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Full text of "Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse"

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ABHANDLUNGEN 


ZEHNTER  BAND. 


DRUOK    VON    BREITKOPF    UND   HA R TEL   IN    LEIPZIG. 


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ABHANDLUNGEN 


ZEHNTER  BAND. 


DRUCK   VON    BREITKOPF   UNI)    HARTEL   IN    LEIPZIG. 


ABHANDLUNGEN 


DER  KÖNIGLICH  SACHSISCHEN 


GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN. 


ZEHNTER  BAND. 
MIT    EINER    TAFEL. 


LEIPZIG 

BEI     5.      HI  R  Z  E  L. 
1865. 


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ABHANDLUNGEN 

DER  PHILOLOGISCH-HISTORISCHEN  CLASSE 
DER  KÖNIGLICH  SÄCHSISCHEN 

GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN. 


VIERTE»  BAND. 
MIT    EINER    TAFEL. 


£  LEIPZIG 

BEI     S.      H  I  R  Z  E  L. 

1866. 


LSoo\lV°-l 


INHALT. 


J.  Overbeck,  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion  .    .    .    .  S.       4 

G.  Hartenstein,  Locke's  Lehre  von  der  menschlichen  Erkenntniss  in  Ver- 

gleichung  mit  Leibnitz's  Kritik  derselben  dargestellt -Hl 

Wilhelm  Röscher,  die  deutsche  Nationalökonomik  an  der  Gränzscbeide  des 

sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhunderts -263 

Joh.  Gust.  J^roysen,  die  Schlacht  von  Warschau  4  656 -   345 

Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  Nomen  und  Yerbum  in  der  laut- 

liehen  Form -   497 

J.  Overbeck,   über  die  Lade  des  Kypselos.    Mit  \  Tafel -   589 


Indem  die  philologisch -historische  Glasse  der  Königlich  Sächsichen  Gesell- 
schaft der  Wissenschaften  den  vierten  Band  ihrer  Abhandlangen  der  Oeffentlichkeit 
übergiebt ,  ist  sie  verpflichtet  der  Fürstlich  Jablonowskischen  Gesellschaft ,  durch 
deren  bereitwillige  und  reichliche  Unterstützung  ihr  die  Herausgabe  dieses  Bandes 
möglich  geworden  ist,  von  neuem  ihren  Dank  auszusprechen. 


r 


BEITRAGE 


ZUR 


ERKENNTNISS  UND  KRITIK 


DER 


ZEUSRELIGION 


VON 


J.  0 VERBECK. 


Abhftadl.  d.  R.  S.  Gas.  4.WUs.  X. 


So  viel  tief  Gedachtes  und  grossartig  Aufgefasstes ,  so  viel  Geist- 
reiches ,  in  Methode  und  Resultat  Neues  und  unsere  Anschauungen  des 
griechischen  Alterthums  in  seinen  höchsten  Interessen  theils  Aufklaren- 
des ,  theils  Umgestaltendes  die  »Griechische  Götterlehre«  Welcker's  in 
allen  ihren  Theilen  enthalten  mag,  Nichts  in  derselben  ist  tiefer  gedacht, 
grossartiger  aufgefasst  und  geistreicher  ausgeführt ,  Nichts  ist  zugleich 
in  Methode  und  Resultat  neuer  und  greift  in  unsere  Anschauungen  des 
höchsten  griechischen  Alterthums  entschiedener  ein,  als  Welcker's  Lehre 
von  der  Religion,  dem  primitiven  Monotheismus  des  Zeus,  der 
»transcendentalen  Gottesidee  des  Zeus  Kronion«,1)  oder  der  «Idee  eines 
allbelebenden,  weltbeherrschenden  Allgeistesa2)  in  Zeus,  eine  Lehre,  die 
allgemein  als  der  Kern  und  Cardinalpunkt  des  W.'schen  Buches  erkannt 
und  als  solcher  auch  vom  Meister  selbst  anerkannt  worden  ist.8)  Auch 
hat  kein  Theil  der  Arbeit  Welcker's  eine  so  starke  Bewegung  der  Ge- 
müther in  der  gelehrten  Welt  hervorgebracht  wie  diese  Lehre.  Und 
zwar  scheint  dieselbe  überwiegende  Zustimmung  gefunden  zu  haben, 
wie  denn  einer  solchen  und  zwar  einer  begeisterten,  die  ihm  von  Seiten 
SchwenckV)  («eines  Mythologen ,  der  seit  1843  die  Mythologien  von 
sieben  grossen  Völkern  in  sieben  Banden  geschrieben«)  und  Max  M al- 
le rV)  zu  Theil  geworden,  Welcker  selbst  nicht  ohne  freudigen  Stolz 


i)  Götteriehre  4.  S.  4  80. 

2)  Das.  S.  2U. 

3)  Ich  N.  Rhein.  Mus.  4  3.  S.  6t J ;  denn  die  Worte:  ȟber  mein  Buch  urteilt  der 

Hr.  Rec.  indem  er  in  Zeus  Kronion  den  Cardinalpunkt  erkennte sind  gewiss  zu 

erklären:  richtig  erkennt,  und  mit  ihnen  ist  zu  verbinden  was  das.  S.  6t 8  zu  lesen 
ist :  »vermutblich  werden  immer  mehr  um  den  primitiven  Monotheismus  und  das  Yer- 
hSltniss  des  polytheistischen  und  theogonischen  Processes  zu  ihm  sieh  alle  ernsteren 
mythologischen  Untersuchungen  drehen.« 

4)  Göttinger  gel.  Anzz.  4  858  No.  5—8. 

5)  Saturday  Review  4858  vergi.  N.  Rh.  Mus.  a.  a.  0.  S.  et»'. 

4* 


4  J.   OvEHBECK.  [4 

gedenkt.6)  Es  fehlt  nun  freilieb  auch  nicht  an  dem  Ausdruck  abweichen- 
der und  entgegenstehender  Ansichten.  Von  diesen  kann  ich  aber  der 
von  Hrn.  Dr.  H.  D.  Müller7)  ziemlich  geräuschvoll  erhobenen  und  von 
Welcker  nicht  ohne  Bitterkeit  zurückgewiesenen8)  Opposition  kein  son- 
derliches Gewicht  beilegen;  nicht  als  ob  ich  damit  behaupten  wollte, 
Hr.  M.  habe  auf  allen  Punkten  geirrt,  wohl  aber,  weil  ich  über  die  Ver- 
kehrtheit der  Grundprincipien,  von  denen  Hr.  Dr.  M.  in  seinen  mytholo- 
gischen Untersuchungen  ausgeht  mit  Welcker  und  Preller9)  vollkommen 
einverstanden  bin. 

Ungleich  schwerer  wiegt  Preller's  so  milde  gehaltene  und  doch  so 
Viel  sagende  Einrede10)  und  die  Thatsache,  dass  dieser  in  der  zweiten, 
Welckern  zugeeigneten  Auflage  seiner  griechischen  Mythologie  die  Grund- 
sätze W.'s  in  Betreff  des  Zeus  in  der  Hauptsache  nicht  adoptirt,  dem  Zeus 
nicht  jene  von  W. geforderte  ausnahmsweise  Stellung  als  Gott  den  Göttern 
gegenüber  einräumt,  von  keinem  primitiven  Monotheismus,  sondern  nach 
Nägelsbacb's  Vorgange  nur  von  einem,  schon  von  0.  Müller11)  anerkannten 
monotheistischen  Triebe  im  Polytheismus  redet/2)  und  auch  in  der  Deu- 
tung des  Kronos  und  Kronion  Welckern  nur  einige  und  im  Wesentlichen 
nicht  entscheidende  Goncessionen  macht.  So  vollkommen  ich  nun  nicht 
allein  billige,  sondern  so  hoch  ich  es  dem  verehrten  Manne  als  ein  Zei- 
chen wissenschaftlicher  Masshaltung  und  wissenschaftlichen  Mnthes  an- 
rechne, dass  er  sich  in  einem  für  weitere  Kreise  und  namentlich  für  die 
studirende  Jugend  bestimmten  Buche  aller  direclen  Polemik  über  einen 
solchen  Cardinalpunkt  enthalten  und  sich  begnügt  hat,  nur  das  Posi- 
tive seiner  unerschütlerten  Überzeugung  vorzutragen,  so  sehr  ich  aner- 
kenne, dass  Preller  in  seiner  angeführten  Anzeige  in  Betreff  des  Mono- 
theismus der  Zeusreligion  wesentliche  Hauptargumente,  wenn  auch  mehr 
in  der  Form  von  Bedenken  und  Fragen,  als  in  stricler  Opposition  gegen 
Welcker,  beigebracht  hat,  Argumente,  welche  ich  dankbar  zu  benutzen 
haben  werde:  so  wenig  kann  ich  die  Sache  hiedurch  für  erledigt  halten, 


6)  N.  Rh.  Mus.  a.  a.  0.  S.  637  f. 

7)  Im  Philologus  «857.  (4  2)  S.  5i7ff. 

8)  In  dem  Aufsatz:  »Meine  grieeh.  GöUerlehre  betreffende  im  N.  Rh.  Mus.  a.  a.  0. 

9)  Jahn's  Jahrbb.  4869.  S.  472 ff. 

4  0)  In  der  Anzeige  in  Jahn's  Jahrbb.  4  859.  4  (79)  S.  3  4  ff. 

4  4)  Prolegomena  S.  245. 

12)  Mythologie  2.  Aufl.  4.  S.  85. 


5]  Beitrage  zur  Eakenntkiss  cnd  Kritik  der  Zeusreligion.  5 

so  wenjg  glauben ,  dass  Preller  dieselbe  fitr  erledigt  ansehe.  Ich  bin 
vielmehr  mit  Welcker  der  Überzeugung ,  dass  sich  noch  manche  ernste 
Untersuchungen  um  die  Frage  des  primitiven  Monotheismus  oder  Poly- 
theismus der  griechischen  Religion  als  ihrer  Grundlage  und  Summe  dre- 
hen werden ,  und  glaube ,  dass  Jeder,  der  sich  bei  lange  fortgesetzter 
und  oft  wiederholter  Prüfung  in  wissenschaftlicher  Weise  von  der  Irrig* 
keit  der  Welcker'schen  Lehre  in  der  Hauptsache  und  in  sehr  vielen  Ein- 
zelheiten überzeugt  hat,  berechtigt  ist,  sich  auszusprechen  und  zu  for- 
dern, dass  er  gehört  werde;  und  ein  solcher  wird  ohne  Phrasen  zu 
machen,  am  besten  beweisen,  dass  er  um  die  Sache,  um  die  Erkenn tniss 
und  Begründung  der  Wahrheit  kämpft,  wenn  er  mit  dem  freimüthigen 
Ausdruck  seiner  Zweifel ,  Bedenken  und  Widersprüche  direct  vor  den 
Richterstuhl  Welcker' s  selbst  tritt,  damit  dieser  seine  Einreden  prüfe, 
und  wo  sie  unbegründet  sind,  widerlege.  Von  der  Grundlage  dieser 
Ansicht  aus  möchte  ich  mein  Auftreten  in  dieser  Sache  und  zu  eben 
dieser  Zeit,  nicht  früher  und  nicht  später,  beurteilt  sehen.  Dass  mich 
nicht  Eitelkeit  treibt,  mit  einem  solchen  Kampfe  gegen  weit  überlegene 
wissenschaftliche  Kraft,  in  welchem  ich  viel  eher. eine  Niederlage  zu 
fürchten  als  den^Sieg  zu  hoffen  habe ,  als  mythologischer  Schriftsteller 
zu  debtttiren,  wird  man  einsehn,  und  dass  ich  nicht  jetzt  erst  mytholo- 
gische Studien  zu  verfolgen  beginne  hoffentlich  aus  der  Untersuchung 
selbst  entnehmen. 


