
wohl erhalten werden; diese verloren, weiss nicht ob das Römische
Reich mächtig genug sein würde dieselben für ans wieder zu gewinnen,
wie wohl Pommern kann zum Beispiel dienen.« Nicht das Reich kann
und will »des churfilrstlichen Estats zwei Flügel« schlitzen ; und der öst-
liche ist in immer neuer Gefahr, so lange die Rivalität zwischen Polen
und Schweden währt ; zwischen ihnen bedarf es einer Mittelmacht , die
sie auseinander hält und der baltischen Welt den Frieden sichert ; es be-
darf, da die Republik Polen nicht mehr die Kraft hat ein Wall zu sein
gegen die Moscowiter, Tartaren , Kosacken u. s. w. , einer neuen Macht,
Europa vor den »Barbaren im Osten« zu schätzen ; die alte Bedeutung
der Marken muss jenseits der Weichsel erneut werden.
So viel , um die politische Bedeutung der Warschauer Schlacht an-
zudeuten. Wie der Churftlrst sie ansah oder angesehen wissen wollte,
lehrt die Denkmünze , die er auf dieselbe prägen liess. Das Gepräge
zeigt über einer Landschaft mit brennenden Ortschaften zu beiden Seiten
eines breiten Stroms drei Adler in den Lüften , zwei kämpfende , über
denen ein dritter , der ein Schwert trägt , wie zur Entscheidung daher
fliegt : opus hie erat arbilro, sagt die eine Umschrift ; die andere : mos
mox resiingui juvat.
Beilage 1.
Eigenhändiger Bericht des Churfürsten; aus Weymanns Journal.1
Nachdem die Churf. Brandenburgische armee von Zidno* unfern biss Sa-
crotzinb gekommen, haben sie sich in balaille gestellet, alda der König aus sei-
nem Lager6 gekommen und selbiges* besichtigt Worauff dreymahl salue von der
ganzen armee gegeben worden, und seind nochmahlen Seine Ktinigl. Majestät
nebst Seiner Cburf. durchl.* ins Swedische Lager geritten, die Ghurbranden-
burgiscbef armee aber ist auf Sac rotzin8 gegangen, undh allda über nacht cam-
pieret. Inmittelst ist von beiden theilen gut gefunden worden , dass die artille-
rie' nach dem mittage* über die Brücke1 gehen, die Reuterey und Infanterie folgen
sollte. Weilen"1 aber ess sich wegen der nacht mit dem übergeben verzogen,
auch eines von den schweren stUcken eingeprochen , ist man nicht ehe alss ge-
gen den mittag übergekommen , da dann resolvieret worden, n auf den feind
zu geben, und ihn in seinem Vortheil anzugreiffen, und seind wir darauf in Got-
tes nahmen auff Warschau, welches vier meilen von dannen wahr avancieret;
unterwegen aber an einem holze eine halte gemacht. Da dann M. de Lum-
bres° (welcher zum Könige von Pohlen geschicket wahr, umb zu sehen, ob
noch einige hofnungp zu einem gewündschten frieden q zu gelangen sein mochte)
wieder kam, welcher dan von der uberauss grossen macht und hochmuth dess
feindes bericht thate, und dass er willens wehre uns anzugreiffen. Darauf seind
wir fortr marschieret, da dan der König den rechten und der ChurfUrst den linken
flügel geftlhret. Gegen abend am 28 July' kamen wir in ein Dorff,1 allda unsere
gekommandierete vortruppen bericht brachten , dass der feind hinter dem holze
stünde. Darauf filierete der König mit seinem rechten flügel durch das holz, da
dann die Vortruppen mit dess Feindes Vortruppen scharmuziereten. Worauff et-
liche Esquadronena auf den feind lossgi engen, und ihn biss in seine retranche-
ment poussiereten. T Der feind gab darauf wacker fewer mit Stücken auf uns.
a) Zietno b) Zacrotiin e) leger d) selbige e) nehbenst den ChurfB raten f) Brandenborgsche
g) Zacrotiin h) und f e b 1 1 1) Artellerie k) noch den nachmittag I) Brücken m) weill n) h i n-
ter worden folgt ein durchstricheues den Feind o) Mona. Davos p) oder Mittel sein mochte
ist durchstrichen q) zu erhalten könnte ist durchstrichen r) wir wieder fort s) am
28. July fehl t. I) an einem dorne u> Schwadronen v) zunicke pussirlen.
4) Den Abdruck der autographischen Aufzeichnung hat v. Orlich »Friedrich Wilhelm der
grosse ChurfursU \ 886. Beil. A. Diess Original ist von Neuem verglichen und das irgend Be-
deutende als Variante in den folgenden Noten angemerkt.
454 Joh. Gust. Dboysen, [HO
Hierüber ßel die nacht ein, und zogen wir uns etwas zunicke und plieben unter
dess feindes* Canon stehen. Den Sonnabend morgens ritten Ihre Majest. das
feld zu recognosscieren mit dem Churfttrsten/alwo man gewahr wurde, dass der
feind eine höhe an unsers linken flügels seithe besezb hatte. Desswegen der
König gutbefunden,8 dieselbige* ihnen zu nehmen. Worauff der Churfürst mit
dem linken Flügel und bey sich habenden Dragoneren avancierete, welchen berg
aber alsobald0 ohne einige gegen wehr verliess. Darauf' wurden also pald einigere
Stücke darauf gepflanzt, und spieleten in dess feindes Leger.1 Darnach11 zogen
wir auf1 die lincke band mit dem lincken flügel neben dem holze, also dass das
erste treffen für dem holze, die anderen zwey aber in dem holze zu stehen kamen,
hinter dem Berge aber stunden brigaden zu fusse. Auf dem lincken flügel von
unserer Gavallerie stunden 2 Brigaden k nebest den Dragonern. Inmittelst gien-
gen 2000 Tartaren1 von weitem umb den Busch herumb, welches dem Könige
also pald berichtet wurd, welcher dann etliche Schwadrons ■ von seiner reserve
nahm, und auff obgemelte Tartaren, n so auss dem Busch hauffig kahmen, gieng
und sie wieder repoussierete. ° Inmitlelst fiel der feind aus seinem leger, p und
attaquierete unsere infanterie, wurde aber so begegent, und von der reuterey
wider biss in sein lager gelrieben. Hierauf kam der König auf unseren lincken
flügel geritten, und fandq gut, dass sier mit dem rechten flügel nebest der" infan-
terie durch den Wald giengen. ' Ritten also wieder durch den Wald, da sie dann
kaum durch wahren , kamen die Tartaren in die flancken von unserem lincken
flügel, wie auch in den rücken der reserve biss auf unsere mousquetierer. * Die
Quartianer aber, so gegen unsere fronte stunden, griffen uns zugleich an, welche
aber so empfangen wurden, dass sie mit Verlust vieler Pferden und Toden wei-
chen mussten. In wehrender attaque fiel der feind wieder auss seinem leger auf
die infanterie, welche aber vom Konige mit seiner Gavallerie mit zimblichen
vertust biss in ihr retranchement getrieben wurden. Hierauf T marschieret Ihre
Königl. Majest. und filiereten durch das holz, der feind aber fiel wieder auss, und
kam biss an Ihre Majest. Stücke, welche ihnen sehr grossen schaden zufügeten,
darüber sie sich wieder retiriereten. Seine Majest. Hessen so pald sie durch den
wald kamen, Seiner Ghurf. Durchl. w den rechten flügel, und avancierten also
in voller bataille auf denx feind, welcher sich auss seinem Lager in einer Fronte
zöge biss an ein Königliches hauss, welches die Tartaren y angezündet. Da aber
Ihre Maj. avancierten und mit ihre Stück" auf den feind spieleten, zöge der-
selbe sich almählig wieder zurücke nach seinem leger. Hierauf avancierten Ihre
Majest. biss Wäldechen/* woselbst siebb von den Hussaren angegriffen wurden,
welche" drey treffen noch hinder sich hatten, wurden aber so dd empfangen,
a) unter danon des feinde« b) besetxt c) gutt befand d) selbige e) aber der feindt alsobald f) wor-
auff also uordt unsere Stücke gepflanzett und auf des g) Lager spielten h) undt i) wir uns auff
k) zwei Brigaden 1) Tartteren m) Schwadronen n) Tarieren o) repnsirte p) aussen seinem
retran leger; retran ist durchstrichen q) fand r) er durchstrichen Sie sieh s) Infanterie
undt Artellerie t) hinter Waldt ist naeh einander durchstrichen filierten, sogen, tu
ziehen, undt also den linken flögdl bekam, Sich auf des Churfflrslen lincken u) t o n wie auch b i s »us-
ketier is t an den Rand ge schrieben v) Ihr auff w) dem Churf. x) auffen y) Tarteren i) mit
dero stScken aa) an ein Weltgen bb) von feinden ist durchstrichen cc) in rier treffen einan-
der folgten istdurchstrichen dd) aber dab so; dab ist durchstrichen.
<H] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 455
dass zwischen* 200 und* 300 auf dem plaz pliehen. Die Quartianer treffen
stracks darauf" auch auf den rechten flügel , lhaten aber schlechten effect, denn
sie auf 30 schritt ihr gewehr löseten,d und damit sich wieder in ihr lager be-
gaben. Hierauf ward vom Könige ein klein Wäldchen9 mit etlichen hundert
mussquetieren besezet, welche sich darin verhauwen solten, und überfiel uns
die nacht, dass wir also in einem Dorffe, welches die Tartaren in brand ge-
steckt hatten f die nacht über8 stehen pliehen, da unterscheidliche alarmen
vomb feind gemacht wurden.1 Den Sontag morgens mit dem tage stelletenk
wir uns wieder in bataille, wie wir den vorigen tag gestanden hatten, und zogen
uns nach ein holz, welches hart am berge, wo der feind stunde und1 sich ver-
hawen hatte. Da dann der Feidzeugmeister Sparre™ mit tausend commandiere-
ten mussquetieren und den Stücken auf sie zugieng," welchen unsere übrige in-
fantarie folgete,0 muste aber den feind die seithe geben, und gieng umb sie her-
umb, da er dann etliche Salven so wohl von Stücken bekam alss von mussquet-
ten, und jagte p den feind aus dem holz. Hierauf avanciereten Seine Churf.
Durch!. * mit 6 Esquadronen* den hohen Sandberg hierauf,1 alwo eine grosse
mennigte1 volcks hinten stunde, das dann, da sie sahen, dass die reuterey und
Stücke, wie auch theil" fussvolcks auf ihre verlassene Berge stunden, das reiss-
aus mit ihrer reuterey v gaben. w Das Fussvolk aber begunt in einem Krinck
durch einander zu gehen. Worauff der Ghurfürst mit theils Stücken spielen
liess, auch auf sie avancierete. Es kam aber eine hohe generalspersohn, welche
für gewiss zu zweyenmahlen berichtete,2 dass die Infanterie die hütte aufgesto-
chen und umb quartier gepeten hette. Begeh rete* derowegen man mögte* nicht
mehr mit Stücken spielen, und nicht weiter" avancieren, den das fussvolck
möchte sonsten zur desperation schreiten. Inmittelst zogen sie sich über einen
morast, alda sie nach der Brücken zu eileten und über dieselbe bb giengen.
Spar" aber verfolgete sie, und nahm dem feinde die für der Brücken dd ge-
machete schanze hinweg, da dann der feind auss Warschau und von einer schan-
zen, welche er über der Brücken hatte, mit Stücken spielete. Inmittelst sazte
der König die ganze Reuterey in zwey treffen. Das erste treffen plieb wie es erst
gestanden, das andere aber wante sich mit der Fronte umb gegen die Littauische
und Tartarische armee, welche dem bericht nach uns in den rücken gehen woll-
ten. eo Nach erhaltener Victorie seind Seine Majest. dem feinde auf eine meile
wegesff von der Wahlstette" nachgefolget. Der Ghurfürst nebest dem, feldmar-
schall Wrangelhh giengen wieder zurück nach Präge, umb zu sehen, ob man die
brücke geprauchen konnte, oder ob möglich wehre durch die Weissei einen
pass" zu finden. Es wahre aber wegen des hoben** wassers unmöglich. Die
nacht aber schickete derGraflf Oxenstirn und berichtete, dass der feind die Statt
a) über durchstrichen b) oder c) stracks darauf steht am Rande d) losseien e) weltgen.
f) in Brand gesterket g) die nacht Über st^ht im Rind b) uns vom i) welche aber nicht gcacht
worden k) stallen 1) selbiges besetzet undt sich darin verhauen m) Spahr n) auf so ging
o) welche bis folgte steht am Rand p)jng q) der Churfurst r) Schwadronen s) hinaulT
t) menge u) theils v) mit ihrer reuterey steht am Rand - w) nahm durchstrichen; gaben
x) berichte y) begertte z) mochte aa) weilters bb) die selbige cc) Spahr verfolgte dd) für der
Schanlzen ee) ahn Stücken wurden dem Feinde 12 vnd ein mortier genommen ff) meillwegs gg) wal-
steilen hh) Frangell ii) einen vor pas, durchstrichen ist vor kk) grossen.
456 Joh. GlIST. DlOYSEN, [142
Warschau verlassen hette, und begehrele Volck, welches gegen dem tage ihme
geschicket wurde und ist also dieses treffen nebest eroberung der Stad War-
schau ohne grossen schaden der unsrigen, von dem Höchsten glücklich erhalten,
welchem wir dafür zuvordest, und dan der hohen Conduite* Seiner Ktfnigl.
Majest. zu danken haben. b
An Stucke haben wir dem feinde abgenommen 42 und einen mortier, in
der Stad gefunden 27, und 4 , also dass es in allem 39 Stücken und 2 mortier
gewesen. Die Zahl der fahnen, wie auch der gepliebenen kan man nicht ei-
gentlich wissen.
a) condevite b) hier endel das Aatograab.
Beilage 2.
Relation I.
»Lelzte aus Warschau eingelangte gründliche und ausführlichere Rela-
tion dessen, was zwischen Seiner König!. Maytt. zu Schweden als auch
Sr. Churfl. Durchl. zu Brandenburg eines Theils und dem Könige und
der Republik in Polen anderen Theils In einer dreytagigen und blutigen
Schlacht bei dem SUidtlein Präge gegen Warschau über gelegen an der
Weichsel am 18/28 19/39 20/30 Julii anno 1656 ergangen, der Wahrheit
begierigen Welt zur sichern unpartheyischen gewissen und beständigen
Nachricht wider einige erdichtete unverschämte Lügen-Zeitungen. Anno
M.DC.LVI.« (Mit einer Vignette auf dem Titel. 8 Blatter 4°. $. I.) l
§. 1. Nachdem Sr. Koni gl.' Maytt. zu Schweden von Marienburg bei dero-
selben Haupt-Armee, welche der malen in Masuren bey den beyden Flüssen
der Weichsel und den Bugkb auf der Zacrodzinischen c Seiten gegen über dem
dorffe Nowodwor stunde, den 21 Junii angelanget, haben allerhöchstgedachte
Sr. Konigl. Mayt. Ihr angelegen seyn lassen, dass die beyde in Bau gewesene
Brücken , die eine über die Weichsel bey Sacrodzin und die andere über den
Bugk bey Nowodwor verfertiget, und dadurch Gelegenheit erlanget würde,
mit dem Feinde, welcher bey Warschau stunde, und daselbst ein verretrenchir-
tesd Lager, und eine Brücke über die Weichsel hatte, in action zu treten.
4) Fast wörtlich mit dieser Relation stimmt Relation II, deren Titel lautet:
Letzte noch gründlichere ausführlichere, aus dem Konigl . Schwedischen Feldlager bey
Präge vom 5 Augusti Eingelangete Relation, was zwischen Ihr. Konigl. Mayt. zu
Schweden und Ihr. Churf. Durchl. zu Brandenburg Eines Theils und Ihr. Konigl. Mayt.
und der Republtque in Pohlen andern Theils in einer dreytagigen und blutigen Schlacht
bey dem Städtlein Präge gegen Warschau über an der Weichsel gelegen den 28. 29.
SO. Julii im Jahr 4656 sich zu getragen, der wahren wahrheitebegierigen Welt zum
sichern beständigen Nachricht wieder einige gedruckte erdichtete unverschämte Lü-
genzeitungen. Anno. M.DC.LVI. (7 Blatter 4*. s. I)
Dieser Druck hat folgende Abweichungen von dem der Relation I :
«) ihre Kttnigl. und «o immer statt Sr. b) Bngg c) Sacrotiniftche 4) verschanztes.
4 43] Die Schlacht von Warschau. 1656. 457
§. 2. lodern nun oberaelte beyde Brücken bey nahe perfectioniret, ist das Was-
ser (wie es deren Orten alle Jahr umb selbige Zeit gewöhnlich) so hoch gewach«
sen, dass man solches werck in der Eyl nicht vollziehen können, sondern
musste damit so lange Anstand haben , bis das Wasser wieder gefallen , und
sich in etwas gesetzet. §. 3. Als nun der Adel in Masuren und Podlachien au ff
eine Zeit vorhero die dem Fürsten Bogislav Radziviln zuständige und 48 Meilen
von Nowodwor an dem Fluss Nareu belegene Stadt Tychozin* belagert hatten,
commandirten Sr. Konigl. Mayt. b den Feld Marschall Lieutenant Graff Douglas
daselbst hin , umb selbigen Ort zu succurriren, massen er dann auch ermelten
Adel und alle ihre Macht davon gejaget und elwan in die 2000 von selbigen
feindlichen volckern niedergehauen, und selben6 Ort auffs neue mit mehreren
volcke und aller andern Nothdurfft versehen und versichert. §. 4. Wie nun
solches also verrichtet und Sr. Churf. Durchl. zu Brandenb. mit dero Armee zu
Plonske, vier Meilen von Nowodwor belegen angelanget , kam auf einen Tag*
die Zeitung ein, das der Littausche Unter-Feld-llerr Gonsewski ziemlich starck
bei Osterlenka stünde und Poltowsko belagert hatte , wesswegen Sr. Mayt. den
4 4/24 Julii" eigener Person mit einer starken Partey, so von derof eigenen als
Chur Brandenburgischen * Völkern aussgangen, umb den Feind zu suchen. §. 5.
welcher als er vermercket, dass Sr. K. Mayt. völcker ihme zu nahe wollten
kommen, sich von Poltowsko über den Bugk in grosser Eyle nach Warschau re-
teriret. Wie nun Sr. K. Mayt. den 4 7/27 Julii in dem Lager bey Nowodwor wie-
der angelanget und Sr. Churf]. Durchl. zu Brandenburg mit dero Armee nacher
Zacrodzin unterdessen avanciret, massenb höchstgedachte Sr. Churf. Durchl.
desswegen die conjunction noch immer verschieben, weilen dieselbe stets in
hoffnung gestanden, dass Sr. Mayt. in Polen sich endlich würden zum Frieden
bewegen lassen. §. 6. weilen aber alle Sr. Churf. Durchl. auffgewendete treuer
Fleiss, Mühe und Ynkosten gantz vergeblich , ward unter beyden hohen Haup-
tern noch selbigen Tag Rath gehalten1 und resolviret, beyde Armeen als die
Königliche und Churfürstliche, alsofort zu conjungiren doch1 zu keinem andern
Ende, als zu Erlangung eines ehist- auftrieb ti gen und bestandigen Friedens,
welches dann auch also ins Werk gestellet worden. §. 7. und man darauff also-
fort gegen Abend und folgendts die gantze Nacht die Königl. Cavallerie, und
beyderseits Artillerie und den folgenden 48/28 Julii k den Rest der gantzen
Armee über die auff dem Bugh gelegte Brücke bey Nowodwor filiren und die
marche1 auf Präge so an der Weichsel gegen über Warschau liget, richten lassen.
a) Tykozin b) Mayt. den Junii mit ausgelasener Zahl c) denselben d) kam den Julii
die Zeitung mit ausgelassener Zahl e) den 14. Jnlü f) Ihrer g) Ihr Churfttrstlichen Durchl.
h) von nassen... bis ward unter in §.6 fehlt i) von doehxn. . .. bis Friedens fehlt k) 18 Julii.
1) und den march.
4) Hier beginnt der Text der brandenburgischen Bearbeitung (im Theatr. Europ. VII.
j>. 898 ed. II) mit den Worten :
worin resolviret worden beyde Armeen als die Königliche und Cburfürstliche alsofort
gegen Abend und die. gantze Nacht (jj. 7} wie auch den folgenden 48/18. Julii Über die
auf dem Bugh u. s. w.
In den folgenden Noten sind die Abweichungen der brandenburgischen Bearbeitung und
in den Noten zu diesen Noten die von dem Churfürsten gemachten Correcluren angeführt.
Abhandl. d. K. 8. Get. d. Wiss. X. 84
458 Job. Gust. Droysen, [H4
§. 8. mit der Intention , der Littauischen Armee so bey itzt ermeldtem Präge
eine weile gestanden , eins bey zubringen, oder da solche sich reteriren thäten,1
vorerst die Brücke bey Warschau gantzlich zu ruiniren und als dann wieder den
Bugh bey Nowodwor zu repassiren und nachdem man über die bey Zacrodzin
verfertigte BrUcke wäre gekommen2 jenseits der Weichsel bey Warschaw mit
dem Feidde zu einer rechten Haupt -Action zu gelangen tentiren und suchen
wo He. §. 9. Es hat sich aber zugetragen, dass der Feind gleich selbiges Tages,
nemblich den 18/28 Julij " suchte mit seiner auf jener Seit umb Warschaw bey
sich gehabten force über seine Brücke zu Warschau zu gehen , und nach be-
schehener Conjunction mit der Littawiscben Armee, und denen angekommenen
Tartaren, für Jem Schwedischen Lager bey Nowodwor sich zu setzen , und mit
den Parlheyen die Kön. Schwedische und Churfl. Brandenb. Furagiers zu in-
commodiren, §. 10. inmassen dannb anfangs ein Polnischer Trompeter kommen,
welcher an 8r. GhurO. Durchl. ein Schreiben voll barter und schmählicher Be-
trohungen gehabt,8 worinnen Sr. Churfl. Durchl. so treue Vermittelung * von
Polnischer Seiten gantzlich verworffen worden , und darauff5 der Französische
Ambassadeur de Lombres,c so von Warschaw gekommen, Sr. König]. May t. und
Sr. Churfl. Drchl. zwischen Prag und Nowodwor begegnet, von des Feindes
überkunfft und contenance solches berichtet, §. H. weswegen dan also fort re-
solvirt worden/ gedachten Trompeter bey sich zu behalten, und (nachdem man
Stroh zum Feldzeichen, und Gott mit uns, zum Worte genommen) gerad auff
den Feind längs der Weichsel losszugehen, massen auche die Battaglie des Mor-
gens frühe6 auff Mass und Weise, wie folget, angeordnet worden : §. 12. Auff
dem rechten Flügel sind Sr. Königl. Mayt. zu Schweden selbst, und des Herrn
Generalissimi FUrstl. Durchl. wie auch der Herr Feld-Mareschall Lieutenant
Douglas, dessgleichen S. Fürstl. Gn. Herr Marggraff Carl Magnus zu Baden, als
General Lieutenant über die Cavallerie, wie auch die beyde General Majors zu
Pferde, nemlich Sr. Fürstl. Gn. Herr Philip Pfaltzgraff von Sultzbach und H.
Henrich Hörn ; §. 43. die Infanterie aber, so Sr. Königl. May. bey sich auff dem
rechten Flügel gehabt, und in dreyen Brigaden gestanden, ist unterm Conduicte
des Herrn General Major Bttlowen gewesen.7 Die Königl. Artillerie ist von dem
Obristen Herrn Graf Gustav Oxenstiern commendirt worden. Zu dem ersten
Treffen auff dem rechten Flügel wurden verordnet Se. Fürstl. Gn. Pfaltzgraff von
Sultzbach, zu dem andern Herr Marggraff Carl Magnus zu Baden Fürstl. Gn. und
zum dritten der Herr General Major Heinrich Hörn. §. 4 4. Auff dem lincken
a) 18. Jnlti b) ▼© o anfangs ....bis and darauf fehlt c) de L'Ombres d) v o n gedachten h i s ge-
nommen f e b 1 1 e) nassen dann aaoh.
4) würde statt thaten 2) und wenn man nachgehende über die damals fertige Brücke
gekommen* 8) ein zumalen impertinentes und unzeitiges Schreiben überbracht 4) Durchl.
öfters offerirte getreue und wohlgeraeynte Vermittelung 5) Bald hernach kam 6) frühe
von Ihr. Königl. May lt. und Churfürst). Durch!, auff 7) von die Königl. bis commendirt
werden fehlt.
') Correclur des Churfurslen: Krücke bei Sacrozin über die Weixel gekommen.
445] Die Schucbt von Warschau. 1656. 459
Flügel sind gestanden Se. Churfl. Durchl. zu Brandenburg selbst mit dero Armee
und unter derselben conduicte der Herr Feldroarscball Graf Carl Gustav Wran-
gel. * Die Gavallerie comraendirte der Herr Graff von Waldeck als General Lieu-
tenant von der Gavallerie, nebenst* den dreien General Majors, als Herr Kan-
nenberg, H. Graf Claus Tott, und Bötticher. §. 45. Massen Se. tönigl. Mayt.
diese beyde General Majors Graf Tott und Bötlicbera mit 5 Esquadronen ihrer
Reuter denChurfUrsU.adjungiret damit beyde Flügel gleich stark seyn möchten,
es haben auch S. Churfl. Drchl. gleich S. fcönigl. Mayt. xwey Brigaden Fussvöl-
cker bey sich bey dem iincken gehabt.8 Der* Churfl. Brandenb. Feldzeugmei-
ster Herr Sparr aber ist nebenst den zweyen Churfl. General Majors Herrn Gra-
fen von Waldeck und Herr von Goltz mit 7 Churfl. Brigaden in der mitte zwi-
schen den beyden Flügeln gestanden , und bat auch vielgedaohter Herr Sparr
die Churfl. Artillerie commendiret.4 §. 46. Nach sothaner Verordnung und er-
langter Kundschaft des Feindes contenance, haben dero Kita. V. mit dero Flügel
die rechte Hand und avantgardie genommen, zuforderst bei einem Dorff%Meil5
von Warschau in Bataille gesteile, und darauf durch einen darzwisohen befind-
lichen Wald in aller Eil marschiret,6 unterm conduicte des Feldmarscball Wran-
gein aber sind 600 commandirle Reuter nebst einigen Dragonern, sich der Pas-
sage durch den Wald zu versichern, und das Feld zu recognosoiren , vorausge-
schickt, worauf denn S. Kön. Mayt. mit den Esquadronen und7 rechtem
Flügel in aller Eyle8 gefolget. §. 47. Ynd wie S. Kön. Mayt. durch deu Wald
kommen, haben dieselbe die Situation des Orts dergestalt befunden , dass sich
die Weichsel zu dero rechten Hand und derselbe8 Wald, welchen sie allschon
durchpassiret, zu Ihrer Iincken Hand langst bis fast an der Feinde retrenchement
erstreckte,10 §. 18. und haben Se. Kön. Mayt. zwischen dem Walde und der
Weichsel keinen Platz gehabt, mit dero Flügel in einer Fronte zu marchiren,
derowegen die Regimenter hinter einander, wie es der PJatz hat zu gegeben,
marchiren müssen, §. 49. und nachdem der Feind sich anfangs für seinem Lager
und zwischen dem Walde und der Weichsel mit seinen Vortruppen gepräsen-
tiret, haben11 Se. Koni gl. Mayt. dem Feldmarschall Wränge! «uff den Feind
t) Der Anfang des g. 44 lautet: Pen Unken Flügel haben 8. Churfl. Durchl. zu
Brandenburg zu coramaadiren über sich genommen und denselben aus Dero Armee for-
miret. Die Cavallerie *) nebenst dreyen General Majors, worunter unter andero der
von Kaneoberg sich mit befunden. Darauf folgt es haben auch 6. Churfl. Durchl. u. s. w.
S) und sind beyde Flügel gleich stark gewesen 4) so dass das corps de bataille und der
Unke Flügel von der Churfl. Durchl. selbst und dero Generalität, von Ihrer Königl. Majestät
aber nur der rechte Flügel allein comraandirt worden. 5) eine viertel Meile 6) nwchi-
ret, damit aber selbiges um so viel sicherer geschehen könne , haben** Sr. Churfl. Durchl.
von dem linken Flügel 600 commendirte Reuter nebst einigen Dragonern detachirat und
durch dieselben sich unterm 7) May. mit dem rechten Flügel 8) in aller Eyle fehlt
9) denselben 40) gehabt 44) sind einige brandenburgische Esquadronen*** beordert
worden auf . . .
♦) Der Königlich Schwedische ftenivl ton Wränge! und CharflL ••) hafcea S. Köaigl.MtT. einige Vor-
truppen QDler GoanwuMlo de« Oberstlculeiunt Gtnitz detaebiret ***) obberQhrte Vortroppen.
Sl*
460 Job. Gcst. Dkoyses, [416
losszugehen beordert , welcher dann demselben bis an sein retrenchement ge-
folget und poussiret §. 20. und nachdem sie sich etwas zu weit entfernet ge-
habt, von den Regimentern , bat1 man billich mathmassen müssen, dass ein
Theil von des Feindes Gross bevm Ende vom Walde und hinter dem Waide solte
stehen, den commendirten Truppen die retraite abzuschneiden , derowegen Se.
Königl. Mayt. die 4 Esquadronen, so necbst dem Walde marchirten, in vollem
Galoup avanciren Hessen, §. 2< . da dann das Glück es so eben getroffen, dass,
wie der Feind an unsere commendirte bat angeben wollen, diese 4 Esquadronen *
unter conduicte des Herrn Graf Duglasses* dem Feinde begegnet, demselben
poussiret, und bis an ihr retrencbemenl und Mussquetirer verfolget : §. 22. Die-
weil aber die Nacht eingefallen, und man wegen grossen Staubes nichts weiter
hat tentiren können, sind Se. Kön. May. mit dem rechten, und Se. Churfl.
Durchl. mit dem lincken Flügel, bis die Infanterie nachkäme, und ebener ge~
stall sich einfinden möchte, für des Feindes retrenchement dergestalt stehen ge-
blieben, dass sie den Wald zum Rücken genommen , und ist in währender ac-
lion** mit canoniren nicht gefeyret worden. §.23. Weil nun mit solchem setzen
und Anmarche der Regimenter eine ziemliche Zeit erfordert worden, ist unter-
dessen die sinkende Nacht eingefallen , da man dann nicht für rathsam befun-
den, weiter für des Feindes Stücken zu stehen, besondern man hat sich zurück
gezogen, und zwischen dem Wald und der Weichsel die Nacht über Stand ge-
fasst, die Königl. Schwedische Armee längst der Weichsel, und die Churfl. längst
dem Walde da dann die Infanterie in der mitte, hinter einander, und nur 12 Es-
quadronen zu Pferd, und 2 Brigaden in der fronte, und die übrige Regimenter
verdoppelt hinter einander gesetzet worden. §. 24. Des Sonnabends bey an-
brechendem Tage sind S. Ron. May. und Se. Churfl. Drchl. nebest denen Ge-
nerals-Personen zu recognosciren geritten, und befunden , dass den Feind zwi-
schen seinen rechten Wercken und retrenchement anzugreiffrn nicht dienlich,
besondern dass man suchen möchte, ihn umbzugehen auff unserer linken Hand,
§. 25. zu dem Ende nöthig befunden worden sieb einer kleinen Höhe, welche
allernechst beym Walde gelegen , zu impatroniren,8 und von dannen das Feld
besser zu wehlen, und zu suchen, haben also S. Churf. Drchl. mit dero Flügel
nebest zweyen Brigaden zu Fuss längst für dem Walde nach der Höhe zu avan-
ciret, * und des Hügels sich glücklich bemächtiget, wiewol es grosse Mühe ge-
kostet, die Artillerie, so gleich fort zu bringen, wegen der kurtzen Sträuchen
und morasthafTten Wegen, wodurch man hat marschiren müssen. §. 26. Wie
4) hat man aus Beysorge, dass ein Theil von dess Feindes Armee beym Ende des Wal*
des und fiinter dem Walde stehen und denen commandirten Truppen die retraicte abschnei-
den möchte, 4 Esquadronen avanciren lassen, **• da denn das Glück 2) von unter
— bis Duglasses f e h 1 1 8) zu bemächtigen 4) die Polen, so einen sehr avanlageusen
Post darauff ge fasset , davon gejaget, auch ver§chiedene Stück und bagage dabey erobert
und des Hügels sich mit grossem vigeur glücklich4***
*) diese Esrarfronen ♦*) Action vom Feinde mit ***) haben 8r. KBnigl. Mayt. selber mit eyntgen Squa-
dronen seeundiret, da denn das Glück •♦♦♦) die Polen davon gejaget and des Hügels »ich bemächtiget.
<*7] Die Schlacht von Wabschau. 1656. 461
man nun auf die Höhe gekommen, ' hat man nicht allein von des Feindes con-
tenance, sondern auch von der Situation des Orts recht urtheilen können, und
haben S. Churfl. DrchJ. alsofort sich mit dero Flügel längst vor dem Walde be-
deckt, von zwey* Brigaden zu Fuss und Dragonern, nebest den Stücken in
solche k postur gesetzet, dass deroselben nichts in Rücken gehen konte. §. 27.
Dieweil man nun von solcher unhenanter Höhe nicht allein gSntzlich umb den
Wald gekommen , sondern auch lauter flach Land gefunden , bis an den Stand
des Feindes,2 und daraus mercken können,8 dass der Feind seine force hatte
zur rechten Hand gezogen , so wol den Ghurfürstlichen in die flanque , als
auch hinten durch den Wald mit etlichen tausend Pferden, und sonderlich
mit den Tartarn Sr. Kön. Hayt. Flügel in den Rücken zu gehen, so4 haben
Se. Kön. Hayt. mit umbschwingung 6 Esquadronen vom dritten Treffen den
Feind zurück gejaget welcher darnach sich für die Churfl. Armee auffm
Felde präsentiret. §. 28. Entz wischen haben Se. Kön. May. zwischen dem
Walde und der Weichsel mit der Artillerie, Infanterie, und Cvallerie, für des
Feindes retrencbement* subsistiret, und6 ziemlich mit Canonen begrüsset wor-
den, die7 Infanterie vor der Cavallerie auch zum Tbeil mit der Gavallerie ver-
mischet gestanden, und damit der gantze Schwärm den Churfl. nicht auff den
Halss kommen möchte, sind noch 2 Brigaden die Churfl. zu sustiniren beordert
worden: §. 29. Dieser Stand hat so lange gewahret, bis die Churfl. Stücke,
welche auff die Höhe solten gebracht werden, durch den Morast gescbleppet
worden. Alldieweil nun Se. Kön. May. aus des Feindes Anschickung, und an-
dern Umbständen für ratbsam befunden, dem Feinde zu seiner rechten Hand
umbzugehen, aber nicht practicabel erachteten, wegen Enge des Weges und
durchgetretenen Morastes den Weg zu gehen, welchen der Churfl. Flügel gepas-
siret, sondern beschlossen, den Weg hinter dem Jinken Flügel umb den Wald,
wo die Tartarn Sr. Königl. Mayt. in den Rücken zu gehen gesuchet, zu neh-
men. §. 30. Gleich wie man aber bey sothanen resolutionen sich billich nach
des Feindes contenance bat müssen reguliren , also haben Se. König. Mayt. bey
vorigem Stande, als S. Kögl. May. bey der Weichsel, und S. Churfl. Drchl. jen-
seits des Morastes waren, sich etwas verweilen müssen , §. 31. sintemal der
Feind zu unterscheidlichen mahlen Mine gemacht hat, so wol S. Königl. Mayt.
als die Churfl. Armee beyde zugleich anzugreiffen, und es bey einer solchen
action nicht ratbsam wäre, dass Se. Königl. Mayt. durch Abziebung dero Troup-
a) von Dero zwcy b) solcher.
4) Wie nun S. Ch. D. solcheHöhe erobert und den Feind davon delogiret, haben die-
selbe mit Dero Flügel langst von dem Walde sich mit unglaublicher appJication und unermü-
deler Arbeit* bedecket und in solche Positur gesetzet 3) bis an den Ort wo der Feind ge-
standen 8) und dabey wahr genommen 4) so ist der Feind mit sechs Esquadronen** vom
dritten Treffen zurückgejagt und an solchem seinem Vorhaben gehindert worden. Inzwi-
schen 5) zwischen dem Walde und der Weichsel in bataille subsistiret 6) und sind da-
selbst 7) von den Worten die Infanterie. . . . bisg. 32 Indem fehlt.
*) von mit anglaublicher . . . . bis Arbeil gestrichen. ••) mit sechs Esquadronen ist gestrichen.
46 £ Jo«. U*t Dtrrrsn. «i*
(»im dero Detvrift so £** *.*.s,ie eS«ti.fei *-v.e. f. 3*. fei**,1 z-.t
wider Wim andernina! zn s^imr ree&ten Rani kH aü-rt seicen Tari*
Charfl, in denüanffoen rtkken. otvd freut* rezVetcfc «zaV<«L«i »ict.ie.s
»ta durch topfern Wiidertund der CLarft. z«rt.cfc p.atfirvt werden anrfc
welche dorch den Wald d?n Ciarfl. «,:*« in Borke« s^bec. d^rtfc S. Kaci'L
May, drillet Treffen ab£<£*ften worden, f. 33. Es kat zwar anch> 4er Feind1
in »eitrigem nv/ment gcsocbet, mit seiner sr^u-n fecoe nti**t sc-'-Der Infante-
rie aus seinen retrenchemenl frecen S. K^r/gl. Bart, zn aTanriren. sie sind aber
ron den Stücken ond Garthescbtn derse^tall eaipfänam «erden« das» ob sie
gleich sich zu unterschiedenen mahlen berf -r getban , haben sie sich deenaeb
endlich wieder in ihre retrenebesent gezogen, oed denn zc£>icb yjnchei. nach
ihrer rechten Hand orJt aller ihrer force aoff den Cburfnrstet; lesszn^ehen. f. 34.
ßev dieser Occasion** haben S. Eon. Hart. Zeh bekommen, sieh mit Den lafan
terie ond Cavallerie abzuziehen, und also binden umb den Charfl. FHteel dnrefc
den Wald aoff das ebene Feld sieh zn ziehen.* allwo dann S. Conid. Mayt. mit
des CborfUrsten gut be6nden, erwebhen die linefce Hand und den lineken FlBgel
zu nehmen. §. 35. Die weil* ntm der Feind seine grdsste forte vnd alle seine
Hassaren aaf seine rechte Hand gesetzet, und in enter Ordre nber das Feld an-
marsebirte, als streckten Seine Kon. Mavt. sich auch zur linken Hand ans. nmb
Feld so gewinnen , und dem Feinde in der Ebene ins Gesicht zn sehen, f. 3f .
und nahmen S. Königl. Mayt. auf dero Flügel zu sich etliche oommandirte Stocke
nebenst drey Esquadronen zn Fnss, welche alle für der Cavallerie her mardrir-
ten , ond suchten also S. König], MaU. mit guter Ordre dem Feinde im flachen
Felde anzugreinen , wie auch selbige umbzugehen , und hinter ihren Stücken,
die sie auf eine hohe Sand-Dohne mit ihrer Infanterie gesetzet, zn altaqtriren.
§, 37. Wie nun S. Mayt. mit dero Flügel in guter Ordnung avancirten, fieng der
Feind an gleich das Dorff, welches zu seiner rechten Hand war, anzustecken,
4 ) Bald aber darauff hat der Feind wieder zum andern mal zn »einer rechten Hand . . . . *
i) gesucht er ist aber mit solcher Valeur ond condnite von Sr. Charfl. Durchl. empfangen
worden , dass er sich mit tiberaas grossem Schaden und Hinterlassung vieler Todten mit
grosser Coofus ion wieder zurück machen müssen. Bei dieser Occasion '$. S4) S; sich zu
stellen, dann Sr. .. *»* 4) Für die gg. 85 — tt hat der Text des Th. Emr. est H. Nach-
dem nnn Ihre KOn. MaytL sich mit dero Flügel daselbst ins flache Feld gezogen, so**** ist man
bald daraaff mit dem Feinde, welcher in guter Ordnung auf die Königl. und ChuHurstliche
Armee an marebiret, ins Gefechte gerathen, und ob schon von des Feindes Husaren und Reo-
terey vornehmlich auf die Churfurstliche Cavallerie-}' ein sehr hitziger Anfall geschehen, so
seyod doch dieselben von Sr. Churfl. Durchl. ff dergestalt repoussirt worden , dass sie sich
ebner Gestalt wie vorhin wieder zurückbegeben und in einer ziemlich confusen Retirade ihr
beyl suchen müssen , welches ziemliche Zeit lang gewähret und zn beyden Theüen sowohl
an Polnischer als Schwedischer und Brandenburgischer Seite mit grosser Courage absonder-
lich aber von 8. Churfl. Durchl. zu Brandenburg soütenirt worden, (g. 48). Bey . . .
*) Der gsase %. SS ist gestrichen. ••) Nachgebend« haben. *••) Einzelne* ist gestrichen.
es bleibt: Carallerie durch den Wald abgezogen and also hinten ojb den Chnrfl. Flügel anf das ebene Feld
»ich gestellet, die Unke Hand nod IfnkenFlSgel genommen. ••♦•) nachdem. ... so ist gestrichen ond
ist f) Renterei anf die Königl. Cavallerie ff) Seite tapfer sontenirt worden.
H 9] Die Schlacht von Waeschau. 1 656. 463
und sich binler das Dorff zurück zu ziehen, in meynung Sr. Köd. May. wann
Sie das Dorff fUrbey passirten , mit einem Theil Ihrer Gavallerie hinten umbs
Dorff in den Rücken zu gehen, wesswegen der General Major H. Hörn mit dem
dritten Treffen zugleich umb das Dorff zu gehen, und zu avanciren beordert
wurde, welches, da es der Feind gewahr wurde , zog er sich allmählich zurück
zum andern Dorff, nebest einem Morass, und setzte sich hinter das Dorff, wel-
ches sie auch ansteckten : §. 38. Als avancirten Sr. Königl. Mayt. nach dem
Dorff, zuvorderst mit den Knechten, und da sie wegen des Morass das Dorff
umbzugehen nicht für ralhsam hielten, besonderen zur linken Hand zu gehen,
Hessen Se. Königl. May. die Infanterie vor den dreyen Esquadronen zu Fuss
heim Dorffund Morass stehen bleiben, bis das erste und andere Treffen längs,
und für das Dorff sich zog, das dritte Treffen aber blieb bestehen hinter dem
Fussvolck, umb solohes zu sustiniren, §. 39. und als S. König). Mayt. mit dem
ersten und andern Treffen schon das Dorff zum Rücken hatten, hatten Se. Königl.
Mayt. dero rechte Fronte gegen den Berg, und des Feindes Werck auff den
Sand-Dühnen geformiret, da dann mit canoniren auff beiden Seiten es erst recht
angegangen, und beyderseits grosser Schaden geschehen. §. 40. Dieweil aber
Se. Königl. Mayt. sich musten dero linkem Hand, wenn sie gegen den Berg
weiter avanciren würden, versichern, haben Se. Königl. Mayt. nachdem sie das
Dorff schon im Rücken, die drey, Esquadronen zu Fuss wieder vom Morass zu
sich kommen lassen , und dieselbe hinter dero zweytes Treffen , und gHntzlich
am Ende des Flügels die fronte zur linken Hand gewendet, beym Creutze setzen
lassen, und fronte gegen die Tartarn zu thun, welche hinter dem Dorffe beim
Walde oebenst einer Menge Quartianer Se. Königl. Mayt. zur linken Hand in
die flanque zu gehep sucheten, §. 41. derowegen Sr. Königl. Mayt. mit der
gantzen Bataille halten Hessen, auff dass das dritte Treffen sich auch möchte her-
ziehen, auf seinem rechten Platz. Entz wischen hat die gantze feindliche force,
ausserhalb wenigen Esquadronen, die beym Fussvolk auffm Berge bestehen
blieben, sich zum Theil auff der rechten Hand, und umb Sr. Königl. Mayt. Flü-
gel, die Hussaren aber, nebenst 5000 Pferden gegen Se.Kön.Mayt. fronte avan-
ciret, §. 42. da dann die Hussaren auf zwey Esquadronen einem ziemlichen
Effect gethan, und zum Theil durchgebrochen, sind aber von dem andern Tref-
fen, und von der Seiten dergestalt empfangen worden, dass ihrer wenig durch-
kommen, die aber, welche ihnen gefolget, zurück poussiret worden, von welchen
Theil auff Sr. Königl. Mayt. Bataille, etliche auff die Ghurfl. Gavallerie* loss-
gangen, von welchen sie auch dergestalt empfangen worden, dass sie mit höch-
ster confusion den Berg wieder einzunehmen gesuchet haben: §. 43. Bey1 sol-
chem währenden Treffen haben die Tartarn nicht gefeyret, sondern gesuchet
umb das Dorff,2 und der Armee in den Rücken zu gehen , worauff8 Se. Königl.
Mayt. 4 Esquadronen unterm conduicte des Herrn Generalissimi b Durchl.
i) Ihr Churfilrstl. Durchl. loss b) Generaliuimi Ilochfilrstl. Durchl.
4) Bey solchem Treffen 2) um das Dorf und fehlt. 8) worauff man vier Esqua-
dronen wenden lassen.
464 Joh. Gust. Dboysbn, [,2r)
haben wenden lassen , welche sie denn ft gepoussiret und in den Morass gejaget,
allwo ihrer eine grosse M&nge geblieben, und von ihren Pferden haben absprin-
gen müssen. §. 44. Wie nun bey auf so vielfältige Arten geführten actionen
und Treffen, Se. König! . Mayt. nötig befunden, dero Regimenter in vorige Ordre
und Platz wieder zu bringen, umb den Feind in seinem Vortheil zu attaquiren,
und bey Eroberung eines Waldes welcher dem Feinde und die Höhe zur rechten
Hand lag, mit gleicher avantage des Feindes Höhe zu erreichen , dass man also
hinter des Feindes Wercke mit dem Feinde und seinem Fussvolck , in gleichem
Vortheil zu fechten kommen mögte, so hat man gegen den Feind avanciret, aber
zu dem Berge2 nicht gelangen können, bis es gantz finster worden, §. 45. da
dann weitere actionen zu verhüten, Se. Königl.May.* sich zurück gezogen, dero4
Cavallerie bey einem Walde zur Seilen des Dorffes gesetzet, nebenst den dreyen
Esquadronen zu Fuss, die Infanterie ist aber für dem Dorff,* und die Churfürst-
licbe* Armee auff dem Platz stille stehend blieben, bis Sonntags Morgens, da
man sich dann bey anbrechendem Tage wieder zusammen gezogen , §. 46. und
nachdem Se. Mayt. eine Esquadronen Fussvolck in dem Walde wo dero Caval-
lerie gestanden, zu verhawen befohlen, umb da Se. Kön. Mayt. würden avan-
oiren , den Rücken frey zu .haben, als ist darauff resolviret worden, dass man
mit der Armee zwischen dem Walde, da Sr. Königl. Mayt. Cavallerie über Nacht
gestanden, und dem Walde, dessen der Feind bey der rechten Hand sich
gebraucht11 hat, zu avanciren,* und die Infanterie in die Avantgarde zu neh-
men nebenst Artillerie und 5 Esquadronen zu Pferd der Schwedischen, umb
den Feind aus dem Walde zu bringen, welches zu verrichten, dem General
Feldzeugmeisler Sparr auffgetragen wurde, auch von ihme mit sonderbarer
dexterität und guter disposition verrichtet worden. §. 47. Und dieweil der
Feldzeugmeister Sparr den Wald zuvorderst hefftig canonirte, hat zwar der
Feind seine Infanterie nach dem Walde7 gezogen, mit dem gantzen Reste seiner
Cavallerie gesuchet,8 umb in die flanquen zu gehen, derowegen *** Se. Kön. Mayt.
so wol als die Churfl. Cavallerie unterschiedliche fronten nach Situation des
Orts, umb des Feindes einbrechen zu verhindern formiret, dass also an allen
vier Ecken fronte ist formiret worden. §. 48. Nachdem aber der Feldzeugmei-
ster Sparr den Wald eine weile canoniret, ist er mit der9 Infanterie und 200
oommendirtenMussquetirern in den Wald hinein avanciret, neben *°fünff Esqua-
dronen Reuter, §. 49. und weil des Feindes Mussquetirer also den Wald ver-
a) Ihr Chnrfüntl. Durch]. Armee b) sieb vorhin gebraucht.
4) welche sie dann* s) Berge** worauf der Feind sich dazumal postiret gehabt, nicht
8) zu verhttthen man sich 4) und die 5) für einem Dorf , welches man zur Linken ge-
habt 6) von und ... bis Schwedischen fehlt 7) aus dem Walde 8) aber gesuchet
8) Der Chnrfürstl. Infanterie und fünf Esquadronen Reuter in 40) von neben ... bis
müssen fehlt.
*) welche acht auf sie geben matten, damit sie nicht von hinten einfielen. Da nnn **) avanciret und sich
wegen der Nacht allda postiret, dergestalt dass die Cavallerie bey einem Walde ***) derowegen Carallerie
commandiret worden die Infanterie des linken Flügels in bedecken. §. 48. Nachdem . . .
121] Die Schlacht von Warschau. 1656. 465
lassen müssen, sind1 S. Churfl. Drchl. in eigener Person mit sechs Esquadro-
nen* auf den Berg avancirt, die darauf befindliche feindliche Reuterey** den
Berg hinunter gejaget, welche* sich dann zur linken Hand nach dem Morass,
wo des vorigen Tages die Tartarn sich hinbegeben , aber von dem Feldmar-
schalle Herrn Gustav Wrangel und dem Churfl. ■ General Lieutenant Herrn
Grafen von Waldeck mit commendirten Beutern und etlichen Esquadronen ver-
folget, in Morass gejaget, und also die meisten derselben erschossen, ersoffen
und umbkommen. §. 50. Bei wahrender solcher Action haben Se. Churfl.
Drchl. resolviret gehabt,4 nachdem die feindliche Infanterie ihre Stücke * ver-
lassen, auff die losssugehen,6 dieweil dieselbe aber gleich zu accordiren begehret,
haben S. Churfl. Drchl. dieselbigen nicht verfolget, besondern die Infanterie hat
in wahrendem Tractat sich nach der Schiffbrücke verfüget, dieselbige passiret,
und hinter sich ruiniret: §. 54. Nachdem nun des Feindes linker Flügel und
die Infanterie mit Verlassung des Lagers , Pagage und allen Stücken 7 sich rete-
riret gehabt, ist des Feindes rechter Flügel8 schon zur Flucht parat gewesen,
und sich frühzeitig grüsslen Theils zwischen Präge und dem nicht weit davon
liegenden Walde weg in voller confusion reteriret ohnangesehen so wol dieses
als vorigen Tages, der König in Polen die also genannten Hollotten oder Gesinde
(welche nicht mit Obergewehr, sondern nur Sebeln, Sensen, Prügeln, und der-
gleichen Instrumenten versehen) beydes mit Geide und Worten animiret, so wol
die Quartianer und Pospolite Bussenieb vom aussreissen aufzuhalten, §. 52.
welches sie auch in der That, und mit vielfaltigem grossen Geschrei anfanglich
verrichtet, endlich aber mit eioander, besagter massen, aussgerissen,**** wel-
chen Se. Ktfngl. Mayt. zwar nachgegangen, aber wegen abgematteter Leute
und Pferde, welche in der dreytagigen Action nichts gessen haben, hat man
den Feind wenig verfolgen können, besondern man ist des andern Tages dem
Feinde 6 Meileweges nach gangen.
§. 53. Der König in Polen hat dieser Action von Anfang bis zu Ende bey-
gewohnet, und9 da er gemerket, dass seine Armee das Feld hat räumen müssen,
a) Ihr Churfüntl. Durchl. General Lieutenant b) Ruszienie.
4) dann auch Sr. 2) Esquadronen sofort* auff dem Fasse gefolget and auff den Berg
zu 8) von welche. . . bis umkommen fehlt. 4) gehabt fehlt. 5) ihre Stücke
schon 6) losszugehen, allermassen auch sonder Zweifel geschehen und vielleicht nicht das
geringste von derselben würde echappiret seyn. Es sind aber S. Ch. Durchl. durch dess Kö-
nigs Bruder davon divertiret worden, so dass gedachte Infanterie dadurch Zeit gewonnen ***
mit den Feldstücken sich davon zu machen und über eine Brücke so sich eben daselbst ge-
funden und welche sie hinter sich ruiniret, sich zum Theil zu salviren. (§. 51). Nachdem
7) Stücken durchs. Ch. D. zu Brandenburg gänzlich überm Haufen geworfen worden, hat
dess 8) Flügel, welchen Ihre König] . Mayt. von Schweden gegen sich gehabt auch keine
sonderliche ressitenz mehr gethan sondern sich also fortt grössten Theils 9) und da Sr.
Churfl. Durchl. des Sonntags durch den Wald gesetzet und die feindliche Armee von dem
Berge getrieben und Er darauss gemerket.
") sofort anff der nahten Seite anff **) Infanterie •*•) gewonnen Ober einen Morast da sie nicht wohl-
verfolget werden können sich in salviren, bei welcher retinae ihrer eine grosse Mengo geblieben und sannt
den Pferden in Morast nnkonnen. Nachden ****) durchgangen.
466 Joh. Gost. Dboyskn, [128
ist er nechst für der Infanterie über die Brücke erst auff Warschau und so wei-
ter fortgegangen. §. 54. Die Königin aber, * welche die Polen von der West-
Seite der Weichsel, als sie bey Warschaw am 48/28 passato über die Brücke
gangen, in einer Garreten dabey haltend, trefflich animiret, (so dass* die Polen
sich grosssprechend darauff verlauten lassen, sie wären so starck, dass sie den
Feind mit Peitschen wegjagen wolten) hat so lange nicht gewartet, sondern in-
dem sie den 20/30 July,k war der Sonntag, vermercket, dass die Königliche
Schwedische Armee der Polnischen im Lager zusetzte, soll sie sich, nachdem sie
alle drey Tage diess harte Treffen mit ihrem Frawenzimmer und etlichen Sena-
toren angesehen, frühzeitig aus dem Wege gemacht haben, §. 55. Bei diesem*
Treffen sind beydes Se. Kön. Mayt. zu Schweden , als auch Se. Churfl. Drchl. *
in grosser Gefahr gewesen , dann sie in eigener Personen sehr grossmüthig ge-
fochten , so dass Se. Churfl. Drchl. einmal gar von den Tartarn umbringet ge-
wesen, dass man eine gute Weile nicht gewust, wo sie hinkommen. §. 56. Und
also ist endlich Sonntags in der Nacht Warschaw d von der Polnischen Guarni-
son unterm Obristen Zeillari mit hinterbleibung aller Stücken,*** gleich denen im
Felde, verlassen, und hat sich des Montags früh der Ort in Sr. Kön. Mayt.2 de-
votion wieder ergeben : Se. Koni gl. Mayt. und Churfl. Drchl. Armee ist**** bestan-
den in 60 Esquadronen zu Pferde und 4 Regimenter Dragoner. §. 57. Davon
30 auff dem rechten und 30 auff dem linken Flügel gestanden. Die Fussvölcker
sind in zwölff Brigaden vertheilt gewesen. Des Feindes force sol allem8 bis dato
eingekommenen Bericht nach,' bestanden seyn4 in 8000 Quartianer, 16000 Pol-
nischer Pospolite Russenie, 5000 Littawer, 6000 Tartarn und 4000 zu Fuss,
wiewol sie sich Selbsten ins gemein mit allem 400,000" Man zu seyn ge-
schätzet, dahero sie sich selbst auch wegen solcher grossen Mänge, den Sieg
gar zu gewisse eingebildet haben. §. 58. Es ist nicht zu beschreiben, wie Gott
bey dieser Occasion gewürcket habe, in deme wo die* Königliche Schwedische
Armee f sich nur bingetrehet, hat sie den Vortheil des Windes für sich gehabt,
a) von welche. ... bis wegjagen wollten fehlt, b) 30 Jnly c) von Bei diesen .... bi s §. 56 ut
endlieh fehlt. d) Nacht ist die Stadt Warschau e) >elbsten Aber 100000 f) Schwedische und
Chnrbrandenburgische Armee*
4) Zu Brandenburg continutrlich zugegen gewesen, absonderlich** haben Sr. Churfl.
Durchl. mit einer unvergleichlichen intrepidität sich dabei signalirt und alles was Tapferkeit
und prudentz in dergleichen Folien von einem grossen helden erfordern , erwiesen und an
sich spühren lassen, auch nicht allein mitCommando und Anordnung der Armee sich begnü-
get , sondern in eigner hoher Person grossmüthig mit gefochten und sich exponiret so dass
Se. Churfl. Durchl. einmal gar von den Tartarn umringt gewesen und man eine gute Weile
nicht gewusst wo sie hingekommen, (g. 56) Und also %) Mayt. und Sr. Churfl. Durch!.
3) von allem ... bis nach fehlt. k) in zwanzig tausend Husaren und Quartianern.
sechzigtausend polnischer pospolite Ruszenie, zwanzig tausend Lithauern, sechs und dreissig
tausend Tartarn und vier tausend zu Fuss in Allem von hundert und vierzigtausend Mann.
Dahero 5) die altiirte Armee.
*) von so dass .... bis jagen wolten ist gestrichen. ••) Von absonderlich. . . . bis hingekom-
men ist gestrichen; dann folgt (g. 56) Bndlich ist ***) etlicher weniger 8tftcke ****) ist 16 bis
17000 Mann und des Feindes Macht ist im Anfang in 120000 Mann inletzt in 84600 eigenem Gestlndniss nach
bestanden, dahero.
[* 23 Die Schlacht von Warschau. 1 656. 467
und ist deroselben rund umb gefolget. So dass dahero der grosse Staub sampt
dem Pulver-Rauche , dem Feinde ins Gesicht getrieben. §. 59. Von hohen Offi-
cirern sind wenig geblieben. Des ersten Tages ist Obrisler Senckler mit einer
StUckkugel geschossen, wie auch der General Major Kannenberg blessiret worden,
von den gemeinen aber ungefehr drey bis vier hundert gequetschet und geblie-
ben. Was von vornehmen unter dem Feind geblieben oder gequetschet, hat man
nicht observiren können, die todten Cörper aber, so hin und her im Felde und
in dem Morass gefunden worden , werden auff ungefehr drey bis vier tausent
gerechnet.* §. 60. Und hierauff sind nun den 24 und 34 Julii1 die beyde
König- und GhurfUrstliche Leib- Regimenter fürüber geführet* und die Stadt
Warschaw damit besetzet, und also dieser Ort sonder einige Mühe wieder ge-
wonnen worden: Jedoch kam indessem Zeitung, dass der Feind bei Schersky*
mit viel tausent sich wieder gesetzet, auff welche Se. Mayt. mit etlichen Regi-
mentern Zugängen, aber niemand gefunden, dess wegen8 Se. Mayt. den 2. Au-
gusti st. n. wieder zurück nach Warschaw gekehret. Die Bagage hat man den
Soldaten zur Beute gegäben : ** §. 61 . Die eroberte Ganonen sind etwan in 50
StUcken bestanden, wenig sind gefangen worden, weil man wenigen Quartier
gegäben. Es ist leicht zu glauben, dass man weder die Fahnen noch die Anzahl
der erschlagenen gewiss wissen können , weil alles sich in die Morässe verlauf-
fen, und wegen des unerträglichen Gestancks niemand fast weder in Warschaw
noch im Felde bleiben können. §. 62. Den4 andern und dritten Augusü st. n.
ruheten indess die Armeen an der Oost- Seiten aus, bis sie den vierdten dessel-
ben Über die reparirte Schiffbrücke gehen könlen. Und diess ist der gewisse
und warbaflle Verla uff, der sonder Sparung der Warheit wol wehrt, dass er an-
gemercket, und dem Allerhöchsten unablässig dafür gedancket werde. Datum
Warschaw, am 4. Augusti st. n. 1656.
a) uogefihr auf 5 a 6000 gerechnet. Datum im Felde bei Präge gegen Wanchanen gelegeu den 24 Julii
Styl. veU 16M. Das Folgende fehlt.
4) eben so im Th. Eur. ed. II. 2) Ichersky 3) von deswegen ... bis gekeh
ret fehlt. 4) §. 6t fehlt.
*) Ober die Brücke *•) ist den ... . geworden.
468 JOH. GtJST. Dioysbn, [12*
Beilage 3.
Relation III.*
Relation oder wahrhaftiger Bericht, wie es bey der von Seiten Sr. Churf.
Durchl. zu Brandenburg wider die Polen und Tarlaren bey Warschau
erhaltenen Victoria daher gegangen de dato 3f. Julii 1656 aus dein
Churfl. Ilaupiquartier Prag vor Warsaw. Gedruckt in obgemeldeiem
Jahr, (i Bl. 4° *. I.)
Vergangenen Freitag den 88. Juli spül sein wir mit ankommender Nacht
für des Feindes Lager angelangt. Ihre König]. Hayt. zu Schweden gingen nebenst
Sr. Churfl. Durch!., des Herrn Grafen zu Waldeck General Leutnants Excellenz,
dem Herren General v. Wrangein, dem Herrn Pfaltzgraffen von Sullzbach, Du-
glassen und anderen Generalspersonen nebenst der ganzen Iteulerey' voran,
und nachdem sie elzliche von des Feindes Truppen angetroffen wurden sie so-
bald carchirert' geschlagen und bis an des Feindes retrancbement verfolget:
Hierauff befahlen Ihre Uaylt. dem Feldzeugmeisler Sparren mit der Infanterie zu
avanciren, welches auch geschehen. Gemeldte Infanterie bestund in 3 Schwe-
dischen und 9 Brandenburgischen Brigaden zu Fuss. Nachdem wir nun avan-
cirten bis auffeinen Musketschuss von des Feindes Lager, haben Sr. Haytt. die
Armee lassen in bataille stellen, also das die Infanterie in der Milien, dieCaval-
lerie auf beiden Seiten gestanden. Sobald nun der Feind unser vermercket, hat
er gewaltig mit Ganonen unter unsre Infanterie und Cavallerie gespielet, wel-
ches ohngefahr bei zwey Stunden gewähret, auch ohne Schaden nicht abgegan-
gen, indem einem schwedischen Obristen ein Arm abgeschossen, auch unter-
schiedlich andre Officiere und Soldaten sowol verwundet als geblieben.1 Nach-
dem es aber ganz finster worden bat der Feind mit dem sohiessen eingehalten, da
haben wir uns ein wenig auseinander gezogen und die Soldaten ruhen lassen,
mit anbrechendem Tag* ist die armee wiederum in vier Tropfen* hinler einan-
der in bataille gestellet worden also das die Infanterie mit dem rechten Flllgel
an der Weixel, mit dem linken Flllgel in einem Wald und Morast gestanden, die
«) Der andre Druck, hall eWgirel b) dsrnndre Druck bil: Truppen.
*) Hit diesem Druck stimmt mehrfach der Bericht bei Ailzema p. 653 ff. und einzelne
!en unserer Relation sind daher zu erläutern; das Wichtigere folgt in den folgenden An-
klingen.
1) ende andere hooge Officeiren gingen met de Ruyterye vooraen. 1) het welcke de
ea siende, speelda met soo hevicb canoneren op ons, dat veele van uns bleven, sonder-
i een Schots Overate te pcerde Sengler genoml, ende een Brandenburg!) seh Major, ende
wy Reen lijdt ofte macht hadden hei canon daer tegens aen te planten. 8} Nach Er-
nung des Kriegsralbs In der Nacht, der Vorbereitungen zurSchlachl, des Loosungsschus-
Itthrt der Bericht fort: waer op den onse armee in vier deelen achter een ander weder in
die gestelt wierdt, sulcx dal den rechten vleugel onder sijn Cbur-Voratel. Doorl. naer
Veisael, den slincker vleugel onder sijn Majesleyt aen bei wandt en de lloras ende de
ntorie met de Artillerie in front tuvschen beydeo quam te staen.
***] Die Schlacht von Warschau. 1656. 469
meiste Cavalierie war mit Sr. Ghurfl. Durehi. auf den rechten Flügel1 ohne etz-
liche wenige Squadronen so Ihr. Haytt. bei der Infanterie in reserve behalten.
Die Schwedische wie auch unsre Artillerie war vor die Infanterie vertheilet, so
hatten Ihr. Ghurfl. Durchl. auch etzliche Regimentsstücke bey sich. Umb 7 Uhr
des Morgens fing der Feind an gewaltig mit Stücken auff unser armee zu spie-
len und ward ihm von unserer Artillerie hinwieder tapffer geantwortet, der
meiste Schade, so der Feind tbal geschah aus einer Schantze weiche auff einem
Berg gelegen2 desswegen Ihre Maytt. und Se. Ghurfl. Durchl. sich unterredet
und gut befunden solche Schantze zu attaquiren und Se. Ghurfl. Durchl.' so-
bald! darauff zu marchiret, etliche Stücke gegen solche Schantz bringen lassen,
auch den Herrn Gen. Major Goltzen mit 3 Squadronen zu Fuss commandiret,
solche attaque der Schanze vorzunehmen. Dieser war kaum von uns abmarchi-
ret, kam Bericht das etliche 4000 Tartarn sich durch den Wald zögen willens
uns in den Rücken zu gehen. Ihre Maytt. sobaldt sie solches vernommen, seyn
sie mit etlicher Reuterey auf die Tartarn iossgangen und solche über Halss und
Kopf zurückgetrieben.4 Der Herr Gen. Leutnant Graf von Waldeck hat auch ein
Theil von solchen Tartarn in einen Morass gejaget und ein Theil niederhauen
lassen. Kurtz nach dieser action befahl Ihre Maytt. den Herrn Gen. Major Gra-
fen von Waldeck mit drei Squadronen zu Fuss, etlichen groben und Regiments-
stücken durch den Wald zu Sr. Churfl. Durchl. zu gehen , wie er aber in den
Wald kam, war es so morastig das es unmöglich hindurchzukommen, auch be-
orderte der Reichsmarschall Wrangel wie auch der Feldmarschall L. Duglass ihn
wiederumb zurück zu ziehen, andeutende, das Ih. Churfl. Durchl. seiner nicht
benöthigt;5 in solchem seinem Zurück -March ward er gewar, das sich der
Feind mit Macht aus dem Lager zog und sich ansehen liess als wann der Feind
Lust hatte es zur Hauptaction kommen zu lassen. Herr Gen. Major Graf von
Waldeck stellte sich sobaldt mit denen drei Squadronen auff der Seite des Wal-
des und liess die Stücken vor die Squadronen stellen, welches als es kaum ge-
schehen rückten etliche Fahnen Quartianer hervor und gingen mit guter resolu-
tion auf die Gvardte an, in Meinung zwischen solcher und einen Berg durchzu-
kommen6 und etliche Stücke so wir auff dem Berge hatten wegzunehmen; aber
sie wurden von der Gwardt und einer Squadrone so empfangen , das sie die
Stücke vergassen ; im zurückgehn gab ihnen Herr Oberst Syburg wie auch die
4) De meeste Brandenburghsche Ruyterie uytgenomen eenige weynich soo sijn Ma-
jesteyt by de Infanterie ende tot Reserve hadden ghehouden. 2) De meeste schade die den
Vyantdede, was uyt seecker Schantse die op een bergh lag ende den Avenuen comman-
deerde. 8) 't selve over sich genomen hebbende 4) — dat sy haer over hals ende kop
weder mosten te rugge begeven. Den Heere Generael Majoor Henderick Hörn voerende de
troupen van reserve, dede veel hier by, ende de Heere Grave van Waldeck 5) dat men
van wegen het Moras daer niet konde komen, ende liet Sijne Chur-Vorslel. Doorl. daer-
en-boven weten, dat hy voor als noch geen secours van noode hadde, door dien hy niet
all een hem alrede meester hadde gemaeckt van de hooghte maer ook vier ofte ses duysent
van de Poolen , die van vooren uyt hare retrenchementen op hem selve, met een schricke-
lijck gekryt eenen seer furieusen aenval hadden ghedaen, gheluckich hadde gerepousseert
ende in hare voordeelen wede te rugghe ghejaeght. 6) ghemeent hebbende tusschen de
selve ende een kieyn gheberghte in te breecken.
470 Jon. Gcst. D*OT8BW, [126
Stacke so Herr Gen. Haj. von Waldeck bey ihm hatte , eine Salve in die Seite,
durch welches ihnen siemlicher Schade geschehen. Ohngefähr eine halbe Stunde
hernach praesenlirten sich viel Stück Esqaadranen vom Feinde' gegen nnsre
Armee aufweiche der Herr Gen. Peldseugmeister Sperr wie auch der Schwe-
dische Gen. Major Bülaw so gewaltig mit Stacken Feuer geben lassen , das der
Feind endlich gezwungen ward sich wiedemmb in sein Lager eu ziehen.
Weinig1 hernach marcbirten Ihr. Haytt. mit der Reuterey und Fuss-Volck
ab und Eugen sich auff der linken Hand durch den Wald in Willens sich mit
Ihr. Cfaurfl. Durch), eu conjungiren, ehe aber die Infanterie kam, kam der Feind
in voller Bataille auf Ihr. Haytt. eu marchieret, darnach nahmen Ihr, Haytt. die
schwedische Cavalleris neben etlichen esquadronen von uns. Hellten solche auff
den linken Flügel in balallie, Hessen den Ochsenstern, welcher Oberst von der
Artillerey, avansiren und marcbirten Ihr, Haytt. mit dem Flügel sacht auff den
Feind an, liessen in Maren bissweilen etliche stocke umbkehren und (euer ge-
ben , unterdessen kam unsre Artillerey und Infanterey such an und wurden
gleichmassig neben den linken Flügel in 2 Treffen in Batalie gestellet, Sr. Cburfi.
Durchl. blieben mit dem rechten Flügel in der 3ten esquadron' zu Fuss, so der
Gen. Major Goltz bey sieb hatte, am Walde sieben. Sobald wir stunden, kam
der Feind in grosser Menge und mit einem grossen Geschrey an marchirel und
lieffen die Husaren mit ihren Copien auf unsern linken Flügel , für welchem der
König in Person war. Die Husaren gingen in solcher Furie an, das von ihnen
über die Hülfte sich durchs erste Treffen hinduroh schlugen, sobald aber des
Königs Leibguarde zu Fuss eine Salve unter sie gaben, * ging die andere dalfle
wiederumb zurück und wurd von den Unserigen etwas doch nicht weit verfol-
get. Die andre Hiilffte, so durch das erste Treffen wie vor gesaget durchgedrun-
gen, wurden von Unsern Reutern und Fussvolok dermaassen von allen Seiten
angegriffen, das wie ich glaube nicht einer davon gekommen auch ihr Oberster
erschossen worden.
Auff dem rechten Flügel4 da Sr. Chnrfl. Durchl., Gen. Wrangel, Gen. Uu-
tenant Graff von Waldeck und Gen. Major Kannenberg waren, wurden die Pnh-
len gleichmassigen im ersten Angriff repousirt. Die auff die Infanterie sollten
treffen," für welcher Gen. Sparr, BUlaw und der Gen. Major Graff Waldeck wa-
ren, wurden durch nnsre Canon en und Husquelen dermassen empfangen, das
sie auch das Hasenpanier auff wUrffen. Die Tartarn, so uns umbringen wollen
und schon an unsrer Bagage waren, wurden gleichmassig zertrennet; endlich
m) Der mdre Druck fall: io den S F.squ.droMii.
i) Echter quamen noch eenige andere Poolsche esquadron« legen oos mel eeo groote
hevicheyt. S) Das Nachstehende weicht in dorn Bericht bei Aitxema bedeutend von Hei. 111
■b. I) De Houstaren lijnde Poolseben Adel met landen teer wel gemooteerl deden den
'en aenval op hei Regiment van Sijne Majesteyls Garde le voat het welcke vier stnckeo
is met musqnet-kogels geladen, voor een borstweer hadde, ende reusseerden aenvanck-
800 wet ... 4) bei andere gros van de Tarieren, den Adel ende de Quartianen vte-
ip den Chur-Vorat, geasaiatert sijude van den Heer General Wrangel Waldeck ende
enbergh. B) een ander gedeelte van de Poole« allakeerde onder laschen deChor-Vor-
cke Infanterie etaende ooder den Heer General Spar Bulau ende de General Majoor de
e van Waldeck eode Golts.
127] Die Schlacht von Warschau. 1656. 471
wie wir von des Morgens 4 Uhren bis den Abend um 9 Uhr ohn Unterlass von
den Feinden canonirt auch von allen Seiten attaquiret, hat uns Gott endlich
die Gnade gegeben, das der Feind das Feld quittiren und in sein Lager sich re-
teriren müssen.
Wir sein mit unsrer armee1 die Nacht auf der Wahlstatt stehen blieben
und ist von Köngl. Maytt. und Churfl. Durchl. beschlossen worden den Feind
bey früher Tages Zeit in seinem Lager anzugreiflen. Des folgenden Tags Sonntags
zog sich der König mit dem linken Flügel und theils Infanterie an einen Wald,
in welchem sich der Feind verschantzet , und lagen ein Regiment zu Fuss, et-
liche 100 Dragoner, noch einige Reuterey darin, auch stund des Feindes meiste
Gavallerry und 6 Regimenter Infantery hinter dem Wald auff einen Berg, auff
welchem sie auch einige Stücke gepflanzet hatten,2 die tartarn hin gegen wie
auch einige Pohlen stunden in einem Felde, so neben dem Walde, in Batallie. Die-
ses verursachete das der König mit den meisten theil seiner Cavallerie und In-
fanterie neben einigen kleinen Stücken auff die Tartarn lossgangen, indessen Hess
Gen. Sparr mit denen schwedischen und unsern Stücken mit grosser Furie in
den Wald spielen. Der Feind schoss mit Stücken und Musqueten hinwieder
tapffer herauss. Dieses wehrete bey einer Stunde, biss endlich Gen. Sparr den
Major G raffen Waldeck beordert den Oberst Syburg neben 500 Gommandirten
in den Wald zu schicken8 umb den Feind zu attaquiren, sobald t solcher im
Walde war ward gedachter Herr Gen. Major vom Herrn General commandiret
an den Ort des Waldes mit einer Esquadron anzufallen, wo der Feind zwey
Stücke stehen hatte welches er auch gethan , und obschon der Feind zwey
starcke Salven auff ihn that, ward doch nur ein Mann verwundet und quietie-
ret der Feind kurtz her nach seinen Vortheil ; die Reuterey so wir antraffen und
chargirend nahm auch die Flucht. Wir verfolgten sie biss auff den Berg auf
welchen der Herr Gen. Major Graff v. Waldeck 2000 zu Fuss neben einiger Ca-
vallerie und Stücken fand, wovon derselbe den Herrn General averliret, welcher
sobaldt mit ettlichen esquadronen zu Fuss und ettlichen stücken zu ihm kam
und den Feind sobaldt in die Flucht brachte, auch sie hernach nur mit 500
commandirten und 200 Reulern biss in die Schantze vor Warschaw verfolget,
selbige Schantze auch einnahm und wenn er mehr Volck gehabt hatte, mit ihnen
in Warschaw gegangen wären. Wie wir uns aber mit so wenig Volck nicht auff
die Brücke wagen durfften, steckte der Feind die Brücke an. Wie es eigentlich
bey Sr. Churfl. Durchl. und den König zugegangen davon weiss ich kein Par-
ticularien wie das sie den Feind auch an allen Orten geschlagen. Heute morgen
hat sich Warschaw an uns ergeben. Der König und die Königin sind entwichen.
Hat also Gott durch uns weinige Leuthe, die schon drey Tage Hunger gelitten,
einen frischen mächtigen und hochmüthigen Feind zerstrewet.
4) Aach in diesem Theil weicht der Berieht bei Aitzema sachlich vielfach ab; er be-
richtet auch die Vorgänge auf dem rechten und linken Flügel ; in den Angaben über das
Gefecht im Centrum stimmt er mit dieser Relation wesentlich überein, ist aber weniger ge-
nau. 8) Achter het woudt op een gheberghte in eenigeForten die met canon seer weel ver-
slen waren. 8) de Colone! Sybergh met vief hondert gecommandeerde Soldaten recht toc
in het woudt te laten gaen.
472 Joh. Gust. Droysen, [128
Beilage 4.
Relation IV.
Anno 1656. 32 te Woche. No. \.
B. Einkommende Ordinär- und Postzeitungen.
Extra et- Schreibeos aus der Vorstadt Warschau, vom 31 . Julii.