I. 

Unvermeidlich  ist  es  bei  der  Art,  in  der  Welcker  seine  Lehre  in 
seinem  Buche  begründet  und  in  seinem  angeführten  Aufsatz:  »Meine 
griechische  Gölterlebre  betreffend«  vertheidigt  und  neu  unterstützt  hat, 
zu  Beginn  dieser  Discussion  ein  Gebiet  zu  betreten,  auf  das  ich  Welckern 
am  wenigsten  gern  folge,  einerseits  weil  sich  auf  demselben  am  wenigsten 
mit  positiven  Gründen  streiten  lässt,  und  Ansichten  und  Theoreme  einen 
grossen  Raum  einnehmen,  andererseits  weil  dasselbe  nicht  weniger 
ausserhalb  des  Bereichs  meiner  Studien  liegt  als  dies  Preller  von  den 
seinigen  aussagt.13)   Ich  meine  das  Gebiet  der  allgemeinen  philosophi- 


13)  Jahn' 8  Jahrbb.  a.  a.  0.  S.  34. 


6  J.  OVERBECK,  [6 

sehen  Betrachtung  des  Monotheismus  und  Polytheismus  ihrem  Wesen 
an  sich  nach  und  in  ihrem  Verhältniss  zur  Naturreligion. 

Die  oberste  und  Hauptfrage  ist ,  was  wir  unter  Monotheismus  zu 
verstehn  haben.  Welcker  selbst14)  unterscheidet  zwei  Arten  von  Mono- 
theismus, »den  Monotheismus  im  eigentlichen  und  herkömmlichen  Sinne 
des  Wortes,  einen  klar  begriffenen  Monotheismus«  und  einen  anderen, 
»der  ausgehend  von  der  Einheit,  durch  die  Vielheit  der  Personen  in  den 
Naturmythen  zwar  beeinträchtigt,  durch  Verwilderung  der  Sitten  und 
der  Bildung  unterbrochen,  selbst  in  christlichen  Gemfllhern  geschwächt 
und  angefochten  wird ,  der  aber ,  weil  er  ein  Erblheil  der  Menschheit 
ist,  immer  wieder  durchdringt,  der  z.  B.  in  dem  hellenisch-homerischen 
System ,  bei  aller  Vielheit  der  Personen  sich  im  Ganzen  siegreich  von 
neuem  aufgerichtet  hat  und  nicht  blos  vermittels  dieses  Systems,  son- 
dern auch  des  der  Nation  von  Anbeginn  eigenen  Geistes  in  ihr  selbst, 
nach  einer  abermaligen  Periode  einer  dem  Monotheismus  eigentlich  ent- 
gegenwirkenden Entwickelung ,  den  schönsten  wissenschaftlichen  Aus- 
druck gefunden  hat*  Wenngleich  nun  Welcker  in  eben  diesem  Satze  und 
in  dieser  Unterscheidung,  die  sich  auf  0.  Mtlller's15)  Auseinandersetzun- 
gen über  den  Monotheismus  bezieht,  den  ersteren,  eigentlichen  und 
begriffenen  Monotheismus  gradezu  opfert,  oder  wenigstens  zu  opfern 
meint,  während  er,  wie  ich  zu  zeigen  «hoffe  in  dem  was  W.  unter  den 
Monotheismus  der  zweiten  Art  subsumirt,  thatsächlich  wieder  auftritt, 
so  wird  es  doch,  und  zwar  grade  in  Beziehung  auf  das  zuletzt  Gesagte, 
gut,  ja  nothwendig  sein,  in  Betreff  dieses  eigentlichen  und  begriffenen 
Monotheismus  zwei  Thatsachen  festzustellen,  welche  als  Massstab  der 
Behandlung  der  Zeusreligion  bei  Welcker  dienen  werden.  Diese  zwei 
Thatsachen  sind :  erstens  dass  der  eigentliche  und  begriffene  Monotheis- 
mus niemals  primitiv  ist,  und  zweitens,  dass  er  nicht  nur  eine  »gewisse 
Abstraction  von  der  Natur«  voraussetzt,  wie  sich  0.  Müller  ausgedrückt 
hat,  sondern  auf  der  Abstraction  von  der  Natur  gradezu  beruht,  insofern 
er  in  der  Erkenn tniss  oder  Annahme  einer  supranaturalen  und  transcen- 
denten  Gottheit  besteht. 

Dieser  eigentliche  und  begriffene  Monotheismus  findet  sich  unseres 
Wissens  drei  Mal  in  der  Weltgeschichte :  im  MosaYsmus,  im  Christentum 


U)  N.  Rhein.  Mus.  a.  a.  0.  S.  64  8. 
4  5)  Prolegomena  S.  243f. 


7]  Beiträge  zur  Ekkknntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  7 

and  im  Islam;  dass  er  im  Islam  und  im  Christentum  nicht  primitiv, 
sondern  eine  Reform  sei,  und  auf  Offenbarung,  d.  h.  persönlicher  Reli- 
gionsstiftung beruhe,  braucht  nicht  bewiesen  zu  werden,  dass  aber  Glei- 
ches für  den  MosaYsmus  gelle,  das  wird,  ganz  abgesehn  von  allen  Thal- 
sachen, welche  über  einen  ältesten  polytheistischen  Nalurcult  der  Juden 
bekannt  sind,  schon  durch  die  Form  des  Gesetzes  erwiesen,  in  welchem 
sich  der  begriffene  Monotheismus  als  solcher  ausspricht:  du  sollt  keine 
anderen  Götter  haben  neben  mir.  Unter  eben  diesen  Gesichtspunkt  nun 
fällt  Alles,  was  immer  von  Monotheismus  und  von  einem  »monotheisti- 
schen Zug«  oder  von  monotheistischer  Tendenz  in  der  griechischen  Reli- 
gion, in  der  Religion  des  Zeus  während  der  Periode  ihrer  Gestaltung  zuerst 
durch  die  nationale  Poesie  und  dann  in  derjenigen  durch  die  Philoso- 
phie vorhanden  ist,  wobei  die  Frage  nach  der  Art  und  dem  Grade  dieses 
Monotheismus  und  seiner  Begrifflichkeit  und  Begriffenheit,  nach  der  Aus- 
dehnung und  der  Reinheit  seiner  Idee  und  der  monotheistischen  Ten- 
denz im  Polytheismus  einstweilen  ganz  bei  Seite  bleiben  kann ,  und  nur 
die  von  Welcker  angenommene  Verbindung  dieses  Monotheismus  der 
Reform  mit  dem  andern,  nicht  begriffenen  oder  angeblich  primitiven  als 
irrig  abzuweisen  ist.  Dass  der  Monotheismus  der  Philosophie  ein  be- 
griffener, dass  er  das  Resultat  der  Speculation  und  eines  langen  Lebens 
der  Religion  sei,  ist  natürlich  ausser  aller  Frage  und  allem  Zweifel,  eben 
so  natürlich  auch  dass  er  geschichtlich  mit  jenem  angeblich  primitiven, 
uneigentlichen  und  nicht  begriffenen  Monotheismus  nicht  zusammen- 
hangen könne;  aber  auch  der  Monotheismus  oder  die  Offenbarung  einer 
monotheistischen  Tendenz  im  Polytheismus,16)  welche  in  der 
Stellung  des  Zeus  im  Kreise  des  homerischen  Göttersystems  und  an 
dessen  Spitze  oder  über  demselben  —  man  drücke  sich  aus  wie  man 
sich  ausdrücken  will  und  mag  —  ist,  so  wie  er  ist  ein  begriffener,  ist 


16)  So  druckt  die  Sache  wie  schon  oben  S.  4  erwähnt  ungleich  zutreffender 
als  durch  das  Wort  Monotheismus  nach  0.  Müller' s  (Proll.  245)  und  Nägelsbach's  Vor- 
gänge Preller  aus,  Hythol.  S.  85  (2.  Aufl.),  indem  er  zugleich  diesem  vernehmlichen 
Zug  zum  Monotheismus  die  Naturreligion  entgegenstellt.  Dagegen  fSUt  meiner  Ein- 
sicht nach  nicht  allzu  schwer  in's  Gewicht  was  Welcker,  Götterl.  I.  S.  229  behauptet, 
weniger  lasse  sich  denken ,  dass  die  Vorstellung  von  lebendigen  Theilen  (des  All)  zu 
der  eines  Alllebens,  von  Göttern  zu  Gott  aufgestiegen  sei.  Grade  dies  Letztere  ist  die 
vorliegende  Geschichte  des  mosaischen  und  islamischen  Monotheismus,  insofern  im 
enteren  der  Stammgott  Abrahams  Isaaks  und  Jacobs,  im  bewußten  Gegensatz  zu  den 
Göttern  anderer  Völker,  zum  alleinigen  Gotte  Himmels  und  der  Erde  gesteigert  ist. 


8  J.  OVERBKCK,  [8 

das  Resultat  der  wachsenden  Bildung  der  Nation,  die  aus  rohen  Zustan- 
den als  Jager,  Hirten  und  Fischer  zur  Gesittung  und  zu  geistigem  Leben 
sich  erhebend  Welcker  selbst  in  dem  41.  Abschnitte  seines  Buchs  (be- 
sonders S.  234 ff.)  in  meisterhaften  Zügen  schildert,  und  dieser  Mono- 
theismus ist ,  wenn  nicht  die  That  einer  religionsstiftenden  Person  oder 
einer  Mehrheit  solcher,  die  man  in  den  allen  Cultsangern  suchen  könnte, 
oder  einer  »bewusst  und  im  heiligen  Eifer  thatigen  religiösen  Partei« 
deren  Eingreifen  Welcker  (S.  237)  als  »denkbar«  hinstellt  (und  das  auch 
schwerlich  mehr  als  dies  ist17)),  so  doch  ganz  gewiss  dasErgebniss  der 

47)  Wenn  man  freilich  die  hier  berührten  Worte  and  die  Sätze,  zu  denen  sie  ge- 
hören genauer  betrachtet  und  damit  vergleicht,  dass  Welcker  den  41.  Abschnitt  seines 
Buch*  eine  Obersiebt  über  »das  neue  Systeme  nennt,  so  könnte  man  auf  den  Gedanken 
kommen,  Welcker  erkenne  in  der  homerischen  Theologie,  in  dem  »neuen  System«  eine 
direct  religionsstiftende,  oder  eine  bewusst  reformatorische,  oder  soll  ich  sagen  eine 
gleichsam  prophetische  Thätigkeit.  Und  doch  darf  von  einer  solchen  bei  Homer  und  in 
der  homerischen,  durchaus  nicht  religiösen  oder  auf  religiöse  Zwecke  gerichteten  Poesie 
ganz  gewiss  nicht  die  Rede  sein,  und  von  dem  neuen  System  wird  sich  zeigen  lassen, 
dass  es  als  solches  nicht  aus  einer  einheitlichen,  in  sich  zusammenhangenden  und 
gleichzeitigen  Geistesbewegung  hervorgegangen,  sondern  das  Resultat  ist  einer  langen 
Folge  an  verschiedenen  Orten  ohne  Zusammenbang  unter  einander  aufgetretener  histo- 
rischer Thatsachen,  Stammeswanderungen,  Cultaustausche,  Hythencombinationen  und 
Mythenerweiterungen  in  engster  Verbindung  mit  der  wachsenden,  verschiedene  Stadien 
durchlaufenden  Sagenpoesie  und  niedergelegt  in  diese,  gebunden  an  sie,  mit  der  es 
endlich  in  die  homerische  Poesie  aufging,  wo  es,  nicht  ohne  dass  starke  Unebenheiten, 
Risse  und  Näthe  übrig  und  sichtbar  geblieben  sind  (ich  will  nur  an  die  verschiedenen 
Zeusgattinen  neben  Here  erinnern),  endlich  als  ein  aus  bewusster  Geisteslhat  erwach- 
senes Ganze  erscheinen  mag,  ohne  gleichwohl  das  Ganze  der  Religion  zu  umfassen, 
ja  ohne  mit  dieser,  der  Religion  selbst  sich  auch  nur  zu  decken.  Und  diese  Thatsache, 
dass  die  homerische  Theologie  und  die  nachhomerische  der  Dichter  und  zum  Theil  der 
bildenden  Künstler,  keineswegs  die  griechische  Religion  sei,  dass  diese  vielmehr  im 
Ganzen  (nicht  In  vielen  Einzelheiten)  unberührt  von  dem  »Systemt  in  allen  einzelnen 
Staaten  und  StSdten,  Tempeln  und  sonstigen  Coltstätten  fortbestand,  diese  Thatsache, 
die  Welcker  selbst  nicht  verkennt  noch  verkennen  kann,  auf  der  vielmehr  die  grössten 
Theile  seines  Buchs  in  beiden  Bänden  beruhen  (vergl.  besonders  den  vortrefflichen 
Abschnitt  »Homer«  im  S.  Bande  S.  64 ff.),  scheint  mir  Welcker  trotzdem  und  indem  er 
von  Homer  als  dem  Centrum  ausgeht  und  hinter  die  poetische  Mythologie  die  des  Col- 
tus  und  Glaubens  in  den  Hintergrund  schiebt,  nicht  in  dem  ganzen  Umfange  ihrer  Be- 
deutung gewürdigt  zu  haben ,  da  er  sonst  von  den ,  immerhin  in  vielfach  entstellter 
Gestalt  auf  uns  gelangten  Oberlieferungen  dieser  örtlich  gebliebenen  und  doch  eigent- 
lichen griechischen  Religion  nicht  so  verächtlich  denken  und  reden  konnte,  wie  er  es 
io  den  Abschnitten  %\ — 14  seiner  Götterlehre  thut.   Diese  Abschnitte,  in  denen  von 
den  Tempellegenden,  Sagen  und  Märchen  gehandelt  wird ,  unterscheiden  sich  in  der 
Geringschätzung,  mit  der  von  diesen  Oberlieferungen  geredet  wird,  sehr  eigenthümlich 


9]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligio*.  9 

■ 

Bildungsstufe ,  auf  der  wir  das  griechische  Volk  in  den  heroischen  Ge- 
dichten finden,  mit  einem,  um  nur  dies  zu  erwähnen,  festgegliederten, 
uuter  erblichem  Königthum  einheitlich  zusammengefassten  Staatswesen, 
einer  Bildungsstufe,  welche  einen  Cultus  unklar  personificirter  Natur- 
geister überwunden  hatte  und  überwunden  haben  musste,  wie  dies 
Welcker  (S.  232  ff.)  vortrefflich  darthut  und  in  dem  Abschnitt  über  den 
Titanenkampf  weiter  begründet,18)  einer  Bildungsstufe,  für  die  ein  zer- 
flossener, zusammenhangsloser,  ungegliederter  Polytheismus  grade  so 
unmöglich,  wie  ein  nach  Massgabe  und  den  Normen  des  irdischen  Staa- 
tes aufgerichteter  Götterstaat  unter  einem  himmlischen  Könige  derselben 
natürlich  entsprechend  war.10)  Also  auch  dieser  Monotheismus  oder 
diese  Offenbarung  eines  monotheistischen  Zugs  im  Polytheismus  ist  eine 
Reform ,  ist  nicht  primitiv  und  hat  mit  einem  nicht  eigentlichen ,  nicht 
begriffenen  primitiven  Monotheismus  weder  begrifflich  noch  historisch 
Zusammenhang.  Dies  meine  eine  These.  Die  andere  ist  die,  dass  aller 
eigentliche  und  begriffene  Monotheismus  auf  der  Abstraction  von  der 
Natur  beruhe ,  insofern  nämlich  er  die  Erkenntniss  oder  Annahme  einer 
supranataralen  und  transceudenten  Gottheit  voraussetzt.  Auch  diese 
These  für  den  Islam  und  für  das  Christenthum  zu  beweisen  ist  über- 
flüssig und  in  Betreff  des  MosaYsmus  wird  Welcker  leicht  zustimmen, 
der ,  Götterlehre  S.  9 ,  die  arischen  Völker  als  solche ,  deren  Religion 
einen  Bezug  «zur  Natur  und  zum  Polytheismus«  haben,  den  Se- 
miten entgegenstellt,  aus  denen  Moses  und  die  Propheten  und  ein 


und  wesentlich  von  der,  vielleicht  zu  weit  getriebenen,  dennoch  im  Princip  berechtigten 
Sorgfalt,  mit  der  die  Forschung  auf  dem  Gebiete  z.  B.  der  nordischen  und  deutschen 
Mythologie  die  noch  viel  geringfügigeren  und  noch  ungleich  mehr  entstellten  Reste 
und  Spuren  des  Alten  in  Sagen,  Märchen,  Sprichwörtern,  einzelnen  Gebräuchen  und 
selbst  im  Aberglauben  der  Kinder  und  der  alten  Weiber  aufsucht.  Darin  durfte  auch 
der  Schwerpunkt  der  in  der  letzten  Zeit  so  vielfach  zur  Sprache  gekommenen  Diffe- 
renzen zwischen  Welcker'»  und  0.  Müller's  Methode  zusucben  sein. 

18)  Vergl.  besonders  Götterl.  S.  266  den  Satz:  »diese  (die  Götter  der  Pelasger) 
waren  nicht  zu  einer  Gesellschaft  vereinigt,  sondern  durch  die  Natur  hin  zerstreut  wie 
die  Völkerstämme,  denen  sie  je  nach  der  sie  umgebenden  Natur  angehörten«  u.  s.  w. 
und  S.  232,  wo  die  »Reform«  mit  dem  Zeitalter  der  Heroen  vor  Theben  und  Troia  in 
Zusammenhang  gebracht  wird ,  Beides  ganz  im  Sinne  meiner  Auffassung.  Im  Grund- 
princip  stimmt  auch  Nägelsbach,  homer.  Theologie  S.  74.  92  und  sonst  überein,  was 
er  freilich  in  der  Nachhom.  Theol   S.  1 00  ff.  widerruft. 

1 9 )  Vergl.  Göttimg  in  s.  Gesammelt.  Abbandll.  I.  S.  4  S  4  f.  (aus  dem  Hermes  v .  1 8  27 ) 
und  nach  ihm  Nügelsbach  a.  a.  0.  S.  92  ff. 


10  J.   OVEKBKC*.  [1° 

Muhammed  bervurgeha  konnten;  der  im  Rhein.  Mus.  u.  a.  0.  S.  418. 
Note  1  denselben  L'rstamm  (die  Semiten)  als  solchen  bezeichnet,  der 
so  wenig  Sinn  fllr  die  Natur  halte,  dass  er  Gott  nur  ultramontan 
(lies  Lransmundan)  setzte;  der,  Götterl.  1.  S.  496  Jehovah  von  Zeus  ver- 
möge des  uranfanglichen  Bezugs  des  Letzteren  zurNatur 
als  ■grundverschieden«  bezeichnet,  wenngleich  er  S.  197  das 
mosaische  Schaffen  gewiss  mit  Unrecht  mit  dem  von  ihm  so  genannten 
■Schaffen«  d.  h.  dem  ehelichen  Zeugen  des  Zeus  für  identisch  erklart. 
Auch  der  Gott  Mosis,  des  Psalmisten  und  der  Propheten,  mag  er  sich 
im  feurigen  Busch  oder  sonst  in  der  Natur  dem  Menschenblicke  mate- 
riell offenbaren,  ist  vermöge  seines  Schöpft] ngsacls  durch  den  Willen 
und  das  Wort,  vermöge  seiner  Nichtimmanenz  in  den  Affectionen  des 
Kosmos  supranulural  und  transcendent.  So  wie  wir  aber  in  dem  christ- 
lichen Gotte,  der  ein  Geist  ist  und  im  Geiste  angebetet  werden  will, 
dann  in  dem  islamischen  und  drittens  im  mosaischen,  der  sich  mensch- 
lichen Blicken  in  der  Natur  offenbart  ohne  gleichwohl  in  derselben  aus- 
ser etwa  in  Resten  früherer,  wesentlich  nicht  monotheistischer  An- 
schauungen immanent  zu  sein,  d.  h.  in  dieselbe  aufzugehn,  verschiedene 
Stufen  in  der  klar  erkannten  Transcendenz  wahrnehmen,  so  schliesst 
sich  diesen  als  eine  weitere  und  noch  weniger  als  die  mosaische  klare 
Stufe  die  Transcendenz,  der  Supranaturalismus  nicht  etwa  nur  des  Zeus, 
sondern  aller  Götter  der  reformirten  griechischen  Religion  an,10}  so  sehr, 
dass  ihre  Genesis  aus  der  Natur,  über  die  Welcker  so  klar  und  erschöp- 
fend handelt,")  bis  auf  den  heutigen  Tag  von  Solchen  verkannt  wird, 
die  mit  mehr  Idealismus  als  Beobachtungsgabe  ausgestaltet  und  die 
mehr  speculativ  als  historisch  und  kritisch  begabt  sind.12)  Steht  nun 
vermöge  des  monotheistischen  Zugs  im  Polytheismus  und  vermöge  des- 
sen Organisation  nach  den  Normen  der  heroischen  Basileia  Zeus  au  der 
ar  und  über  ihnen,  so  muss  sich  eben  deshalb  das 
e  und  Transcendentale  alles  begriflenen  Monotheismus 


t  dies  so  eindringlich  gelehrt  wie  Welcker  in  dem  schon  ange- 
iner  Göllerlebre;    vergl.  besonders  wieder  S.  S66:  >die  neuen 
n  der  Ausseowelt,  sondern  im  Gedanken  begründet«  u.  s.  w. 
3.  Hin*.,  vergl.  besond.  auch  S.  S34. 