In höchster Eyl berichte hiermit, dass wir, Gott lob und danck, den Feind
geschlagen, das Feld behalten , und annoch heute die Stadt Warschau bezieben
werden : Das Treffen hat gewähret zwey vollkommene Tage : Von Anfang bis
zum Ende hat es sich folgender gestalt begeben : Am 28. dieses umb 9 Vhr ge-
gen Abend geriethen die Parteyen und Regimenter aneinander, und währete das
Gefechte bis ungefähr umb Mitternacht, es kam aber dennoch zu keiner Haupt-
Action, ausser dem, dass mit den Stücken sehr au ff uns gespielet ward. Folgenden
Tages, den 29. Julii, gieng das Treffen des Morgens umb 3 Vhr mit allem Ernst
wieder an, und ward damit bis in Mitlernacht continuiret. Vor Mitlage zwar
Hess es sich aujf unser Seiten sehr zweiffelhafftig ansehen , und meyneten die
Polen gantz gewiss, sie würden unsere Meister werden, weil sie von drey erha-
benen Orten auff uns cononiren kunten , da wir hergegen in der Niedrigung,
aus welchen wir ihnen weil sie hinter dem Retrenchement hielten, wenig Scha-
den thun kunten , stunden : Vber das , waren die Polen fünffmal so starck , als
wir, und fielen uns bald von hinten bald von forne an. Nachmittage hergegen
gewonnen wir ihnen eine Advantage ab , nemlich einen Pass , durch welchen
wir mit der gantzen Armee filireten. Als die Polen solches vermerketen, ver-
liessen sie ihre Retrenchement von forne, und stellelen ihr Geschütz von hinten
reeta auff uns an, und giengen darauff mit ihrer gantzen Armee ins offene Feld :
Gewiss ist es, dass es damals mit uns etwas hart hielte , angesehen auff unser
Seiten so wol als hinter uns, nichts anders als lauter Morast und gantz keine
Retraite war; muste also ehrlich gefochlen seyn, wer nicht schändlich sterben
wolte. Vnd in Warheit, es bezeigeten unsere Soldaten, vom grossesten bis zum
kleinesten, hierin eine so treffliche Courage, dass sie das Gefecht mit allen Freu-
den angiengen, unangesehen der überaus grossen Menge, mit welcher sie an-
gehen solten. Dieses muss ich bekennen, die Polen thäten einen so stareken
und furiosen Angriff, dass sie zugleich auf alle unsere Regimenter ansetzten.
Als es aber zum General-Treffen kam, welches sich ungefehr umb 3 Vhr Nach-
mittage anfieng, hat der höchste Gott verliehen, dass wir nach fünffslündigem
Gefecht das Feld behalten , und die Polen wieder in ihre Retrenchement getrie-
ben , wegen einfallender Nacht aber sie weiter nicht verfolgen können. Am
30 Julii griffen wir die Polen in ihren Retrenchementen abermal mit gantzer
Macht und solcher Courage an , dass wir sie innerhalb 5 Stunden nicht allein
daraus, sondern auch aus dem gantzen Felde geschlagen, und also rühmlich
eine vollkommene Victori erhalten haben. Wir haben gewisslich Vrsach dem
<29] Die Schlacht von Warschau. 1656. 473
höchsten Gott zu dancken für die grosse Gnade die er uns erwiesen , indem Er
uns den Sieg verliehen hat, wieder so einen mächtigen Feind in der Anzahl, mit
so wenigem Verlust, dann auf unserer Seiten in allem nicht Über 300 todt, und
selbige mebrentheils unter dem GestUck geblieben sein. Den Verlust auf Polni-
scher Seiten , kann man nicht eigendlich wissen , dennoch halt man dafür, dass
derselbe auff 4000 und darunter viel vornehme Herren seyn sollen. Von den
Schwedischen ist nur ein Obrister, genannt Senckeler, geblieben, von den un-
srigen aber keine Person von Qualität, ausgenommen, dass Herr General
Major Kannenberg von einer Stück kugel am dicken Fleisch aber doch nicht tödt-
lich verwundet ist. Sr. Ex cell, dem Herrn Gräften von Waldeck ward ein Pferd
unter dem Leibe erschossen, die übrigen von den 300 Todten sind mehrentheils
nur gemeine Knechte gewesen. Se. Königl. Majest. von Schweden, so wol als
Se. Churfürsll. Durchl. fochten beyde in eigener hohen Person selbst und mit
so trefflicher Hertzhafftigkeit, dass es zu verwundern. Ich habe es gesehen, dass
Se. Königl. Majest. unter den Tartern schon vermischet war, so stunden auch
Seine Churfürstl. Durchl. einmal sehr gefährlich darunter, dennoch hat man den
Allerhöchsten zu preisen, und muss dieses sagen: dass Gott diese beyde Poten-
taten mit Seiner Hand beschützet hat. In Summa , die Schlacht ist gewonnen,
der Feind aus dem Felde geschlagen, und eine gantz herrliche Victoria erhalten
worden.
Der König Casimir ist mit der Königin und den fümembsten selb sechste
durchgangen, wohin? ist unwissend, und haben so wol die Bürger als Soldaten
die Stadt verlassen. Vnsere Völcker sind in voller Arbeit, die Brücke, so die
flüchtige Polen hinter sich abbrannten , zu repariren , und hoffen wir noch die-
sen Abend darüber in die Stadt zu geben : Der höchste Gott wolle ferner Glück
und Gnade verleihen zu einer gewündschten Beruhigung Sr. Churfl. Durchl.
Land und Leute 1
Abhandl. d. K. 8. Get. d. Witt. X. 83
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*•■«•-. % «t rr. ** »n i*".r*«wn. wn» ? e*e z.^\. .^cea t *;*:» man unendlich nicht,
' »• ' .••; -.,f*.*n .-.•;» *' ^ä* aira ziJ: ~i ich'. E^rr }en. M«i «-r Kannenberg ist
< .« . n ?: - *r\-.» . >r Be.ne am .i..:s.-*n. FV^rä .a^t-aiFet. aber doch nicht
" . . . -,*r ^;.*»-w ^»*r».:k.t*r ist anvr irra >-h'v*,f^!i »ach w«:» geblieben, und
. ' • "■ Irr**«**; >:c, 3L4»ck §«».a Ff^ri iz**rm Ljh" ■jrscßorjsen worden. Son—
«' '. • ■ *r. *',vh:..!.;>f IrAitr K.rrer er: •*«• :«*ü T'dten befanden worden,
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v ■ -,. v \?v d^*n C^for.2^ne-ii *th*2**azI -ili as:h ^:c iz-ie--en deren des Litlawi-
v.**. - riätzm+ivm Flerrn Goc«ewik.v Fjr^:c l-ekanr.: ist. an den Zähnen ob-
t*- ;.-*• . #1»^ ^ l*rnrA fiter Herr SchaUinets;er seL
134} Die Schlacht von Warschau. 1656. 475
Beilage 6.
Relation VI.
No. 32. Anno 1656.
ParticalarzeituDg.
Aus Zakoczym vom 4 . Augusti.
Es wird demselben ohne dass kund seyn, Wie die Kö. Schwed. und Chur-
Br. Armeen dieser gegen t ein Zeitlang gestanden, und an den Brücken über den
Bug unfern dieser Stadt eifferichst gebavvet , es ist aber gleich wol nicht anders
als zu lauter Frieden, darzu diese beyden Potentaten geneigt, die Hoffnung ge-
wesen, allein durch die jetzt erschollene Zeitung, als wolten die unsrigen von
keinem Frieden hören, sich auff die Fleischliche Macht der angekommenen
40000 Tartarn verlassend , und daneben ausstrewend, ob stünde es bey ihnen,
den Frieden zu geben, aber diese beyde conjungirte Armeen, auch andere Alliirte
ihres Gefallens gäntzlich zu ruiniren undauffzuheben, haben sie beyde hohe Poten-
taten , welche wie wir selbst bekennen müssen , zur vergiessung unschuldigen
Bluts, keine Begierde gehabt, dahin gebracht, dass, wie die Brücke fertig gewor-
den, am vergangenen Donnerstage, als am 27. Julii gegen Abend, Se. Ghurf. Durchl.
die gantze Artollerie, nachmahlen die Infanterie in aller stille, und gegen den
Morgen die Gavallerie herüber bringen lassen, also dass am Freylag gegen Mittag
alles über gewesen die Bagage ausser 2 Kaleschen die Sr. Ghurf. Durchl. und
eine Sr. Grafl. Excel I. von, Waldeck mitgenommen. Die Völcker gingen so freudig
über dass zu verwundern war. Se. Koni gl. Maytt. in Pohlen unser gnädstr.
Flerr, welcher nebest dero Gemahlin zu Warschaw war, versah sich dessen
nicht, sondern wahren in Freuden über die Ankunft obgedachter 40000 Tartarn
in dero Lager hinter Warschaw. Und halten wir ein Mitleiden, dass diese
Schwed- und Brandenburgische Armee , die den unserigen an stärckte unver-
gleichlich, gleichsam auf die Schlachtbäncke geführet werden müste; müssen
aber bekennen, dass es nicht an dem grossen Hauffen, sondern vornehmlich
Göttlichem Beystande gelegen , denn in unsers Königes Lager hinter Warschaw
wahren 60000 Mann von der Pospolite Ruszenie, zu Praag gegen Warschaw
über waren 20000 Mann Litta wische Völcker, die Quartianer und Husaren waren
auch 20 tausent, und der Tartarn 40000 (zusammen 4 00- und 40 tausent)
Mann, auff diese letzte drey Armeen gingen die Gonjungirte loss, denselben
Freytag und Sonnabend haben wir zwar nichts gewisses , wie es abgelauffen,
am Sonntag frühe umb 4 biss 40 Uhr, hörele man unauffhörlich Ganoniren, ge-
stern aber erhielten wir die allzu gewisse Nachricht, dass obwol unsere Husaren
und Tartarn gegen die Brandenburgischen 3 Tage lang gefochten, ihnen dennoch
durch unaufhörliches schiessen und Fewereinwerffen , welches die unsrigen
zu erdulden nicht gewöhnet, zween starcke Schantzen mit stürm abgenom-
82*
476 Jon. Güst. Droysen, *32]
men, etliche tausent Mann erleget und die andern gantz aus dem Felde geschla-
gen , mit Hinterlassung alles Geschützes und so viel tausent Bagage Wägen.
Kön. Maytt. zu Schweden haben mit der Cavallerie unsern Flüchtigen nachge-
setzt, unser in Praag gelegene Völcker haben, so viel als gekönt, sich theils über
die Brücke, theils mit schwimmen durch die Weichsel, auf Warschaw reteriret,
und die Brücke hinter sich angezündet , von dannen seind sie mit dem König
und Königin weiter, wie man saget, auf Sandomirss gangen, hinterlassendt, den
daselbst angehaltenen und krankliegenden Grafen Ochsenstirn. Die Ghurf.
Völcker haben sich in Weichsel-Kähnen und Skuten nach der Stadt übersetzen
lassen, woselbst sie zwar die Stadt geschlossen, und alle Pasteyen mit Stück,
aber mit keinem Volck besetzt, gefunden, dannenhero auch der Bäht und die
Bürger, umb sich vor der gäntzlichen Ruin zu erhalten, die Schlüssel der Stadt
den Churfl. übergeben und dero Besatzung eingenommen. Die Tartarn sollen
ihren Weg wieder au ff Lublin genommen haben, und ist zu besorgen, Sie sich
auf? viel Meilen aussbreiten, und was sie antreffen, zur Beute in die Schlaverey
mitnehmen werden.
*33] Die Schlacht von Warschau. 1656. 477
Beilage 7.
Relation VI.
Schreiben des Geheimen Rathes v. Plathen an des Statthalters Grafen
Wittgenstein Excellenz. In dem Lager vor Warschau 24/34. Juli 4656.
Ew. hochgr&flichen Excellenz habe ich mit diesem wenigen die glückliche
Victoria, so wir wider die Pohlen gehabt berichten wollen , sintemahl nachdem
die Gonjunction den verschienenen Donnerstag bei Sacrozin geschehen, man so-
fort folgenden Tages aufgebrochen und auf die Polen nach Warschau avancirt,
so man auf der Seite nach Preussen in einem vortheilhafftigen Ort aufm Sand-
berg stehend gefunden. Des Abends da wir angekommen, hat es zwar noch
einige Scharmützel gegeben, aber die Nacht fiel bald ein. Des andern Morgens
am Sonnabend stellten wir uns mit dem Tage in bataille und ging das canoniren
bald an. Die Polen hatten ihre Stücke auf dem Sandberge und vermeinten da-
durch grossen Schaden zu thun. Die Tartarn so in 4000 stark bei ihnen waren,
suchten öfters von hinten einzufallen , so ihnen aber nicht glücken wollte. Die
Husaren hielten sich tapfer und setzten wohl an aber mussten doch damit wei-
chen. Die Polen aber wollten sich völlig aus ihrem Vorlheil nicht geben und
ging also dieser Tag wieder weg, das kein Theil recht weichen wollte. Sonntag
frühe ward unsres Theils resolviret sie in ihrem Vortheil anzugreifen so auch
glücklich angangen. Indem sich unser Feldzeugmeister eines angelegenen Wal-
des darinnen das polnische Fussvolck gestanden, bemächtiget. Darauf die Polen
theils zur Rechten theils zur Lincken theils über die Brücke die Flucht genom-
men und uns das Feld geräumet hinterlassend ihre Stücke und Bagage. Das
Fussvolck hat sich über die Brücke nach Warschau retiriret. Der König in Poh-
len hat aber unser daselbst nicht abwarten wollen, sondern ist die Nacht mit
dem Fussvolk davon gangen und wie man sagt den March wieder auf Schlesien
genommen und haben wir heute morgen Warschau ledig gefunden und darauf
einzige Yölcker mit Schiffen überfuhrt weil die Schiffbrücke zum Theil abge-
brannt und die Stadt wieder besetzen lassen.
P. S. Die Canonaden haben das beste gethan. Auf unsrer Seite seind über
300 oder 400 Mann. nicht blieben, von polnischer Seite hat man noch keine
Nachricht, von S. Churfl. Durchl. ist an hohen Officieren niemandt blieben auch"
nicht gequetschet ausser der Gen. Wachtmeister Kanneberger, so an beiden
Beinen ziemlich gefährlich mit einer StUckkugel soll getroffen sein.
478 Joh. Gust. Droyskh, [134
Beilage 8«
Concept für die in der Handschrift der Berliner Bibliothek No. 50.
Fol. aufgenommene Darstellung. *
p.p. als perduellem tractirte und ausschriebe.
Der polnische General Zamecki bekam gar darauf [Ordre] unter des Königs
Hand Ordre welche in S. Ch. Durch!. Hände geriethe höchstgedachte S. Churf.
Durch I. und dero lande mit fewer und schwerth anzugreiffen damit dan auch ein
anfang in Pommern [und] wie auch in der Newmarck nachmahl gleichfalls in dem
• • • •
HerzogthumPreussen wohin die Tarlaren [selbst] von ihnen [hinein] geführet wor-
den gemachet und alle crudeliläten exerciret [wurde] auch von letzten viele Aecker
■ •••••• • • •
leute gefesselt in die Dienstbarkeit weggefuhret wurden. Was konnte S. Churfl.
Durchl. nun anders thun alss umb sich und Dero von Gott anvertraute lande
wie auch mithin das Rom. Reich von Gefahr und desolation zu befreyen, dieje-
nigen Mittel die dazu übrig zur Hand zu nehmen, und der Königl. Maj. zu
Schweden wie zu Marienburg und Labiau geschähe sich naher zu setzen die
Waffen darauff wirklich zu conjugiren und mittelst derselben sonderlich aber
durch des Allerhöchsten Reistand dahin zu trachten wie ein beständiger repu-
tirlicher Friede wieder herbeygebracht werden mochte.
S. Churf. Durchl. brachen dan auch aus Königsberg den A^~rv auf, kamen
bey Dero Armee welche vorangegangen wahr, diesseit Schrinck den 4ten Juli
und conjungirten sich ferner mit der Königl. Schwedischen den 47ten ejusd. ge-
gen Abend bei Sacrozin und wurde von beyden Seiten darauff resolvirt den
Abend und die gantze Nacht auch den folgenden 48/28. Juli die Armee über den
Fluss den Rugh genannt bei Nowodwor filiren und auf das Städtlein Präge so
an der Weichssel gleich gegen die Königl. Polnische Residenz Warschau [über]
lieget gehen zu lassen , in der intention [zu trachten] sich zu bemühen ob der
ohnweit daselbst stehenden lithauischen Armee eins beygebracht oder da [sol-
ches nicht möglich und] dieselbe sich retiriren [dorffle] sollte, ob die Brücke bei
Warschau ruinirt und wan man Über den Bugh zurückgegangen ob man bei
Sacrozin über die Weichsselbrücke komen und dann füglich mit dem Feinde
anbinden könte. [Es hatte aber eben solchen 4 S/28. Juli derselbe] Das Feldzei-
chen wurde gegeben Stroh auff dem Huth und zum Worthe Gott mit uns und
avancirte man dergestalt längst der Weichssel auf den Feind, das Ih. K. Maj. zu
Schweden den rechten Ihr. Churf. Durchl. aber und Dero Generalität das corps *
de bataille und den linken Flügel commandirte : Des Feindes Yortruppen prae-
sentirten sich für denselben zwischen dem Wald und der Weichssel welche
[biss] so bald [durch die Schweden] biss an Dero retranchement poussirt wur-
\) Die in [ ] gesetzten Stellen sind im Concept ausgestrichen, die mit untergesetzten
Punkten bezeichneten zwischen die Zeilen geschrieben.
435] Die Schlacht von Warschau. 1656. 479
den. Folgenden Tages sehr frühe recognoscirte Ihr. K. Maj. und S. Churf.
Durchl. das Lager und befunden dasselbe dergestalt beschaffen , dass der Feind
darinne nicht anzugreiffen stunde und [funden] hingegen wol zu sein wen man
denselben zur linken [Hand angriffe und] Hand [ankähme] suchte anzukommen
zu dem Ende auch eine kleine colline [welche] nächst dem Walde [gelegen] sich
zu bemächtigen, welches S. Churf. Durchl. mit einer ungemeinen intrepidät zu
Werk so alsbald richteten nnd die darauff stehenden Polen nicht allein herunter
jageten, sondern als der Feind darauff seine force zur rechten Hand zöge und in
die Churf. Flanque [zu] gehen wollte, denselben zurück trieben. Die allyrte
bataille wurde darauf geändert und ging Ihre K. Maj. mit Dero Infanterie und
Cavallerie hinten umb den Churf. Flügel durch den Wald und postirlen sich
gleichfalls auff das flache Feld, die lincke Hand und den lincken Flügel nunmehr
führend, welches als es die polnische Armee vermerckete aus den retranche-
ments gingen und in guter Ordnung auf die Allyrten advancirten, darüber man
ins Gefecht geriethe und obwol von den Husaren und Reuterey mit erschreck-
lichem Geschrey ein furioser Anfall geschähe, die Tartarn auch entzwischeu
wiewohl aber vergebens sucheten den Allyrten in den Rücken [inzwischen]
zu gehen, wurden selbte doch zurück getrieben das sie in einer ziemlich confu-
sen retirade ihr Heil suchen mussten.
Man postirtesich darauff gegen die Nacht kurtz vor dem feindlichen Lager
und als der Sontag angebrochen beschlösse man den Feind aus einem ihm zur
rechten Hand gelegenen sehr vorteilhaften Walde zu bringen und wurde die
Verrichtung dessen dem Churf. Brandenburgschen Gen. Feld Zeugmeister Sparr
aufgetragen, welcher vorher hefftig in den Wald canonirte darauf mit der Ghurfl.
Infanterie und 5 esquadrons Reuther hineindrängte [welchem] und dahin
• • • • • •
S. Churf. Durchl. in eigner Person mit 6 andern esquadronen [demselben] zur
rechten Seithe [sobald] folgete und vigoureusement die darauf befindliche pol-
nische Reuterei herunter jagete. [Der feindliche]. Sr. Churf. Durchl. waren
Willens hierauff in die feindliche Infanterie als welche ihre Stücke bereits ver-
lassen und sich zurückgezogen zu dringen, Ihre K. Maj. Herr Bruder aber diver-
lirte sie davon und [bekamen] erlangten jene seihten also [dieselben dergestalt]
Zeit sich über einen Morast [worinnen] da sie [gleich wol] nicht wohl verfolget
werden kOndten und worinnen viele der Ihrigen nebst den Pferden umbkamen
zu ziehen. Als nun darauff des Feindes linker Flügel durch S. Churf. Durchl.
angegriffen und über hauffen geworfeb worden und wie obgemeldt die feind-
• • •
liehe Infanterie die Stücke Bagage und das Lager verlassen , wollte der feind-
...
liehe rechte Flügel welchen Ihr. Maj. in Schweden gegen sich hatte, keine son-
derliche resistenz mehr tbun , retirirten sich gleichfalls und ob man wol den-
selben immer verfolgete flöhe er doch so starck und zündeten [und ruinirtenj
alles hinter sich an , das wegen abgematteter Pferde und da in dieser dreitägi-
gen aelion die König]. Schwedischen und Churbrandenburgischen Völcker bey
einer sehr grossen Hitze fast nichts genossen hatten, [dass endlich] man zurück-
bleiben musste. Worauff sich Montags früh die Kttnigl. Polnische Residenz
480 Joh. Güst. Droysbn, [436
Warscbaw so von ^polnischer Garnison verlassen worden den Allyrten devote
ergab und von denselben wieder besetzt wurde, Sr. Ghurf. Durch!, aber be-
gaben sich höchst vergnügtt und dankbahr gegen die göttliche Maylt. dass der-
selbige durch so wenige Kräffte [und] indem [wurde] die Ktfnigl. [Polnische]
arm£e nur in 9000 die GhurfUrstliche aber in 8490 Mann gestanden und gegen
eine Macht welche anfangs 420000 Mann Jetzt aber dero eigenem Geständniss
nach 84000 [Mann stark] Combattanten starck gewesen, so grosse und herrliche
Dinge aussrichten wollen, zurück und langeten den 19ten Aug. in Soldaw, den
23sten desselben aber wiederumb in der Residenz zu Königsberg an.
Hierauf nunfward Polen des Kriegess et sequentia.
Beilage 9.
Schreiben des Geheimen Rathes Jena an den Churfürsten.
Cöln a/S. 1 8. Spt. 1 672.
Ew. Churfl. Durchl. haben mir gnädigst befohlen eine Relation von dem
Treffen, welches nunmehro länger dann vor 46 Jahren bei Präge jenseits der
Weichsel gehalten worden aufzusetzen und unterthänigst einzuschicken. Nun
bin ich schuldig zu thun, thue es auch willig und gerne was mir gnadigst an-
befohlen wird und von mir verrichtet werden kann. Dieweilen aber zu einer
dergleichen Erzählung erfordert wird, das derjenige, welcher sie aufsetzen soll
eigentlich und punctuell wisse wie und wo die Regimenter Brigaden Esquadro-
nen und Stücke gestanden , wie sie getroffen und mit was für Effect absonder-
lich was Ew. Churf. Armee und Stücke ausgerichtet, was Vormittage was nach-
mittage geschehen und ich von diesem allen weder Wissenschaft habe noch
auch das allergeringste hievon im Archivo zu finden Uberdem welcher solchen
Aufsatz macht die Kriegsactionen und die rechten terminos wissen muss woran
es mir wie bekannt ermangelt, so werden Ew. Churfl. Durchl. wohl von selbst
gnädigst ermessen, das es mir unmöglich fällt einen Bericht wie denselben Ew.
Ghurf. Durchl. begehren, zu verfertigen. Es hat mir aber Ew. Ghurf. Durchl.
Secretarius Hartmann beikommende gedruckte relation zugestellet, welche zwar
wegen des Marsches und der communication beider Armeen und was etwa den
Freitag dabei, ehe die Kanonen durch den Bruch kamen, fürging, meines Erach-
tens nach wohl recht eingerichtet. Ob aber dieselbige dasjenige, was hernachmals
noch des Freitags Abends und hernach bis auf den Sonntag, da die Bataglie ein
Ende hatte vorgelauffen und sich in den Acten selbst begeben, eigentlich an sich
habe und von Ew. Churf. Durch, und derselbigen Armee dasjenige setzen was zu
setzen, daran muss ich fast zweifeln. Denn als Ew. Ghurf. Durch, den Sontag1 die
Polen von dem Hügel jageten, da habe ich weil ich dabey war gesehen, dass Ew.
Ghurf. Durch, auch Stücke bekamen, davon stehet in der relation nicht. Ferner
4) Schreibfehler statt Sonnabend.
437] Dm Schlacht von Warschau. 1656. 481
wird gesagt Ew. Churf. Durchl. hätten mit dem Pussvolk accordiren wollen, dassel-
bige aber wäre unter dem Accord über die Brücke gegangen ; ich habe aber dazu-
mal gehört, was zwischen Ew. Churf. Durch, und des Königs Bruder geredet ward
und dass, wenn es von diesem nicht divertiret, die Fussvölcker wohl Ew. Churf.
Durch, gewesen und nicht über die Brücke gehen können. Dann so habe ich
den Sonnabend gesehen, das als die Hussaren auf das anhaltische Regiment
treffen wollen, zuvorhero von Ew. Churf. Durch. Guarde zu Fuss mit einer
stattlichen Musquetade empfangen worden , davon schweigt die Relation auch.
So wird auch nicht gemeldet, dass als am Sonnabend nach mittag die Bataglie
zu endern, das dieselbige enderung mit grosser Conduite von dem Herrn Feld-
marschall Sparren sei. dergestalt gemachet, das ich selbst von theils hoben
schwedischen Befehl ig thabern mit dem grössten Ruhm davon sprechen hören.
Und da Herr Feldmarschall Sparre den Sontag das polnische Fussvolck aus dem
Busch jagte da hatte er nur Ew. Churf. Durchl. Fussvölker und that der dama-
lige Obristleutnant Moll mit des Herrn Feldmarscball Regiment den ersten An-
griff gehrauchte auch nun Ew. Churf. Durchl. Stücke. In der Relation aber
stehet nur in gemein das es mit derlnfanterie und 200 commandirten geschehen.
Und was dergleichen mehr. Wenn nun Ew. Churf. Durchl. gnädigst gefallen
möchte durch einen kriegserfahrenen und welcher bei der Aclion gewesen und
alles was soldatisch verstünde, durchsehen und an allen Orten zurecht einrich-
ten liesse, welches doch, wenn die bataglie in Kupfer gebracht werden soll,
ohne dem nöthig, so würde diese beykommende relation wol zu gebrauchen
sein. Es ist ja gesetzet, als wenn der König alles gethan gerathen verrichtet etc.
Sonst, gnädigster Churfürst und Herr, muss ich unterthänigst berichten, dass
so lang ich die Gnade gehabt in Ew. Cburf. Durchl. Diensten zu sein, alles
was Merian in seinem Theatrum Europ. und sonst von Ew. Churf. Durchl. und
Dero acliones drucken lassen, durchaus partheyisch und alles was er Ew. Churf.
Durchl. und deroselben Soldatesque beylegen sollen, derselbigen entgegen oder
doch alles corrumpiret. Womit Ewer Churfürstlichen Durchmächtigkeit in den
Schutz Gottes trewlich empfehle und alle Zeit verbleibe
Durchlauchtigster Gnädigster Churfürst und Herr
Ewer Churfürstlichen Durchlauchtigkeit
Cöln an der Spree untertänigster verpflichteter
den 48. Sept. 4672. trewer Diener
Friedrich von Jena.
482 Jon. Gust. Dboysen, 138]
Beilage 10.
Verzeichniss der schwedischen und brandenburgischen Truppen.
I. Die schwedische Armee.
1 . Cavallerte.
1 . Leibregiment des Königs.
2. Leibregiment der Königin.
3. Reg. Upland unter Obrist Plauling 2 Esc.
4. Reg. Smalaod 2 Esc.
5. Reg. Ostrogotben 2 Esc.
6. Reg. Prior Adolph Johann von Pfalz Zweibrücken,
7. Reg. Obrist Taube.
8. Reg. Fürst Radzivil.1
9. Reg. Finnland unter Obrist Fabian Berend 2 Esc.
10. Reg. Graf Wittenberg.
41. Reg. Markgraf Carl Magnus von Baden.
42. Reg. Obrist Sinclair.
13. Reg. Obrist Hammerschild.
14. Reg. Obrist Aschenberg.
15. Reg. Obrist Breitlach.
46. Reg. Obrist Freiherr v. Hörn.
47. Reg. Graf Königsmark 3 Esc.
48. Reg. Obrist Yxkull.
19. Reg. Obrist Rose,2 2 Esc.
20. Reg. Obrist Sadowsky 3 Esc.
24 . Reg. Obrist Bötticher.
22. Reg. Obrist Israel_Ridderhielm.
23. Reg. Feldmarschall Wrangel.
24. Reg. Westrogothen8 2 Esc.
2. Dragoner.
4. Reg. Prinz Philipp von Pfalz Sulzbach.
3. Infanterie.
1. Reg. Südermanland.
2. Reg. Westgothen.
3. Reg. Smaland.
4. Reg. Upland.
5. Reg. Narn.
6. Regina. Helsing.
4) Bei Memnierftals Dragoner angeführt. 8) Bei Memmcrt Reg. des Herzogs von Mek-
lenburg. 8) Bei Memmert Reg Krause.
439] Die Schlacht von Warschau. 1656. 483
II. Die brandenburgische Armee.
4 Cavallerie.
4 . Reg. Churfürsten Leibgarde zu Pferde 5 Esc. '
2. Reg. Graf Friedrich v. Waldeck Generalleutnant 5 Esc. *
3. Reg. Gen. -Wachtmeister Kanneberg 3 Esc.
4. Reg. Obrist Eilern 3 Esc.
5. Reg. Obrist Schoneich 2 Esc.
6. Reg. Obrist Leschwang.
7. Reg. Herzog v. Weimar 2 Esc.
8. Reg. Obrist Brunei 1.
9. Reg. Gen. -Major Graf Josias v. Waldeck 2 Esc.
2. Dragoner.
4 . Reg. Generalleutnant Graf Friedrich v. Waldeck 2 Esc.
2. Reg. Obrist Canitz 2 Esc.
3. Reg. Obrist Kalkstein.
3. Infanterie.
4 . Reg. Churfürsten Garde zu Fuss.
2. Reg. Gen. -Feldzeugmeister Sparr 2 Brig.
3. Reg. Gen. -Major Goltz 2 Brig.
4. Reg. Gen. -Major Graf Josias v. Waldeck 2 Brig.
5. Reg. Obrist Syburg 2 Brig.
Ordre de bataille
29sten Juli.
Linker Flügel. König Karl Gustav.
Generalissimus. Prinz Adolph Johann von Pfalz Zweibrücken.
Cavallerie. Feldmarschall Leutnant Douglas.
Erstes Treffen. Gen.-Leutnant Pfalzgraf Philipp von Sulzbacb.
4 Esc. Sulzbach Dragoner.
4 Esc. Königs Leibregiment.
4 Esc. Königin Leibregiment.
2 Esc. Upland.
2 Esc. Smaland.
2 Esc. Ostrogothen.
4 Esc. Pfalz Zweibrück.
4 Esc. Taube.
2 Esc. Gen.-Maj. Graf Josias Waideck.
Zweites Treffen. Markgraf Carl Magnus von Baden.
4 Esc. Fürst Radzivil.
2 Esc. Berends Finnen.
4 Esc. Wittenberg.
\) Nach Memmert 3 Esc. J) Nach Memmert 4 Esc.
484 Joh. Gust. Droysen, 4 40 j
4 Esc. Markgraf zu Baden.
4 Esc. Sinclair.
4 Esc. liammerschild.
4 Esc. Aschenberg.
4 Esc. Breitlach.
Drittes Treffen. Gen. -Major Hon).
4 Esc. Hörn.
3 Esc. Graf Königsmark.
4 Esc. Yxkuil.
2 Esc. Rose.
4 Esc. Sadowsky.
' Infanterie. Gen. -Major Bülow.
4 Brigade ....
4 Brigade ....
4 Brigade ....
Artillerie. Gustav Oxenstjerna.
Gros de bataille (Centrum) unter Wrangel (?).
Erstes Treffen. Gen.-Feldzeugmeister Sparr.
1 Brig. Goltz.
4 Brig. Josias v. Waldeck.
\ Brig. Sparr.
Zweites Treffen. Gen.-Maj. Graf Josias Waldeck.
1 Brig. Jos. Waldeck.
4 Brig. Syburg.
4 Brig. Syburg.
Rechter Flügel. Churfürst Friedrich Wilhelm.
Feldmarschall Wrangel.
Cavallerie. Gen. -Leutnant der Cavall. Graf Friedrich v. Waldeck.
Erstes Treffen. Gen. -Major Kannenberg.
5 Esc. Churfürst Leibgarde zu Pferd.
5 Esc. Gen.-Leut. Graf Waldeck.
3 Esc. Gen.-M. Kannenberg.
Zweites Treffen. Gen. -Major Graf Tott.
r
2 Esc. Canitz Dragoner.
2 Esc. Westgothen.
4 Esc. Wrangel.
4 Esc. Israel Ridderhielm.
i 4 Esc. BOtticher.
| 2 Esc. Fr. Waldeck Dragoner.
i Drittes Treffen
4 Esc. Kalkstein Dragoner.
3 Esc. Eller.
| 2 Esc. Herzog v. Weimar.
141} Die Schlacht von Warschau. 1656. 485
4 Esc. Leschwang.
2 Esc. Schoneich.
4 Esc. BrUnell.
Infanterie unter Gen .-Major Goltz.
4 Brig. Leibgarde zu Fuss.
4 Brig. Span*.
4 Brig. Goltz.
Artillerie. Gen. -Feldzeugmeister Sparr.
Beilage 11.
Danziger Berichte.
Durch gütige Yermittelung des Herrn Professor Hirsch in Danzig bin ich in
den Stand gesetzt nachträglich noch ein Actenstück zur Aufklärung der Schlacht
von Warschau mitzutheilen. Auf seinen Antrag hat der Magistrat der Sladt
Danzig die überaus grosse Gefälligkeit gehabt, mir ein Actenheft aus dem städti-
schen Archiv nach Berlin zu senden, das für die von mir behandelten Dinge
vielfache Aufklärung giebt.
Das Actenheft führt den alten Titel Gregorii Barckmanni Secretarii civitatis
Residentis in aula Regia tempore belli Suecici. Es beginnt mit einem Schreiben
Barckmanns aus Warschau vom 46. Juli 4655 und umfasst dessen Correspon-
denzen und Zusendungen an die Stadt bis zum Februar 4657, kurz vor dem
Einzug des Königs in Danzig.
Seine Briefe sind um so lehrreicher, da er, fast unausgesetzt in der Umge-
bung des Königs, namentlich seit dem schnöden Abfall des polnischen Adels
das Vertrauen des Königs, das er als Resident der treugebliebenen Stadt ver-
diente, in hohem Maass genoss. Er wohnte häußg den vertraulichen Sitzungen
der Räthe des Königs bei und in den schlimmsten Tagen, denen nach der War-
schauer Niederlage, suchte der König seinen Rath.
Aus den Schreiben Barckmanns während der letzten Wochen vor der
Schlacht ergeben sich manche für unsere Aufgabe wichtige Punkte.
Namentlich geben sie ein anschauliches Bild von dem Anschwellen der
polnischen Kriegsmacht und von der in gleichem Maass wachsenden Siegesge-
wissheit; wiederhohlentlich lässt der König den Danzigern sagen, dass er in
Kurzem kommen und auch ihre Stadt entsetzen werde.
Ich lasse zunächst einige Auszüge aus den Briefen vor der Schlacht folgen.
Der König war am 30. Mai bei Warschau, das bereits von der litlhauischen
Armee belagert wurde, angekommen und hatte in der Nähe der Stadt in Jasdowa
Residenz genommen. Von dort schreibt Barckmann am 6. Juni1
. . . »Wegen der Tartaren haben wir seit dess Legaten Mehmet Ali Mursa,
der nebenst Jan Romasskowic von hiesigem Hofe ab ad Electorem gegangen zur
1} Nicht am 46. Juni, wie von späterer Hand corrigirt ist.
486 Job. Gust. Dkotsbh, 4*2]
fidelität I. Ch. D. anzumahnen, keine Nachricht gehabt. . . . Ein grosses fewer
liegt noch in der a sehen, die Schweden kratzen nur nit zu viel, ess kann ihnen
noch heiss genug dabei werden .... Seren. Elector soll seine Völker auch
zusammengezogen haben, aber verboten nichts feindliches wider Pohten zu
tentiren, welches auch Gen. Ranneberg an den Woywood. Ploczky durch ein
eignes Schreiben deutlich zu verstehen giebt und dass er ordre habe ab Electore
empfangen die Völcker über die Preusche grenze nit gehn zu lassen. . . . Zulan-
gend unsern Zug unter Warschau sind wir den 30. Mai mehr denn 4©0/m Seelen
zu Prag an der andern Seite gestanden und den tag hernach ohne einiges Hin-
derniss über die Weissei gegangen und zu der littawschen Armee die allbereit
12/ra stark in der dritten Woche die Stadt herumb blocquiret gestossen. Von
deutschen zusammengebrachten Fussvöikern etwa 5/m Mann bestehet die Infan-
terie, bey denen finden sich unter ihren Führern und Fahnen unzehlige arme
Edelleute mit allerhand Schussgewehren mit haken schauflen und spiessen.
Nach ihnen etzliche tausend unter ihren fübrern und fahnen Pawern mit sen-
sen. Zu Boss sint bei zwanzigtausend wohl mundirte Quarciani und viel tausend
Pospolite Russenia, die sich noch von tag zu tag wie die Bienen vermehren
und an den wassern liegen. In summa es mangelt nichts nächst der gnade Got-
tes als an guter resolution und guter anführung. «
44. Juni*. . . . »die Beylage der tartari sehen sreiben habe auss dem Origi-
nal copirt und ist der Abgesandte «per posto zurückgegangen umb zu avisiren
die grosse macht welche Serenissimus allhier bey einander hat und effective
Regestrowick ludzie zum schlagen 70/m gerechnet werden. Die Ilolota hat alle-
zeit das Allarm gefordert sie wollen stürmen, also haben Seren, den 8ten ihren
willen ihnen gelassen, seint demnach ein paar tausend von allen seiten angelau-
fen mit leitern und blossen achschen sensen und spiessen u. s. w.«c
45. Juni .... »Unsere armee betreffend ist nach eingekommenen beriebt,
das der feind im antzug, der littawsche Feldherr Saphiea effective 42/m Mann
stark und mit dem königlichen Leibregiment Dragoner Über die Weissei dem
feind entgegen gangen, sich mit Czarnecki, der auf 30/m M. gerechnet wird
zu conjungiren. Der Herr Krön Marschalk ist aber hieher unter die Stadt gerückt
auch an 30/m stark, welche insgesamt towarsistwo sind. Die Pospolita Russenia
wird a parte gerechnet, so auch allhier theils unter Jasdowa und auf der andern
Seite der Weissei lieget, in die 30 tausend bestehend. Die Feldherrn haben
dan auch noch absonderlieh ihre Pulte ; ein jeder ist resolvirt zu fechten auf
das euserste. Der Fussvölker drey Regimenter liegen umb der Stadt herumb und
aprochiren von tage zu tage ; sobald als immer das grobe Geschütz folget wel -
ches Herr Samoisky nachbringet und schon unterwegess ist können wir wills
Gott mit Warschaw fertig werden .... der feind lieget bei Pulkowka und hat
wollen über den Bug gehen, die unserigen haben ihn aber gewehret . . . . «
24. Juni .... »man ist vor zwey drey tagen mit der hälfte der Armee biss
unter Bialenko und an den Bug gerückt woselbst bei Nowidwor der feind sich
schon angefangen überzumachen .... nachdem er kundschafl eingezogen von
unsrer grossen macht, ihm auch bald drey fahnen aufgeklopft worden, bleibt er
143] Die Schlacht von Warschau. 1656. 487
stehen und sucht von der andern seite Warscbaw zu seeuadrren . . . der Herr
Samoisky komt heut oder morgen gewiss an mit etzlich tausend M» Infanterie
und etzlichen grossen geschtttzen. Zur bataille können wir taglich über die
80/m auffuhren und die lager bleiben doeh voll bewehrter Manschaft . . . . •
VonjiemseLben Tage »unsere Armee bestehet unter folgenden Generals-
personen. Unter den beyden Cronfeldherren 20yta towaizistwo same. Unter dem
litlawschen Feldberrn Saphiea 19/m towarzistwo. Unter Herrn Czernecky tö/m
Unter Herrn Cron Marschalk 20/m. Und die unzehlige Pospolita Ruszenia, die
noch von tag zusammenziehen. Diese haben sich nun vertbetlt auf beide Seiten
der Weissei und sind gut resolvirt zu schlagen. Die deutschen Regimenter liegen
umb die Stadt herumb . . . . a
Dass die schwedische Armee nur vier Meilen von Warschau entfernt durch*
aus nichts zu thun vermochte, um ihre eingeschlossenen Truppen und die vielen
hohen Officiere, die sich dort befanden zu entsetzen, wurde polnischer Serts als
ein Zeichen ihrer völligen Entmuthigung und Ohnmacht angesehen. Am $9. Juni
schreibt Barckraann, der König habe ihm aufgetragen dein Hath von Danzig zu
schreiben »dass sobald man hier mit Warschaw richtig worden, welches den»
nunmehr etzliche tage nit kan anstehen, so solle die ganze Arnräe herunter gehn
und suceurs der Stadt mit aller macht suppeditirt werden. Ess wäre auch von
stunden an ein corpo formiret und schleunigst herunter commandirt worden,
weil aber der feind mit setner Hauptärmee gegen uns anmarchiret, bat man
unsre Armee zu trennen vor gewisser habender Kundschaft, wie stark der
feind, nit für rathsamb befunden ..... der feind verachtet uns zwar und unsre
waffen , man weiss aber das vormals die ganze weit mit lanzen und spiess be-
kriegt ist, die schwedischen röhre versagen auch und treffen nit allzeit das Ziel,
zudem mangelt es uns daran auch nit Ueber tausend Pferde hat ifcm
schon alibereit, die auf dem Grase gegangen, der Herr Schonberg, auescomtnan«-
dirt mit 30 fahnen, gestern auch jenseits des Bug, woselbsten die ganze schwe-
dische Armee stille steht, 40/m gerechnet in allem, wiewol andre nit 6/m an-
schlagen, mit vortel nebenst 60 gefangenen weggenommen ; und wie ihm etliche
cornet naohgesetzet, hat er sie biss in ihr lager repoussirt .... Die littawscbe
Armee der Herr Czarnecky und der Cron Marsebai k liegen bey Nowidwor ....
Unsre Armee besteht in 48/m littawsche Völker eitel gutte geübte quarcianer.
Die Cron Armee auf die 50/m. Andere Wolinsche, Podiasche, Reusche powiaten !
nit weniger auch gutte Soldaten 20/m. Da reebne man nun mit was die Knechte
sind die auch alle bewehrt zu pferde sitzen und noch eins solche zahl machen
wie dieser alle ist. Zu dem kommen folgends die drey deutschen Regimenter
zu Fuss , Obr. Buttler Generals Artillerie , Obr. Grodhausen und Obr. ßoefaun
Dragoner das vierdte, alle über tausend mann stark. Etzliche Regimenter Hey-
ducken bey jedwedem herren , die auch immer zusammengestellt werden, und
ein ziemlich stark corpus praesentiren. Endlich so viel tausend arme Edelleule
und landvolk mit unterschiedenen handgewehr und sensen. Zu welchen jetzt
4) Distiicte.
488 Joh. Gi st. Dbotsbn, 4M]
aufs newe anzurechnen die Tartaren, die nun gewiss alle tage erwartet werden«
Auss welchem allen unsere Verfassung kan gesehen werden dass sie so schlecht
nicht ist .... Der herr Schonberg ist etwa mit 4/m Pferden Tartaren und
Walachen auf der Seite da der feind ist ... •
Am 4. Juli meldet Barckmann, dass der Tartarenchan 20/ro Tartaren habe
aufbrechen lassen, die schon vor 8 Tagen bei Urcia vorbei gewesen; »von hier
ist ihnen entgegen gangen der Star. Koronny Jaskolsky umb sie zu führen nach
der Preussschen Grenze weil Elector sein volk zusammenzieht und die Ursache
man nit weiss. Man rechnet hier effective podpisane woisko 80/m und noch
einss so viel Holotta, die auch wie bey dieser ocasion wohl zu gebrauchen
sind . . . . a
Allerdings hatten sie bei der endlichen Capitulation Warschaus (am 4 . Juli)
sich eben so bemerklieb gemacht, wie die Quartianer und die Pospolita Russenia.
Die kleine schwedische Besatzung hatle in der Capitulation freien Abzug bewil-
ligt erhalten , aber die Quartianer und die Posp. Russ. forderten dass wenig-
stens die sBmmtlichen höheren Ofßciere kriegsgefangen gehalten würden, worauf
man that, wie sie wünschten. Auch das »Gesinde« erhob seine Stimme »wass
für eine furie unter dem volk ist kann nit ausgesprochen werden ; wie man
aecordirt hat, hat die Holotta keinessweges bewiligen wollen ; endlich ist der
Herr Unterfeldherr sie zu stillen hergeritten, man hat ihm aber das Pferd unter
dem leib geschossen und mit einem zügelstein einss versetzt ; und wie sie sich
noch stillen lassen, sind sie mit der furie auf den bazar gelaufen und haben die
armen Armenianer geplündert.« So meldet Barckmann am 3. Juli. Zugleich
meldet er das Herannahen der Tartaren : »20/m stark, allein an Bojaren.«
Am 45. Jul. » . . . Gestern ist General Podpis gewesen und hat sich die
Armee zu felde praesentirt, machen eine fronte von der Weissei an biss an
Jasdowa und werden über 4000 Standarten gezählet, fussvolk und Dragoner,
gutte alte volker ist bey 5/m Mann , haben bey sich 30 mehren tbeils grob ge-
schütz. keines unter 42 Pfd Elector hat durch ein Schreiben zu ver-
stehen gegeben die Ursach warumb er sich mit den Sweden conjungiren müssen
und aretius verbinden ; Man will aber solchem schreiben noch nit trauen, dass
er es serio meinen solte , wie denn auch noch die gestrigen gefangenen ausge-
sagt , dass der meisten meynung ist, er werde seine Völker über die grenze nit
lassen gehn «
Nach diesen Berichten erscheint die Masse der polnischen Armee ungleich
grosser als in irgend einer bisher bekannten Angabe ; und wenigstens die Trup-
pentheile, die als »registrirte Leute« (regestrowick ludzie) als »unterschriebener
Herr« (podpisane woisko) bezeichnet werden, müssen im königlichen Haupt-
quartier dafür gegolten haben in solcher Zahl im Felde zu stehen. Was die to-
warzistwo (vereint) betrifft, theilt mir Herr Dr. Strehlke Folgendes aus Bandt-
kie II. 4 483 mit: »Towarzyz heisst ein jeder Edelmann, der als blosser Edel-
mann ohne Rang beim allgemeinen Aufgebot zu Felde dient und gewöhnlich
4—5 Knechte (Pacholken) bei sich hat. Dann aber heissen Towarzyz auch die
für immer bei der Nationalcavallerie dienenden , deren jeder einen Szeregowy
r X
T -
» i -
445] Die Schlacht von Warschau. 1656. 489
«
(Gemeinen) unter sich hat , der für ihn Wachtdienste u. s. w. thut , aber auch
in Reih und Glied ficht. Ein solcher Towarzyz przytomny erhält für sich, seinen
Szeregowy und zwei Pferde jährlich 4200 fl. «
Die Angabe, dass das Heer der Tartaren allein 20,000 Herren (Bojaren)
zählt, rechtfertigt die anderweitige Ueberlieferung , dass die Gesammtmasse
dieses Hülfsheeres unter Supan Kazi Aga die doppelte und vielleicht dreifache
Zahl betragen haben mag,, Es ist beachtenswert, dass Schonberg sobon vor
ihrer Ankunft (s. Bericht vom 29. Juni) mit Tartaren und Walacben ausrücken
konnte. Endlich ist in Betreff des Pussvolks noch eine Schwierigkeit zu bemer-
ken. Bereits am 4 7. Febr. 4 656 bat Barckmann aus Lemberg geschrieben : »Hier
werden die alten Regimenter completirt General Grodsicky seins, Obr. Gwtfrau«-
r --__ sens, Obr. Buttlers, Obr. Bockens und mangelt gar nit an guter praeparation.«
Ess cheint dass Gen, Grodsicky das König). Leibregiment|Dragoner führte ; warum
aber in dem Bericht vom 29. Juni gesagt ist »Obr. Buttler Generals Artillerie«
weiss ich nicht; denn dass er die Artillerie commandirt haben sollte, ist nicht
zu vermutben.
Um die Mitte Juli würde nach Barckropnns Berichten die polnische Armee
folgende Bestandteile gehabt haben.
4. 42,000 M. Litthauer towarzistwo Quartianer unter dem Grossfeldherrn
(Hetman Litt. Wielei) PaulSapieha Woywoden von Wilna,
Unterfeldherr Vincenz Gonsiewsky Unterscbatzmeister (Podskarbi
Litewscki).
2. 20,000 H. ' towarzistwo unter den beiden Kronfeldherren , dem Krön-
grossfeldherm (Hetman Poini Wielei) Stanislaus Potocky Woy-
woden vonKrakau, und dem Kronfeldherrn (Hetman Poini) Stanis-
laus Lanokoronsky.
3. 20,000 M.1 unter C zarneck y.
4. 20,000 M.8 towarzistwo unter dem Krongrossmarscball (Harschalk
wieici koronny)^ Georg Lubomirsky* (Diese Corps 2. 3. 4 nennt
e'^i: J der Bericht vom 29. Juni die Cronarmee und giebt ihr 50,000 M.)
P™'- 5. 20,000 M. gute Soldaten aus den Volhynischen , Podiachischen, Russin
inm,> sehen Kreisen.
ko»>" 6. Die Pulke der einzelnen Herren (HeyduckeoreguneBter).
' F&: 7. Die Pospeüte Ruszenie.
8. Das Gesinde (Holotta) 80,000 (Bericht 4 Juli).
<•:- 9. 20,000 Tartariscbe Bojaren nebst ihren Knechten.
40. Das Königliche Leibregiment Dragoner (unter Gen, Grodsicky?).
44. 3000 H. Deutsche unter den Obersten Grodhausen Buttler und Beckum.
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4) towarzistwo same, »selbst Tow.« heissen sie im Bericht vom 14. Juni, vielleicht am
anzadeutea , dass ihre szeregowy nicht mitgezahlt werden. •) 8o in dem Bericht vom
14 . Juni ; in dem vom 4 5. Juni hat Czaroecky 30,000 M ., da aber wird Potocky noch nicht er-
wähnt, der wohl erst spttter herangekommen ist. Ob auch diese 80,000 in dem Bericht vom
45. Juni als Towarzyz bezeichnet sind, ist unklar. «) In dem.. Bericht vom 45. Juni
M,000 Bf. ; die obige Summe nach da» Beriebt vom 84. Juni.
AbhftodL d. K. 8. Gm. d. Wi». X. 38
490 Joh. GüST. DfiOYSEN, <*6]
Für die Schlacht war diese ganze Masse nicht mehr beisammen, namentlich
die Grosspolen waren nach Hause gegangen, wie Barckmann in dem gleich mit-
zutheilenden Brief vom 4. August berichtet.
Von Interesse ist sein Schreiben aus Warschau vom 28. Juli, das spät ge-
nug geschlossen ist um noch von dem begonnenen Kampf jenseits der Weichsel
zu berichten. »Der Feind, a schreibt Barckmann etwa in der Mittagsstunde,
»campirt noch auf seinem alten Orte; die churfürstliche Armee steht noch drey
meilen von ihm bei Plonsko und sagt man dass er wegen der anklebenden sucht
seine Völker nicht conjungiren will; brod bier und fourege fällt ihm sehr
schwer, werden bald auch die Kanonen müssen mitnehmen Gras zu hohlen.
Der littawsche Unterfcldherr ausscommandirt mit etwa 3/m Pferden hat ihnen
bei Pullowka dieser tage bei 500 Klepper abgenommen , partiret frisch um sie
herumb Unsere Armee ist mehren theils worüber man sich lange nicht
einigen können, über die Weissei gefahren und heut gangen, auch Serenissimus
in perschon. Der Herr Gzarnecki mit einem gut formirten corpo bleibet auf die-
ser seite (Chiffer : etwa vier bis fünf tausend stark) ; den nunmehr meine viel-
fältigen promessen von den Tartaren sich verificirt haben dass sie sich anch ge-
stellet und stehen an dem Bug drey meilen von den Unsrigen. Gestern kam der
Supan Kazi Aga über der Weissei nebst wenigen, ist eine starke manliche Per-
schon breit von schultern schwarzbraun von gesiebt u. s. w. « folgt die ausführ-
liche Beschreibung der Audienz. » . . . . Mr.cTOmbre legatus GalHae negotitrt ob
wir wohl die französische mediation aeeeptiren, sagt im Übrigen, er habe seine
völlige Instruction noch nicht. Hat zur Antwort bekommen : paeem a Suecis tum
petimus, sed nee rejicimus , und aeeeptiren dazu wo es so sein sollte Imperato-
ren*, Regem suum tum exeludendo, Hollandos et Regem Daniae Jetzt eben
um sieben uhr wird aliarm auf iener seite gemacht und höre ein starkes schies-
sen; hat gewähret bis zu halb zehn. Der feind soll über den Bug gangen sein
und will mit macht schlagen , soll mit den unseligen auf eine viertel meile von
einander sein. Gott gebe gut glück. Hoffe morgen nit weit davon zu sein. P. S.
Die Nacht ist jetzt so finster dass man auch nicht einen einsigen Stern er-
siebet. «
Die verhängnissvolle Schlacht warf auch Barckmann in den wilden Strudel
der Flüchtenden, und erst nach mehreren Tagen und nach mancher Gefahr fand
er das Hoflager des Königs wieder. Sein nächster Bericht ist aus Lancut
4 \ . August.
Die Darstellung der Schlacht die er giebt ist zwar sehr ungenügend ; aber
sie giebt doch einige lehrreiche Details, namentlich für die Aufstellung auf
polnischer Seite. Der mitgesandte Plan (punetur) auf den sich die Nummern in
dem Bericht beziehen, liegt nicht mehr in den Acten; doch ist es leicht die be-
treffenden Stellen auf unserm Plan wieder zu erkennen. Das Schreiben lautet:
WolEdle Gestrenge Namhafte Hoch und Wolweise Herren
Insonderss Hochgeehrte Grossgünstige Herren.
Unlängst den 28sten verlaufenen monats habe an Ihre WoIEdl. Gestr. Her-
ren durch einen eignen boten Baranowski genannt wohnhaft in Danzig seines
147] Die Schlacht von Wabschaü. 1656. 491
thuos ein fuhrmann vordem, ein ziemliches pacquet unterdienstlich abgefertigt
.und den damaligen unser Armto Zustand berichtet. Nur, leider, wieder ver-
muhten durch unserer eigenen leuhte fahrlässige Sicherheit ist mein triumphus
quem cecini ante victoriam ietzo in newes klagen verwandelt worden.
Man hat nit ehe alss den 27sten recht gewust wie der feind unss schon auf
dem halse gesessen, dass er im anzuge begrifen, worauf die Volker so viel wie
beysamen, den die gross Pohlen alle nach hause abgezogen waren, seint auf die
andre seife geführt worden. Doch war in aequiparation gegen den feind zu
rechnen mehr den allzuviel Volk noch bey den unssrigen vorhanden.
Die praesentation der formirten batailie war dem Augenschein nach auf die
form wie beygefügte punctur zum Theil aussweiset zu sehen.
No. 1. Ist ein umbgegrabner hoher hügel, vor dem der galgenberg genant
auf selbigem war ein klein fort aufgeworfen und gestük gepflanzet der sich auch
connectirete mit den trenchiren.1 No. 2 wie das Jager auf unsrer seite gestan-
den. No. 3. Unten an dem galgenberge am ufer der weissei war ein klein re-
doutchen aufgeworfen die SchifsbrUcke zu defendiren , wie auch auf der ande-
ren seite zu selbigem effect ein andernst werk, etwass stärker aufgeführt.2
No. 5 hatte man sich beschantzet dass Hr. Samoisky fussvolker recht gegen
dess feindes lager über8 und canonirten lustig gegen einander an das die ku-
geln zwischen den feldern gleich den Wiedehopfen herumsprungen, thaten den-
noch unter den Unsrigen wenig schaden, die sich auch nit von dem platz rühr-
ten , beriegen hat man recht gesehen wie die Unsrigen ganze glieder weggeris-
sen, das der feind auch etzliche mahl seinen vohrtrap vercantert hat, weil ihm
so viel schaden geschehen. Der anfang zu diesem spiel war gemacht den 28 ge-
gen abend. Von dem Galgenberg wart auch geschossen aber ohne sondern
effect. Serenissima mit dem frawen Zimmer hielt an genanten orte, nebenst
tausend anderen , die dieses trefen, der ersten veranlassung nach, vor ein ge-
wonnes spiel hielten, Hess auch mit ihren pferden auss der carosse unten an die
weissei schwerner gestück führen in das redoutchen, weil Ihr. Majest. sähe, wie
essauch war, das von (da?) dem feinde mehr abbruch geschehen könnte.4 No.6.
Von der höhe vor dem walde schoss der feind zum öfteren, aber auch mit we-
nigem schaden da No. 7 von des Herrn Gzamecki scbantze der orth wieder be-
strichen wart, und zuletzt von einem sandhügel No. 8 das der feind sein ge-
schütz abführen muste.* No. 9 seint unsre fahnen wor auss zwey weisse dem
feinde bis auf das gestück gefallen, er hat sich aber stets mit geschlossnen trup-
pen zusammengehalten und keines wegs wollen auf das feld berauss führen
4) Auf dem Plan von Memmert ist ein Galgen auf einer Höhe gezeichnet, die dicht nord-
wärts an der Stadt Hegt. Der »vordem Galgenberg genannte« Hügel ist weiter nordwärts,
wo in unserer Karte das kleine Fort gezeichnet ist. 2) Hier fehlt die Bezeichnung No. 4 für
den auf dem rechten Ufer der Weichsel angelegten Brückenkopf. 3) Hier scheint ein Wort
zu fehlen. 4) Also nicht von der buschigen Insel in der Weichsel aus Hess die Königin ihre
Geschütze spielen? 5) No. 8 ist der Schanzhügel, der die Nordostecke der polnischen Stel-
lung beherrscht. Zwischen diesem und der Weichsel zählt Barckmann nur zwei, nicht drei
Verschanzungen, die östlichen die Czarneckys, die der Weichsel nähern die Zamoiskys.
83*
J
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1 z.
. * *9] Die Schlacht von Warschau. 1 656. 493
dieser occasion sich gar heroisch sehen stellele sich ganz an die spitze und
grif des einen Standart und wollte sie selbst anführen , aber die antrage man-
gelte, andere ignavos quipugnam deserebant trieb Ihre Maj. auch mit dem blosen
gewehr zurück. DieLittawschen husaren haben noch vor allen andern den preiss
behalten weil sie aber auch nit sint secundirt worden, sint von einer gantzen
compagnie kaum acht wieder zurückkommen. Ess hat ein Schwedischer trom-
peter nach der bataillie berichtet das der eine dem schwedischen Könige mit der
copie sey zwischen den arm weggelaufen, der fürst Boguslaw aber habe densel-
ben herunter geschossen, und das der König wegen seiner mänlichen odwaga f
habe mit sonderlicher ceremonie Ihn begraben lassen. Ein andrer gefangener
beriebt das ein stickkugel neben dem König seinem pferd den kamb weggerissen
habe. Ihr. Churfürstl. Durchl. aber sey bey dem treffen nit gesehen worden.
Dieses charmuziren daurete biss eine stunde nach der sonnen Untergang
und wart sonderlich stark mit gestück geschossen. Auf unser seite geschähe
dennoch gar wenig schaden , heriegen rakten die Unsrigen desto besser unter
des feindes trouppen, der feind Hess sich doch solches nit irren sondern zog sieb
wie ein halber mond von dem walde No. 4 0 an biss hinter die schantze No. 7
lierumb , wodurch Er gewent dass er uns von hinten in die ofnen schantzen
kommen konte. Ich sähe solches schon umb gloke 4 nachmittag ah, dass ess übel
spiel setzen wolte , rit zum Hr. Erzbischoff der auf der andern seite am Ufer
einen speetator mitgab, den die Königin schon war weggefabren, wiess mit den
fingern an die gefahr und gab an sie wolten das waldchen No. 16. doch ver-
bauen1 besetzen und forn an die höhen gestück bringen lassen, worauf den von
i\es Hr. Gzarnecky Dragoner sint commendirtt worden und ein Theil von Ob.
Grodhausen fnssvolk. Die nacht war zu allem werk bequem genug, den es so
finster war, das man auch nit eine Hand vor sich sehen konte. Das Unglück hat
aber sein sollen, frühe mit der ersten Dämmerung Hess der feind losung geben :
unsere auch, wenig stellten sich aber zu ihren fahnen ein. Ess war auch ein
nebel so gross das man bey 4 stunden auf den tag nichts sehen konte wass sich
auf der andern seile hebte (sie). Damit avancirte der feind : unsere setzten zwar
ein wenig an , deserirten aber alsobald pugnam , und nachdem die fernsten
aussriesen , lief aller bettel darvon. die sich dessen nit versahen und nach der
linken hand begaben wosel baten viel morast sini entweder mit den pferden
stecken blieben oder auch mit genauer noht kaum allein davon kommen, viel
sint auch indem sie die vada gesucht, im wasser blieben, da sie sicher leben
und die reputation wan sie hatten Heber fechten alss schwimmen wollen , in
dess feindes blut erhalten. Dero feldherrn Potocky wird schuld gegeben, er habe
seine bagage lassen fortgehen und damit dem volke das hertz benommen, andere
sagten latuit post prineipia . Serenissimus, weil er sie nun mehr nit halten konte,
wie wol auch die Dragoner fewer unter dieselben gaben, die sich nach der
brücke drengten, muste sich auch also über diebrücken machen. Den feldherrn
drengten sie von der brücken inss wasser. Hr. Poduasi coronni 8 fiel auch herab
4) Hekteathat. *) No. 46 ist das Holz von Praga. 8) d. Ji. Podcsasi koronny der
Kron-Mundschenk.
494 Joh. Glst. Dioysen, 450]
und andre mehr die sich am geschwinsten bergen wollen. Fttnff geslUck die
kleinsten wurden mit salviret die anderen blieben im stich. Der feind setzte nit
seumend durch den wald No. 1 6 auf Präge zu und klopfte die Dragoner herauss
die sich aber bey Zeiten hinter den anderen mit salviret haben und sint etwan
mit vertust \ 5 Perschonen nachmals wieder zu ünss kommen. Prag und Skar-
pow haben die Unsrigen bald in den Brand gesteckt. Die arme Leute mit
ihren bindlen und zusammengeraspelten zeuge sassen an dem Ufer wurden von
dem feinde theils niedergemacht, theils Hess dass wasser weg die sich zu tief
hinein begeben. Die schantz vor der brücken hielt sich nicht und die brücke
wart auch bald in den brand gesteckt.
Indem hat ein Theil von den Tartaren sich wiederumh gewendet und viel
schaden gethan, der nachdruck von den Unsrigen mangelte allein.
Der feind hat Ihm denn auch nit unterstehen dürfen die Unsrigen weiter
bis an die kempen , woselbst die hollander wohnt (sie) zu verfolgen. '
Dieses ist also der gantze verhalt dessen was ich mit äugen nahe bey ge-
nug gesehen habe. Eine bataiile kann ichs nit recht nennen, sondern vielmehr
einen verlauf einer schon halb gewonnenen victori ohne schlacht. Das fussvolk
hat sich mehren theils von der cavallerie verlassen salviret, etwan zehn stück
sint stehen blieben, unter welchen das gröste der smok genannt.2
Was dieses nun vor eine bestürtzung auf der Seiten von Warschau gab, ist
leicht zu erachten. Die Königin ging mit den Wagen sie selbst zu pferde auf
Gzersko zu ; was übrig von wagen von der pospolita russenia zerschlug sich,
einer diesen weg, der ander einen anderen, hie der herr ohne knecht, dort der
knecht ohne herren, das fussvolk hielt aber noch unten an den schantzen. Se-
renissimus kam mit Herrn Butler von Dönhoff, Her. Meidel , Her. Palat. Posna
der eben auch damal zum Unglück krank war, auf das Palalium umb noch zu
deliberiren wass bey Warschau zu thun war. Der Herr Kantzier folgte, war gantz
resolvirt, Serenissimus solle nit weichen und invehirte machtig auf den Herrn
Paz littawschen Vice Gancelar praesentem, das Ihre odia mit den Radziwillea
solches unheil in der cron verursacht betten , denen sie doch nimmer gewach-
sen weren. Der Littawsche Feldherr hat den tag vor dem schlagen die röhr
knochen im herumbreiten zerfallen in den rechten Schenkel ; ist mir recht. End-
lich brachten die anderen ein : das volk wer von Warschau alles weg, in der
Stadt wäre kein proviant, Serenissimus müste den ort verlassen, und also order
gegeben das fussvolk sollte abmarchiren und die geslUck mit nehmen, die auch
Gottlob sich salviret haben und sint zu oder unter Golembia über die weissei
gegangen, Serenissimus aber von Warschau hatte seinen weg geendert und »ar
über Warka gangen kam zu Kozelnica den 34 erstlich zu der Königin und fuhr
auch unter Golembia über.
Ich habe mich wunderbar mit meinein wagen zur nacht durch geschlept,
biss ich endlich zu Koselnica an die Königin kommen bin, blieb aber im stich
4) Die Kempen sind die Niederungen südwirU des todten Weichselarmes. S) Der
Drache.
154] Die Schlacht von Warschau. 1656. 495
und konnte wegen des grossen gedrenges nit Über kommen , hatte auch das
unglück dass mir das beste pferd im zuge gestttrzet ist. Ihre Majestäten den-
noch und die Königin haben eine fahne volk zu ross aussconimandirtt, die mich
suchen müssen und mich gefunden haben unter Pulawa, dieselben nahmen den
anderen, die stärker waren alss ich eine drefte holz ab und brachten mich Gott
sey dank, also über, wie wol ess auch dabey ohne handrecht nit ablief, und war
mein iung in den köpf etwass verwundt. Zu KonskiwoJo habe ich die hofstadt
wieder angetroffen, Serenissimus aber hat sich bald geschieden cum Seremssima
und ist cum exiguo comitatu allein zu ross nach unserem volk gangen , die
sich unter Ogonow zusammen gezogen hatten. Mir war ess unmöglich wegen der
abgematteten pferde zu folgen, und welches ich selbst rit war vernagelt, zu-
dem war mir von dem vielen wachen und der grossen hitze eine wehtage auf
die Augen gefallen das sie mir ganz zusammen bakten, welches den zu meiner
entschuldigunglhre Wol Edl. Gestr. mir günstig wolten gültig sein lassen, warum
ich Serenissimum verlassen und Serenissimae gefolget bin allhie nach Lancut.
Serenissimus sagte mir bey seinem abschiede ich würde Ihre Maj. wiederumb
zu Lublin oder Samosc finden, sint aber recht fort zu Lublin (sie) und das volk
liegt gegen Warschau zu, sollen noch stärker sein wie vordem, weil die Tarta-
ren order haben die zu plündern die sich absondern von der haubt Armee, und
also bleiben sie beysamen. Sobald auch das fussvolk wieder etwass in Ordnung
gebracht were , wollen sie auf den feind wieder lossgehen , zu welchem ende
den auch nach Lemberg und andere örter mehr nach Artillerie geschickt ist.
Ein Theil von der Armee nebenst den Tartaren umb einer diversion halber, die
ihrer denn genug sint, sollen nach Pomeren gehen, ein ander corpo nach Preus-
sen; was hierin geschehen wird, lehrt die zeit. Sonsten haben die Völker die
alten Feldherren verworfen und haben ihnen den Herrn Gzarnecky und Woy-
wod Sendomirsky Koniecpolski zu häubtern erkohren und Herr Gassewsky ist
bei denLittawschen. Es wäre gut gewesen sie weren zu anfang davon blieben.
Nach der Zeit hat der Trompeter antwort schreiben gebracht von Ihr. Ghurf.
Durchl. deren copien ich (verstehe so Ihre Maj. abgehen lassen) durch Bara-
nowsky herunter geschickt satis humanüer exaratas, die aber ad Archieptscopum
sollen härterer gewesen sein, Senatores beschuldigen, das er durch ihren eige-
nen abtrit sey zu diesem spiel forciret worden.
Ein abgeschickter Gizicky Stolnik1 von Wilon wie Er sich aussgiebt, hat aber
keine credentiales und wirt vielen wol bekant sein hat sich aufgehalten bei
Wladislai zeit am hoffe, bringt folgende puneta mit zur Friedenshandlung,
4. Den fürsten Boguslaw >ou verain in Podlass zu machen.
2. Radzciewsky gewisse gütter bei Plocko zu cediren.
3. Die gefangenen zu restituiren.
4. Die traetaten mit Moscauen zu differiren.
5. Einen pass zu ertheilen vor einen , den der König in Schweden den ge-
neral frieden zu befördern an Chmielnicky schicken will.
4) Stolnik ist Tafeidecker für den District Wilona in Lithauen.
496 Joh. Gdst. Droyskn, Die Schlacht von Waischau. 468]
Wie er wird abgefertigt werden steht künftig zu vernehmen.
Mit dem Herrn Marschalkk habe alhier weitittuftig mich unterredet (Chiffer
videtur mihi multum consternatus et rebus non solus sufficiensf tnagis quoque de re
sua private cmxius quam de aliis) sagte ferner (Chiffer : ad explorandum anitnum
tneum civitas nostra hätte sich nicht zu besorgen der feind iwere ja unserer re-
Ugion et si esset catholicus hodie esset rex, Ragocky auiem non veniet nisi vocatus ;
waren alle seine worte). «
Es folgen dann noch in diesem Schreiben andere politische Mittheilungen,
die ich Übergehe.
Die späteren Schreiben bieten keine weiteren Notixen zur Aufklärung der
Schlacht. Nur in dem französisch geschriebenen Bericht vom 49. August aus
Lublin ist eine Aeusseruug beachtenswert. Barckmann erzählt wie Hr. v. Schon-
berg vor einigen Tagen einen sehr kühnen Angriff auf den Feind gemacht, sich
selbst an die Spitze gestellt habe; aber von seinem ganzen Regiment seien ihm
nur 50 gefolgt. Mais il est trts cerlam, qu'il riy a point de nation qui ne comette de
lachettez, au an en peut commettre impunementf comme m ce Pays id. Cest pour-
quoi tant que le baurreau sera oysifdcms nos armde*, les Polonois ne seront
jamcds courageux ny braves.
DIE UNTERSCHEIDUNG VON
NOMEN UND VERBUM
IN DER LAUTLICHEN FORM.
VON
AUG. SCHLEICHER.
Abkiodl. 4. K. S. G«Mllaek. d. WittMMrk. X. 34
VORWORT.
JÜne Untersuchung über die Unterscheidung von nomen und ver-
bum in der lautlichen form wäre erst dann einiger mafsen ab gefchlo-
fsen, die frage, welche sprachen unterscheiden die genanten redeteile
mer oder minder durch die lautliche gestaltung des Wortes, wäre erst
dann beantwortet, wenn sämtliche bis jetzt zugänglich gewordene
sprachen auf den unterschid von verbum und nomen betrachtet worden
wären. Teils feien mir hierzu die hilfsmittel, teils bin ich durch andere
arbeiten, zu denen ich mich verpflichtet habe, ab gehalten, mich ferner-
hin mit disem gegenstände zu beschäftigen. So möge es mir denn
verstattet sein , die vor ligende abhandlung , an der ich ab und zu seit
mereren jaren gearbeitet habe, in unvollendeter gestalt zu veröffent-
lichen. Yilleicht ist sie auch so nicht one alles interesse und eine völ-
lige erschepfung des materials ist ja auf disem gebiete onehin eine
sache der Unmöglichkeit. Ist der von mir ein genommene standpunct
der betrachtung ein solcher, der für die erkentnis des wesens der
spräche erspriefslich ist, so werden sich hoffentlich andere finden,
welche die grofsen von mir gelafsenen lacken aufs fallen.
Die im folgenden als quellen benuzten werke verdanke ich zum
grofsen teile der gute gelerter freunde und gönner , vor allem den Her-
ren Akademikern Böhtlingk, Kunik, Scbiefner in St. Petersburg, ferner
34*
500 Vorwort.
Herrn H. C. von der Gabelentz auf Poschwitz bei Altenburg, Herrn
G. E. Eurön in Abo , Herrn B. H. Hodgson , früher British Minister at
the Court of Nepal in Darjeeling, jezt in Glostersbire , Herrn W. Bleek
in Capstadt u. a. Inen allen herzlichsten dank für die Förderung meiner
Studien.
Die Umschreibung fremder sprachen gab ich teils nach meiner art,
teils nach der der benuzten quellen. Auch die bekanteren alphabete
glaubte ich mit Umschreibung versehen zu müfsen, um dise Unter-
suchung auch solchen zugänglich zu machen, die nicht glottiker von
fach sind.
Jena, im September 1864.
Aug. Schleicher.
Die folgende Untersuchung soll nach weisen, dafs von einer aozal
in belracbl genommener sprachen die t rennung von nomen und
verbum in der lautlichen form nur im Indogermanischen
volkommen durch gefürt ist, dafs folglich, wenn der vom Indo-
germanischen her genommene begriff von nomen und verbum fest ge-
halten wird, die Unterscheidung diser beiden Wortarten nichts alge-
meines , der spräche als solcher zu kommendes , sondern vilmer eine
besonderbeit einzelner sprachen , warscheinlich sogar eine dem Indo-
germanischen aufsschliefslich zu stehende eigentttmlichkeit ist.
Wir werden in der folgenden darstellung zunächst nur die laut-
form, die durch den laut zur erscheinung kommende gestaltung des
Wortes ins äuge fafsen.
Ehe ich mich zum gegenstände selbst wende, mag jedoch eine
frage erörtert werden 9 die, in unserem sinne beantwortet, die folgende
Untersuchung für das wesen der spräche ungleich bedeutsamer erschei-
nen läfst, als im entgegen gesezten falle. Es fragt sich nämlich , ob die
lautliche form, ob die morphologische beschaffenheit fiir das innere
wesen der spräche, für die function mafs gebend ist oder nicht, ob man
von der lautlichen form einen sichern schlufs auf die beziehungsfunctio-
nen der spräche zu ziehen berechtigt sei oder nicht; genauer, ob da,
wo verbum und nomen nicht in lautlich gesonderter weise existieren,
dise Unterscheidung auch in der function feie, also überhaupt nicht vor-
handen sei , oder ob wir ein recht haben , auch in solchen sprachen»
die nomen und verbum lautlich nicht unterscheiden , dennoch das Vor-
handensein dises gegensatzes an zu nemen. Mit andern Worten : dekt
sich function und laut, inhalt und form in der spräche,
oder gibt es functionen one lautlichen aufsdruck, inhalt one erschei-
nung des selben in der form? Existieren im sprachgefttle des
502 Are. Schleicher , dik Unterscheidung von [6
redenden grammatische kalegorien, die der selbe laut-
lich nicht bezeichnet?
Nach meiner Überzeugung istdifs nicht der fall. Der sprach-
laut, die lautliche form der spräche ist der körper, die ersebeinung der
funetion, des inhaltes der spräche. Beide kommen nicht von einander
getrent vor, sie sind stäts und unlrcnbar verbunden. Sie sind identisch,
wenn auch natürlich nicht einerlei. Wir haben kein recht, funetionen da
voraufs zu setzen, wo keine lautform ir Vorhandensein an zeigt. Auch
in der spräche läuft nicht der geist, die funetion, unabhängig von sei-
nem leibe, dem laute, sondern er ist nur in und durch lezteren wirk-
lich vorhanden. Unsere anschauung vom wesen der spräche ist keine
dualistische, sondern eine monistische und nur dise können wir für be-
rechtigt halten.
Wäre die lautform unabhängig von der funetion , so mttste man
folgerichtiger weise für alle sprachen eine und die selbe functionelle
gestaltung an nemen, one rüksicht darauf, ob eine spräche dise fune-
tionen sämtlich lautlich aufs drükt, oder die selben nur unvolkommen
durch den laut bezeichnet, oder sie samt und sonders im laute un-
angedeulet läfst. Sämtliche sprachen wären sich dann funclionell we-
sentlich gleich ; alle sprachen hätten z. b. nomina und verba, erstere in
allen casus und zalen, leztere in allen tempus, modus, zalen, personen,
nur im laute und in der form unterschiden sie sich. Um zu finden, was
denn eigentlich die functionelle gestaltung der spräche bilde, welche
beziehungen die spräche zu enthalten habe, hätte man zwei vvege.