loch  von  nicht  wenigen  classiseben  Philologen  bemerk!  Preller 
0.  S.  39  Note  mit  Hecht,  so  erslaunlich  die  Tbalsache  im  Grunde 


H]  Beitrage  zun  Erkenntniss  ukd  Kritik  der  Zecjsreligion.  H 

bei  ihm  am  stärksten  offenbaren ,  und  wie  sehr  dies  der  Fall  sei ,  dafür 
kann  ich  mich  u.  A.  auf  das  berufen,  was  Welcker  über  Zeus  und  sein 
Walten  im  Gebiete  der  geistigen  und  politischen  Interessen  der  Mensch- 
heit gesagt  hat  *3)  Nun  hat  freilich  Welcker  den  gleichen  Supranatura- 
lismus  bei  Zeus  als  einen  primitiven  hingestellt  und  behauptet,  eine  Be- 
hauptung deren  Richtigkeit  weiterhin  genau  untersucht  werden  soll,  und 
deren  Unrichtigkeit  ich  zu  erweisen  hoffe ,  hier  habe  ich  nur  davon  Act 
zu  nehmen ,  dass  Welcker  den  Monotheismus  des  Zeus ,  seine  Stellung 
als  Gott  den  Göttern  gegenüber  vermöge  der  von  ihm  angenommenen 
Transcendenz  desselben  statuirt,  nicht  vermöge  der  Immanenz  in  der 
Natur,  sondern  trotz  dieser,  von  der  er  eine  Verdunkelung  seiner  supra- 
naturalen Seite  ableitet. u)  Hiernach  darf  ich  wohl  annehmen,  dass  auch 
Welcker  mit  dem  Inhalt  meiner  beiden  Thesen  in  Betreff  des  eigentlichen 
und  begriffenen  Monotheismus ,  wenigstens  mit  der  letzteren  überein- 
stimmen wird,  an  der  mir  eben  so  viel  liegt  wie  an  der  ersteren,  ja  des- 
halb noch  mehr,  weil,  wie  gesagt,  Welcker  selbst  neuerdings  den  eigent- 
lichen und  begriffenen  Monotheismus  als  primitiven  geopfert  hat. 

* 

Wenden  wir  uns  nun  zu  dem  anderen  Monotheismus,  den  Welcker 
diesem  eigentlichen  und  begriffenen  gegenüberstellt,  und  an  dem  allein 
er  festhält,  so  bin  ich  zunächst  in  Verlegenheit,  wie  ich  denselben  be- 
zeichnen soll ,  ohne  selbst  den  Schein  auf  mich  zu  laden ,  als  wolle  ich 
Welckern  zu  nahe  treten.  Doch  glaube  ich  mit  Berufung  auf  das  Vor- 
stehende am  besten  an  dem  einigermassen  neutralen  Ausdruck  »primi- 
tiver Monotheismus«  festhalten  zu  dürfen.  Von  diesem  primitiven  Mono- 
theismus, »der  von  der  Einheit  ausgehend,  durch  die  Vielheit  der  Per- 
sonen in  den  Naturmythen  zwar  beeinträchtigt  und  angefochten  wird, 
der  aber,  weil  er  ein  Erbtheil  der  Menschheit  ist,  immer  wieder  durch- 
dringt«, von  diesem  glaubt  Welcker  annehmen  zu  dürfen,  dass  er  sich 
mit  der  Idee  der  Immanenz  der  Gottheit  in  der  Natur  vertrage ,  dass  er 
sich  als  die  primitive  Religion  auch  der  Natur  werde  fassen  lassen.  Er 
sagt  in  diesem  Betreff  im  N.  Rhein.  Mus.  a.  a.  0.  S.  61 7 f.:  »so  wenig 
aber  die  einzelnen  Seelenkräfte  im  Bewusstsein  früher  unterschieden 
werden  als  das  des  einen  Geistes  erwacht  und  geübt  ist,  so  wenig  lässt 


23)  Götterlebre  I.  S.  177 ff. 

24)  Götterlebre  S.  496:  »und  die  supranalurale  Seite  seines  Wesens  musste  sich 
leicht  verdunkeln ,  weil  er  euch  von  der  physischen  aus  zum  Weltherrscher  geeignet 
schien.« 


12  J.  OvKRBEf.K,  [42 

die  erste  Religion  in  ihrem  Zug  und  ihren  Äusserungen  sich  polytheistisch 
denken.  Mit  einem  Einfachen,  Einen,  Ganzen  hat  es  jede  Ahnung,  jeder 
erste  Blick,  jeder  erste  inhaltreiche  Gedanke  zu  thun.  Wie  der  Mensch 
sich  als  Einen  empfindet  so  das  All  ihm  gegenüber  als  Eines.» 
Und  daselbst  S.  619:  »Die  Natur  hat  im  Allgemeinen  mehr  des  Gemein- 
samen in  ihrer  Einwirkung  auf  den  sie  als  göttlich  anstaunenden  Men- 
schengeist und  in  ihrer  Bestimmung  seiner  Lebens  weisen  und  Charakter- 
bildung als  der  Ungleichheiten.« 

Diese  Sätze  muss  ich  denn  freilich  aufs  allerernsleste  bestreiten. 
Die  stricte  Bezugnahme  in  denselben  auf  die  Natur,  auf  das  All  gegen- 
über dem  Menschen  überhebt  mich  der  Nothwendigkeit  auf  die  Fragen 
einzugehn,  welche  sich  an  Zervane  Akerene  der  Zoroastrischen  Religion 
und  an  dessen  Primitivität25)  sowie  an  dessen  Verhältnis  zu  einer  per- 
sönlich gedachten  Gottheit  knüpfen.  Auch  parallelisirt  Welcker  ja  Zervane 
Akerene  nicht  mit  Zeus,  der  ihm  der  Träger  des  primitiven  Naturmono- 
theismus ist,  sondern  mit  der  Idee,  die  er  in  dem  Kronos  sucht  nnd,  wie 
ich  zu  zeigen  hoffe,  in  der  Formel  Zeus  Kronion  gänzlich  irrthümlich 
findet.  Als  das  Einfache,  Eine,  Ganze,  mit  dem  es  nach  W.  jede  Ah- 
nung, jeder  erste  Blick,  jeder  erste  inhaltreiche  Gedanke  zu  thun  hat, 
haben  wir  also  nicht  die  abstracto  Idee  des  Zervane  Akerene,  sondern 
einen  primitiven  Monotheismus  der  Naturimmanenz  zu  betrachten,  der 
den  Menschen  das  All  als  Eines  auffassen  lässt,  und  dessen  Träger  für 
Welcker  Zeus  ist.  Wie  wenig  nun  aber  Welcker  den  Gedanken  festzu- 
halten im  Stande  ist ,  dass  der  Mensch  wie  sich  als  Einen ,  so  d  a  s  AU 
ihm  gegenüber  als  Eines  empfinde,  zeigt  der  unmittelbare  Fortgang  des- 
selben Satzes  S.  618:  »und  wie  er  in  seinem  Leibe  einen  Sitz  de6  Gei- 
stes, von  wo  ans  dieser  wirke  und  walte,  sucht,  so  ist  es  ihm  natürlich 
auch  im  All  einen  Hauptsitz  der  göttlichen  Macht  zu  finden, 
es  sei  in  der  Himmelshohe  oder  in  der  Sonne.«  Denn  offenbar  verwech- 
selt Welcker  hier  zwei  gänzlich  heterogene  Dinge  mit  einander:  das  All 
als  Eines  und  einen  Punkt  i  m  All  als  den  vornehmsten  oder  den  Haupt- 
sitz der  göttlichen  Macht ,  einen  Hauptsitz  den  er  so  concret  fas6t  wie 
den  Himmel  oder  die  Sonne.  Ja ,  wenn  man  Welcker's  Worte ,  die  er, 
eben  weil  er  (S.  617)  seine  Ideen  nur  im  Kurzen  andeutet,  gewiss  nicht 

25)  Gegenüber  der  Annahme  Welcker's  in  Betreff  der  vorzoroastrischen  Existenz 
des  Zervane  Akerene  ist  auf  das  zu  verweisen ,  was  PreUer  in  Jahns  Jahrbb.  a.  a.  O. 
S.  37  f.  erinnert  hat. 


*3]  Beiträge  zir  Erkenntmss  ukd  Kkitik  der  Zeusreligion.  13 

ohne  besonders  genaue  Überlegung  niedergeschrieben  hat,  einigermassen 
genau  wagt ,  so  muss  man  finden ,  dass  er  mit  ihnen  die  Schranke  des 
Monotheismus  bereits  durchbrochen  hat;  denn  ein  Haupt  sitz  der  gött- 
lichen Macht  in  einem  Punkte  oder  Kreise  oder  Theil  der  Natur  oder  des 
All,  des  materiellen  All,  wie  im  Himmel  oder  in  der  Sonne,  schliesst 
andere  Sitze  in  anderen  Kreisen  oderTheilen  nicht  aus,  sondern  schliesst 
diese  ein.  Und  so  handelt  es  sich  hier  schon  nicht  mehr  um  einen  Gott 
für  das  All,  sondern  um  einen  obersten  und  Hauptgott,  und  der  Cultus 
dieses  Hauptgotles  ist  begrifflich  schon  an  und  für  sich  kein  Monotheis- 
mus ,  wahrend  es  sich  weiter  und  in  historischer  Betrachtung  nur  um 
die  Frage  handelt,  wann  und  wie  bald  neben  dem  Hauptsitze  der  gött- 
lichen Macht  noch  andere  Sitze  derselben  in  anderen  Theilen  des  All 
und  wie  viele  derselben  erkannt  werden,  eine  Frage,  die  einerseits  von 
der  Mannigfaltigkeit  der  Natur  und  der  in  ihr  thötig  und  wirksam  wer- 
denden Kräfte  und  andererseits  von  dem  Grade  der  Naturempfonglich- 
keit,  des  Natursinnes  des  Individuums  oder  des  Volkes  abhangt,26)  wel- 
ches die  Sitze  der  göttlichen  Macht  in  der  Natur,  d.  h.  nicht  in  der 
Materie,  sondern  in  den  Kräften  der  Natur,*7)  weiche  das  Dasein  des 
Menschen  bedingen,  sieht  oder  zu  finden  glaubt.  Begrifflich  ist  also  der 
Polytheismus  schon  da,  sobald  ein  Hauptsitz  der  göttlichen  Macht  ange- 
nommen wird,  und  das  ThatsSchlichwerden  dieses  Polytheismus  in  der 
Annahme  anderer  Sitze  anderer  göttlicher  Machte  ist  nur  eine  Frage  der 
Zeit.  Nun  aber  muss  ich  weiter  behaupten,  dass  man  diese  Zeit,  jn  wel- 
cher der  begriffliche  zum.  tbatsächlichen  Polytheismus  der  Naturreligion 
wird,  keineswegs  eine  lange  sein  könne,  sondern  bei  einem  für  die  ver- 
schiedenen Kräfte  und  Eindrücke  der  Natur  so  leicht  und  lebhaft  em- 
pfänglichen Volke  wie  die  Griechen  nur  als  eine  ganz  kurze,  vielleicht 
unmessbar  kurze  oder  =  0  zu  setzen  sei.  Und  damit  wende  ich  mich 
zugleich  gegen  den  zweiten  der  oben  ausgezogenen  Sätze  Welcker's,  in 
welchem  er  behauptet,  die  Natur  habe  im  Allgemeinen  mehr  des  Ge- 
meinsamen in  ihrer  Einwirkung  auf  den  sie  als  göttlich  anstaunenden 
Menschengeist  und  in  ihrer  Bestimmung  seiner  Lebensweisen  und  Cha- 


26)  Vergl.  das  in  Betreff  dieser  Verhältnisse  gar  nicht  unbrauchbare  Schema 
Laoer's,  System  der  griech.  Mythol.  S.  52  f. 