Entweder mttste man aufs den lautlich aufs gedrükten funetionen aller
sprachen jenes sprachideal zusammen stellen — an sich schon eine
bare Unmöglichkeit , da sich die sprachen in diser beziehung nicht so
verhalten, dafs man die in inen aufs gedrükten beziehungsfunetionen
summieren kann , sondern vilmer oft so, dafs die art und weise der ei-
nen spräche die der andern aufs schliefst — , wobei man sich sogleich
in den Widerspruch verwickelt , dafs man doch widerum nur die laut-
lich aufs gedrükten funetionen in rechnung zu bringen vermag, weil man
nur von disen etwas wifsen kann. Da ja aber nach der voraufssetzung
der laut nicht für die funetion mafs gebend sein soll, so könten ja
möglicher weise funetionen existieren , die zufällig in keiner bekanten
spräche lautlich erscheinen. Oder man müste dise innere, vom laute
unabhängige spräche rein a priori , one alle rüksicht auf das in den ge-
7] Nomen und Vbrbum in der lautlichen Form. 503
gebenen sprachen wirklich vor ligende , construieren ; ein unternemen,
defsen unaufsfürbarkeit leicht ein zu sehen ist und das in einer beob-
achtungswifsenscbaft, wie difs die sprachwifsenschaft ist, völlig unstatt-
haft und methodewidrig wäre. Man müste z. b. eine bestirnte anzal von
casus, numerus, genus, personen, modus, tempus u.s. f. als mit dem
begriffe der spräche notwendig, gesezt statuieren und behaupten , der
sprechende fttle dise sämtlich, nur drücke sie die und die spräche nur
teilweise oder gar nicht lautlich aufs. Da nun manche sprachen im
aufsdrucke mancher beziehungen, z. b. der personalunterschide, der
casus , ganz besonders reich sind , so käme man gleich hierbei in Ver-
legenheit, indem man sich die frage zu beantworten hätte: ist diser
reichtum der spräche wesentlich oder nicht. Im ersteren falle ent-
spräche dann villeicht nur eine einzige spräche der erde dem urbilde
im zweiten wäre man in die bedenkliche läge versezt, zu entscheiden,
wie vil die und die spräche des guten zu vil tue. Kurz, wie man sich
auch wenden mag, so wie man die innere spräche von der lautsprache
trent, komt man auf Widersprüche und unlösbare schwirigkeiten.
Was ein einer uns fremden spräche an gehöriges individuum beim
sprechen fiilt, können wir dann gar nicht wifsen, wenn die lautform
der spräche uns nicht als mafsslab für das sprachgefttl selbst dienen
kann.
Es läfst sich aber , so bedünkt mich , auf dem wege der beobach-
tung gerade zu nach weisen, dafs die functionelle gestaltung der sprä-
che, die innere form der selben bei verschidenen sprachen verschiden
ist und zwar, dafs dise verschiden hei t völlig der durch die laute und
formen aufs gedrükten verschidenheit entspricht.
Wenn z. b. der genusunterschid unter die einer spräche zu kom-
menden grammatischen kategorien zu rechnen ist, so müste also jeder
redende mensch ein geftll für den genusunterschid besitzen , also auch
diejenigen Völker , deren sprachen disen unterschid nicht aufs drücken,
z. b. Chinesen, Tataren, Finnen. Dafs difs nicht der fall ist, wird jeder
bemerken, der z. b. einen Chinesen sich ab mühen hört, eine unserer
das genus unterscheidenden sprachen , z. b. französisch , zu sprechen.
Doch wir brauchen uns nicht auf fremde völkerstämrae zu berufen , wir
können mit unserem eigenen sprachgefüle versuche an stellen. Unser
slawischer nachbar sondert in einigen formen das masculinum in ein
belebtes und ein unbelebtes. Die berechtigung solcher Unterscheidung
504 Aug. Scblsicb», die Unteisch Biomo vor [8
wird mau schwerlich in abrede stellen können , ist sie doch im wegen
der dinge volkommen begründet. Ist dem also , ist die Scheidung von
belebt und unbelebt der spräche als solcher zu kommend , so m Osten
wir Deutsche beim sprechen disen wol berechtigten unterschid doch
eben so gut fülen als der Slawe , wenn wir dem selben auch keiaen
hörbaren aufsdruck verleihen. Ist difs auch wirklich der fall? Nein, soq-
dem wir fülen bei Worten wie 'der balken, der bäum, der band, der
son' u. 8. f. nur ein und das selbe grammatische genus. Auch fragt es
sich , um beim genus stehen zu bleiben , welche genusunteiischide der
spräche als solcher zu kommen 9 ob etwa die zufällig uns gelaufige son-
derung van mascul., femininum und neutrum, oder die des Namaqua in
masculinum, femininum und commune, oder etwa nur die in masculinotn
und femininum, oder eine sonderung des belebten oder unbelebten, oder
etwa die zal reicheren genusunterschide des Thußch oder der südafrika-
nischen Bäntu- sprachen? Wo ist hier mafs und richtschnur zu finden,
um aufs der fülle des in den sprachen vor ligenden und des nach disen
analogien denkbaren das heraufs zu sondern, was zum wesen der
spräche gehört? Wolle man aufs allen in den sprachen wirklich vor-
handenen genusunterschiden ein compliciertes System der genusunter-
schide entwerfen als das im innern wesen der spräche begründete , so
würde man auf die schwirigkeit stofsen , dafs verschidene genusarten
verschidener sprachen sich nicht mit einander vereinigen lafsen. Ein
und der selbe begriff, eine und die selbe anschauuag geht ferner in
verschidenen sprachen ser oft unter verschidenem grammatischen ge-
nus. Was hier beispilsweise vom genus gesagt ward, gilt aber von
allen andern grammatischen beziehungen nicht minder. Ich will nur
noch an einem beispile die sache zur anschauung bringen. Wir Deutsche
haben in unserer spräche nur eine einzige form fürs praeterilum , der
Grieche hat deren drei, imperfectum, aorist, perfectum ; eine Scheidung,
die doch gewiß wol berechtigt ist und die der griechischen spräche
wesentlich zur zierde gereicht. Lebte nun in uns Deutschen die selbe
sonderung des praeteritum in imperfectum , aorist , perfectum und käme
sie bei uns nur zufällig nicht zur lautlichen erscheinung , so könten wir
uns z. b. beim übersetzen aufs dem deutschen ins griechische , wo nun
die lautlichen formen für die in uns als lebendig voraufs gesezte drei-
fache auffafsung des praeteritum vor ligeu , niemals im gebrauche der
tempusformen irren. Dafs lezteres aber tatsächlich der fall ist, bedarf
9] NOMRN UND YfiUUM IN WER LAUTLICHEN FORM SOS
keines nachweises. Bei disem lezleren beispile könte man noch darauf
hin weisen , dafs in unserem sprachgefille der unterschid jener drei
bezieh ungen der Vergangenheit noch lebendiger sein dürfte, da in der
urzeit die formen des imperfects, des aorists und des perfects allen
indogermanischen sprachen gemeinsam zu kamen und noch im alteren
deutsch durch den gegensatz der verba perfecta und imperfecta etwas
jenem im griechischen erhaltenen unterschied änlicbes aufs gedrttkt
werden koote. Trotz alle dem ist aber in unserer jetzigen spräche nur
ein praeteritum vorbanden , bei dem wir nichts anderes Allen , als eben
ein praeteritum.
Gerade so, wie es uns Deutschen mit einigen grammatischen be-
ziebungsunterschiden geht , nämlich dafs wir sie nicht empfinden , weil
uns in unserer spräche die formen dafür mangeln, geht es anderen
sprachen mit anderen beziehungen. Den sprachen können mer oder
minder zalreicbe beziehungen ab geben und eine gradweise abstufung
fürt in den sprachen bis zum feien aller beziehung. Wie es uns mit
dem belebten masculinum und mit dem aorist, imperfeclum und per-
fectum ergeht, gerade so ergeht es dem Semiten mit dem genus neu-
trum9 vilen Völkern mit dem genus überhaupt und noch andern mit
allen und jeden beziehungen. Sie haben sie nicht und drücken sie daher
auch nicht aufs. Mit dem selben rechte, mit welchem ich dem Neu-
Caledooier das gefül grammatischer beziehungen zu schreibe , obgleich
sie in seiner spräche keinen aufsdruck finden, könte ich dem tiere, der
pflanze sogar einen höchst volkommenen geist zu schreiben und be-
haupten, dise Organismen könten die in inen so gut als in uns menschen
statt findenden inneren Vorgänge nur nicht , wie wir, an den tag legen.
Kurz, so wie man sich bei gehen läfst, ein inneres leben, sei es auf
sprachlichem gebiete oder auf irgend welchem andern , an zu nemen,
das nicht in die erscheinung tritt , verliert man den boden unter den
füfsen und an die stelle objeetiv methodischer forsch ung auf solider
beobachlungsgrundlage tritt die subjeelive ansieht und die phantasie.
Wir halten demnach an der Überzeugung fest, dafs nichts im spre-
chenden vor geht, was nicht lautlich aufs gedrükt wird; dafs der laut
ein volgiltiger und zwar der einzige zeuge für die funetion ist und dafs
also eine spräche nur die funetionen besizt, welche sie lautlich bezeich-
net. Wir nemen also nicht eine und die selbe innere sprachform für alle
sprachen an, sondern schreiben jeder spräche nur die innere, funetio-
506 Aug. Schleicher, die Unterscbeidung von [40
•
nelle gestaltung zu, die sie zum lautlichen aufsdrucke bringt. Wir finden
demnach auch in der function eine ser grofse Tülle von vcrschidenhei-
ten, eben so wie im laute, in der form , im sazbaue der sprachen. Also
halten wir uns für berechtigt zu behaupten, dafs sprachen, welche z. b.
das genus nicht lautlich bezeichnen, den genusunterschid überhaupt
nicht besitzen, dafs solche, welche nur z.b. masculinum und femininum
im laute unterscheiden, in der tat ein neulrum gar nicht haben und dafs
im gefüle dessen, der zalreichere genusunterschide in seiner spräche aufs
drükt, dise unterschide auch lebendig sind. Sprachen, welche no-
mina und verba lautlich nicht scheiden, besitzen also den
unterschid von nomen und verbum überhaupt nicht. An-
statt beider haben sie eine grammatische kategorie, die sich in höher
entwickelten sprachen , so im Indogermanischen , nicht findet. In diser
ist das noch ungeschiden vorhanden , was im Indogermanischen sich zu
zwei gesonderten kategorien entwickelt hat.
Änlicbe Vorgänge zeigt uns die weit der naturorganismen und an
inen können wir uns das wesen solcher erscheinungen villeicht an-
schaulicher machen , als in der weit der sprachen. Es sei deshalb ge-
stattet, an einen solchen Vorgang aufs dem tierreiche zu erinnern. Die
höheren liere haben respirationsorgane und verdauungsorgane. Es gibt
aber tiere so niderer entwickelung, dafs ein und das selbe organ beiden
functionen dienen mufs. Hier haben wir also weder ein respirations-
organ, noch ein verdauungsorgan, sondern etwas drittes, das keins von
beiden ist, weil es beides zugleich ist. Wir haben hier aber auch weder
einen respirationsprocess noch einen verdauungsprocess derart, wie
bei denjenigen tiere n, die für jede diser physiologischen functionen aufs-
schliefslich bestirnte Organe besitzen. Gerade so verhält es sich mit
nomen und verbum in den sprachen.
Wenn ich in der Überschrift diser abhandlung die an zu stellende
betrachlung der sprachen aufsdrüklich auf ire lautliche form beschränkt
habe, so geschah difs hauptsächlich deshalb, weil ich nicht darauf ein
gehen will, die function solcher bildungen, die weder dem nomen, noch
dem verbum im indogermanischen sinne entsprechen , begriflicb näher
zu entwickeln und zu bestimmen. Das hier einleitungsweise aufs ge-
fürle solte nur dazu dienen, für die lautform eine hohe bedeutsamkeit
für das wesen der spräche überhaupt in anspruch zu nemen und somit
von unserer Untersuchung den Vorwurf ferne zu halten, als beschäftige
**] NOMBN UND VfCRBUM IN DER LAUTLICHEN FORM. 507
sie sich nur mit einer mer oder minder bedeutungslosen aufsenseite der
spräche.
Einen einwurf gegen den salz, dafs nichts in der function vorhan-
den ist, was nicht auch im laute erscheint, könte man von der beob-
achtung her nemen, dafs lautlich gleiche bedeutungslaute (wurzeln)
tiicht selten ganz verschidene bedeutungen haben. Bekantlich ist difs in
aufs gedentester weise im Chinesischen der fall , doch bieten auch an*
dere sprachen v auch das Indogermanische , dergleichen fälle. So haben
wir im Indogermanischen würz, pa lueri und würz, pa bibere , würz, i
ire und würz, i pronomen demonstrativum , würz, ta extendere und
würz, ta pronomen demonstrativum und anderes der art. Von derglei-
chen gleich lautenden wurzeln ist jedoch eine scheinbar verwante er-
scheinung bei den beziehungslauten sorgfältig zu unterscheiden. Wenn
z. b. die stambildungssuffixa -as, *ti, 'tu im Indogermanischen so wol
nomiua aclionis als nomina agentis bilden, so beruht dise erscheinung
nur darauf, dafs zur zeit, da dise formen entstunden, die function der
selben eine noch nicht näher bestirnte, eine algemeinere war, die bei-
des in sich vereinigte. Das factum läfst sich aber keines falles in abrede
stellen, dafs ein und die selbe lautverbindung als wurzel verschidene
bedeutungen in sich vereinigen kann , die sich nicht auf eine gemein-
same grundbedeutung zurück füren lafsen. Es ist jedoch eine ganz
andere sache, ob z. b. die lautverbindung pa zugleich 'trinken' und
'beschützen' bedeutet, oder ob man an nimt, dafs eine function, die
lautlich gar nicht aufs gedrükt wird , im geiste des redenden dennoch
vorhanden sei. Darüber, dafs das eine mal pa 'trinken', das andere mal
'beschützen, beherscben' bedeute, darüber läfst die lebendige, gespro-
chene Sprache nicht im zweifei. Die bedeutungsfunction ist ja auch hier
stäts aufs gedrükt, wenn auch, wie es scheint, rein zufällig beide male
auf ein und die selbe weise. Wir reden hier aber davon, ob es bezie-
hungsfunctionen gebe, die lautlich gar nicht zur erscheinung kommen
und dafür legen verschidene wurzeln gleicher laute kein zeugnis ab.
Wenden wir uns nun zum gegenstände selbst.
Vor allem ist es nötig, die begriffe verbalform und nominalform
scharf zu fafsen. Wir können hierbei lediglich vom Indogermanischen
aufs gehen, einmal weil uns hier eine tiefer gehende erkentnis der
sprachformen zu geböte steht und diser erkentnis zugleich das lebendige
sprachgefül zur seite geht, sodann weil, wie sich bald zeigen wird, von
508 Aig. Schleicher, ixe Unterscheidung von [12
deo hier betrachteten sprachen nur im Indogermanischen verbalformen
und nominalformen wirklich durch greifend geschiden sind. *)
Indogermanisch.
Im Indogermanischen sind die worte nomina, welche
ein casussuffix haben, die worte sind verba, welche ein
personalsuffi & haben. Es versteht sich, dafs der Sachverhalt ganz
der selbe wäre, wenn die casus- und personal - elemente nicht gerade
als suffixa erschinen; die Stellung tut ja nichts zur sache. Dafs in spä-
teren perioden des Sprachlebens in den indogermanischen sprachen ser
häufig casussuffixa und personalendungen geschwunden sind , dafs sol-
cher abfall in manchen fällen schon frühe ein getreten ist (z. b. urspr.
bharä-mi, altind. bhärä-mi, altbaktr. barä-mi und darneben auch barä,
g riech, (ptgo) für *q>d(jci>-fu9 lat. fero für *ferö-mi)**), möglicher weise in
vereinzelten formen sogar bereits in der lezten periode der einen, allen
übrigen zu gründe ligenden indogermanischen Ursprache (z. b. bhmra
villeicht für *bhara-dhiy vgl. altind. bhära, altbaktr. bara, griech. qpqp«,
lat. fer, got. bair; aber bei anderen praesensstammaufslauten ist das alte
-dhi als personalsuffix erhalten, z. b. urspr. as-dhi, altind. e-dhi> griech.
k-Oi; urspr. akvä nom. sing., villeicht für akva-s, vgl. altind. ägvä, lat
equa u. s. f., sämtlich one das -s des nominativs), hebt die an die spitze
gestehe definition nicht auf; dise secundären Veränderungen können hier
natürlich gar nicht in betracht kommen. Will man die oben fürs Indo-
*) Nicht scharf und deutlich genug hat den unterschid von nomen und verbum
im Indogermanischen erfafst Max Müller, Classification of Turanian ianguages § 2;
§4 — 7, wo er über disen unterschid spricht und neben vilem treffendem und bee-
rendem auch manches nach unserer ansieht verfeite gibt. Ich kann jedoch auf eine
besprechung des einzelnen und auf eine Widerlegung dessen , was ich für unrichtig
halte, hier nicht ein gehen. Manches ergibt sich aufs unserer folgenden darstellung, so
z. b. dafs wir Mai Müller nicht bei pflichten können, wenn er vermutet, dafs ur-
sprünglich im Indogermanischen das verbum durch Verdoppelung des anfangsbueb-
slaben, im Semitischen aber durch Verdoppelung des endbuchstaben und hinzufügung
des dritten lautes überhaupt vom nomen geschiden worden sei. Dise form der redu-
plication ist überhaupt später , das älteste war offenbar die widerholung der ganzen
Wurzel ; auch ligt der unterschid von verbum und nomen nicht in den starobU-
dungselemenlen , sondern in den zu den stammen hinzu tretenden wortbildungs-
elementen.
**) Mit * bezeichnen wir erschlofsene , nicht aufs den sprachen selbst belegbare
formen.
* 3] Nomen uro Verbum in der lautlichen Form. S09
germanische in seiner urforra gegebene definilion von nomen and ver-
bum ftlr die wirklieb vor ligenden sprachen dises Stammes passend ma-
chen, so hat man zu sagen : nomina sind im Indogermanischen
diie worte, welehe ein casussuffix haben oder hatten;
verba sind die worte, welche eine personalendung haben
oder hatten. Mit aufsschlufs der echten interjeetionen,
die außerhalb der spräche stehen nnd als lantgebärden zu betrachten
sind, und der vocative, welche nominalstämme sind, die die form
von interjeetionen an genommen haben, geht die indogermanische
spräche in nomen und verbum one rest auf. Alle indogerma-
nischen worte sind oder waren doch ursprünglich entweder nomina
oder verba. Adverbia und die als meist verkürzte adverbia zu fafsen-
den praepositionen , conjunetionen und partikeln überhaupt sind ur-
sprünglich meist casus formen, vil seltner verbalformen, wie difs nunmer
wol als algemein bekant und anerkant an genommen werden darf.
Ein wortstamm ist im Indogermanischen als solcher kein lebendi-
ges sazglid, wie das wort (nomen oder verbum), sondern ein wissen-
schaftliches praeparat (z. b. bhara, tanu u. s. f.); auf dafs er sazglid,
wort werde, bedarf er eines casussuffixes (z. b. nom. sg. bhara-8, tanu-s,
acc. sg. bhara-m, tanu-m) oder einer personalendung (z. b. III. sg.
bhara -ti, tanau-ti; I. plur. tanu-masi), wodurch er im ersteren falle
zum nomen, im zweiten zum verbum wird. In den stammen ligt
der unterschid von verbum und nomen nicht. In allen spra-
chen also, in welchen nakte stamme zugleich als worte erscheinen kön-
nen , ist eine tief gehende verschidenheit vom Indogermanischen nicht
zu verkennen.
Der unterschid von nomen und verbum ist demnach im Indoger-
manischen volkommen deutlich und durch gefllrt. Die oben gegebene
definition von nomen und verbum halten wir fürs folgende fest«
Ehe wir uns zu den andern sprachen wenden, wollen wir uns
noch in übersichtlicher kürze die art und weise der declination (nomi-
nalbildung) und conjugation (verbalbildung) des Indogermanischen und
zwar die erreichbar älteste form der nomina und verba vergegenwärti-
gen. *) Wegen der schwirigkeiten , welche in den meisten casus und
•) Eine kurze darstellung der indogermanischen conjugations- und decllnations-
formen glaubte ich um so weoiger hinweg lafsen zu dürfen, als die vor ligende ab-
510
Aug. Schleicher, die Unterscheidung von
[«
personen einer sicheren ermittelung der ältesten dualformen entgegen tre-
ten, müfsen wir disen numerus im folgenden merfacb lückenhaft lafsen.
I. ein a-stamm, bhara (würz, bhar ferre, stambildungssufßx a).
als nomen als verbum (indicat. praesentis activi)
Singular.
mascul. neutrum femininum
I.pers. bharcMni
nomin.
accus.
ablativ.
genitiv.
locativ.
dätiv.
bkaras; bharäs
neutr. feit.
bhara-m bharä-m
bharä-t bharä-t
bhara-sja bharä-s
bhara-i
bhara-ai
instrum. I. bhara-ä
bhara-i
bhara-ai
bhara- ä
H.pers. bhara-si
III. pers. bhara-ti
Nominativ und accusativ der entspre-
chenden pronomina:
I. pers. agam (vill. agham), ma-m
II. pers. tu-am (vill. tu), tva-tn
instrum. IL bhara- bhi bharä-bhi III. pers. ta*8, fem. tä-s; ta-m, fem. tä-tn
Dual,
nom. acc. bharä-(s)äs*) bharari? I. pers. bharär-vasi
gen. loc. ? ? Die übrigen personen, so wie
dat. abl.instr. bhara-bhjäms bharä-bhjäms die entsprechenden prominal-
formen des persönl. prono-
mens können in irer ältesten
form nicht ermittelt werden.
Plural.
I. pers. bharä-masi
II. pers. bhara-tasi
III. pers. bhara-nti
Entsprechende pronomina :
I. villeicht vom stamme ma-ma
od. a*ma
II. vill. von tva-sma od. ju-sma
III. nom. msc. ia-i, fem. tä-sas;
acc. msc. ta-ms, ntr. tä, fem.
tä-ms.
nom.
bhara- sa 8 bharäsa-8
neutr. feit.
bhara-m-s bharä-m-s
neutr. bharä
bharasäms bharä-säm-s
vill. bharäm['S) bharäm-fa)
bhara-8va(-s) bhara- sva(-8)
dat. ab\.bhara-bhjam-8 bharä-bhjam-s
instr. bhara-bhi-s bharä-bhi-8
acc.
genit.
locat.
handtung nicht nur für den gloltiker von fach , sondern auch für anthropologen und
Philosophen einiges interesse haben dürfte. Bei disen können wir aber keine kentnis
diser dinge voraufs setzen und das verweisen auf andere bücher ist stöts unbequem
für den leser und erschwert namentlich dem die sache , dem die an gefürten werke
nicht zur band sind. — Genaueres über das indogermanische verbum und nomen
kann man in meinem compendium finden.
*) Mutmafslich ser früh aufs- oder ab gefallene laute sind in klammern gesezt.
45]
Nomen und Vbrbum in der lautlichen Form.
511
II. ein u-stamm, tanu (würz, ta extendere, sufF. nu).
als nomeo (masc. fem.) als verbum (indic. praes. activi)
Singular.
I. pers. tanau-tni
II. pers. tanausi
III. pers. tanau-ti
Den dualis wollen wir der
kurze wegen hier übergehen.
nom.
tanus
acc.
tanu*m
ablat.
tanav-at
genit.
tanav-as
locat.
tanav-i
dat.
tanav-ai
instr.
I. tanu-ä
instr.
II. tanu-bhi
nom.
tanu-sas od.
tanav-as
acc.
tanu-m-8
u. s. w.
Plural.
I. tanu-masi
II. tam-tasi
III. tanu-anti
Der plural der nomina wird also durch ein an das casussuffix tre-
tendes 8 gebildet, wärend im plural des verbums aller warscheinlichkeit
nach gehäufle personalendungcn (I. pers. -ma-si = ich und du, II. pers.
-ta-si = du und du , III. pers. an-ti = er und er — an von einem an-
dern pronominalstamme der III. person — ) vor ligen.
III. ein consonantischer stamm, vak, als nominalstamm väk (die Stei-
gerung von a zu ä ist aber nicht für die nominalbildung wesentlich;
würz, vak loqui).
als nomen
väk (femin.)
nom. väk-8
acc. väk-am
abl. väk-at
gen. väk- as
u. s. f.
Singular.
als verbum
vak (indic. praes. activi)
I. pers. vak-mi
II. pers. vak-si
III. pers. vak-ti
u. s. f.
Aufser den personalendungen des aclivs hat das Indogermanische
noch die des mediums, die, wie es scheint, durch Verdoppelung gebil-
det sind. Z. b.
512
Acg. Schleicher, die Unterscheidung von
[46
I. pers. sing, bharä-ina-mi
II. pers. sing. bhara-sa-si \
III. pers. sirig. bhara-ta-li -
III. pers. plur. bhara-nta-nti
<pe'po/Lict(jLi)i (ich trage toir od. mich)
*<pe'(>€oa(o)i (du trägst dir od. dich)
cp€^era(r)i (er trägt sich)
(ptgovra(vr)i. (sie tragen sich)
An gewisse terapus- tmd modusstämme tretetf ab gekürzte formen
der personalendungen, z. b. optativstamm praesentis bhara-i:
Activum
I. bharai-m
II. bharai'8
III. bharai-t
f. bharauvas
II. III. ?
I. bharai-mas
IL bharai-las
III. bharai-nt
Singular.
Dual.
Medium
bharauma(m)
bharai-sa{s)
bharai-ta(t)
bharai-vadha
Plural.
bharaumadha
bharausdkva ?
bharai-nta(nt).
Auch der imperativ hat personalendungen , wenn auch in der II.
sing., die villeicht die einzige uralte Imperativform ist, in einer von den
übrigen modus ab weichenden form; II. sing, imperativi activi bhara-
*(dhi), tanu-dhi, vak-dhi. Das perfectum und die übrigen praeteritalfor-
men unterscheiden sich in iren personalendungen nicht wesentlich von
den andern verbalstämmen, z. b. perfectstamm vivid (würz, vid videre):
Activum
I. viväid-(m)a
II. viväidrta
III. viväid-(t)a
I. vivid'vasi
ii. ni. ?
I. vivid-masi
II. vivid-iasi
III. vivid-anti
Singular.
Dual.
Medium
vivid-mafäi
vivid'tafyi
vivid-ta(t)i
vivid'Vadhai
Plural.
vivid-madhai
vividsdhvai?
vivid-antai.
47] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. S13
Mag im vor stehenden auch manches zweifelhafte oder von mir
geradezu nicht richtig erschlofsene mit unter gelaufen sein , so ist es
doch gegenüber der anzal der völlig sicher erschliefsbaren formen one
belang.
Namentlich hebe ich als wichtig hervor 1) die völlige verschiden-
heit in der pluralbildung bei den nominibus und verbis; 2) den um-
stand , dafs auch die zweite person des imperativs ein personalsuffix
zeigt ; 3) die völlige abweichung der am verbum als personalbezeich-
nung auf tretenden pronominalen elemente von den formen der selb-
ständigen pronomina ; 4) die wesentliche Übereinstimmung der person-
bezeichnung bei allen verbalstammen; 5) die abwesenheit von posses-
siven pronominalsuffixen ; 6) den umstand , dafs auch der nominativus
singularis und pluralis ein casuszeichen hat; 7) endlich wolle man nicht
übersehen, dafs bereits in der indogermanischen Ursprache sich ein
wirkliches verbum substantivum entwickelt hatte, dafs es eine verbal-
wurzel gab, welche schon in der vorzeit unseres Stammes bis zur func-
tion , die bedeutung des reinen seins aufs zu drücken, gelangt war, die
wurzel as. Den sichersten beweis hierfür lifern die bereits für die Ur-
sprache nachweisbaren mit diser wurzel zusammen gesezten tempora
(das futurum und der zusammen gesezte aorist z. b. dasjämi aufs da-as«
jämi, dwaw; a-diksa-m, edei£a.
Wie steht es nun mit der Unterscheidung voh nomen und verbum
in andern hinlänglich zugänglichen sprachen?
Da wir vom Indogermanischen, der volkommensten unter den be-
kanten (und sicherlich auch unter den noch nicht bekanten) sprachen
aufs gehen , so werden wir natürlicher weise zunächst diejenigen spra-
chen unter dem angegebenen gesichtspuncte mit im zusammen halten,
welche mit dem Indogermanischen am meisten morphologische änlich-
keit haben. Zunächst werden wir also das Semitische vor nemen , weil
dises allein mit dem Indogermanischen die wurzelform R1 (d. h. zum
zwecke des beziehungsaufsdruckes regelmäfsig steigerbare wurzel) teilt.
Sodann mögen die sprachen der form Rs (d. h. unveränderliche wurzel
mit suffixen) folgen (das indogermanische wort bat durchweg die form
RJ). Zwischen beide haben wir das Koptische ein geschalten, weil
dises in manchem wenigstens an die flexion (Rx) erinnert. Nach den
sprachen der form Rs lafsen wir andere zusammenfügende sprachen
folgen, so gut es gehen will eine motivierte reihenfolge ein haltend,
Abhaodl. d. K. S. Gesell«*, d. Wisseosdi. X. 35
514 Äug, Schleicher, die Untersctjeidcng von [*8
bis wir zulezt bei den einfachsten Sprachorganismen , den so genanten
isolierenden sprachen (die nur wurzeln als worte haben , sprachen der
formen R, R+r u. s. f.) an langen. *)
Dise sprachen werden wir also darauf an sehen , ob in inen , in
änlicher weise wie im Indogermanischen, verbum und nomen zu einem
durch greifenden gegensatze in irer lautlichen gestaltung gelangt sind,
d.h. ob sich wäre verba und wäre nomina in inen volkommen ent-
wickelt haben.
Semitisch.**)
In ermangelung der semitischen Ursprache, welche schwiriger zu
erschließen ist als die den indogermanischen sprachen zu gründe li-
gende urform, substituieren wir der selben das Arabische, über dessen
bedeutung wir mit Olshausen (Lehrbuch der hebräischen Sprache,
Braunscbweig 1861, § 2, b; § S, a und sonst) und Wright (a Grammar
of the Arabic language, translated from the German of Caspari, Leipzig
1859, vorrede s. X) überein stimmen. Wir gehen hierbei von der Über-
zeugung aufs, dafs der so begangene feler so unbedeutend ist, dafs er
aufs er ansatz gelafsen werden kann und dafs der vorteil , mit wirklich
vor ligenden sprachformen zu arbeiten , den nachteil einer geringeren
altertümlichkeit und ursprünglichkeit der selben auf wigt.
Aufs der Übereinstimmung der semitischen sprachen ergibt sich
mit völliger Sicherheit, dafs in der semitischen grundsprache bereits die
dreilautigkeit die regelntffsige form der semitischen wurzel war. Wir
stehen nicht an , sogar die dreisilbigkeit als volle form der semitischen
wurzel in anspruch zu nemen. Dafs dise form , nach der alle factisch
vor ligenden semitischen wurzeln gebildet sind, nicht von allem anfange
*) Über die oben gebrauchten morphologischen formein vgl. mein compend. der
vergleichenden gramm. der indogermanischen sprachen I, Weimar 1861, s. 2. Für
W (wurzel) setze ich jezt aber R (radix) in Übereinstimmung mit p (praefixum) , t (in-
flxum), 8 (suffixum); r bezeichnet eine einer andern wurzel bei gesezte hilfs wurzel.
**) Um dem vorwürfe der anmafslichkeit zu begegnen» den ich mir etwa dadurch
zu ziehen könte, dafs ich es wage im folgenden eingehender über das Semitische zu
handeln one semitist von fach zu sein, erlaube ich mir die milteilung, dafs ich dem
Studium der semitischen sprachen länger als ein decennium hindurch eifrig ob gelegen
habe ; zuerst auf dem Ko burger gymnasium unter leitung meines vererten lerers For-
berg, sodann in Leipzig bei Fleischer, in Tübingen bei Ewald und in Bonn bei Gttde-
meister.
49] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 515
an vorhanden war , gondern ersl im verlaufe der zeit , warscheinlich
durch überhandname einer analogie, geworden sei — dise wol zimlich
algemein giltige ansieht für nicht treffend zu halten , komt mir natür-
lich nicht in den sinn. Man wolle jedoch nicht aufs den äugen lafsen,
dafs die entslebung diser bestirnten wurzelform des semitischen wortesin
die uralte periode des werdens der semitischen grundsprache selbst
fält. Daher die schwirigkeit mit sicherer methode über die dreisilbig-
keit hinaufs die form semitischer wurzeln zu erschliefsen , die dreisil-
bigkeit in eine noch ältere form zurück zu übersetzen. In semitischen
worlformen wie v^ kataba, vüu kätibun u. s. f. sehen wir also keine
suffixa (-a, -un), sondern nur die voll vocalisierte wurzel; denn auch
den nasalierten vocal im aufslaute von nominalformen möchten wir
nicht als ein suffix -n enthaltend betrachten (freilich fallen dabei die
pluralendungen zu bedenken). Difs beiläufig und one weitere begrün-
düng, da es nicht unmittelbar die uns hier beschäftigende frage berürt,
wol aber im folgenden voraufs gesezt wird (vgl. Semitisch und Indo-
germanisch in den Beiträgen zur vergleich. Sprachforschung u. s. f.
herausgegeben von A. Kuhn und A. Schleicher, bd. II, Berlin 1861,
s. 236 flg.).
Das perfectum im Semitischen zeigt in seinen dritten personen for-
men, die keine personalbezeichnung haben, sondern in irer form mit
nominalbildungen zusammen fallen. Diser erscheinung werden wir noch
ser oft begegnen. Sie tritt überall da ein, wo das verbum kein verbum
im indogermanischen sinne , sondern , so zu sagen , eine nominalform
ist. Dann braucht die dritte person , als selbstverständlich , keine wei-
tere bezeichnung und nur ein Hinweis auf die andern personen ist nö-
tig. Das selbe finden wir im Indogermanischen, wenn auch hier nomina
zum aufs drucke verbaler Verhältnisse an gewant werden (z. b. altind.
dätäsmi für *dätärs asmi daturus sum., däta-si für *dätärs assi daturus
es , aber data für *dätärs daturus one weitere bezeichnung der person ;
änliches in andern sprachen unseres Stammes). Dafs aber die dritten
personen des semitischen verbum wirklich von nominalformen völlig
ungeschiden sind, ligt auf der hand. Die III. sg. msc. v^ kataba (scri-
psit) ist die blofse wurzel. Die form steht, wie mich bedankt, in der
verkürzten form des so genanten aecusativs , der im Arabischen beim
verbum in so vilfacher bezieh ung gebraucht wird (vgl. Ewald, arab.
35*
516 Are Schleiche!, die Ustoschomsg vom [20
grammatik, II. bd., das capitel de objecto et accusaüvo}. Bei v^tf kataba
ist das verbum selbst , d. h. das verbam * esse\ gar nicht vorhanden,
nur der vom begriffe des seins bedingte accosativ wird aufs gedrükt.
Der accusaüv steht nämlich im Arabischen zur bezeichnung des praedi-
cats beim verbum 0^ kana (fait) and änlichen. Die hier von ans an ge-
nommene aufsdraksweise one 0^ oder ein änliches wort ist bekantlich
im Arabischen bei der negation erhalten , z. b. ist das häufige o^y la
budda nallam effugiam seil, est od. fait hierher gehörig. In v^ kataba
ligt ans nichts anderes als der positiv zu einem vJtf S lä kataba vor.
Dafs meistens dise formen der III. sg. perfecti nur in diser funetion,
nicht aber außerdem als nomina vor kommen, kann der aaffafsang irer
syntactischen geltung nichts in den weg legen. Im Hebräischen ist bei
disen formen das aufs lautende a geschwanden , wie der aufstaut bei
den nominibus überhaupt. Ein hebräisches ppT qätan ist parvus und
parvus fuit; "Q3 käbid gravis und gravis fuit, so dafs hier deutlich
nomen und verbum nicht unterschiden ist.
Was von der III. sg. msc. des perfecta gilt, das gilt auch von der
III. sing, feminini , z. b. <^4^ katabat, hebr. HSrO kaibäh, einer deut-
liehen nominalform, wie difs auch algemein an erkant ist. Wir vermuten
für die semitische grundsprache die form *katabata,*) dem masculinum
kataba in der endung entsprechend (also, um mich arabisch aufs zu
drücken, auch difs *ä*ä*' katabata ist der positiv zu einem **^ ^ lä ka-
tabata; der nominativ würde %^ katabatun lauten). Im Arabischen ist
das *-ata der semitischen Ursprache zu -at, im Hebräischen vor Suffixen
zu -at9 one suffixe fast durchweg zu -äh verkürzt; aufsnams weise (s.
die anm.) ist im Hebräischen ein archaisches -atah erbalten.
Die dualformen der III. persM masc. ^ kataba, feminin. &^ ka-
*) Solle etwa das seltene hebräische -atdh ein villeicht nach analogie des
wönlichen fw -äh des feminins um gestalteter rest diser grundform sein? Das selbe
gilt natürlich auch von den formen der verba nS auf nn-, in pausa auf nn-^ Dise for-
men pflegt man in der regel als entstanden durch c unorganisches' anhängen der femi-
ninendung tu. an die ältere femininendung n- zu fafsen. Dafs es mit diser erklärung
nicht zum besten steht, ligt auf der band. Nach unserer auffafsung ist also von di—
sem at-dh at die bezeichnung des feminins, äh aber die accasativendung , die auch
aufserdem im Hebräischen in diser weise sich erhalten hat.
24] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 517
tabatä sind identisch mit den nominalformen im Status constractus des
nominativs, d. h. Verkürzungen von #qI4^ katabäni, *&&& katabatäni.
Auch sie weisen also, gerade so wie der singular, auf die nominalformen
nom. sg. ^ kalabun, fem. ^ katabatun hin.
Eben so steht die III. plur. masculini ]y*tf kalabü, hebr. 13P*
kälbü für #q>^ katabiina, wie das seltene hebräische ]V" ün und die
entsprechenden formen des imperfects dar tun. Wir haben also auch hier
eine deutliche nominalform vor uns. Das femininum c^ katabnu hat
zwar keine entsprechende nominalform zur seite, dafs es aber eine
solche ist, zeigt wol schon der parallelismus mit dem masculinum *ka-
tabüna.
Das endergebnis einer betrachtung der dritten personen des per-
fectum im Semitischen ist also unbestreitbar das, dafs in disen personen
keine verbalformen , sondern mit nominalformen wesentlich gleich lau-
tende und disen gleichartige formen vor ligen. Schon jezt können wir
also die behauptung auf stellen , dafs sich im Semitischen nomen und
verbum nicht in der durch greifenden art scheide, wie im Indogerma-
nischen. Folgte das Indogermanische der semitischen weise , so müste
z. b. ein mascul. bhara-m femin. bhara-m so vil bedeuten als bhara-ti;
ein plur. bhara-sas so vil als bhara-nti u. s. f.
Doch sehen wir weiter zu. Was von den dritten personen gilt,
das hat höchst warscheinlich auch von den andern personen zu gelten ;
denn eine spräche wird wol schwerlich für die ersten und zweiten per-
sonen eine echte conjugation, wäre verba, besitzen, für die dritten aber
nicht. Nur wollen wir im voraufs uns erinnern , dafs ein hinweis auf
pers. I. und II. auch solchen formen nicht leicht feien kann, die irer
natur nach nicht verbal sind. Betrachten wir zunächst die zweiten per-
sonen des perfects.
II. singul. masc. v^tf katabta, hebr. Z^Pj kätabtä gilt uns als
eine zusammenrückung und Verkürzung von *c*it v^ kataba anta,
hebr. *nfttt 3P3 kätab attäh; neben das an sich nicht auf eine bestirnte
person bezügliche v^f kataba, 3P3 kätab, das one weiteren zusatz
zunächst von der dritten person verstanden wird, trat ursprünglich
das pronomen der zweiten person singul. mascul., um auf dise person
jenes kataba zu beziehen. Ins Indogermanische übersezt würden dise
51 8 Aug. Schleicher , die Unt Bescheidung von [22
formen *bhara*m tu zu lauten haben, eine aufsdruksweise, die von
bhara-si völlig und gründlich verschiden ist. Das selbe gilt von allen
zweiten personen des perfects.
II. sing, feminini &+& katabli, hebr. ^n? kätabt aufs *vi*j' **tf
kalabala anli. *
II. dualis L^äS' katabtumä aufs *U&! Ltf katabä antumä.
II. plur. masculini jU^ katabtum aufs *^ o>^ katabüna anlum,
hebr. ÖP3n3 ktabtem aufs *ÖP** 1*13133 f älter etwa *katabüna antem.
II. plur. feminini ^y^ katabtunna aufs der in irer grundform
schwer erschliefsbarenf im Arabischen ^^ katabna lautenden form mit
^t antunna, der II. plur. feminini des Personalpronomens; auch im
Hebräischen 1^^^ ktabten ist das entsprechende pronomen ]ntt äffen
uoverkenbar.
Nicht also , wie im Indogermanischen , die wurzeln der pronomina
treten mit den verbalstämmen zu einem waren worte zusammen, son-
dern das fertige pronomen tritt an ein fertiges wort an. Deutlich siht
man, dafs sich ftlr alle dise formen eine analogie gebildet hat. Überall
ist vom pronomen nur der lezte teil gebliben , wärend die zu gründe
ligenden verschidenen formen des nominalstammes sich mit verlost ires
aufslautes in eine am ende vocallose form vereinfacht haben.
Die erste person singularis \z~*S katabtu, hebr. i*m03 kätabti
zeigt ein anderes pronomen, als das als selbständiges wort gebrauchte
arab. Lsl anä, hebr. ^ äni, "3Ä änoki. Dise form weifs ich also
nicht zu erklären; denn -ti aufs -ki entstehen zu lafsen, geht gegen
meine lautgesezliche Überzeugung. Villeicht hat die analogie der zwei-
ten personen gewirkt, villeicht ligt im verbum ein sonst verlorenes
pronomen vor.
Die I. plur. U~tf katabna, hebr. ^3113 kälabnü enthält jedoch in
irem aufslaute deutlich den rest von q^ nahhnu, hebr. *t3rj3tf änachnü,
13H3 nachnü, 138 änü.. Von der vor dem an geschmolzenen pronomen
stehenden form gilt das selbe, was bei den II. personen bemerkt ward.
Dunkler in irem Ursprünge sind die bildungen der zweiten form
des semitischen verbum, des imperfectum. Hätte Rud. von Raumer
(gesammelte sprachwifsenschaflliche Schriften, Frankf.u. Erlangen i 8 63,
s. 470 flgg.) recht mit der Vermutung, dafs hier das perfectum der
23] Nomen und Verb um in der lautlichen Form. 519
st. Q^ ^ii sein bedeutenden wurzel vor eine nominalform getreten sei (z. b. hebr.
3FÖ1? jiklob aufs *3rü PPJ1 Aö/a &to^ u. s. f.) , so wären dise formen
rim* *"er §ar D'c^1 we^er zu bebandeln, da wir das perfectuin bereits be-
* sprachen haben. Allein, so ansprechend die Raumersche hypothese
^ kntAi
«K
«•::? ' '•
auch ist, so stell sich der selben doch ein gewichtiges bedenken in den
weg. Das semitische imperfectum ist nach v. Raumer eine durch secun-
•^ o*2 ü* däre processe , durch Vorgänge , wie sie erst im späteren sprachleben
•ter etwa 'kt* ein zu treten pflegen , entstandene form. Auf der andern seite ist das
j .k jer j. ^ imperfectum allen semitischen sprachen gemeinsam , seine entstehung
t , , fäll also in die zeit der bildung und entwickelung der semitischen ur-
und grundsprache. Für dise urzeit , für dise noch jugendliche lebens-
^ uj.f^<si periode der spräche dürfen wir aber nicht Spracherscheinungen voraufs
-endepr** setzen, wie sie nur in senilen sprach individuen ein zu treten pflegen.
Mag aber auch wirklich dem semitischen imperfectum ein perso-
* -
Lewcnekt; nalaufsdruck praefigiert sein, so macht ein solcher an sich noch nicht
'eo wcneafi notwendiger weise ein verbum; auch im Namaqua kann die person am
?v>u( rtaii nomen bezeichnet werden, one dafs dises dadurch zum verbum wird.
::.e^::& Die nominale natur des semitischen imperfectum tritt aber unverkenbar
ei. n^jir: klar und deutlich zu tage. Der kürze wegen lafse ich im folgenden das
.ijess \:*s Hebräische bei seite, das one hin neben dem durch erhaltung der voca-
0 :,!-£ tischen aufslaute altertümlicheren Arabischen zur erklärung und erkent-
nis der formen nichts bei zu tragen vermag.
Man vergleiche :
« » » - 4
. *;• *■
: ~: :: ix .'
14 i-
<ilZ. .2t
Imperfectum. Nomen (Nominativ).
Singular.
III. msc. v^ jaktubu u~jL=> gälisun (sedens) in vilen fällen
III. fem. u*ä£j taktubu aber auch u^L> gälisu one -n; vgl.
II. msc. vw& taktubu auch formen wie <^l awadu (niger)
die -t> nie haben.
Dual.
^^^ IH- msc« o'"*^ jaklubäni q^ • gälisäni, q^^ asvadani
-~ *' III. fem. pl4ift taA^m
-: * Li*
»> o.
r_ ^ IL msc. qLjäü taktubäni
k**
520 Aug. Schleich!» , die Unterscheidung von [24
Plural.
III. msc. qj**£>. jaktubüna oy*&=> gäUsüna
« y y ©..
II. msc. o>y^' taktubüna.
In disen formen Iigt also die volkommenste Übereinstimmung der
so genanten verbal- und nominalformen klar zu tage.
Die III. plur. fem. &»& jaktubna und die IL plur. fem. o**^-» fo&-
tobna sind gebildet wie die III. plur. feminini des perfects && katabna.
* y o-
Die endung der II. sing. fem. &&*& iaktubina ist dunkel. Die I. sing.
y y öS > )o«
v^i dktvbu und I. plur. v^^i naktubu zeigen nichts, was nicht einer
nominalform gemäfs wäre.
Dazu komt, dafs das imperfectum überhaupt declinierbar ist. Es
*. y o,
kann in den accusativ gesezt werden, z. b. v"& jaktuba accus, zu
u^, wie *y* asvada accus, zu ^t. Die nominale art des imperfectum
ist auch keineswegs von den arabischen grammatikern verkant worden
(vgl. z. b. Ewald, arab. gramm. § 209; Wright § 95).
Auch der syntactisohe gebrauch des imperfects in Verbindungen
y y o,, ., ,
wie wäi 0u käna jaktubu scribebat , wörtlich etwa fuit scribens , ist
wol nicht zu übersehen.
Nach dem bisherigen kann also nicht in zweifei gezogen werden,
dafs im Semitischen das nomen vom verbum nicht wesent-
lich verschiden ist. Wir können mit Zuversicht behaupten, dafs das
wesen des so genanten verbum im Semitischen von dem des indoger-
manischen verbums völlig ab weicht und dafs es im Semitischen,
trotz seiner flexivischen natur, zu einer durch greifenden Unter-
scheidung von verbum und nomen nicht gekommen ist.
Koptisch.
Das Koptische beut dem Verständnisse seiner grammatischen form
besondere schwirigkeiten deshalb, weil man über die grunzen des Wor-
tes nicht sicher ist. Würden wir der Schwartzeschen art die worte zu
trennen (vgl.Scbwartze, koptische grammatik, herausgegeben von Stein-
thal, Berlin 1850) folgen, so wäre unsere Untersuchung ser leicht und
einfach, denn dann bestünde in dieser spräche zwischen nomen und
verbum gar kein unterschid. Der Sicherheit des ergebnisses wegen wol-
len wir jedoch eine nähere Zusammengehörigkeit der beziehungsele-
25] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 524
mente mit den bedeutungselementen im Koptischen voraufs setzen (vgl.
zur Morphologie der Sprache in den Mämoires de l'Acadämie Imperiale
des Sciences de St. Petersb., VII0 s6rie, Tome I, Nro. 7. St. Petersburg
4 859, s. 24 flg.).
Was zunächst das nomen betritt, so hat es eine vom Indogermani-
schen völlig verschidene form. Es hat nämlich keine declination. Die
casus werden mittels praepositionen aufs gedrttkt. Nun könte man dise
elemente als mit dem nomen ein wort bildend , als casuspraefixe auf
fafsen, die in irer nomenbildenden function natürlich eben so berechtigt
waren, als die casussuffixe des Indogermanischen. Diser auffafsung tritt
aber der umstand in den weg, dafs eine praeposition auf merere durch
'und' verbundene nomina wirken kann, z. b. Genes. XII, 7 (Uhlemann,
linguae copticae grammatica, Lips. 4853, pg. 52) nak nfm iTFKxpox
nak nem pek-grog tibi et semini tuo; NA na 'versus, ad' bezeichnet den
dativ ; K k ist suffix der II. person sing, masculin. ; NEM nem atque,
etiam; iTEpe ab geschwächtes demonstrativen, fungiert als artikel des
singularis mascul. ; xpox grog semen. Hier wirkt also NA na auch auf
ITEKicpox pekgrog und macht es zum dativ. Luc. XII, 56 (Schwartze,
koptische gramm. syntax § 54, s. 486) ngo N T<|>E NEM m KAgi p-ho
en t-<pe nem pi kahi facies caeli et terrae ; n p artic. sing. masc. ; go ho
facies; N en, vor labialen und b ch ero, bezeichnet irgend einen casus,
der nicht nominativ ist, hier den genitiv ; T t articul. sing. fem. ; ty$ (pc
coelum ; NEM nem atque, etiam ; m pi articul. sing. masc. ; KAgi kahi
terra. Hier wirkt also n en auch auf TTlKAgi pi-kahi. Dergleichen fälle
sind natürlich häufig. Sie beweisen , dafs wir es nicht mit casusprae-
fixen, die mit dem wortstamme zur einheit des wortes verwachsen sind,
sondern mit praepositionen, mit getrenten worten zu tun haben; d. h.
es gibt im Koptischen keine declination wie im Indogermanischen , also
auch keine nomina der art , wie wir sie dort fanden. Solche beispile,
wie die oben an gefürten , würden im Indogermanischen etwa lauten
z. b. akva ka vägha s anstatt akvas ka väghas equus et currus (an genom-
men dafs ka also gebraucht und gesteh werden könte ; in Wirklichkeit
wäre akvas väghas ka für die indogermanische Ursprache in ansatz zu
bringen).
In der regel hat das nomen einen artikel , einen bestirnten oder
einen un bestirnten , vor sich und ist hierdurch in fast allen fällen als
solches kentlich. In der vor ligenden spräche ist der artikel entschiden
522 Aue. Schleicher , die Unterscheidung von [26
als an das nomen an geschmolzen zu betrachten, da er oft nur aufs einem
einzigen consonanten besteht, der unter dem lautgesezlichen einflufse des
anlautes des nomens steht; z. b. noypo p-uro masc. 6 ßaadsvg; THTTi
t-epi fem. 6 äQiÖ/uog; (J)OyHB <p wev 6 ieQevg; OBAKl th-vaki fem. ij
noXtg. Der unbestimte artikel ist auch hier das verkürzte zalwort eins.
In gewissen fällen steht jedoch der artikel nicht, und dann fttft
jeder formelle unterscbid zwischen nomen und verbum hinweg. Ein
nomen one artikel unterscheidet sich in nichts von einem verbum one
personalbezeichnung , wie solches im imperativ vor zu kommen pflegt,
z. b. ccotfh sotem audi, audite und auditus, obedientia. Da im Indo-
germanischen auch der imperativ eine verbal form ist, welche ursprüng-
lich stäts eine personalendung hatte , die in gewissen fallen ja auch bis
in spätere lebensperioden der spräche verblib, so haben wir schon hier
einen beweis dafür, dafs im Koptischen nomen und verbum nicht so
durch greifend gesondert sind , als im Indogermanischen.
Ein fernerer beweis für die selbe warnemung ist der umstand,
dafs das demonstrativpronomen, d. h. der stamm des selben (one casus*
element, denn dergleichen gibt es ja im Koptischen nicht, wie wir oben
sahen) zugleich als verbum substantivum fungiert; z. b. nepe = ö und
eori mascul. ; TB te =s rj und iari femin. ; NE ne = oi , ai und eial msc.
femin. Eben so mit der negation ; an JUS an pe non est masc. ; an TE
an te non est femin. ; AN NE an ne non sunt masc. u. fem. (Uhlemann, lin-
guae copticae grammatica § 42, pg. 37). Z. b. ANOK ITC m KOfSi anok
pe pi kugi iyto 6 /uxqoq ich bin der kleine. Indogermanisch ist difs
unmöglich , weil in diser spräche ein stamm nicht zugleich nomen und
verbum sein kann. Änlicher weise findet sich der mangel eines verbum
substantivum in zalreichen sprachen, in denen sich kein eigentliches
verbum entwickelt hat, oder, genauer gesagt, in denen es nicht zum
gegensatz von nomen und verbum gekommen ist. Wir werden auf disen
punct noch mermals gefürt werden.
Gewisse nomina , die so genanten pronominalsubstantiva und die
pronomina haben den artikel nicht und hängen die possessivsuffixa an
iren aufslaut. Warscheinlich haben wir in disen fallen reste einer älte-
ren Sprachgestaltung vor uns. Dise nomina fallen in der form völlig mit
den verben zusammen, welche die persona laufsd rücke an iren aufslaut
hängen; auch dise stammen warscheinlich aufs einer früheren sprach*
periode. Diser so genanten verba sind es freilich ebenfals nur wenige,
27] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 523
aber zu inen gehören die wichtigen stamme, welche als tempus- und
modusaulsdrtlcke vor andern verbalstttmmen , welche leztere unverän-
dert bleiben , ire stelle haben. Die personalsuffixa sind bei allen disen
stammen die selben, sowol bei denen, die man als verba betrachtet,
als bei denen , die als nomina und pronomina gelten , z. b.
pco-q , pCD-C ro-f, rö-s cro/ia ccvrov, oto/m avrrjc.
JtTO-q , ntoc ento-ft entos ille, illa.
NTA-q , nta-C enta~f% enta-s eius msc, eins femin.
e-q, e-c e-f, es est msc, est femin.
TTCXA-q, fTEXA-C pega-f, pega-s dixil msc, dixil femin.
u. s. f.
Hier feit also nomen und verbum volkommen in der form zusam-
men und es ist nicht zu entscheiden, ob die stamme, welche vor den
personalsuffixen stehen, nominale oder verbale stamme sind.
So tritt ser häufig ein stamm A a auf, dem man die bedeutung
'esse* (Schwartze § 144), 'habere, esse' (Uhlemann, § 30) gibt, und in
der tat findet sich diser stamm in diser function z. b. a-n a-» 'sunt'
(Peyron lexic. copt. s. v. a) ; auch Schwartze fürt AK a-k, A-q a-f, A-C
a-s in der function 'es, est msc, est femin/ an. Dises A a ist aber mög-
licher weise auch ein pronomen , wie difs auch Schwartze aufs spricht
(§ 1 49). Wie mit disem A a, so verhält es sich aber mit mereren anh-
eben dementen, z. b. e e in E-q e-f est mascul., S-C es est femin. (Uh-
lemann § 29) u. s. f. Uhlemann (§ 4 6) betrachtet e e als verbalwurzel
mit der function 'esse , Schwartze dagegen (§ 4 46) fafst es als relativ
und ttbersezt z. b. Ftj ef mit ' welcher er = m>\ ec es mit 'welcher sie
ss ovaa. Ferner N en quod (Uhlemann § 34, pg. 30), aber mit Suffixen
z. b. N-+ en-ti sim, N-q en-fsbl masc, Jt-C ens sit femin. u. s. f.
Sind nun A a, e e, u en verba oder nomina? Warscheinlich wol
sowol das eine als das andere oder vilmer richtiger keines von beiden,
sondern verbum und nomen sind in den an gefürten ftrtlen eben noch
nicht geschiden und ein und dieselbe form kann als verbum sowol als
als nomen (unserer sprachen) gelten.
Dise elemente dienen nun andern stammen (so genanten verbis)
zum beziehungsaufsdrucke. Z. b. N-+-TCOM en-ti-tom, wörtlich etwa 'quod
ego claudere', d. i. ut claudam; A-q-MEü)T a-f-meit migravit u.a. Eben
so gebildet ist aber auch A-q-OCDN a-f-&6n ubi est masc, a-cbcdn
as-&6n ubi est femin. zu eo)N &6n ubi ; ferner zeigen den gleichen bau
524 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [28
die nomine mit artikel und possessivsuffixen , z. b. ne-q-p AN pe-f-ran,
wörtlich etwa 'der-sein-name' nomen eius u. s. f. Lauter bildungen, in
denen kein unterschid zwischen verbum und nomen zu bemerken ist.
Ferner zeigt sich die mangelnde worteinheit , der nicht feste zu-
sammenschlug der pronominalen personbezeichnung mit dem verbal-
stamme, also der vom Indogermanischen völlig verschidene character
des Koptischen darin, dafs das concrete Substantiv anstatt des pronomi-
nalen personalaufsdruckes beim so genanten verbum ein treten kann.
Z. b. nsxAq pega-fdixit, wörtlich etwa cdicere eius9, aber nexe ABpAAM
pege avraam dixit Abraham (Genes. XXII, 5), wörtlich etwa 'dicere Abr.'.
Im Indogermanischen würde sich das so aufs nemen, z. b. im Lateini-
schen: dixi- Abraham für dixi-t; AqMEjjjT a-f-mest migravit (über A-q
a-f s. o. MPcyT mest migrare, peragrare), aber X XepAM mfjj)T a avram
mest (Genes. XII, 6) migravit Abraham, wo für das pronomen q /"in a-f-
mest das substantivum ein getreten ist.*) Ware ein solches verfaren im
Indogermanischen möglich , so könte man z. b. neben indogerm. ai-ü
(altind. e-ti, lat. i-f, älter ei-t er geht) sagen ai varkas (it lupus), latei-
nisch t lupus anstatt ai-ti varkas, lat. it lupus. Das substantivum ersezt
im Koptischen die personalbezeichnung. Die formen , welche man im
Koptischen verba nent, sind difs nicht im indogermanischen sinne, denn
auch der personalaufsdruck ist disen so genanten koptischen verben nicht
absolut wesentlich (man erinnere sich der oben bei gebrachten falle
wie ne pe est msc., te te est femin. u. s. f.).
Die häufige praesensbildung mit vor geseztem pronomen — indem
dises zugleich die function 'sein* involviert — z. b. •f--T(DM ti-tom claudo,
q-TCOM f-töm claudit msc, c-tcdm s-tam claudit femin. u. s. f., stimt in
morphologischer beziehung zu der Verbindung des nomens mit dem ar-
tikel, z. b. +-kü)C ti-kös sepultura, •f-KCDC ti-kös sepelio, m-T(DM pi-töm
'der verschlufs, der zäun' u. s. f. Nur dadurch unterscheiden sich dise
beiden bildungen, dafs bei den so genanten verbis ein persönliches pro-
nomen, bei den nominibus ein demonstrativer pronominalstamm vor
dem wortstamme steht.
*) Übrigens kann man im Koptischen auch das substantivum mit der so genan-
ten nominativpartikel dem vollen verbalaufsdmcke bei fügen, z. b. Aq(Tl NOT ABpAM
af-ki enge avram cepit Abraham (über A-q a-f ist bereits gehandelt; (Fl ki capere,
accipere ; NOT enge nominativpartikel) .
29] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 525
Das schlufsergebnis unserer betrachtung des Koptischen kann
demnach kein anderes sein, als die Überzeugung, dafs eine Schei-
dung von Domen und verbum im Koptischen nicht statt
findet.
Magyarisch.
Im Magyarischen, wie auch in andern dem selben verwanten oder
in der form mit im überein stimmenden sprachen , ist verbum und no-
men meist, nach dem ersten blicke auf die formen zu urteilen, deutlich
geschiden. Untersucht man jedoch die formen genauer, so finden sich
zalreiche belege dafür, dafs auch hier dise Scheidung keine durch grei-
fende ist, wie im Indogermanischen, so dafs wir auch im Magyarischen
mit der vom Indogermanischen her genommenen definition von nomen
und verbum nicht durch kommen. Vilmer gibt es im Magyarischen und
in sämtlichen gleich gebauten sprachen zalreiche teile, in denen nomen
und verbum in der form völlig zusammen fallen , d. b. die Scheidung
von nomen und verbum ist auch hier nicht volzogen.
Am deutlichsten scheint sich wirklich verbale natur zu zeigen in
denjenigen verbalformen , welche aufser dem subject auch das object
an deuten« Dise formen, welche sich vereinzelt nicht selten in den
sprachen finden , im Baskischen und in zalreichen sprachen der neuen
weit aber bekantlich in besonders aufs gedentem mafse entwickelt
sind, pflegt man einverleibende zu nennen. Im Magyarischen gehört
hierher die so genante bestirnte conjugation, z. b. vär-jä-tok ir erwartet
es, in, sie (vär, wurzel, mit der bedeutung warten, erwarten; -jd- be-
zeichnet das object; -tok ist das suffix der II. pers. pluralis); k4r-l-ek
ich bitte dich (kär, wurzel, bitten; -/- drükt die beziehung auf die II.
person aufs ; -ek bezeichnet die I. person als subject). *) Und dennoch
zeigt sich sowol in den amerikanischen Indianersprachen als auch im
Magyarischen selbst, dafs dise einverleibenden formen nicht eigentliche
verba im indogermanischen sinne sind. Die suffixa, welche das subject
des verbums bezeichnen , kommen hier vor allem in betracht und von
disen werden wir sehen, dafs sie sich nicht wesentlich von den pos-
*) Das medium des Indogermanischen ist ebenfals eine solche einverleibende
form. Ein urspr. bhara-ta~ti = q)tQtxa[r)i unterscheidet sich nur dadurch vom acti-
vum bhara-H = yigityi, dafs nach dem verbalstamme die pronominalwurzel ta, um
das object zu bezeichnen, ein gefügt ist.
526 Aug. Schlbkhbb, die Untkbscheimjng von [30
sessivsuffixen am nomen unterscheiden (vär-jä-tok ist eigentlich ' euer
es warten' wie ruhä-lok euer kleid) ab gesehen davon , dafs selbst dise
einverleibenden formen adjectivisch gebraucht werden können. Davon
weiter unten. Im wesen der einverleibung ligt aber keineswegs etwas
entscbidert verbales , denn auch eine nominalform kann transitive func-
tion haben (man erinnere sich der participien und infinitive).
Was zunächst das nomen des Magyarischen betritt, so sehen wir
hier, wie in zalreichen andern sprachen, die casus Verhältnisse durch
postpositionen aufs gedrttkt, von welchen das Magyarische eine grofse
anzal auf zu weisen bat. Der blofse stamm one casuszeichen, im plural
mit dem pluralzeichen versehen, gilt als noroinativ, der blofse nominal-
stamm hat aber oft auch andere Casusverhältnisse zu vertreten (s. u.
beim Ostjakischen). Schon hierdurch erweist sich das magyarische no-
men als grundverschiden von dem des indogermanischen , welches nie-
mals als lebendiges wort eines Casuszeichens entraten kann. Dafs aber
auch die postposition nicht einem indogermanischen casussuffix gleich
zu achten ist, dafs sie nicht mildem nominalstamme zu einem untrenba-
ren wortganzen zusammen geht, wie difs im Indogermanischen der fall
ist , dafs also nicht der stamm erst durch das casuszeichen zum worte
wird, wie im Indogermanischen, sondern als solcher schon als wort
fungieren kann, dafs also das magyarische wort etwas ganz anderes ist,
als das indogermanische, zeigt sich deutlich darin, dafs die postposition
bei coordinierlen nominibus den voran gehenden entzogen werden kann
und nur bei dem lezten zu stehen braucht; z. b. ajö embernek dem gu-
ten menschen (a für az demonstrativem), artikel; jö gut; ember mensch;
-nek -nah postposition etwa im sinne unseres dativs) Air *az-nak (annak)
jö-nak ember-nek (als könte man im Griechischen sagen *ro äya&o av-
#(H»ftp« Das vor dem substanlivum stehende attributive adjeetiv steht
stats in der reinen stamform, pluralzeichen und casuspostpositionen treten
nicht an das selbe. So sagt man z. b. Hunyady Mätyäs magyar kiräly-nak
dem ungarischen könig Mathias Hunyady, -nah gehört hier zu allem vor-
her gehenden. Anliches findet bei mit cund' verbundenen worten statt
(vgl. oben den entsprechenden fall bei den koptischen praepositionen).
Beim activen verbum hat die dritte person keine personalbezeicb-
nung, es fäll also die dritte person singularis des unbestimten verbs in
der form mit dem verbalstamme zusammen. Dise dritten personen
sind also, nach indogermanischem mafsstabe, keine verba ; z. b. III. sing.
34] Nomen und Verb im in der lautlichen Form. 527
vor er wartet , var-ja er erwartet in , es t sie ; ja bezeichnet das object ;
HI. plur. väm-ak (das n halte ich für rest eines verbalnomen, das hier
anstatt des in den andern personen bräuchlichen Stammes ein tritt) sie
warten; vär-jä^k, der regelrecht auf nominale art von vär-ja gebildete
pluralis, sie erwarten es, in, sie. Das -ak, -k ist das gewönlicbe plural-
zeichen der nomina.
Eben so in andern temporibus und modis. Z. b» perfectstamm
vär~tt bedeutet zugleich er hat gewartet; vär-t-a er hat es erwartet (a
ist mit ja gleich bedeutend , auch an nominibus) ; III. pluralis var-t-ak
sie haben gewartet ; vär-t-a-k sie haben es erwartet u. s. f. Lauter echte
nominalformen, oder vilmer formen, die sowol nomina als verba sein
können.
Da nun , wie wir oben sahen, der nominativ der nomina aufs dem
blofsen stamme besteht, so fallen nominativ singularis und III. singula-
ris praesentis der un bestirnten form in allen fällen völlig zusammen , in
welchen ein und der selbe stamm sowol als verbum als als nomen in
gebrauch steht. Hierauf macht bereits R6vai (antiquitates literaturae
hungaricae I, Pest 4803, s. 199, § 101) aufmerksam und fürt beispile
an wie nyom vestigium, premit ; ter spatium, spatiosus, revertitur, con-
vertitur, quasi spatium conficit ; fagy gelu, gelascit; fog dens, capit u.s.f.
Der fall ist nicht selten, er tritt auch bei stammen mit stambildungssuf-
fixen nach der wurzel ein, z. b. vad-äsz jager, erjagt; hal-äsz Bscher,
er fischt; ir-at schritt, er läfst schreiben u. s. f.
Ferner lautet ein teil der personalsuffixa am verbum und der pos-
sessivsuffixa am nomen völlig gleich ; durchweg ist difs allerdings nicht
der fall. Leider feien uns magyarische Sprachdenkmale höheren alters;
halten wir die spräche in einer wesentlich ursprünglicheren form zur
Verfügung, so würde sich manches erklaren lafsen, das bei dem vor
ligenden sprachmateriale dunkel bleibt.
Man vergleiche z. b. :
stamm värt gewartet stamm hol fisch
Singularis.
I. värt- am ich habe gewartet hal-am mein fisch
II. värt-ad du hast in, es, sie erwartet (das haUad dein fisch
objectspronomen ist in diser form ge-
schwunden)
III. värl-a er hat in erwartet haUa sein fisch.
528 Aüg. Schleicher, die Unterscheidung von [32
Pluralis.
I. värt-unk wir haben gewartet hal-unk unser fisch
II. värt-atok ir habt gewartet hal-atok euer fisch
vart-är-tok ir habt es, in, sie er- ruhä-tok euer kleid (stamm ruha)
wartet (stamm vart-a)
III. värt-ak sie haben gewartet hal-ak fische
värt-ä-k sie haben es, in, sie er- ruhä-k kleider.
wartet.
Natürlich fallen auch andere personen als die dritten nicht selten
mit nominibus völlig zusammen , wie z. b. vaddsz-unk 'unser Jäger und
'wir jagen u. dergl. mer.
Hat , wie schon gesagt , das verbum auch manche endung für sich,
die am nomen nicht erscheint, wenigstens nicht in der heutigen spräche
(z. b. I. sing, vär-ok ich warte , II. sing, vär-sz du wartest und andere),
so folgt doch aufs der oben gegebenen Zusammenstellung, dafs difs
nicht im princip der spräche ligt, dafs es vilmer zufälliger art ist, wenn
nomen oder verbum etwas inen aufsschliefslich eigentümliches zeigen.
Ein durch gefUrter, principieller gegensatz in der bildung diser beiden
redeteile läfst sich keinesweges im Magyarischen nach weisen.
Das dem nominalen nahe stehende wesen des magyarischen ver-
bums tritt aber ferner noch deutlich zu tage in dem adjectivischen ge-
brauche der verbalformen. Es kann nämlich eine verbalform geradezu
als adjectivum zu einem substantivum gesezt werden. Z. b. a hallod
dolgok, wörtlich : die du-hörst-sie (bestirnte form) dinge (a abgekürztes
pronomen demonstrativum , artikel ; hall- od II. sing, praesenlis bestirn-
ter form zu würz, hall hören ; dolg-ok pluralis zu sing, dolog ding), d. h.
die dinge, die du hörst. Häufiger ist diser gebrauch im perfectum, z. b.
a hallottam beszed 'die ich-habe-sie-gehört rede1, die rede , welche ich
gehört habe ; a kärt vallott ember 'der schaden bekante (bekant habende)
mensch', d. i. der mensch, der schaden (fair, accus, sing, kär-t) gelitten
hat u.a. (Bloch, ungarische grammatik, 3. aufläge, Pesth 1848, s. 183,
§ 1 42). In dem zulezt an gefürten beispile ist vallott deutlich participium
praeteriti zu voll er gesteht, bekent, sagt aufs; difs participium gilt nun
eben so zugleich als III. sing, perfecti, wie der blofse verbalstamm als
III. sing, praesentis. Hier ligt die identität von adjectivum und verbum
auf der band. Da nun aber auch die andern personen des verbi , nicht
blofs die dritte , adjectivisch gebraucht werden , so folgt daraufs , dafs
33] Nomen dnd Verb im in der lautlichen Form. 529
durch die anftlgung der sufßxa zur bezeichnung der handelnden person
und des objects die nominale, hier atljectivische natur nicht geändert
wird ; a hallottam beszöd ist also eben so vil als 'die mein-sie-gehört
rede' ; a hallod dolgok etwa 'die dein-sie-hören dinge*.
Übersiht man alles das, was im bisherigen über die conjugation
des Magyarischen an gefürt ward» so ergibt sich, dafs auch für das Ma-
gyarische der indogermanische gegensatz von nomen and verbum keine
geltung hat. Verba und nomina zeigen im Magyarischen eine
im wesentlichen gleichartige form, d. h. nach indogerma-
nischen begriffen gibt es im Magyarischen weder nomina,
noch verba.
Finnisch.
Die sämtlichen mit dem Finnischen und Magyarischen verwanten
sprachen hier durch zu nemen, ist wol nicht erforderlich ; es genügt für
unseren zweck , wenn wir einige sprachen , besonders aber die vor-
nemsten Vertreter der finnischen sprachgruppe auf die hier in betracht
kommenden formen an sehen. Dafs vor allem aufser dem Magyarischen
das Finnische im engeren sinne, das Suoini, in betracht komt, bedarf
keiner begrttndung. Meine hilfsmittel für das Studium des Finnischen
sind 6. E. Eurän, finsk Spräklära, Abo 1849; des selben Finsk-Swensk
Ordbok, Tavastehus 1 860 ; G. Renvall, lexicon linguae Fennicae, Aboae
1 823 — 1 826, bisweilen benuzte ich auch das Svenskt-Finskt Handlexi-
eon, Helsingfors 1853. Texte zu leseübungen stehen mir in den Ver-
öffentlichungen der finnischen litteraturgeselschaft in reichem mafse zu
geböte.
Auch im Finnischen feit eigentlich stäts der nominativus singularis
mit dem stamme der nomina zusammen,*) er hat kein casuszeichen;
*) Beiläufig sei bemerkt, dafs das Finnische besonders in einer beziebung für
die glottik von bedeutung ist. Man findet nicht selten vereinzelt in den sprachen die
benutzung secundärer lauterscheinungen zur andeutung functioneller unterschide, be-
sonders zum aufsdrucke und zur Unterscheidung von beziehungsfunctionen (z. b. no-
dag neben nodee, gemeinsame grundform beider casus ist aber padas, früher allerdings
padas nom. plur., padams accus, plur.) . Im Finnischen ist difs verfaren so zu sagen
zu einem princip der Wortbildung geworden So lautet z. b. der nominativ singal.
eines Stammes vastaukse (antwori), der sich in diser form als nommativ vor Suffixen
erhalten hat (z. b. vastaukse-ni meine antwort) nicht mer also , sondern vastaus , wo-
durch sich also diser casus scharfer von andern ab sezt (z.b. vastaukse-lta ablat.) ; es
Abhandf. d. K. S, Gesellscb. d. Wissensch. X. 36
530 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [34
auch hier ist also, im gegensatze zum Indogermanischen, ein stamm zu-
gleich wort. Wenn sich bei vilen stammen dennoch der nominativus
singularis in seiner form von der andern casus zu gründe ligenden stam-
form unterscheidet, so ist difs lediglich eine folge später ein getretener
lautlicher Veränderungen, von denen die nominativform sich frei gehal-
ten hat , wenn ein suffigiertes pronomen an sie an tritt.
Der vom nomen nicht wesentlich verschidene character des finni-
schen verbums tritt deutlich hervor zunächst in der dritten person plu-
ralis auf -vat, -vät (der Wechsel von a und ä beruht auf dem bekanten
gesetze der vocalharmonie) , -/. Dises t ist offenbar das selbe element,
welches auch beim nomen als pluralbildend erscheint ; es ist auf den
nominativ pluralis beschränkt (z. b. karhu ursus, nominal, plur. karhu-t),
vor den endungen der andern casus wird ein anderes pluralzeichen (*)
gebraucht, welches auch im Magyarischen in gewissen fällen an gewant
wird. Das -va- der endung -vat, -vä-t halte ich für identisch mit dem
suffixe va, welches ein partieipium bildet;*) z. b. stamm saa aeeipere,
partieip. saa-va aeeipiens, HI. plur. praes. saa-va t aeeipiunt, wörtlich
aeeipientes. Die als dialectisch von Euren bei gebrachten formen wie
saavaüen scheinen durch das antreten einer anhangspartikel entstanden
zu sein, von denen das Finnische einen ser aufs gedenlen gebrauch
macht.
Die 111. pers. singularis zeigt eben so wenig ein personalsuffix, z. b.
saa aeeipit. Sie nimt aber gerne den zusatz eines -pi (in gewissen fällen
lautgesezlich wechselnd mit -vi) an, also saa-pi, worin man mit Renvall
wol nur eine an gehängte partikel sehen kann, mittels deren das Finni-
sche den worten oft nur einen gröfseren nachdruck zu verleihen liebt.
In disen dritten personen haben wir also formen vor uns, die, mit indo-
germanischem mafsstabe gemefsen , nichts verbales an sich haben.
Die ersten personen endigen im singularis auf -n , im pluralis auf
-inme; z. b. saa-n aeeipio, saa-mme aeeipimus. Die endung der I. sing,
-n fafse ich als eine Verkürzung von -ni (vgl. die II. sing.); -vi ist das
possessive suffix der I. singularis beim nomen /. b. maa-ni terra mea),
heifst repii (er zerreifst) , repivät (sie zerreifsen) aber revit (du zerreifsest) , revimrne
(wir zerreifsen), revitte (ir zerreifset) u. s. f.
*) Auch im Magyarischen scheint die HI. pluralis praesentis und dem praesens
'anlich gebildeter lempus- und modusformen auf einem partieipium zu beruhen.
35] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 531
-mme aber lautet eben so als possessives suffix der nomina (z. b. maa-
mme terra nos(ra). Die entsprechenden selbständigen pronomina sind
mim ego, me nos. Ob die von Eurän an gefürte dialectforro -mma,
-mmä für -mme auch als possessivsufßx vor komt, vermag ich nicht zu
ermitteln.
Die zweiten personen endigen im praesens und in meieren andern
tempus und modus im singularis auf -f, im pluralis auf -tte; z. b. saa-t
accipis, 8aa-tte, dialectisch saa-tla accipitis. Sie sind dem verbum ei-
gentümlich. Die entsprechenden possessivsuffixe sind sing, -si, plur.
-nne; z.h.maa-si, maa-nne. Die selbständigen pronomina sind sind tu, te
vos. Es verhält sich also me zu -mme wie te zu -tte und es dürfte daher
zufällig sein, dafs das dem -mme volständig entsprechende -tte nicht fürs
nomen gebräuchlich ist, sondern nur beim verbum auftritt. Im optati-
vus erscheint jedoch in der IL singularis das personalsuffix, welches
nach analogie der ersten person zu erwarten war, nämlich -s; -n : -m
= -s:-si. Dise IL sing, optativi lautet z. b. saao-s, nach den laut-
gesetzen fUr saa-ko-s (vgl. maa-si terra tua).
Die zweite pers. sing, imperativi ist, wie in zalreichen dem Finni-
schen verwanten und nicht verwanten sprachen, der blofse verbal-
stamm; z. b. saa accipe, sano die u. s. f. Eur£n schreibt allerdings saa,
sano' als wäre hier am ende etwas hinweg gefallen ; ich glaube nicht
mit recht. Auf dises so genante aspirationszeichen werden wir weiter
.unten zurück kommen.
Der nachweis, dafs auch im Finnischen, wie im verwanten Magya-
rischen, der gegensatz von nomen und verbum nicht durch greifend
entwickelt ist, ist im bisherigen bereits bei gebracht.