27)  Dies  hat  Welcker  eben  so  vortrefflich  entwickelt  wie  mit  grosser  Energie  des 
Ausdrucks  ausgesprochen  Götterl.  I.  S.  216.  Vergl.  auch  Preller  gegen  Lehrs,  Jahn** 
Jahrbb.  a.  a.  0.  S.  3 50 f. 


\  i  J.  OVERBECK,  [U 

raklerbildung  als  der  Ungleichheiten.  Dieser  Salz,  behaupte  ich,  ist  gleich 
falsch,  mag  man  aus  demselben  einen  primitiven  Monotheismus  ableiten 
wollen  wie  Welcker,  oder  einen  primitiven  Pantheismus  wie  Lauer,  *") 
den  Welcker  anzieht29)  um  ihm  zu  widersprechen.  Die  Natur  in  ihren 
Kräften  und  den  Äusserungen  derselben  in  den  Erscheinungen  und  in 
deren  Einwirkung  auf  Lebensweise  und  Charakterbildung  des  Menschen 
ist  vielmehr  durchaus  mannigfaltig  und  auch  in  den  Hauptsachen  un- 
gleich. Die  Kräfte  der  Natur  treten  einzeln,  successive  in  die  Erschei- 
nung, Tag  wechselt  mit  Nacht,  Sommer  mit  Winter,  das  Tosen  des 
Sturmes  mit  dem  Lächeln  des  Sonnenscheins,  erquickender,  belebender, 
fruchtbarer  Regen  mit  verdörrender,  Pest  bringender  Hitze ;  diese  Kräfte 
und  ihre  Erscheinungen  und  Wirkungen  heben  einander  auf,  wenigstens 
scheinbar  und  für  den  einfachen  Menschen  wirklich,  und  wie  sie  im 
steten  Wechsel  begriffen  sind,  so  scheinen  sie  im  steten  Kampfe  mit 
einander  zu  liegen,  wovon  die  Mythologie  voll  ist;  die  einzelnen  Kräfte  , 
und  Theile  des  All  sind  von  einander  getrennt  und  unabhängig,  so  viele 
Einflüsse  freundlicher  bald,  bald  feindlicher  Art  unter  denselben  herüber 
und  hinüber  stattfinden  und  wahrgenommen  werden  mögen,  Einflüsse 
und  Beziehungen  die  ebenfalls  in  der  Mythologie  und  zwar  grade  in  dem 
was  Welcker  mit  Recht  Urmythen  genannt  bat,  so  Bedeutendes  geschaffen 
haben.90)  Aber  für  alle  diese  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen,  Theile, 
Kräfte  der  Natur,  des  Alls,  kann  die  Einheit  und  das  gemeinsam  Bedin- 
gende nimmer  in  der  Natur,  nimmer  in  irgend  einem  Theile  der  Natur, 
sondern  nur  in  einer  transcendenten  Gottheit  ausser  und  über  der  Natur 
gefunden  werden.  Sind  ja  doch  auch  in  der  griechischen  Mythologie  die 
Naturgötter  nicht  aus  einer  obersten  und  letzten  Ursache  abgeleitet,  nicht 
einmal  in  dem  fertigen  homerischen  System ,  sondern  in  grössere  oder 
kleinere  Kreise  zusammengefasst  von  einander  unabhängig  und  von  ein- 
ander verschieden.  Und  nun  vollends  die  Einwirkung  der  Natur  auf  den 
Menschen  in  der  Bildung  seiner  Lebensweise  und  seines  Charakters,  in 
den  Eindrücken,  welche  der  Mensch  von  der  Natur  in  seiner  psychischen 


28)  System  der  griech.  Mylhol.  S.  50  f. 

29)  Gölterl.  1.  S.  196. 

30)  »Beispiele  sind  die  Ehe  von  Himmel  und  Erde  oder  von  Zeus  und  Hera, 
manche  uralte  Genealogie  wie  Athene  und  Thelis,  Töchter  des  Zeus,  des  Nereus,  drei 
Brüder  als  drei  Naturreiche,  die  Zwillinge  Apollon  und  Artemis,  das  Tag  um  Tag  Leben 
der  Dioskuren«  u.  s.  w,  Welcker,  Götter! .  4.  S.  76. 


45]  Beiträge  zun  Erkenntniss  und  Khitik  der  Zel-sreligion.  15 

nicht  weniger  als  in  seiner  physischen  Existenz  empfängt,  diese  Ein- 
wirkungen die  schon  nach  dem  Wechsel  der  Jahreszeiten  die  verschie- 
denste Lebensweise  bedingen,  nicht  minder  nach  dem  Wechsel  des 
Locals,  diese  Eindrücke,  welche  nach  dem  unausgesetzten  Wechsel  der 
Erscheinungen  das  Gemüth  des  Menschen  bald  mit  Angst  und  Grauen 
und  mit  überwältigender  Ehrfurcht,  bald  mit  bewunderndem  und  hin- 
gegebenem Staunen,  bald  mit  träumerischer  Wehmuth  und  bald  mit  hei- 
terer Freude  erfüllen,  wie  kann  man  von  ihnen  sagen,  dass  sie  mehr  des 
Gemeinsamen  als  der  Ungleichheiten  haben!  Ich  will  diese  Andeutungen 
nicht  weiter  ausführen  und  sie  nicht  specieller  auf  das  Gebiet  der  Völker- 
Physiologie  und  der  Völkerpsychologie  in  ihrem  Zusammenhange  mit 
dem  Clima  und  der  natürlichen  Beschaffenheit  der  Wohnsitze  verfolgen, 
denn  das  sind  bekannte,  aber  freilich  schwer  wiegende  Dinge,  und  das 
Angeführte  genügt  schon,  um  daraus  den  Schluss  abzuleiten ,  dass  die 
Form  der  Naturreligion  weder  ein  Monotheismus  noch  ein  Pantheismus 
sein  kann ,  sondern  einzig  und  allein  ein  Polytheismus ,  und  zwar  ein 
Polytheismus  dessen  beginnende  Ausbildung  auf  einzelnen  Punkten  frü- 
her als  auf  anderen  wir  historisch  so  wenig  weit  hinauf  verfolgen  kön- 
nen, dass  wir  ihn  getrost  als  einen  primitiven  ansprechen  dürfen.  Und 
für  diesen  Polytheismus  ist  es  begrifflich  ganz  gleichgiltig ,  ob  er  aus 
hundert  oder  aus  zehn  oder  aus  zwei  Gottheiten  sich  constituirt,  etwa 
als  den  Vertretern  des  Geschlechtsdualismus,  aus  dessen  Zeugungen 
alles  Weitere,  der  materielle  Kosmos  und  die  in  ihm  lebenden  und  wal- 
tenden  Naturgeister  genealogisch  abgeleitet  werden,  es  ist  gleichgiltig 
nach  welcher  Seite  der  Natur  er  zuerst  und  ob  er  allseitig  oder  vielseitig 
oder  beschränkt  ausgebildet  ist,  gleichgiltig,  ob  er  vag  und  zerflossen 
ist,  wie  derjenige  der  Veden,  oder  mehr  oder  weniger  gegliedert,  in  ein 
System  gebracht  wie  der  griechische;  in  keinem  Falle  geht  er  von  der 
Einheit  als  der  Alleinheit  aus  und  in  keinem  Falle  führt  er  zur  Einheit, 
zum  Monotheismus.  Und  auch  da,  wo  er  vermöge  einer  Reform  im  Fort- 
schritte der  Zeit  und  der  Cullur  der  Menschen  sich  aufs  kunstvollste 
gliedert,  wo  er  sich  eine  Spitze  schafft  in  einem  obersten,  graduell  höch- 
sten Gotte,  der  dadurch  noch  lange  nicht  als  von  den  anderen  Göttern, 
unter  denen  noch  manche  Rangstufen  bestehn,31)  specifisch  verschieden 

31)  Als  »engeren  Ausschüsse  der  grossen  olympischen  Gottheiten  bezeichnet 
Preller,  Mythol.  8.  Aufl.  S.  4  nach  Nägelsbach,  Homerische  Theologie  S.  \  «3,  Nachhom. 
Tbeol.  S.  135  mit  Recht  die  Trias:  Zeus,  Apollon,  Athene;  auf  diesen  folgen  bekannt- 


16  J.  OVERBECK,  [16 

ist,  auch  da  sage  ich,  wo  der  Polytheismus  sich  eine  Spitze  schafft,  wie 
der  griechische  in  Zeus,  dem  homerischen  Zeus,  auch  da  bleibt  er  was 
er  ist. 

Und  wenn  man  denn  nun  trotz  dem  Allen  die  Stufe  der  Naturreli- 
gion, welche  den  Gultus  einem  Theile  der  Natur  anstatt  ihrer  vielen  oder 
einem  vorzugsweise  zuwendet,  Monotheismus  nennen  und  diesen  als 
primitiv  von  der  Ausbildung  des  eigentlichen  sogenannten  Polytheismus 
sondern  will ,  dann  muss  immer  noch ,  und  zwar  mit  Nachdruck  darauf 
hingewiesen  werden,  dass  dieser  nicht  principielle,  nicht  begriffene 
Monotheismus ,  weit  entfernt  eine  reinere  Religion  zu  sein  als  der  aus- 
gebildete Polytheismus,  Nichts  ist,  als  dessen  Keim  und  Vorstufe,  als 
die  erste,  einfache  Bntwickelung  eines  Gewächses,  das  in  reicher  mor- 
phologischer Umgestaltung  erst  spater  zur  Entfaltung  seines  ganzen 
Organismus  und  zu  seiner  Blttthe  gelangt;  zur  vollen  Entfaltung  seines 
Organismus  in  dem  ausgebildeten  Polytheismus  und  zu  seiner  Blttthe  in 
dessen  systematischer  Zusammenfassung  unter  einer  obersten  Spitze  als 
der  Offenbarung  des  nicht  mehr  unbegriffenen,  sondern  des  eigentlichen 
und  begriffenen  Monotheismus  oder  seines  Triebes  und  Zuges.'  Weit 
entfernt  also  den  Übergang  von  jenem  einzig  und  aliein  in  der  Beschran- 
kung bestehenden  primitiven  Monotheismus  zum  ausgesprochenen  Poly- 
theismus als  das  Resultat  der  Verwilderung  der  Sitten  und  der  Bildung 
und  als  einen  Rückschritt  zu  betrachten  oder  anzuerkennen,  kann  ich  in 
demselben  nur  einen  Fortschritt  des  Geistes  finden,  denselben  Fort- 
schritt, in  welchem  sich  der  Geist  des  Knaben  und  des  Jünglings,  der 
die  Welt  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  auffasst,  gegenüber  dem  Geiste  des 
Kindes  befindet,  das  nur  das  Nächste  und  Auffallendste  wahrnimmt  und 
dem  das  All  deswegen  Eines  ist,  weil  es  ihm  Nichts  ist.  Und  wenn  man 
die  Sache  so  betrachtet  wie  ich  glaube  dass  sie  allein  betrachtet  werden 


lieh  wesentlich  in  der  Stellung  der  Gerusie  die  olympischen  Götter,  alle  übrigen  haben 
nur  die  Stellung  der  freien  Mannen  in  der  Agora  des  heroischen  Staates.  So  in  dem 
poetisch  nationalen  System  Homer*s ;  an  den  weit  Siteren  Unterschied  der  Haupt-  und 
Neben-  oder  Untergötter,  wenngleich  die  Alten,  wie  Welcher,  GÖtterl.  4.  S.  676 f. 
lehrt,  diesen  Unterschied  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen  haben,  ist  als  an  eine  be- 
kannte und  in  sich  wohl  begründete  Thatsache,  die  auch  W.  a.  a.  0.  S.  678  anerkennt 
und  ausführt,  auch  nur  zu  erinnern.  Im  Übrigen  darf  auch  noch  auf  das  verwiesen 
werden,  was  über  die  Gliederung  des  Göttertbums  und  seine  Rangstufen  NSgelsbach, 
Homer.  Theol.  S.  95  ff.  gut  ausgeführt  bat. 


17]  Beiträge  zir  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  17 

darr  und  kann,   dann  schwindet  auch  jeder  Zusammenhang  zwischen 
jenem  primitiven  Monotheismus  und  dem  mehr  oder  weniger  klar  ge- 
fassten ,  begriffenen  Monotheismus  der  Reform ,  der  Reife  der  Nation, 
und  dann  wird  man  sich  auch  frei  halten  von  jener  abenteuerlichen 
Vorstellung  eines  höchstbegablen,  mit  reinerer  Erkenntniss  ausgestatte- 
ten Urzustandes  der  Menschheit,  von  dem  alle  fernere  Eotwickelung  nur 
Entartung  wäre,  von  jenem  unseligen  Traume,  der  in  Greuzer's  und  der 
Seinigen  Geistern  und  Schriften  Unheil  und  Unklarheit  genug  hervor- 
gebracht hat,  um  uns  nur  mit  ungeheucheltem  Schmerz  sehn  zu  lassen, 
wie  unsere  neueste  Forschung  in  ihren  höchststehenden  und  bedeutend- 
sten Vertreter^  demselben  wieder  zuzuneigen  Miene  macht.  Dann  wird 
man  auch  einleuchtend  finden,  dass  die  Menschheit  eine  Kindheit  gehabt 
hat,  und  dass  die  Religion  so  wenig  wie  die  Sprache  der  Menschen 
während  dieser  Kindheit  mit  einem  Höchsten  und  Vollkommensten  begon- 
nen hat  und  begonnen  haben  kann,  sondern  dass  gleichwie  die  Sprachen 
in  Jahrtausende  langer  Entwickelung  sich  aus  dem  ersten  Lallen  zu 
ihrer  Bluthe  erhoben ,  ehe  die  uns  bekannte  Geschichte  ihrer  Entartung 
und  Abschwächung  beginnen  konnte,  so  auch  die  Religionen  aus  kindi- 
scher und  beschränkter  Erkenntniss  der  Gottheit  lange  Zeiträume  hin- 
durch zu  ihrer  eigentümlichen  Höhe  emporstiegen,   ehe  jene  Rück- 
schritte eintreten  konnten,  von  denen  Welcker82)  sagt,    dass  sie  den 
Haupttheil   der  Geschichte  aller  Religionen  ausmachen.    Sprache  und 
Religion  gehn  hier  ganz  parallel  und  verhalten  sich  auch  in  unserer 
Geschichtskenutniss  gleichartig;  die  Geschichte  der  Entartung  ist  uns 
grösstentheils  bekannt,  und  sie  allein  kann  uns  in  der  Hauptsache  bekannt 
sein ,  weil  erst  mit  der  Vollendung  der  Sprachbildung  das  Geschichts- 
leben der  Nationen,  im  engeren  Sinne  des  Wortes  wenigstens,  beginnt ; 
aber  dass  dieser  bekannten  Geschichte  eine  unbekannte  der  aufstreben- 
den Entwickelung  vorausliege,  darüber  täuscht  sich  wenigstens  was  die 
Sprache  anlangt  die  Linguistik  nicht,33)  und  darüber  sollte  sich  was  die 
Religion  betrifft  die  mythologische  und  mythenphilosophische  Forschung 
eben  so  wenig  täuschen  und  wird  sie  sich  nicht  täuschen,  wenn  sie  mit 
unbeirrtem  historischem  Blick  den  freilich  nicht  chronologisch  zu  be- 


32)  N.  Rhein.  Mus.  a.  a.  0.  S.  628. 

33)  Noch  ganz  neuerdings  hat  dies  Schleicher  vortrefflich  entwickelt  in  einem 
Aufsatz :  Das  Leben  der  Sprache  und  unser  Sprachgefühl  in  Prutz  Deutschem  Museum 
1861.  No.  6. 

Abhaodl.  d.  K.  S.  Cet.  d.Wisi.  X.  2 


18  J.   ÜVERBECK,  [18 

glimmenden,  dennoch  aber  sichtbar  genug  vorliegenden  geschichtlichen 
Thatsachen  nachspürt.34) 

Und  hiermit  wende  auch  ich  diese  Untersuchung,  und  zwar  mit 
leichterem  Herzen,  dem  historischen  Boden  zu,  auf  den  uns  Alles  hin- 
drängt, und  auf  dem  allein  die  Frage  über  den  Monotheismus  des  Zeus 
als  einer  concrelen  geschichtlichen  Erscheinung  entschieden  werden 
kann.  Hier,  auf  historischem  Boden  haben  wir  zu  untersuchen,  ob  es 
einen,  überhaupt  einen  Monotheismus  des  Zeus  in  Griechenland  gegeben 
hat  und  welcher  Art  dieser,  oder  besser,  welcher  Art  die  Religion  des 
Zeus  war,  ob  sie  den  Gott  als  Gott  den  Göttern  und  der  Natur  gegen- 
über, oder  als  einen  Gott  neben  und  über  den  anderen  Göttern  in  der 
Natur  fasste,  ob  es  eine  »transcendentale  Gottesidee  des  Zeus  Kronion«, 
einen  Zeus  »als  allbelebenden,  weltbeherrschenden  Allgeist«  jemals  gab, 
ob  es  wahr  sei,  was  Welcker35)  sagt:  »die  grösste  Thatsache,  wenn  wir 
in  das  höchste  griechische  AI terthum  zurttckgehn,  ist  die  Idee  Gottes  als 
des  höchsten  Wesens  verbunden  mit  einem  Naturdienst,«  und  ob  dies 
Monotheismus  sei,  ob  die  griechische  Religion  auf  dieser  Zwiespältigkeit 
des  Geistes  und  der  Natur,  der  Transcendenz  und  der  Immanenz  des 
Göttlichen  beruhe,  oder  ob  man  vielmehr  wird  zugeben  müssen,  dass 
die  Einheit  des  Göttlichen  oder  das  allgemeine  Gefühl  des  Göttlichen  wie 
0.  Müller  sich  ausdrückte,86)  welches  allein  die  insita  notitia  ist,  nicht 
weder  Gölter  was  Welcker  leugnet  noch  auch  Gott,  was  er  behauptet,37) 
in  Griechenland  in  einer  Vielheit  der  Erscheinungsformen,  in  eine  Menge 
von  ursprünglichen  Naturgöttern  gespalten  auftritt,  wahrend  sie,  die 
Einheit  selbst  sich  in  dem  gemeinsamen  Begriffe  des  Göttlichen  und 
dieser  sich  in  den  Worten  fadg  und  öal/uwv  ausspricht,  die  alle  einzel- 
nen Gottheiten  des  Polytheismus,  ganz  ohne  Rücksicht  auf  ihre  indivi- 


34)  Vergl.  Welcker,  Götterl.  I.  S.  6:  »Die  griechische  Religion  hat  hinter  der  Zeit 
Homer's  nicht  blos  den  langen  Zeitraum  gehabt,  der  zur  Entfaltung  und  Vereinbarung 
so  mannigfaltiger  und  sinnreicher  Bildungen  bis  zu  diesem  alle  anderen  Mythologien 
weit  überragenden  Grade  der  Vollendung  und  des  geistreich  freien  Spiels  der  PoSsie 
vorausgesetzt  werden  muss,  sondern  noch  einen  anderen,  in  welchem  ein  von  dem  zu 
Tage  liegenden  Zustande  der  Bildung  ganz  verschiedener,  eine  andere  Art  der  Auffas- 
sung der  Welt  und  der  Gottheit,  andere  Richtungen  und  Bedürfnisse  des  Geistes  in 
Vorstellung  und  Gultus  herrschend  waren.« 

35)  Götterl.  I.  S.  129. 

36)  Prolegomena  S.  243. 

37)  Götterl.  t.  S.  22  9. 


49]  Beiträge  zur  Erkbnntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  19 

duellen  Namen  und  Functionen  gleicherweise  bezeichnen.38)  Und  sowie 
wir  diesen  historischen  Boden  betreten  finden  wir  ans  auch  mit  Wel- 
cker  wiederum  in  vielen  Beziehungen  in  grösserem  Einklang,  während 
wir  freilich  in  der  Lage  sind ,  ihn  mit  seinen  eigenen  Waffen  und  Wor- 
ten zu  bekämpfen  wo  er  über  diese  Beziehungen  hinausgeht. 

Vor  allen  Dingen  nehmen  wir  nun  davon  Act,  dass  Welcker  selbst 
auf  griechischem  Boden  keinen  Monotheismus ,  sondern  einen  uraltesten 
Polytheismus  annimmt,  so  alt  wie  die  Existenz  eines  griechischen  Volkes. 