Doch werfen wir noch einen blick auf das finnische verbum.
Die stamme des Optativs und imperativs (mit aufsname der II. per-
son singularis), z. b. optativstamm saa-kot repi-kö (repi, revi rumpere,
lacerare), imperativslamm saa-ka, repi-kä, bestehen, wie leicht zu er-
kennen ist, im optativ aufs dem verbalstamm und der fragepartikel -fco,
-fco, im imperativ aufs dem verbalstamme und der hervor hebenden an-
hängepartikei -ka, -kä. In der III. person singularis und im ganzen plu-
ralis tritt in beiden modus noch -A+n, das heifst -A+vocal der vorher
gehenden silbe -fr-w, an; warscheinlich ist difs -h+n die häufig ge-
brauchte anhängepartikel -hau, -hän, die sich gerne mit -ka, kä verbin-
36*
532 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [36
det, die aber hier iren vocal dem der vorher gehenden silbe assimi-
liert, z. b.
Optativ Imperativ
Singularis.
I. in beiden modus nicht gebräuchlich.
II. $aa-o-$ für saa-ko-s andere bildung.
III. saa-ko-hon9 gewönl. saa-ka-han, gewönl.
saakoon saakaan
Pluralis.
I. saa-ko-ho-mme , gewönl. saa-ka-ha-mme , gewönl.
saakoomme saakaamme
II. saa-ko-ho-tte saa-ka-ha-tte
saakootte saakaalte
III. saa-ko-ho-t saa-ka-ha-t
saakoot saakaat.
Der schwund des n vor consonanten, wie in saakoho-mme u. s. f.
für *8aa-ko-hon-mme u. s. f., ist auch sonst im Finnischen gewönlich.*)
Die dritten personen des singularis haben hier also gar nichts, was
sie zu nomina oder zu verba stempelte , sie bestehen aufs einem wort-
stamme mit an gehängten partikeln. In den übrigen personen treten
noch die gewönlichen pronominalsuffixa hinzu , in der III. pluralis das
pluralzeichen.
Der lautform nach könte man geneigt sein bei $aa-ko-hon, saa-ka-
han an das -A+n, sufßxpronomen der III. singularis zu denken (z. b.
maassaan für maa-ssa-han in seinem lande ; tnaa-ssa inessiv zu maä)t das
regelmäfsig sich mit seinem vocale nach dem der vorher gehenden silbe
richtet. Dann müste man an nemen dafs für den plural die III. singu-
laris als stamm gelte, was zwar in den sprachen nicht unerhört ist (vgl.
z. b. poln. jest-em sum, jest-estny sumus u. s. f., von jest est, anstatt von
jes, dem stamme des praesens, gebildet), mir jedoch weniger war-
scheinlicbkeit für sich zu haben scheint, zumal in sprachen, die dem
Finnischen nahe stehen (so im Osljakischen , Samojedischen) , in der
*) Dlse formen erinnern gar ser an die jungen litauischen imperative wie du-
ki-me y du-ki-te, bei denen im k auch eine parükel slekt (vgl. litauische grammalik,
§ 4 08, s. 229 flgg.)- In disen litauischen imperativen haben wir also warscheinlicb
einen finnismus zu erkennen.
37] Nomen und Verbum in der lautlichen Forb. 833
selben weise partikeln an so genante verbalstamme treten um modus-
Stämme zu bilden. Jedes fall es entraten formen wie saakohon eines spe-
cifisch verbalen characters.
Nicht bedeutungslos für die beurteilung des finnischen sprachgefüls
bezüglich des gegensatzes von nomen und verbum ist auch der um-
stand , dafs casus von pronominalstammen , die als partikeln fungieren,
mit den selben personalendungen, welche an die verba treten, versehen
werden können. Z. b. relativer stamm ku (nomin. sing, ku-ka mit dem
bereits erwähnten an gehängten ha) ; inessivus hussa, d. h. ubi ; elati-
vus ku-sta, d. h. unde, und nun von disen casusformen I. sing, kn-ssa-n
ku-sta-n ubi ego, unde ego; II. sing, ku-ssa-s, kusta-8 ubi tu, unde tu
u. s. f. (Renvall lex. s. v. kuka). Änliches findet in andern füllen der
art statt. Difs erklart sich mir auf die weise, dafs die so genanten per-
sonalendungen des finnischen verbum nichts anderes sind als die an
den nominibus gebräuchlichen possessivsuffixa, denn auch dise treten
nach der casusendung an (z. b. tnaa-ssa-ni terra in mea) ; an ein aufs
gelafsenes oder verflüchtigtes ole-n sum , ole-t es u. s. f. kann hier nie-
mand denken. Man vergleiche hierzu auch magyarische bildungen wie
näl-am apud me , häl-ad apud te u. s. f., wörtlich: meum apod, tuum
apud. Ist aber ein ku-ssa-n wörtlich ein 'meum ubi', das auch die func-
tion von 'ubi ego' hat, so wird auch wol ein saa-n nichts anderes sein
als c meum accipere', d. i. accipere ego, accipio. Die finnischen perso-
nalbezeichnungcn am so genanten verbum sind also etwas ganz ande-
res, als die personalendungen des Indogermanischen.
Dafs der personalaufsdruck dem finnischen verbum nicht so we-
sentlich ist als dem indogermanischen, zeigt auch die so genante nega-
tive conjugaüon , in welcher nach dem 'negativen verbum' (von dem es
ser dahin steht, ob es disen namen verdient) der blofse lempus- oder
modusstamm steht, one personbezeichnung. Die grammatik, aber auch
nur dise, versiht in disem falle allerdings den tempus- oder modus-
stamm mit dem aspirationszeichen , als wäre etwas hinweg gefallen.
Bei disem aspirationszeichen ist es mir jedoch ser zweifelhaft, ob es
mer sei als ein blofses zeichen , das die grammatik irer theorie zu folge
sezt; eine lautliche geltung scheint es kaum zu haben (für den inlaut
stelt eine solche Eurön selbst in abrede, s. 4, § 1 , anm. 4). *) Man sagt
*) Über dise rätselhafte a9piration sagt Earln a. a. orte folgendes : 'ütora fdre-
534 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [38
also im Finnischen sano-n ich sage, aber e-n sano ich sage nicht; sano-t
du sagst, aber e-t sano du sagst nicht ; sanom-n ich würde sagen, aber
e-n sanoisi ich würde nicht sagen u. s. f.
Ergebnis. Die fürs Indogermanische gütige gieichung:
'nomen = stamm -t- casussuffix, verbum = stamm -+• per-
sonalendung' hat auch fürs Finnische keine geltung.
Ostjakisch.
Als beispil einer ostfinnischen spräche mag uns das Ostjakische
gelten (Alex. Casträns Versuch einer Ostjakischen Sprachlehre nebst
kurzem Wörterverzeichniss. Im Auftrage der Kaiserl. Akademie der
Wissenschaften herausgegeben von Ant. Schiefner. St. Petersburg 1 858).
Nach Castren bildet das Osljakische mit dem Wogulischen den östlich-
sten zweig des finnischen Stammes (a. a. o. s. V).
Das Ostjakische bietet im algemeinen die selben ersebeinungen,
wie die übrigen sprachen, die man (mer nach irem baue, als nach irer
wirklichen, leiblichen verwantschaft) unter dem namen der ural-altai-
schen zusammen zu fafsen pflegt. Die Verhältnisse ligen in diser spräche
jedoch einfacher als im Magyarischen und Suomi, so dafs einige wenige
nachweise genügen werden, um dar zu tun, dafs auch im Ostjaki-
schen keine Scheidung von nomen und verbum in der laut-
lichen form statt findet.
Der nominativus singularis, ja sogar der genitiv und aecusativ wird
durch den reinen wortstamm gegeben (§§ 60.61). Difs findet sich übri-
gens in gewissen fällen auch im Magyarischen (vgl. z. b. Bloch — Bai-
lagi — ausführt. Grammatik der ungarischen Sprache, 3. Ausg., Pesth
1848, § 166. s. 217, § 88, s. 137); als solche genitive one suffix be-
trachten wir nämlich die aufserordentlich häufigen fälle, in denen, wie
man gewönlich sagt, die postposition -nah, -nek 'hinweg gelafsen oder
'hinweg gefallen sein soll; den aecusativen anderer sprachen kann man
aber manche adverbielle aufsdrücke des Magyarischen vergleichen, z. b.
este abends, minden-nap jeden lag, täglich u. s. f. Das adjeetiv als sol-
nUmde ljud, har finska spräket aspiralionen, hvilken beslär i en utaodoing vid
slutet af nägra ord. Sä väl i slutet som inuti ord , der den forekommer, 8r den en
femning af en försvunnen konsonant, inen inuti ordet hores den icke. Den brukas
ocksä blott i spräkläror, för att forklara vissa bokstafsförvandlingar. I denna bok be-
gagnas s&som aspirationstecken ('); t. ex. sano' sSg; tuoda att hemta.'
39] Nomen und Verb im in der lautlichen Form. S3S
ches entbert im Osljakischen der declination (§ 57), wie im Magyari-
schen (aber nicht im Suomi).
Die possessivsuffixa am so genanten nomen und die personalsuffixa
am so genanten verbura sind gleich lautend. In der transitiven conju-
gation ist difs durchweg der fall , in der intransitiven jedoch nur teil-
weise (vgl. was über dise nur teilweise verschidenheit der an worte
verschidener art tretenden pronominalsuffixa bei gelegenheit des Ma-
gyarischen bemerkt ward).
Die zweite person imperativi ist der reine verbalstamm.
Die Übereinstimmung nominaler und verbaler bildung im Ostjaki-
schen wollen wir an einem beispile vor äugen füren.
stamm äna frau stamm pane legen
(s. 41, § 89) (s. 58, §115)
Singular.
I. ime-m meine frau pane-tn ich legte
II. ime-n deine frau pane-n du legtest
III. ime-t seine frau pane-t er legte.
Dual.
I. ime-men unsere frau pane-men wir (beide) legten
II. ime-den euere frau pane-den ir (beide) legtet
III. imc-den ire frau pane-den sie (beide) legten.
Plural.
I. ime-u unsere frau pane-u*) wir legten
II. ime-den euere frau pane-den ir legtet
III. ime-t ire frau pane-t sie legten. **)
Die disen Suffixen meist zimlich nahe stehenden selbständigen pro-
nomina lauten im nominativ (stamm) :
*) S. 59 steht panen, eben so im futurum panden. Dafs difs drukfeler sei, lert
§ 104.
**) Die Übereinstimmung der !!I. sing, und der III. pluralis würde an das Litaui-
sche erinnern, wenn auch der dualis seine form mit dem singularis teilte. So ist, wie
es scheint , im Ostjakischen dises zusammenfallen der III. sing, und pluralis nur zu-
fällig (t = teu und = teg) .
536 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [40
Singular. Dual. Plural.
I. ma ich (suff. -ro) min (suff. -meri) meh (suflF. -ti, nach Caströns Ver-
mutung — § 85, anm. s. 39 —
eine Wandlung von -m)
II. nen*) du (suff.-n) ntn (suff. -den), neh (suff. -den); nach Casträn steht
ab weichend, neh filr *teh)
s. d. plur.
III. teu er, der (suff. -J) ttn (suff. -den) teg (suff. -t).
In der intransitiven conjugation finden sich, wie im Magyarischen,
für die dritten personen des singularis und pluralis in den Surgut-dia-
lecten formen one personalbezeichnung , z. b. men er gieng (I. sing.
men-em, II. ging, men-en), plur. men-t sie giengen (§ 106, s. 55; § 115,
s. 60); -et -t ist aber das gewön liehe pluralzeichen (§ 60, s. 25 f.). In
disem men-t, im Irtysch-dialect men-et, finden wir also nicht das f der
dritten person, sondern, in Übereinstimmung mit der art und weise der
zunächst verwanten sprachen , eine in gar nichts wesentlichem von ei-
nem plural eines nomens (one suffixe) verschidene form.
Für eine andere ostfinnische spräche , das Mordwinische , ligt ein
vorzügliches Studienhilfsmittel vor in Dr. Aug. Ahlquists Versuch einer
Mokscha-Mordwinischen Grammatik nebst Texten und Wörterverzeich-
nis. St. Petersburg 1861 (Kaiserl. Akad. der Wissensch.). Es tut mir
leid , dafs ich nicht auch dise finnische spräche unter dem hier in rede
siehenden gesichtspunete in betracht nemen kann; ich mufs aber durch-
aufs mit diser arbeit zum abschlufse eilen und sehe mich so genötigt,
es bei den im vorher gehenden erörterten sprachen finnischen Stammes
bewenden zu lafsen. Eine flüchtige durchsieht der formen des Mokscha
hat mich zu der Vermutung gefürt, dafs trotz mannigfacher abweichun-
gen vom Suomifinnischen , die eher für einen starker entwickelten als
für einen noch mer verwischten gegensatz von nomen und verbum zu
sprechen scheinen , das schlufsergebnis einer genaueren Untersuchung
diser spräche dennoch wesentlich in demselben sinne aufs fallen dürfte,
wie beim Magyarischen und beim Suomi.
Samojedisch.
Dafs im Samojedischen nomina und verba in iren formen
zusammen fallen, fürt Casträn (Grammatik der samojedischen spra-
*) Mit ti bezeichnen wir das gutturale n (wie ng in unserem e-ng-e, la-ng-e).
41] Nomen und Verbüm in der lautlichen Form. 537
chen. Im Auftrage der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften heraus-
gegeben von Ant. Schiefner. St. Petersburg 1854, § 214 — 219 und
§ 463 flgg.) des näheren aufs. Diser einzige kenner des Samojedischen
weist darauf hin, dafs das praedicative adjectiv zugleich verbum sei,
z. b. sawa jale ein guter tag, aber jäleda sawa der tag ist gut; auch die
substantiva können zugleich als verba fungieren one irgend welche Ver-
änderung irer form, z. b. bärba 'herr und 'es ist ein herr , jäle 'tag' und 'es
ist tag'. Jedem nomen können nicht blofs im nominativ, sondern in ver-
schidenen casus verbalsuffixe an gefügt werden (§216; vgl. finnische
formen wie ku-ssa-n ubi ego, ku-ssa-s ubi tu; beispile aufs dem Samo-
jedischen habe ich jedoch hierfür nicht finden können , wodurch natür-
lich auch nicht im entferntesten ein zweifei gegen die richtigkeit von
Casträns angäbe entsteht), wie die possessivsuffixa irerseits auch dem
verbum, dessen formen überdifs decliniert werden können (§ 218; auch
für dise leztere erscheinung sind mir keine beispile zur hand).
Der nominativ hat auch im Samojedischen kein suffix (§ 224).
Die possessivsuffixa am nomen und die verbalsufßxa , welche die
beziehung auf das subject verbi aufs drücken , unterscheiden sich nicht.
Die folgende Zusammenstellung mag difs vor äugen legen (die beispile
sind sämtlich derJuraksprache entnommen; Casträns grammatik urafafst
nämlich verschidene samojedische sprachen und dialecte).
stamm lamba Schneeschuh stamm mäda hauen , gehauen
(§ 412, s. 243) haben (§ 494, s. 389)
Singular.
I. lamba-u mein Schneeschuh mada-u ich hieb (irgend et-
was unbestimtes; eigentl.
mein hauen)
II. lamba-r dein Schneeschuh mada-r du hiebst
III. lamba-da sein Schneeschuh mada-da er hieb.
Dual.
I. lamba-mi'*) unser (beider) Schneeschuh mada-mi' wir beide hieben
II. lamba-ri euer Schneeschuh mada-ri' ir beide hiebt
III. lamba-di' ir Schneeschuh mada-di' sie beide hieben.
*) ' bezeichnet hier ein ab gefallenes ri (gutturales n).
538 Aug. Schleicher, die Untebschbidung von [42
Plural.
I. lamba-wa unser Schneeschuh mada-u (als neben form von mada-wa
deutlich erkenbar, -wa und -u wech-
seln auch sonst) wir hieben
II. lamba-ra euer Schneeschuh mada-ra ir hiebt
III. lamba-du ir Schneeschuh mada-du sie hieben.
Die selbständigen pronomina lauten im nominativ, dem der genitiv
gleich ist :
Singular. Dual. Plural.
I. man*) mani maria
II. pudar pudart pudara
III. puda pudx pudu.
Es ligt am tage, dafs die in den oben gegebenen beispilen vor
kommenden suffixa einfache abkürzungen diser selbständigen prono-
mina sind.
Steht das object eines so genanten verbum im dual, so steht ge-
wissermalsen auch das verbum im dualis. Es nimt in disem falle die
selben suffixa an, welche als possessivsuffixa an die dualformen des
nomen treten. Z. b.
Singular.
I. lamba-hajun meine zwei schnee- madana-hajun ich haue (oder hieb)
schuhe (lambaha? zwei schnee- zwei (wörtl. meine zwei hauun-
schuhe) gen)
II. lamba-hajud deine zwei schnee- tnadana-hajud du hiebst zwei
schuhe
III. lamba-hajuda seine zwei schnee- madaria- hajuda er hieb zwei
schuhe
Dual.
I. lamba - hajuni' unsere zwei madaria - hajuni wir beide hieben
Schneeschuhe zwei
II. lamba - hajudi madaria- hajudi'
III. lamba - hajudi madaria-hajudi'
Plural.
1. lamba- hajuna9 unsere zwei madaria- hajuna wir hieben zwei
Schneeschuhe
II . lamba - hajuda' madaria- hajuda'
HI. lamba - hajudu madaria-hajudu\
*) Mit n wollen wir die innige Verbindung von n und /, das palatale n, bezeichnen.
43] ^Jomen und Verb um in der lautlichen Form. 539
Ganz eben so sind nomina und verba im plural gleich, d. h. wenn
das nomen im plural steht, an welches die possessivsuffixa treten und
wenn das object des so genanten verbum ein plural ist. Z. b.
Singular.
I. lambi-n meine Schneeschuhe mada-i-n ich hieb (merere oder
(lambi acc. und gen. plur.) vile)
II. lambi- d deine Schneeschuhe mada-i-d du hiebst u. s. f.
III. lambi- da seine Schneeschuhe mada-i-da
Dual.
I. lambi-ni' mada-i-ni wir beide hieben merere
II. lambi-di' mada-i-di
III. lambi-di mada-i-di'
Plural.
I. lambi-na mada-i-na'
II. lambi- da' mada-i-da'
III. lambi-du mada-i-du*)
Der oben bereits berürte verbale gebrauch der nomina steht der
so genanten bestirnten conjugalion der verba zur seite. Die dritten per-
sonen singularis , pluralis und dualis haben hier gar keine bezeichnung
der person , sondern sind eben die stamme der betreffenden zalen, im
singular also die wortslämme selbst (wie ja auch im Magyarischen und
sonst).
stamm sawa gut stamm mada hauen
(s. 226) (s. 288)
Singular.
I. sawa-m ich bin gut mada-m ich hieb (etwas bestirntes)
II. sawa-n du bist gut mada-n du hiebst
III. sawa er ist gut mada er hieb.
Dual.
I. sawa-nt wir beide sind gut mada-m wir beide hieben
II. sawa- di mada- dt
III. sawaha madaria von einem andern stam-
me für madaria-ha'
*) Hier und sonst teile ich auch aufs d.Qrn gründe grofsere stücke aufs den be-
sprochenen sprachen mit , um nebenbei ,den auf dem gebiete der sprachen weniger
bewanderten, die villeicht von diser abhandlung einsieht nemen, eine wenigstens teil-
weise anschauung von dem Organismus — fast möchte man sagen mechanismus —
wenig bekanter sprachen zu geben.
540 Aug. Schleiche!!, die Unterscheidung von [44
Plural.
I. sawa-wa wir sind gut mada-wa wir hieben
II. sawa-da' ' mada-da
III. sawa mada.
Jakutisch.
Anstatt des Osmanli wälen wir als Vertreter der türkisch -tatari-
schen sprachen das Jakutische. Hierzu bestirnt uns teils der umstand,
dafs uns das Jakutische in der meisterhaften darslellung Böhtlingks
(Über die Sprache der Jakuten. Grammatik, Text und Wörterbuch. St.
Petersburg, Buchdruckerei der Kaiser!. Akad. der Wissenschaften, 1851)
vor ligt , teils die warnemung , dafs das Jakutische im ganzen altertüm-
licher, in seinem baue klarerund ungetrübter ist, als seine türkische
Schwester.
Im ganzen gleichen bek antlich die tatarisch, auch (besonders in
weiterem sinne) altaisch genanten sprachen in irem wesen den finni-
schen. Auch in bezug auf die uns beschäftigende frage fürt die Unter-
suchung diser sprachen zu dem selben ergebnisse, welches sich bei den
finnischen sprachen und dem dem Finnischen nahe stehenden Samoje-
dischen heraufs stelte.
Auch hier gilt der stamm als 'casus indefinitus' des nomen und als
II. sing, imperativi.
Was Böhtlingk casus indefinitus nent, ist das selbe, was im Magya-
rischen u. s. f. von den grammatikern nominativ genant wird. In be-
stirnten fällen bezeichnet clise form im Jakutischen auch das object eines
transitiven verbs , obwol das Jakutische aufserdem noch einen accusa-
tivus indefinitus und einen accusalivus definitus hat. Auch hier steht
das adjectivum vor dem substantivum in seiner reinen stamform —
nach Böhtlingk im casus indefinitus — ; z. b. ölbüt km-lär-gä gestorbe-
nen menschen; nach unserer auffafsung, das dem substantivum an tre-
tende pluralzeichen und die dem selben an gefügte postposition wirkt
auch auf das vorher gehende adjectivum (über den casus indefinitus
vgl. bei Böhtl. § 390, s. 1 59 f.).
Die zweite singularis imperativi, so wie die zweite pluralis und die
dritte person des selben modus hält Böhtlingk für echte verbalformen,
wärend er die übrigen meist so genanten verbalformen für reine nomi-
nalformen erklärt (§ 510, s. 203). Wir können dem nicht bei pflichten,
45] Nomen und Veibuu in deb lautlichen Form. 541
in so ferne wir an der oben vom Indogermanischen entnommenen defi-
nition von verbura und nomen fest halten. So wie diser definition zu
folge der 'casus indefinilus' kein casus sein kann , weil er kein casus-
suffix hat , so kann auch die II. sing, imperativ! kein verbum sein , weil
sie keine personalbezeichnung besizt. Was ferner die dritte person plu-
ralis des imperativs betritt , so wird sie mittels des auch beim nomen
gebrauchten pluralzeichens -lar, -tör u. s. f. von der dritten person des
Singulars gebildet, dise selbst aber erhält die beziehung auf die dritte
person durch das selbe suffix , das auch bei den nominibus als posses-
sivum für die dritte person singularis gebräuchlich ist (§§ 420. 421).
Z. b. II. sing, imperativi bys schneid; III. sing, bys-tyn, also wörtlich
etwa 'sein schneiden, sein schnitt'; 111. plural. bys4yn-nar, für *bys-tyn-
'lar, ist regelrechter plural zum entsprechenden singular. Das suffix
der zweiten person pluralis imperativi -yri, -in u. s. f. (n — gutturalem n)
identificiert Böhtlingk selbst (§ 321) mit dem entsprechenden suffix der
nomina -riyt, ritt u. s. f., aufs dem es durch Verkürzung entstanden sei;
eine ansieht, die durch die verstärkte form des imperativs bys-ynyUyi
zur vollen gewisheit erhoben wird. Es bezeichnet somit auch die II.
plural. imperativi zunächst nichts anderes als 'euer schneiden, euer
schnitt*. Somit ist der ganze imperativ nichts vom nomen wesentlich
verschidenes und er fält daher in seinem wesen mit den übrigen so ge-
nanten verbalformen zusammen , deren vom nomen nicht unlerschidene
art von Böhtlingk, wie oben gesagt, bereits erkant worden ist.
Der so genante casus indefinilus und die II. sing, imperativi fallen
also in irer form zusammen und nicht selten kommen auch wirklich
die selben worte in beiden funetionen vor (§ 235), wie z. b. äs (s wie
unser ß) hunger, hungere; tot satt, werde satt; tyn atem, atme; Um ge-
froren, friere ; sät schände, schäme dich ; sanä gedanke, denke ; chorui
antwort, vergilt gleiches mit gleichem.
Wie in allen sprachen änliches baues, so besieht auch im Jakuti-
schen das perfectum aufs einem nomen praeteriti mit den possessiv-
suffixen, die hier auch an den dritten personen nicht feien. So ist z. b.
bys-U (bys schneiden) ein solcher perfeclstamm. Nach Böhtlingk ist das
an die würzet tretende t ein rest von •tack, mit welchem Suffixe (§ 378)
ein nomen praeteriti und indefinitutn gebildet wird, z. b. bys-tach, im
Wörterbuch erklärt als 'ein abgesonderter, für sich bestehender Theil\
Mag villeicht difs t im praeteritum nur mit jenem -lach verwant, nicht
542 Ai g. Schleicher , dir Unteisciieidukg vox [46
identisch sein, sicher ist jedes falles, dafs wir im praeleritum keine von
den als nomina gelteoden verschidene formen vor uns haben. Man ver-
gleiche z. b.
stamm byst geschnitten stamm bas köpf
Singular.
I. bygt't/m ich schnitt basym mein köpf
II. byst-yri du schnitst bas-yn dein köpf
III. byst-a er schnitt bas-a sein köpf.
Plural.
I. bysty-byt wir schnitten bas-pyl {p für b nach den lautgesetzen
§ 165) unser köpf
II. bysty-gyt ir schnittet bas-kyt (k für g nach § 1 56) euer köpf
III. bysly-lar-a sie schnitten bas-tar-a (t für / nach § 173) ir köpf.
Der vocal zwischen stamm und suffix in den pluralformen des
perfectum ist so genanter hilfsvocal. Er findet sich auch bei andern
stammen.
In anderer weise ist das praesens, der potentialis und der condi-
tionalis gebildet. In disen formen tritt nämlich das Personalpronomen
als nominativ an den stamm an. Das pronomen ist aber, wie andere
nomina auch, in so ferne zugleich verbura, als es den begriff "sein ent-
halten kann. So heifst z. b. ädär jung, auch 'jung sein ; z. b. kini (pron.
III. pers. sing.) ädär er ist jung; kini-lär ädär-där ('nach den lautgesetzen
für *ädär-lär) sie sind jung. So kann also z. b. min, pronom. personale
der I. person, als an gehängtes pronomen -byn -pyn, -bin -frfin -frön
u. s. f. (vgl. türkisch & ben ich) je nach den voraufs gehenden vocalen
lautend, auch heifsen 'ich bin; daher: min agha-byn 'ich vater-ich' so
vil als ' ich bin vater . Im Jakutischen haben die an gehängten prono-
mina, praedicataffixe von Böhtlingk genannt, in den I. und IL personen
formen entwickelt, die von denen der selbständig gebrauchten prono-
mina mer oder minder ab weichen, wärend in den tatarischen dialeclen
die praedicataffixe mit den selbständigen pronominibus ganz zusammen
fallen (§ 419 anm., s. 169).
Bei den stammen , die als so genante verba gelten , verhalt es sich
nun nicht anders, als bei den inen wesentlich gleichartigen stammen,
die als nomina betrachtet werden. Der blofse stamm gilt als dritte per-
son; z b. bysar 'schneidend', türk. yy** sewer liebend. Dise form ist
geradezu auch ein nomen (Böhtl § 375, s. 154; der türkischen gram-
47] NOMRN UND VEHBUH IN DER LAUTLICBEN FORM. 543
matik gilt sie als indeclinabeles participium praesentis, s. z. b. Mirza
A. Kasem-Beg, Allgemeine Grammatik der türkisch-tatarischen Sprache,
übersetzt von Zenker, Leipzig 1848, s. 126 u. sonst). Das selbe gilt
vom negativen praesens, dem der negative praesensstamm zu gründe
ligt; z. b. bys-pat 'nicht schneidend1 (bys-pal km ein nicht schneidender
mensch) und 'er schneidet nicht' ; z. b. km byspat der mensch schnei-
det nicht. Die dritte person pluralis hat natürlich das gewönliche plu-
ralzeichen, z. b. bysallar, nach den lautgesetzen für *bysar*lary schnei-
dende, d. h. 'sie schneiden ; byspatlar, nach den lautgesetzen für
*by8pat4ar, 'nicht schneidende', d. h. 'sie schneiden nicht'. Die andern
personen fügen das pronomen zu disem stamme hinzu:
Singular.
I. bysa-byn für *bysar-byn; tttrk. f}y $ewer-im.
ll. bysa-ghyn für *bysar-gyn ; tttrk. w»xr» ^ewer-sen.
Plural.
I. bysa-byt für *by8ar-byt; tttrk. ^xy sewer-iz.
II. bysa-ghyt für *bysar-gyt; tttrk. y»jy sewer-siz.
Die nominative der selbständigen personalpronomina, die aller-
dings von den suffigierten formen teilweise verscbiden sind, lauten
(Böhtl. § 434, s. 174: Kasem-Beg § 149, s. 60 flg.):
Singular.
I. min; tttrk. ^ ben, lezteres warscheinlich mit dem älteren anlaute
(ttber den Wechsel von m und b vgl. § 172, s. 77).
II. an; tttrk. ^ sen.
Plural.
I. bis-igi; türk. ß biz oder Jjj biz-ler.
II. äs-igi oder is-igi; türk. y» siz.
Der potentialis und der conditionalis des Jakutischen unterscheiden
sich beide irem baue nach nicht vom praesens, sondern nur durch den
stamm. Sie brauchen hier also nicht weiter erörtert zu werden.
Wir können angesichts der vor gelegten sprachlichen tatsachen
mit völliger bestimtheit aufssprechen, dafs im Jakutischen und in
den im verwanten sprachen dergegensatz von nomen und
verbum in der lautlichen form nicht entwickelt ist.
Die mit dem Jakutischen zu einem und dem selben stamme gehö-
rigen sprachen hier durch zu nemen, ist nicht nötig, so wenig als es
544 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [48
am platze gewesen wäre, wenn wir oben die einzelnen semitischen
oder indogermanischen sprachen einer betrachtung unterzogen hätten.
Deshalb möge hier auch das Koibalische und Karagassische übergangen
werden , obgleich mir für dise sprachen in M. Alex. Caströns koibali-
scher und karagaSsischer Sprachlehre, herausgegeben von Ant. Schief-
ner, St. Petersburg 1 857, ein bequem zu benutzendes studienhilfismittel
vor ligt.
Tungusisch.
Im Tungusischen (M. Alex. Castrens Grundzüge einer tungusi-
schen Sprachlehre nebst kurzem Wörterverzeichniss. Im Auftrage der
Kaiserl. Akad. der Wissensch. herausgegeben von Ant. Schiefner. St.
Petersburg 1856) verhalt es sich bezüglich der Scheidung
von verbum und nomen im wesentlichen eben so, wie im
Jakutischen.
Der nominativ hat kein suffix.
Das adjectivum als solches nimt keine declinationsendungen an.
Das perfeclum besteht aufs dem stamme, dem die possessiven pro-
nominalsuffixe an treten ; z. b.
stamm und nominativ des partic.
stamm und nominativ haga schale. perfecli anacä; stamm des ver-
bums ana stofsen.
Singular.
I. haga-u, dial. haga-f meine anaca-f, anacä-u ich habe gesto-
schale fsen
II. hagas deine schale anacd-s du hast gestofsen
III. haga-n seine schale anacä u. anacä-n er hat gestofsen.
Plural.
I. hagorwun unsere schale anacä wun wir haben gestofsen
II. haga-sun euere schale anacä-sun ir habt gestofsen
III. haga-tin ire schale anacä-l und anacä-tin sie h. g.
Die III. sing, anacä ist, wie in den dritten personen häufig, der
blofse stamm one personalbezeichnung. Das selbe gilt von der III. plur.
anacä-l, welche zum stamme nur die algemeine pluralendung, wie sie
bei den nominibus überhaupt gebräuchlich ist, gefügt hat.
Das praesens hat nur in der I. und II. person singularis eigentüm-
liche formen, die übrigen fallen in der form mit den als nomina fungie-
renden worten zusammen.
*9] Nomen und Veibum in oüft lautlichen Form. 5i5
Singular.
I. ana-in ich stofse (warscheinlich aufs #anora-i» verkürzt, das selbe
gilt vom stamme der II. sing. ; zu -tn vgl. bi, gen. mini, ich).
II. ana-ndi du stöfsest («, gen. si-rii, du).
III. anara-n er stöfst (vgl. oworf parlicip. praesentis; das suffix ist das
selbe wie im perfectum und am nomen).
Plural.
I. anara-wun und anara-f wir stofsen (leztere form wol eine Verkür-
zung der ersteren. Oder gilt der singularis zugleich als plural?
Ober das suffix s. beim perfectum).
II. anara-sun und anaras ir stofset (ganz wie bei der I. plural.).
III. anara sie stofsen (der blofse stamm).
Burj&tisch.
Für die mongolische Schriftsprache stehen mir im augenblicke
keine hilfsmittel zu geböte. So weit ich mich diser spräche aus frühe-
ren Studien erinnere , weicht sie in betreff der uns hier beschäftigenden
fragen nicht wesentlich von den bisher besprochenen sprachen der so
genanten altaischen Sprachengruppe ab.
Dagegen ligt mir für das Burjatische eine trefliche quelle vor (Alex.
Caströns Versuch einer Burjatischen Sprachlehre nebst kurzem Wörter-
verzeichniss. Im Auftrage der Kaiser!. Akademie der Wissensch. her-
ausgegeben von Ant. Schiefner, St. Petersburg 1857). Es tritt uns auch
hier im algemeinen der selbe typus sprachlicher bildung entgegen , den
wir bereits bei den eben erörterten sprachen kennen gelernt haben.
Der so genante nominativ hat kein suffix, er feit in der form mit
dem stamme zusammen. In näherer Verbindung mit einem andern no-
men kann er auch in der funclion eines genitivs stehen.
Die adjectiva als solche haben keine suffixa.
Als possessive suffixe gelten die vollen oder verkürzten genitiv-
formen des singularis und pluralis der selbständigen pronomina.
So genantes verbum. '§ 1 05. Das Burjatische theilt mit mehreren
samojedischen und türkischen Sprachen die Eigentümlichkeit, dass die
Personalaffixe sowohl an Verba als auch an Nomina und gewisse Ad-
verbien gefügt werden. Dieser Umstand ist im Burjatischen um so be-
merkenswerter, als das Mongolische sogar in vielen Verbal-
formen die Personalendungen hintansetzt [vgl. hierzu das
Abband!, d. K. S. Gesellaeb. d. Witsenieb. X. 37
546 Aug. Schleicher , die Unterscheidung von [50
im flg. über dasMandschu gesagte]. Diese können zwar auch im
Burjatischen ausgelassen werden, es giebt jedoch keine
Verbalform, die nicht Personenendungen annehmen könn-
te. Nur für die dritte Person des Singulars uud Plurals
fehlt eine besondere Eudung und diese ist somit als der Slamm
jeder einzelnen Verbalform zu betrachten. Der Bedeutung nach ist die
dritte Person des Verbums im Burjatischen wie in vielen andern ver-
wandten Sprachen ein Nomen' [nicht nur der bedeutung, sondern
auch der form nach ist sie difs; auch die andern personen unterschei-
den sich nicht vom nomen s. u.]. c§ 106 Die Verbalsuff ix a
sind aus den Personalpronomina entstanden und machen ent-
weder eine vollständige oder verkürzte Form ihres Nomi-
nativs aus [wir haben also eine blofse aneinanderrtlckung zweier
worte vor uns, slamm und pronomen]. In ihrer vollständigen Form
kommen jedoch die Personalsuffixe beim Verbum nur ausnahmsweise
in einigen Dialeclen vor und auch dann meist in der zweiten Person des
Singulars und in der ersten und zweiten Person des Plurals*. Bei sol-
cher losen zusammenfUgung von stamm und pronomen kann es nicht
wunder nemen, wenn da, wo keine undeutlichkeit dadurch entsteht,
das pronomen aufs gelafsen und der blofse slamm aHein gesezt wird,
wie difs regelmäfsig in der dritten person geschiht. Von verbis nach
indogermanischem begriffe kann also im Burjatischen auch
nicht im entferntesten die rede sein. '§ 108. Diese Personal-
endungen werden an alle Modi finiti mit Ausnahme des Imperativs gefügt.
Dieser Modus bildet mit seiner zweiten Person des Singularis den Stamm
selbst und nimmt deshalb nach der Regel keine Personalendungen an.
Ein beispil mag anschaulich machen , wie es nach dem gesagten
ums so genante verbum im Burjatischen steht.
Imperat. II. sing, ala töte. Die andern , teilweise schwing zu er-
klärenden personen des imperativs mögen hier aufser betracht bleiben.
Praesens indicativi stamm alana Pronomen
Singular.
III. alana er tölel (ohön er; tere jener, er)
II. alana- i, alana- c für *alana *t, si (ie) , dial. ci (ie) ; genit. *t-Ät\
* alana ci du tötest ct-ilt*)
*\ £
) n ist auch hier bezeichnung des palalalen n (= «/).
51] Nomen pnd Verbum in der lautlichen Form. 547
I. alana-p für *alana tri; alana-m bi% genit. mt-Ät.
ich töte (lezlere form ist wol
kaum nach § 1 1 2 zu erklären,
sondern nach § 25, b als nur
phonetisch von alana-p ver-
schiden zu fafsen).
Plural.
III. alana sie töten (der reine stamm, [ohöt; tede)
sogar one pluralzeichen. Oder
steht hier, wie im Litauischen,
der Singular für den plural?)
II. alana-t für und neben alana-ta ta, genit. ta-nai, dial. ta-ni, ta-ili
ir tötet
I. alana-bda, alana-bdi, alana-bdji bide, bidi, bidji, genit. tna-nai, dial.
für *alana bide, alana bidi od. tna-ni, roa-flt.
bidji.
Wie bereits gesagt, werden die personen überall , auch im perfec-
tum , auf dise art bezeichnet.
Obgleich es bei den paradigmen nicht bemerkt ist, so können die
den stammen bei gesezlen pronomina im Mongolischen und Burjatischen
auch feien (s. o.).
Mandschu.
Im Mandschu (Kaulen, linguae mandschuricae instituliones, Ra-
tisbonae 1856) feit eine bezeichnung der zal und der person
beim so genantenverbum ganz undgar, sodafs hieralso
von einem unterschide von verbum und nomen in der
lautlichen form sich keine spur findet. Die stamme, die wir
als nomina zu betrachten haben, unterscheiden sich in irer lautform
nicht von denen, die durch verba zu übersetzen sind. So bezeichnet
z. b. -tshi sowol den ablativ, als den conditionalis : ama-Uhi vom vater,
ara-Uhi wenn ich schreibe; -be bildet den accusativ und, an jene con-
ditionale geh&ngt, den ' limitativ' : ama-be patrem , ara-tohi-be licet scri-
bam u. s f. Wir glauben daher auf dise spräche hier nicht näher ein
gehen zu sollen. Beiläufig bemerke ich nur, dafs im Mandschurischen,
wie mir die leclüre der bei Kaulen mit geleilten sprachproben dar ge-
tan, ganze Sätze durch postpositionen gewisser mafsen decliniert wer-
den können. Die in den finnischen und tatarischen sprachen one difs
in manchen fällen nicht streng durch geflirle Scheidung und individua-
37*
548 Aug. Schleicbeä, die Unterscheidung von [52
lisierung der einzelnen sazglider als worte scheint im Mandschu bis zu
einem völligen nichtVorhandensein des unterschides von wort und satz
aufs gebildet zu sein. Das selbe findet sich auch in andern sprachen
mit geringer formentwickelung. Irer dürftigen grammatischen beschaf-
fenheit wegen haben wir die Mandschu spräche one rüksicht auf ire
stamverwantschaft ans ende unserer betrachtung der so genanten altai-
seben sprachen gestelt.
Tamulisch.
In dem dra vidi sehen oder dekhanischen sprachstamme verhält es
sich mit der Unterscheidung von nomen und verbum etwa in der selben
weise , wie in den finnischen und tatarischen sprachen , mit deren bau
der des Dravidiscben überhaupt im algemeinen überein stimt. Als probe
dises Sprachstammes wälen wir das Tamulische (nach Grauls outline of
Tamil Grammar in dessen Bibliotbeca Tamulica tom. II; anch unter dem
titel Kaivaljanavanita, a Vedanta poem u. s. f. Leipzig u. London 1855).
Das nomen enträt auch hier eines casussuffixes für den nominativ;
im pluralis tritt das pluralzeichen an und an dises die selben casussuf-
fixe oder postpositionen , die auch im singular gebraucht werden, z. b.
nominal, sing, ugogn pdleh (7 a soft /; h a soft n; fruit, gain, reward,
aufs dem sanskrit entlent), nominat. plural. ueveiraar pdlen-kal (/ a
hard / of a lingual character); locat. sing, uevesflev pdleh-il; locat.
plural. U6V65r&6ffi6V pdleh-kal-il u. s. f.
Was das verbum betrift, so hat das Malayalam nur in der poesie
personalendungen (Graul, Tamil Gramm. 6. 42 , anm. 1 und s. 99), ein
beweis dafür, dafs sie nicht mit dem stamme zu einer wirklichen wort-
einheit verbunden sind. Im Indogermanischen ist etwas dergleichen
unmöglich. Nur lose an tretende nähere bestimmungen des Stammes
können so one weiteres hinweg gelafsen werden , nicht aber teile eines
wirklichen wortes (so kann im Indogermanischen wol das augment, ein
nur an gerüktes adverbium, feien, nimmermer aber in den älteren
noch volständiger erhaltenen sprachen dises Stammes casus- und per-
sona lendung). Auch aufs dem Tamulischen feit es nicht an beispilen
diser art; denn Graul fürt (s. 42, § 35, anm. 1} alte tamulische verbal-
formen one personalendungen an.
Die personalaffixe des Tamulischen sind nichts anderes als die ge-
wönlichen selbständigen pronomina , die, meist in verkürzter form, an
53] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 549
den stamm an treten. Einige formen mögen dife anschaulich machen.
Z. b. tjygü atu genauer athu (th wie im Englischen zu sprechen), nom.
sing, des pronom. der dritten person neutrius, it; Q&iu sej eine Wur-
zel, facere bedeutend ; Sesrjb kinr oder kihd (f a gnarling r, half dental
and half lingual , kann nach öjt n als d gesprochen werden) bildet den
praesensstamm; demnach Q &iu§ättr p^ sej-kihr-atu itdoes; ^euirsm
avar-kal they, regelmässiger plural des pronomens der dritten person,
Q&iu&m&ir&eir sej -kihr -är-kal they do, in welcher form das als selb-
ständiges wort avar-kal lautende pronomen zu är-kal zusammen gezo-
gen ist u. s. w.
Die lose an tretenden pronomina vermögen nicht dise formen zu
wirklichen verbalformen zu stempeln und es ist daher volkommen er-
klärlich, dafs jede derartige so genanle verbalform durch die selben
postpositionen, wie alle so genanten nomina, decliniert werden kann
(Graul a. a. o. § 44 note, pg. 50), wie sie ja auch im pluralzeichen sich
nicht von andern Worten unterscheiden. Z. b. jBL-fß($ß6br nata-nt-eh,
genauer nadandeh 'I walked' und CJ who walked' (nt ist zeichen des
praeteritum) ; accusativ ßi^^Q^bssf nata-nt-4n-ei me who walked;
pL-ßpfiGn nat-nt-äh he walked (^gyoj&r avak, zusammen gezogen
an, he); ßi^ßfßa^eo nata-nt-an-al instrumentalis , tbrough him who
walked u. s. f. Durch die declinierbarkeit ist der volgiltige beweis dafür
gelifert, dafs wir beim Tamulischen im so genanten verbum keine ei-
gentlichen verbalformen vor uns haben, sondern gebilde, die sich in
gar nichts von denen unterscheiden , die als nomina zu gelten pflegen.
Die vor den pronominibus, welche die personalendungen ersetzen,
stehenden stamme sind als adjectiva (participia) zu fafsen. Mit dem aufs-
laute a erscheinen sie denn auch wirklich als solche, z. b. Q&iuS&tjd
sej-kiht-a who or which does u. s. f. Stämme, die als nomina gelten,
können in gewissen fällen durch anfügung der tempusexponenten und
der pronomina (der personalendungen) , sogar durch leztere allein, als
so genante verba fungieren (§ 44), wärend aufser dem die anfügung der
personalendungen an die mit keinem tempussuffix bekleidete wurzel
das negative verbum bildet (§ 39).
Doch ich übergehe alles einzelne , da die nicht eigentlich verbale
natur der so genanten tamulischen verba im vor stehenden zur genüge
erwisen ist.
550 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von |5*
Die blofse Wurzel gilt als II. sing, imperalivi, wie in so vilen
sprachen.
Ergebnis: das Tamulische scheidet nomen und verbum
nicht in der lautlichen form.
Jenisseiisch.
Eine in mancher bezieh ung roeik würdige spräche ist die der Je-
nissei-Ostjaken oder Jenisseier am Jenissei und seinen nebenflü-
fsen , deren anzal nach Castren (M. Alex. Casträns Versuch einer Jenis-
sei-osljakischen und Kottischcn Sprachlehre nebst Wörterverzeichnissen.
Im Auftrage der Kaiserl. Akademie der Wissensch. herausgegeben von
Ant. Schiefner, St. Petersburg 1858) eine nur noch geringe ist. Mit
diser spräche namentlich im baue verwant ist die der Rotten, von de-
nen Castren (s. V) nur noch fünf individuen vor fand. Im folgenden
werden wir nur das Jenisseiische berüksichtigen.
Mit recht bemerkt Castren (s. VI), dafs das Jenisseiische einen von
dem der so genanten altaischen sprachen ser verschidenen character
habe. Es gehört entschiden nicht in die grofse gruppe von sprachen,
die man unter dem namen der ural -altaischen zusammen zu fafsen
pflegt. Warscheinlich haben wir in disen eigentümlichen idiomen den
rest eines ehemals weiter aufs gebreiteten Stammes zu erkennen (Ca*
str6n s. V).
Wenn ich das Jenisseiische an diser stelle behandele , so geschiht
difs nicht in der Überzeugung , als gebüre im seinem baue nach gerade
diser platz , denn das wesen diser spräche ist mir noch vi! zu wenig
klar geworden , um dem Jenisseiischen eine bestirnte stufe in der reihe
der sprachen an weisen zu können. Überhaupt sind ja in der vor li-
genden abhandlung die sprachen nur so ungeför nach ircr morphologi-
schen beschaffenheit an geordnet, denn ein streng wifsenschaflliches
natürliches System der sprachen ist eine aufgäbe der zukunft.
Höchst bemerkenswert!] sind in beiden sprachen vocalwechsel im
stamme bei der pluralbildung, z. b. tjip hund, plur. tjap (one plural-
endung); fcegquappe, plur. kas-n (mit der gewönlichen pluralendung,
vgl. §§ 53. 54 u. vorwort s. IX); kottisch atiip hund, plur. alsap (one
pluralendung); ich name, plur. ek-ri (§ 64) u.a. Anliche vereinzelte an-
klänge an flexion finden sich auch noch sonst, z. b. im Koptischen.
Wir haben difs hauptsächlich aufs dem gründe hier an gefürt, um
55] Nomen und Verb um in der lautlichen Form. 551
die trennung diser sprachen von den so genanten altaischen zu recht-
fertigen.
Übrigens ist die uns hier beschäftigende frage nach der Unterschei-
dung von verbum und nomen in bezieh ung auf das Jenisseiische ziralich
sicher zu beantworten. Das Jenisseiische kent keine, dem in
den indogermanischen sprachen vor ligenden gegensatze
von nomen und verbum vergleichbare Scheidung diser
beiden redeteile.
Für dise behauptung mag folgendes als begründung an geftirt
werden.
Im Jenissei-osljakischen gilt der stamm der noroina als nominaliv
singularis. Dem nominativ kann auch der genitiv und aecusativ gleich
lauten. Eben so im Kottischen, wo jedoch nominativ und aecusativ
stäts zusammen fallen.
Vom verbum genügt es hervor zu heben , dafs der plural die auch
bei nominibus gewönliche endung zeigt, z. b. I. II. III. sing, sitägit ich
reinige, du reinigst, er reinigt; I. II. III. plural. sitägü-n wir reinigen
u.s. f. Eben so im praetorium), z. b.slng.sitörgü, p\ur. sitörgil-n. Andere
verba sondern die personen durch praefixe, die pluralbezeichnung bleibt
aber die selbe, z. b.
Singular.
Praesens. Praeterilum .
I. dä-gafuot ich warte da-görfuot ich wartete
IL ka-gafuot du warlest ka-görfuol du wartetest
III. da-gafuot er wartet da-görfuot er wartete.
Plural.
I. da-gafuot- n wir warten da-gorfuot-n wir warteten
II. ka-gafuot-n ir wartet ka-gorfuot-n ir wartetet
III. da-gafuot-n sie warten da-gorfuot-n sie warteten.
Das vor stehende genügt, um die nicht wesentliche verschidenheit
von nomen und verbum auf zu zeigen. Die mannigfache art der verbal-
st&inme diser sprachen, die meist deutlich zusammen gesezt sind, zu er-
örtern, ist nicht durch die aufgäbe geboten, die wir uns gestelt haben.
Wenden wir uns zur betrachtung einiger sprachen des Kaukasus,
deren kentnis wir fast aufsschliefslich den Forschungen Schiefners zu
danken haben.
552 Aug. Schleiche*, die Untebscheidusg von [56
Thusch.
Die Thusch -spräche ligt in umfafsender darstelluug vor in Ant.
Schiefners Versuch über die Thusch-sprache oder die khistische Mund-
art in Thuschetien, St. Petersburg 1 856. Besonderer Abdruck aus den
Memoires de l'Academie Imperiale des Sciences de St. Petersb., Sciences
politiques, bistoire, philologie T. IX. Mit dem Thusch ist nahe verwant
das Tschetschen zische (Ant. Schiefner, tschetschenzische Studien,
in den Mömoires de l'Acad. Imperiale de St. Petersb. VII6 Sörie, Tome
VII, nro.5; 1864). Es teilt mit dem Thusch den eigentümlichen sprach-
character, weshalb wir uns hier auf das leztere beschränken können.
Das Thusch besizt als verbum eine reihe adjectivischer tempus-
stamme (Schiefner § 298 spricht mit vollem rechte vom 'adjectivischen
Character des Verbums in diser spräche), denen sich die personalpro-
nomina der ersten und zweiten person mer oder minder innig an schlie-
fsen können (§ 177). In den sprachen, in welchen es kein verbum sub-
stanlivum gibt, pflegen Überhaupt die adjectiva mit den verben zusam-
men zu fallen ; es gibt in disen sprachen einen redeteil , dem beide be-
ziehungsfunctionen noch ungeschiden zu kommen.
Das was Schiefner das verbum substantivum nent (§§ 82. 208) ist
aber offenbar im Thusch nichts anderes, als eine reihe von pronominal-
stämmen, je nach genus und zal im praesens wa9ja, ba, da, tschetschen-
zisch wu, ju, bu, du > im imperfect. war, jar% bar, dar, tschetschenzisch
wara, jara, bara, dara lautend. So sagt man z. b. tschetschenzisch mo
(ich), wu oder ju u. s. f. ich bin ; huo wu u. s. f. du bist etc.
Die personalbezeichnung ist dem so genanten verbum nicht we-
sentlich und kann da feien , wo das handelnde subject anderweitig be-
zeichnet ist, z. b. thusch. nax buger (das) volk rief. Das pronomen steht
im Thusch entweder als selbständiges wort vor dem so genanten ver-
bum , oder es steht nach dem selben ; in disem falle können die prono-
mina der I. und II. person mit im verschmelzen. Die pronomina stehen
entweder im nominativus oder im instructivus und werden beim an-
schmelzen an den stamm, welcher die stelle des verbums vertritt, teil-
weise verkürzt; z. b. ailr-atxo, nach den lautgesetzen der spräche für
*alir atcho wir sprachen {atcho wir) ; was ich bin, wa-h du bist für wa
90, wa ho; dagegen im imperfect war-aso ich war, war-ako du warst mit
57] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 553
einer volleren form des pronoraens (vgl. den instructivus , I. person as,
asa; II. person ah, aha).
Wie bei dem adjectivum , so wechselt auch bei dem so genanten
verbum der anlaut des Wortes je nach dem geschlechte, auf das es sich
bezieht.
Kino nähere dai legung der formen der Thusch -spräche ist nicht er-
fordet lieh. Das mitgeteilte genügt, um das nichtVorhandensein
eigentlicher verba in diser spräche zu bezeugen.
Awarisch.
Das Avvarische (Ant. Schiefner, Versuch über das Awarische; M6-
raoires de l'Acadämie Impär. des Sciences de St. Petersb., VII0 S6rie,
Tome V, nro. 8, St. Petersburg 1862), 'eine der Hauptsprachen Daghe-
stans, welche gewöhnlich auch unter dem Namen der lesghischen be-
kannt sind* (Schiefner a. a. o. s. 5), 'deren Mittelpunct Chunsag ist'
(Schjefner s. 1 , 2) , stimmt bezüglich der hier in betracht kommenden
punete zum Thusch und zum Tschetschenzischen. Wir haben auch hier
eine änliche bezeichnung des geschlechtes am adjeetiv, Substantiv und
verbum (§§ 42, 61 — 63, 71, 76, 86, 97), z. b. 'wotu die Liebe, deren
Gegenstand ein Mann ist, jolu dagegen eine Liebe, welche sich auf ein
Weib, bolu wenn sie sich auf ein anderes Wesen oder Ding bezieht; im
Altgemeinen aber heisst die Liebe rotu, da r zur Bezeichnung der Mehr-
zahl angewandt wird' (s. 1 1 flg.).
'Beim Verbum kommt die Bezeichnung des Geschlechts und der
Zahl in Betracht und geht auf Grundlage des in § 42 Gesagten [nämlich
eben so wie bei den adjeetiven und Substantiven] vor sich. Diese Be-
zeichnung findet hauptsachlich im Anlaut statt, so dass w, j, b und r bei
einem und demselben Zeitwort wechseln , z. B. wortize, jirtize [§ 25 ; i
steht hier für o in folge der Wirkung des j auf den nachstehenden vo-
cal], borlize, rorUze fallen (§ 97, s. 20); -ze ist infinitivendung (§91).
Die person wird also nicht am verbum bezeichnet, sondern, wenn
es sich nötig macht, durch die als selbständige worte bei gesezten per-
sonalpronomina aufs gedrttkt, z. b. dun bicanani wenn ich sagte; mm
wacanani wenn du kämest (§ 105) u. s. f. Adjeetiv und verbum fallen
also auch hier wesentlich zusammen; da wo es nicht einmal eine be-
zeichnung der nominativischen person am worte selbst gibt, kann von
verben im indogermanischen sinne gar keine rede sein.
554 Ate Schleicher, die Unterscheidung von !r>8
Imperativ und verbal uomioa falleo meist in der form zusammen,
z. b. ahi ruf, rufe (§ 39, s. 11).
Udiscb.
Das Udiscbe (Ant. Schiefner, Versuch über die Sprache der Uden ;
Mämoires de I'Acad. Impär. des Sciences de St. Petersb., VII0 S6rie,
Tome VI, nro. 3, St. Petersburg 1 863), das jezt nur noch auf zwei dör-
fer beschränkt ist, scheint, nach Schiefner (s. 8) zu den kaukasischen
sprachen zu gehören, obwol es von disen in manchen wesentlichen
punclen ab weicht. — Die forschung ist auf dem gebiete solcher spra-
chen, die keine litteratur haben, aufs dem gründe ser erschwert, weil
wir dise sprachen nur in irer allerspütesten , jezt vor ligenden gestalt
kennen und dise sich meist bereits weit vom ursprünglichen entfernt
hat. Man darf sich daher nicht wundern, wenn Ober das wesen und
die verwantschaftsverhaltnisse solcher sprachen bisweilen kaum etwas
völlig sicheres zu ermitteln ist.
Auch im Udischen ist kein dem Indogermanischen
entsprechender gegensatz von nomen und verbum vor-
handen. Der nominativ hat auch hier kein casussufßx (§ 66). Die
Verbindung der pronomina mit den verbal stammen, die als eine art par-
tieipien zu betrachten sind (§§ 104, 108), ist nur lose (§§ 76» 99, 111);
das pronomen ist nicht an den verbalstamm gebunden , sondern kann
sich auch einem vorher gehenden worte an hangen. So ist also weder
dem verbum die personalbezeichnung , noch dem nomen durchweg das
casustmffix wesentlich und eine feste worteinheit ist nicht vorhanden.
Udische formen, ins Indogermanische übertragen, würden lauten wie
z. b. ein varka-ti ai für varkas aiti, latein. lupu-t i für lupus it. Wie lose
in diser spräche auch die stambildenden elemente an einander hangen,
zeigt u. a. der umstand , dafs das praeteritumbildende sufßx i auch an
das Personalpronomen vor dem verbum treten kann, anstatt an den
stamm des lezteren (§ 127) , z. b. bullet qaeexa der köpf schmerzte, für
bulle qqcneexai; bul bedeutet köpf; ne ist 'er beim verbum (§ 77), das
n assimiliert sich dem aufslaute des vorher gehenden Wortes nach f, d,
r, / (§ 24), demnach steht bulle für bul-ne 'köpf er ; % ist das Suffix des
praelerilum; qae schmerz; exa (§ 102) ist ein praesentialer verbal-
stamm, der ser vil in Zusammensetzung gebraucht wird 'machen, sagen*
bedeutend (§§ 88, 123); demnach ist qae-em 'schmerz machend',
&i>] Nomen und Verbum in dur lautlichen Form. 555
also bullet qacexa ' kopf-er-einst seh merz- machend', bulle qqc-ne-exa-i
'kopf-er schmerz-er-machend-einst'.
Schon aufs diser losen aneinanderreihung der elemente, die zu
einem worte zusammen gefügt werden, ergibt sich ein sprachcharacter,
der von dem des Indogermanischen weit ab steht und bei welchem ein
sondern der nicht zu unzertrenbaren wortkörpern entwickelten nomina
und verba nicht stall findet. Was eigentlich des verbums ist , wie im
oben an gefürten beispile ne und i , das sehen wir also auch am nomen,
wodurch eben der gegensatz in der lautlichen form zwischen disen bei*
den redeteilen verwischt wird.
Abchasisch.
Eine höchst merkwürdige spräche ist das Abchasische (Ausführli-
cher Bericht über des Generals Baron Peter von Uslar Abchasische Stu-
dien. Von A. Schiefner. Mömoiresde l'Acadömie etc. Tome VI, nro. 12,
St. Petersburg 1863). Für phonologische Studien beut dise spräche
durch die ir eigenen absonderlichen laute reiches material; auch in
morphologischer beziehung ist sie von grofsem interesse.
Das verbum, d. h. das, was man so zu nennen pflegt, ist hier in
der weise entwickelt, welche den so genanten einverleibenden sprachen
eigen ist; das objeet u. s. f., so wie das, was in unseren sprachen durch
conjunetionen aufs gedrttkt wird , findet im Abchasischen seinen aufs-
druck am so genanten verbum. Dabei ist es dennoch nicht zu einer
der indogermanischen art und weise vergleichbaren gc-
gensttzlichen entwickelung von verbum und nomen ge-
kommen. Die pronominalpraefixe oder pronominalinfixe (als infixe
treten die pronomina bei stammen auf, die aller warscheinlichkeit nach
zusammen gesezt sind; vgl. s. VIII), die am nomen als possessiva, am
verbum als bezeichnung des subjeets und des objeets fungieren (§ 9 flg.),
sind bei beiden Wortarten wesentlich die selben. Z. b. 8-ab oder 8-ara
s-ab (ego meus-pater) mein vater; sy-gny (y ist eine art hilfsvocal) oder
8-ara sy-gny mein haus; b-ab oder b-ara b-ab dein (femininum) vater;
by-b-gny dein (femin.) haus u. s. f., unterscheiden sich irer form und
ihrem wesen nach nicht von 8-ara sy-qoup ich bin (wörtlich etwa : ich
mein-dasein) , sy-qan ich war; sy-bzian ich war gut; sybziamynda ich
möchte nicht gut sein u. s. f. ; b-ara by-qoup du (weib) bist; b-ara by-
bzioup du bist gut u. s. f.
556 Aug. Schleicheb, die Unterscheidung von [60
Allerdings isl nicht in abrede zu stellen, dafs dergleichen Überein-
stimmung zwischen nominal- und verbalformen nicht durchweg statt
findet und dafs durch den bestirnten und den un bestirnten arlikel (§ 53)
auch im nominativ singularis das nomen sich vom verbum unterschei-
det. Ein durch greifender gegensatz beider redeteile ist aber nicht
vorhanden.
Georgisch.
FUr das Georgische sind meine studienhilfsmittel : Dictionnaire
Geoi'gien-russe-fran$ais , composö par David Tchoubinof , St. Petersb.
1 840 (difs Wörterbuch enthält auch eine kurze grammatik) und KpaTKan
rpy3HHCKaa rpaMxaTHKa /^. Hyämiona , Camera. 1 855.
Leider hat es mir nicht gelingen wollen, mir auch nur so weit ein-
sieht in das wesen der georgischen spräche zu verschaffen , um die in
diser abhandlung untersuchte frage in bezug auf dise spräche beant-
worten zu können. Der grund davon ist keines weges in der Unzuläng-
lichkeit meiner quellen zu suchen , denn die oben genanten werke er-
möglichen eine volkommen aufs reichende anschauung und kentnis der
spräche ; er ligt vilmer im wesen diser spräche selbst. Es scheint mir
nämlich das Georgische eine bereits stark von der ursprünglichen be-
schaffenheit ab gewichene spräche zu sein , so dafs ir gegenüber der
Sprachforscher sich in einer anheben läge befindet , als wenn er etwa
aufs dem Englischen oder Französischen, wie es jezt ist, und zwar aufe
einer phonetischen darstellung diser sprachen — das Georgische hat keine
historische Schreibung, wie die beiden genanten indogermanischen spra-
chen — einsieht in das wesen des Indogermanischen gewinnen wolte.
Ich bin nicht im stände , die georgischen worte in ire elemente zu zer-
legen und den Ursprung diser elemente zu ermitteln. Hätten wir dise
formenreiche spräche aufs einer beträchtlich früheren , altertümlicheren
lebensperiode vor uns , dann wäre wol eher eine einsieht in iren bau
und ire entwickelung möglich.
Um dem leser wenigstens einiger mafsen die hier der forschung
entgegen tretenden schwirigkeiten anschaulich zu machen und weil
leicht zugängliche hilfsmittel für das Studium diser spräche v in welchen
das georgische aiphabet in lateinische schritt um gesezt ist, nicht vor-
handen sind, teile ich einiges aufs der georgischen declination und con-
jugation hier mit. Auch glaube ich , dafs die blofse anschauung diser
«0
NoMBN UND VkUBUM IN DEH LAUTUCHEN FofM.
657
formen gentigt, um die völlige verschidenheit des Georgischen vom In-
dogermanischen dar zu tun. Friedr. Muller (Orient und Occident II, 526
— 535) sielt mit recht den Zusammenhang der kaukasischen sprachen
mit den indogermanischen in abrede, wärend bekantlich von namhaften
gelerlen das gegenteil behauptet wird (vgl. z. b. Brossets vorrede zu
Tschubinovs Wörterbuch). Die georgischen worte habe ich , so gut als
es gehen wolte, in lateinische schrill umgescbribeo , dabei aber, um
drukschwirigkeiten zu vermeiden, mich nicht gescheut, ein einziges zei-
chen der georgischen schritt durch zwei oder sogar drei lateinische
buchstaben wider zu geben. Auf solche fälle habe ich jedoch da , wo
sie zuerst vor kommen , aufmerksam gemacht.
Declination eines Substantivs.
Singular.
Plural I.
Plural 11.
nomin. katsi (ts ein zeichen)
katsni
katsebi
mensch
genit. kalssa
katstha(th ein
zeichen)
katsebisa
daliv kalssa
kaistha
kalsebsa
vocativ kalso
katsno
katsebo
instr. I. kalsilha
feit
katsebitha
inslr. II. katsad
feit
katsebad
ortsgenitiv kalsisas
katsthasa
kaisebisas
erzälungs-
nomin. katsman
feit
katsebman.
Es wird bemerkt (s. 6), dafs der genitiv oft noch die endungfen
anderer casus erhalte und dafs sich auch pl Uralbildungen auf -ebni und
-nebi finden. Difs scheint eine Verbindung der beiden pluralbildungen
auf-m und -ebi zu sein. Die beiden pluralbildungen mögen gleiche func-
tion haben, wenigstens gibt Tschubinov keinen funetionsunterschid an.
In den formen kaistha genit. dat. pluralis, katsthasa ortsgenitiv plu-
ralis , scheint (ha den genitiv , der ja auch im Singular und im zweiten
plural mit dem dativ fast gleich lautend ist, zu bezeichnen; im so ge-
nanten ortsgenitiv ist an dises tha noch sa getreten , wie im ortsgenitiv
des Singulars und des zweiten plurals an den genitiv auf -sa ein s (wol
aufs sa gekürzt) tritt. Dann feit aber in disen formen kats-tha und kats-
thasa die bezeichnung des plurals. Fast vermute ich , dafs in disen ca-
sus ein pluralzeichen th mit dem auf das selbe folgenden casuszeichen
tha verschmolzen sei; vgl. die I. und II. person pluralis (in manchen
558 A(JG SCHLEICHKR, DIB UmERSCHKIDUNG VON [62
formen auch III. pluralis) auf -th (Friedr. Müller, Or. u. Occ. II, s. 533
fürt die pluralformen ama-th jene, ima-lh dise an, welche meine Ver-
mutung nichl wenig stutzen würden; ich weifs dise formen jedoch aufs
Tschubinov nicht zu belegen).
Von den pronominibus erwähne ich me ich , genit. tschemi (tsch ein
zeichen), dat. tschemda, instr. I tschemith, inslr. II tschemad; tschven wir,
genit. tschveni, dat. tschvenda, instr. I tschvenitha, instr. II Uchvenad;
sehen [seh ein zeichen), du, genit. scheni u.s. f. ; thkhven (kh ein zeichen)
ir, genit. thkhveni u. s. f. Die nominativformen beider zalen werden ser
oft auch anstatt der obliqui gebraucht. Ferner man er, genit. mis, dat.
mos u. s. f. ; w, igt er, sie (plural isini, igini) ; ese, am celui-ci, celle-ci ;
ege celui-lä, celle-lä; vin wer, genit. vis, dat. visa u. s. f. ; ra was, gen.
dat. risa u. s. f.
Das verbum hat , nach art der so genanten ein verleibenden spra-
chen, vile formen, indem es aufser dem subjeet auch das aecusativische
und dativische objeet an deuten kann ; z. b. vhtlser (tts ein zeichen) ich
schreibe (das futurum indicativi hat die selbe form ; das praesens von
verben, die mit praepositionen zusammen gesezt sind, fungiert als futu-
rum , z. b. davhsttser ich werde schreiben) , vhstiser ich schreibe etwas
(s. 17, § 13), vitiser ich schreibe für mich, vuttser ich schreibe für
in , vittserebi und vettserebi ich werde geschriben (nmiiyci») , mtteer du
schreibst mir, mittser du schreibst für mich, mattier du schreibst, adres-
sierst, an mich (HaAUHcuBaenu» Ha mcha), mettserebi du schreibst mich ;
vattserineb ich lafse schreiben, vittserineb ich lafse fllr mich schreiben,
vutteermeb ich lafse für in schreiben, mitteerineb du lafst für mich schrei-
ben ; ja sogar doppelte causativa finden sich, so vatlserinebineb ich lafse
einen (jemand) zum schreiben veraolafsen , vittserinebineb ich lafse für
mich einen zum schreiben veranlafsen.
Verbalsubstantiv (das von den grammatikern als verbalstamm den
übrigen formen zu gründe gelegt wird) ist ttsera schreiben ; parlicipium
praesenl. act. mttsereli, mttseri schreibend ; parlicipium praeterili pass.
ttserili geschriben.
Als beispil für die abwandlung nach zeiten , modus und personen
diene folgendes.
63]
Nomen und Verbdm in deb lautlichen Form.
559
I. vhttsser scribo
II. hstlser scribis
III. hstlsers scribit.
I. vhstlserth
II. hstlserth
III. hstlseren.
I. vhsttsere scripsi
II. hstlsere
III. hstlsera, hstlser is.
I. vhsttsereth
II. hstlser eth
HI. hsttseres.
Indicativ.
Singular.
vhsttserdi scribebam
hstlserdi scribebas
hsttserda, hsttserdis scribebal.
Plural.
vhstterdith
hsüserdith
hsttserdnen, hstlserdian, -dnian.
Singular.
mittseria, mitiseries scripseram
gittseria, -ries
uttseria, -ries.
Plural.
gviltseriath, -riesth
gittseriath, -riesth
ultseriath, -riesth.
Conditional (ycvioBHoe naiuoHeHie).
Praesens. Perfectum.
Singular.
I. vhsttserde wenn ich schribe mettsera wenn ich geschriben halte
II. hsttserde geUser a
III. hstlser des. etlsera.
Plural.
I. vhstlserdeth gvettserath
♦
II. hstlserdeth getlseralh
III. follserden. ettserath.
Plusquamperfectum.
Futurum.
Singular.
I. mettseros wenn ich geschr. hätte vhstlsero wenn ich schreiben werde
II. gettseros
hstlsero
III. etlseros.
hsttseros.
Plural.
I. gvetlserosth
vhstlseroth
II. gettserosth
hsltseroth
fll. ettserosth.
hsttseron.
560 Aug. Schleicher, die Untebscheidlng von [64
Im imperativ ist die II. sing. = der II. sing, indic. perfecti ; die
III. sing. = III. sing, condition. futuri; II. plur. = II. plur. indic. per-
fecti; III. plur. = III. plur. condition. futuri. Auch die übrigen formen
des imperativs bieten kein weiteres interesse.
Ich lafse noch zwei mer oder minder ab weichende praesensfor-
men folgen.
Indicativ.
Singular.
I. var ich bin (s. 42) val ich gehe
II. char du bist ich ein zeichen) chval du gehst
III. ars er ist vals er geht.
Plural.
I, varth wir sind valth wir gehen
II. charth ir seit chvalth ir gehl
III. arian, am sie sind vlen, vlenan sie gehen.
Als Verbalsubstantiv zu lezterem gilt via, svla (s. 40).
Von disen formen ist mir nur so vil deutlich, dafs in der I. und II.
pluralis, im conditionalis perfecti und plusquamperfecti auch in der III.
pluralis , -th als pluralzeichen fungiert. Es schin uns oben warschein-
lieh , in einigen casus das selbe pluralzeichen auch für die nomina vor-
aufs zu setzen.
Die personalbezeichnung ist mir aber rätselhaft. Man vergleiche
die abwandlung des praesens indicativi von User schreiben mit der von
ar sein , vi gehen und ferner mit der des plusquamperfectum indicativi
und des perfectum und plusquamperfectum conditionalis und dise sämt-
lichen formen mit den selbständigen pronominibus und man wird mir
gewis zu gute halten, wenn ich, angesichts diser sprachlichen facta, auf
jeglichen deutungsversuch verzichte.
Zur bequemlichkeit des lesers lafse ich dise Zusammenstellung
hier folgen. Das was sicher als wurzel oder stamm erkenbar ist, ist,
der leichteren übersieht wegen, mit kleinerer schritt gesezt.
Praesens.
Plusqperf.
Perf. cond. Praes. ii
Singular.
id. Pronomen.
I. vhsitser
mütseria
tnetUera var
roe, in and. cass. tochem
II. hstlser
gittseria
getlsera char
sehen
II. hstUerS
UtUeria
ettsera arg
ese, u
65] Nomen und Verb im in der lautlichen Form. 561
Plural.
I. vhsttserth gvUtseriath gvetlserath Varth tschven
II. hsilserth gütseriath getUeralh charth thkhvetl
III. hsttseren utiseriath ettserath arian Vergl. das pluralzeichen
-ro\ th?
Baskisch.
Die mir zu geböte stehenden hilfsmittel für das Studium der bas-
kischen spräche verstatlen keine genügende einsieht in den bau des
baskischen wortes (Larramendi, el imposible veneido. Arte de la len-
gua Bascongada. Nueva edicion por Pio Zuazua, San Sebastian 1 853,
lerl keineswegs die Zerlegung des wortes in seine elemente; Mahn,
Denkmäler der Baskischen Sprache. Mit einer Einleitung u. s. f., Berlin
4 857, fürt durchaufs nicht weiter in der erkentnis, als bereits W. von
Humboldt gelangt war in seinen Berichtigungen und Zusätzen zum Mi-
thridates, Berl. 1 81 7. Nur aufs der leztgenanten abhandlung vermochte
ich in betreff des baues der baskischen spräche etwas zu lernen).
Der so genante einverleibende Sprachbau, d. h. die bezeichnung
des objeets , auch der nebenher betroffenen und der an geredeten per-
son am verbum , scheint allerdings sofort einen notwendigen gegensatz
von verbum und nomen zu bedingen. Dafs jedoch durch die einverlei-
bung keinesweges eine dem im Indogermanischen vorhandenen unter-
schide von nomen und verbum entsprechende Scheidung diser beiden
redeteile herbei gefürt weide, haben wir oben bei gelegenheit des Ma-
gyarischen (s. 525) bereits erörtert. Und so scheinen denn auch
einige specielle züge des baskischen verbums dar zu tun, dafs auch
in diser spräche eine völlig durch ge fürte Scheidung von
»
nomen und verbum nicht vorhanden ist. Freilich kann ich nur
ser weniges zur begründung diser Vermutung bei bringen, weil ich, wie
gesagt, vom Baskischen überhaupt nur ser wenig weifs.
Die dem indogermanischen verbum wesentliche personalbezeich-
nung feit auch im Baskischen in der dritten person singularis. Wir
kennen bereits dise erscheinung und wifsen, was sie zu bedeuten bat.
W. v.Humboldt sagt: die III. Pers. Sing. Nomin. wird niemals ausge-
drückt, sondern zeigt sich durch die Abwesenheit eines Kennbuchsta-
bens an'. Da nun auch das an geredete masculinum one bezeichnung
bleibt , so besteht z. b. il au 'er hat dich getötet o mann , nur aufs den
AbhtDdl. d. K. S. Gesellich. d. Wiweasch. X. 38
562 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [66
beiden verbalwurzeln il töten, au Wurzel des so genanten verbum auxi-
liare (v. Humb. in der tabelle s. 58 des sonderabdruckes). Da es gerade
die dritte person ist, welche auch in andern sprachen mit nicht ent-
wickelter Scheidung von nomen und verbum one bezeichnung der per-
son bleibt, so haben wir auch im Baskischen kein recht, den vertust
einer einst vorhandenen lautlichen bezeichnung diser person voraufs zu
setzen.
Ferner scheint ein beweis für die nicht rein verbale natur der bas-
kischen verbalformen darin zu (igen, dafs 'jede Person eines Verbi in
jeder Zeit, jedem Modus und jeder Conjugation, mithin jede Modifica-
tion einer Handlung , durch blofse HinzufUgung eines n am Ende des
Qectirlen Auxiliars in ein Participium verwandelt werden kann' (von
Humb. s. 61). In disem n vermutet von Humboldt wol mit recht die
postposition an, en (sie bezeichnet den locativ, Larramendi cap. IX,
s. 173 ; z. b. Cadiz-en en Cadiz u. s. f.). Das von W. von Humboldt aufs
einem wigenliede an gefürte beispil eines solchen angeblichen partici-
piums bestätigt nur dise Vermutung. Es lautet guradozun egunen baten
eines tages, wo du es wilst; hier ist guradozu-n deutlich locativ von
gura-dozu 'du wilst es' (gura wollen, d es, o tun, zu du; wollen -es- tust-
du, warscheinlich eigentlich du-es- wollen -tuend , locativ also: in-dei-
nem-es-wollen-tuenden) , wie egunen locativ zu eguna tag, baten locativ
zu bat einer, eine, eines; die worte guradozun egunen baten scheinen
also so vil zu bedeuten als 'an einem du- es- wollen -tuenden tage'. Ver-
balformen aber, die postpositionen an nemen, d. h. die decliniert wer-
den können , sind unmöglich verbalformen im indogermanischen sinne,
sondern in irem wesen von nominalformen noch nicht geschiden. Man
denke sich nur etwa ein altindisches *bharanti-m = griech. *(peQorri-oi
od. *(pt()ovo€-oi, locat. plur. zu bhdranti = (pegovri, (pegovoi, um sofort
die völlige Unverträglichkeit von verbalformen mit casusendungen zu
empfinden.
Cree.
Leider stehen mir für die sprachen der neuen weit, deren bau be-
kantlicb an den des Baskischen erinnert, keine aufs reichenden hilfe-
mittel zu geböte. Meine adversarien bieten mer oder minder aufs ge-
dente aufszüge aufs Du Ponceau, Memoire sur le Systeme grammatical
des langues de quelques naüons Indiennes de l'Amärique du Nord,
67]| NOMBN UND VsRBUtf IN DER LAUTLICHEN FORM. 563
Paris 1838 u. aufs Grammar of the Lenni Lenape or Delaware Indians
by D. Zeisberger, transl. with preface etc. by Du Ponceau, Philadel-
phia 1 827. Dise beiden Schriften halfen mir so gut als nichts. Mer ge-
nüzt hat mir, one jedoch klare einsieht zu ermöglichen Howse, a
Grammar of the Gree language with which is combined an analysis of
the Chippeway dialect, London 1844.