Am  unbedingtesten  geschieht  das  im  Rhein.  Mus.  a.  a.  0.  S.  626, 
wo  Welcker  sagt,  dass  zu  der  Behauptung  des  Hrn.  Dr.  H.D.  Müller,  auch 
nach  ihm  habe  der  Polytheismus  erst  in  Griechenland  sich  ausgebildet, 
»in  dem  Buche  selbst  nicht  mit  einem  Worte  Veranlassung  gegeben«  sei. 
Inwiefern  dieser  überaus  entschiedene  Ausdruck  ganz  berechtigt  sei, 
da  die  Behauptung  eines  »anfänglich  monotheistischen  Charakters  der 
Religion,  die  transcendentale  Gottesidee  des  Zeus  Kronion«  (S.  1 80),  die 
doch  nur  griechische  Verhaltnisse  angehn  kann,  da  Zeus  Kronion  nicht 
vorgriechiscb  ist,  wenigstens  leicht  misverstanden  werden  konnte,  mag 
dahingestellt  bleiben,  das,  worauf  es  hier  vor  Allem,  ja  ganz  allein  an- 
kommt, ist  dass  Welcker  den  Polytheismus  für  so  alt  erklart  wie  das 
griechische  Volk  auf  dem  Boden  Griechenlands.  Und  diese  Erklärung  in 
seiner  Antikritik  steht  keineswegs  allein,  wenngleich  sie  die  Sache  am 
unumwundensten  ausspricht,  auch  in  der  Götterlehre  selbst  fehlt  es  nicht 
an  Stellen ,  die  sich  rfur  auf  einen  urallen  Polytheismus  beziehn  lassen, 
so  die  schon  angeführten  Worte  (S.  1  29) :  »die  grösste  Thatsache,  wenn 
wir  in  das  höchste  griechische  AI terthum  zurückgehe  ist  die  Idee  Gottes 
als  des  höchsten  Wesens,  verbunden  mit  einem  Naturdienst,«  so  fer- 
ner was  wir  S.  \  6  finden :  »bei  dem  Sonderleben  in  Gauen  war  jede 
Volksgemeinde  eine  Welt  für  sich  mit  ihrem  eigenen  Gott  ausser 
Zeus  und  etwa  einem  Fluss  oder  Nymphen  dazu.«  Die  An- 
nahme eines  eigenen  Gottes  neben  Zeus  und  ausserdem  des  Flussgottes 
und  der  Nymphen  darf  freilich  wohl  nicht  urgirt  werden  und  durfte 
schwer  oder  unmöglich  zu  erweisen  sein;  aber  darauf  kommt  es  nicht 
an,  sondern  auf  den  auch  hier  deutlich  ausgesprochenen  Polytheismus. 


38)  Will  man  diese  in  eine  Vielheit  von  NatargÖUern  gespaltene  Idee  der  Gottheit 
oder  des  Göttlichen  mit  Schelling,  Philos.  d.  Mythologie  S.  91  einen  »auseinanderge- 
gangenen Monotheismus«  nennen,  so  habe  ich  hiergegen  im  Grunde  nur  einzuwenden, 
dass  ich  nicht  einsehe,  was  mit  diesem  nicht  eben  klaren  Ausdruck  gewonnen  wird. 

2# 


20  J.  OVERBECK,  1^0 

Wichtig  ist  ferner  was  wir  S.  31  lesen:  »von  keinem  der  Hauptgötter 
kann  gesagt  werden,  dass  er  nicht  auch  pelasgisch  oder  in  der  pelasgi- 
schen  Zeit  irgendwo  verehrt  gewesen  sei,«  denn  Pelasgisch  ist  für  Wel- 
cker  Urhellenisch  und  über  die  Pelasger  hinaus  hört  alle  geschichtliche 
Forschung  auf  griechischem  Boden,  deren  Grenze  so  Mancher  schon 
diesseit  derselben  ziehn  wollte ,  unbedingt  auf,  und  was  als  Pelasgisch 
anerkannt  wird,  das  bezeichnet  die  Urzustände  des  Hellenenthums. 
Also  nicht  nur  der  eine  und  der  andere  Gott  neben  Zeus  constituirt  den 
primitiven  Polytheismus  des  griechischen  Volks  auf  griechischem  Boden, 
sondern  derselbe  erstreckt  sich  auf  alle  Hauptgötter,  wenngleich  diese 
noch  nicht  irgendwie  in  ein  Ganzes  vereinigt  oder  alle  von  allen  Stäm- 
men verehrt  wurden.39) 

Also  die  urgriechische  Religion  ist  der  Polytheismus ;  aber  damit 
ist  nicht  genug  gesagt,  nicht  nur  auf  griechischem  Boden  tritt  der  Poly- 
theismus als  primitiv  in  die  Geschichte,  wir  können  vielmehr  die  Frage 
Preller's40)  »ist  es  wirklich  der  Fall,  dass  die  Griechen  wie  alle  übrigen 
zu  dem  indogermanischen  Sprachstamme  gehörigen  Nationen,  ein  ge- 
wisses Capital  polytheistischer  und  mythologischer  Ideen  aus  der  älte- 
sten Zeit  ihres  Zusammenlebens  mit  den  verwandten  Völkern  schon  nach 
Griechenland  mitgebracht  haben«  auch  in  Welcker's  Sinne  getrost  mit 
Ja  beantworten.  Denn  so  unbegreiflich  spröde  sich  auchWelcker  (S.  48) 
über  die  Namenserklärung  »aus  dem  Indischen«  ausspricht,  so  unbedingt 
er  wie  absichtlich  die  Augen  vor  den  einleuchtend  richtigen  Erklärungen 
vieler  Götternamen  nicht  aus  dem  Indischen ,  sondern  aus  dem  indo- 
germanischen Urstamm  der  Sprache  verschliesst,  die  wir  der  Linguistik 
verdanken  und  die  z.B.  ein  Mann  wie  Preller,  wenn  auch  mit  höchlich 
anzuerkennender  Vorsicht  und  Kritik  adoptirt  hat:  einige  Ableitungen 
hat  auch  Welcker  (S.  12)  anzuerkennen  nicht  umhin  gekonnt,  und  S.  9 
hat  er,  was  viel  entscheidender  ist ,  anerkannt:  »die  Religionen  dieser 
(arischen)  Völkerfamilie  haben  eine  allgemeine  Obereinstimmung  in  ihrem 
Bezüge  zur  Natur  und  zum  Polytheismus,  wodurch  sie  sich  stark 


39)  Gegen  eine  solche  Vorstellung  und  für  die  gewiss  und  nachweislich  allein 
richtige,  dass  der  populäre  Polytheismus  in  seinem  ganzen  Bestände  erst  das  Resultat 
der  Stammmischungen  und  des  Cultusaustausches  sei  spricht  sich  Welcker  klar  und 
entschieden  eben  in  diesem  Abschnitt  (7)  und  in  dem  früheren  (5)  «VielstBmmigkeil« 
überschriebenen  aus. 

40)  Jahns  Jahrbb.  a.  a.  0.  S.  39. 


34]  Beitrage  zcr  Erkenntniss  ukd  Kritik  der  Zeusreligion.  21 

von  den  Semiten  unterscheiden,«  [?]  und  daselbsl  weiterhin :  »Auch  in 
der  Mythologie  wird  das  Gemeinsame  in  Hauptsachen  und  besonders 
auch  in  charakteristischen  NebenzUgen  immer  reiner  und  bedeutender 
hervortreten ,  je  mehr  man  sich  auf  das  Einleuchtende  und  Erweisliche 
beschränkt.«  Gewiss!  Zu  den  Hauptsachen  aber  gehört  der  bei  allen 
diesen  Volkern,  soweit  unsere  Forschung  dringt  primitive  Polytheismus; 
und  eben  dahin  rechnet  auch  Welcker  S.  12,  wenn  ich  ihn  nicht  mis- 
verslehe:  »die  aus  der  Urheimat  mitgebrachten  verdunkelten  Sagen  und 
Vorstellungen  von  einer  allgemeinen  Flulh ,  von  einem  Götterberg,  von 
Weltallern  u.  s.w.,  manche  gemeinsame  Thiersymbole«  u.  s.w.  Einen 
wie  ausgebildeten ,  ja  eigentlich  schon  gegliederten  Polytheismus  dies, 
namentlich  der  Urolymp  als  gemeinsame  Götlerwohnung  aber  voraus- 
setze oder  einschliesse,  brauche  ich  doch  wohl  nicht  erst  auseinander- 
zusetzen. Und  so  rückt  der  primitive  Monotheismus  auch  historisch  vom 
griechischen  Boden  auf  den  der  arischen  Urheimat  und  von  diesem  immer 
weiter  und  immer  weiter  hinaus,  bis  er  sich  zu  einem  blossen  Axiom 
verflüchtigt ,  das  nun  aber  nicht  mehr  zu  einer  tieferen  Erklärung  der 
Thatsachen  der  griechischen  Religion  dienen  kann ,  wohl  aber  zu  deren 
schiefer  Beleuchtung  Denn  eine  solche  scheint  es  mir  zu  sein,  wenn 
Welcker  diesem  axiomatischen  Monotheismus  zu  Liebe  die  griechische 
Religion  wie  sie  sich  uns  in  ihren  ältesten  erkennbaren  Zuständen  zeigt, 
als  einen  Abfall  von  der  grossen  Idee,  und  als  eine  Entartung,  bedingt 
durch  die  Verwilderung  der  Sitten  und  der  Bildung  darstellt,  und  wenn 
er  den  sich  im  homerischen  Göttersyslem  offenbarenden  bewussten 
monotheistischen  Zug  als  eine  »Wiederaufrichtung*  des  nur  als  eine 
Tradition  aus  dem  axiomatischen  primitiven,  d.  h.  uneigentlichen  und 
nicht  begriffenen  Monotheismus,  dieses  »Erbtheils  der  Menschheit«  schil- 
dert. 

Doch  genug  dieser  allgemeinen  Betrach Lungen,  in  die  ich  wahrlich 
nicht  eingetreten  wäre,  wenn  mich  nicht  Welcker's  Beweisführung  dazu 
gezwungen  hätte,  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  durch  sie  an  und  für 
sich  über  das  Wesen  der  Zeusreligion  und  über  deren  Verhältniss  zum 
Naturdienst,  ausser-  und  oberhalb  oder  innerhalb  desselben  letzthin  nicht 
entschieden  werden  kann.  Der  Frage  über  den  Charakter  der  Zeusreli- 
gion als  einer  concreten  historischen  Thatsache  ist  nun  direct  und  auf 
anderem  Wege  nahe  zu  treten. 


22  J.   OvERBBCK,  [2* 

Wir  haben  mit  dem  Namen  des  Zeus  zu  beginnen. 