Be kantlich verschlingt in disen sprachen das so genante verbum
den satz mer oder minder in sich, so dafs das, was aufser dem verbum
im salze steht, nur apposition zu dem bereits im verbum aufs gedrükten
ist (z. b. im Cree: er, son-sein, ich sehe-in-den-seinen , d. h. ich sehe
seinen son). Hieraufs schon folgt, dafs in disen sprachen ein ganz an*
deres Verhältnis von nomen und verbum ob walten mute, als im Indo-
germanischen. Aber auch in der form ist nomen und verbum nicht,
oder doch wenigstens nicht principiell geschiden. Es genügt ein bei-
spil , um difs fürs Cree anschaulich zu machen.
Singular.
I. n-ootäwee mein vater ne ketoon ich spreche
II. k-ootdwee dein vater ke ketoon du sprichst
III. ootdwee sein vater ketoo er spricht.
Plural.
I. u. III. n-ootäwee-nan unser (erste ne ketoon-nan wir (1. 111.) sprechen
u. dritte person) vater
I. u. II. k-ootäwee-nöw unser (erste ke ketoon-änow wir (I. II.) sprechen
u. zweite person) vater
II. k-ootäwee-oowow euer vater ke keloon-owöw ir sprecht
III. ootawee-oowow ir vater ketoo-wük sie sprechen.
Man siht, zwischen den possessiven aufsdrücken am nomen und
der personalbezeichnung am verbum ist kein wesentlicher unterschid,
so dafs also ein ne ketoon ich spreche wol als 'mein sprechen zu fafsen
ist. Das selbe findet nun auch in andern sprachen Americas statt. Es
ist hier zu keinem gegensatze zwischen verbal* und no-
minalformen in der lautlichen gestaltung der selben ge-
kommen.
Tscherokesisch.
Es ligt mir vor: Kurze Grammatik der Tscberokesischen Sprache
von H. C. von der Gabelentz in Höfers Zeitschrift für die Wissenschaft
der Sprache, Greifswald 1851, III, 255—300.
38*
564 Aug. Schleicher , die Unterscheidung von [68
Das substaativum unterscheidet in diser spräche höchstens Singu-
lar und plural, nicht aber die casus.
Fast sämtliche adjectiva werden als so genante verba behandelt.
An personalpronominibus gibt es nur die unveränderlichen ayv (v
bedeutet einen laut, der dem des französischen un gleich komt, also
nasales englisches u, wie es in but gesprochen wird) ich, wir; uchi, du,
ir. Aufserdem einige ebenfals indeclinable demonstrativa: na, nani oder
nasgi jener; hia diser. Alles übrige stekt im so genanten verbum und
in den , wie wir gleich sehen werden , von den verbalen formen nicht
verschidenen possessiven nominalbildungen.
Wir haben hier nämlich die selbe erscheinung vor uns, wie im
Cree; die einfache conjugalion und die possessivformen sind identisch.
Man vergleiche:
Singular.
I. Isinelung mein haus dsinega*) ich spreche
II. hinelung dein haus hinega du sprichst
III, a. kanUung sein (des gegen- kanega er spricht,
wärtigen) haus
III, b. kanelung sein (des abwesen-
den) haus
Dual.
I. II. ininelung dein u. mein haus ininega wir (ich und du) sprechen
f. III. aslinelung sein u. mein haus osdinega*) wir (ich u. er) sprechen
II. istinelung euer haus sdinega ir beide sprecht
III, a. taninelung ir (der beiden ge-
genwärtigen) haus
III, b. aninelung ir (der beiden ab- aninega sie beide sprechen,
wesenden) haus
Plural.
I. sg. u. II. pl. itinelung euer u. mein idinega wir (ich und ir) sprechen
haus
I. sg. u. III. pl. atsinelung ir u. mein odsinega wir (ich und sie) sprechen
haus
II. itsinelung euer haus - idsinega ir sprecht
III, a. taninelung ir (gegenw.) haus
III, b. aninelung ir (abwes.) haus aninega sie sprechen.
*) Ober den Wechsel von t und d und Unliebe Schwankungen bemerkt der verf.
69] Nomen und Veiibum in der lautlichen Form. 565
Eben so gehl kanegoi er spricht gewönlich, kanegvgi er sprach (he
was speaking) in meiner gegenwart oder nach meiner eigenen warne-
mung , kanegei er sprach one meine eigene warnemung , kanegesdi he
will be speaking, kanegvi sein sprechen.
Ferner vergleiche man :
Singular.
I. akinawi mein herz aginedsv ich habe gesprochen
II. tsannwi dein herz dsanedsv du hast gesprochen
III, a. tunawi sein (gegenw.) herz
III, b. unawi sein (abwes.) herz unedsv er hat gesprochen.
Dual.
I. u. II. kininawi dein u. mein herz gininedsv wir (du und ich) haben
gesprochen
I. u. III. akininawi sein u. mein herz ogininedsv wir (er und ich) haben
gesprochen
II. stimm euer herz sdinedsv ir habt gesprochen
III, a. tuninawi ir (der gegenw.)
herz
III, b. uninawi ir (abwes.) herz uninedsv sie haben gesprochen.
Plural.
I. u. II. pl. ikinawi euer und mein iginedsv wir (ir und ich) haben ge-
herz sprochen
I. u. III. pl. akinawi ir und mein oginedsv wir (sie und ich) haben
herz gesprochen
IL itsinawi euer herz idsinedv ir habt gesprochen
III. wie im dualis.
Eben so gehen sechs modißcationen, wie unedsoi, unedsvgi u. s. f.
Der unterschid der possessivformen im ersten beispile von denen
im zweiten , so wie die sonderung der einzelnen elemente und ir Ur-
sprung haben mich bei diser und bei andern Indianersprachen Americas
schon merfach beschäftigt, one dafs ich zu einem irgend wie genügen-
den ergebnisse gelangt wäre.
Man vergleiche ferner:
s. 259, dafs sie sich auf einen Wechsel in der aufs spräche und dadurch bedingte ver-
schidenartigkeit seiner quellen gründen.
566
Aüg. Schleiche«, die Untebscheiding von
[70
Singular.
Üukung bäum
kutusi berg
equani flufs
Isaiota dein vater
ulota sein vater.
kalitoii ich bediene mich eines lef-
fels
Isigowati ich sehe ein ding
isistigi ich efse ein ding
Plural.
detlukung bäume
dikutusi berge
toequoni flüfse
ditsatota deine vater
Isutota seine väter
dekatitoti ich bediene mich roere-
rer leffel
delsigowati ich sehe merere dinge
delsistigi ich efse merere dinge
u. s. f.
In die verwirrende fülle der so genanten Iransitionen wollen wir
nicht versuchen ein zu dringen, zumal da das im bisherigen vor gelegte
genügt, um zu beweisen, dafs verbum und nomen auch hier in
der form nicht gesondert sind.
Ein verbum 'sein gibt es nicht (s. 298).
Demnach komt es in diser spräche nicht zu eigentlichen verben,
trotz bildungen wie winitotigeginaliskolvUmonelitisesti sie werden zu je-
ner zeit zimlich auf gehört haben dich und mich aufs der ferne zu be-
günstigen (s. 260).
Dakota.
Grammatik der Dakota-Sprache von H. C. von der Gabelentz. Auch
unter dem titel : Beiträge zur Sprachenkunde, zweites Heft, Lpz. 1 852.
Keine declination. Plural, mit beschränktem gebrauche, auf -p*.
Bestirnter artikel kin, ein, unbestimter wan (vgl. wanja zalwort für 1),
als selbständige worte nach gesezt.
Verbum one bezeichnung der dritten person. Das pluralzeichen
am verbum ist das selbe wie an den nominibus. Jedoch haben die I.
und II. sing, eigentümliche personalpraefixa. Z. b.
Singular.
mi oie mein wort miye ich
ni oie dein wort niye du
I. wa-ni ich lebe
II. ya-ni du lebst
III. ni er lebt.
I. on-ni~pi wir leben
II. ya-nt-pi ir lebt
III. ni-pi sie leben.
Plural.
onk-oran-pi unsere werke onkiye wir
ni oran-pi euere werke niye-pi ir
74] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 567
Nur in der besonderheit der personalbezeichnung der I. II. sing,
ligt ein schwacher ansalz zur scheidung von verbal- und nominalformen
vor ; denn on- der I. plur. ist offenbar blofse Verkürzung von onk-, das
auch wirklich vor vocalen steht, z. b. opa er ist dat onk-opa-pi wir sind
da; die (I. plur. ist der auf nominale art gebildete pluralis der II. sing.
Das blofse verbum kann auch als participium fungieren (§ 32). Die
'transitionen' bestehen in einfacher beifügung pronominaler elemente zu
dem so genanten verbum , z. b. qu, du (c vertritt ein q nach t, e) geben,
davon :
ma-qu er gibt mich oder mir (qu er gibt),
ni-qu er gibt dich oder dir,
ma-qu-pi sie geben mich oder mir (qtt-pi sie geben),
ni-qu-pi sie geben dich oder dir,
on-qu-pi er gibt uns, aber auch 'sie geben uns',
wa-ki-öu ich gebe in oder im (wa-ku ich gebe),
on-ni-du-pi wir geben in oder im (on~ku-pi wir geben).
In die von nominibus nicht unterschidenen so genanten verba (wie
qu er gibt, qu-pi sie geben u. s. f.) komt durch die transitionen nichts
specifisch verbales.
Also auch hier keine trennungvon nomen und verbum.
Grönländisch.
Für andere amerikanische sprachen kann ich nur aufs secundären
quellen schepfen. Das Grönländische und das Mexicanische behandelt
Stein lhal (Characteristik der hauptsachlichsten Typen des Sprachbaues,
Berlin 1 860) ; das erstere nach Kleinschmidts grammatik der grönländi-
schen spräche mit (heil weisem einschlufs des Labradordialects, Berlin
1 851 , das leztere nach mir nicht bekanten quellen.
Von dem über das Grönländische bei Steinthal mit geteilten heben
wir folgendes aufs: Es bekleidet auch beim Indicativ das Verbum
mit einem Moduscharacter. Dagegen versäumt auch die grönländische
Sprache das wichtigste, nämlich die dritte Person als Subject durch ei-
nen Personal -Character zu bezeichnen. Der Stamm also mit dem Modus-
Character ist zugleich die 3. Pens. Sing, und der Dual und Plural ent-
stehen durch Abwandlung des Sing, nach Weise der Nomina' (s. 224).
Vgl. hierzu das so eben aufs andern sprachen Nordamericas mit
568 Aüg. Schleicher, die Unterscheidung von [72
geteilte. Demnach wird im Grönländischen eben so wenig
nomen und verbum geschiden, als in jenen.
Mexicanisch.
Über das Mexicanische mag man bei Steinthal (Characteristik etc.
s. 202 flgg.) nach lesen. Ich hebe nur das nötigste hier aufs, um dar
zu tun, dafs auch im M exicanischen eine Scheidung von no-
men und, verbum in der lautlichen form nicht besteht.
S. 216: c Dafs die 3. Person des Verbums kein Präfix hat, ist ein böses
Zeichen. Dazu kommt, dafs der Plural des Verbums gerade so gebildet
wird, wie der des Nomens: nemi er lebt, nemi sie leben.
Dies weist daraufhin, dafs ni-nemi, ti-nemi nur so viel heifst, wie:
ich Lebender, du Lebender. So sagt man ja auch ne ni-llätlakoäni ich
ich-Sünder.
Daher hat es auch nichts Auffallendes mehr, dafs alle Nomina jene
Prädicals- Präfixe erhalten können [eine erscheinung, die wir bereits
kennen, vgl. z. b. das Jakutische s. 340 f.]: ni kwalli, eigentlich: ich gut,
ich bin gut; ti-kwalli du (bist) gut, kwalli er (ist) gut' u. s. f.
Die so genante einverleibung vermag nicht dise nichtunterschei-
dung von nomen und verbum zu beheben, denn auch ein nomen kann
ja active function haben ; ein ni-naka-kwa (naka-tl, in Zusammensetzung
zu naka gekürzt, fleisch; kwa efsen) ich-fleisch-efse, ich efse fleisch,
ist von dem oben an gefürten ni-nemi ich lebe, ni-kwalli ich bin gut
nicht wesentlich verschiden ; wir haben es etwa als 'ich-fleisch efsen-
der zu fafsen. Wenn Steinthal (s. 21 8) dem Mexikanischen 'wahrhafte
Verba ab spricht, so können wir im hierin nur bei pflichten.
Mit dem vor stehenden mufs ich es in betreff der sprachen Amen-
cas sein bewenden haben lafsen. Hoffentlich läfst sich einmal ein ande-
rer fachgenofse herbei, die zalreichen mir unzugänglichen sprachen auf
den hier in betracht kommenden punct einer Untersuchung zu unter-
werfen.
Südafrikanische (Bäntu) sprachen.
Von den sprachen Africas (aufser dem Koptischen und Nama) ste-
hen mir nur für einige der so genanten siidafricanischen sprachen, der
Bä-ntu Family Bleeks (The library of his Excellency Sir George Grey.
Philology, Africa. Vol. I, Part II, London u. Leipzig 1858), hilfsmittel
73] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 569
zur Verfügung, nämlich für das Zulu, das nach Bleek zur South-African
Division, South-Eastern-Branch, Kafir Species der Bäntu Family gehört,
für das Hererö. nach Bleek South-African Division, South-Western
Branch, Southern Portion der Bäntu Family, und für das Yoruba,
West-African Division, Niger Branch der Bäntu Family. Fttr das Zulu
(igen mir aufsfürliche abschriflen vor, die ich aufs dem Journal of the
American oriental Society, Vol. I, New- York and London, gemacht habe,
und zwar von folgenden abschnitten: 1) The Zulu language by Rev.
James C. Bryant und 2) The Zulu and other dialects of soulhern
Africa by Rev. Lewis Grout. Meine aufszüge aufs A Grammar of the
Mpongwe language with vocabularies by the Missionaries of the A. B.
C. F. M. Gaboon Mission, Western Africa, New-York 1847 — das
Mpongwe steht nach Bleeks tahelle dem Hererö nahe — , so wie aufs
Riis, Elemente des Akwapimdialects der Odschisprache, Basel 1853 —
das Odschi gehört nach Bleek, wie das Yoruba, zur West-African Divi-
sion der Bäntu-sprachen — sind zu kurz gehalten , als dafs ich sie hier
verwerten könte. Auch genügt es ja hier nur einige Vertreter der gro-
fsen Bäntu -Family in betracht zu ziehen, die übrigen sprachen dises
Stammes werden sich, schwerlich in dem hier besprochenen puncte an-
ders gestaltet haben. Für das Hererö benutze ich: Grundzüge einer
z Grammatik des Hererö (im westlichen Africa) mit einem Wörterbuche
von G. Hugo Hahn. Berlin 1857; für das Yoruba besitze ich: Gram-
mar and Dictionary of the Yoruba language etc. by the Rev. T. J. Bowen.
^ Washington City : Published by the Smithsonian Institution 1 858.
t
Zulu.
* Im Zulu tritt an den stamm des verbums selbst keine personbe-
F Zeichnung. Vor den selben treten die pronomina , in meinen vorlagen
, als selbständige worte geschriben; mit den nominalstämmen werden
sie jedoch zusammen geschriben. Bekantlich hat das Zulu, wie die mir
bekanten andern Bäntusprachen ebenfals, eine grofse anzal pronomina
der dritten person , da dise sprachen , so zu sagen , mer grammatische
genera unterscheiden als wir und für jedes genus»ein besonderes pro-
noroen der dritten person besitzen, das den nominibus praefigiert wird ;
z. b. i-hashi pferd, um-fana knabe, u-dade Schwester, in-to ding, uku-hla
narung u. s. f. Nur im vocativ wird das pronomen nicht gesezt. An
disen pronominibus erscheinen, wie beim nomen die casus, so beim
I
570 Aug. Schleicher, die Unteischeidung vor P*
verbum modus und tempus , doch beides keinesweges aufsscbliefslich,
sondern es treten bisweilen auch am aufslaute der stamme abwandlun-
gen ein.
Ein wesentlicher unterschid von nomen und verbum
hat sich jedoch nicht entwickelt. Hierfür einige belege.
Die tempusstämme des praesens und des perfecls werden zugleich
als participien auf gefürt; gi tanda wird sowol übersezt mit I love als
mit I loving; eben so II. sing, u tanda, I. plur. si tanda, II. plur. ni tanda.
Des gleichen im perfectum ; z. b. I. sing, gi tandile ist sowol verbum als
participium. Dafs das praesens oft ein so genantes hilfsverbum an nimt,
z. b. gi ya tanda ich liebe, wörtlich 'ich gehend liebend*, ist unwesent-
lieh. Schon hier haben wir also formen, die nominale und verbale natur
in sich vereinigen.
In Sätzen wie izi-nyoni zi ya kala oder zi kala the birds sing, wört-
lich 'die-vögel die gehend singend' oder cdie singend', unterscheidet
sich das nomen izi-nyoni vom so genanten verbum zi ya kala oder zi
kala (dise worte als eins gefafst, was sie jedoch nicht zu sein scheinen)
nur durch eine vollere form des pronomens izi und durch die nichttren-
nung des selben vom folgenden worte; ein unterschid, der sich doch
keinesweges dem im Indogermanischen vorhandenen gegensatze von
nomen und verbum vergleichen läfst.
Das praedicative adjeetiv hat eben so, wie das so genante verbum,
das wir ja bereits als nicht verschiden vom participium, d. h. vom ad*
jeetiv, kennen, das pronomen als gesondertes wort vor sich ; z. b. uku-
hla ku hie, ku ningi food is nice and abundant, wörtlich food it nice, it
many ; eben so uku-hla $e ku vutive the food ist just now ready (se, ad-
verbium, just now ; übrigens gibt es nur wenige adverbien, da sie durch
verba ersezt werden ; vutive ergibt sich seiner form nach als perfectum
passivi eines so genanten verbs, dessen praesens vula heifsen mufs, vgl.
praesens tanda, perfectum tandile oder lande, passivum praes. tand-u-a,
perfectum tand-iw-e).
Ferner ist für die natur des verbums nicht unwichtig, dafs unter
anfligung von -yo jedes verbum als adjeetivum gebraucht werden kann,
z. b. u-tyani obutambileyo grass which is soft; tambile ist perfectum zu
infinitiv uku-tamba td be soft ; u ist die kürzeste form der gleich bedeu-
tenden pronomina ubu und bu , obthtambileyo steht für a-ubu-tambileyo,
75] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 571
a ist relativum, so dafs diser satz wörtlich heifst 'das-gras welches-das-
sanftgewordene'.
Hererö.
Das Hererö stimt in seinem baue wesentlich zum Zulu, mit dem es
ja auch verwant ist. Auch hier treten die unterschide der tempora u. s. f.
zum grösten teile am pronomen hervor, das auch hier als gesondertes
wort geschriben wird und zwischen welches und das verbum andere
elemente treten können. Hierdurch erhält das so genante verbum aller-
dings meist eigene, besondere pronominalformen, doch nicht durchweg.
Pas verbum selbst aber nimt keine ab Wandlung nach personen an.
Wegen der änlichkeit diser spräche mit dem Zulu glauben wir nicht
näher auf die selbe ein gehen zu müfsen, zumal die formen der Zulu-
sprache meist altertümlicher zu sein scheinen , als die des Hererö.
Yoruba.
Das Yoruba ist in seinem grammalischen baue einfacher, als die
beiden zulezt besprochenen sprachen. Weder von declination noch von
conjugation in unserem sinne findet sich hier etwas. Lassen wir den
verf. des oben genanten werkes selbst reden. S. 18, § 72 : 'Of infle-
xion, properly so called, the language exhibits but faint traces'. S. 27,
§123: Through all the variations of person, number, mode, and tense,
the Yoruba verbal root remains unchanged. § 124: Person and num-
ber are denoted by the form of the personal pronoun that represents
the subject, as follows:
emi ri I see or saw awa ri we see or saw
iwq ri thou seest or sawest enyin ri ye see or saw
6h*) ri he sees or saw nwqh ri they see or saw.
§ 125: The modes and tenses are indicated by auxiliary particles pla-
ced before the verb. § 1 26 : There is but one conjugation , and
no irregulär verbs, in Yoruba; all verbs being varied in the same
manner.
So lautet z. b. der aorist perf. emi ri I see or saw; aorist iraperf.
*) ri bezeichnet den nasalen klang des vorhergehenden vocals , auch das guttu-
rale n. Im originale steht ein anderes zeichen, das ich, um drukschwirigkeiten zu
meiden, durch ri ersezt habe.
572 Aug. Schleicher, die: Unterscheidung von [76
emi riri I am or was seeing ; past perf. emi ti ri I have or bad seen,
past imperf. emi ti riri or nti riri I have or had been seeing; futur. emi
6 ri or ä ri I shall or will see u. s. f.; aorist optal. or potential emi ma ri
I may or would see or am seeing u. s. f ; subjunctive forms z. b. aorist
perf. bi emi ba ri if I see or saw ; futur. 6t emi 6 ba ri if I shall or will
see u. s. f. S. 39, § 173: 'Our Present Participle is represented 1. By
a simple verb 2. By a verb with the prefix n\ das überhaupt
öfters vor so genanten verben erscheint und warscheinlich rest des
häufig gebrauchten demonstrativums ni ist, das zugleich als verbum sub-
slantivum und praeposition gilt (vgl. §§ 128. 136. 182 flg. 226). § 174:
'The Perfect Participle is represented much in the same manner as the
present'. S. 43, § 195: 'Yoruba nouns are not varied in form to ex-
press gender, number, or case; or in other words, they exhibit no tra-
ces of i n flexi on.
Überblicken wir das in disen aufszügen enthaltene, so stellen sich
folgende puncto heraufs: 1. üer verbalstamm selbst nimt kein perso-
nenzeichen an, ein pronomen separatum deutet die person an, auf
welche sich der stamm beziehen soll. 2. Die so genanten verba fun-
gieren zugleich als participien. 3. Die nominalstämme haben kein ca-
suszeichen.
Difs berechtigt uns zu der behauptung, dafs im Yoruba nomen
und verbum nicht in einer dem Indogermanischen auch
nur an nähernd vergleichbaren weise geschiden ist.
Malayisch und Sudseesprachen.
Es ist bekant, dafs das Malayische und die Südseesprachen in
irem grammatischen baue bezüglich des aufsdruckes von casus- und
personalbeziehungen wesentlich auf dem standpunct des Chinesischen
und anderer isolierender sprachen stehen, von denen sie sich nur durch
entwickelung zusammen gesezter wortstämme unterscheiden. Hier fält
also stamm und wort zusammen, wie in den isolierenden sprachen Wur-
zel, stamm und wort. Eine Scheidung von nomen und ver-
bum in der lautlichen form kann disem algemeinen cha-
racter der spräche zu folge im ganzen ungeheuren gebiete
der Malayi sehen und Sudseesprachen nicht statt finden.
In disem punete stiint das urteil aller derjenigen überein , welche
sich mit disen sprachen beschäftigt haben. Da mir auf disem gebiete
77] Nomen und Verb im in der lautlichen Form. 573
genaueres eigenes Studium ab geht, sei es mir verstauet, einige urteile
anderer über dise sprachen hier an zu füren.
Hören wir vor allem Wilhelm von Humboldt. Er sagt (Kawispr.
CCLXXVI1 f.: 'Eine der natürlichsten und allgemeinsten Folgen der
inneren Verkennung, oder vielmehr der nicht vollen Anerkennung der
Verbalfunction ist die Verdunkelung der Gränzen zwischen Nomen und
Verb um. Dasselbe Wort kann als beide Redetheile gebraucht werden;
jedes Nomen läfst sich zum Verbum stempeln; die Kennzeichen des
Verbums modificiren mehr seinen Begriff, als sie seine Function cha-
racterisiren ; die der Tempora und Modi begleiten das Verbum in eige-
ner Selbständigkeit und die Verbindung des Pronomens ist so lose, dafs
man gezwungen wird , zwischen demselben und dem angeblichen Ver-
bum, welches eher eine Nominalform mit Verbalbedeutung ist, das
Verbum sein im Geiste zu ergänzen. Hieraus entsteht natürlich, dafs
wahre Verbalbeziebungen zu Nominalbeziehungen hingezogen werden,
und beide auf die mannigfaltigste Weise in einander übergehen. Alles
hier Gesagte trifft vielleicht nirgends in so hohem Grade zusammen,
als im Malayischen Sprachstamm, der auf der einen Seite, mit
wenigen Ausnahmen , an Chinesischer Flexionslosigkeit leidet , und auf
der andern nicht, wie die Chinesische Sprache, die grammatische For-
mung mit verschmähender Resignation zurückstufst, sondern dieselbe
sucht, einseilig erreicht , und in dieser Einseitigkeit wunderbar verviel-
fältigt. Von den Grammatikern als vollständige durch ganze Conjuga-
tionen durchgeführte Bildungen lassen sich deutlich als wahre Nominal-
formen nachweisen; und obgleich das Verbum keiner Sprache fehlen
kann , so wandelt dennoch den , welcher den wahren Ausdruck dieses
Redetheils sucht, in den Malayischen Sprachen gleichsam ein Gefühl
seiner Abwesenheit an. Dies gilt nicht blofs von der Sprache auf Ma-
lacca, deren Bau überhaupt von noch gröfserer Einfachheit, als der
der übrigen ist, sondern auch von der, in der Malayischen Weise sehr
formenreichen Tagalischen'.
Buschmann (Kawispr. II, s. 79, § 1 1) sagt von den sprachen des
malayischen Stammes überhaupt: 'So wie das Nomen in diesen Spra-
chen der Declination ermangelt, ebenso fehlt, genau genommen, auch
dem Verbum die Conjugation in ihnen. Partikeln und die persönlichen
Pronomina deuten die Modi, Tempora und Personen an , bleiben in die-
ser Andeutung , bis auf äufserst wenige Ausnahmen , unverändert und
1
1
574 Aug. Schleicher, die Untbbschbidung von [78
unabgekürzt, verschmelzen daher nicht mit dem Grundwort, und fehlen
endlich sehr häufig ganz'. S. 81 : ' Dasselbe Wort dient in den Malayi-
sehen Sprachen , wie es freilich auch in den meisten andern bisweilen
geschieht, zum Nomen und zum Verbum, ohne seine Gestalt im Gering-
sien weder durch Flexion, noch durch Affixa zu verändern. II, 348
gibt Buschmann fürs Tagalische folgendes beispil: sungmustiial siyä
schreibt er, ang sutujmustilat der schreibende; sa susulai für den der
schreiben wird, stmdat siyä schreiben wird er. Die worte, welche eine
form als so genantes verbum erkennen lafsen, werden aufsdrttklich (II,
347, § 36) als 'abgesonderte Wörter bezeichnet.
Hierzu stimt genau A. A. E. Scbleiermacher, de l'influence de 1'6-
criture sur le langage etc. suivi de grammaires Barmane et Malaie etc.,
Darmstadt 1836, p. 446, grammaire Malaie § 31: 'La plupart des mots
malais primitifs sont de deux syllabes. Beaucoup de ces mots appar-
tiennent en raöme temps ä plusieurs parties du discours, et on peut les
employer dans l'£tat primitif comme verbes , noms, adverbes , pröposi-
tions, conjonetions ou interjeetions , si la conneuon du discours rend
suffisamment clair le sens dans lequel ils sont pris\ Ferner s. 448,
§ 34: Les mots ne prennent point d'inflexions.
Von den Sttdseesprachen sagt Buschmann (Kawispr. III, s. 842,
§ 52) : ' Die Sttdseesprachen haben die Ununterschiedenbeit der Rede-
theile mit den westlichen gemein ; dasselbe Wort kann die Eigenschaft
eines Subst., Adject., Verbums u. s. w. in sich vereinigen; der Vorsatz
des Artikels macht es zum Subst., der einer Verbal-Partikel zum Ver-
bum, und die Nachstellung nach einem Hauptworte zum Adj.\
Nach Hardeland (Versuch einer Grammatik der Dajackschen Sprache
[auf Borneo], Amsterdam 1 858) sagt Steinthal (Gharacteristik der haupt-
sächlichsten Typen des Sprachbaues, Berlin 1860, s. 157): 'Zunächst
zeigt sich auch im Polynesischen Mangel an Unterscheidung der Rede-
theile. Substantivum, Adjectivum, Verbum , Präposition kann in dersel-
ben Form liegen. Von den so genanten verbal praefixen helfet es hier
(s. 169): 'Am wenigsten läfst sich sagen, dafs jene Präfixe Verba bilde-
ten. Denn da sie nicht persönlich flectirt werden, sondern durchaus
unverändert bleiben , so könnte man sie nur als Participia , genauer ge-
nommen, nur als transitive oder intransitive Adjectiva ansehen*. Ferner
(s. 171): 'Das Verbum bat weder Personal - , noch Temporal-, noch
Modal- Flexion.
79] Nomen und Verbum in der lautlichen Form. 575
Disen übereinstimmenden urteilen wird man um so mer vollen
glauben schenken, als in den an gefürten werken beispile aufs den
sprachen selbst zur bestätigung des oben gesagten zu finden sind.
Nur von zwei der zalreichen hierher gehörigen sprachen ligen mir
grammatische bearbeitungen vor. Diso zwei sprachen will ich im fol-
genden noch besprechen , um das vorstehende näher zu begründen und
anschaulicher zu machen.
Favorlang (Formosa).
Über das Favorlang auf Formosa habe ich vor mir die arbeit von
H. C. von der Gabelen tz (lieber die formosanische Sprache und ihre
Stellung im malaiischen Sprachstamm, Leipzig 1 858). Dise spräche ist,
wie der genante forscher schlagend dar tut, in irem grammatischen
baue mit den sprachen der Philippinischen Inseln (Taga lisch, Bisayisch,
Pampangisch u. s. f.) zunächst verwant. Das Favorlang verhält sich in
dem uns hier beschäftigenden puncto natürlich eben so wie das Tagali -
sehe (s. o.). Einige aufszüge mögen hier platz finden.
Das nomen hat einen bestirnten artikel a, ja, für nomina propria
ta; o, in gewissen fällen nof bezeichnet besonders den genitiv und ac-
cusativ (§ 1 5). Es gibt keine Casusbezeichnung aufser durch praeposi-
tionen (§ 16). Der plural ist dem singular gleich, oder er wird durch
reduplication aufs gedrükt. Die nahe verwantschaft der adjeetiva und
der so genanten verba ligt klar zu tage (§§ 18 — 20); bao a idac (bao
jung, neu; a artikel) heifst sowol 'das neue des mondes als 'der mond
ist neu .
Die persönlichen pronomina sind ina ich, jo du, icho er, ja (vgl.
den artikel) es. Dise formen gelten zugleich für die obliquen casus;
z. b. (s. 29) ina papagcha jo ich werde-schlagen dich; papagcha ist der
durch reduplication (§31) gebildete futurstamin one bezeichnung von
person und numerus.
Die so genanten verbalformen , die , wie das oben an gefürte bei-
spil zeigt, keinen aufsdruck für die personalbeziehung besitzen, drücken
die tempusbeziehung durch gewisse praefixe oder infixe oder durch
reduplication oder auch gar nicht aufs (vgl. oben bao 'neu und 'er ist
neu). So wird z. b. behufs der bildung des praesens activi nach dem
an lautenden consonanten , zu denen auch der Spiritus lenis (d. h. der
mit der aufssprache eines an lautenden vocals verbundene explosivlaut)
576 Aug. Schleicher, dik Unterscheidung von [80
zu rechnen ist/) das infix -umm- gesezt; z. b. chachcho lauge, ch-umm-
achcho ich wasche mit lauge; ' -umm-achol ich lege bei seite von
'achol u. s. f. Ein geschobenes -in- bezeichnet das praeterilum (§ 30),
reduplicalion des anlautes der praesensforui mit a das futurum (auch in
disera falle gilt der Spiritus lenis als consonant) ; z. b. cha-ch-umm-achcho
ich (du, er) werde mit lauge waschen, *a- -umm-achol ich werde bei
seite legen u. s. f. Ma bildet verba neutra (§§ 32. 33); z. b. bachas
Irockenheit, davon ma-bachas, praeterit. m-in-a- bachas (infix im praefix),
futur. ma-ma-bachas ; pa bildet causativa (§§ 34 — 36), z. b. praes. pa-
9achol bei seite legen lafsen (vgl. oben * umm-achol) , praeterit. p-in-a-
yachol9 futur. pa-pa-achol (hierher gehört auch das oben an gefürle pa-
pagcha ich werde schlagen) u.s. f. Die bildung der äufserst merkwürdigen
passivstämme übergehen wir hier, etwas specifisch verbales ist inen
keinesweges eigen.
Neuseeländisch.
Über das Neuseeländische steht mir nur zu geböte der kurze 'Ab-
riss der Neuseeländischen Grammatik u. s. f. nach dem englischen Ori-
ginal von Mr. Norris übersetzt von A. Hoefer (in dessen Zeitschrift für
die Wissenschaft der Sprache I, s. 187 — 202) nebst Sprachproben I,
202—206 und III, 301 — 309.
In diser spräche sind die grammatischen beziehungsformen fast
nur in den pronominibus und in den partikeln entwickelt. Wärend so
genante nomina und verba keiner abänderung nach zal, casus, modus
und person unterworfen sind, werden beim pronomen die zalunter-
schide bezeichnet. Das persönliche pronomen lautet:
Singular. Dual. Plural.
I. hau, nach andern nach gewissen maua ich und matou = Ising.
au, auch ahau (I, partikeln ku ein anderer + III plur.
196 III, 303) (I-hlll)
taua ich u. du tatou = I sing.
(|+H) + II piur.
II. koe u korua kolou
III. ia na raua tatou
Deutlich ist in einigen fällen der beziehungsunterschid von Singu-
lar und plural als ein bedeutungsunterschid gefafst, d. h. singular und
') Der Herr Verf. fafsl difs etwas anders; vgl. §§ 39. 31.
g
81] Nomen und Verbum in der lautligben Form. 577
plural sind wurzelhaft verschiden, sind zwei verschidene worte, nicht
durch grammatische abänderung eines und des selben Stammes geson-
dert (also nicht wie equus, equa, sondern wie pferd, stute). Difs ist der
fall bei te bestirnter artikel im Singular, nga bestirnter nrtikel im plural
(warscheinlich auch bei na, raua; hau, matou s. o.). Unbestimter artikel
ist he. Aufserdem gibt es noch demonstrativa.
Die so genanten nomina sind , nach den sprachproben zu urteilen,
daran kentlich, dafs ein artikel, ein demonstrativum, oder ein possessi-
vum (lo-ku oder la-ku mein; to-u oder la-u dein; to-na oder ta-na sein,
ir; dual to-maua oder ta-maua u. s. f.; plur. a-ku oder o-ku; a-u oder
o-u; a-na oder o-na, stäts mit a, o anstatt ta, to des Singulars) vor inen
steht. Die so genanten verba, ebenfals unveränderlich nach zal und
person, kent man an den sie begleitenden partikeln. Die personen wer-
den nur durch die, wie es scheint, stäts nach gesezten selbständigen
pronomina aufs gedrükt. Als verbalformen werden (s. 198) zusammen
estelt:
Activ Passiv
ka tango neme, nam*) ka tango-hia
tango ana neme, nam tango-hia ano (= ana)
e tango wird nemen e tango-hia
e tango ana nemend ; ist, war nemend e tango-hia ana
kua tango hat genommen kua tango-hia
ka tango ai wird nemen ka tango-hia ai
kia tango ai dafs (er) neme kia tango-hia ai
kia tango zu nemen kia tango-hia
tango-hia nim
kam e tango nim nicht.
Mittels zusatz der partikeln kann fast jedes wort verbal gebraucht
werden (I, s. 200, § 35).
Und nun noch einige beispile aufs den sprachproben, aufs gewillt
von mir, um an inen die in diser spräche nicht volzogene Scheidung
von nomen und verbum auf zu zeigen, ko nga mea whaka-pono (111,
s. 303); ko demonstrative partikel; nga bestirnter artikel im plural; mea
ding, dinge; whaka-pono glauben; whaka (andere Schreibung waka) bil-
*) Eigentlich nicht zu übersetzen, da im Neuseeländischen die person nicht be-
zeichnet ist.
Abhaodl. d. K. S. Gescllfcli. d. Wiueoscb. X. 39
578 Act -ViLEXitm, me L^tdl^th
d*_-t c«*u^at.:*a: />/»/> warhe;t: d*r ^atz U:-d-ut»"-t a >*"»: «J-^* •<■ -
ben?: »z1* mk'jLa-j^mo Miu^e des 2!«jub^n> Lat o:of-T
br^ucL'lche gonitiv-[iart.k?l * oder o z. b. in fc> ik« tmtre j 1
erebM^ des ffO»>s >. 30*: /* wihine frau o //>-* dein. >- o. * i
deines nächsten ». 303 ond auf^erdf-m s^r oft . Hi^r* / -?r— "
uh'ika-pouh a!> D/rurro zu faf>en. AU verbum ersch^ioi •-:-■=!
dagegen in folgendem satze: * irhako-jnm» *m mhmm ich *-? i
A/H4I ich e!aube ao ßotr; hier sind * — a*a so irewnle w-/v
s. o. die Zusammenstellung der verbalformen. Die s^lr>? \-i
e — ana gilt aber auch als participium , z. b. Luc. I , I t s. - i
ikite-d r iVi te anahera o te Ariki e tu ana ki matau o te Mia ** t* •
ra; a und: ka verba!partiLel : kite-a gesehen, passivaoi zu i :*. *
bei; ia pron. der DI. sing.: te sing, des bestirnten artikeis: : I
engl angel; © oder a genitivpartilel : Ariki Lord: e tu *ma s>.v£- ■--:
In stehen; ki bei, zqo.s. f., wörtlich also: and was seen ly .
aoirel of the Lord slandini: to rieht of the altar of the thim? s\% eet->
OKf&Tt di avrfß. icYjÜAz ffrp/or, ianvz ix <fe£/&r tot &t'*M€c<jTT ,.
JHiuuuftroz. III. 304: e ikora ana die sich versehen eeteen od> . !
fals participiai. Man beachte auch Wendungen wie Luc. I. £0 : n>. :
kahore koe i traka-pono ki aku kupu ; no von ; te artikel : mem ding : * :
negation, nicht; koe du; i'in, to,.at. from. whilst, than . und shL
den Verbis . wenn kein Nominativ da ist oder wenn ein solcher v -
geht* I, 204; waka-pono, s.o., glauben; ki bei. zo; akm possessive I
I. pers. plur.; kupu wort, also : from the cause not tbou in beJierr.
my words , aitif <ow oru irriOTtvöft* roi* loyoi* fiov.
Das adjectivum steht one weitere bezeichnung nach dem smI--
tivum z. b. nga mea katoa the things all. Luc. I. 3 I. s. 203 ; 77"/'
tangaia pai rava Theophilus tlie man good very, ibid.; te mea kakm ;.
thing sweet-scented I, 204 ; te mea waka-haurangi the thing cause-dru
kenness, d. i. a'xcya, Luc. I, 15; te tcatrua tapu the spiril boly o k/
Ein verbum substantivum scheint es nicht zu geben, z. b. III >(l-
ko Ihotca ahau ko-tou Atua; ko demonstrativ, eine art stärkeren arti^-
ahm ich; to~u possessivum II. sing.: Jehovah ich (bin) der dem &
Eben so an andern stellen.
Wenn also auch, so weit meine auf einigen wenigen lesestfcw-
beruhende ser beschränkte einsieht in dise spräche es erkennt ^
im Maori in der regel zu bemerken ist, ob man ein wort als nomen od*
>31 NOMBN UND VERBUM IN DER LAUTLICHEN FORM. 579
lls verbum übersetzen soll, so siht man dennoch, tlafs namentlich das,
<» »
- 4
* . ~ * -
: fc was wir participium nennen, vom verbum finitum nicht geschiden ist
^ . und dafs ferner nur das als ganz selbständiges wort bei gesezte prono-
.± : men dem die stelle des verbum vertretenden worte die beziehung auf
eine bestirnte person verleiht. Eine wirkliche Scheidung von
— • .»
"verbum und nomen ist in diserser einfachen, sozusagen
*•' <j* •
kindlichen spräche nicht vorhanden. Rechnet man partikeln,
"/" artikel , pronomina als völlig getrente worte — und nichts spricht für
* • *'^ »•
das gegenteil — so sind nomina und verba im Neuseeländi-
. «-»'s i •
sehen unveränderlich in irer form und völlig einander
gleich.
Melanesische Sprachen.
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* - - - . ,
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Kentnis der melanesischen sprachen (sprachen der schwarzen rasse
der inselweit), soweit die bisherigen fast nur in Übersetzungen von re-
ligionsschriflen u. dergl. bestehenden hilfsmittel eine solche verstatten,
verdanken wir Herrn H. C. von der Gabelentz (Die melanesischen Spra-
? : *~ l*. * chen nach ihrem grammatischen Bau und ihrer Verwandtschaft unter
- * h. sich und mit den malaiisch -polynesischen Sprachen untersucht von H.
*- - '^i C. von der Gabelentz. Aus dem VIII. Bande der Abhandl. der Königl.
Sächsischen Gesellsch. der Wissensch., Leipzig 1860).
Im algemeinen stehen dise sprachen den polynesischen ser nahe
(§ 533, s. 266). ' Die Substantiva haben in den meisten melanesischen
Sprachen einen Artikel , der verschieden ist , je nachdem er vor einem
:*.:::• --.i nora. propr. oder vor einem nom. comm. steht* (§ 515, s. 255). 'Die
I /; I ; .. Bezeichnung der casus erfolgt in den melanesischen Sprachen , wie in
den polynesischen, durch vorgesetzte Partikeln* (§ 516, s. 256). Auch
im Melanesischen ist das pronomen besonders reich entwickelt. ' Das
Verbum ist wie das Nomen in allen melanesischen Sprachen flexionslos
und hat meistens nur sehr unvollkommene Mittel Tempus und Modus
auszudrücken (§ 526, s. 262). Kino scheid ung von nomen und
. ■ verbum ist also in den melanesischen sprachen eben so
wenig vorhanden, als in den inen nahe stehenden poly-
nesischen.
Als belege zu dem gesagten mögen einige formen aufs disen spra-
chen hier eine stelle finden.
f. :M *
'i :. ^> -"V
^:cb :...•■•'
580 Aig. Schleiche« , die Unterscheiding vox [Si
# Fidschi.
Von den melanesischen sprachen steht die Fidschisprache den
polynesischen sprachen am nächsten, sie bildet 'gewissermassen den
Ucbergang von den polynesischen zu den melanesischen Sprachen'
(§ 9, s. 9).
Hier lautet der arlikel, der, wenige fälle, die vi! leicht als eine art
Zusammensetzung zu fafsen sind, aufs genommen, (§ 36) vor den nomi-
nibus steht, fco, o für nomina propr., für andere substantiva na, a (§ 34) ;
o, a sind als Verflüchtigungen von ko, na zu betrachten. Nur durch den
artikel wird das nomen als solches kentlich , nur durch das pronomen
und die verbalpartikeln, die noch dazu teilweise in gewissen fällen feien
können (§ 61, s. 39). das verbum. Ab gesehen von disen, durchweg
als selbständige worte geltenden elementen, ist kein unterschid zwi-
schen nomen und verbum vorhanden. Z. b. a lako das gehen, a tiko
der sitz (§ 22, s. 20; § 51, s. 36), aber (§§ 46. 47, s. 31) praesens au
sa lako ich gehe (au ich, vgl. das Neuseeland.; sa praesenspartikel).
o sa lako du gehst, sa lako oder e lako (auch e ist praesenspartikel,
wenn kein pronomen vorher geht) er geht. Wir haben also auch hier,
wie so oft, die dritte person one personalbezeichnung (vgl. § 81, s. 46);
keirau sa lako wir beide (den an geredeten aufs geschlolsen) gehen,
kedaru sa lako wir beide (den an geredeten mit ein geschlolsen) gehen,
und so fort mit allen fünfzehn pronominalformen (singular, dual , trial,
plural; inclusiv den an geredeten und exclusiv; I. II. III. person). Prae-
teritum kau a lako (kau eine andere form für au ich , vgl. neuseeländ.
hu; a zeichen des praeteritum) ich bin gegangen u. s. f. ; futurum au na
lako ich werde gehen ; conjunct. meu (me dafs) lako dafs ich gehe , me
lako dafs er gehe (aber auch rzu gehn' infinit. ); iroperat. lako, mo
lako geh.
Ein eigentliches verbum substantivum feit im Fidschi (§ 65, s. 40);
'die blosse Copula liegt in den Verbalpartikeln , die auch mit Nomen,
Pronomen oder Adverbium verbunden zum Ausdruck derselben dienen,
d. h. doch wohl nichts anderes, als dafs jedes wort gewissermaßen
zum verbum wird, wenn im eine verbalpartikel zur seile tritt, so wie
wir das verbum zum nomen werden sahen , wenn im der artikel vor
gesezt wird ; z. b. sa lekaleka na (artikel) noda (unsere) gauna es (ist)
kurz unsere zeit.
85] Nomen und Verbdm in der lautlichen Form. 581
Annatom und andre Neu-Hebridische Sprachen.
i
Die spräche der insel Annatom , der südlichsten der Neu-Hebriden
(§ 123, s. 65), deren bau der verf. nach einer Übersetzung des Lucas
vor legt, zeigt die bereits bekanten erscheiuungen.
Der bestirnte artikel , in- vor consonanten, n- vor vocalen , wird
praefigiert ; er allein reicht aufs , am ein verbum zum substantivum zu
machen (§ 144, s. 88), doch steht er nicht stäts am nomen (§ 165,
s. 1 00 f.). Überhaupt sind substantiva, adjectiva, vcrba, adverbia nicht
in irer form verschiden (§ 1 46, s. 89). Auch hier findet sich eine reiche
entwickelung des pronomens (§ 148, s. 90). Beim verbum, das an sich
unveränderlich ist, werden die beziehungen der person und des nume-
rus durch die pronomina, die temporalen und modalen beziehungen
aber durch elemenle, die ans pronomen treten, aufs gedrükt (§ 155,
s. 93), z. b. ek (praesensform des pronomens der I. sing., für sich ainyak
lautend) asaig ich sage ; et asaig er sagt (aien er) ; eru asaig sie zwei
sagen (arau sie zwei) ; era asaig sie (plur.) sagen (ara sie) u, s. f. Im
praeterit. im per f. lauten dise personen I. ekis asaig ich sagte; III. sing.
is asaig; III. dual, erus asaig; III. plur. eris asaig u. s. f.; praeterit. per-
fectum ek mun asaig ich habe gesagt u. s. f.; futurum ekpu asaig ich
werde sagen u. s. f. Asaig kann auch one pronomen imperativ sein
(§ 165). Auch hier gibt es kein verbum 'sein (§ 173, s. 106).
Die übrigen neu-hebridischen sprachen bieten wesentlich das selbe
bild (das § 237 aufs einer handschriftlichen grammatik über das ver-
bum des Erromango mit geteilte lautet auf fallend). Ja sogar es findet
sich in der spräche von Erromango fdas Verbum in seiner einfachen
Gestalt und ohne weitern Zusatz als Praesens, Praeteritum, Futurum,
Participium, Imperativ und Infinitiv gebraucht' (§ 238, s. 1 40), z. b. neni
er ifst, er afs, ifs; nemettet sie fürchteten sich, fürchte dich u. s. f. Im
Ta na feit sogar ein eigentlicher artikel (§ 258, s. 1 50), der doch in di-
sen sprachen meist das nomen als solches zu bezeichnen pflegt.
Duauru.
Die Duaurusprache auf Baladea oder Neu-Caledonia (§ 400,
s. 21 4 flg.) steht so zimlich auf dem standpuncte völliger nichtunter-
Scheidung der redeteile, denn sie hat keinen artikel (§ 412, s. 222), die
nomina haben auch sonst keine für sie cbaracteristische form (§ 41 0,
582 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [86
s. 222) und dem verbum feien auch fast alle partikeln (§ 421, s. 225),
doch bezeichnet hier das vor gesezte pronomen personale die person ;
z. b. inggo (ich) ve ich gehe , ich gieng , ich werde geben ; inggu (oder
nggu, ngo du) ve du gehst, giengst u. s. f., auch 'geh' imperat.
Bauro.
Bis auf das Vorhandensein eines artikels steht die spräche der insel
Bauro, eine der Salomonsinseln (§ 447 flgg.), auf der selben stufe
wie das Duauru.
Hier sind wir bereits bei sprachen an gelangt, die sich, was den
lautlichen aufsdruck der beziehung betritt, durchaus nicht wesentlich
von den im folgenden zu erwähnenden sprachen Ostasiens unterschei-
den. Von disen sind mir folgende mer oder minder bekant.
Bodo.
Kentnis der grammatischen bildung der Bodo und Dhimäl,
zweier sprachen, die Max Müller (Letter to Chevalier Bunsen on the
Classification of the Turanian languages by Max Müller, M. A., p. 109
flg.) zu den Lohitic Dialects der Bhotlya Class (deren hauptrepräsentant
das Tibetische ist) rechnet und die demnach im Brahmaputra- (Lohita-)
gebiete (Assam u. s. f.) gesprochen werden, verdanken wir Hrn. Hodgson
(Essay the First : on the Kocch, Bodo and DhimAI Tribes in three parte
etc. By B. H. Hodgson, Esq. B. C. S. Calcutta: printed by J. Thomas,
Baptist Mission Press 1847, mit zalreichen handschriftlichen nachtragen
und berichtigungen vom hrn. verf.).*)
Im Bodo findet die declination mittels nach gesezter elemente statt.
Z. b. hiwä a man ; hiwä ni of a man ; hiwä Ingo with a man u. s. f. Plu-
*) Leider ist es mir zur zeit nicht möglich , mich in die verwickelten gramma-
tiken des Väyu und des Bähing (eines dialectes des Kiräuti) ein zu studieren, wel-
che, nach den mir vom verf. gütigst mit geteilten zimlich umfangreichen und von im
selbst aufs sorgfältigste handschriftlich verbesserten abzügen zu schliefsen, in dem
Journal of the Asiatic Society of Bengal, warscheinlicb vom jare 4 858, s. 4 — 262
(corr. 270) stehen. Die Väyu (s. 249, corr. 257) cvulgarly called Häyus, inhabit the
central Himälaya. — They are subjeets of Nepal*. Das selbe gilt von den Kiränti oder
Kiräti, zu denen die Bähing gehören. Hoffentlich kann ich künftig einmal in form ei-
nes nachtrags zu diser onebin ser lückenhaften skizze das jezt versäumte nach holen.
87] Nomen und Verbum in der lautlichen Forh. 583
raus eben so, nur mit dem pluralzeichen vor der postposition , also:
hiwä phür, hiwä phür ni, hiwä phür lago u. s. f.
Die pronomina personalia sind: I. sing, äng I, genit. ang m , in-
strum. (oder comitativ) ang lago u. s. f.; I. Plur. jong wo, jong ni, jong
lago u. s. f.
II. sing, nang thou; II. plur. nang chür ye.
III. sing, bi he, she, it; plur. bi chür they ; Übrigens ganz wie bei
den andern nominibus.
So genantes verbum. Z. h.thäng go; praesens: sing. I. ang thäng-ö,
II. nang thäng-ö, III. bi thäng-ö. Plur. I. jong thäng-ö, II. nang chür
thäng-ö, III. bi chür thäng-ö.
Eben so praeteritum: äng, nang, bi u. s. f. thang-ä oder (häng bai;
futurum äng, nang u. s. f., thäng nai u. s. f. Das selbständige getrente
pronomen personale ist also allein für sich stehend aufsdruck des sub-
jects beim so genanten verbum; es braucht jedoch nicht unmittelbar an
lezterem zu stehen, z. b. äng phä-rou thäng-nai, wörtlich ich dorf-zu
gehen-werden , I shall go to the village.
DhimU
Das Dhimäl zeigt wesentlich den selben sprachcharacter wie das
Bodo. Die gedrängte darlegung des selben genügt auch hier als be-
antwortung der uns beschäftigenden frage.
Nomen. Z. b. wäval a man; wäval ho of a man; wäval öng to a
man; wäval dosa with a man u. s. f. Plural: wäval galai men; wäval
galai ko9 väval galai eng u. s. f.
Pronomina. I. sing, kä I, aber häng ho of me; hang dosa wilh me,
heng (warschein lieh aufs *ka eng zusammen gezogen) to me, me u. s. f.;
I. Plur. kyel we; aber hing ho of us; hing äng to us; hing dosa with us.
II. sing, nä thou; aber genit. nang ho; dat. und accus, ning (wol
auch hier, wie bei I, aufs *nä öng) u. s. f.; II. plur. nyel; genit. ning ho;
dat. accus, ning eng u. s. f.
III. sing, wä he, she, it; genit. ö-hö, wäng-hö; dat. acc. weng (wol
wie bei I. und II. zu erklären); instrum. (od. comitativ) wang dosa u. s. f ;
III. plur. übal they, übal ho, übal eng u. s. f.
Verbum (so genantes). Hier spilen die 'auxiliaries' eine rolle , de-
ren es merere gibt (hhi, nhi, hi, äng); sie treten zu andern wurzeln hin-
zu, um das tempus an zu deuten (vgl. die Bäntuspracheo Africas, z. b.
584 Aug. Schleicher, die Unterscheidung von [M
das praesens des Zulu). Das pronomen steht in den I. und II. personen
zwei mal , in den III. nur ein mal. Z. b.
Singular.
I. kd hade (gehen) khi (auxiliare) -kä I go
II. nä hade khi-nd thou goest
III. wd hade khi he goes.
Plural.
I. kyel liade khi kycl vve go
II. nyel hade khi nyel ye go
III. übal hade khi they go.
Eben so kd hade hi-kd I went; kd hade dng kd I will go u. s. f. ;
hade II. imper. go!
Auch hier ergeben die sprachproben , dafs das pronomen keines-
weges an die das verbum vertretenden wurzeln und stamme gebunden
ist, auch braucht es nicht stäts in den I. und II. personen doppelt zu
stehen, z. b. (s. 1 28) : kd derata hade -dng I to-the-village shall-go.
Tibetisch.
Im Tibetischen gibt es ebenfals keine personalendungen ; nomi-
nalformen und verbalformen sind hier nicht geschiden.
]. J. Schmidt (Grammatik der Tibetischen Sprache, St. Petersburg 1 839,
§ \ 1 5) sagt : ' In keinem Tempus eines Yerbi gibt es eine Endung oder
sonst ein Zeichen, das auf den Unterschied der Personen hindeutete;
diese müfsen aus dem vorhergehenden Nomen, Pronomen oder aus
dem Zusammenhange überhaupt erkannt werden. Das Tibetische Ver-
bum und dessen Gonjugation basirt sich übrigens auf eine Anzahl un-
persönlicher und daher unbestimmter Ausdrücke und Redeformen, welche
durch die Participia Praesentis, Praeteriti und Futuri gebildet werden .
Kassia.
Im Kassia (H. C. von der Gabelentz, Grammatik und Wörterbuch
der Kassia - Sprache , Leipzig 4 858, aus den Berichten über die Ver-
handlungen der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften)
scheidet nur der vor das nomen tretende artikel dises vom verbum.
Lezteres ist durch das vor gesezte pronomen und andere elemente kent-
lich. Der imperativ enträt des pronomens, z. b. shim, bdm nemet, efset ;
dise formen können auch iufinitive sein. Der stamm selbst , oder vilmer
&Q] Nomen und Verb gm in der lautlichen Form. 585
die einzelnen wurzeln, die hier, wie im Chinesischen, durchaufs unver-
änderlich sind , kennen eben so wenig unterschide in der form , wie im
Chinesischen; z. b. mon wollen, wille; lih weife, weifs sein. Nur durch
andere, ebenfals selbständige wurzeln (worte) wird eine nähere bestim-
mung der beziehung ermöglicht. Indes ist nicht in abrede zu stellen,
dafs auf disem wege im Kassia, bis auf wenige bestirnte falle, eine Schei-
dung der als nomina fungierenden wurzeln von den als verba gelten-
den vorhanden ist. Nur ist natürlich dise scheidung nicht , wie im In-
dogermanischen, mittels wirklicher Wortbildung erreicht, da es eine
solche in sprachen dises baues überhaupt nicht gibt.
Chinesisch.
Das Chinesische besteht bekantlich aufs lauter unveränderlichen
wurzeln , die als worte jeder art fungieren. Stellung u. s. w. leren , ob
wir eine wurzel mittels eines verbums, eines nomens oder eines adver-
biums in unseren sprachen wider zu geben haben.
Annamitisch, Siamesisch, Barmanisch.
Vom Annamitischen und Siamesischen, die villeicht mit
dem Chinesischen stamverwant sind , gilt das selbe wie vom Chinesi-
schen , so weit ich mich diser sprachen von früheren Studien her erin-
nere ; gegenwärtig sind mir keine hilfsmittel für die selben zur hand.
Vgl. Schott (chinesische Sprachlehre, Berlin 1S57, s. 1): 'Die sprachen
von Annam (An-nan) und Siam könnten ihrem character nach wahre
Schwestern des Chinesischen sein. Übrigens ist nach Schott das Anna-
mitische dem Chinesischen slamfremd (Schott, zur Beurtheilung der an-
namitischen Schrift und Sprache; Abhandl. der Königl. Akad. der Wis-
sensch. zu Berlin, 1855, II, s. 4 46: 'aber bald überzeugen wir uns von
der Unmöglichkeit, eine nähere oder auch nur entferntere verwantschaft
beider sprachen [des Annamitischen und des Chinesischen] nachzuwei-
sen)'. Auch im Barmanischen findet keine bezeichnung der person
beim so genanten verbum statt.*) Vgl. jedoch die Zusammenstellung
*) Durch die gute meines gelerten freundes Prof. Dr. Rost in Canterbury lernte
ich Donner Augustus Chase Anglo-Burmese Hand-book or a guide to a practical know-
ledge of the Burmese Language, Maulmain 4 862, klein 4°, kennen. Die in merfacher
beziehung merkwürdige Barmanische spräche hat, wie das Chinesische, die morpho-
*
586 Aug. Schleicher, die Unterschbiouhg v. Nomen o. Verbum etc. [90
chinesischer, barmariischer, siamesischer und tibetischer worte bei Max
Müller, Classification of the Turanian laoguages. p. 434 flg.; über die
verwantschaft von Barmanisch und Tibetisch s. Schiefher, tibetische
Studien, St. Petersburg 1851, s. SO.
Namaqua.
Im Namaqua. einem dialecte des Hottentottischen, dessen
kentnis Wallmanns Formenlehre der Namaquasprache, Berlin 1857, er-
möglicht hat, gibt es keine conjugation. Entweder bleibt die wurzel
ganz unverändert und die person völlig unbezeichnet , oder sie nimt ein
Personals uffix an, gerade so, wie difs bei den die andern redeteile er-
setzenden wurzeln und Wurzelverbindungen auch geschiht; z. b. ti-ta
(ego) ma (dare) ich gebe, oder auch, in gleicher function, ma-ta, das
also völlig so gebildet ist, wie jenes ti-ta. Das eine übersetzen wir als
verbum (do), das andere als nomen (ego). Ein gegensatz von
nomen und verbum findet also nicht statt.*)
logischen formen Ä (auch A+Jt), Ä+r (ser hüufig) und r-t-R (a und la, verscbidener
function, treten nicht selten vor die bauptwurael, dosgleichen die negation ma).
Auch im Bannaniseben finden sieb ansalze zur ilexion (Chase § 65, s. 39), indem in-
transitiv* durch aspiration des an lautenden consonanten zu transitiven werden z. b
tut lobe free, aber Mut to release ; tiot to be torn, aber kuot to lear, rend. Auch fin-
det sich zusammenziehung zweier Elemente in eines, z. b. (§ 70, s. *3) 'leim IV be-
zeichnet den tight aocenl] future affix ; from lay an euphonic and an [n bezeichnet ein
anfo lautendes m; § 9, s. 6] ; hkyay, combined witb an becomes AAyeAn' (§ 90, s. Sil.
*; Leider feien für die, nach allem was darüber bekant ward, nicht nur in pho-
netischer Beziehung höchst interessante Sprache der so genanten Bosjesiaans oder
Alphabetisches Register
der in der vorstehenden abbandlung in betracht gezogenen sprachen.
Abcbasiscb 555
Aegyplisch s. Koptisch.
Africanische sprachen, s. Südafri-
caniscb, Bantusprachcn, Koptisch
und Namaqua.
Americanische sprachen 661
Annamitisch 585
Annalom SSI
Arabisch s. Semitisch.
Awarisch 653
Bäntusprachen 668
Barmanisch S86
Baskisch 561
Bauro 681
Bodo 582
Burjatisch 545
Chinesisch 685
Cree 561
Dakota 566
Dbiraäl 583
Drawidisch s. Tamuiisch.
Duauru 581
Brromango 681
Formosa {Farorlang) 675
Fidschi 680
Finnisch 519
Georgisch 656
Jakutisch 540
Jenisseiiscb (Jenissei-Osljakiscb) . 650
Kassia ,184
Koptisch 510
Magyarisch 515
Haiayisch $71
Mandschu 547
Maori, s. Neuseeländisch.
Nelanesiscbe sprachen 579
Uexicanisch 568
Mongolisch, s. Burjatisch.
Namaqua 586
Neu-Caledooia, s. Duauru.
Neu Heb rid en 58 t
Neuseeländisch 576
Ostjakisch 53i
Salomonsinseln, s. Bauro.
Samojedisch 636
Semitisch 514
Siamesisch sgs
Südafrikanisch 568
Südseesprachen 67t
Taoa 581
Tamuiisch 548
Thusch 551
Tibetisch 584
Tscherokesisch 563
Tschetschenisch S61
Tungusisch 544
Türkisch, s. Jakutisch.
Cdisch 554
Yoruba 51t
Zulu 569
ÜBER
DIE LADE DES KYPSELOS
VON
J. OVERBECK.
WW^^^^VWN*W^%'-
MIT EINER TAFEL.
Abhanill. d. K. S. GetelUch. d. WiMeiuch. X. 40
1.
Litterarische Uebersicht.
Seitdem im Jahre 1770 Heyne als der Erste die Lade des Kypselos
oder vielmehr ihre Beschreibung bei Pausanias einer ausführlicheren
Untersuchung unterworfen hatte ') t ist dieses interessante und kunstge-
schichtlich in hohem Grade wichtige Kunstwerk nie wieder ganz vom
Schauplatze der gelehrten Forschung und Erörterung verschwunden,
vielmehr hat sich eine Anzahl der tüchtigsten und gediegensten Vertreter
der archaeologischen Wissenschaft mehr oder weniger eindringlich mit
demselben beschäftigt, und die Lösung des Problems, wie die zahlreichen
Figuren, mit denen nach Pausanias' Beschreibung die Lade geschmückt
war, anzuordnen oder angeordnet gewesen zu denken seien, in der
einen oder der anderen Weise versucht. Allerdings datirt die nächst der
Heyne'schen älteste Arbeit über die Kypseloslade , diejenige von Seb.
Giampi2) um ganze 44 Jahre später, aus dem Jahre 1814, da aber
1 ) Ueber den Kasten des Cypselus ein altes Kunstwerk zu Olympia mit erhobenen
Figuren, nach dem Pausanias. Eine Vorlesung in der kön. deutschen Gesellschaft zu
Göttingen d. 24. Febr. 4770. Heynes Bezugnahme auf » Andere a nach denen die
3. X^Qa des Pausanias als die Hinterseite zu betrachten wäre, während sie Heyne
selbst als den Deckel fasst , kann sich nur auf die älteren Herausgeber beziehen , von
denen z. B. Sylburg die 3. X<*>Qa aJs arcae tergum erklärt, während Ciavier die fünfte
als le dessus du coffre übersetzt. Winckelmann hat die Kypseloslade nur einige Male
(Versuch e. Allegorie §. 27 u. 41 , G. d. K. 9. 1. 4.) angeführt ohne auf die Ge-
sammtheit der Figuren , mit denen sie verziert war , einzugehn , vielmehr nur Einzel-
nes gelegentlich anführend.
2) Descrizione della cassa di Cipselo tradolla dal Greco di Pausania, Pisa 1814.
40*
592 J. OVBRBECK, [4
Heynes Aufsatz auch mittlerweile nicht unbeachtet geblieben ist, und bei
den spateren Bearbeitern fast immer berücksichtigt wird , so darf man
trotz dieser Pause von einer Gontinuität der Bearbeitung des Problems
der Kypseloslade reden. Ein Jahr nach Ciampis Descrizione erschien
die Bearbeitung der Lade des Kypselos in Quatremere de Quincy: Le
Jupiter Olympien, Par. 1815 S. 124 ff., an welche sich drei Jahre später
die wichtigste unter den älteren Arbeiten, die von Welcker3) anschloss,
zunächst Bericht erstattend über Quatremere de Quincy und diesen be-
richtigend , dann aber, namentlich an der zweiten der genannten Stellen
selbständig und tiefer als Heyne und der Franzose in die Compositions-
principien der Figurengruppen eindringend. Demnächst sind die mehr
vereinzelten Bemerkungen von Sie-belis4) und Thiersch5) anzuführen
sowie die ziemlich oberflächliche Behandlung von H. Meyer6), der im
Wesentlichen nur Heynes Resultate wiedergiebt. Selbständiger fasste
das Problem 0. Müller7), von dem der von Anderen hier und da
wiederholte, mehrfach aber bestrittene Gedanke ausging, die Lade sei
von elliptischer Form gewesen. Ueber die Inschriften sprach sich in
seinem 1 831 von 0. Müller herausgegebenen archaeologischen Nachlass
S. 158 Völkel kurz aber richtig aus. Nächst dem Welcker'schen Auf-
satze gebührt der Ehrenplatz einer Arbeit von 0. Jahn aus dem Jahre
18458), welche von um so grösserer Bedeutung ist, als sie ein von dem
in den bisher genannten Arbeiten ganz abweichendes Herstellungsprincip
freilich nicht zuerst aufstellte , denn dieses Verdienst gebührt Visconti 9)
und nach ihm 0. Müller10), der Visconti nicht erwähnt, also wohl selb-
ständig zu demselben Resultat gelangt zu sein scheint, wohl aber zuerst
Ich kenne diese Arbeit nicht selbst, doch scheint sie nach dem Urteil Welckers,
Zeitschr. f. Gesch. u. Ausl. d. alten Kunst S. 279 ganz unbedeutend zu sein.
3) In der genannten Zeitschrift für Geschichte und Auslegung der alten Kunst
4818 S. 270 ff. u. S. 536 ff.
4) In Böttigers Amalthea 1822 2. S. 257 ff., vgl. dens. zu Pausan. 5. 47. 4.
Bd. 2. S. 246 seiner Ausgabe.
5) Epochen d. bild. Kunst 4 829 S. 4 69 f. Noten.
6) Gesch. d. bild. Künste b. d. Griechen 4824 S. 45 f. mit Note 20, 2. S. 46ff.
7) Wiener Jahrbücher d. Litleratur 4 827, 38. S. 26 4, vgl. desseu Handb. d.
Archaeol. §. 57. 2.
8) Archaeologische Aufsätze S. 3 ff.
9) Museo Pio-Clementino vol. 4. zu tav. 34. p. 65. Note b.
10) Wiener Jahrbb. a. a. 0. S. 264.
5] Über i>ib Lade des Kypselos. 593
durchzuführen bestrebt war, und damit den Reigen der neueren Be-
strebungen für die Restauration der Kypseloslade eröffnet. Demselben
Jahre wie der Jahn'sche Aufsatz gehört ein solcher von Bergk11), der
aber, später als jener geschrieben, auf denselben hauptsächlich Rücksicht
nimmt12), jedoch besonders durch das Bestreben, eine mehr ideelle und
gegenständliche als räumliche und künstlerische Entsprechung unter den
dargestellten Scenen nachzuweisen, eigentümlich ist. Der Erste da-
gegen, welcher auf den räumlichen und künstlerischen Parallelismus in
der Composition der Darstellungen auf der Kypseloslade principiell und
tiefer einging, war Brunn13), dessen Aufsatz zwei Jahre nach dem-
jenigen Bergks (1 847) erschien. Nachdem ferner Jahn in der Archaeolo-
gischen Zeitung v. 1850, Mai, S. 191 f. einige kurze Bemerkungen über
die Chronologie und die Gesammtgestalt der Lade mitgetheilt hatte, er-
hob Ruhl in der Zeitschrift für die Altertumswissenschaft desselben
Jahres Heft 4, Nr. 39 S. 305 ff. eine Opposition gegen die von Jahn zu-
erst begründete, von andereD Archaeologen gebilligte Anordnungsweise,
indem er im Wesentlichen zu der älteren von Heyne und Welcker ver-
tretenen zurückkehrte. Nachdem sodann wiederum zwei Jahre später
Prell er in der Archaeologischen Zeitung v. 1854 S. 292 ff. besonders
über die Chronologie des Kunstwerkes gehandelt hatte, trat 1857 in
seiner Uebersetzung des Pausanias Bd. 1 S. 389 Schubart als Ruhls
philologischer Secundant auf, während ein Jahr später Jahn in den Be-
richten der königl. sächsischen Gesellschaft d. Wissenschaften v. 1858
S. 99 ff. sein Anordnungsprincip gegen Ruhl vertheidigte, worauf Ruhl
in der Archaeologischen Zeitung v. 1860 S. 27 ff. entgegnete und auch
Schubart in den N. Jahrbüchern für Philol. u. Pädag. v. 1861 Heft 5
S. 301 ff. vom rein philologischen Standpunkte aus sein früher kurz ab-
gegebenes Votum näher begründete. Im Vorbeigehen darf ich dann
wohl auch meiner eigenen im Jahre 1 857 publicirten Bemerkungen u)
gedenken, weil auf sie namentlich Mercklin Rücksicht genommen hat,
welcher in der Archaeologischen Zeitung v. 1860 S. 101 ff. besonders
11) Archaeologiscbe Zeitung v. 1845 S. 150 ff.
12) Wie ebenfalls eine ausführliche Anzeige der Jahn'schen AufsStze von Bergk
in der Hall. Allg. Litt. Zeitung v. 1847. Nr. 284 ff.
13) Ueber den Parallel ismus in der Composition altgriechischer Kunstwerke, im
N. Rhein. Museum 5 (1847) S. 321 und S. 335 ff.
14) Geschichte d. g riech. Plastik I. S. 70 f.
594 J. Oveubkck, r»l
die Inschriften der Kypseloslade näher prüfte, und durch deren Anord-
nung die Richtigkeit der von mir gegebenen Anordnung der Scenen in
den einzelnen Feldern zu erhärten suchte.
Seit der Zeit oder seit der Publication von Ruhls Duplik gegen Jahn
und Schubarts reinphilologischer Revision der Frage hat nun die Sache
geruht. Und das ist ziemlich natürlich. Denn es ist in der That von der
einen und von der anderen Seite so ziemlich Alles gesagt, was zu sagen
war ; sämmtliche Archaeologen , welche sich über das Problem ausge-
sprochen haben sind in der Hauptsache einig und durch des Künstlers
(Ruhl) und des Philologen (Schubart) Einwendungen in ihrer Ansicht un-
erschüttert , während es ihnen nicht gelungen ist , auch die Gegner von
deren Richtigkeit zu überzeugen.
Das wird auch wenigstens bei dem Einen derselben, dem Künstler,
durch Worte kaum zu erwirken sein, wie er selbst 15) ausgesprochen hat,
er werde nur durch eine gelungene gezeichnete Lösung des Problems sich
von der Richtigkeit der Ansichten der Archaeologen überzeugen lassen.
Uebereinstimmung über das hier vorliegende Problem in weiteren Kreisen
als denen , in welchen sie bereits herrscht , herzustellen , giebt es soviel
ich sehe nur einen Weg , denjenigen des Versuchs der von Ruhl gefor-
derten graphischen Reconstruction , des so zu sagen thatsächlichen Be-
weises der Möglichkeit und Richtigkeit des einen oder des anderen Prin-
cips der Anordnung der von Pausanias aufgezählten Gruppen und Figuren.
Eine solche graphische Reconstruction der Kypseloslade hat, wie er
selbst mehrmals ausgesprochen, Ruhl gemacht , und es wäre gewiss nur
in hohem Grade wttnschenswerth , dass er sie auch veröffentlicht hätte
oder dass er dies noch jetzt thun möchte. Da dies aber bisher nicht ge-
schehen ist, und so lange bis es geschehen sein wird, bleibt denen,
welche von der Unrichtigkeit der Ruhr sehen Anordnungsprincipien , da-
gegen von der Richtigkeit der zuerst von Jahn durchgeführten überzeugt
sind, wenn sie überhaupt noch Etwas in der Sache thun wollen, Nichts
übrig, als den Versuch zu wagen, ihrerseits den thatsächlichen Beweis
anzutreten. Dass ich dies unternehme hat seinen individuellen Grund
darin, dass sich mir ein hiesiger junger Künstler, welcher sich in meinen
Vorlesungen über griech. Kunstgeschichte von der Richtigkeit meiner
Principien der Restauration überzeugte, freiwillig zu der Anfertigung
15) Zeitschrift für d. Alterth. Wiss. a. a. 0. S. 307.
7] Über die Lade des Kypselos. 595
einer Zeichnung nach eben diesen Principien erbot. Freilich ist derselbe
durch andere Arbeiten verhindert worden , sein Vorhaben auszuführen ;
ich aber, der ich in der Herbeischaffung von Parallelmonumenten und
Unterlagen der Zeichnung eine Menge Vorarbeiten gehabt und bei dieser
Gelegenheit die ganze Frage im Einzelnen nochmals durchgeprüft hatte,
konnte und mochte diese erneute Anregung nicht in Nichts verlaufen
lassen . und habe es deshalb gewagt , mit Hilfe eines anderen Zeichners
die Arbeit zu vollenden. Indem dieser nun in die eigentlichen wissen-
schaftlichen Seiten des Problems nicht eingeweiht war, wie jener, ent-
ging mir freilich der grosse Vortheil eines selbständig künstlerischen Bei-
raths , den ich mehr als ein Mal schmerzlich entbehrt habe , und dessen
Mangel sich auch mir an mehr als einer Stelle der Arbeit fühlbar genug
macht. Mein Zeichner hat mir eine fast nur mechanische Beihilfe ge-
wahren können , und ich war für alles Weitere auf mich allein ange-
wiesen. Ich bin daher vollkommen überzeugt, dass sich die Aufgabe in
höherem Sinne künstlerisch würde lösen lassen ; vielleicht aber hat meine
Lösung eben deswegen den Vorzug einer specifischen archaeologischen
und nebenbei den anderen , die Richtigkeit der Principien der Lösung
um so nachdrücklicher zu erweisen, weil nach denselben ein blosser
Archaeolog unter der nur mechanischen Assistenz eines wissenschaftlich
nicht eingeweihten und interessirten Zeichners, die Restauration auch
graphisch vollenden konnte. Ob dies nun freilich, und wäre es auch nur
der Hauptsache nach, gelungen ist, darüber haben Andere zu entscheiden.
Ich aber habe geglaubt, meine Tafel nicht an und für sich oder nur mit
den nothwendigsten Bemerkungen begleitet herausgeben zu dürfen,
sondern diese Gelegenheit ergreifen zu sollen , um das ganze Problem
der Kypseloslade und alle Fragen, welche sich an dieses Kunstwerk
knüpfen, einer einganglichen Revision zu unterwerfen.
2.
Geschiolite der bisherigen Herstellungsversuche.
Ueber die Ungenauigkeit und Unbestimmtheit der räumlichen An-
gaben und Bezeichnungen des Pausanias bei seinen Beschreibungen
umfang- und figurenreicher Kunstwerke ist schon oft nur zu sehr be-
rechtigte Klage geführt worden, so z. B. mit allem Nachdruck von Wel-
596 J. Ovehbeck, [8
cker in seiner grundlegenden Arbeit über die polygnotischen Gemälde
in der Lesche von Delphi16), deren Reconstruction durch eben jenen
Mangel in Pausanias' Beschreibung so unendlich erschwert, und nur
durch eine freiere, auf Erwägung aller Umstände und Möglichkeiten so
wie der künstlerischen Füglichkeit gestützte Interpretation der Angaben
des Periegeten über die räumliche Vertheilung und Anordnung der Fi-
guren und Gruppen, wie sie eben Welcker, im Ganzen gewiss zu allge-
meiner Ueberzeugung geübt und durchgeführt hat, möglich geworden
ist. Aber kaum bei einem einzigen der von Pausanias beschriebenen
Kunstwerke, die Leschengemälde und den Thron in Amyklae kaum aus-
genommen , ist diese Klage berechtigter , als bei der Lade des Kypselos.
Denn nicht allein, dass Pausanias in seiner, drei Capitel seines fünften
Buches füllenden und in der Hauptsache gewiss als genau und vollstän-
dig anzuerkennenden Beschreibung keinerlei Angabe über die Grösse
der Lade und der dieselbe schmückenden Figurengruppen , wenigstens
keine directe und ausdrückliche macht 17) , wodurch uns viel Rathen und
Streiten erspart worden wäre, schlimmer noch als dies ist es, dass er
sich zur Bezeichnung der figurengeschmückten Stellen an der Lade fast
wie geflissentlich eines Ausdrucks , des Wortes %to$a bedient , den er im
ganzen hier verwendbaren Worlvorrathe der griechischen Sprache kaum
unbestimmter hätte wählen können. Es folgt daraus für uns die Pflicht,
bei der weiteren Behandlung des Problems im Deutschen einen ähnlich
neutralen Ausdruck zur Wiedergabe von x°>qcc zu wählen , als welchen
sich » Feld « schon deswegen am meisten empfiehlt, weil dies Wort, wel-
ches in der That über die Stellen an der Lade, wo die „Felder41 zu
suchen sind, Nichts aussagt, nicht allein von 0. Jahn "*), sondern auch von
Schubart in seiner Uebersetzung des Pausanias gebraucht wird, also von
dem Philologen, welcher gegen die archaeologische Restauration der Lade
Opposition macht. Für die Geschichte der Reconstruction der Kypselos-
lade aber, dass ich mich kurz so ausdrücke, hat die Unbestimmtheit des
von Pausanias gebrauchten Ausdruckes x™Qa die Folge gehabt, dass sich
über die Frage, was unter xtoqa zu verstehen sei, und wo man an der
46) Abhandlungen der berliner Akademie v. Jahre 1848. S. 13 f. des Eiuzel-
abdrucks.
* 17) Möglich, dass dergleichen in dem lückenhaften Anfange stand, wie Schubart
a. a. 0. S. 304. Note t annahm, aber behaupten möchte ictTdas nicht.
4 8) Archaeolog. AuXsfttze a. a. 0.
9] Über die Lade des Kypselos. 597
Lade die fünf x^9al des Periegeten zu suchen habe, zwei einander
entgegenstehende Ansichten ausgebildet haben , auf deren Durchführung
die beiden streitenden Grundprincipien der Anordnung der Figuren
beruhen.
Wenn man von einem Kasten, einer Kiste oder Lade liest, und nur
mit einem dieser drei Worte lassen sich die beiden Ausdrucke , welche
unsere antiken Zeugen "von dem Monumente gebrauchen, Xaqvat bei
Pausanias, xißiorog bei Dio Chrysost. orat. 11. p. 1G3 übersetzen, so
ist es ohne Frage am natürlichsten und am nächsten liegend , dabei an
ein irgendwie gestaltetes, d. h. sei es mehr oblonges, sei es mehr kubi-
sches, und wiederum gradwandiges oder schräg wandiges , aber immer
vierseitiges Geräth zu denken , und wenn man ferner von fünf Feldern
an diesem Geräthe liest, welche mit zahlreichen Figuren in Relief be-
deckt und geschmückt waren., so liegt ebenso wieder am nächsten, dabei
zuerst an die vier Seiten und den Deckel der Kiste oder Lade zu denken.
Das ist denn auch von Heyne bis auf Visconti, Müller und Jahn ge-
schehen, und das geschieht noch heutigen Tages von Schubart und
namentlich von Ruhl, dessen ganze Opposition gegen die Archaeologen
a\if dieser Vorstellung beruht.
Dem gegenüber sind nun zuerst von Visconti, dann von Müller und
nach Jahns weiterem Vorgange von allen Archaeologen, die sich bis jetzt
Über die Kypseloslade haben vernehmen lassen, mehr oder weniger aus-
drücklich die xwqcu des Pausanias als fünf über einander liegende Felder
oder Streifen betrachtet worden, welche die Wandungen des Kastens
oder der Lade umgaben , während der Deckel dabei ganz ausser Frage
bleibt, und als nicht, wenigstens mit keinen der von Pausanias angeführ-
ten Gompositionen, geschmückt betrachtet wird.
Die eine und die andere dieser beiden Grundansichten tritt nun
aber bei den einzelnen Bearbeitern in so mannigfachen Modificationen
auf, dass es sich der Mühe verlohnt , dieselben in diesen Modificationen
zusammenzustellen, wobei zugleich auf die verschiedenen Ansichten
über die Grösse und Gestalt der Lade wie über die Vertheilungsart der
Gompositionen auf deren Flächen oder Feldern berichterstattend einzu-
gehen ist , also auf Fragen , welche demnächst kritisch zu erörtern sein
werden.
Heyne a. a. 0. S. 10 meint, man könne sich von der Gestalt der
Lade keine andere Vorstellung machen , als dass es eine längliche Kiste
598 J. 0 VERBECK, [10
oder Truhe, »etwa wie ein Sarg«, gewesen sein müsse, mit zwei
schmalen , zwei langen Seiten und einer Oberfläche , welche den Deckel
ausmachte, obgleich Pausanias einen solchen nicht ausdrücklich erwähne,
sondern nur von fünf Seiten rede. Auf der Titelvignette seines Aufsatzes
hat Heyne die Lade in der Gestalt, welche er hier angiebt, bemerkens-
werther Weise auf einem ziemlich hohen Untersatze stehend , abbilden
lassen. In Betreff der Grösse sagt er S. 1 1 , es sei kein Grund anzu-
nehmen, dass die Lade von merklicher Grösse gewesen sei, und wenn
man bedenke, dass die Figuren von Gold und Elfenbein waren, so könne
man kaum voraussetzen, dass die Länge über vier Fuss betragen habe.
Für die Breite der schmalen Seiten nimmt er die Hälfte an. Die Bild*
werke auf der Lade denkt sich Heyne S. 1 2 f. auf die fünf Flächen (Wan-
dungen und Deckel) so vertheilt , dass jede einzelne von Pausanias ge-
nannte Gruppe (Scene , » Geschichte « sagt Heyne) ein eigenes Feld ein-
genommen habe. Für die erste Seite berechnet er fünf Felder Schnitz-
werk, für die zweite deren zwölf, desgleichen für die vierte, für die fünfte
wieder fünf wie für die erste. Die dritte enthalte nur eine Vorstellung,
aber eine weitläufige , eine Schlacht. Indem er nun die erste Fläche als
die Schmalseite betrachtet, welche den in den Tempel Tretenden, man
sieht nicht ein warum , » zuerst entgegenstiess « , findet er Nichts natür-
licher als die Annahme die erste und fünfte Seite oder Fläche sei durch
die Schmalseiten der Lade gebildet worden , die zweite und vierte seien
als die Langseiten zu betrachten, während er die dritte Fläche, nicht ohne
das Gezwungene und Willkürliche dieser Annahme gegenüber den
Worten des Pausanias , der die fünfte Fläche als die oberste bezeichnet»
zu fühlen , auf den Deckel des Kastens verlegt. Da er nun den Längs-
seiten , welche 12» Felder « enthalten , 4 Fuss Länge gegeben hat , so
berechnet er für jedes » Feld « vier Zoll Länge. Hieraus geht hervor,
was Heyne nicht ausspricht , und was sich auch aus seiner Zeichnung
nicht klar ersehen lässt, dass er sich die verschiedenen »Felder« neben
einander gereiht, nicht in verschiedenen Streifen übereinander angebracht
gedacht hat. lieber das von ihm angenommene Höhenmaass der Figuren
ist nirgend eine Angabe zu finden und über den Umstand, dass diese
Figurenhöhe bei 4 Zoll Grundlinie jedes » Feldes oder Sujets « nicht mehr
als ein paar Zoll Höhe gehabt haben könne, dass sich folglich das ge-
sammte Schnitzwerk wie ein schmales Reliefband um den Kasten ge-
zogen haben müsste , scheint sich Heyne nicht Rechenschaft gegeben zu
11] Über dir Lade des Kypselos. 599
haben , wie denn sein ganzer Aufsatz in hohem Grade an dem Mangel
einer künstlerischen ja nur räumlichen Anschauung leidet.
Dies Letztere kann man nicht im gleichen Maasse von der Recon-
struction von Quatrem&re de Quincy sagen, dem Einzigen , beiläufig ge-
sagt , von Allen , die sich mit dem Problem beschäftigt haben , welcher
dessen Lösung überaus leicht gefunden und p. 131 ausgesprochen hat:
» rien de plus facile que de suivre en dessin la döscription de Pausanias «.
Seine Anschauung von der Gesammtform der Lade verdankt de Quincy
einem Aufenthalt in Niedersachsen während der ersten französischen
Revolution, er zeichnet sie dieser Anschauung gemäss in der Form jener
grossen Koffer oder Kisten , in denen unsere Knechte und Mägde ihre
Kleider und Wäsche aufbewahren , als einen oblongen Kasten mit flach-
gewölbtem Deckel 19). Die x&QM des Pausanias sind auch ihm die vier Sei-
ten und der Deckel der Lade, jedoch gilt ihm als die erste #co(>a die eine
Langseite (düt 6tre le cot£ antörieur et principal) , für welche Annahme
er » le nombre et l'£tendue des sujets « als Grund angiebt. Die zweite £co(>a
ist ihm die links anliegende Schmalseite, die dritte die hintere Langseite,
die vierte die zweite Schmalseite und die fünfte der Deckel. Als Maasse
nimmt de Quincy p. 131 approximativ 6Fuss Länge zu 4Fuss Breite und
gleicher Höhe an, den Figuren giebt er etwa einen Fuss Höhe. Um die-
selben aber bei diesen Maassen auf die 4 resp. 6 Fuss langen Seiten der
Lade anbringen zu können sieht er sich genöthigt , dieselben in dreien
Streifen übereinander zu ordnen, welche er, übrigens sehr verständig,
durch stehen gelassene Zwischenleisten von einander absondert. Den
unter Bäumen gelagerten Dionysos der vierten x®(?a verlegt er in das
Tympanon des Deckels über der vierten Seite , die Figuren der fünften
XWQa in mehren Streifen auf die Fläche des Deckels selbst (planche 3).
Welcker, dessen Aufsatz durch eine Berichterstattung über das Werk
des Quatremere de Quincy hervorgerufen wurde, stimmt (a. a.O. S. 537)
mit diesem insofern überein, dass auch er als die erste x™Qa die
»vordere« Längenseite, als die zweite die Querseite links, als die dritte
die hintere Längenseite , als die vierte die zweite Querseite betrachtet,
während er ebenfalls (S. 544) den Deckel als die fünfte x™Qa auf-
4 9) Thiersch a. a. 0. S. 4 68 nennt das eine barokke Meinung und betrachtet es
als »ein merkwürdiges Beispiel von Abenteuerlichkeit der Vorstellungen, die durch
kein gründliches Studium altertümlicher Dinge und durch kein unbefangenes Urteil
im Zaume gehalten werden « .
600 J. OvERBKCK, [**
fasst20). Ueber die Grösse und Gesammtgestalt der Lade sagt er (S. 548},
die Nebenseiten dürften kaum mehr als die Hälfte der Längenseiten ge-
habt haben , und danach würde auch die ganze Lade eine Gestalt ge-
wonnen haben, wie ausgesucht um ein Kind hineinzulegen; „nach die-
sem und keinem anderen Maassstabe möchte , wenn einmal vom Unge-
wissen die Rede sein solle, auch die Grösse zu schätzen sein41, die Wel-
cker demnach viel geringer nicht allein als Quatremere de Quincy, son-
dern auch als Heyne annimmt. Was die Anordnung der Figuren auf
diesen Flächen anlangt tritt er (S. 546) de Quincy s Zerstückelung der
in einer #«(>« zusammen genannten in drei übereinander liegende Reihen
oder Streifen mit sehr bestimmten Worten entgegen und fordert für die-
selben eine ununterbrochene Folge. So richtig dies nun auch ist, und so
gute Gründe Welcker dafür (a. a. 0. u. S. 549) entwickelt, wird man
doch nicht umhin können von ihm zu sagen, was von Heyne gesagt
werden musste, dass ihm die rechte räumliche Anschauung abging; denn
ganz gewiss wird Jeder, der es versucht, es als bare Unmöglichkeit
empfinden die Figuren einer x®Qa in fortlaufender Reihe anders als in
einem schmalen Reliefbande auf je einer Seite der Lade anzubringen21);
vollends dies Reliefband in gleicher Breite über die 4 Seiten fortzuführen
und die in der 2. und 4. x*»Qa genannten Figuren auf den Schmalseiten
des Kastens unterzubringen , dies kann durch kein Mittel der Abkürzung
20) Die Worte: »nur geht uq^u^vu) di uvaoxouetöx^at, xdroj&fv nicht auf die
einzelnen Seiten oder Reihen der Figuren (wie b. Quatremere de Quincy), auch nicht,
wie Heyne will auf die schmale Seite, die dem Eintretenden zuerst entgegen gestossen,
sondern auf den Deckel, welcher auch hiernach zu schiiessen zuletzt beschrieben
wirdtt, die wir b. Welcker S. 279 lesen, sind nicht, wie Siebeiis Amalth. a. a. 0.
S. 264 meinte, ein Versehen, sondern nur ein leicht missverständlicber dunkler Aus-
druck und sollen heissen: die Betrachtung beginnt unten, d. h. mit den Seiten des
Kastens, folglich kommt der Deckel zuletzt.
2 1 ) Wenn die von Quatremere de Quincy auf 3 Streifen übereinander angebrach-
ten Figuren in einer und derselben Reihe fortlaufen sollen , so ist nur folgende Alter-
native möglich. Soll die Figurenhöhe dieselbe bleiben, so muss die Breite der Fläche,
auf der sich die Figuren befinden , auf das Dreifache wachsen , soll dagegen die Breite
der Fläche (Seite) des Kastens dieselbe bleiben , so müssen die Figuren entsprechend
verkleinert werden. In meiner Restauration hat die unterste £ft>pa bei 4 Zoll hoben
Figuren eine Länge von pp. 9 Fuss ; Quatremere de Quincy giebt der vordersten Seite
des Kastens 6 Fuss, was bei continuirlicher Ausdehnung der %f*Qa eme Figurenhöhe
von 2% Zoll geben würde, Welcker nimmt bedeutend geringere Dimensionen an,
folglich würden nach seiner Ansicht die Figuren kaum 2 Zoll Hohe gehabt haben.
13] Über die Ladk des Kypselos. 601
und nur andeutenden Darstellung , wovon bei Welcker ziemlich viel die
Rede ist, jemals gelingen. Es ist mathematisch unmöglich. In der Zu-
weisung der %co{jai an die 4 Seiten und den Deckel stimmt Siebeiis a. a.
0. S. 261 vollkommen mit Welcker überein; zuletzt, meint S., kommt
Pausanias zu dem Deckel, und da heisst es denn naiv genug: »davon ge-
braucht er hier den Ausdruck ij ävtorarw %6()ay aber VI. 9. 3 das Wort
tu ini{h][ia.<t So nahe war man der Entdeckung, dass die fünfte, oberste
%wQa nicht der Deckel sein könne! In Betreff der Grösse stimmt S. S.257
mit Quatremere de Quincy gegen Heyne überein , indem er mehre litte-
rarische Beispiele von grossen IdQvaxeg, unter anderen die jüdische
Bundeslade anführt, die dritthalb Ellen Länge und 1l/2 Ellen Breite und
Höhe gehabt habe.
H. Meyer (a. a. 0. Anm. S. 1 6) verlegt ganz wie Heyne die erste und
fünfte £co(>a auf die Schmalseiten, die zweite und vierte auf die Langseiten
und die dritte auf den Deckel, ohne dabei etwas Anderes zu bemerken als
dies: ,,in Hinsicht auf Angabe der Darstellungen an den verschiedenen
Seiten und auf dem Deckel des Kastens haben wir uns einige Freiheit
in der Eintheilung erlaubt, wie sie der kunstgemässen Anordnung des
Ganzen am besten zu entsprechen scheint'. Das ist doch nur ein sehr
dünner Schleier, welcher über die zu Nichts führende Willkür ge-
breitet ist.
Von dieser Zeit an verschwand die Vorstellung, die fünf %(oqou des
Pausanias seien die Seiten und der Deckel der Lade gewesen , aus der
gelehrten Discussion, bis Ruhl 1852 dieselbe wieder erweckte und neu
zu begründen suchte. Freilich geschieht dies in einer Weise , welche
eine genaue Berichterstattung über Ruhls Ansicht aus doppeltem Grunde
sehr erschwert , und die Gefahr des Irrthums nur zu nahe legt. Denn
einmal wendet sich Ruhl speciell gegen Jahns Reconstructionsversuche
und seine Arbeit besteht der Hauptsache nach aus dem Bestreben , eben
diese Reconstructionsversuche als räumlich unmögliche zu erweisen.
Dabei bezieht sich Ruhl auf Jahns Arbeit in den Archaeolog. Aufsätzen,
in welcher der Verf. sämmtliche Bildwerke in den fünf übereinander
liegenden x&qai oder Zonen auf die Vorderfläche der Lade allein ver-
legt hatte. Diese Ansicht hat nun Jahn in seinem späteren Aufsatz (in
den Berichten der k. sächs. Ges. d. Wiss. v. 1 858) selbst dahin modifi-
cirt, dass er auch die anliegenden Neben- oder Schmalseiten der Lade
für das Bildwerk in Anspruch nimmt , und die Figuren jeder #©(>« oder
602 ' J. OVERBECK, ["
Zone auf diese drei Seiten vertheilt. Indem nun hierdurch die Länge der
Vorderseite um den Betrag der Länge beider Nebenseiten an Ausdeh-
nung verliert, können wir die Bemerkungen Ruhls gegen die früher von
Jahn angenommene ungebührliche Ausdehnung der Vorderseite und
gegen die Schmucklosigkeit der Nebenseiten als erledigt betrachten , so
dass wir es nur mit den Bemerkungen zu thun haben, welche Ruhl
gegen Jahns neue Position richtet. Aber auch diese Bemerkungen wer-
den besser an einem anderen Orte , bei der Besprechung der Zonen-
theorie zu berücksichtigen sein , hier kommt es hauptsächlich darauf an,
Ruhls eigene Ansicht hervorzukehren. Das aber ist deswegen nicht
leicht, weil der Verfasser dieselbe nirgend im Zusammenhange entwickelt
oder präcis ausgesprochen hat , indem er vielmehr nur einzelne Andeu-
tungen fallen lässt, und sich fortwährend auf seine Zeichnungen bezieht,
die wir nicht kennen, auch selbst ausspricht, er könne seine Ansicht ohne
Publication dieser Zeichnungen nicht beweisen. Um so erwünschter ist
es unter diesen Umständen, dass wir durch Schubart T1) kurz und positiv
über Ruhls Ansicht unterrichtet werden. Es müsste nämlich Alles täu-
schen , wenn sich die Worte : » leider giebt uns Pausanias keine Andeu-
tung über die Gestalt der Lade, wenn nicht in der Lücke davon die Rede
gewesen ist; wir haben also die Wahl, ob wir einen »Schrank«23) an-
nehmen wollen, an welchem auf Einer Fläche die fünf Felder überein-
ander angebracht waren , oder einen Kasten, an welchem die Darstel-
lungen auf den vier Seiten und dem Deckel vertheilt waren. Für beide
Annahmen lassen sich Gründe aufstellen , »doch scheinen die für
letztere überwiegend zu sein«, es müsste Alles täuschen, wenn
sich diese Worte nicht auf Ruhls gezeichnete Reconstruction bezögen,
deren Publication vorher als ein wahrer Gewinn der Arcbaeologie ge-
priesen wird. Also die vier Seiten und den Deckel hätten wir wieder;
aus den Bemerkungen in der Archaeol. Zeitung v. 1860 S. 30 aber geht
hervor, dass Ruhl die erste %w^a als die vordere Langseite, die dritte als
die Rückseite betrachtet; in einer Note zu S. 290 der Zeitschrift für d.
Alterth. Wissens eh. v. 1 852 findet R. die von Siebeiis angenommenen
2S) Uebersetzung des Pausanias a. a. 0. vgl. N. Jahrbb. a. a. O. S. 308 Note 7.
23) Diesen Ausdruck hat Mercklin a. a. O. S. 106 Note 4 0 gebilligt, Schubart
selbst aber nimmt ihn zurück und weist die Unthunlicbkeit der Annahme einer Schrank-
form der Lade mit guten , aber freilich auf flacher Hand liegenden Gründen nach in
Jahns Jahrbb. a. a. 0. S. 305.
45] Über die Lade des Eypselos. 603
Maasse (6' X 4' und Figurenhöhe zu \') »nicht unwahrscheinlich«, in
der Arcbaeolog. Zeitung a. a. 0. S. 32 aber meint er die Dimension der
Figuren sei nicht unter 5 Zoll herabzusetzen24), was ihm eine Länge der
xmqa von 6' 2" ergiebt. An dieser Stelle aber erfahren wir das Wich-
tigere und in der That Entscheidende, nämlich, dass Ruhl, wie dies
Quatremere de Quincy gethan hatte , die Bildwerke einer und derselben
X<opa in mehre übereinander liegende Felder vertheilt. Denn anders
sind die Worte : »mit Polvdeukes und den Zuschauenden endet in meiner
Zeichnung der unterste Streif« und: »mithin gehört Alles was Pausanias
auf der ersten Seite zahlt, vom Gespanne des Pelops bis zu Phineus und
den Boreaden auf die unterste Zone, die in meiner Zeichnung nur da-
durch abgekürzt ist , weil die Wettkampfe für Pelias und was noch von
Vorstellungen folgt, in die zweite Reihe (oder Streifen) aufgenom-
men sind« nicht zu verstehen, so schwer es auch begreiflich sein mag,
wie man in einem Athem sagen kann , Alles gehöre in die unterste Zone
und diese werde dadurch abgekürzt , dass man die Hälfte in eine zweite
Reihe aufnimmt25). Mindestens zwei Reihen, Streifen oder Zonen über
einander also muss Ruhls gezeichnete Reconstruction haben , und somit
stellt sich sein Reconstructionsprincip mit dem de Quincys in Reihe, und
was von jenem, gilt auch von diesem. Wie aber Ruhl mit 2 Reihen von
Figuren von 5" Höhe und den , auch von ihm verstandiger Weise ange-
nommenen26) Zierleisten zwischen den Reihen die nöthige Höhe der
Lade herausbekommt, das bleibt für die ein Räthsel, welche seine Zeich-
nungen nicht gesehen haben. Ich brauche wohl kaum zu sagen , dass
mir Nichts ferner liegt, als Ruhl mit diesen Bemerkungen zu nahe treten
zu wollen , um so weniger , da er schreibend nicht mit den ihm natür-
lichen Waffen kämpft ; ich weiss vollkommen zu würdigen, wie erwünscht
der Archaeologie die so seltene Betheiligung von Künstlern an der Lösung
24) Vergl. Zeitschr. für d. Alt. Wiss. a. a. 0. S. 309.
15) Auch in der Zeitschr. f. d. A. W. a. a. 0. S. 307 heisst es: »was in die
unterste Reihe (jpopa) gehört, davon kann Nichts abgebrochen oder in die folgende
herübergenommen werden«, so dass man in der That zweifelhaft wird, was dem
gegenüber die Worte » in die zweite Reihe (oder Streifen) aufgenommen sind « be-
deuten sollen. Uebrigens darf hier nicht unbemerkt bleiben, dass R. an dieser Stelle
die %MQai als »Reihen« behandelt (»die unterste Reihe, gui^a«) während er in der
Arch. Ztg. die xmqm consequent durch »Seiton« übersetzt.
26) Ztschr. f. A. W. a.a.O. S. 309 »Zierleisten, welche sicher nicht fehlten«.
604 J. OVRRBECK, [16
ihrer Probleme ist27), allein ich habe die Erfahrung gemacht, wie schwer
es uns Archaeologen ist, uns mit Künstlern durch Worte zu verständigen.
Hier aber liegen nur solche vor und wir haben uns an dieselben zu halten.
Auf die Argumente des letzten Verfechters der Theorie der vier
Seiten und des Deckels , auf diejenigen Schubarts wird besser an einem
späteren Orte eingegangen werden, insofern dieselben wesentlich pole-
misch gegen die verschiedenen Vertreter der Zonen- oder Streifentheorie
gerichtet sind. Positiv vertritt Seh. (a. a. 0. S. 308 Note 7) die »mit
ausgebildetem Kunstsinn und feinem Verständniss der Antike nach vielen
Versuchen hergestellte « Restauration seines Freundes Ruhl , » die , her-
ausgegeben, ein Prachtwerk sein würde«, die er uns aber leider weder
in den angenommenen natürlichen Maassen , noch in Betreff der Anord-
nung der Figuren näher beschreibt. Warum er das unterlässt ist schwer
zu sagen, seine Bestreitung der Streifentheorie hatte dadurch nur an
Nachdruck gewinnen können.
Wenden wir uns zu dieser, so ist, wie am Eingange gesagt worden,
Visconti der Erste, welcher dieselbe, und zwar schon 1 778, 8 Jahre nach
Heyne aufstellte , freilich nur in den kurzen Worten : »La famosa arca di
Cipselo, monumento delle arti primitive, avea i suoi bassirilievi distribuili in
cinque fasce. Paus. ELI. 19. / tradutlori non hanno cio ben compreso«,
aus denen wir nicht entnehmen können, wie V. sich die Vertheilung des
Bildwerks auf die Seiten der Lade dachte.
Auch 0. Müller (Wiener Jahrbb. a. a. 0.) spricht sich nur kurz,
aber bestimmt aus, und zwar zunächst H. Meyer gegenüber, dessen Ver-
fahren auch er als Willkür bezeichnet. Pausanias, behauptet Müller,
rede »ganz deutlich« von fünf Streifen (xioquiq) übereinander, und
seine Beschreibung gebe keinen Anlass , sich den Kasten viereckig vor-
zustellen, vielmehr gehe daraus, dass keine Ecken und Seiten daran er-
wähnt werden , die Wahrscheinlichkeit hervor , dass er von elliptischer
oder ovaler Form gewesen sei.
Diesen letzteren Gedanken bestritt zuerst Thiersch a. a. 0. S. 1 68, der
ihn »ganz müssig« nennt, demnächst 0. Jahn Arch. Aufs. S. 5, Gerhard in
s. Etrusk. Spiegeln I. S. 69, de Witte, Ann. 19. S. 227; in neuerer Zeit
scheint derselbe mit Recht so ziemlich aufgegeben worden zu sein2*).
37) Wie dies auch Jahn anerkennt und hervorhebt, Berichte der k. s. Ges. d.
Wiss. a. a. 0. S. 99.
28) Es wiederholen ihn Hettner in s. Vorschule d. bild. Kunst b. d. Alten 1 848
*•■
*?] Über die Lade des Kvpselos. 605
Folgenreicher war, wie ebenfalls bereits bemerkt, die erste gründ-
liche Durchführung der Streifentheorie bei Jahn in den Archaeol. Aufsätzen
Pausanias, sagt Jahn, fängt seine Beschreibung mit den Worten an (5. 17. 4)
äQJtafiivw de ävaon<m6$a%tou nuxTto&w roadde im rijg XaQvaxog 17 ttqcottj
naqexerai £<»(><*, dann folgt die Erwähnung der zweiten, dritten, vierten
Xwqccj und endlich heisst es (19. 2) 17 de dvwrdrco %d>Qa. Damit könne
nichts Anderes gemeint sein, als dass diese fünf Fei de rüber ein ander be-
findlich waren. Heynes Annahme, dass die vorderste und hinterste Fläche
durch xdr(o&€v und avoardro) bezeichnet seien, sei sprachlich falsch, aber
auch jene Deutung, welche ndroi&ev auf die Vorderseite des Untertheils
und dvcordrco auf den Deckel beziehe , scheine ihm irrig, wenn sie die
übrigen Flächen auf den Seiten des Untertheils des Kastens suche. Denn,
wenn P. fünf Flächen anführe, bei der ersten bemerke, er fange von un-
ten an, und bei der letzten anführe, es sei die oberste, so sei das Natur-
gemässe, dass diese Felder eins über dem andern befindlich waren, wie
dies auch Müller angenommen habe. Für die vierseitige Gestalt des Ka-
stens und die Yertheilung des Bildwerks auf sei es nur die Vorderseite
oder drei Seiten derselben, streitet Jahn (S. 5) mit dem aus dem wechseln-
den rechts und links Herumgehn des Pausanias entnommenen Argumente.
Die Bildwerke geben hiezu keinen Anlass, und blosse Laune sei auch
nicht anzunehmen, das Verfahren aber das natürliche, wenn P. nicht
rund um den Kasten ging, sondern nur an einem Theile desselben vorbei,
wenn also der Kasten nicht ringsherum, sondern nur an der Vorderseite
oder nur an drei Seiten mit Bildwerken verziert und mit der Rückseite
an die Wand gestellt war. Als Analogien werden Sarkophage angezo-
gen , welche theils auf der Vorderseite allein , theils auf drei Seiten mit
Reliefen geschmückt sind. Einen bestimmten Grund, um zu entscheiden,
ob das Eine oder das Andere bei der Kypseloslade der Fall war , giebt
Jahn an, nicht aufzufinden; das Wort neyiodoe, dessen Pausanias sich
bediene, könne man nicht geltend machen, da dasselbe nicht ein Rund-
herumgehn, sondern wie neQirjyelo&ai und ähnliche Wörter eine genaue,
schrittweise Beschreibung des Einzelnen bezeichne. In einer dann fol-
genden Prüfung des Einzelnen der Beschreibung des Pausanias, der
höchst dankenswerthe Nachweisungen von Parallelbildwerken in den
S. 4 34, Weiske, Prometheus u. sein Mytbenkreis S. 408. und noch Guhl und Koner,
das Leben der Griechen u. Römer nach ant. Bildwerken dargestellt 4 860, 4. S. 4 45.
Abhtndl. d. K. 8. GeMlUch. d. Wiiienich. X. 44
606 J. OvEHBECK, [18
Noten beigefügt sind, sucht Jahn darzuthun, dass die verschiedene Figu-
renzahl der einzelnen xcopai, die Hauptstütze der Theorie der zwei langen
und zwei kurzen Seiten des Kastens, durchaus der Vertheilung in fünf Strei-
fen nicht entgegenstehe, indem die figurenreicheren Darstellungen sich
als zusammengezogen, die weniger figurenreichen dagegen als weiter
ausgeführt vollkommen denken lassen. Die in der That schlagende Ana-
logie der Frangoisvase konnte Jahn damals noch nicht benutzen, hat dies
aber mit desto grösserem Nachdruck in seinem späteren Aufsatz (4 858)
gethan , worauf zurückzukommen sein wird. Vollkommene Zustimmung
fand Jahn bei Bergk in der schon angeführten Recension der Archaeolog.
Aufsätze in der hallischen Allg. Litteraturzeitung v. 1 847. No. 284 ff.
Ruhl dagegen meinte (Zeitschr. fr. d. Alt. Wiss. 1 852. S. 307) die Ver-
schiedenheit der Figurenzahl (er berechnet 42 für die 1 ., 32 für die 2.,
36 [conjectural] für die 3., 36 für die 4. und i 9 für die 5. #©>(>«,) sei zu gross,
um die Reliefe auf fünf gleich lange Streifen angebracht zu denken ; solche
Ungleichheit verliere sich bei einer kritischen [philologischen] Beweis-
führung zwischen den Zeilen und entschlüpfe hier leicht der Aufmerk-
samkeit des Lesers, solle aber die Sache gezeichnet werden, so entstün-
den bedeutende Schwierigkeiten, und dieser Widerspruch gegen das
Gesetz der Compositum gebe einen positiven Beweis gegen die von Jahn
vorgeschlagene Anordnung der Bilder29). Nicht eher werde er eine an-
dere Ueberzeugung erlangen , als bis ihm die Anschauung einer wohl-
gelungenen Verwirklichung dieser dem Bette des Prokrustes gleichenden
Aufgabe zu Theil werde. — So manche richtige Bemerkung nun das
Folgende auch z. B. in Betreff der Bedingtheit der Höhe der Figuren
durch die Breitenausdehnung, und umgekehrt, enthalt, können wir doch
hier über die weiteren Bemerkungen Ruhls hinweggehn , weil sie , wie
schon bemerkt, sich gegen die Annahme einer ausschliesslichen Oma-
mentirung der Vorderseite richten , die neuestens von Jahn aufgegeben
ist. Naiv klingt für uns, die wir R's Zeichnungen nicht kennen, die Be-
merkung, er lege bei der Berechnung der Longe, die nach der Streifen-
theorie die Larnax gehabt haben würde» »das Bestehende«, nämlich das
Maass seiner Zeichnungen zum Grunde; dass er danach ein Monstrum
29) Der nun folgende angeblich analoge Fall der Aufgabe, fünf ganz verschieden
lange Verse bei gleicher Buchstabendistanz auf fünf gleich lange Zeilen zu schreiben,
der uns Buchstabenmenschen die Sache klar machen soll , ist so unglücklich ausge-
dacht, dass man am besten davon schweigt.
* 9] Über die Lade des K ypselos. 607
von einer Larnax von 1 3' 7" respective 1 8' 7" Länge bei 2* 6" Höhe
herausbringt, kann natürlich Niemanden anfechten.
Gehn wir deswegen ohne Weiteres auf die neuere Phase der Dis-
cussion zwischen Jahn und Ruhl über. In seiner erneuten Behandlung
des Problems (Berichte d. k. s. Ges. d. Wiss. 1858. S. 99—107) hebt
Jahn , wie schon bemerkt , zunächst die Wahrscheinlichkeit hervor , dass
die Figuren com positionen auf drei Seiten der Lade vertheilt gewesen seien,
weist für die Form und Grösse der Larnax auf mehre Vasenbilder hin,
welche Danae, Thoas, Tennes und Hemithea in Kasten stehend oder
sitzend zeigen, und welche in den mythologischen Berichten als Xagraxtg
bezeichnet werden, und verweist, was die Hauptsache ist, gegenüber
der Behauptung Ruhls, dass sich die 42, 32, 36, 36 und 19 Figuren der
fünf %toQui nicht in gleich lange Streifen einordnen lassen, auf die Analo-
gie der Fran$oisvase 30). Auch die Fran^oisvase hat 5 Streifen von we-
sentlich gleicher Länge und in diesen Figurencompositionen, bei denen
die Verschiedenheit der Anzahl derjenigen auf der Kypseloslade so ziem-
lich gleich komme, nämlich in der obersten Reihe 54 Figuren, in der
2. 23 F., in der 3. 48 F., in der 4. 30 F., in der 5. (Pygmaeen und Kra-
niche am Fusse) 32 Figuren. Hieraus ergebe sich, wie misslich das blosse
Abzählen von Figuren sei, besonders wenn Ansprüche an Anordnung
und Darstellung hinzukommen, welche überhaupt den Werken der alte»
sten Kunst gegenüber nicht zulässig seien. Das Räthsel löse sich einfach
durch das naive Verfahren des alten Künstlers, hier auszudehnen , dort
zusammenzuziehen, was dann im Einzelnen an der kalydonischen Eber-
jagd und dem theseüfschen Reihentanz nebst dem Schiffe an der Fran^ois-
vase , weiter an den verschiedenen , bald gedehnten , bald abbrevirten
Kentaurendarstellungen auf alten Vasen, endlich an einer der ausgeführ-
testen Scenen auf der Kypseloslade, dem Abschiede des Amphiaraos und
ihrer Parallele in dem alten Vasenbilde bei Micali Storia delP Italia avanti
il dominio dei Romani tav. 95 (s. m. Gall. heroischer Bildwerke Taf. 3.
No. 5) nachgewiesen wird. Schliesslich wird auf die Art aufmerksam
gemacht , wie die Accessorien , die Ruhl eine vermehrte Schwierigkeit
zu machen schienen (Amphiaraos* Haus, der Tempel bei Idas und Mar-
pessa u. a.), auf eben der Frangoisvase, obgleich sorgfältig im Einzelnen
durchgeführt, wenig Raum einnehmend gebildet sind, wie namentlich die
30) Moo. d. Inst. 4. 64—58, Arcbaeol. Zeitung v. 4 850 (8) Taf. 23, 24.
41 •
608 J. OVERBECK, [20
Höbe des Streifens durch diese Dinge so wenig alterirt wird, wie durch
die in der Wirklichkeit sehr verschiedene Höhe sitzender, stehender,
reitender und auf Wagen fahrender Personen. Diese Gleichmässigkeit
(Isokephalie , welche sich übrigens in den Friesen der besten Zeit, am
Parthenon, am Tempel der Nike und in Phigalia wiederfindet) wird rich-
tig aus dem überwiegend ornamentalen Charakter der Bildwerke abge-
leitet, für welche, wiederum mit Recht, eine Höhe von 5" als völlig hin-
reichend angesprochen wird, indem die Wirkung der Bildnerei doch
gewiss darauf berechnet gewesen sei, dass der, welcher sich mit dem
allgemeinen ornamentalen Charakter des Ganzen nicht beruhigte, auf-
merksam das Einzelne in der Nähe betrachten sollte.
Ruhls Duplik in der Archaeolog. Zeitung von 1 860 S. 27 ff. behan-
delt zunächst die Form und Grösse der Lade, sodann die Anordnung der
Bildwerke. Was den ersteren Punkt anlangt, wird die Aufstellung mit der
einen Langseite an der Wand, wodurch die Verzierung mit Schnitzwerk
sich, was wenigstens den Körper der Lade anlangt, auf drei Seiten redu-
ciren muss, als die für ein Hausgeräth unzweifelhaft entsprechendste an-
erkannt. Allein R. ist im Zweifel, ob die von Pausanias gesehene und
beschriebene Lade die echte d. h. das Erbstück der Labda war, in dem
Kypselos gerettet worden sein soll, oder ein diese repräsentirendes Weih-
geschenk des Kypselos, und ob sie deswegen im Tempel zu Olympia
ebenso wie die alte Lade im Hause der Labda aufgestellt gedacht wer-
den könne. Ruhl gesteht, dass man über diese Frage, auf welche wir
zurückkommen werden, nicht entscheiden könne, neigt aber doch zu der
zweiten Annahme und leitet aus derselben die weitere Vermuthung ab,
die Lade sei bei ihrer veränderten Aufstellung im Tempel nachträglich
auch an der Hinterseite verziert worden, und zwar mit der Schlacht
(#«pa.3), die ihm unter den übrigen Bildwerken fremdartig scheint. Für
die Form und Grösse der Xd$va£ acceptirt R. das von Jahn gegebene
Beispiel derDanaelarnax31), deren Dimensionen er nach dem Maasse des
daneben stehenden Mannes (Akrisios) zu Sf 8y2" Höhe auf 4' 4" Länge
berechnet. Das gebe eine Deckelfläche von 24 DFuss 12 DZoll, d. h. eine
Dimension, die ihm, besonders wenn man den meist beengten Raum des
griechischen Wohnhauses bedenke, wenig wahrscheinlich vorkommt32).
34) Berliner Winkelmannsprogramm von 4 854 (von Gerhard).
32) Seltsam ist hierbei, dass die von Ruhl (s. oben S. 4 5) adoptirten Maasse, die
Siebeiis verschlug, 6X4' genau ebenfalls S4 oFuss Deckelfläche abgeben.
24] Ubeb die Ladr des Etpselos. 609
Reducire man aber auch das Maass auf das Wahrscheinliche, so bliebe
immer nicht annehmbar, dass ein sinnvoller Künstler die grosse und am
meisten sichtbare Deckelfläche ohne nennenswerthe Verzierung gelassen
habe, um alles Figurenornament auf die namentlich in ihren unteren
Theilen schwerer sichtbaren Seitenflächen zu häufen. Was sodann die An-
ordnung der Figuren betrifft, meint Ruh], Pausanias lasse freilich in
Zweifel , wo er seine Beschreibung beginne , doch sei aus der Zählung
der Vorstellungen der ersten »Seite« (d. h. xtoga) deutlich, dass P. die
Vorderseite meint. Wenn Jahn nun annehme, dass das Bildwerk auf drei
Seiten vertheilt gewesen, so lasse sich leicht nachweisen , dass die Rei-
henfolge der Scenen dieser Eintheilung nicht entspreche. Hier könne er
das freilich nicht (ohne Zeichnung), er wolle aber darauf hinweisen, dass
Pausanias hervorhebe, es seien 5 »Seiten«. Wo man diese fünfte »Seite«
suchen, ob etwa annehmen wolle, die letztbeschriebene »Seite« habe
eine »Zone« mehr gehabt, als die andern? Da dies ein Unsinn ist, muss
gleich hier bemerkt werden, dass Ruh! die von Jahn u. A. angenommene
Anordnung wenigstens an dieser Stelle gar nicht aufgefasst hat, und dass
er hier mit seinen Worten höchst inconsequent verfährt, indem er x®Qa
bald mit »Seite«, bald mit »Zone« (»eine Zone mehr«) übersetzt. Nach
der »Streifentheorie« sind die xtogai des Pausanias überhaupt nie die »Sei-
ten« der Kiste, sondern fünf gleichartige, um drei Seiten des Kastens über
einander herumlaufende Zonen. Da Ruhl dies an anderen Stellen seines
Aufsatzes gefasst zu haben scheint, hätte er die oben erwähnte, Alles
verwirrende Frage sich ersparen, und überhaupt nicht von »Seiten« (für
X&Qai) sprechen sollen, ohne dabei festzuhalten, dass diese Seiten seiner,
nicht unserer Theorie entsprechen. Und doch geschieht das mehrfach,
sogleich im unmittelbaren Verfolg , wo behauptet wird , dass , wenn die
Lade mit einer Seite an der Tempelwand gestanden hätte, Pausanias bei
seiner Beschreibung nicht von einem Herumgehn sprechen konnte; ihm,
Ruhl, sei eine solche Aufstellung wegen der Gebilde, mit denen die dritte
»Seite« (d. h. x®(>a) verziert war, nicht wahrscheinlich. Hierbei hat er
vergessen, dass uns die 3. xtyct nicht die hintere »Seite« ist, und dass
man um einen Gegenstand an drei Seiten herumgehn kann, ohne rings um
ihn herumzugehn, ja dass eben darauf auch unsere, von Jahn zuerst
ausgesprochene , Rechtfertigung für das abwechselnde rechts und links
»herumgehn« des Pausanias beruht, eines Umstandes, den R. überhaupt
nicht erwähnt. Anlangend nun die von Jahn aufgestellte Analogie der
610 J. 0 VERBECK, [M
Frangoisvase stösst sich Ruhl zunächst an dem Stil, den er, augenschein-
lich raissverständücb , wie das schon Gerhard in einer Note angedeutet
hat, und eben so gewiss irrig, für »geflissentlich roh« hält. Ueberhaupt
sei in solchen Producten manufacturartiger Praxis kein Vorbild für Kunst-
arbeiten zu suchen, am wenigsten solcher, die einer ganz anderen Tech-
nik angehören. Dies Letztere wendet R. dann in weiterer Ausführung
gegen die Bemerkungen Jahns , die Frangoisvase zeige , wie eine solche
naive Kunst nach Bedarf zusammenzurücken und auszudehnen und ver-
schiedene Figurenzahlen auf denselben Raum in der Länge zu bringen
verstehe. Das sei wohl Air den Maler, nicht aber für den Toreuten mög-
lich, da jener Näheres und Ferneres auf ebener Fläche darstelle, im Re-
lief aber jeder Figur ein gewisses Maass von Erhabenheit zukomme. Wolle
ein Bildhauer sich vornehmen, fünf Läufer in perspectivischer Ansicht
darzustellen, so würde er nothwendig jede dem Vordergrunde sich nä-
hernde Figur im Vergleich zu der ferneren aus dem Grunde mehr her-
vortreten lassen müssen. Dadurch erhielte die erste nun eine Körperlich-
keit, welche das durchzuführende Prinzip des Basreliefe an dieser Stelle
aufheben und den Künstler nöthigen würde, seine Gestalten bis zum
Hochrelief zu steigern. — Auf diesen Einwand wird weiterhin näher ein-
zugehen sein mit specieller Rücksichtnahme auf die Ky pseloslade , hier
kann ich nicht umhin gegenüber den ganz allgemeinen Behauptungen
von Ruhl über das was im Relief möglich und nicht möglich sein soll,
mein Erstaunen auszusprechen, dass der eifrige Mann z. B. den Par-
thenonfries und die Art ganz vergessen konnte, wie in diesem die Auf-
gabe, die bis zu zwölf Figuren perspectivisch vertieften Glieder der Rei-
terei in Relief, Flachrelief darzustellen, gelöst ist.
Schliesslich glaube ich noch erwähnen zu müssen, dass Ruhl ange-
sichts der Frangoisvase zuerst auf die einfachste aller Aushilfen zur Aus-
gleichung der Differenz in der Figurenzahl bei gleicher Länge der Stand-
linie aufmerksam gemacht hat, auf die ungleiche Höhe der Streifen näm-
lich, deren auf der Frangoisvase der zweite um ein Vierttheil schmäler
sei als der erste. Allein, fügt er hinzu, für die Ky pseloslade sei auf dies
Auskunftsmittel von Haus aus zu verzichten, denn die Tektonik der Lade
fordere fünf gleich breite um drei Seiten umlaufende — Streifen denkt man,
ei bewahre , sondern für alle »vier Seiten« eine Gleichheit der Einthei-
lung, und diese nothwendige Symmetrie (gleich hober Seiten des Ka-
stens) lasse sich nicht nach Bedürfhiss der vorkommenden Darstellungen
23] Über die Lade des Kypselos. 61 1
in der Weise , wie es die Ergotimosvase zeigt , abändern , wo von den
umlaufenden Streifen der eine Figuren von grösserer, der andere von
kleinerer Dimension enthalten könne. — Da wir nach der Streifentheorie
die %&qai nicht als »Seiten« fassen, die natürlich gleich hoch sein müs-
sen, sondern als um drei Seiten »umlaufende Streifen«, so müsste uns die
Einsicht in die Gründe, warum diese »umlaufenden Streifen« auf der
Kypseloslade nicht von ungleicher Breite sein konnten, wie sie es an der
Frangoisvase sind, höchlich interessiren. Vielleicht hat Ruhl solche Gründe
in petto, ausgesprochen hat er sie nicht, vielmehr hier wiederum seine
»Seiten« mit unseren »Streifen« zusammengewirrt. So sind wir denn in
diesem Punkte abermals auf uns selbst angewiesen.
So weit ist nun also bis heute die Discussion zwischen der »Strei-
fentheorie«, wie sie die Gegner nennen, und der »Seiten- und Deckel-
theorie«, wie ich wohl zum Entgelt sagen darf, gediehen; auf die Argu-
mente für die Streifentheorie, welche aus der Composition der Bildwerke
sich ergeben und die Einwendungen der Gegner ist erst weiterhin ein-
zugehn. Hier sei zunächst der Versuch gemacht durch wahrscheinliche
Feststellung der Gestalt und Grösse der XaQvai festen Boden unter die
Füsse zu bekommen.
3.
Gestalt und Grösse der Lade.
Pausanias gebraucht von der Kypseloslade wiederholt das Wort
XaQvai und Dio Chrysostomus (XI. 163) nennt sie Kißcorog. Ueber die
Bedeutung beider Ausdrücke kann, wie schon bemerkt, im Allgemeinen
kein Zweifel sein, am wenigsten nach den Erörterungen von Jahn33)
und Schubart34). Die Worte Xdgva^ und xißcorog wie neben ihnen die
epischen ;pfAöc und (pco^m/uog bezeichnen Kisten, Kasten, Truhen oder
Laden aller Art, bestimmt zu verschiedenem Gebrauche und demgemäss
auch von verschiedener Grösse, immer aber von viereckiger Gestalt35).
33) Arcbaeolog. Zeitung v. 4850S. * 92, Berichte der k. s. Ges. d.Wiss. a.a.O.
S. 4 00.
34) Jahns Jahrbb. a. a. 0. S. 305 f.
35) Dies kann nur für xtßanog ganz im Allgemeinen dadurch zweifelhaft werden,
dass Pausanias 4 0. 28. 3 angiebt, in dem Gemälde des Polygnot in Delphi habe die
612 J. 0 VERBECK, [24
So finden wir sie häufig in Vasengemälden dargestellt, bald klein, trag-
bar, ja auf einer Hand getragen als Behälter für Schmucksachen, Speze-
reien , Salbflaschen , bald grösser , so dass man sie als wesentlich zum
Feststehen bestimmt betrachten muss, und sie als Sitze benutzt findet,
endlich anwachsend zu solcher Ausdehnung, dass eine, ja dass zwei er-
wachsene Personen darin geborgen oder hineingesperrt werden können.
Die folgende kleine Auswahl , welche ich auch in Rücksicht auf die Art
der Ornamentirung zusammengestellt habe , wird genügen um die An-
schauung zu vermitteln.
1) Bei Guhl und Koner, das Leben der Griechen Fig. 194b; 2) da-
selbst f ; 3) Millingen, Anc. uned. Monum. I. pl. 35 ; 4) Meine Gallerie he-
roischer Bildwerke Taf. 12. No. 9; 5) daselbst Taf. 13. No. 1; 6) da-
selbst Taf. 2. No. 11; 7) daselbst Taf. 12. No 8; 8) Guhl und Koner
a. a. 0. a; 9) Thoaslarnax, Ann. d. Inst. 1847. tav. d'agg. M; 10)Da-
naelarnax, berliner Winkelmannsprogramm von 1854; 11) Danaelarnax,
Ann. e Mon. d. Inst. 1 856. tav. 8; 1 2) Tenneslarnax, Mus. Borbon. vol. 2.
tav. 30.
In Betreff der Gestalt dieser Kisten und Kasten ist zu bemerken,
dass sie sich in sofern ändert, als bei einigen Beispielen die Seitenwan-
dungen schräge gestellt sind , so dass sich die Truhen nach oben erwei-
tern , allerdings in verschiedenem Maasse (No. 9 — 1 2) , während bei an-
deren die Wandungen lothrecht aufsteigen (No. 1 — 8); auch sind einige
Exemplare mehr oblong (No. 5. 11. 12), andere dagegen von ganz oder
nahezu quadratischer Grundfläche (No. 1 — 4, 6 — 10, 12), kein einziges
aber ist so lang gestreckt, dass dadurch Heynes Vergleich »wie ein Sarg«
oder Schubarts Aeusserung (a. a. 0. S. 305) die Kypseloslade habe etwa
die Form eines Sarkophags gehabt, gerechtfertigt und eine so bedeu-
tende Differenz in der Erstreckung der Längen- und der Nebenseiten be-
gründet würde, wie sie bei dem modernen Sarge und dem antiken Sar-
kophage stattfand. Alle diese Kasten und Laden haben einen flachen Deckel,
der sich in Scharnieren bewegt und aufklappen lässt, und der in mehren
Beispielen halb oder ganz offen dargestellt ist. Dass diese Beispiele unsere
Kleoboia auf den Knieen xißcorov, onolag noisTaftai vo/ii£ovoi Jr\\iT[tqi gehabt, insofern
die mystische Kiste der Demeter von runder oder ovaler Gestalt zu sein pflegt. Für die
von Pausanias als laqva% bezeichnete xißmzog des Kypselos aber bleibt dabei Alles
beim Alten.
25] Ober die Lade des Kypselos. 613
Phantasie bei der Vorstellung der Kypseloslade zu leiten und zu bestim-
men haben, wird Niemand bestreiten, und ebenso wird den Meisten wohl
ohne weitere Auseinandersetzung einleuchten, dass die Gewinnung eines
bestimmten Bildes von der Gesammtgestalt der Lade für die Anordnung
der Bildwerke an derselben von Bedeutung, ja von ziemlich weit rei-
chender Bedeutung sei. Allerdings giebt es kein Mittel, zu entscheiden,
ob die Kypseloslade lothrecht aufsteigende oder schräge Wandungen ge-
habt habe, es ist das aber auch von untergeordneter Wichtigkeit, da die
Neigung der Seiten bei keinem der vorliegenden Beispiele so bedeutend
ist, dass eine für eine gradwandige Kiste gemachte und als möglich er-
wiesene Anordnung der Bildwerke hinfällig würde, wenn sich erweisen
liesse, die Lade des Kypselos habe, wie etwa die des Thoas (Nr. 9) oder
die der Danae (Nr. ! 0), schräge Wandungen gehabt.
Von ungleich grösserer, ja von in der That sehr grosser Bedeutung
ist dagegen die Frage nach der muthmasslichen Grösse der Lade, und
hier ist leider von vorn herein und unumwunden einzugestehn, dass wir
zu einer festen Entscheidung zu gelangen die Mittel nicht besitzen, wie
denn auch alle bisher aufgestellten Maassannahmen durchaus nur conjec-
tural, respective willkürlich sind. Nur das Eine glaube ich sagen zu dür-
fen, dass kein Grund vorliegt, der Lade eine so bedeutende Grösse zu
geben, wie gewöhnlich angenommen wird, d. h. 6'x4' wie Siebeiis und
Ruhl wollten, oder »so gross, dass nicht blos ein, sondern zwei erwach-
sene Menschen in derselben Raum finden« wie Jahn, Berichte u. s. w.
a. a. 0. S. 100 sagt, wenn sich diese Worte in der That auf die Kypse-
loslade beziehen sollen, was nicht ganz klar ist. Der Umstand, dass die
Larnax ein Erbstück der Labda war, die nach Paus. 5. 1 8. 7 ein ttqö-
yovog des Kypselos hatte machen lassen, gestattet keinerlei Schluss auf
die Grösse, da ein so prachtvoll und kostbar, mit Gold und Elfenbein
verziertes Geräth auch bei geringer Grösse ein bedeutendes und wer-
thes Erbstück abgiebt ; zu welchem Gebrauche die Lade im Gemache,
dem ehelichen Thalamos der Labda stand, was man als wahrscheinlich
wird annehmen dürfen, ob sie in derselben ihre prächtigeren Gewänder
bewahrte, wie Od. 15. 104 Helena die ihrigen in ihren (pwpta/uoiotv, oder
auch noch andere Dinge, Geschmeide, Geschirre u. dgl. wie das. 8. 424,
438 Arete %r{kbv aqmqbnia und TieQixcdXea mit den goldenen Geschenken
der Phaeaken und ausserdem mit cpäyog und %itv>v anfüllt, oder wie 11.
16. 121 Thetis dem Achilleus eine ähnliche g^Aoc xaXtj dcudaXtrj mitge-
614 J. OVEBBECK, [26
geben hat, iv nhqoaaa %iwhviav %kaw<xwv re ovkmv re raTtfjrwp, in der
er ausserdem seinen kostbaren Becher aufbewahrte, darüber erfahren
wir Nichts. War aber die Kypseloslade auch eine Kleidertruhe, in der
neben den Gewändern andere Habe bewahrt wurde, was immerhin als
das Wahrscheinlichste wird gelten dürfen, so ist doch damit noch keines-
wegs über eine bedeutende Grösse ausgesagt, sofern Arete in der Odyssee
die mit den Phaeakengeschenken und den ihrigen angefüllte Lade eigen-
händig igecptQtv öcdd/uoio. Endlich zwingt uns auch der Umstand, dass
Labda den Kypselos als Kind in dieser Lade barg und vor den verfol-
genden Bakchiaden versteckte, durchaus nicht, dem Geräth die Grösse
zu geben, welche angenommen wurde; ja man könnte sich angesichts
der Worte des Herodot 5. 92. 4, q>egovaa xaraxQVTrrei ig tö äqyaaro-
rarov oi itpaivero elvcu, ig xvy&tjP geneigt fühlen, sich das Geräth
nicht eben all zu gross zu denken, denn je kleiner es war, desto weni-
ger wahrscheinlich musste es sein, dass Labda ihr Kind hinein verbor-
gen habe 36), je grösser es war, desto leichter musste die List entdeckt
werden. Aber auch solche Erwägungen führen zu nichts Positivem, und
nur diejenige einiger nebensächlicher Erwähnungen im Berichte des
Pausanias können uns zu einem einigermassen angenäherten Resultate
bringen, obgleich auch nicht weiter als dahin. Schubart hat die hier zur
Berechnung zu ziehenden Umständeta. a. 0. S. 309 f. sorgfältig zusam-
mengestellt; ich glaube, mich ihm im Wesentlichen anschliessen zu kön-
nen, und thue dies um so lieber, da Schubart auf der Gegenseite kämpft,
und ganz andere Consequenzen zieht, als die ich billigen kann. Schu-
bart also stellt folgende Gesichtspunkte auf, die ich mit einigen Bemer-
kungen begleiten muss. 1) »Die Lade war .... ein Möbel mit zwei
Lang-, zwei Schmalseiten und einem [flachen] Deckel«; einverstanden, nur
dass man den Unterschied der Lang- und der Schmalseiten nicht zu gross
setze (s.oben S. 24). 2) »Da die Bestimmung derselben [wenigstens wahr-
36) Scbubart bemerkt, a. a. 0. S. 306 : „ob sich das Kind durch Schreien verrieth,
ob es in dem geschlossenen Rasten erstickte, das macht der Sage keine Sorge"; das
Letztere ist vollkommen richtig , und auch uns braucht diese Sorge nicht zu veran-
lassen, den Kasten zu vergrössern ; was das Erstere , das Schreien anlangt, bat Win-
kelmann, Versuch einer Allegorie §290 aus einer allerdings nicht fertigen Erzählung bei
Plutarch, Gonviv. VII Sap. t. 7. p. 573 — 574 (Reiske) auf eine Mitwirkung des Posei-
don (Apollon) zur Rettung des Kypselos geschlossen , indem der Gott die Frösche so
laut habe schreien lassen, dass sie das etwaige Schreien des Kindes übertönten. Was
daran richtig oder falsch sei, kann uns hier freilich nicht berühren.
27] Ober die Lade des Kypselos, 615
scheinlich] war, Kleider oder sonstige (?) Gerätschaften aufzunehmen, so
raussten die Grössenverhältnisse nothwendig der Art sein, dass sie dem
angegebenen Zweck entsprachen, keinesfalls aber denselben unmöglich
machen durften. Stand also die Lade ohne allen Untersatz [warum die-
ses?37)] und ohne die bei einem solchen Prachtstücke so wahrschein-
lichen Zierfüsse [wiederum frage ich : warum dies ? die Fasse, die auch
ich annehme und die schwerlich fehlten, sind nach Maassgabe der Danae-
und Tenneslarnax oben S. 24 nur etliche Zolle hoch zu denken, fallen hier
also schwerlich sehr in's Gewicht] auf dem Erdboden, so durfte deren In-
neres nicht tiefer sein, als dass man mit Bequemlichkeit die aufbewahr-
ten Gegenstände vom Grunde aufheben konnte«; vollkommen einverstan-
den ! »Die Höhe der Seitenwände .... durfte also, reichlich angenom-
men (?) 2V2, höchstens 3 Fuss nicht überschreiten«. Für die Höhe von
2V2 Fuss sehe ich kein Motiv, mehr als 3 Fuss nehme auch ich nicht an ;
meine Reconstruction giebt aber auch nicht mehr, im Gegentheil noch ein
kleines Bisschen weniger. Wenn wir aber 3 Fuss praeter propter als die
wahrscheinliche Höhe annehmen dürfen, so giebt uns das nach Maassgabe
der Thoas-, Danaö- und Tenneslarnax wenigstens einigen Anhalt zur
Berechnung der Länge und Breite.
Es verhält sich die Höhe zur unteren und oberen Breite
bei der Thoaslarnax wie 2 Vi: 3y4: 4y4;
bei der Tenneslarnax wie \x/%\ 2 Vi: 26/8;
bei der DanaSlarnax endlich wie 1 3A : 28/i : 3 ;
das heisst, wenn wir jedesmal die Höhe als 3' annehmen, so ist die
Thoaslarnax unten 4y3 Fuss, oben 52/s Fuss breit, die Tenneslarnax un-
ten 5 Fuss oben 5l/4 Fuss breit, die Danaelarnax endlich unten 45/7Fuss,
oben 5V7 Fuss breit38). Nehmen wir hieraus das Mittel ftlr die Kypse-
37) Ruhl stellt (Arcbaeol. Zeitg. 4 860, S. 29, wie das ähnlich schon Heyne getban
hatte (s. oben S. 10) der bequemeren Betrachtung wegen den Kasten in Olympia auf
einen Untersatz von zwei Stufen ; ohne Zweifel richtig, aber warum er im Hause der
Labda als Prachtstück nicht ebenso gestanden haben sollte , vermag ich nicht einzu-
sehen ; auch da mochten die Stufen, wenn man sie nicht erstieg, die Betrachtung der
unteren Theile erleichtern, die man sich schwerlich versagt haben wird, so lange das
Stück im Besitze der Familie war , und andererseits mochten diese Stufen beim Ge-
brauche der Truhe, wenn man ihren Deckel zu öffnen hatte, bestiegen werden.
38) Ruhl berechnet in der Archaeol. Zeitung von 1860 S, 29 die Dimensionen
der Dana<*larnax zu 2' 8%" Höhe und 4' 4" Breite.
616 J. Ovehbeck, [28
loslade unter der Annahme, sie sei gradwandig gewesen, so wird sich
für die Breite ihrer Langseite 42/* — höchstens (die oberen Breiten ge-
rechnet) 5V.3 Fuss ergeben. Nun, in meiner Reconstruction hat die Lade
3' 9" Breite der Langseite bei 2' %x/* Breite der Schmalseite und 2* i \h/%
Höhe. Ich denke das passt so ziemlich ! Aber fahren wir in der Prü-
fung der Schubart'schen Erwägungen fort. 3) »Es mussten auf den so
bestimmten Flächen die Darstellungen so vertheilt sein, dass sie den
künstlerischen Anforderungen entsprachen, sie durften also eben so we-
nig die obere wie die untere Grenzlinie unmittelbar berühren, vielmehr
mussten sie über und unter sich einen freien Raum haben«. Einen freien
Raum ? den wohl am allerwenigsten, eine oben und unten das Ganze ab-
schliessende und umfassende Zierleiste allerdings ohne Zweifel; die
habe ich angebracht. 4) »Sollten die Darstellungen auf einer Fläche in
verschiedenen Streifen über einander angebracht sein, so mussten auch
diese Streifen durch leere Zwischenräume geschieden werden«. Durch
leere Zwischenräume? schwerlich, das würde sehr unfertig ausgesehn
haben38); Ruhl fordert wiederholt trennende Zierleisten, welche Jahn wie
ich glaube mit Unrecht anzweifelt40), denn sie müssen nach meiner An-
sicht schon nach Maassgabe der Technik vorhanden gewesen sein ; gut,
ich habe sie in meine Zeichnung aufgenommen. 5) »Die Beschreibung
der einzelnen Kunstgebilde bei Pausanias gestattet durchaus nicht an
mikroskopische Arbeit zu denken, vielmehr ist die Annahme völlig be-
rechtigt, dass nicht allein die Compositionen im Ganzen, sondern auch
die einzelnen Figuren in ihren Theilen und die Inschriften gross genug
waren, um ohne Anstrengung der Augen einen Totalanblick zu gewäh-
ren und zugleich für die einzelnen Theile eine ausdrucksvolle Bearbeitung
zu gestatten. Zeigte ja (19. 6) die Ker grimmige Zähne wie ein wildes
Thier und hatte gebogene Krallen ! Konnte man doch genau Panther-
thier und Löwen (19. 5), ja (!) Weinreben, Apfel- und Granatbäume
(1 9. 6) unterscheiden !« Dies Alles ist richtig und zuzugestehn ; an mi-
kroskopische Arbeit hat aber auch meines Wissens Niemand gedacht;
39) Vgl. die Zeichnung bei Quatremere de Quincy.
40) Berichte a. a. 0. S. 4 07, freilich nur: »insofern für diese eine gewisse Selb-
ständigkeit und ein solcher Umfang in Anspruch genommen wird, dass sie auf die ge-
sammten Raumverhältnisse einen erheblichen Binfloss geäussert haben mussten« ; wo-
mit man im Ganzen einverstanden sein kann, nur dass der Einfluss auf die Gesammt-
höbe dennoch in's Gewicht fällt.
89] Übkb die Lade des Kypselos. 61 7
wie vieles und mannigfaltiges Detail bei beschranktem Maassstabe bequem
erkennbar und ausdrucksvoll gearbeitet sein könne, lehrt beispielsweise
die Francoisvase, deren einzelne Streifen in der Zeichnung in den Mo-
numenten des Instituts folgende Höhen haben, l.asä'/i", 2.= 33/4",
3. = 4%", 4. = 4", 5. = 37/s". 6. (Pygmaeen und Kraniche) «■ 15/s"; der
Bildstreifen der Kylix der Glaukytes und Archikles (Mon. d. I. 4. 49)
hat in der Zeichnung nur \ 7/ie" Höhe, und zeigt dennoch nicht weniges De-
tail, welches man allenfalls auch in Schnitzerei dargestellt denken könnte.
Allein ich bin nicht der Meinung, dass wir für die Kypseloslade auf so
geringe Maasse herabzugehn haben, und zwar aus einem Grunde, den
Schubart anfuhrt. Er fahrt nämlich fort: »Am schlagendsten aber spricht
(19. 4) die Darstellung des Agamemnon für ein grösseres Maass der Figuren.
In einer Gruppe ist der Heros dargestellt ; auf seinem Schilde ist löwen-
köpfig der Phobos und die Inschrift eines Hexameters; mag diese auch
im Kreise geschrieben gewesen sein [etwas Anderes ist einfach undenk-
bar], sie war ohne Schwierigkeit lesbar [wo sagt Pausanias dies? er, der
klagt, die Inschriften seien geschrieben iXiyfiotg avfißaUa&at xfaUnotg],
und verlangte eine gewisse (!) Grösse des Schildes, die uns dann weiter
eine Folgerung auf die Grösse der Figur und weiter der Composition
gestattet«.
Diese letztere Behauptung ist mit einer gewissen Einschränkung,
auf die ich gleich zurückkomme, einleuchtend richtig, nur muss man nicht
bei so unbestimmten Ausdrucken, wie »eine gewisse Grösse« stehn blei-
ben, vielmehr fragen, welche Grösse
des Schildes ist erforderlich, um auf
denselben im Kreise um den löwen-
köpfigen Phobos einen Hexameter zu
schreiben, in Buchslaben, die gross ge-
Inug sind, um, meinetwegen ohne An-
strengung der Augen, lesbar zu sein,
und um als in Gold eingegelegt gedacht
zu werden? denn diese Art der Tech-
nik der Inschriften halte ich für die
allein annehmbare, woraufich zurück-
komme. Nun, auch hier ist wohl nur
durch den Versuch zu entscheiden. Ich habe den hierneben stehenden ge-
macht, von dem man schwerlich bestreiten wird, dass die Buchstaben zu
618 J. Ovmibeck, [30
klein und zu dünne seien, um den erwähnten Voraussetzungen zu entspre-
chen ; ja ich glaube sogar, dass man die Buchstaben noch um x/% kleiner
machen dürfte, wenn darauf Etwas ankäme, und dass sie immer noch den
Voraussetzungen entsprechen würden. Nun ist der hier gegebene Schild
2V2 Zoll im Durchmesser; die zu ihm gehörige Figur berechnet sich nach
Maassgabe zahlreicher Vasenmalereien zu 5 Zoll. Mein vierter Streifen
aber, dem dieser Agamemnon angehört, hat 573 Zoll Höhe. Ich denke,
es wird hiernach einleuchten mit welchem Unrecht Mercklin (Arch. Zei-
tung 1860 S. 106 Note 10) aus der Aufschrift auf dem Schilde des
Agamemnon auf eine Dimension der Figuren »viel grösser als 5 Zoll«
geschlossen hat. Mit Ruhl aber (Arch. Zeitung a. a. 0. S. 32) und Schu-
bail (a. a. O.) treffe ich in der Annahme des Maasses filr die Figuren die-
ses Streifens zusammen. Dass zwei meiner Streifen, der erste und der
Alnfte etwas schmäler, zwei dagegen, der 2. und 3. breiter sind, beruht
auf anderen, später zu entwickelnden Gründen ; das kann uns hier aber
nicht berühren, am wenigsten wird man aus den beigegebenen Inschrif-
ten behaupten dürfen, auch der unterste und oberste Streifen müsse
grade 5" Höbe gehabt haben. Denn im untersten Streifen sind nur Na-
men beigeschrieben für die überflüssig Raum ist, im obersten fehlen alle
Inschriften. Nehmen wir aber einmal eine durchgängige oder durch-
schnittliche Höhe der Streifen zu 5" an, und ich vermag kein Motiv zu
erkennen, um dies Maassverhältniss irgend wesentlich zu überschreiten,
während die überaus kostbare Technik des Kastens, namentlich die Ver-
Wendung von Gold und Elfenbein uns warnen muss, die Dimensionen der
Figuren nicht unnölhig zu vergrössern41), so begreife ich nicht, wie Schu-
bart seine Auseinandersetzung schliessen konnte mit den Worten : »Fas-
sen wir alle diese Punkte zusammen, so sehe ich nicht ein, wie es mög-
lich sein wird, die Theorie der 5 Streifen über einander durchzufahren,
mag man nun diese Streifen auf eine Langseite beschränken oder die
beiden Nebenseiten noch hinzuziebn«. Für die Gesammthöhe der Seiten
des Kastens nimmt Schubart selbst 2l/2 bis 3 Fuss = 30 — 36 Zoll an ;
5 Streifen zu 5 Zoll Höhe geben 25 Zoll Gesammthöhe der Bildwerke,
so dass nach der ersteren Annahme von 30 Zoll Gesammthöhe noch
5 Zoll für die trennenden Zierleisten, nach der anderen von 36" Gesammt-
41) Wie dies schon Heyne anerkannt und hervorgehoben hat, s. oben S. f 0.
31] Über die Lade des Kypselos. 619
höhe 1 1" für die Schubart'schen »leeren Zwischenräume« übrig bleiben.
Für die Höhe also fällt alle Unmöglichkeit nicht allein, sondern alle Schwie-
rigkeit weg ; wie sich die Lange der Lade nach der Höhe berechnen lasse,
haben wir gesehn, wie es aber möglich sei in die Streifen von gegebe-
nen Dimensionen die von Pausanias beschriebenen Bildwerke hineinzu-
zeichnen, das wird, so hoffe ich wenigstens, meine Tafel lehren.
Allein, wenn auch schon durch das bisher Gesagte und durch meine
Tafel die von den Gegnern bestrittene Möglichkeit der Streifentheorie
erwiesen sein dürfte, so ist damit doch noch nicht gesagt, dass dieselbe
in der Tbat die richtige sei. Es ist also demnächst zu prüfen, welche
Gründe sich für dieselbe und gegen die Seiten- und Deckeltheorie auf-
stellen lassen und es ist hierbei mit Pausanias' Beschreibung zu beginnen.
4.
Nähere Prüfung der beiden Herstellungsprincipien.
Wir Anhänger der Streifentheorie also behaupten, um darüber kei-
nerlei Zweifel übrig zu lassen: die von Pausanias angeführten
Xwqcci, ihrer fünf an der Zahl, sind gleichartige Streifen,
welche die Kypseloslade über einander auf einer Lang-
seite und den beiden anliegenden Schmalseiten umgaben,
und die Bildwerke jeder %^Qa laufen in einer Reihe fort.
Bei der Prüfung dessen, was philologisch hiefllr spricht und was
die Gegner hiergegen eingewendet haben, dürfte es am geratensten sein,
sich an Schubart zu halten, nicht allein, weil er der neueste Verfechter
der Seiten- und Deckeltheorie, sondern weil er Philologe ist, folglich
philologischer Argumentation zugänglicher als der Künstler Ruhl.
Nun sagt Schubart a. a. 0. S. 307: »Die Yertheidiger der Streifen-
theorie, welche Jahn am bündigsten vertritt, stützen sich hauptsächlich
auf das »von unten anfangen« (17. 6) und auf »die oberste jfcopa, denn
es sind fttaf (19.7). Was die erste Stelle betrifft : ägtafievw araoxoneiad-cu
narco&tv, so kann ich dieser kein grosses Gewicht beilegen, da sie nach
der einen und der anderen Auffassung gedeutet werden kann«. Hiezu
muss ich bemerken, dass nach der Seiten- und Deckeltheorie, der also
die erste x&qa eine »Seite« des Kastens ist, gleichviel welche, diese Deu-
tung nur unter der einen Voraussetzung möglich ist, dass es erlaubt sei, die
630 J. Ovbrbeck, [32
Bildwerke einer %wqu in mehre Streifen über einander zu zerlegen.
Denn erstens, waren die Bildwerke der x™Qa nicht in mehren Reihen
über einander angebracht, so hat das Beginnen der Betrachtung von unten
an keinerlei Sinn, oder es hat den, dass man bei den Füssen der Figuren
anfange, um bei ihren Köpfen aufzuhören; zweitens wäre, wenn die
Bildwerke einer %ÜQa, diese als »Seite« verstanden, in einer Reihe fort-
liefen nur eine doppelte schon oben, S. 12 Note 20 näher erörterte Mög-
lichkeit gegeben ; entweder nämlich müsste die Länge der Seite so viel
Mal mit sich selbst multiplicirt werden, wie die Zahl der Streifen beträgt,
die über einander angeordnet waren, oder aber die Figuren müssten um
den Betrag der gleichen Proportion verkleinert werden. In beiden Fäl-
len aber würde jede Seite nur mit einem einzigen verhältnissmässig
schmalen Reliefbande geschmückt sein, von dem man nicht weiss, ob
man es als Sockel- oder Friesornament denken, oder auf die Mitte der
Fläche verlegen soll. Bei der von Ruhl und Schubart angenommenen
Figurenhöhe von durchschnittlich 5" und der von ihnen statuirten Kasten -
grosse von 6x4 Fuss aber stellen sich beide Annahmen als unmöglich
heraus; die von Pausanias in der untersten x<*Qa genannten Figuren
lassen sich bei einer Höhe von 5" in einer Reihe nicht auf eine Standlinie
von 6 Fuss bringen, das ist eine mathematische Unmöglichkeit; sollen
sie aber auf eine Standlinie von 6 Fuss gebracht werden, so können sie
nicht 5" hoch bleiben, das ist ebenso mathematisch unmöglich, sondern
müssen, wie oben dargethan ist, auf 22/3" zusammenschrumpfen. Aus
diesen Gründen machen denn auch die Anhänger der Seiten- und Deckel-
theorie die Annahme, die Figuren jeder einzelnen x™Qa (»Seite«) seien in
mehren (wie vielen ist nirgend bestimmt ausgesprochen) Reihen über
einander angeordnet gewesen42).
Diese Annahme, welche auch Quatrem&re de Quincy machte, und
die schon Welcker bekämpfte, ist aber durch und durch falsch, die Figu-
ren jeder einzelnen gcopa liefen allerdings in einer Reihe fort, und nirgend
lässt sich das so bestimmt aus Pausanias selbst zeigen, wie bei der ersten
X<o(?ct. Pausanias beginnt seine Beschreibung mit Oivo/uaog Sicokwv Ile-
Xona ; dann folgt : i£rj$ de y/jucpiaqccov rj oixia und die sämmtlichen Fi-
guren die Pausanias nennt bis zu dem von Baton gezügelten Gespann
des Helden. Nun bezeichnet igiJG so bestimmt wie nur immer möglich
42) S. oben S. 4 5.
33] Über die Lade des Kypselos. 621
das Nebeneinander in einer Reihe fort, was ich Schubart and anderen
Philologen nicht zu beweisen brauche43). Also bis hieher ist die eine
und selbe Reihe erwiesen. Nun folgt (17. 9) fxerä de rov 'sJfMpiaQiiov
rijv oixiav der dywv im ITeh'a, der nach Pausanias bis inclusive Iolaos
auf einem Viergespanne reicht (17. 11). Merd mit Accusativ aber heisst
von örtlicher oder räumlicher Aufeinanderfolge eben so bestimmt wie i£i]Q
in einer Richtung folgend, nachher, hinterher, und kann ganz unmöglich
»über« bedeuten ; innerhalb der in sich zusammenhangenden Darstellung
des aywv enl Thliu aber abzubrechen, um einen Theil derselben über
den andern zu setzen, ist durch Nichts im Texte des Pausanias zu recht-
fertigen, und aus sachlichen Gründen entschieden unerlaubt44). Bis zu
Iolaos also geht das Bildwerk nach Pausanias' eigenen Ausdrücken ent-
schieden in einer Richtung fort. Bleibt noch Herakles, der die Hydra er-
schiesst, sammt Athene und der durch die Boreaden von den Harpyien
befreite Phineus nach. Bei Erwähnung dieser Darstellungen1 giebt
Pausanias keinen Wink über die Art der Abfolge, aus Pausanias also
können wir den Gegnern nicht beweisen, dass sich dieser Rest nicht in
einem höheren Streifen befand. Allein dass dem nicht so gewesen sein
könne ergiebt sich aus der Zahl der Figuren. Es sind ihrer genau ge-
zählt (einschliesslich der Hydra) 8 ; die gesammte Figurenzahl der ersten
Xcoqcc aber berechnet Ruhl zu 42; ziehn wir davon 8 ab, so bleiben 34.
Diese 34 laufen in einer Reihe fort, das ist bewiesen: ist es nun denkbar,
dass die übrig bleibenden acht in einer oberen Reihe angeordnet gewesen
seien? Dazu kommt noch ein Anderes. Uebereinstimmend haben Brunn
(N. Rhein. Mus. 5. S. 335 f.) und Schubart (Uebers. des Pausanias 1.
S. 391. Note)45) angenommen, dass Pausanias sich in Betreff des Iolaos
geirrt habe, sofern er ihn mit zum dytov enl Tlekia rechnet, wahrend er
wahrscheinlich zu dem Herakles mit der Hydra gehörte, woftir erhaltene
Kunstwerke (Vasenbilder) angeführt werden. Ich schliesse mich dieser
Ansicht vollkommen an46). Ist sie aber begründet, gehört Iolaos zu der
43) Freilich ist in dieser Beziehung bei Schubart a. a. 0. S. 313 nicht Alles in
Ordnung.
44) Vgl. was schon Welcker a. a. 0. S. 546 f. ausgeführt hat.
45) Dieser nimmt seine Vermuthung in Jahns Jahrbb, a. a. 0. S. 34 3 zurück.
46) Wie Pausanias zu seinem Irrthum gekommen, begreift sich um so leichter,
wenn man erfährt, dass wie Schubart a. a. 0. bemerkt hat, nach Hygin Fab. 273.
Iolaos Sieger im Viergespann bei den Leichenspielen des Pelias war; wusste dies
Abb« ndl. d. K. S. GeaelUch. d. Wiiseusch. X. 42
622 J. OVBRBECK, %[34
Scene des Kampfes mit der Hydra, während Pausanias ihn zu dem in
einer Reihe fortlaufenden äywv knl FhXia rechnet, so ist damit bewiesen,
dass auch der Hydrakampf in derselben Reihe mit dem dycov eni lldia
fortlief. Bleibt für eine obere Reihe Phineus mit den Boreaden und Har-
pyien. Wer den Streifen um den Betrag dieser 5 Personen kürzen und
diese in eine obere Reihe setzen will , dem kann ich nur zu seinem Un-
ternehmen Glück wünschen.
Bei der Beschreibung der übrigen xwpa* giebt Pausanias über die
Abfolge der Bildwerke keine Andeutungen ausser ein Mal (1 9. 8) in der
obersten #w(>cc, wo nach dem Cheiron i£iJQ xal inmav owai^ideg eiaiv]
es wird aber wohl Jeder zugeben , dass was von der ersten #«(/« gilt
auch für die übrigen angenommen werden muss. Ist es nun nach dem
oben Gesagten unmöglich die Figuren der ersten Ghora in einer Reihe,
wie der Text des Pausanias es fordert, auf einer »Seite« der Lade anzu-
bringen, so bleibt Nichts übrig, als sie nach unserer Theorie in einem
Streifen auf die drei Seiten des Kastens zu vertheilen. Q. e. d.
Aber zurück zuSchubarts Auseinandersetzung; derselbe fährt fort:
» Die Betrachtung und Beschreibung einer grossen Composition wird von
irgend einer Seite beginnen müssen; bei der zweiten %ü<>a fängt er
(Pausanias) bei der linken fcn , hier von unten ; weder Sprache noch der
Sinn an sich werden dagegen Etwas einzuwenden haben «. Ich dächte
doch ; eine grosse Gomposition kann man allerdings je nach den Um-
Pausanias und fand er den lolaos auf der Kypseloslade zunächst der Darstellung des
dyatv im IJfX/a auf einem Viergespann , so lässt sich sehr wohl denken , dass seine
stark entwickelte mythologische Gelehrsamkeit sein schwach entwickeltes künstleri-
sches Apperceptions vermögen hinreichend überwogen habe, um ihn zu veranlassen,
gegen den blossen Augenschein lolaos zu der vorhergehenden anstatt zur folgenden
Scene zu rechnen. Wie Pausanias sein mythologisches Wissen mit seiner Beschreibung
verquickt , und zwar grade in der Besprechung des aywp im Iltkiq. , davon hat Schu-
bart S. 3H das Beispiel angeführt, dass P. 17. 9. 4 0 zu den Namen das Pisos, Aste-
rion, Euphemos, Mopsos u. s. w. die Namen der Väter anführt, die natürlich in den
Inschriften des Kastens sich nicht fanden. Man vergleiche aber ferner solche Notizen
wie 4 7.8: Asios habe auch Alkmene zu einer Tochter des Amphiaraos u. d. Eriphyle
gemacht; 17. 9 , Asterion der Sohn des Kometes sei Argonaut gewesen, ibid. Euphe-
mos sei nach der Dichter Erzählungen Poseidons Sohn und ebenfalls mit Iason nach
Kolchis gefahren; 4 7. 4 0 wer Eurybotas sei, wisse er nicht anzugeben, jedenfalls ein
berühmter Diskobol, ibid. Iphiklos möge wohl des mit gen Ilion gefahrenen Protesilaos
Vater sein (tn? a?) . Hat sich aber in allen diesen Fällen wie Schubart vermulhet,
Pausanias auf die Büchelchen der olympischen Exegeten verlassen, was ihm allerdings
ähnlich genug ist, so wird sein irrthum in Betreff des lolaos um so leichter erklärlich.
35] Über die Labe dE6 Kypselos. 623
ständen unten oder oben , links oder rechts zu beschreiben beginnen,
vielleicht auch in der Mitte, wie z. B. eine Giebelgruppe; hier aber han-
delt e6 sich um eine Anzahl Gruppen , welche (nach der Seiten- und
Deckeltheorie) in mehren (wenigstens zwei) Reihen übereinander liegen,
denn, dass sie nicht in einer Reihe liegen können, ist erwiesen ; eine Reihe
von Figuren kann man aber nicht entweder von links oder rechts, oder von
unten oder oben her zu beschreiben beginnen, sondern nur entweder von
links oder von rechts her, wie es Pausanias mit den %(oqai ^-Streifen nach
unserer Theorie thut. Liegen aber mehre Figurenstreifen übereinander, so
kann man deren Beschreibung ebensowenig ad libitum entweder von unten
oder oben oder von rechts oder links anfangen, sondern nur entweder von
unten oder von oben, indem man entweder die Figuren der oberen oder
die der unteren Reibe zuerst nennt, nicht aber von links oder rechts,
wo man mehre Gruppen zugleich nennen müsste47). Sollte das ftlr
einen Philologen noch nicht an und für sich klar sein , so müsste es ihm
einleuchten, wenn er Pausanias' Worte (18. 1) in's Auge fasst: rijg %v>-
yag di ml rjj XctQvaiu rijg devTt'gag ig äytareyiHv fiiv yivoiro av ij d^XV
rijg neyiodov. Oder was wäre das für eine neyiodog, welche an der
linken Seite einer Kasten wand begönne um an der rechten zu enden.
Es hat freilich Jahn (Archaeol. Aufss. S. 6) wie oben S. 17 ohne einen
Einwand zu machen bemerkt wurde , für negiodog den Sinn einer ge-
nauen, schrittweisen Beschreibung in Anspruch genommen, und Schubart
hat an der genannten Stelle des Pausanias übersetzt: „beim zweiten
Felde an der Lade könnte man „die Beschreibung" von der Linken
anfangen", allein in Jahns Jahrbb. a. a. 0. S. 308 Note 6 nennt er es
47) Schubart selbst macht S. 308 darauf aufmerksam, dass Pausanias bei der
Beschreibung der Leschengemälde des Polygnol , bei denen es sich in der That um in
verschiedenen Hohen angebrachte Figuren handelt, da wo er hinauf oder hinunter
verweist, die Ausdrücke gebraucht : aytoyatt, awidowi, imoßltxpavci u anldoig, ferner
avoiTtfo), vtiZq und wro, ixvw&ev u. s. w., während sich bei der Beschreibung der
Kypseloslade kein dergleichen Ausdruck finde. S. selbst fügt hinzu , an beiden Orten
möge sieb Pausanias wohl sachgemäss ausgedrückt haben. Gewiss! Waren aber in
jeder einzelnen ga>(>a mehre Streifen oder Felder übereinander , so hätte Pausanias,
diese von rechts oder von links her beschreibend sagen müssen: in der oberen
(obersten) Zone ist dies , darunter dann jenes, oben wieder dies u. s. w. , also hätte
er auch hier sein cmSovti, anoßkt'yctvri, vni(p und vnb u. s. w. gebrauchen müssen
wenn er sieb sach gemäss ausdrücken wollte. Dass er es nicht thut, beweist , dass er
in einer Reihe fort von rechts nach links oder von links nach rechts beschreibt.
4«f
624 J. OvERBECK, [36
eine Art von Ironie, dass er so übersetzt habe, und daselbst im Text
widerlegt er Jahns Ansicht namentlich durch Verweisung auf (19. i)
das *£ d(jf<jr^(jcci: ntytovn , » welches nicht allein für sich , sondern auch
für neyiodos ein Herumgehen (S. hat das Wort selbst gesperrt drucken
lassen) feststellen dürfte«48). Ganz gewiss ist dem so; nun aber ziehe
man doch die Consequenzen oder vielmehr, man verläugne sie einfach
nicht. Die Gonsequenz aber ist, dass Pausanias zunächst bei der Be-
schreibung der zweiten und vierten x®Qa bei der er die erwähnten Aus-
drücke gebraucht um den Kasten herumgeht, und dass folglich sich die
zweite und vierte #a)pa über mehr als eine Seite der Lade erstreckte. Wie
man sich diesem Schlüsse entziehen will geht über meine Fassung; er-
streckte sich aber die zweite und vierte xtaqa über mehr als eine Seite, so
ist damit bewiesen, dass xf,k)a nic^ »Seite« bedeuten könne. Damit aber
ist in die Seiten- und Deckeltheorie ein grosses, ja ein irreparabeles Loch
gestossen ; es bleibt nur noch der Deckel übrig, auf den wir gleich kom-
men werden. Schubart nämlich fährt fort: »Weit schwerer fällt die
andere Stelle in das Gewicht, und ich gestehe, dass sie allein mich bis-
her abgehalten hat, unbedingt mich der Ansicht anzuschliessen , welche
zuletzt von meinem Freunde Buhl nicht allein vertheidigt, sondern auch
sorgfältig künstlerisch ausgeführt worden ist. Die dpondrto #wpa an sich
würde mir weniger Bedenken machen ; so konnte auch die Deckelfläche
bezeichnet werden [was ich sehr bestimmt in Abrede stelle] , aber der
Zusatz »denn es sind fünf« [nevte yciQ dgi&fiop hgi) ist jedenfalls
störend (!) und begünstigt nach unbefangener Auslegung mehr die
Jahn'sche als die Buhl'sche Auflassung«. Wenn Schubart sich hier die
Unbefangenheit bewahrt hätte, wenn hier nur der Philologe aus ihm
redete, so hätte er sich, glaube ich, noch präciser ausgedrückt, und nicht
noch folgende Worte geschrieben , denen man das Geängstigte und Ge-
schraubte ohne weiteres Zuthun ansieht : „Wäre Jahns Erklärung die
einzig mögliche, so wäre die Sache ziemlich (ziemlich?!) entschieden;
allein der Zusatz kann (die Sperrung des Drucks von Seh.) auch be-
deuten, freilich sonderbar ausgedrückt (das habe ich sperren
lassen) , dass noch eine fünfte, nämlich die Deckelfläche vorhanden und
mit Darstellungen geschmückt sei. Sonderbare Ausdrucksweisen dürfen
4 8 ) Eben so richtig sind Schubarts Bemerkungen gegen Jabns Annahme, niQtodoq
könne schlechtweg Beschreibung, etwa wie ntQtypjOie, heissen.
37] Über die Lade des Kypselos. 625
aber bei Pausanias nicht überraschen*4. Und sonderbare Ausflüchte bei
den Vertheidigern einer unhaltbaren Hypothese noch viel weniger. Eine
sonderbare Ausflucht aber ist dies; durch die Worte r) de aviorano ^capa,
nivre yag rov agt&fjtov etat werden die fünf %toQai so klar wie möglich
als gleichartig bezeichnet, von fünf gleichartig um die Lade umlaufenden
Zonen gebraucht ist der Ausdruck correct und untadelhaft, von vier
Seitenflächen und einer Deckelfläche gebraucht ist er nicht blos sonder-
bar, sondern ungeschickt und verkehrt, und kein halbwegs vernünftiger
Mensch, der einen Kasten mit Deckel zu beschreiben hat, und in der
Wahl seiner Ausdrücke unbeschränkt ist, wird je von ihm sagen: es
seien an ihm fünf Felder und dabei unter dem obersten Felde den Deckel
verstehn49). Eine philologische Interpretationsmethode aber, die einer
vorgefassten Meinung wegen den Wortsinn eines Schriftstellers nicht so
auslegt, wie er natürlich und vernünftig lauten müsste, sondern so, dass
nur nicht gradezu evidenter Unsinn herauskommt, ist sehr unglücklich
und erinnert nur zu lebhaft an Goethe's : legt ihr's nicht aus, so legi was
unter. Die vorgefasste Meinung aber bei Schubart ist die, welche er
schliesslich ausspricht , und die er bei Ruhl geschöpft hat *°) : » dass der
Deckel schmucklos gewesen sei , wird wohl nicht leicht Jemand anneh-
men «. Ich deprecire, und werde demnächst meine Gründe angeben, aus
welchen ich nicht glauben kann, der Deckel der Kypseloslade sei anders
als etwa mit einem und dabei leichten Ornament geschmückt gewesen.
Zwischen der Behauptung, sonderbare Ausdrücke bei Pausanias dürften
uns nicht wundern und derjenigen , der Deckel müsse ornamentirt ge-
wesen sein , stehn nun bei Schubart noch folgende Worte , es sei nicht
mit Stillschweigen zu übergehn , » dass nach der Streifentheorie der Zu-
49) Schubart ist S. 307 freilich anderer Ansicht, er meint, dass die Flächen der
vier Seiten und des Deckels x&Qai nicht allein genannt werden können, was ich nicht
bestreite, sondern dass dieses in unserem Falle die nächstliegende Bedeutung sei. Das
kann ich nur insofern zugestehn , wie ich dies schon oben S. 9 gethan habe , nämlich
insofern man bei fünf Flächen an einer Deckellade zuerst an die Seiten und den Deckel
denkt. Dass dies aber richtig sei , und dass man dabei stelin bleiben müsse , läugne
*
ich. Schubarl meint ferner das. dass der Umstand, dass Pausanias bei der Erwähnung
der ersten vier %u>Q<xi beifüge : rrjg kccgvaxog, im ttj Aa(jpaxt, während bei der 5. £0>(>a
dieser Zusatz fehle, sei nicht bedeutungslos, vielmehr der Deckeltheorie günstig. Wie
künstlich ! Da Pausanias das Wort ini&tjfjia für Deckel kennt, was sollte ihn wohl ab-
gehallen haben die fünfte £u>'(>a mit diesem Worte zu bezeichnen, wenn sie de**
Deckel war?
50) S. Archaeol. Zeitung 1860 S. 29.
626 J. Overbkck, [38
satz (ne'rrc yaQ top ägi&fiov cioi) völlig überflüssig sein würde4 \ welche
schwer zu begreifen sind, da ja durch sie Pausanias uns grade angiebt,
was für die Streifentheorie von entscheidender Wichtigkeit ist, nämlich,
dass er von fünf gleichartigen Flächen redet. Schubart selbst ist grade
durch diese Worte in seiner Anschauung »gestört«, und hier behandelt
er sie als irrelevant.
Was wir also bisher gewonnen haben ist dies : die fünf %m$cu des
Pausanias sind fünf um den Kasten umlaufende gleichartige Flächen, Fel-
der oder Zonen. Damit ist aber noch nicht der ganze Inhalt unserer Be-
hauptung erwiesen, welche ferner dahin geht : diese Zonen oder Streifen
laufen nicht um den ganzen Kasten herum und sind eben so wenig auf
die eine Langseite desselben beschränkt , sondern umgeben ihn auf der
Langseite und den beiden anliegenden Schmalseiten.
Den Hauptbeweis hieftlr hat Jahn schon in den Archaeolog. Auf-
sätzen S. 5 ausgesprochen, er liegt darin, dass Pausanias bei seiner Be-
schreibung abwechselnd von der Rechten zur Linken und von der Lin-
ken zur Rechten um den Kasten herumgeht (vgl. oben S. 17), ein
Verfahren, zu dem, wie Jahn bemerkt in den Bildwerken kein Grund ab-
zusehn ist, welches sich eben so wenig erklären lässt, wenn man an-
nimmt, P. sei bei seinen Umgängen jedesmal den Kasten ganz um-
schreitend, bis zu seinem Ausgangspunkte zurückgelangt, während es
das natürliche und völlig gerechtfertigte ist, wenn er nur drei Seiten
umschreitet und umschreiten kann. Den Grund hiefür, dass nämlich die
Lade mit der Hinterseite an die Wand gestellt war giebt Ruhl (Archaeol.
Zeitung 1860 S. 28) insofern als unzweifelhaft zu, als er eine solche
Aufstellung für ein Hausrathstück die entsprechendste nennt51). Seine
Vorstellung, die Lade sei in Olympia anders aufgestellt, sie sei an der
Hinterseite nachträglich mit der Schlacht der 3. xwqci geschmückt wor-
den, ja die in Olympia aufgestellte Lade sei möglicherweise gar nicht die
54) Schubart S. 306 ist anderer Ansicht; er meint, im Begriffe eines Schrankes
Hege es freilich , an die Wand gestellt zu werden , eine gleiche Nothwendigkeil mache
sich bei einer Prachtlade nicht geltend. Das muss man zugeben, allein damit wird nicht
aufgehoben , was Ruhl sagt , eine solche Aufstellung sei die natürliche und ent-
sprechendste. Was noch folgt bei Seh. es scheine ihm , dass wenn Jemand eine Re-
stauration vorschlüge , welche nur eine Vorderseite und eine Nebenseite in Anspruch
nehme, er eben so berechtigt sein würde, eine Aufstellung in einer Ecke anzunehmen,
wie man ein Anrücken an die Wand beliebt habe , das wollen wir uns als Scherz ge-
fallen lassen.
39] Über dik Lade des Kypselos. 627
ursprüngliche, sondern ein späteres, das Original repräsentirendes Weih-
geschenk , das Alles ist pures Phantasiegebilde , zu dem um so weniger
Grund vorliegt, als lange und mehrfach erwiesen ist, wie füglich man
im Besitze der Labda der Bakchiadin ein solches Prachtmöbel voraus-
setzen dürfe.
Bin zweiter Grund für die Yertheilung der Bildwerke auf die drei
Seiten der Lade liegt in der Unmöglichkeit , dieselben auf der Langseite
allein unterzubringen selbst wenn man dieser eine Länge von 6 Fuss
giebt. Da wir diese (oben S. 27 f.) als unwahrscheinlich erkannt haben,
und auf das bescheidene Maass von weniger als 4 Fuss zurückgegangen
sind, so wächst damit die Unmöglichkeit und die Hinzuziehung der
beiden Nebenseiten wird um so nothwendiger.
Der dritte Grund, ein sehr schwerwiegender, sobald die Streifen-
theorie als solche feststeht , liegt in der Responsioü in der Compositum
der Bildwerke, sofern sich diese nur über die mittleren Theile jeder
%(oqu erstreckt, an den Enden aber aufhört. Danach sind die respon-
direnden Theile der Composition der Langseite zuzusprechen , wahrend
die nicht respondirenden Anfangs - und Endstücke auf die Nebenseiten
zu verweisen sind. Doch darauf ist zurückzukommen.
Einen vierten Grund für die Yertheilung der Bildwerke auf die
Haupt- und die Nebenseiten , und zwar genau in der von mir in meiner
Geschichte der griech. Plastik vorgeschlagenen, jetzt auf meiner Tafel
durchgeführten Weise, diesen Grund, den Mercklin (Archael. Zeitung
1 860. S. 1 04) aus den Inschriften ableitete, kann ich nur sehr bedingter-
massen anerkennen. Doch auch auf den ist zurückzukommen, wo von
den Inschriften zu handeln ist.
Schliesslich muss aber noch an die wesentliche Unterstützung er-
innert werden , welche der ganzen Streifentheorie bei der Kypseloslade
aus der Analogie anderer aller Kunstwerke fliesst. Jahn hat bereits
(Berichte u. s. w. a. a. 0. S. tOI) darauf hingewiesen, dass uns eine ahn-
liche reihenweise , mehrstreifige Verzierung wie wir sie fUr den Kypse-
loskasten statuiren, bei den ältesten Kunstwerken, den Schilden, welche
Homer und Hesiod beschreiben , und den alten Vasenbildern ebenfalls
entgegentritt. Ueber die Schildbeschreibungen ist auch in neuerer Zeit
Mancherlei geschrieben worden, das dazu bestimmt ist, die betreffenden
Dichterstellen als Beschreibungen überhaupt zu verdächtigen. Ich will
mich hier nicht auf diesen Gegenstand einlassen , stehe aber nicht an,
628 J. OVERBECK, [40
auszusprechen, dass nach meiner Ueberzeugung das auch von mir bei
der Restauration dieser Schilde adoptirte Verfahren im Prinzip durch
die neueren Aeusserungen nicht erschüttert ist. Was die Vasenbilder an-
langt, so sind es bekanntlich die ältesten, s. g. orientalisirenden, welche,
in grosser Zahl , hier in Frage kommen , und als deren jüngste eine die
Frangoisvase ein Hauptanalogon zur Kypseloslade abgiebt, während
andere Vasen derselben chronologisch noch näher kommen mögen.
Endlich will ich nicht versäumen, hier noch auf eine andere bedeu-
tungsvolle Analogie aufmerksam zu machen. Bei den in Vasengemälden
dargestellten kdyvcmg nämlich ist eine Verzierung der Seitenflächen die
gewöhnliche, und unter diesen Seitenverzierungen tritt diejenige mit
streifenförmig über einander geordneten Ornamenten auffallend häufig
hervor (s. oben S. 24 Nr. 2, 3, 5, besonders 6, vergl. noch Guhl und
Koner a. a. 0. F. 194. c. d. g.). Sollte man das für blossen Zufall er-
klären wollen? Eine ähnliche Verzierung der oberen Fläche des Deckels
ist nirgend nachweisbar, nur die Ränder der Deckel und die oberen
Flächen derselben zeigen sich mit Ornamentbändern eingefasst; das
kann Zufall sein , weil wir überhaupt in nur wenigen Darstellungen der
Deckel deren Ansicht von oben her vorfinden; dass aber hie und da die
Deckel benutzt werden, um sich darauf zu setzen, darf nicht ganz ausser
Anschlag bleiben. Deckel mit denen solches geschieht, haben sicher kein
nennenswerthes Ornament.
Und auch das sei noch erwähnt, dass, wie schon Thiersch (a. a. 0.
S. \ 67) und wieder Schubart (a. a. 0. S. 305) hervorgehoben haben,
schon jene #*/A6e äQinentjg und 7rt()imM.i]s (Od. 8. 424, 438) der Arete
und nicht minder die x^Aos naXt] dcudaketj des Achilleus II. 16. 221, un-
zweifelhaft schon Prachtmöbel waren, wie die Xaqvaj; der Labda der
Bakchiade, wenngleich wir darauf verzichten wollen, ntQixcdArjs mit
Thiersch durch »ringsherum schön« zu übersetzen und daraus, indem
wir das betonen, für die nach unserer Anschauung ornamentirte Kypse-
loslarnax Kapital zu machen.
s.
Das Datum der Kypseloslade.
Ich habe oben die Frangoisvase neben anderen der ältesten Thon-
gefösse als Hauptanalogon zu der Kypseloslade angesprochen ; um das-
selbe in seinem ganzen Werthe ausnutzen zu können wird es nöthig
*4] Ober die Lade des Kypselos. 629
•
sein, sich über das chronologische Verhältniss beider Kunstwerke so viel
wie möglich zu orientiren. Ohnehin darf hier an der Frage nach dem
Datum der Kypseloslarnax nicht vorbeigegangen werden , da es sich in
den Ansichten verschiedener Gelehrten um den Unterschied eines Zeit-
raumes von mehr als 40 Olympiaden, fast 200 Jahren, handelt.
Die Ueberlieferung braucht als bekannt nur kurz berührt zu wer-
den. Pausanias (1 7. 5) bezeichnet ohne den geringsten Zweifel die von
ihm in Olympia gesehene Lade als diejenige , in welcher Labda ihr Kind
vor der Verfolgung der Bakchiaden verborgen habe, also als dasselbe
Möbel, welches bei Herodot (5. 92) erwähnt wird, und welches nach
Paus, i 8. 7 ein nQoyovog des Kypselos (ob von väterlicher oder mütter-
licher Seite wird nicht bestimmt gesagt , dass aber das Erstere gemeint
sei ist aus dem Verfolg wahrscheinlich **) ) als ein Kty/ua habe machen
lassen. Ferner giebt er an (1 9. 10), die Inschriften auf der Lade könne
freilich auch ein Anderer verfasst haben, ihn selbst aber führe seine Ver-
muthung stark auf Eumelos den Korinthier , und zwar sowohl aus an-
deren Gründen als namentlich durch eine Vergleichung des von Eumelos
verfassten Prosodion auf Delos. Nach Dio Chrysostomos 11, p. 163
wäre die Lade von Kypselos selbst nach Olympia geweiht.
Wir haben es also mit zwei Argumenten , der von Pausanias ge-
glaubten Sage und seiner kritischen Vermuthung über den Verfasser der
Inschriften zu thun, die , wie schon lange bemerkt worden **) , eigens für
die Bildwerke gemacht, nicht aus einem Gedichte entnommen und auf
die Bildwerke angewendet worden sind, deren Alter folglich über das-
jenige der Bildwerke mit bestimmt.
Was nun zunächst die Sage anlangt, die in Olympia von den Nach-
kommen des Kypselos geweihte Lade sei die echte im Besitze der Labda
gewesen, so bezweifelt dieselbe Heyne (S. 5), aber aus keinem besseren
Grunde , als weil es ihm nicht wahrscheinlich vorkommt , Labda habe
ein so kostbares Stück besessen. Hierauf ist bereits geantwortet; es
lässt sich nicht absehn, warum die Bakchiade Labda oder ein tiqo-
yovog ihres Mannes , der , wenn auch nicht Bakchiade , darum noch kein
geringer und armer Mann war , ein solches Stück nicht sollte besessen
52) Vgl. Preller, Archaeol. Zeitung 4 854 S. 292.
53) Von Thiersch, Epochen S. 4 68 Note 66. Die Wendungen : "Atkag ovtog,
ovtog re K6(üv , ovtog piv <t>6ßog y Aaxotdag ovxog , 'Egpciag Öde beweisen hier ganz
gewiss.
630 J. Ovbebeck, [«
haben M). Tiefer fasst die Sache Welcker55), der allerdings die Möglichkeit
zugesteht , allein darauf hinweist , die ganze Geschichte von der Rettung
des Kypselos in einer xinptbj könne gar leicht aus dem Namen des Kypse-
los gemacht sein, wofür es an Analogien nicht fehle36). Das verdient
gewiss alle Beachtung, obwohl man Welckers weiterem Argumente nicht
eben sonderliches Gewicht beilegen wird. Er meint nämlich, dass Hero-
dot, hätte man zu seiner Zeit schon ein solches Denkmal wie Pausanias
beschreibt auf jene Geschichte bezogen, den erzählenden Korinther (H.
legt bekanntlich dem Korinther Sosikles die Kypselosgeschichte in den
Mund) wahrscheinlich der xtnpütj ein Beiwort hätte geben lassen, wie
z. B. kunstreiche, in unserem (?) Heraeon aufbewahrte Kiste oder der-
gleichen. Das hätte Herodot freilich thun können, allein noth wendig war
es nicht , und W. scheint ttbersebn zu haben , dass er mit diesem Argu-
mente nicht sowohl die Sage bestreiten würde, die Larnax sei im Besitze
der Labda gewesen, als vielmehr die Ueberlieferung, die in Olympia auf-
gestellte sei dahin von den Kypseliden geweiht, an der noch Niemand
gezweifelt hat57). Denn auch dies ist natürlich lange vor Herodot ge-
schehe — Thiersch (a. a. 0. S. 4 67) spricht sich unbedingt für den
Glauben an die von Pausanias überlieferte Sage aus, die zu bezweifele
kein Grund vorliege, und welche , indem sie in sich selbst nichts Wider-
sprechendes, wohl aber in den homerischen Gesängen einen bestimmten
Halt und Hintergrund habe (in den Laden der heroischen Zeit als Ana-
logien der Kypseloslade), in und durch sich selbst hinlänglich gesichert
sei. Jahn berührt in s. Archaeolog. Aufsätzen und in den Berichten der
k. s. Ges. d. Wiss. a. a. 0. die Zeitfrage nicht, und verzichtet in der Ar-
chaeolog. Zeitung v. 1850 S. 192 darauf, jetzt noch zu entscheiden, ob
Pausanias1 Sagenüberlieferung glaubhaft sei oder nicht, weist jedoch
darauf hin , dass zwischen der Sage und der Angabe , Eumelos habe die
Inschriften verfasst, kein Widerspruch bestehe58). Ruhls Zweifel sind
schon berührt, bestimmte Gründe ftlr dieselben fehlen.
54) Vgl. Siebeiis Amalth. 2. S. 259 und Schubart a. a. 0. S. 302, der Heyne*
Bemerkung »etwas hausbackene nennt.
55) Zeitschrift für Gesch. u. Ausl. d. a. Kunst S. 272. Die Schrift von Schubring,
de Cypselo Corinthiorum tyranno, Gotting. 4 862 habe ich nicht gesehn.
56) Vgl. Kreuzer, Commentatt. Herod. *. p. 62 sq., welcher orientalische
Analogien zu der Kypselossage beibringt.
57) Ausser, wie es scheint, Schubart a. a. 0. S. 302.
58) Wie Markscheffel, Hesiodi, Eumeli cett. fragmenta p. 220 angenommen
13] Über die Lade des Kypselos. 631
0. Müller hatte59) ein Argument gegen die von Pausanias ange-
deutete Datirung der Lade aus den ersten zehn Olympiaden in dem Kostüm
des Herakles zu finden geglaubt ; Herakles nämlich habe auf der Lade
bereits seine gewöhnliche Tracht, die er erst nach Ol. 30 erhielt, durch
Peisandros nämlich, welcher (Ol. 33 — 40) dem Herakles seine Tracht,
Löwenhaut und Keule geschaffen habe, wie ihn hernach die bildende
Kunst darstellte.
G^gen diese Argumentation wandte sich Preller, Archaeol. Zeitung
v. 1854 S. 292 ff., in einem Aufsatze der die erste gründliche Bearbei-
tung der Chronologie der Kypseloslade enthält. Preller glaubte Müllern
gegenüber aus Paus. 17 a. E. u. 19. 9 ^ erweisen zu können , Herakles
sei auf der Lade noch garnicht mit Löwenhaut und Keule gebildet ge-
wesen , also nicht in dem Peisandrischen Kostüm , sondern einfach als
roioTtjs, und eben dies sei das oxijfia an welchem man ihn ohne In-
schrift erkannt habe , denn eben dies sei die 'OfitiQixij ardktj des Hera-
kles, wie sie im Gegensatz zu der ihm von den Dichtern seit Stesichoros
und Peisandros gegebenen Tracht bei Athen. 1 2 p. 51 3 genannt werde.
Ja, meint Preller, man werde wohl weiter gehn dürfen bis zu der Be-
hauptung, dass Herakles auf der Kypseloslade nur mit Pfeil und Bogen,
noch nicht mit Löwenhaut und Keule abgebildet war, da dieses Merk-
mal einer späteren Zeit sonst höchst wahrscheinlich (?) von Pausanias
hervorgehoben worden wäre ; dadurch erhalte das höhere Alterthum der
Lade eine positive Stütze. In der That komme Herakles ausser mit dem
Bogen nur noch mit dem Schwert vor, in dem Abenteuer mit Atlas
(18. 4), wo, meint Preller, wieder die Erwähnung der Löwenhaut und
Keule (? er hat ja das Schwert), wenn Pausanias sie gesehn hätte, un-
vermeidlich ( ! ) gewesen wäre.
Wenn man nur dem ehrlichen Pausanias nicht gar zu viele, zu
subtile und allezeit praesente Gelehrsamkeit zutraute ! Wer sagt uns
denn, dass sich Pausanias so genau des Datums bewusst gewesen, seit
welchem Herakles mit Löwen feil und Keule erscheint? Und wer sagt
hatte. Vgl. auch Bergk, Arch. Zeitung 1845 S. 4 69 Note 1*. Schubart a. a. 0.
S. 303 Note 4.
59) Handb. d. Archaeol. §. 57. 2. vgl. 77. 4., Dörfer 4, S. 446 der 3. Ausgabe.
60) 4 7. 44 : ixte di xov 'HqaxXtovq ovxog ovx iyvciavov xov xe ä&Xov %i.^v xai
int reo o ff pari. 4 9. 9 : to&vovta di awdoct KtvtctvQOvq .... dijka 'H^axkf'a ic
top roltvovca xai 'ÜQaxXtovg tlvai zo tQyov.
632 J. Overbeck, [44
uns , wie ich dies schon früher 61) bemerkt habe , dass Peisandros diese
Tracht des Herakles, die er in die Kunstpoesie einführte, aus sich erfun-
den habe, dass sie nicht in örtlichen Sagen und Gesängen lange vor
Peisandros vorhanden war, und danach auch in ältesten Kunstwerken
vorhanden sein konnte ? Löwenfell und Keule waren bei Herakles etwas
so überaus Gewöhnliches , dass man eher behaupten dürfte , hätte Pau-
sanias den Helden an der Kypseloslade ohne Löwenfell gesehn — denn
die Keule hatte er in der That nicht, weil er zwei Mal mit dem Bogen und
ein Mal mit dem Schwerte kämpft , das vierte Mal beim aywv int fFeh'a
(17. 9) thronend ruhig zuschaute und wohl mit dem Scepter zu denken
sein wird — , so würde er dies Abweichende , Ausnahmsweise hervor-
gehoben haben, obgleich ich auch nicht einsehe, warum das in dem
knappen Text »unvermeidlich« gewesen sein sollte. Ich selbst habe
früher (a. a. 0.) an die Richtigkeit von Prellers Argumentation geglaubt;
indem ich diese Zustimmung hier zurücknehme, ziehe ich mich auf die
Annahme zurück, dass Herakles freilich die Leontis in den Bildwerken
der Kypseloslade gehabt habe, dass dies aber keinen Grund gegen ihr
Alter und ihre Hinaufdatirung über Peisandros abgebe.
Im weiteren Verfolge seiner Untersuchung bringt nun Preller be-
achtenswerte Gründe gegen die Annahme der Sage in ihrem ganzen
Bestände, namentlich gegen die Bezüglichkeif der Bildwerke auf der
Lade zu der Familiengeschichte der Vorfahren des Kypselos82). Hier
unterschreibe ich namentlich was Preller S. 295 über Pausanias' Erklä-
rung der dritten jwpa und der in ihr dargestellten Schlacht bemerkt.
Seine Annahme , dass in dieser Schlacht weit eher der Kampf der Pylier
und Arkader bei Pheia aus II. 7. 135 dargestellt gewesen sei, als die
andere Geschichte, die Pausanias beibringt, ist richtig und gut begründet,
und nicht minder ist es die Bemerkung, dass somit auch dieser Vorgang
der mythischen Sagengeschichte angehöre, dass er folglich sein schein-
bar Fremdartiges unter den übrigen Darstellungen der Kypseloslade ver-
liere. Auf Prellers Bemerkungen über die Inschriften komme ich zurück;
wenn er aber schliesslich S. 296 f. zu dem Resultate gelangt, die Lade
möge wohl älter als Kypselos und seine Eltern, aber von einem seiner
61) Geschichte d. griech. Plastik. 1. S. 480. Note 5. Damit stimmt Schubart a. a.
0. S. 303 überein.
62) Eine solche, wie sie Müller (Handb. a. a. 0.) behauptete, hat auch schon
Bergk, Archaeol. Zeitung 1845 S. 4 52 in Abrede gestellt.
45] Über die Lade des Kypselos. 633
Vorfahren nicht sowohl bestellt, als vielmehr fertig gekauft worden sein,
etwa von einem aeginetischen (?) oder korinthischen Künstler, so habe
ich keine Ursache, dem zu widersprechen.
Und somit bleibt mir nur noch übrig, auf die Argumentation Schu-
barts ein paar Streiflichter zu werfen. Derselbe glaubt a. a. 0. S. 302
nicht an die Echtheit und das Alter der Lade, und behandelt die Sage,
wie sie Pausanias berichtet als Erfindung der Exegeten von Olympia,
denen er, im Allgemeinen wohl mit Recht, Mangel an Kritik vorwirft.
Anlangend die in Olympia aufgestellte Lade meint er, dass dieser Pracht-
kasten kein gewöhnliches Hausgeräth, sondern ein Prunkstück einer rei-
chen und vornehmen Familie gewesen sei, habe man eingesehn ; es sei
also nur darauf angekommen, irgend eine namhafte Lade ausfindig zu
machen, um sie mit der in Olympia zu identificiren, und da schwerlich
eine grosse Auswahl gewesen sei, so habe sich der durch Herodots Er-
zählung hinlänglich bekannte Kasten des Kypselos bequem dargeboten.
Zwar wisse Herodot Nichts davon, dass die Lade, in welche Labda ihr
Knäbchen barg, ein ausgezeichnetes Kunstwerk gewesen, die Unwahr-
scheinlichkeit der ganzen Geschichte, das Alter des Kunstwerks (wer
sagt uns denn, dass dieses nicht durchaus zutreffend war?), der Nach-
weis, wie grade ein Korinther dazu gekommen sein sollte, das Geräth
nach Olympia zu stiften, alles dies habe den Exegeten keine Sorge ge-
macht, und die Annahme habe ihnen um so zuverlässiger erscheinen
mögen, da schwerlich ein Kasten aufzutreiben war, der seine Ansprüche
gründlicher hätte erhärten können. Herodot scheine weder von dem
kunstreichen Geräth in Olympia noch von dessen erlauchter Herkunft
Etwas zu wissen (möglich; indessen, wer sagt, dass Herodot Alles was
er wusste auch sagen musste, vollends in einer Rede, wie die, worin die
Sache vorkommt), Pausanias aber habe, wie in unzähligen andern Fällen
die Tradition ohne weitere Prüfung angenommen u. s. w.
Hiezu will ich besonders nur bemerken, dass wenn es Schubart
mehr als den Exegeten in Olympia Sorge macht, wie »ein Korinther«,
d. h. Kypselos oder ein Kypselide dazu gekommen sei, ein solches Weih-
geschenk grade nach Olympia zu stiften, er erstens nicht in Anschlag
gebracht hat, dass Olympia und Delphi die Nationalheiligthümer von
Griechenland waren, wohin ein Weihgeschenk, das man von Vielen gesehn
wissen wollte, zu stiften, ziemlich nahe lag, und dass er zweitens über-
sehen hat, dass auch der vielberühmte ganz goldene Zeuskoloss als
634 J. OVERBKCK, [46
Kxnpthdwv dvdihjfia grade in Olympia stand 63). Dass dieses für die Wahr-
scheinlichkeit stark in's Gewicht falle, dass dieselben Kypseliden, Peri-
andros oder wer sonst, nach Olympia auch eine Prachtlade gestiftet haben,
an welche sich eine, meinetwegen unbegründete, aber im Volke geglaubte
und das Ansehn der Kypseliden erhöhende Sage knüpfte, das wird wohl
Schubart selbst nicht verkennen. Und wenn wir deshalb seinen Grundsatz,
wir seien an Pausanias' Aussagen nur so weit gebunden, wie wir denselben
mit Gründen zu folgen im Stande sind, im Allgemeinen adoptiren. so wird
er uns ohne Zweifel mit gutem Willen zu der Erwägung dieser Gründe fol-
gen, die namentlich in dem liegen, was Pausanias über die Inschriften sagt.
Es ist Mancherlei geschrieben worden, um Pausanias' Ausspruch,
ihm sei aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich, dassEumelos der Ver-
fasser der Epigramme sei, zu verdächtigen. Dass wir hier zu keiner ab-
soluten Gewissheit gelangen können, ist zuzugestehn. So hat Welcker
(a. a. 0. S. 273) gewiss Recht, wenn er behauptet, die Alterlhümlich-
keit der Inschriften nöthige uns nicht, bis in den Anfang der Olympiaden
hinaufzugehn54); und wenn übereinstimmend Preller a. a. 0. S. 296 und
Schubart a. a. 0. S. 303 annehmen, Pausanias sei zu seinem Schlüsse
auf diesem Wege gelangt : die Lade stammt aus Korinth und aus der
Familie der Bakchiaden, folglich wird wohl ein korinthischer Dichter
der Verfasser der Epigramme sein, ein solcher und obendrein selbst
ein Bakchiade ist Eumelos, folglich mag der wohl die Epigramme ge-
dichtet haben, so lässt sich nicht in Abrede stellen, dass eine solche
Folgerung zu den anderen Gründen des Pausanias (äXXtov re tvexa) gehört
haben mag, die er nicht näher angiebt. Als besonderen Grund aber führt
er die Vergleichung des Prosodion auf Delos an (xal rov TtQoeodiov
fiaktora o vnoitjotv ig ^/ijXov). Hier kann ich nur wiederholen was
ich früher05) ausgesprochen habe: es ist mir nicht klar mit welchem
Rechte Preller (a. a. 0. S. 296) behaupten will, Pausanias, der
überhaupt kein übler Kenner alter Poesie ist, und der 4. 4. 4 die mei-
sten sonst auf Eumelos zurückgeführten Poesien als unecht verwirft,
während er das delische Prosodion nebst den Inschriften der Kypselos-
lade allein für echt anerkennt, habe sich grade hier durch eine verkehrte
63) Vgl. Preller a. a. 0. S. 893 f.
64) In seiner Götterlehre 4. S. 301 erkennt W. den Eumelos als Verfasser der
Inschriften an der Kypseloslade an.
65) Geschichte d. griech. Plastik {. S. 4 80 Note 5.
47] Ober die Lade des Kypselos. 635
Combination beirren lassen. Schubart (a. a. 0. S. 303 f.) sieht ein, dass
da die Folgerung sich nicht aus dem Inhalte ableiten Hess, sie lediglich
aus der Form abgeleitet sein könne; der Dialekt, metrische, vielleicht
auch sprachliche Eigentümlichkeiten möchten die Kriterien gewesen
sein. Er meint aber dann, dieser Boden sei überaus schlüpfrig, die paar
Verszeilen, was hätten die für Anhalt bieten können. Nun, ich meine,
darüber dürfte es uns, die wir das Prosodion auf Delos nicht besitzen,
doch noch etwas schwieriger abzusprechen sein, als dem Pausanias, und
die paar Verszeilen der Kypseloslade bieten Eigentümlichkeiten genug,
um ihnen ein charakteristiches Gepräge zusprechen, sie z. B. für weder
homerisch noch hesiodeisch halten zu dürfen. Schubart freilich behaup-
tet weiter, die Hexameter auf der Lade seien der Art, dass sie uns nicht
nötbigen, einen namhaften Dichter für sie auszuforschen, was zugege-
ben werden kann, der Künstler, der die reiche Lade verfertigte sei ohne
Zweifel (?) auch im Stande gewesen, ein paar solche Hexameter zu-
sammenzusetzen. Wohl möglich. Allein würde man angesichts der
Verse in der Lesche von Delphi (Paus. 10. 27. 4)
r^a\pe IloXvyvanos, Oaaiog yevog, y/lykao(p6bvTOS
'Tiög 7i6()i}o/uev)]v Iklov dxQonoktv
nicht grade dasselbe zu sagen berechtigt sein? Sind diese Verse so
schön, so erhaben, so bedeutend oder geistreich, dass sie uns nöthi-
gen würden, wenn wir von ihrem Verfasser Nichts wttssten, flir sie nach
einem eigenen, namhaften Dichter zu forschen? Würden wir nicht etwa
sagen dürfen, Polygnot, der das prachtvolle grosse Gemälde vollendet,
sei auch im Stande gewesen, ein solches Distichon zusammenzusetzen,
ohne dafür den Simonides und keinen Geringeren zu bemühen? Nun,
und wenn Polygnot gleichwohl, was als Thatsache doch wohl noch nicht
bestritten ist, den Simonides in Anspruch nahm, soll da der Künstler der
Kypseloslade nicht in ähnlicher Weise den Eumelos in Anspruch genom-
men haben ? Ja, sollte es nicht möglich sein hieftlr noch ein Motiv zu
ahnen? Schubart macht darauf aufmerksam, dass die Inschriften dem
Räume angepasst werden mussten, und schliesst daraus, der Künstler
werde ihre Abfassung darum um so weniger einem Andern übertragen
haben. Mir scheint im Gegentheil, dass je schwieriger durch das An-
passen in den Raum die Abfassung der Verse wurde, der Künstler um
so mehr Ursach hatte, dieselbe von einem gewandten Dichter zu erbit-
ten, der zugleich sein Product mit seinem Namen zu decken im Stande
636 J. OvKRBECK, [**
war. Allein ich weiss — all zu scharf macht schartig und verzichte auf
die Fortführung solcher Untersuchungen ; ich kann aber nicht umhin auch
jetzt noch zu bekennen, dass mir Pausanias' Erwägungen mehr Gewicht
zu haben scheinen, als die seiner modernen Gegner, und dass ich eben
wegen dieser Erwägungen des Pausanias in Betreff der Inschriften auch
heute noch geneigt bin, die Kypseloslade als ein Kunstproduct der ersten
zehn Olympiaden anzuerkennen. Sollte man aber trotz allem hier Gesag-
ten an der Echtheit der in Olympia aufgestellten Lade zweifeln, und vor-
ziehn zu glauben, wofür noch nicht der Schalten eines Grundes beige*
bracht ist, sie sei ein die Originallade vertretendes, aber prächtigeres ad
hoc gefertigtes Weihgeschenk, so bleibt sie als KvyeXtdtov aväthj/ia —
und dass sie selbst dieses nicht sei, wird wohl kein Zweiter so leicht mit
Schubart annehmen — ein hochaltes Kunstwerk. Denn86) Kypselos ge-
langte Ol. 31. 2 (v. Chr. 655) zur Herrschaft und diese blieb im Hause
der Kypseliden insgemein 73 Jahre und 6 Monate; 01.49. 2 (v.Chr. 582)
ist also der äusserste Termin, vor welchem die Lade in Olympia geweiht
sein muss, und bis zu diesem äussersten Termin herabzugehn hat sehr
Weniges für, wohl aber sehr Vieles gegen sich. Für die Annahme eines
jüngeren Datums der Kypseloslade wttsste ich nur zwei Erwägungen
anzuführen. Erstens nämlich ist uns das Vorhandensein der Chrysele-
phantintechnik in der weitesten Bedeutung des Wortes vor Smilis und der
Schule des Dipoinos und Skyllis in den 60er Olympiaden 87) nicht über-
liefert. Wie unsicher aber jeder hierauf zu bauende Schluss sei, wird
Jeder fühlen ; er ist es um so mehr, da wir bis in die 60er Olympiaden
mit der Kypseloslade in keinem Falle ohne Willkür herabgehn dür-
fen , und als uns in der Kunst der heroischen Zeit die Bearbeitung des
Elfenbeins bereite entgegentritt68). Die zweite Erwägung wäre diese.
Unter den Darstellungen der Kypseloslade treten uns Scenen entgegen,
welche durch die Poesien des epischen Cyclus erhöhten Glanz erhiel-
ten, so der Zweikampf des Achilleus und Memnon durch Arktinos' Ae-
thiopis (aus den ersten 7 Oll.), Peleus und Thetis und wiederum das
Parisurteil durch Stasinos' Kyprien (aus Ol. 30), und so fort. Liesse sich
nun erweisen, dass der Bildner der Kypseloslade eben diese Poesien vor
Augen und im Sinne gehabt habe, als er seine Reliefe verfertigte, so
66) Vgl. Preller a. a 0. S. 297 f.
67) Vgl. m. Gesch. d. griech. Plastik 1. S. 83 f.
68) H. Gesch. d. PI. a. a. O. S. 59.
49] Über die Lade des Kypselos. 637
wäre damit zugleich bewiesen, dass die Lade jünger sein müsse, als die
30. Olympiade. Allein so wenig man Peisandros als den Erfinder der
Heraklestracht anerkennt, eben so wenig wird man Arktinos oder Sta-
sinos als den Erfinder dieser Sagenzüge betrachten; denn zu den
nachweislich diesen Dichtern eigentümlichen Bereicherungen der Sage
gehören sie nicht. In der Sage waren sie lange vor diesen Dichtern vor-
handen 69) ; aus dieser aber konnte der Verfertiger der Kypseloslade so
gut vor Ol. 7 wie nach Ol. 30 schöpfen. Für den ganzen Zeitraum aber
innerhalb dessen man das Datum der Kypseloslade vernünftigerweise
suchen kann, d. h. von der ersten Hälfte des 8. bis zur zweiten Hälfte
des 7. Jahrhunderts v. Chr., haben wir für dieselbe keine besseren Ana-
logien in erhaltenen Kunstwerken, als die ältesten, s. g. orientalisirenden,
reihenweise mit Bildwerken verzierten Yasen ; je jünger man die Lade
ansetzt, desto näher rückt sie ihrem Datum nach ihrer artistischen Haupt-
analogie, der Frangoisvase. Das Datum der Frangoisvase ist freilich
eben so wenig wie dasjenige der Kypseloslade gegeben ; allein wenn
Jahn in der Einleitung zu seinem münchener Vasenkatalog S. GLVII über
das aus den Inschriften der Frangoisvase vollständig herzustellende Al-
phabet sagt, es sei das älteste attische, welches bis gegen die 80. Olym-
piade im Gebrauch war, so glaube ich nicht, dass er damit hat sagen
wollen, die Frangoisvase sei in so späte Zeit herabzusetzen, oder, sollte
dies der Fall sein, dass wir nöthig hätten, ihm hierin zu folgen. Man
braucht nicht die bekannten Grundsätze Ludwig Ross' über Chronologie
der Yasen und Vaseninschriften zu theilen, um dennoch der Ansicht zu
sein, dass kein Grund vorliege, jede Vaseninschrift so tief herab zu dati-
ren wie es nach Maassgabe des officiellen Gebrauchs des in derselben ver-
wendeten Alphabets nur immer möglich ist. Die zweite Hälfte der 70er
Olympiaden würde also in diesem Falle der äusserste Termin sein, nach
welchem die Frangoisvase nicht gemalt sein kann ; erwägt man aber was
wir von der freilich höchst fragmentarischen Geschichte der griechischen
Malerei vor Polygnot wissen, zumal was uns von der Erfindung des Eu-
maros (qui marem feminamque discrevit, durch die Farbe nämlich 70) und
des Kimon von Kleonae überliefert wird (qui rugas et sinus invenit) 71) ;
69) In Betreff des Parisurteils verweise ich aufWelckersEp. Cyclus B. S.S. H3ff.
70) Vgl. Brunns Küiistlergesch. S. S. 8, Jahn a. a. O. S. CL1X f.
71) Das heisst wörtlich und muss wörtlich verstanden werden: der Bausche und
Abhandl. d. K. S. Geldlich, d. Wiuentdi. X. 43
638 J. Oveueck, [50
findet man dann auf der Fran^oisvase die Weiber allerdings weiss ge-
malt72), von Falten und Bauschen dagegen selbst in den bewegtesten
Gewändern noch keine Spur, so wird man sich, sofern man überhaupt
eine Parallelentwickelung der Keramographie mit der übrigen Malerei
und eine Einwirkung dieser auf jene anerkennt, genöthigt sehn, die Ent-
stehung der Frangoisvase deren echt hochalterthümlichen Stil Alle an-
erkennen und hervorheben, die über dieselbe geschrieben haben , zwi-
schen Eumaros und Kimon von Kleonae anzusetzen. Eumaros datirt
Brunn a. a. 0. S. 9 zwischen Ol. 60 und 70, indem er einen nahen
Schulzusammenhang zwischen ihm und Kimon, qui inventa eius exco-
luit, wie Plinius sagt, statuirt; es ist aber aus verschiedenen Gründen
sehr fraglich, ob dies Datum nicht zu jung sei, und ob wir deswegen
nicht auch die Frangoisvase bis in den Anfang der 60er, ja bis in die
50er Olympiaden werden hinaufsetzen dürfen. Auch so trennt sie frei-
lich noch ein weiter Zeitraum von dem wahrscheinlichen, wenngleich
nicht von dem spat est möglichen Datum der Kypseloslade ; allein da sich
im Kreise des Handwerks und untergeordneter Arten der Technik das
Alterthümliche länger erhält, als in der selbständigen Kunst, so darf uns
der Zeitraum, der vermuthlich zwischen dem Kypseloskasten und der
Frangoisvase liegt, nicht an den mancherlei Analogien irre machen, wel-
che beide Kunstwerke darbieten, so wenig wir uns einreden dürfen, den
Stil der Bildwerke an der Larnax des Kypselos nach demjenigen der
Fran$oisvase genau bestimmen zu können.
6.
Die Compositionsprincipien der Bildwerke.
Wenden wir uns nun zu einer Prüfung der Principien, nach denen
die einzelnen Gruppen innerhalb der Zonen- oder Streifen-£ai(>a#, von
Falten der Gewandung erfand, nicht, wie Brunn a. a. O. S. H wollte, der Bausche
und Falten durchbildete, was noch kaum Polygnot gethan hat.
72) Meines Wissens ist dies freilich in der ganzen Litteratur über die Frangoisvase
nirgend bestimmt ausgesprochen und meine Erinnerung über diesen Punkt war, grade
wie diejenige mehrer gelehrten Freunde, bei denen ich deshalb anfragte, nicht ganz
sicher; Herr Prof. Michaelis aber theilt mir mit, dass er sich wenigstens die Atalante
in der kalydonischen Jagd positiv als weiss notirt habe, wodurch in Verbindung mit
dem was Brunn, Bull. v. 1863 p. 4 90 und 492 sagt und mit sonstigen Umständen die
Sache wohl als entschieden gelten darf.
54] Über die Lade des Kypselos. 639
denen wir fortan wohl werden reden dürfen, angeordnet oder compo-
nirt waren.
Der Erste, welcher auf das System der Composition geachtet hat,
ist Welcker (Zeitschrift f. a. Kunst S. 537 ff.); klar in's Licht gesetzt aber
hat er dasselbe noch nicht. Beginnend mit der ersten %o^a sondert er
die Leichenspiele für Pelias als Hauptvorstellung aus, macht auf
deren räumliche und innerliche Symmetrie mit Herakles und Akastos an
den Enden als den Kampfrichtern und den zwischen diese verlegten
Kampfergruppen aufmerksam, und versucht einen ähnlichen, wenigstens
räumlichen Parallelismus in den je zwei Anfangs- und Endvorstellungen
nachzuweisen. Auch für die zweite x&qa hebt Welcker vor Allem den
räumlichen Parallelismus hervor. Die Scenen von Idas und Marpessa
bis zu Peleus und Thetis sondert er als »Hauptreihe in der Mitte« aus
und findet für diese wieder ein grösseres Mittelbild in Iasons und Me-
deias Hochzeit, zu der er Apollon und den Chor der Musen hinzurech-
net, und zwar als zu beiden Seiten der Hauptgruppe vertheilt73); die drei
einzelnen Paare (Idas und Marpessa, Zeus und Alkmene, Menelaos und He-
lena links, Atlas und Herakles, Enyalios und Aphrodite, Peleus und The*
tis rechts) gruppiren sich um dies Hauptbild in offenbarer Regelmassig-
keit, und werden durch die figurenreiche Mitte in ein Ganzes auch für
das Auge verknüpft, hinlänglich um die noch übrigen Vorstellungen an
den Enden als Beiwerk von eigentbümlichem Sinne auffassen zu können,
das sich raumlich aufwog.
Für die vierte xwqu statuirt W. ein anderes Princip ; hier lässt er
das Ganze aus zwölf gleichen Gliedern bestehn, deren Anordnung die
Abwechselung von a) Liebesgeschichten und b) Heldenabenteuern zum
Grunde liege74); untergeordnete Beziehungen des Einzelnen aufeinan-
73) Dass diese von Welcker sehr stark betonte Annahme, der Andere, wie Brunn
(s. unten) gefolgt sind, unmöglich sei, bat Scbubart a. a. 0. S. 315 aus der Inschrift
bewiesen; denn die Inschrift zu Apollon und den Musen hätte ja über die ebenfalls mit
einem Hexameter versehene Gruppe des lason hinweg geschrieben worden sein müssen,
was in keiner Weise denkbar ist. Uebrigens soll nicht vergessen werden, dass schon
Jahn, Aren. Aufes. S. 9. Note 18 sich, wenngleich aus anderen Gründen, gegen die
Welcker' sehe Combi nation ausgesprochen hat.
74) Nämlich: t . a. Boreas und Oreithyia, 8. b. Herakles und Geryon, 3. a. The-
seus und Ariadne, 4. b. Achi Ileus und Memnon, 5. a. Moilanion und Atalante, 6. b.
Aias und Hektor, 7. a. Dioskuren und Helena, S. b. Koon und Agamemnon, 9. a. Pa-
risurteil , dem die Artemis zugezählt wird, 10. b. Eteokles und Polyneikes, H, a.
43*
640 J. Ovbbbeck, [W
der will er nicht annehmen, nur darin könne eine künstlerische Absicht
liegen, dass die sechs Vorstellungen, welche etwas Zusammengesetztes
haben, zwischen drei und drei, die dem Auge weniger darbieten, in die
Mitte gestellt seien.
In der obersten xtoQa stellt Welcker die Nereidengespanne nebst
Cheiron und das Maulthiergespann der Nausikaa in Contrapost ; das Bin-
dende sei im Aeusserlichen gelegen, in den Thieren, ein Grund der An-
ordnung und Auswahl, den auch die ausgebildetste Kunst nicht ver-
schmäht habe. Die beiden anderen Vorstellungen (Odysseus und Kirke
— Herakles und die Kentauren) seien durch den Gontrast verbunden,
denn bei dieser leisen Art der Verkettung erreiche der Gontrast dasselbe,
was die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung ; dort sehn wir den Helden
in Ruhe und Ueppigkeit, hier in That, auch dürften die Weiber dort,
Kentauren hier den Gontrast verstärkt haben.
So wenig nun auch hiedurch die Frage erledigt, so Manches auch
erweislich irrig ist, so ist doch dieser Versuch voll feiner und treffender
Bemerkungen, die ihren Werth auch heute noch behalten haben; jeden-
falls steht er ungleich höher als derjenige Bergks 7ö), welcher, wesentlich
nur den von ihm nicht ohne Scharfsinn aufgespürten geistigen und
ideellen Beziehungen der einzelnen Darstellungen zu einander nach-
gehend, dabei das für die bildende Kunst ungleich maassgebendere Räum-
liche aus den Augen verlierend und künstliche Responsionsschemata der
Poesie und Musik auf dies Werk der bildenden Kunst übertragend, zu
einem ganz falschen Resultat gelangt. Ich habe dies schon vor vielen
Jahren ausgesprochen 76), und da ich kaum glauben kann, dass nach allem
dem was seit 1845 über die Composition der Bildwerke an der Kypse-
loslade und über den Parallelismus als Compositionsprincip der bildenden
Kunst geschrieben ist, der treffliche Bergk noch heute an seinem System
festhält, oder dass sich sonst irgend Jemand zu demselben bekennen
sollte, so halte ich eine erneute Polemik gegen dasselbe hier für über-
flüssig und glaube ihm mit dieser Erwähnung genug gethan zu haben.
Aias und Kassandra (bei Pausanias vor 1 0) . Man sieht, schon hier stimmt nicht Alles
(s. 7, 9, 11); dass sich aber 12. bei Dionysos unter Bäumen gelagert weder
der eine nocli der andere Gedanke anwenden lasse, hat W. selbst gesehn, der dies
eine mit nichts Anderem zusammenhangende Vorstellung nennt, von der er annimmt,
sie sei aus irgend einem besonderen Anlass der Zeit oder des Ortes beigefügt worden.
75) Archaeol. Zeitung 1845 S. 150 ff.
76) N. Rhein. Mus. (1850) S. 435.
53] Über die Lade des Kypselos. 641
Genauer ist auf Brunns Bearbeitung der Responsionsfrage 77) einzu-
gehn, welche, an diejenige Welckers anknüpfend, als deren Fortführung
bezeichnet werden darf, und sich vor jener theils durch die festgehaltene
Voraussetzung der Streifentheorie, theils durch eine noch consequentere
Betonung des rein Räumlichen auszeichnet, und hauptsächlich nur an
dem Mangel der Unterscheidung der drei Seiten leidet. Auch Brunn be-
ginnt, wie das kaum anders möglich ist, mit dem »Mittelbilde des unter-
sten Streifens«, d. h. dem äytov bii LleXicc ; »hier entsprechen sich , sagt
er, an beiden Enden Herakles und Akastos, ihnen zunächst fünf Zweige-
spanne und fünf Männer im Wettlauf. Was etwa die ersteren im Räume
vor den letzteren voraus hatten, wiewohl wir die Gespanne theilweise
einander deckend denken können, glich sich durch die grössere Beglei-
tung und die Kampfpreise auf Seite des Akastos aus, denn den Töchtern
desselben (vielmehr des Pelias) setzt P. (bei Herakles) nur eine Flöten-
spielerin entgegen«. Wie sich die Gespanne und die Läufer fast genau
einander ausgleichend denken lassen, zeigt meine Zeichnung, auf die ich
weiterhin näher zurückkomme, ebenso, wie die Endgruppen einander
aufwiegen. »Zwischen den erwähnten Gruppen waren ferner zwei
Faustkämpfer, zwei Ringer, neben diesem noch ein Diskuswerfer, der
aber räumlich durch einen Flötenspieler zwischen den Faustkämpfern auf-
gewogen ward. Die &ewfievoi rovg aycoviaräg, wenn es nicht Herakles
und Akastos [nebst den Peliastöchtern und der Flötenspielerin] sind
[wovon ich überzeugt bin] , können wir uns entweder in halber Figur
über den Kämpfern hervorragend oder auf Tribunen zu beiden Seiten
gleich vertheilt denken«. Beides scheint mir wegen Ueberladung des
Reliefe unmöglich und ich denke, Brunn würde diese Yermuthung wohl
unterdrücken, wenn er die Sache zu zeichnen versucht hätte. Ganz ein-
verstanden mit ihm bin ich aber, wenn er alle Gruppen zu einem schö-
nen Ganzen vollkommen abgeschlossen nennt, und den alle Symmetrie
aufhebenden Iolaos zu der Gruppe mit Herakles und der Hydra rech-
net"). Wenn nun aber Brunn glaubt, für die End Vorstellungen (Pelops
und Oinomaos, Amphiaraos' Abschied rechts und Herakles im Hydra-
kampfe, Phineus links) ein Gleichgewicht voraussetzen zu dürfen, wenn
77) Ueber den Parallelismus in der Compositum altgriechischer Kunstwerke, im
N. Rhein. Mus, v. «847 (V.) S. 335 ff.
78) S. oben S. 33 Note 46 u. vgl. unten §.9.
612 J. OvEmrs. r^
wir an'h ni'ht im ^tan-!e .^.^n A'+^'A** na*h7nw*:**»n >o kann ich ihm
n«V*h» b*itret*n: %irr!nrK*hr g!auhe in. da^s ef^n diese Darstellungen die
>eben**rten gefallt, und da»5 wir nach einem Gleichgewicht, einer
Entsprechung unter ihnen deswegen gar nicht zu snchen haben, weil
*ie nicht sleichzeitu? übersehbar waren, a.ler Paralleltsmos also, wäre er
% ortenden gewesen, ohnehin verloren c^^san^en wäre. Dieser Grund-
*atz gilt mir auch für die folgenden zf^u^ tind nach ihm, der alle Schwie-
rigkeit hebt, welche ans der NieMresponsion der Anfangs- ond Enddar-
Mellnniren fliegst, habe ich schon früher die Vertbeilons auf die drei Sei-
ten vorgeschlafen and habe ich >ie non in der Zeichnung durchgeführt.
Aach für die zweite jwpa schliesst sich Brunn Welckern last geoao
an: indem er »die Hochzeit '? derMedeia ond den hochzeitlichen'?1 Chor
de* Apollon and der Musen als grössere Darstellung in der Mitte« auf-
fegst, erstreckt sich ihm der ParaDelismus auf die Gruppen von Idas ond
Marpessa bis zu Peieus ond Thetis. Die drei mehr allegorischen Grup-
pen, Nacht mit Schlaf und Tod. Dike and Adikia und die Phannakeotrien
werden abgesondert and dem von den Gorgonen verfolgten Perseus ent-
gegengestellt. Eine Responsion anter diesen Gegenbildern nachzuweisen
hat Brunn nicht versacht, das wäre auch vergeblich und unnütz gewe-
sen, sie sind nicht parallel weil sie den Nebenseiten angehören. Trennt
man aber Apollon and die Musen von Jasons und Medeias Liebesvereini-
gung durch Aphrodite, wie dies der Inschrift wegen unbedingt geschehn
muss, so wird man schwerlich umhin können, auch die Gruppe Peieus
und Thetis, welche Brunn als die Eckgruppe rechts des Mittelfeldes mit
Idas und Marpessa als derjenigen links, übrigens gewiss passend, in Contra-
post stellt, auf die rechte Nebenseite zu verlegen, und nun herüber und
hinüber zu verbinden : Idas und Marpessa — Enyalios und Aphrodite,
Zeus und Aikmene — Atlas und Herakles, Menelaos und Helena — Apol-
lon und die Musen, so dass Iason. Aphrodite und Medeia als Mittelbild,
wenn auch von geringerem Umfange, übrig bleiben. Wie sich hierbei
der räumliche Parallelismus herstellt zeigt meine Tafel, auch die ideelle
Entsprechung ist, zum Theil wenigstens, nicht schwer nachzuweisen, tritt
jedoch gegen die Bedeutung der räumlichen zurück.
Für die vierte %<o(>a weicht Brunn stärker von Welcker ab, was ich
nur billigen kann, da er es nach dem Grundsatz der strengen räumlichen
Entsprechung thut. Der Vorstellungen sind 13 sagt Brunn, die 7. also
ist die mittelste: Helena mit Aethra und den Dioskuren. Wie diese,
OOJ
Über die Lade des Kypselos. 643
welche auf den ersten Blick den anderen ziemlich gleich zu sein scheint,
sich als grösseres Mittelbild aussondert, wenn man den Dioskuren, höchst
wahrscheinlicher Weise, ihre Rosse beigegeben denkt, hat Brunn gut
ausgeführt und habe ich in meiner Tafel zu veranschaulichen versucht.
Für die Endvorstellungen : links Boreas und Oreithyia, rechts Dionysos
unter Bäumen gelagert verzichtet B. auf den Nachweis des Parallelis-
mus, der nur in Ideenverbindung zu suchen sein könne, welche festzu-
stellen die Haltpunkte fehlen. Da diese Endvorstellungen jedenfalls den
Nebenseiten zufallen, kann uns ihr Nichtentsprechen nicht stören. Für
die folgenden Gruppen (v. I. u. r. her) : Herakles und Geryon und Eteo-
kles und Polyneikes sucht B. einen Parallelismus als möglich nachzuwei-
sen; ich gebe die Möglichkeit zu, kann aber auf dieselbe kein Gewicht
legen, weil ich überzeugt bin, dass auch diese Gruppen auf die Neben-
seiten gelegt werden müssen79). Für den Rest der Gruppen, die auch ich
auf die Vorderseite verlege, gelingt Brunn der Nachweis der Entspre-
chung, wie mir scheint, sehr gut; wobei freilich Artemis mit Panther
und Löwe und das Parisurteil den Platz weehselq müssen. Wie füglich
hier eine kleine Unordnung in der Abfolge bei Pausanias angenommen
werden kann, hat Br. ausgeführt, dass er Recht habe, ist auch meine
Ueberzeugung ; man zeichne die Sache, und die Notwendigkeit der Um-
stellung ergiebt sich von selbst.
Am wenigsten weit ist die Entscheidung für die oberste %<»Qa gediehen,
und zwar allen Bearbeitern, nicht nur Brunn und mir. Die durch den
Mangel der Inschriften bewirkte Unsicherheit des Pausanias mag hier
einen Theil der Schuld tragen, ja ich bin noch nicht einmal gewiss, dass
P. uns alle Figuren genannt hat, die er sah. Wenn Brunn, etwas künst-
lich, einen Parallelismus der Endvorstellungen nachzuweisen sich be-
müht, so halte ich das für verlorene Arbeit, da ich natürlich diese Vor-
stellungen (Herakles und Kentauren, Odysseus und Kirke) auf den Ne-
benseiten suchen muss, wo mir ihre Nichtentsprechung keine Scrupel
macht. Anders verhält es sich mit den beiden mittleren Vorstellungen
79) Beiläufig; wenn Brunn darauf hinweist, dass in mehren Yasen von dem drei-
leibigen Geryon der eine Leib bereits als gefallen dargestellt werde, und hierin, unter
der Annahme das sei ähnlich an der Kypseloslade gewesen, einen Parallelismus mit
dem auf das Knie gefallenen Polyneikes findet, so passt das nicht recht zu den Wor-
ten des Pausanias, der 19. \ den Geryon so bezeichnet : TQilg de avÖQeg rtjQvovqg
elaiv akkrjkoig TtQOVt%6n£voi.
G44 J. 0 VERBECK, [56
von so sehr ungleicher Ausdehnung. Wenn hier Brunn meint, die klei-
neren Nereidengespanne finden in dem grösseren Maulthiervvagen der
Nausikaa ihr Gegengewicht, so will ich nicht grade widersprechen,
auch wenn er Thetis und Hephaestos als in der Mitte stehend fasst, ent-
spricht das meiner Anordnung ; allein für Cheiron , den auch Brunn als
zu der Scene der Waffenübergabe an Thetis gehörend betrachtet, fehlt
mir der rechte Contrapost und die geringe Ausdehnung der Nausikaa-
darstellung wird um so fühlbarer, je mehr man die andere Darstellung
ausdehnt. Ob bei Nausikaa Pausanias nicht, wie schon Welcker meinte,
die (zu Fusse) begleitenden Dienerinnen zu erwähnen vergessen hat, und
ob nicht deren Voraussetzung ein grösseres Gleichgewicht herzustellen
geeignet sein würde , will ich dahinstehn lassen ; ich habe auf die An-
wendung dieses Mittels verzichten zu müssen geglaubt.
Brunn verkennt zum Schlüsse nicht die Schwierigkeiten , die sich
vielfältig bei der Durchführung des Einzelnen in den beiden letzten Reihen
ihm entgegenstellten, und meint, es werde sich vielleicht Manches ein-
facher herausstellen, \yenn wir einmal im Stande sein sollten, den Ideen-
zusammenhang des Ganzen genügend nachzuweisen. Er verzichtet auf
den Versuch, weil wir über die Veranlassung der Weihung [vielmehr
der Anfertigung der Lade] im Dunkeln sind, die doch von dem Künstler
bei der Wahl seiner Gegenstände zunächst , sei es auch auf noch so ein-
fache und indirecte Weise, gewiss berücksichtigt worden sei. Auch mir
scheint die Zeit noch nicht gekommen , wo es uns gelingen kann , wenn
es uns jemals gelingen wird , den Ideenzusammenhang aller Bildnereien
an der Kypseloslade nachzuweisen. An ein blosses gleichsam zufälliges
Zusammenwürfeln von Gegenständen glaube ich indessen nicht, und
wenn Preller (a. a. 0. S. 296 f.) uns auf ein solches hinweist, weil es
bisher auch noch nicht gelungen ist, den Ideenzusammenhang der Bilder
an der Frangoisvase genügend darzuthun , so urteile ich hierüber heute
nicht anders als früher M), wo ich aussprach, solche Probleme sollten als
•
Gegenstand der Forschung immer aufs Neue hingestellt, und nicht, weil
sie bisher ungelöst sind , durch eine negative Kritik bequemer Weise bei
Seite geschoben werden. Einstweilen glaube ich , dass die Hauptarbeit
in dem Nachweis des rein räumlichen Parallelismus zu bestehen hat, und
in Beziehung auf diesen hoffe ich noch heute, wie früher (a. a. 0.) einen
80) Geschichte d. griech. Plastik a. a. 0.
57] Über die Lade des Kypselos. 645
Theil der Schwierigkeiten , auf welche Brunn stiesß , hinweggeräumt zu
haben durch die Vertheilung der Bildwerke auf drei Seiten der Lade,
welche aus anderen Gründen für mich feststeht (s. oben S. 38 f.). Ge-
billigt hat meinen Gedanken und ihn zu begründen versucht Mercklin in
der Archaeol. Zeitung von 1860 S. 101 ff.; da M. aber seine Gründe
auf die von ihm zuerst gründlicher behandelten Inschriften stützt, so
haben wir diese zunächst zu prüfen und was über sie zu sagen ist , zu-
sammenzustellen .
7.
Die Inschriften.
Was Pausanias über die Inschriften sagt ist dies: (17. 3) rmv de
inl rfj kaQvcau ijnygdfifuxra Znemi roig nkeioai yqafifiaai roig aqxaioig
yeyQa/i/uva ' %al ra ftiv ig ev&v avrwv e%ei 9 axijfuxra di akka rwv yqa^
fidrtov {miyQafifidnov?) ßovoTQoepTjddv %ccXov<jip"EXXt]V€S . • • yeyqaTtrai
di eni rfj Xdqva%i xal äXk&g ra irny^dfifiara ikiyfioig avfißaXeo&cu jfafc-
notg. Weiterhin im Laufe seiner Beschreibung unterscheidet Pausanias
einzelne Namen und Verse. Die Auslegung der eben mitgetheilten Worte
des Pausanias ist in einzelnen Punkten nicht ganz unbestritten , scheint
mir aber , wenn man nur alle Willkür fern hält , einfach genug. Ueber
die alte Form der Buchstaben zu reden ist unnöthig, die versteht sich
bei diesem Kunstwerke von selbst , wichtiger ist die Richtung der Epi-
gramme. Pausanias unterscheidet dreifach, rä füv ig evfrv avrwv tx*<,
also sind in einer Richtung, gleichviel in welcher, gradeaus geschrieben,
andere sind bustrophedon geschrieben, noch andere ikiypoig avpßak-o&ai
Xcdenolg. Was ßovarQO(ptjd6v sei erklärt Pausanias (and rov ne^arog rov
tnovg i7Tior()6(p€i rtav inwv ro devregov wo7ieQ iv diavkov dpo/up) und das
ist bekannt und unzweifelhaft ; bleiben die ikiy/iol ov/jßcdeo&ai xaUnoi.
Hier ist Zweifel ; Schubart behauptet in einer Note zu seiner Uebersetzung
(S. 390. 87) die »schwer zu entziffernden Windungen« können sich eben
so wohl auf die Züge der einzelnen Buchstaben beziehn wie auf die
Windungen der Zeilen; Mercklin widerspricht S. 102, wie ich nicht
zweifle , mit Recht. Von den y^d/i/iaai hat Pausanias anfangend gesagt,
dass sie alt seien ; was er weiter aussagt bezieht sich auf die SmyQa/i-
futra%x)% so nach seinem Wortlaut {jhziyQ. ineari ye/Qafifuva • %ai ra fuv
84) So hat schon Völkel, Archaeol. Nachiass S. 4 58 mit Verweisung auf das
samothrakische Relief richtig erklärt.
646 J. Ovebbeck, [58
avrcop x. r. A. . . aXka twp \int\yqamiwtfAV ßov<5T()0<pi{döv xakovai
yiyqamai di inty^afifiara ekty/uoig etc.) und so nach dem allein mög-
lichen Sinne, was namentlich daraus hervorgeht, dass einzelne Buch-
staben nicht bustrophedon geschrieben werden können , weswegen das
yga/Afidrow auch wohl in miygafi/Lidrcov zu ändern sein wird. Auch
heisst Gv/ußcdto&ai #ttA«ro/s nicht wörtlich «schwer zu entziffern« , son-
dern schwer zusammenzuzählen, zusammenzusuchen oder zusammenzu-
lesen, was sich nur auf die Windungen der Zeilen beziehn kann. Auch
an Beispielen solcher in ikiyfioig avfißakea&ai xaXenoh geschriebenen
alten Inschriften fehlt es bekanntlich nicht , sie finden sich zunächst auf
vielen Vasenbildern der ältesten Art82), dann auch in Steinschriften welche
aber , da sie nicht mit Figurendarstellungen verbunden sind , hier nicht
in Frage kommen können **) ; endlich mögen hier auch die Aufschriften
auf Schilden 84) mit eingerechnet werden85). — Was nun aber die Unter-
scheidung der drei Arten von Inschriften auf der Ky pseloslade , näm-
lich der gradeaus , der bustrophedon und der in Windungen geschrie-
benen anlangt, hatMercklin S. 102 behauptet, die gradeaus geschriebenen
Bpigrammata seien die einzelnen Verszeilen, die bustrophedon geschrie-
benen die Doppelhexameter, die in Windungen geschriebenen mit einer
Ausnahme (des Hexameters auf Agamemnons Schilde, der möge iv ikiy-
/wie geschrieben sein S. 106), die einzelnen Namen. Das aber ist bare
Willkür und nichts Anderes, und Schubart hat ganz Recht, wenn er
S. 31 1 die üiy/uol auch für die Verszeilen und ganz besonders für diese
in Anspruch nimmt. In Wahrheit ist keine Art der Inschriften , Namen,
einfache und doppelte Verszeilen von der Schreibung iv iXiyfwh ausge-
82) Nur beispielsweise will ich auf folgende besonders charakteristische ver-
weisen , in denen sich die meisten iktypol meiner Beischriften wiederfinden. Mon. d.
Inst. I. 24 (Sosiasschale), 39 (Gespräch, um Palmetten geschrieben), II. 4 4 (im Kreise
um das Bild), 24 (Gespräch, der Schwalbe Rückkehr), 44. A. (O)ivenerndte) und B.
(nach derselben, Gespräch), IV. 54 — 57 (Francoisvase), 59 (Kylix des Glaukytes u.
Archikles, auch b. Gerhard, Auseri. VB. 3. 235—36), V. 10; VI. 4 4, 15, 19, 22,
33. Gerhard, Auserlesene Vasenbb. I. 6, 20 — 24, 22, 25, 62; II. 90, 92, 403, 107,
121 ; III. 168, 488, 490—94, 492, 206, 223 und 227.
83) Auf die Inschriften des bekannten samothrakischen Reliefs mit Agamemnon,
Thalthybios und Epeios ist schon von Anderen (Völkel, Siebeiis, Mercklin) hingewiesen
worden.
84) z. B. Paus. 5. 4 0. 4; 25. 4 0. Vgl. Mercklin a. a. O. S. 4 06 Note 4 0.
85) Richtig subsumirt Schubart S. 34 4 die bustrophedon geschriebenen Bpigram-
mata unter die in Windungen geschriebenen, und zwar des nal äkktag wegen.
59] Über die Lade des Kypselos. 647
schlössen, wenngleich wir die einzelnen opo/iara von der Schreibung
bustrophedon auszuschliessen haben. Nicht ganz so willkürlich, aber
eben so verkehrt ist Mercklins Annahme S. 406 die Verse hatten unter
den zugehörigen Bildwerken gestanden, was er daraus schliessen will,
dass es von einem Hexameter (19. 4) heisst, er stehe vitty rov 'Tipido-
juavTog vexqov. Auch auf diesem Punkte ist er durch Schubarts Ausein-
andersetzung S. 314 f., die ich hier nicht wiederholen will, zurückge-
wiesen. Ueber dem Leichnam des Iphidamus stand der Vers wie in
Vasen über anderen Gefallenen der Name steht86), aus dieser Angabe
folgt für die Stellung der übrigen Inschriften gar Nichts, sie stehn, wie
Personennamen und Künstlerinschriften in Vasenbildern und wie die drei
Namen auf dem samothrakischen Relief, wo Platz war, und eben des-
wegen , weil sie den von den Figuren freigelassenen Platz zu occupiren
hatten, waren sie iv iXiy/uoig geschrieben.
Inschriften, sagt Pausanias, stehn zu den meisten (toig nteioai) der
Darstellungen auf der Kypseloslade, nicht zu allen. Er selbst giebt aus-
drücklich das Fehlen derselben an zunächst für die ganze 5. #*)(>«, dann
folgt es aus des Beschreibers Worten für die ganze dritte , wo P. nicht
im Zweifel über den Gegenstand, über die Bedeutung der Schlacht hotte
sein können, wenn auch nur ein Name beigeschrieben gewesen wäre.
Für die übrigen drei xcopa*, welche Beischriften hatten, giebt Pausanias das
Fehlen derselben bei einzelnen Figuren direct an im ersten Felde ; hier
hatte keine Beischrift die Alte , welche den kleinen Ampbilochos trug,
die Flötenspielerin hinter Herakles im aytiv int /7*A*a87), ferner dieser
selbst, ebenso der Flötenbläser zwischen den Faustkämpfern Mopsos und
Admetos, sodann die Töchter des Pelias mit Ausnahme der Alkestis8*)
und endlich der Herakles im Hydrakampfe. In den beiden übrigen mit
Inschriften versehenen Feldern [i u. 4) erwähnt Pausanias nur für den
Herakles mit Atlas im zweiten (1 8. 4) das Fehlen der Beischrift ausdrücklich.
86) Vgl. nur z. B. Gerhard, Auserl. Vasenbb. 3. 192, 205, 223, m. Gall. Taf.
28. 3.
87) Denn sieber ist hier zu lesen Tavttjg ttjg yv*cu*bg ijtlyQa/Afia ixneoti* rpiq
iori, nicht intaxt.
88) Tb di ovofia im ty '4kxq<jrtdt yiyQvntai popy n. H . Wenn dazu Schu-
bart a. a. 0. S. 3H bemerkt: »die übrigen waren ohne Zweifel durch die Betschrift
&vyccztQtg TliXlov kenntlich gemacht«, so sehe ich nicht ein, wo das Unzweifelhafte
einer solchen Annahme stecken soll, die mir sehr unwahrscheinlich vorkommt.
650 J. Overbbck, [68
Pelops und Oinoroaos mag man es wegen der von Pausanias hervorge-
hobenen Flügel pferde des Pelops glauben, für Phineus mit den Harpyien
desgleichen , allenfalls auch noch bei Peleus und Thetis , bei Boreas und
Oreiihyia ; leicht bei Herakles und Geryon, ja es wäre wunderlich genug,
wenn man hier eine Beischrift bei Herakles für nöthig gefunden hätte,
während sie drei Mal bei ihm als fehlend, weil überflüssig, hervorgehoben
wird. Auch bei dem unter Bäumen gelagerten Dionysos mag das gelten,
und allenfalls bei Achilleus und Memnon mit ihren Müttern und bei
Eteokles und Polyneikes. Schwer glaublich aber ist dies bei Zeus und
Alkmene , Menelaos und Helena , Theseus und Ariadne , Meilanion und
Atalante, Aias und Hektor, Artemis, der geflügelten, oder gar Dike und
Adikia! Erklärten sich diese Personen und Scenen von selbst, nun, so
ist nicht abzusehn , warum überhaupt e i n Name beigeschrieben worden
wäre , und vollends , wenn auch die Kämpfer in den Leichenspielen des
PeUas nicht benannt worden wären. Erwägt man dieses, und bedenkt
man, wie zahlreich in den alten Vasen die Beischriften nicht nur zu Per-
sonen, sondern selbst zu Gegenständen sind, so wird man schwerlich umhin
können, sich für die Alternative zu entscheiden, die Mercklin vorgezogen
hat, dass die Namen standen, wo Pausanias sie nicht als fehlend be-
zeichnet. Allein auch dieses mit einer Einschränkung. In den Scenen,
wo Pausanias nur den Namen einer Person angiebt : bei Enyalios und
Aphrodite, Perseus und den Gorgonen, Eteokles und Polyneikes ist es
immerhin vorsichtiger, das Fehlen der Beischrift bei den anderen Per-
sonen anzunehmen, als das Gegentheil ; am wenigsten kann ich Schubart
beitreten, wenn er S. 312 meint, die Perseus verfolgenden Gorgonen
hätten die Beischrift adeXyai Medovotje gefllhrt. Aus einem eben schon
angedeuteten Motive kann ich auch nicht glauben, dass Herakles im
Kampfe mit Geryon inschriftlich benannt gewesen sei.
Was nun hiernach die Vertheilung der Beischriften auf die einzelnen
Theile des Bilderschmucks der ka$va£ anlangt, glaubt Mercklin S. 104
folgende Ergebnisse der Untersuchung hinstellen zu können. 1 . »Hexa-
metrische Zeilen und einzelne Namenangaben treffen nirgend zusam-
men, sondern schliessen sich gegenseitig aus«. Diesen Satz muss ich in
dem Sinne, in welchem Mercklin ihn, wie der weitere Zusammenhang
zeigt, verstanden hat, bestimmtest in Abrede stellen. Es ist ja ganz ein-
fach Thatsache, dass im 2. und 4. Felde Verse und einzelne Namenbei-
schriften mit einander, wenn auch ohne Regelmässigkeit, abwechseln.
63] Ober die Lade des Ktpselos. 651
Nur darüber könnte Zweifel sein , ob in einem Bilde , wo nicht alle an*
wesenden Personen ohnebin im Verse genannt waren, den einzelnen
Personen die Namen beigeschrieben waren, wie ich glaube, oder nicht.
2. »Die Namenangaben sind von keinem Theile der Bildflachen aus-
geschlossen, die hexametrischen Zeiten finden sich dagegen nie
zu Anfang und Ende der Streifen, sondern nur in der Mitte«.
Diese Beobachtung ist eben so augenscheinlich richtig, wie die
erstere falsch ist, auch hat Schubart sie anerkennen müssen, obwohl er
S. 312 gegen den Schluss, den Mercklin aus derselben zieht allerlei Ein-
wendungen macht, die mir zu den wenigst gelungenen Stücken seines
Aufsatzes zu gehören scheinen. Mercklin nämlich schliesst, dass durch
die nur ihnen beigegebenen Hexameter die Bilder der Vorderseite aus-
gezeichnet und gegen die nur mit Namenbeischriften versehenen Bilder
der Nebenseiten unterschieden werden sollen. Er glaubt durch diese
Bemerkung die von mir getroffene Vertheilung der Bilder auf Haupt- und
Nebenseite überhaupt und auch gegenüber der abweichenden Anordnung
Brunns rechtfertigen zu können, und führt das im Einzelnen durch.
So willkommen mir nun auch eine solche Unterstützung meiner An-
ordnung sein würde, und so gern und bereitwillig ich anerkenne, dass
in der That in der Beigabe von Versen ein Auszeichnen und Hervorheben
(schon für das Auge und ganz besonders für dieses) der mit ihnen ver-
sehenen Bilder liege8*), welches den auch nach andern Gründen auf
der Vorderseite befindlichen zu Gute kam , so kann ich Mercklins Ver-
muthung doch für mich nicht utiliter acceptiren. Erstens nämlich kann
er durch seine Annahme nicht beweisen , was er doch will (bei Peleus
und Thetis) , dass ein Bild ohne Vers nicht auf die Vorderfläche gehöre ;
denn dergleichen sind hier gar nicht selten, und zweitens sind die Verse
mit einer, anscheinend wenigstens, so vollkommenen Systemlosigkeit
räumlich über die Fläche sowohl innerhalb der einzelnen %to^ai wie
wiederum auf diese in ihrer Gesammtheit vertheilt , dass es höchst un-
89) Sehr unwillig muss doch auch Schubart das anerkennen; denn wenn er
S. 312 sagt: »will man für den Umstand, dass wirklich die hexametrischen Inschrif-
ten nur in der Mitte der Bilder erwähnt werden, einen Grund suchen — der Zufall ist
bfos Nothbehelf — so konnte ja der Künstler bei den ausgiebigeren Inschriften in der
Mitte die Absicht haben , grade hier eine grössere Fülle zu concentriren und dadurch
dem Bilde einen in die Augen fallenden Mittelpunkt zu schaffen«, so ist das ja in der
That eine Bestätigung von Mercklins Annahme.
652 J. Ovekbeck, [R*
wahrscheinlich wird , sie haben räumlich wirken sollen , und seien des-
wegen angebracht. Was immer der Grund ihrer Anbringung gewesen
sein mag, dass es kein künstlerischer oder wenigstens zunächst kein
künstlerischer war, das wage ich bestimmt zu behaupten. Damit aber
fällt für meine auf rein räumlichen und künstlerischen Motiven beruhende
Restauration die Benutzbarkeit der Mercklin'schen Beobachtung hinweg.
In Beziehung auf die Inschriften bleibt uns , so viel ich sehe nur
noch eine Frage zu berühren , die Schubart ganz zum Schlüsse S. 31 5
aufwirft ; nämlich : »wie waren die Inschriften eingelegt , mit Gold oder
Elfenbein? oder wie sonst hat man sich das Technische zu denken?«
Eine positive Antwort auf diese Frage ist der Natur der Sache nach
nicht wohl möglich , allein ich denke doch , dass man sich für die An-
nähme, dass die Inschriften in goldenen Buchstaben eingelegt waren, als
für die wahrscheinlichste entscheiden wird. Aus dem Holze geschnitzt,
wie ein Theil der Bilder, konnten sie nicht wohl sein, denn das hätte ihre
Lesbarkeit in übertriebenem Maasse erschwert ; waren sie aber aus einem
vom Grunde verschiedenen Stoffe eingelegt, oder auch in Relief, erhaben,
aufgeheftet, so ist ihre Herstellung aus dem spröden, schwer zu ver-
arbeitenden und leicht zerstörbaren Elfenbein gewiss unwahrscheinlicher
zu nennen als ihre Verfertigung aus Gold. Dies um so mehr, je mehr
sie sich dem Charakter des Ornaments näherten, und je wahrscheinlicher
man sich grade das Ornamentale in den einzelnen Bildern als aus Gold
gebildet zu denken hat.
8.
Die Technik der Bildwerke.
Wir gelangen damit überhaupt zu den technischen und artistischen
Fragen , an denen ich nicht glaube vorbeigehn zu dürfen , obwohl ich
hier doppell bescheiden aufzutreten wünsche , sintemal ich mit Pindar
sagen muss : ovx avÖQiavronoios ufit.
Die Lade ist aus Gedernholz gemacht, Xdqvai ned^ov neTioiijrcu sagt
Pausanias 17. 5. Aber wie? Die Untersuchungen über die Holzart, wie
sie sich bei Heyne und Siebeiis finden90), scheinen mir ziemlich unerheb-
lich , nicht so ganz diejenigen über die Tektonik der Lade. Wir haben
derselben eine Ausdehnung von 3 Fuss Höhe, 3 Fuss 9 Zoll Länge
90) Heyne a. a. 0. S. 9, Siebeiis Amahh. a. a. 0. S. «58.
65] Über die Lade des Kypselos. 653
und 2 Fuss 8y2 Zoll Breite gegeben; dass sie aus einem massiven Stamm
gearbeitet gewesen , wie es kleinere Kasten auch noch heute sind , ist
dabei wohl unmöglich anzunehmen. Da demgemäss wohl ein Zusammen-
fügen aus verschiedenen Brettern statuirt werden muss, über deren Zu-
sammenheften an den Enden und Kanten der Lade ich keine Conjectur
vorzutragen weiss , so fragt es sich , ob nicht in diesen der Länge nach
über einander zusammengefügten Brettern das Grundschema der ganzen
Streifenornamentik schon gegeben war, und zwar so, dass die Höhe
(Breite) je eines Brettes den Raum einer ^oopa hergab, während die Fugen
in die trennenden Ornamentleisten fielen? So mochten die xüqcu einzeln
geschnitzt und fertig gearbeitet und sodann zum Ganzen verbunden
werden.
Die Bildwerke auf der Lade nämlich waren theils von Elfenbein,
theils von Gold , einige aber auch aus dem Holze des Kastens selbst ge-
schnitzt, sagt Pausanias91). Halten wir uns genau an diesen Wortlaut,
so werden wir annehmen müssen , dass das Elfenbein und Gold in den
Bildnereien das Holz überwog; zunächst aber ist noch zu bemerken,
dass an zwei Stellen explicite noch ein vierter Stoff, wenigstens eine
vierte Farbe , nämlich Schwarz erwähnt wird ; die Nyx der 2. x®Qa hat
einen weissen Knaben (Schlaf) und einen schwarzen (Tod) in den Armen
(18. 1) und in der 4. ^capa ist (19. 3) die unter Helenas Ftisse getretene
Aethra mit einem schwarzen Gewände angethanw). Ob diese schwarzen
Theile aus Ebenholz gefertigt waren, was ich für wahrscheinlicher halten
muss , oder nur schwarz gebeizt, ist zu wissen weniger wichtig, als das
Andere , worauf leider auch keine Antwort möglich ist, ob die schwarze
Farbe auf diese beiden Stellen beschränkt oder auch sonst noch ange-
wendet war, wo Pausanias es nicht sagt. Ich gestehe, dass ich Ersteres
nicht recht glauben kann, werde mich aber wohl hüten, mit Vermuthun-
gen über weitere Anwendung der schwarzen Farbe ein unnützes Spiel
zu treiben.
Leider giebt nun aber Pausanias auch über die Anwendung der
drei anderen Materialien, des Goldes, Elfenbeins und Holzes auf die ein-
zelnen Theile der Bildwerke nur höchst unzulängliche Andeutungen. Von
9 \ ) £(j)dia Öl itiyavtoq tri avrtjg , rd dl %qvoov , ra dl xai *'£ airrfjg iativ ttQ-
yaoptva tfjg xtdgov.
92) Schubart hat hierauf S. 304 zuerst auftnerksaro gemacht.
Abhandl. d. K. S. Gesellich. d. Wiitentcb. X. 44
654 J. OVBBBBCK, [«•
dem Holze spricht er gar nicht wieder; weiss, also doch wohl aus Elfen-
bein gefertigt , nennt er den einen Knaben (Schlaf) in den Annen der
Nyx (18. I), und als golden bezeichnet er 19. 6 den Becher des lagern-
den Dionysos und 1 9. 8 die Flügel der Nereidenrosse. Das ist Alles ;
aber auch aus diesem höchst Wenigen wird sich wenigstens Einiges fol-
gern lassen. Beginnen wir mit dem Golde, so ergiebt sich aus Pausa-
nias' Erwähnung desselben, dass es auf einzelne Theile angewendet war,
und dass es unter diesen wenigstens bei dem emw/ta des Dionysos den
natürlichen Stoff wiedergab. Wenn ich nun annehme, dass dem gemäss
auch sonstige xQv<**a von Gold gefertigt waren, wie namentlich die Hals-
bänder der Eriphyle und der Alkmene, der Becher, den Zeus eben dieser
Alkmene? neben dem Halsbande darbot, ferner die Preisdreifilsse, sodann
die Hesperidenäpfel in Atlas' Hand, und etwa die Sterne auf dem von ihm
getragenen Polos oder Uranos, so fürchte ich hiergegen keinen Wider-
spruch. Aber ich frage weiter : ergiebt sich nicht aus Pausanias' Anfüh-
rungen indirect , dass nur Theile der Figuren , nicht ganze Figuren aus
Gold gefertigt waren? wie es aus den Eingangsworten Cqbiia . . . rd di
XQvoov ioriv eiQyaafieva scheinen könnte ; ist es überhaupt an-
nehmbar , dass in dieser Technik ganze Figuren mit Haut und Haar aus
Gold gefertigt waren? und wenn dies schwerlich bejaht werden wird,
ist es da nicht das bei weitem Wahrscheinlichste, dass aus Gold bestanden
1. Schmucksachen, 2. Waffen oder wenigstens Waffen theile, namentlich
Schilde, Panzer, Schwerter, oder 3. Waffenornamente« zumal Schild-
zeichen , dann aber auch Kleiderornamente besonders Säume und Ver-
brämungen, endlich 4. etwa noch Pferdezttgel, etliche Wagen, wenn
nicht alle, die Früchte an den Bäumen um den lagernden Dionysos?
Mich dünkt dies ist die rationelle und im Geiste der griechischen
Kunst gehaltene Anwendung des Goldes, das übrigens leicht verschieden,
glänzend oder matt gehalten, und dadurch noch stärker mimetisch sein
konnte ; mich dünkt aber auch , dass eine so ausgedehnte Verwendung
des Goldes Pausanias berechtigte, mit freilich nicht streng genauen» Aus-
drucke zu sagen : £<pdia . . . ra de %qvgov . . . ioriv tiQyaa/ieva* Dass
das Gold dünn ausgetrieben, atpvQrjkwrov, und dann dem Holze mit Nieten
oder Stiften aufgeheftet war, scheint mir die nächstliegende, fast unver-
meidliche Annahme.
Wir kommen zum Elfenbein. Aus diesem Stoffe war allerdings eine
ganze Figur, der Schlaf in den Armen der Nacht, allein das ist nicht eine
67] Über die Lids des Kypselos. 6Ö5
Figur wie alle anderen, sondern ein nackter Knabe, wahrend die übrigen
Figuren grösstenteils bekleidet oder gerüstet waren. Sollte sich hieraus
in Verbindung mit dem über die Verwendung des Goldes Gesagten nicht
als das Wahrscheinlichste ergeben — und nur frageweise mag ich auch
hier meine Vermuthungen aussprechen — , dass aus Elfenbein auch im
Uebrigen das Nackte hergestellt war, und zwar nicht bei allen Figuren,
sondern bei denen, welche nach Maassgabe der Vasenmalerei die nächsten
Analoga zudem Knaben bieten93), bei den Weibern nämlich? Ist es nicht
ferner nach Maassgabe derselben einzigen Analogie die wir haben , der
Vasenmalerei, anzunehmen, dass ausser den Weibern hie und da, viel-
leicht sogar in regelmässigem Wechsel mit dunkel (ans Holz) dargestell-
ten, ein Pferd94), dass ferner (wie speciell an der Frangoisvase) bauliche
Einzelheiten z. B. am Hause des Amphiaraos, an dem Tempel oder der
diesen vertretenden Säule bei Idas und Marpessa, dass die Kiine des
Odysseus und der Kirke, die vorkommenden Throne u. dgl. m. weiss,
d. h. aus Elfenbein gebildet gewesen? Für das Holz bliebe auch so
noch Manches übrig, namentlich das Nackte der Männer, manche Pferde,
die verschiedenen Hohlen u. dgl. ; allein bei dem Überwiegenden Ein-
druck des Goldes und Elfenbeins scheint das nicht zu Viel zu sein , um
Pausanias' Ausdruck zu rechtfertigen , der die aus dem Holze der Lade
selbst geschnitzten Theile zuletzt und mit ra dl %al anführt.
Mag aber Viel oder Wenig aus dem Holze des Grundes geschnitzt
gewesen sein , in jedem Falle bedingte dies die Art der Beliefbildnerei
auch für die aus Gold und Elfenbein geformten Theile. In welchem
Grade erhoben das Relief an der Kypseloslade , ob es flach oder halb-
erhoben war, denn an Hochrelief wird wohl kaum Jemand denken, kön-
nen wir nicht sagen, obgleich mir die Annahme eines flachen Reliefe,
wie wir es z. B. an der samothrakischen Platte kennen, wahrscheinlicher
vorkommt, als ein stärker erhobenes. Behaupten aber können wir, dass
wenn das Relief aus der Masse des Holzes der Lade gewonnen wurde,
schon dadurch das Stehenbleiben von Stegen und Leisten bedingt ist,
von denen die letzteren zugleich als die Standflächen der Figuren dienten.
Dass ich in dieser Ueberzeugung mit Ruhl, dem Künstler» zusammentreffe
93) Vgl. Gerhard, Auserl. Yasenbb. 3. Taf. 223.
H) z- B. die Nereidenpferde wie dasjenige des Poseidon bei Gerbard a. a. 0. 4.
Taf. 10.
44*
656 J. 0 VERBECK, [68
gereicht mir zur besonderen Genugthuung und giebt mir ein Gefühl von
Sicherheit.
Die Leisten zwischen den einzelnen Feldern focopais) aber, welche
ich als leere Flächen nicht zu denken vermag, sondern nur als mit Orna-
ment gefüllt mir vorstellen kann, dienten auch noch einem anderen wich-
tigen Zwecke , welchen ich jedoch im Zusammenhange mit meinem ge-
sammten Restaurations versuche zu entwickeln vorziehe.
9.
Rechtfertigung des Herstellungsversuchs in der beigegebenen
TafeL
Es bleibt mir nämlich nun noch übrig, meinen in der beigegebenen
Tafel gemachten Restaurationsversuch im Ganzen .und im Einzelnen zu
rechtfertigen und über die zu demselben benutzten Quellen und Vorbil-
der Rechenschaft abzulegen.
Ueber die Gestalt und die Dimensionen der Lade habe ich früher
(s. oben S. 23 ff.) mitgetheiit was ich darüber zu sagen hatte, und will hier
nicht darauf zurückkommen. Der Einfachheit der Zeichnung zu Liebe
habe ich die Lade als gradwandig behandeln lassen , wie es die kleine-
ren , allerdings nicht die grösseren Larnakes sind ; ich denke aber dass
Jeder ohne specielleren Beweis einsehn wird, dass ich an meinen Zeich-
nungen nichts Wesentliches zu ändern brauche, um sie einer Larnax mit
etwas schrägen Wänden wie etwa derjenigen des Tennes und der He-
mithea anzupassen, und dass, wenn es möglich gewesen ist, die von
Pausanias angeführten Scenen und Figuren auf einer gradwandigen
Larnax anzubringen, es nicht unmöglich sein kann, dieselben auch in den
Raum der schrägwandigsten die wir kennen, die des Thoas einzupassen.
Für die Anordnung der x™Qai hat mir hauptsächlich die Frangois-
vase und haben nächst dieser andere alte streifen- oder reihenweise ver-
zierte Vasen05) als Vorbilder gedient. So wie auf allen diesen Vasen
95) Nur als Beispiele will ich folgende Vasen anführen: bei Gerhard, Auserl.
Vasenbb 2. 95 u. 96; 405 u. 106; 127; 5. 170; 185; 220; 223; dass bei den
meisten dieser Vasen die Echtheit der Alterthümlichkeit zweifelhaft (und mehr als dies)
ist, weiss ich , das ist hier aber gleichgiltig , da in dieser Frage die Nachahmung den-
selben Werth hat, wie das Original ; echt alte Vasen, wie z. B. diejenigen von Korinth
und Capua mit den Eberjagden (Denkm. d. a. Kunst 1.18, d'Hancarville 4. 44) u. A.
69] Übeb die Lade des Kypselos. 657
die Streifen von verschiedener Breite sind, so habe ich die Streifen in
meiner Restauration der Kypseloslade von verschiedener Breite ange-
ordnet.
Ruhl hat auf eine derartige Anordnung als auf das nächstliegende
Auskunftsmittel zur Unterbringung einer verschiedenen Anzahl von Fi-
guren in mehre gleich lange Streifen verwiesen ; allein in meiner Restau-
ration ist die verschiedene Streifenbreite nicht ein Ergebniss der leidi-
gen Noth wendigkeit, sondern meiner Überzeugung, dass die Sache sich
auf dem Original so Verhielt, nicht Nothbehelf, sondern freie Wahl. Das
wird dem aufmerksamen Beobachter die Zeichnung selbst beweisen.
Allerdings m usste ich die unterste x®Qa schmaler nehmen als die zweite,
dritte und vierte, namentlich als die zweite und vierte, um die Figuren,
die Pausanias nennt, hineinzubringen , allein den zweiten , dritten und
vierten Streifen ungleich breit zu machen konnte mich kein äusserer
Zwang bewegen, diese drei Streifen in gleicher Breite vorzulegen bin ich
jeden Augenblick bereit. Und vollends, den fünften Streifen wieder so
schmal zu nehmen wie den ersten, konnte mich am wenigsten das Ver-
hältniss der Figurenzahl nöthigen, denn hier sind ja grade die wenigsten
Figuren96). Wäre die Figurenzahl ftlr die Breite der Streifen maassgebend
gewesen, so hätten die Streifen sich folgendermaassen abstufen müssen:
1 ) am schmälsten der unterste, 2) dann der vierte, 3) der zweite und am
breitesten der oberste. Das hätte aber eine überaus monströse Ornamen-
tik abgegeben.
zeigen bekanntlich genau dieselbe Erscheinung, nur waren mir hier dergleichen nicht
in grosserer Zahl zur Hand; vgl. übrigens noch Mon. d. Inst. 1. 51 und 2. 38 B., Ar-
chaeol. Zeitung 4 858 Taf. 114. 2. Auch in Vasen späterer Stilarten ist das Princip,
mit einem grösseren Hauptbilde schmalere Sockel- und Friesbilder mit Figuren ganz
■
anderer Proportionen zu verbinden noch oft nachweisbar, wenngleich die gegensei-
tigen Verhältnisse der einzelnen Bilder hier andere sind ; aus hunderten von Beispie-
len vgl. nur Gerhard a. a. 0. 2. 138 ; 1. 14, 2. 11 I ; 122 u. 123; ja dieselbe Er-
scheinung lässt sich bis in den schönen und reichen Stil verfolgen, wie, um wiederum
nur ein paar Beispiele statt vieler anzuführen, die Vasen in der Archaeol. Zeitung von
4850 Taf. 24 u. v. 4860 Taf. 139 u. 440 zeigen.
96) Ich darf wohl noch anführen, dass mein Zeichner ursprünglich den 5.
Streifen in der Breite des 2. gezeichnet hatte (ich besitze die Zeichnung noch) und
dass er erst dann auf die von mir geforderte geringe Breite herabging, als er sich
selbst überzeugte, wie ungeschickt lastend ein breiter oberster Streifen aussehe. Dass
ich aber nicht aus Zwang, sondern aus Wahl den obersten Streifen schmal habe
machen lassen, wird hierdurch gewiss bewiesen.
658 J. Ovehseck, [70
Der ornamentale Gedanke, der mich geleitet hat, \vo!>ei ich die
Anordnung der Fran$oisvase zum Vergleich 20g, soweit sich eine Vase
mit unterschiedenem Fuss und Hals und ein Kasten ohne diese Gliederung
Oberhaupt vergleichen lassen, ist dieser.
Der unterste und oberste Streifen bilden Sockel und Fries und sie
mussten aus diesem Grunde, um ihre ornamentale Idee klar auszusprechen,
am schmälsten gehalten werden. Auch an der Frangoisvase sind die
Streifen am Fuss und am Halse die schmälsten, jener nur 13/4 Zoll (in der
Zeichnung der Monumenti d. Inst., die hier ohne nach der Grösse des
Originals zu fragen benutzt werden kann, weil es sich um relative Maasse
handelt), dieser 23/s Zoll breit.
Der Hauptstreifen an der Frangoisvase dagegen . der mitteiste am
Bauche (und Halse) des Gefesses, ist 4ls/ie Zoll breit Als Hauptsireifen
aber giebt er sich abgesehn von seiner Breite dadurch zu erkennen,
dass er nur eine um den ganzen Bauch des Gefässes umlaufende Dar-
stellung, Peleus' und Thetis' Hochzeit und den Gölterzug zu derselben
enthält, während die übrigen Streifen am Gefässe selbst (ausgenommen
hievon ist der Fuss mit den Pygmaeen und Kranichen,) je zwei auf Avers
und Revers vert heilte Gegenstände enthalten. Nun findet ja etwas ganz
Aehnliches auf der Kypseloslade statt; alle %^9at enthalten eine, freilich
ungleiche, Mehrheit von Darstellungen , der unterste deren ö (nach mei-
ner Anordnung an der Vorderseite nur eine wie der Streifen am Fusse
der Frangoisvase), der zweite 12, der vierte 13, der oberste und fünfte
4 (nach meiner Anordnung auf der Vorderseite 2 , die für eine gelten
können), nur der mittelste, dritte enthält eine einzige Gesammtdarstel-
lung. Es ist das eben jene Schlacht , die Pausanias wesentlich nur als
solche anführt. Auf den ersten Blick kann es nun freilich sehr sonderbar
und grillenhaft erscheinen, wenn ich diese Darstellung, auf deren Detail
Pausanias so wenig eingeht, die mehren der neueren Bearbeiter der
Kypseloslade so fremdartig erschien , die Ruhl als einen späteren unor-
ganischen Zusatz auf die Rückseite der Lade verlegte, wenn ich diese
Darstellung für die Hauptdarstellung erkläre, und ihr ein räumlich be-
trächtliches Uebergewicht über die anderen xuiqui gebe. Allein bedenken
wir doch, dass Pausanias' kurze Behandlung einzig und allein daher
stammt, dass es ihm an einer bestimmten Erklärung des Ganzen und des
Einzelnen fehlte , dass folglich Pausanias' Behandlungsart für die that-
sächliche Bedeutung und Wichtigkeit des Gegenstandes in keiner Weise
74] Über die Lade drs Kypselos. 659
maassgebend ist , und eben so wenig oder noch weniger der Grad des
Interesses, den die moderne Forschung an dieser jf&tya genommen. Be-
denken wir ferner, dass wir in den ideellen Zusammenhang sämmtlicher
Bildnereien an der Kypseloslade noch so wenig tief eingedrungen sind,
dass es uns sehr schlecht ansteht, über die ideelle oder poetische Wich*
tigkeit der einen oder der anderen Darstellung abzusprechen. Vergessen
wir nicht, dass Pausanias' Ausspruch, diese Schlacht könne wohl die der
Pylier und Arkader bei Pheia und am Iardanosflusse (IL 7. \ 33 ff.) sein,
also ein vergleichsweise geringfügiger heroischer Gegenstand, Nichts ist,
als die Conjectur Einiger, der die Conjecturen Anderer entgegenstanden,
welche hier die Aetoler mit Oxylos und die alten Eleer erkannten , und
noch Anderer, des Pausanias selbst , welche da meinten , es könne ein
Heereszug der Vorfahren des Kypselos dargestellt sein. Es ist allerdings
von Preller97) erwiesen, dass die Geschichte, auf die Pausanias hier an-
spielt, füglich nicht so dargestellt worden sein kann, wie uns der Perieget
ahnen lässt, dass sie in der That dargestellt war. Allein, was bedeutet eine
falsche Conjectur des Pausanias? Und wenn nun Pausanias grade in die-
sem Streifen Beziehungen zu der Geschichte des erlauchten Hauses des
Kypselos sucht, lässt er nicht dadurch ahnen , dass auch ihm diese %d>Qa
wichtiger schien als die anderen ? Und wiederum , wenn alle bisher zur
Erklärung der Schlacht von den alten Interpreten vorgetragenen Ver-
muthungen irre gehn, liegt es denn so überaus fern, zu glauben, sie haben
einen viel wichtigeren etwa episch-heroischen Gegenstand nicht erkannt?
liegt es so ganz ausserhalb des Bereichs der Möglichkeit hier z. B. an
eine Hauptschlacht der Ilias zu denken, und in den avayvQOQiovvTes dXktj-
Kövs Diomedes und Glaukos zu erkennen, so dass dann um dies home-
rische Bildwerk sich die anderen epischen oder sagenhaften Scenen grup-
piren würden? Aber lassen wir das bei Seite; dass ich selbst auf solche
Möglichkeiten kein Gewicht lege, brauche ich wohl kaum zu sagen ; hal-
ten wir uns vielmehr an das unzweifelhaft Thats&chliche. Dies unzwei-
felhaft Thatsächliche aber ist, dass die dritte jfrapa einzig und allein von
einer grossen Gesammtdarstellung erfüllt war. Nun zeichne man diese wie
man will, breit oder schmal, immer und in allen Fallen wird sie gegen
die vielgetheilten anderen x&qoli sich abheben, immer sich mit ihrer
einen, langen Gesammtmasse gegenüber den Feldern und Felderchen
97) Arcbaeolog. Zeitung 1854. S. 295.
660 J. OVEBBECK, [7*
der andern Streifen auszeichnen , immer sich als eine Hauptdarstellung
fühlbar machen. Darauf gründe ich mein Recht, diesen Streifen, den ich
zeichnen konnte wie ich wollte, nach Maassgabe der Frangoisvase, als den
Hauptstreifen anzuordnen, und ihm ein raumliches Uebergewicht über alle
übrigen zu geben. Und täuscht mich mein Auge nicht, bin ich nicht zu
sehr von meiner Ueberzeugung eingenommen , so bekommt die ganze
Bildermasse durch dieses energische Hervorheben der Mitte, durch die
so entstehende Gliederung einen Halt und einen Rhythmus, der bei einer
verschiedenen Disposition wegfallen oder sehr leiden würde.
Für die Breite der zweiten und vierten jfwpa war mir wesentlich die
Frangoisvase maassgebendes Vorbild ; die untere ist hier 29/ie< die obere
23/ie Zoll breit , ähnlich verhalten sich meine zweite und vierte %f»Qa zu
einander und wiederum zum Mittelstreifen. Die vierte x&qa etwas schma-
ler zu zeichnen als die zweite bewog mich ausser dem genannten Vor-
bilde auch noch das Streben, die Gesammtornamen tirung der Lade nach
oben hin zu erleichtern. Ich glaube dadurch den schon berührten Rhyth-
mus der ganzen Fläche nach richtigen Principien der Ornamentik geglie-
dert zu haben.
Die zweite wichtige Frage in Beziehung auf die Anordnung der
Bildwerke ist die nach der Vertheilung derselben auf die Vorder- und
die beiden Nebenseiten der Lade. Bei dieser mussten zwei Rücksichten
leiten, erstens diejenige auf die Gestalt der Lade und das Verhältniss der
Breite der Seiten zu einander , und zweitens diejenige auf eine sachge-
mässe und kunstgerechte Trennung der einzelnen Bildwerke von einan-
der, wozu sich unterstützend die Wahrnehmung des Parallelismus in den
Compositionen gesellte. Pausanias erwähnt keine Ecken und sagt direct
Nichts von der Vertheilung der Bildwerke auf drei Seiten, dass diese
gleichwohl nothwendig sei, ist früher nachgewiesen ; gleichwohl hat sie
neuerdings namentlich Schubart a. a. 0. S. 313 Bedenken erregt, der
freilich mit vollem Rechte gegen Mercklin bemerkt, die Ausdrücke ££}$»
fierä di und ro änö rovrov , die Pausanias in der ersten xwqci gebraucht,
lassen sich nicht zur Begründung der Dreiseitentheorie verwenden, der
dann aber weiterhin Aufklärung darüber verlangt, wie man sich das
zweimalige Umbiegen auf andere Flächen zu denken habe? und durch
welche Mittel der Künstler es erreichte , die Einheit seiner Darstellung
anschaulich zu machen, namentlich bei der dritten xcü(mz, welche eine
einzige geschlossene Scene enthielt? Nun, wie man sich das zwei-
73] Ober die Lade des Kypselos. 661
malige Umbiegen zu denken habe , wird ihm jetzt wohl meine Tafel zei-
gen ; hier sehe ich in der That keine Schwierigkeit ; wie es aber komme,
dass Pausanias die Ecken nicht erwähnt, erklärt sich meiner Ansicht
nach leichter als manche sonstige Uebergehung bei diesem Schriftsteller,
dadurch, dass die Enden der Seiten mit den Enden von Darstellungen
zusammenfielen. Das ist nach meiner Restauration thatsächlich überall
der Fall, ausgenommen in der dritten #o>(>a, deren Darstellung ein Gan-
zes bildet. Und somit kann sich auch Schubarts zweite Frage, durch
welche Mittel der Künstler es erreichte, die Einheit seiner Darstellungen
anschaulich zu machen, nur auf die dritte %ä$a beziehn , da in den an-
deren x&qais die Darstellungen nicht einheitlich , sondern vielfältig wa-
ren. Was aber die Mittel anlangt, die Darstellung der dritten x®Qa a^s e'n
Ganzes zur Anschauung zu bringen, so giebt es deren so viele, dass man
bei der Antwort in embarras de richesse gerät h. Möge Schubart sich bei-
spielsweise einmal den Cellafries des Parthenon ansehn, der doch gewiss
ein Ganzes bildet ; nun hier ist bei dem Uebergange von der Ost- auf die
Süd- und Nordseite die Verbindung ausser durch die Continuität der Be-
wegung in einer Richtung durch die Stellung der Eckfigur hervorgehoben.
Ferner ist der Fries des Niketempels zu vergleichen, dessen beide Lang-
seiten mit der zwischen ihnen liegenden westlichen Schmalseite, wie ich
bewiesen zu haben98) glauben darf, ein Ganzes, die ideale Darstellung
der Schlacht von Plataeae, bilden. Hier ist die Einheit hauptsächlich
durch die Gegenbewegung in den beiden Langseiten und durch die
exacte Responsion in denselben bewirkt oder hervorgehoben. Weiter
vergleiche man ausser dem Friese von Phigalia die Ära Albani mit dem
iepög ya/iog")9 den bakchischen Sarkophag in den Denkm. d. a. Kunst
2. No. 422, den Hauptstreifen der Frangoisvase u. s. w. u. s. w. Hier
liegen viele Antworten auf die eine Frage.
Für die Restauration der Eypseloslade gab den Anhalt zur Verkei-
lung auf die 3 Seiten die unterste xcopa her, bei welcher im Ernst ge-
ringer Zweifel walten kann, welche ihrer Bildwerke auf die Neben-
weiches auf die Vorderseite zu versetzen sei , wenn überall die Verkei-
lung als nothwendig erkannt ist. Der aycw ml üekia bildet so sehr eine
98) Geschichte der griech. Plastik 4. S. 283, besonders aber in No. 6 meiner
kuDstgeschichtlichen Analekten in der Zeitschrift f. d. Alterth. Wissensch. v. 4 857.
99) Welcker, Alte Denkmäler 2. Taf. 4,
jmrrhlossene Emheit der Paralkftsmu« in iLm ist so srfcvf .
aber md seine Endes durch die beiden Prefericfcter n.it iirer
so bestimmt marfcirt . das» in der Thal hier Nichts ate*fcroefaen
kann, wahrend es andererseits die gegebene Einheit mntbwKg
ren beissen würde- wenn man hier noch zusetzen wölke. Eben an
gezwungen aber, wie sich der ifw rri fteJa aaf <fie Votdeitoche
nen Besä, fassen sich die vier übrigen Scenen aaf die beiden
rert heilen, auf denen sie in zwanglosester Weise, rieicteasn von
den gegebenen Raum ausfüllten.
In der zweiten £'*(** haben schon frahere Bearbeiter. Welcher,
Bronn u. A. die drei allegorischen Gruppen, mit denen
▼on dem Uebrigen abgetrennt ; mit ihnen die unke Nebenseile zn
konnte nicht angestanden werden. Dabei stellte sich frcflfch <fie Seimig-
rigkett heraus, dass erstens jede entsprechende antike Vortage fehlte, and
dass zweitens unsere moderne Phantasie nicht ausrichte, am ohne sol-
ches Vorbild die drei Gruppen so zn componiren. dass die von Amen be-
setzten Felder nicht eine gewisse Leere den andern gegenüber zeigten.
Ich habe meinerseits geglaubt, hier aaf einem Punkte durch die der Nacht
gegebenen Flöge! nachhelfen zn dürfen, die ja antik belegbar sind10* ;
aber, will man sie mir anfechten, so bin ich der Letzte, zn behaupten,
sie seien nicht ein Nothbehelf Will man aber aas dem Umstand , dass
mir ond meinem Zeichner aaf diesem Pankte eine ganz gleichförmige
Erftiflcmg des gegebenen and geforderten Raumes nicht gehingen ist,
Waffen gegen mich schmieden , so will ich Niemandem dies Vergnügen
stören ; glaubt man durch solche Schwachen meiner Bestaoration , die
wesentlich ich Nichtkünstler habe machen müssen , meine ganze Arbeit
in ihren in dieser Abhandlung dargelegten Principien timstossen zu kön-
nen, so versuche man es !
Für den Rest der Darstellungen in dieser jw(x* gab der Paralleüs-
mds der Compositionen das Kriterium der Veitheilung auf die Vorder-
und die rechte Nebenseite ab. Dass Apollon mit den Musen von der
Sceue mit lason und Medeia noth wendig getrennt werden müsse, hat
Schubart erwiesen (s. oben S. 51); aus diesen beiden Scenen konnte
also ein Mittelbild nicht gemacht werden, folglich blieben neun Vorstel-
100) Euripid. Orest» 176. nhna Au£, vnvodoTapn pike ttut&irtpo? c€t. ;
Aristoph. Av. (ed. Dind.) 695 tixth ... Ni$ lulavimqfog yo*.
75] Ober die Lade des Kypselos. 663
lungen übrig. Unter diesen boten nun aber zwei mehr als alle anderen
einen stricten Parallelismus : Idas die Marpessa und Enyalios die Aphro-
dite an der Hand führend ; war die erstere dieser Scenen die erste links
auf der Vorderseite, so musste die zweite die letzte rechts sein. Thetis und
Peleus und Perseus mit den Gorgonen fielen der Nebenseite zu. Von
den übrigen Scenen bilden Zeus und Alkmene links , Herakles und Atlas
rechts eine gute, räumlich genaue Parallele ; nicht ganz so günstig wir-
ken Menelaos und Helena links und Apollon und die Musen rechts , ob-
wohl auch diese Bilder raumlich einander genau aufheben. Aber Ittugnett
l&sst sich nicht, dass das Feld rechts dichter angefüllt ist, folglich schwe-
rer fllr das Auge wiegt, als dasjenige links. Macht's besser! Endlich
bleibt die Scene übrig, von der es im beigeschriebenen Verse heisst :
M^dnav *Iaomv ya^ht HeXerat «T 'sfq>(>odita,
bei der also die Namen den einzelnen Personen nicht beigeschrieben
gewesen sind. Nun lässt freilich Pausanias Medeia thronen, Aphrodite zu
ihrer Linken, Iason zur Rechten stehn ; allein mein Zeichner behauptete,
das könne er nicht machen , damit den Inhalt des Verses nicht aus-
drücken, sondern nur, indem er Aphrodite auf den Thron setzte und sie
das Brautpaar zusammengeben Hesse. Was sollte ich dagegen machen?
Vielleicht kommt uns hier Ruhl mit einer besseren Zeichnung zu Hilfe.
Peleus und Thetis und Perseus mit den Gorgonen , beide nach an-
tiken Vorlagen gezeichnet (s. unten), füllen die rechte Nebenseite bequem
und wie mir scheint, kunstgerecht. Sollte man mir sagen, Pausanias er-
wähne die Athene und den Hermes in der Scene mit Peröeus und den
Gorgonen nicht, so antworte ich , dass diese Götter in den alten Vasen
mit dieser Scene so überwiegend häufig anwesend sind, dass dabei ihre
Anwesenheit durch den Mythus so wohl motivirt ist, dass ich glaube, sie
seien auch an der Eypseloslade dabei gewesen, ohne dass Pausanias sie
der Gewöhnlichkeit der Erscheinung wegen zu nennen brauchte. Wer mir
das bestreitet , dem will ich mit Vergnügen eine andere Zeichnung vor-
legen, wo sie fehlen, und welche gleichwohl den Raum eben so gut erfüllt,
wie die von mir gegebene. Denn Figuren , namentlich Gorgonen dies66
Stils sind dehnbar.
Für die vierte %wqu ist schon von Anderen (besonders Brunn) der
Parallelismus zwischen folgenden Scenen :
links Theseus und Ariadne, rechts Aias und Kassandra,
links Achill u. Memnon u. d. Mütter, rechte Parisurteil
664 J. OvERBECK, [76
links Meilanion und Atalante, rechts Artemis mit Panther u. Löwe
links Hektor und Aias, rechts Eoon und Agamemnon,
hervorgehoben worden , welche in ihrer Mitte das Bild der Dioskuren,
Helena und Aethra Übrig lassen , welches namentlich dann , wie Brunn
bemerkt bat, sein räumliches Uebergewicht fühlbar macht, wenn man den
Dioskuren ihre Rosse beigegeben denkt.
Ich habe an diesem von Brunn entworfenen und im Einzelnen,
auch in der nöthigen Umstellung der Artemis und des Parisurteils, mo-
tivirten Schema der Responsion nicht zweifeln können , um so weniger,
je kräftiger und klarer dasselbe in der Zeichnung hervortrat. Indem ich
also mit diesen Scenen die Vorderseite füllte, blieb mir für die Neben-
seite links : Boreas und Oreithyia , Herakles und Geryon , für diejenige
rechts : Eteokles und Polyneikes und der unter Bäumen in einer Höhle
gelagerte Dionysos , Scenen , von denen wenigstens für die erste und
letzte die Nichtresponsion unbedingt gewiss ist. Hier bin ich denn frei-
lich in dem Kampfe des Herakles mit Geryon genöthigt gewesen, nach
Maassgabe des Yasengemäldes in Gerhards Auserlesenen Vasenbildern
2 Taf. 105 und 106 die Ochsen des Gervon zuzusetzen, welche Pausa-
nias nicht nennt, um die Länge des Streifens zu füllen ; allein ich habe
das mit ziemlich ruhigem Gewissen gethan, da einerseits die Nichter-
wähnung der Ochsen nicht die schlimmste Auslassung bei Pausanias ist,
und da andererseits die Ochsen derart obligat zu Geryon und zu Hera-
kles' Kampf gegen Geryon gehören 101), dass sie in künstlerischer Dar-
stellung des letzteren eigentlich nur da ausgelassen werden dürfen , wo
der Raum ihre Anbringung nicht gestattete. Der Hirt Eurytion und der
Hund Orthros, die ich übrigens für den Raum nicht nöthig hatte, gehö-
ren mit zu den Ochsen ; dass freilich Athene anwesend ist, wie auf dem
Vasenbilde, das uns als Vorlage diente, und das wir möglichst treu copirt
haben, mag gegen Pausanias' Zeugniss sein, der sie hier wohl nicht
unerwähnt gelassen hätte. Will sie mir Jemand positiv abstreiten, so
rücke ich die Ochsen weiter aus einander, und es ist Alles wieder in
Ordnung.
Zu dem in einer Höhle unter Bäumen gelagerten Dionysos auf dem
anderen Ende der %diQa habe ich nur dies zu bemerken. Dass Pausanias
angiebt, die Bäume seien Apfelbäume, Granatbäume und Reben, beweist,
4 04) Vergl. Prellers Griech. Mythol. ältere Ausgabe *, S. 4 42 und 4 46 f.
7?] Über die Lade des Eypselos. 665
dass sie mit einer gewissen Ausführlichkeit, wenn auch noch so sehr
stilisirt behandelt waren ; ich glaube , dass mir dies ein Recht gab , sie
so zeichnen zu lassen, wie ich es gethan habe; ohne Weiteres brauchbare
Vorbilder gingen uns dabei freilich ab, die Art aber, wie Baume z. B. in
folgenden alten Vasen mit schwarzen Figuren behandelt sind : Gerhard,
Auserl. Vasenbilder Taf. 132 und 133, Mon. d. Inst. 2. 44. A., dazu die
Zeichnung der Baumzweige in den Händen der Kentauren auf der Fran-
Coisvase begründeten weiter das Recht meiner Zeichnung, in welcher
ich soviel thunlich jenen ornamentalen Charakter bewahren zu lassen
suchte, den die oft wiederkehrenden Zweige in namentlich bakchischen
Vasengemaiden des alten Stils haben.
Auch für die oberste %<b(>a ergab sich die Eintheilung ziemlich von
selbst ; denn hier, wie es vor mir von Anderen gethan ist , je eine der
vier Darstellungen , links Herakles und die Kentauren , rechts Odysseus
mit Kirke und den Dienerinnen auf die Nebenseiten zu setzen , dürfte
ohne weitere Begründung gerechtfertigt sein. Auch entsprechen sich
diese Darstellungen entschieden nicht.
Für die Scene mit Odysseus und Kirke waren wir, Pausanias'
Winke in Betreff der Dienerinnen (1 9. 7 reaca^s re yaQ eictv ai ywaU
%€Q nal &QYa£ovrai rd egya ä iv roig tTteoip'O/^tj^og eiQijKev) folgend, auf
die Odyssee angewiesen, und haben versucht in dem einmal angenom-
menen Stil zu zeichnen, was Homer Od. 10. 348 — 359 berichtet.
Für die Ausdehnung der Scene des Kentaurenkampfes gab Pausa-
nias' Bemerkung, dass einige der Kentauren bereits getödtet seien (rovg
de £f avrwv dnemovora), die vollkommene Berechtigung her ; denn wenn
einige getödtet sind, ist es höchst unwahrscheinlich, dass nicht noch
mehre andere am Leben sein sollten. Hatten wir uns die Scene in's Enge
gezogen zu denken, so würde ein getödteter Kentaur hingereicht haben,
um auszudrücken, was ausgedrückt werden sollte. Dass ich die Scene
bei Pholos gewählt habe , ist allerdings Willkür , mich veranlasste dazu
ein Wink oder eine Vermuthung Brunns m) ; für die Erfüllung des Rau-
mes war das gleichgiltig, ein galoppirender Kentaur mehr hätte mir die-
selben Dienste gethan.
Für die beiden Bilder der Vorderseite habe ich ohne besondere
Vorlage aus Pausanias' Worten zu machen gesucht was sich machen
102) Rhein. Mus. a. a. 0. S. 339.
666 J. Qvkrbeck, [78
liess, und mich dabei so streng wie möglich an den Text gebunden.
Bequemer wäre es gewesen , der Nausikaa noch ein paar Dienerinnen
zu Fusse beizugeben, die sich» wie schon Welcker103) bemerkt hat, ans
Homers Berichte (Od. 6. 84) entnehmen Hessen; da sie aber Pausa-
oks nicht nennt, glaubte ich besser sie weglassen zu müssen. Dass ich
dafür des Hephaestos Werkstatt mit Gussofen und Ambos ausgestattet
und dadurch charakterisirt habe, wird man mir hoffentlich verzeihen;
zu erwähnen brauchte Pausanias diese hier ganz natürlichen Parerga am
wenigsten.
Hier dürfte es nun auch am Orte sein noch ein Wort über die Or-
namentleisten zu sagen, durch welche ich die einzelnen Felder trennen
zu müssen geglaubt habe. Warum dieselben technisch nothwendig seien,
habe ich schon früher (S. 67) angedeutet, sie haben aber weiter den
wichtigen Zweck, in ihrer gteichmüssigen und ununterbrochenen Er-
streckung über alle drei Seiten der Lade die sämtlichen Bildnereien
jeder zwischenliegenden x<ä$a in Eins zusammenzufassen. Ich habe des-
halb für dieselben Ornamentschemata ausgesucht, welche, wie die Wellen-
reihe, die Maeandertaenie , das geflochtene Band u. s. w. ein ununter-
brochenes Fortlaufen und Zusammenhalten darstellen. Diese Ornament-
blinder, welche die Längendimension energisch hervorheben, begründen
zugleich, dass und warum die Kypseloslade an den Ecken aufstrebende
Pfeiler oder aufrechte Ränder, oder eine jede Seite abschliessende Um-
rahmung nicht gehabt habe, wie sie die Thoas- Tennes- und Danaälar-
nax und mehre der kleineren Kasten, nicht alle (s. S. 24. No. 3 u. 6) zeigen.
Die schon angeführten Tempelfriese, Altarreliefe und Vasenbüder bieten
eine ganz analoge Erscheinung , welche , das werden mir Sachverstän-
dige wohl zugestebn, auf einem eben so richtigen wie notwendigen
tektonischen und ornamentalen Princip beruht.
Ehe ich mich nun zu einer Nachweisung der zu den einzelnen Bil-
dern gebrauchten Vorbilder und dazu wende , die Bilder meiner Tafel
mit noch einigen Bemerkungen zu begleiten , seien mir ein paar Worte
über den Stil erlaubt, in den» ich die Darstellungen halten zu müssen
glaubte.
Wir haben fast durchgängig naoh Vasenbildern des ältesten Stils
gearbeitet, denn in altem Stil mwete die Sache gehalten werden. Das
103) Zeitscbr. für a. Kunst a. a. 0. S. 54*.
79] Über die Laue »es Kypselos. 667
ist keine blosse Spielerei. Allerdings sagt Welcker104) »bei der (etwa ein-
mal vorzunehmenden) Ausführung mUsste der Künstler gänzlich darauf
verzichten, auch nur die ungefährste Vorstellung von dem Stil eines
höheren Alterthums geben zu wollen«. Wohl habe ich diesen Ausspruch
einer so grossen und von mir so hoch verehrten Autorität lange bin und
her erwogen, endlich aber bin ich zu der UeherzeugUQg gelangt, dass es
unmöglich sei, sich ihm zu unterwerfen. Denn es ist eine unbestreitbare
Thatsacbe, dass Vieles, ja das Meiste» was in einer Stilart vollkommen
möglich, in einer anderen Stilart eben so unmöglich sei« Und das gilt
hier nicht minder, als bei den mancherlei künstlerischen Herstellungs-
versuchen des homerischen und des besiodischen Schildes; es ist ihrer
keine auch nur halbwegs gelungen, und es konnte keine gelingen, weil
mm immer an dem Stil der besten , resp. der späteren Epoche für die
Figuren und Gruppen festgehalten hat. Dass die Kypseloslade sich im
alten Stil herstellen lasse, hoffe ich gezeigt zu haben , dass sie sich im
Stil der späteren Zeit, dem alle jene Naive tat der ältesten Kunst abgeht,
nun und nimmermehr wird herstellen lassen , ist meine wohlerwogene
Ueberzeugung.
Wie Welcker zu seinem Ausspruch gekommen ist, scheint mir ziem-
lich klar vorzuliegen, durch eine ganz berechtigte Polemik nämlich gegen
die Verfratzung eines angeblich alten Stils in dem Restaurationsversucbe
bei Quatremere de Quincy und gegen die irrigen und widerwärtigen
Ansichten, welche dieser über den ältesten Stil der griechischen Kunst
ausspricht. Quatremere de Quincy erhob den Anspruch,^ mit seinen ver-
zerrten Figuren wenigstens einigermaßen den wirklichen Stil der Bild-
nereien an der Kypseloslade seinen Lesern vor die Augen zu stellen.
Ein ähnliches Streben liegt mir fern ; die Figuren an der Kypseloslade
sind meiner Ansicht nach noch ungleich altertümlicher gewesen, als die-
jenigen in meiner Restauration; den wirklichen Stil der Kypseloslade
darzustellen hätten vielleicht die ältesten Zeichnungen der s. g. orienta-
Ksirenden Vasen nicht ausgereicht. Nicht also, um zugleich ein Bild vom
4 01) Zeitschr. für alte Kunst S. 550. In seiner Abhandlung über Polygnot (Bert.
Akad. 4 848) S. 7 spricht W. gegenüber den Zeichnungen von Riepenheusen etwas
andere über den Stil Polygnots, wie er auch für diese Zeichnungen wünschenswert!*
gewesen sein möchte. Nur seien die Künstler noch nicht über den Standpunkt der
Uebersetzer früherer Zeit hinaus, die es nicht lassen konnten, ihren eigenen Geist und
Geschmack in die Nachbildung zu legen.
668 J. Overbbck, [80
Stil des Kypseloskastens zu geben, habe ich die Figuren so viel thunlich
im Stil der Frangoisvase zeichnen lassen, sondern um mir in dem Fest-
halten an den Freiheiten und Naivetaten dieses Stils die Möglichkeit der
Restauration dieser Compositionen zu schaffen.
Auch dass ich in die Zeichnung die Inschriften wirklich und nicht
blos scheinbar in stellvertretenden Kritzeleien eingetragen habe, ist keine
Spielerei, sondern hat den mehrfachen Zweck, erstens zu zeigen, dass
auch für diese noch Raum sei, und zweitens, dass und wie sie zur Raum-
erfüllung mit beitragen, drittens, zu vergegenwärtigen, wo sie sich nach
meiner oben S. 60 ff. entwickelten Ansicht befanden, wo nicht, was na-
mentlich der Mercklin'schen Theorie gegenüber nicht so ganz gleicbgil-
tig sein dürfte. Auch dass ich die Inschriften in einem alten Alphabet, dem
ältesten auf Yasen vorkommenden, welches dem eigentümlich korin-
thisch-kerkyraeischen entspricht 105), geschrieben habe, ist nicht nur zum
Scherz geschehn, sondern mit deswegen, weil spätere Schrift den Raum
anders füllt als diese frühe. Auf dialektologische Conjecturen, wie etwa
rccQvFovag, FiokaFoe für rtjQvovtjg, 'lokaog glaubte ich mich dagegen
nicht einlassen zu sollen.
Es bleibt mir jetzt schliesslich noch übrig , einige Worte über die
als Vorbilder meiner Zeichnungen gebrauchten Monumente und über die
Art ihrer Benutzung gegenüber dem Texte des Pausanias zu sagen.
Wesentlich erleichtert wurde die Auswahl durch die schöne Zusammen-
stellung von Parallelbildwerken, mit denen Jahn in seinen Archaeol.
Aufsätzen S. 6 ff. die Besprechung der Bilder auf der Kypseloslade be-
gleitet bat, andererseits stellte mir die Lückenhaftigkeit unserer Univer-
sitätsbibliothek , von der nicht oft genug öffentlich gesprochen werden
kann, wieder Schwierigkeiten in den Weg, da mir mehr als ein von Jahn
angeführtes Buch unzugänglich blieb.
Erstes Feld.
\. Oinomaos, Pelops verfolgend. Eine brauchbare directe
Vorlage eben dieses Gegenstandes fehlte, war aber auch entbehrlich , da
rasch fahrende Wagen in dem gesuchten Stil nicht selten sind. Für die
Flügelrosse des Pelops wurde das veliterraner Relief Museo Borbon. tom.
1 0. tav. 1 \ und das Vasenbild bei Gerhard, Auserl. Vasenbb. 1 . Taf. \ 0. be-
nutzt ; dieselben für die Flügelrosse der Nereiden in der fünften gcopa.
4 06) Jahn, Einleitung in den münchener Vasenkatalog S. CXLVII.
84] Über die Lade des Kypselos. 669
2. Amphiaraos' Ausfahrt. Für die gesammte Vorstellung
wurde das schon von Jahn (a. a. 0. S. 7. vgl. S. 154 ff.) als schlagende
Parallele angeführte Vasengemftlde bei Micali, Pltalia av. il dorn. d. Rom.
tav. 95 (wiederholt in m. Gall. heroischer Bildww. Taf. 3. No. 5) be=^
nutzt ; für des Amphiaraos oixia bot das Stadtthor von Troia und das
Thetideion auf der Frangoisvase (Mon. d. Inst. 4. tav. 54. 55) die Muster;
zu der Amme mit dem kleinen Amphilochos wurden mehre Vasen (Ger-
hard A. V. 1 . 55, 56, m. Gall. Taf. 3. No. 6) verglichen.
3. Leichenspiele des Pelias. Hier will ich vor allen Dingen
bemerken, dass ich nach meiner feststehenden Ueberzeugung , die bei
Pausanias (17. 9) genannten Öetö/uwor rovg ayaviorag seien keine An-
deren, als Herakles, Akastos und die Peliastöchter, allenfalls noch die
Flötenspieler106), mir gar nicht die Mühe habe geben wollen, noch wei-
tere Zuschauer anzubringen 107)^ Für den thronenden Herakles fehlte das
Vorbild; Akastos, die Peliastöchter nebst den Preisdreifilssen wurden
nach Figuren der Fran$oisvase gezeichnet. Zu den Kämpfern , nament-
lich den Wettläufern , Ringern , Faustkämpfern und dem Diskobol sind
allbekannte und in populäre Sammelwerke108) übergegangene panathe-
naeische Vasen benutzt worden. Für die Zweigespanne aber, welche in
den gleichen Raum hineinzuzeichnen waren, den die fünf Wettläufer ein-
nehmen, musste ein anderes Vorbild gesucht werden. Denn, wenn Ruhl
(s. oben S. 22) behauptet halte, fünf Wettläufer liessen sich wohl in Ma-
lerei, nicht aber im Relief so darstellen , dass sie nicht viel mehr Raum
einnähmen, als ihrer zwei, wie viel mehr würde das von fünf rennenden
Zweigespannen gelten, wenn es überhaupt richtig wäre , was es nicht
ist. Allein mit einem gemalten Vorbilde durfte ich hier doch nicht kom-
men, wenn ich nicht unfruchtbaren Widerspruch und lange Debatten
hervorrufen wollte; denn allerdings konnte ich nur durch ein starkes
Zusammenrücken der Gespanne meinen Zweck erreichen, die fünf Zwei-
gespanne die fünf Läufer auf der anderen Seite aufwiegend darzustellen.
106) Schon Brunn Rhein. Mus. a. a. 0. S. 335 stellt eine solche Ansicht, aller-
dings nur als Alternative hin.
4 07) Die vonO. Jahn a. a. 0. S. 7. Note 9 und früher schon vom Herzog v. Luy-
nes (Nouv. Ann. 2. S. 262) mit dieser Vorstellung verglichene Vase in Inghirami,
Vasi fittili tav. 301 ff. war mir unzugänglich.
1 08) Panofka, Bilder antiken Lebens Taf. 2. No. 1,3,4,7, Krause, Agonistik und
Gymnastik Taf. 6. Fig. 14, T. 11. F. 33, T.12.F. 34, Taf. 13. F. 47, T. 22. F. 68 u. 59.
Abhandl. d. K. 8. Geielbch. d. Witfeueh. X. 46
670 h Oveubce, !*
Das ist natürlich ohne viele und starke Uebergcbneidnngen nicht möglich,
und diese hätte man mir für die Reliefe der Kypseloslade bestreiten kön-
nen, wenn ich eine gemalte Vorlage gebraucht hätte ; ob man es zock
jetzt thun wird, wo ich nach Relief habe zeichnen und nicht eine einzige
Ueberschneidung mehr habe anbringen lassen, als die meine Vorlage bot,
will ich abwarten. Als Vorlage aber dienten die schon angeführten alten
Thonreliefe von Velletri, Mus. Borbon. tomo 40. tav. 10 u. 12 "•); freilich
keine griechische Arbeiten und nicht so alt wie die Kypseloslade, aber,
und das ist jedenfalls die Hauptsache, Reliefe. Die Art, wie die Wed-
fahrer, bis auf den weiter vorgerückten Sieger , zu je zwei näher zu-
sammengruppirt sind, entspricht, glaube ich , einer Andeutung des Pau-
sanias, der je zwei und zwei Namen zusammen nennt, nicht weil die
Kämpfer, wie Welcker (a. a. 0. S. 537 f.) annahm und schon Jahn (a. a.
0. Note 1 0) widerlegt hat , je paarweise auf einem Gespanne standen,
sondern weil ihre Gespanne sich paarweise am nächsten waren.
4. Herakles und die Hydra. Ueber die Zuziehung des Ioiaos
zu dieser Scene anstatt zum aytov inl /lekict ist oben S. 33 f. zur Genüge
gehandelt ; nur den einen Zusatz will ich hier noch machen , dass Pao-
sanias' Irrthum wohl auch dadurch begünstigt wurde , dass sich an der
Kante des Kastens, also zwischen beiden Scenen, wie ich sie unter-
scheide, hier so wenig wie in den folgenden £a>(Mut eine Trennungsleiste
vorfand. Als Vorlage dienten die Vasen Mon. d. Inst. 3. 46, Gerhard,
A. V. 2. Taf. 95 ta. 112, doch glaubte ich die Hydra etwas vereinfachen
zu müssen. Die Worte des Pausanias : ttjv vöqqlp, tö h t$ wnafui tjj
'sä/ivfuorri &tj()iop halte ich nur fUr eine mythologische Notiz, nicht für
eine Hindeutung auf die Anwesenheit einer Amymone*
5. Phineus mit Boreaden und Harpyien. Eine im Stil
brauchbare Vorlage fehlte; benutzt wurden die Vasen Millingen Anc.
uned. monum. 1.15 und Mon. d. Inst. 3. 49 ; für die Harpyien das Mo-
nument von Xantbos, ohne dass ich damit behaupten will, die Harpyien
der Kypseloslade seien in der That entsprechend gebildet gewesen ; nur
waren die sonst zur Verfügung stehenden zu neu im Stil, und wir wuss-
ten uns mit den Gewändern nicht zu helfen 110).
409) Vergl. ferner die alte Bronzevase von Caput, Mon. d. in*. 5. Tav. 95.
HO) Ob ich in der Beischrift den Harpyien nicht die Eigennamen Okypete und
▲ello hätte geben aollen, darüber will ich nicht streiten.
83] Über die Lade des Ktpselos. 671
Zweites Feld.
1. 2. 3. Nyx mit Thanatos und Hypnos; Dike u. Adikia;
die Pharmakiden. Dass wir hier componiren mussten, ist schon
oben S. 74 gesagt, wo auch über den Nothbehelf mit den Flügeln der
Nyx gesprochen worden. Als Muster der Flügel dienten die der Eos in
der alten Vase bei Millingen Anc. uned. mon. 1 . pl. 5. Auf die dieorQafi-
fiivoi nodeg (Paus. 18. 1 .) habe ich mich in der Zeichnung nicht ein-
lassen mögen.
4. Idas und Marpessa. Für diese Scene wie für die ent-
sprechende 10. Enyalios und Aphrodite wurde die gewöhnlich
als Menelaos und Helena erklärte Vase bei Gerhard, A. V. 3. 169. (m.
Gall. 12. 4) mit den nothwendigen Veränderungen benutzt. Für den
Tempel bei Idas und Marpessa schien mir eine Säule vollkommen hinzu-
reichen, um so mehr, als Pausanias nicht wie beim Hause des Amphia-
raos sagt nmoltjrai wog, sondern der Tempel nur in dem beigeschrie-
benen Verse vorkommt. Ja ich glaube , dass ich hiernach berechtigt ge-
wesen wäre, auch die Säule wegzulassen, doch schien sie mir das
Gleichgewicht nicht zu stören.
5. Zeus und Alkmene waren nach Figuren der Frangoisvase zu
componiren.
6. Menelaos und Helena. Für diese Scene liegen zweierlei
Darstellungen in Vasen vor, eine jüngere (m. Gall. 26. 4, 11, 12. vgl.
S. 360 f.) und eine ältere (das. No. 3 vgl. S. 626 f.). Ich zweifelte nicht,
die letztere vorziehn zu sollen , um so weniger , da sie Pausanias' Wor-
ten: Mev&aoc, . . . e%^v £i(pog ineiaiv 'EXemjv anomelvou genauer
entspricht , als die jüngere (auf Lescbes zurückzuführende) , wo er das
Schwert fallen lässt und die fliehende Helena verfolgt.
7. Iason und Medeia mit Aphrodite, musste componirt
werden; über die Art, wie es geschehen ist s. oben S. 75.
8. A pol Ion und die Musen. Nach Figuren der Frangoisvase
und Gerhard, A. V. 1 . Taf. 1 3. Dass nur drei Musen angenommen wur-
den, was der Responsion wegen nothwendig war, ist schon von Andern,
und zwar der Mehrzahl derer , die über die Sache gehandelt haben m),
4 4 4) Welcker S. 544 (unentschieden, eher für 9 Musen), Jahn Arch. Aufss. S. 4 0
Note 46 (drei wahrscheinlicher), Bergk, Archaeol. Zeitung 4845. S. 470. Note H,
Allg. Hall. Ltt. Ztg. 4 847. S. 4 193.
45»
672 J. OVBRBECE, [H4
vertheidigt112). Dass die Musen als singende (qdovacu) keine Instrumente
gehabt haben, hat Jahn (a. a. 0. S. 10. Note 18) bemerkt; seine Vor-
stellung, dieselben haben sich bei den Händen fassend im Tanzschritt
bewegt , ist ansprechend . aber nicht zwingend ; auch dass meine Musen
den Apollon nicht im strengen Wortsinn umgeben glaube ich dadurch
rechtfertigen zu können, dass das d/ucp airov nur in dem beigeschriebe-
nen Verse steht, während Pausanias nur nach einander aufzählt (1 8. 4) :
nanoirjVTcu di xai qdovocu Movocci xal ylnokXwv G%d(>%t0V rfjc (pdrjg was
eher ein Gegenüber voraussetzen lässt.
9. Atlas und Herakles. Für den Atlas glaubte ich von dem
sehr altertümlichen Sisyphos oder Tantalos in Gerhards A. V. 2. Taf.
86. Gebrauch machen zu dürfen. Für den Herakles lagen verschiedene
Muster vor.
10. Enyalios und Aphrodite s. oben zu 4.
11. Peleus und Thetis. Verschiedene Vasen in m. Gall. Taf. 7,
besonders No. 3, 5 u. 6 dienten als Vorlagen.
12. Perseus und die Gorgonen wurde nach mehren Vasen-
bildern, namentlich nach Ann. d. Inst. 1S51 tav. d'agg. P. und Gerhards
A. V. 3 Taf. 216 gezeichnet; über die Zuftigung von Athene und Her-
mes s. oben S. 75.
Drittes Feld.
Um die Schlacht in ihren verschiedenen Scenen nicht zu modern
zu erfinden hielten wir uns an folgende schwarzfigurige Vasen : Gerhard,
A. V. Taf. 138, 5, 190 u. 191, 130, 227, 225, Mon. d. Inst. 1. tav. 51.
(m. Gall. 23. 1.) und m. Gall. 18. 2. Dass der Stil der Figuren nicht
durchweg homogen sei weiss ich am besten.
Viertes Feld.
1. Boreas und Oreithyia. Der schlangen Rissige Boreas ist
dem Eypseloskasten eigenthümlich, aber nicht blos für diesen Punkt,
sondern ftir die ganze Gestalt fehlte die archaische Vorlage, sie musste
1 14) Wenn Schubart (a. a. O. S. 304) behauptet, auf die mythologische Ansicht
des Eumelos über die Zahl der Musen sei hier Nichts zu geben, so stimme ich ihm bei,
wenn er aber behauptet , Eumelos widerspreche sich selbst in diesem Betracht in den
Fragmenten 15 u. 16 (Marksch. S. 405), so muss doch bemerkt werden, dass Bergk
(Archaeol. Zeitung v. 1845 S. 170 Note 12) das eine Fragment mit den 9 Musen des
Dialekts wegen für unecht erklärt hat.
85] Über dir Lade des Etpselos. 673
also erfunden werden, wobei aus den Vasen des schönen Stils mit diesem
Gegenstande nur die gesträubten Haare entnommen wurden. Für die
Grösse der Schlangenbeine wurde die Vase bei Gerhard, Auserl. Vasenbb.
3. Taf. 237 benutzt. Die Oreithyia ist nach der Polyxena der Frangois-
vase gezeichnet.
Möglich, dass Pausanias' Worte (19. 1) Bo^mg iorlv tj^nawog 'Jl.
eine andere Gruppirung andeuten , doch wusste ich eine solche nicht im
Sinne des gewählten Stils anzugeben.
2. Herakles und Geryon. Nach Gerhard, Auserl. Vasenbb. 2.
Taf. 1 05 u. 106; für die Rinder s. auch Mon. d. Inst. 5. 25. ; vgl. oben
S. 76.
3. TheseusundAriadne; nach der Frangoisvase, Mon. d. Inst.
4 lav. 56. 57, oberster Streifen.
4. Achill eus und Memnon. Nach den Vasen bei Gerhard a. a.
0. 2. Taf. 117 u. 118, 130, m. Gall. Taf. 22. No. 3.
5. Meilanion und Atalante, M. nach Figuren der Frangoisvase,
A. unter Berücksichtigung der Artemis an dem korinthischen Peristomion.
6. Aias und Hektor, nach Vasen mit Zweikämpfen.
1 7. Dioskuren mit Helena und Aethra; die Dioskuren nach
Mon. d. Inst. 2. 22; Helena und Aethra waren zu componiren.
8. Koon und Agamemnon, nach Gerh. a. a. 0. 3. Taf. 192.
9. Artemis nach der Frangoisvase, Mon. d. Inst. 4. tav. 58.
10. Parisurteil, nach den Vasen in m. Gall. Taf. 9. Fig. 4. 6. 7.
lieber die Anwesenheit des Paris habe ich nach Maassgabe der Worte
'slXei&vdQfp delxrvGi (1 9. 5) keinen Zweifel.
11. Aias und Kassandra, nach der ältesten vorliegenden Vase
in Gerhards Etrusk. u. Campan. Vasenbb. Taf. 22.
12. Eteokles u. Polyneikes, nach Gerhard, Auserl. Vasenbb«
2. 123, die Ker nach Mon. d. Inst. 3. 24.
13. Dionysos. Für den liegenden Gott wurde der Herakles bei
Gerhard, Auserl. Vasenbb. 2. Taf. 108 benutzt; auch für die ihn zunächst
umgebenden Reben gab diese Tafel das Vorbild ; für die beiden anderen
Baume wurden diejenigen bei Gerhard a. a. 0. Taf. 1 5, 98, 1 32 u. 1 33
ferner Mon. d. Inst. 1. 7, 2, 44. A., 6. 19, Archaeol. Zeitung 1863 Taf.
1 75 benutzt, wobei wir bestrebt waren, der gemalten Darstellung gegen-
über eine solche zu geben, die als in Holz geschnitzt gelten darf. Uebri-
gens vergl. oben S. 77.
674 J. OVBRBBCK, DIE LaDE DES KyPSELOS. [86
Fünftes Feld.
1. Odysseus bei Kirke. Vgl. oben S. 77. Für die einzelnen
Figuren hielten wir uns an die Francoisvase ; die lange Kline wird durch
Bilder wie z. B. Panofka Bilder ant. Lebens Taf. 12. No. 1. zu recht-
fertigen sein. Den Schemel fügten wir nach der alten Vase in m. Gall.
Taf. 3. No« 4. bei; vergl. auch Mon. d. Inst. Vol. 5. tav. 33.
2. Waffenttbergabe an Thetis. Gheiron nach bekannten
Mustern, wie Gerhard, Auserl. Vasenbb. 3. 119, 120, 183, 227 u. dg!.
Ueber die Nereidengespanne s. oben S. 80, Thetis, Hephaestos, der
Schmiedegesell oomponirt, der Ofen nach der in Welckers Trilogie Pro-
metheus zu S. 261 mitgetheilten alten Vase und der bekannten Schale
mit der Erzgiesserei in Berlin, Gerhard, Trinkschalen Taf. 12. 13. Er
vertritt hier zugleich die Scheidung der Scenen, weswegen hier die
Trennungsleiste weggelassen wurde.
3. Nausikaa. Theils nach Gerhard, Auserl. Vasenbb. 3. Taf. 217,
thetis nach Panofka, Bilder ant. Lebens Taf. 17. No. 2.
4. Herakles und die Kentauren. Nach der Fran$oisvase und
nach Gerhard, Auserl. Vasenbb. 2. Taf. 119 u. 120. Vgl. oben S. 77.
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