»An  der  fernsten  Grenze  des  griechischen  Alterthums  treten  uns 
die  Wörter  &eog  und  datfiwv  und  die  Namen  Zevg  und  Kqoviwv  ent- 
gegen:  etwas  Alleres  giebt  es  für  uns  in  der  griechischen  Religion  nicht.« 
So  beginnt  Welcker,  Götterlehre  1.  S.  129  den  Abschnitt  seines  Werkes, 
dessen  Aufgabe  es  ist,  darzuthun,  dass  Zevg  und  &eog  derselben  Wurzel 
und  desselben  Begriffs  und  dass  Zevg  aus  &eog  »durch  die  Individual- 
form  gesteigert«  (S.  133)  »als  Gott,  von  Anbeginn  als  persönlich  gegen- 
über der  Welt«  (a.  a.  0.)  zu  fassen  sei.  Gleich  hier  muss  ich,  um  ferne- 
rer Consequenzen  willen ,  Einspruch  erheben.  Allerdings  ist  über  den 
Namen  des  Zeus  hinaus  Älteres  für  uns  im  griechischen  Alterthum  nicht 
erforschbar,  womit  aber  noch  nicht  ausgesprochen  ist,  dass  Anderes, 
dass  anderer  Götter  Namen  jünger  sein  müssen ;  auch  die  Wörter  &eog 
und  daifimv  treten  für  unsere  Erkenntniss  als  Urworte  auf,  und  zwar 
als  Bezeichnungen  alles  Göttlichen,  jeder  Gottheit  schlechthin,  wobei  die 
Einheit  oder  Vielheit  dieses  Göttlichen,  der  Gottheit  oder  der  Gottheiten 
gänzlich  unberührt  bleibt.  Dass  aber  auch  Kqovlwv  ein  solches  Urwort 
sei,  dies  bestreite  ich,  so  feierlich  es  Welcker  wiederholt41)  behauptet, 
auf  das  entschiedenste.  Ich  hoffe  zu  beweisen,  dass  es  den  Zeus  nur 
als  Sohn  des  Kronos,  eines  persönlichen  Kronos  (nicht  Chronos)  be- 
zeichne, dass  es  ihn  als  einen  Geborenen  darstelle,  ihn,  der  in  den  älte- 
sten Gülten  entweder  ausdrücklich  als  von  Ewigkeit  her  gewesen  be- 
zeichnet wird,42)  oder  von  dessen  Geburt,  Geboren-  also  Endlichsein 
vor  dem  Eintritt  des  kretischen  Mythus  niemals  die  Rede  ist.43)  Aber 
eben  so  wenig  ist  in  irgend  einem  der  ältesten  Culte  auch  nur  zufällig 
von  Eronion  die  Rede,  selbst  nicht  im  Gebete  des  Achill  (II.  16.  233) 
bei  Homer,  dem  doch  die  Formel  Zeus  Kronion  so  gar  geläufig  ist.  Ich 
behaupte  also,  um  über  meine  weiterhin  genauer  zu  begründende  An- 
sicht keinen  Zweifel  zu  lassen,  schon  hier,  dass  Kronion  sich  in  keiner 


41)  Götterl.  \.  S.  MS. 

42)  Bekanntlich  im  dodon&ischen  Peleiadenhymnus  bei  Pausan.  10.  IS.  5: 

Zevg  rjv,  Zivg  iori,  Zevg  eaatrat. 

43)  Das  relativ  geringe  Alter  aller  Gebarte-  und  Kindheitssagen  des  Zeus  be- 
hauptet und  bespricht  Welcker,  Götlerlehre  2.  S.  234  ff.  ganz  auch  meiner  Überzeu- 
gung gemäss. 


33]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  23 

älteren  Quelle  findet,  als  bei  Homer  und  in  denen  von  Homer  abwärts, 
denen  der  kretische  Mythus  geläufig,  denen  Zeus  ein  Geborener  ist,  ein 
jüngerer  Herrscher  in  einem  neuen  Reiche  nach  der  Herrschaft  eines 
alteren  in  einem  von  Zeus  gestürzten  Titanenreiche,  und  dass  folglich 
Zeus  Kronion  aus  dem  kretischen  Geburtsmythus  stammt. 

»Hiernach  (nämlich  nach  dem  Inhalte  des  oben  ausgezogenen  Satzes) 
fährt  Welcker  a.  a.  0.,  fort,  waren  von  Anbeginn  Gott  und  Götter  diesen 
Völkern  (wenn  auch  nicht  allgemein)  als  himmlische  und  geistige,  Zeus 
als  der  ewige  Himmelsgott,  im  Gegensatze  alles  Gewordenen,  Sichtbaren 
bewusst.«  Zeus  als  der  ewige  Himmelsgott  beruht  für  Welcker  auf  der 
Formel  Zevg  KqovI(ov9  die,  von  Kronos-Chronos  abgeleitet,  den  »Sohn 
der  ewigen  Zeit«  d.  h.  den  Golt  von  Ewigkeit  her  bezeichnen  soll.44) 
Dass  ich  dies  bestreite  ist  bemerkt.  Was  aber  die  Idee  selbst  anlangt, 
so  könnte  sie  dennoch  richtig  sein,  und  sie  ist's  auch  in  gewissem  Sinne, 
sofern  Zeus  in  seinen  ältesten  Gülten  als  gewesen,  seiend  und  sein  wer- 
dend oder  wenigstens  nicht  als  geboren  oder  geworden  genannt  wird; 
Letzteres  aber  ist  nicht  bei  ihm  allein  der  Fall,  auch  bei  den  anderen 
Göltern ,  selbst  bei  denen ,  die  nachher  im  nationalen  System  als  Zeus9 
Kinder  erscheinen,  um  von  den  Urmächten,  Gäa,  Okeanos,  Helios  u.  A. 
nicht  zu  reden ;  auch  bei  diesen  ist  in  den  ältesten  Gülten  von  keinem 
Geborensein  die  Rede,  und  noch  für  Homer  sind  die  Götter  &eoi  aeiy^v^ 
ra*;45)  die  Eltern,  die  Genealogien  sind  in  allen  Fällen  jünger  als  die 
Götter,  wie  dies  auch  logisch  gar  nicht  anders  sein  kann,  da  der  Gott 
als  Gegenstand  des  Cultus  doch  erst  an  sich  da  sein  musste,  ehe  man 
ihm  Eltern  geben  und  durch  die  Genealogie  aufwärts  seine  Würde  er- 
höhen konnte,  wie  Welcker  sich  einmal  gut  ausdrückt.46)  Nicht  also  bei 
Zeus  allein  ist  dies  Nichtgeborensein,  diese  Anfangslosigkeit  charakteri- 


44)  Götterl.  I.  S.  140  f. 

45)  H.  t.  400.  Wenn  Welcker  Götterl.  i .  S.  4  84  dies  und  andere  Prädicate  »von 
Zeus  auf  die  Götter  übertragen«  nennt,  so  ist  dies  ein  Axi  om  auf  das  ich  zurückkom- 
men muss. 

46)  Götteri.  4.  S.  4  52.  Dasselbe  hat  auch  Buttmann,  Mythol.  2.  48  eingesehn, 
M-enn  er  sagt:  »der  oberste  Gott  jeder  Nation  ist  ein  wahrer,  d.  h.  ein  Erfahrungsgott; 
der  Vater  sowohl  wie  der  Grossvater,  den  die  Mythologie  ihm  giebt,  sind  philosophi- 
sche, ergrübette  Götter«,  nur  dass  die  Bezugnahme  auf  den  obersten  Gott  allein ,  die 
hier  durch  den  Zusammenhang  gegeben  war ,  unstreitig  die  Sache  zu  eng  fasst.  Jeder 
an  und  für  sich  verehrte  Gott  ist  ein  wahrer,  d.  h.  ein  Erfahrungsgott,  sonst  wäre  er 
eben  gar  nicht. 


24  J.  OVERBBCK,  [24 

stisch,  sondern  sie  ist  ein  Prädicat  des  Göttlichen,  aller  Gottheit  Über- 
haupt gegenüber  der  Endlichkeit  des  Menschlichen.  Und  grade  so  wie 
alle  anderen  Götter  einzeln  und  nach  und  nach  als  geboren  gefasst 
werden,  nicht  um  sie  dadurch  in  ihrem  Wesen  zu  beschränken  oder  in 
dem  Bewusstsein,  dass  dieses  wirklich  geschehn,  sondern  um  ihre 
Würde  zu  erhöhen,  indem  man  ihnen  in  der  Zeit  des  lebhaft  erwachten 
Ahnenstolzes  der  adeligen  Geschlechter  hochadelige  Ahnen  gab ,  Eltern 
erfand  und  dichtete,  grade  so,  nicht  anders,  und  im  Zusammenhange 
mit  eben  diesem  Triebe  9  mit  eben  dieser  genealogischen  und  theogoni- 
sehen  Umdichtung  ist  auch  Zeus  zum  Geborenen  geworden,  ist  ihm  ein 
Elternpaar  gesucht  und  gedichtet  worden,  wie  dies  Motiv  Niemand  kla- 
rer ausgesprochen  hat  als  Welcker  selbst. 47)  Fassten  also  hiernach  die 
Griechen  von  allem  Anfang  an  ihre  Götter,  die  Gottheit  als  ewig,  so 
zeigt  andererseits  das  Wort  daifitov,  das  ebenfalls  wieder,  so  weit  unsere 
Forschung  zu  dringen  vermag  ein  allgemeines  Prädicat  des  Göttlichen, 
aller  Gottheit  ist,  dass  sie  ihre  Götter  als  Wissende,  als  Geister,48)  Geister 
der  Natur  fassten,  welche  sie,  wie  Welcker  (S.  216)  darthut,  nicht  als 
Materie,  als  blosse  Erscheinungen,  als  die  todte  Natur  angebetet  haben, 
sondern  in  der  ihnen  die  bewegenden,  die  Erscheinungen  und  das 
menschliche  Dasein  bedingenden  Kräfte  als  göttlich,  als  lebendig,  geistig 
erschienen,  diese  Kräfte,  die  sie  als  persönlich  fassen  nach  dem  unaus- 
weichlichen Gesetze  notwendiger  Personification,49)  dass  wir  Kraft 
überhaupt  nicht  unpersönlich  denken  und  fassen  oder  wenigstens  vor- 
stellen können,  sondern  sie,  wofern  wir  uns  nicht  mit  dem  blossen 
Worte  begnügen,  auf  einen  Willen,  also  eine  Person,  Gott  zurückführen 
müssen,  was  wir  auch  nicht  weniger,  wenn  auch  anders  (hun,  als  es  die 
alten  Heiden  und  alle  Naturreligionen  thaten,  nur  dass  diesen  die  Idee 
der  Transcendenz  und  des  Supranaturalismus  Gottes  abging,  welche  die 


47)  Götter!.  4.  S.  149:  »Zu  einer  Zeit,  wo  etwa  Apollon's  oder  anderer  Götter 
Geburls  fest  als  das  heiligste  gefeiert  wurde,  durfte  der  Mythus  sich  nicht  scheuen,  auch 
den  Kronos  im  eigentlichen  Sinne  als  Vater  zu  fassen«  u.  s.  w. 

48)  Welcker,  Götter].  I.  S.  4 38 f.  Preller,  Mythol.  2.  Aufl.  S.  87. 

49)  Die  Naturreligion  schafft  nicht  blos  leicht  antbropomorphische  Bilder  göttlicher 
Wesen  oder  Kräfte,  wie  Welcker  Götter!.  1.  S.  231  sagt,  sondern  sie  muss  sie  schaffen, 
menschengestaltige  und  menschenartige ,  weil  man  im  Bilde  der  Gottheit  nicht  hinab- 
steigen kann  und  des  Menschen  höchstes  Denken  der  Mensch  ist.  Dass  Gott  in  der 
Mosaischen  Urkunde  den  Menschen  nach  seinem  Bilde  schafft  kehrt  die  Sache  nur 
scheinbar  und  dem  Ausdrucke  nach  um. 


25]  Beitrags  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zkisreligiok.  25 

Einheit  bedingt.  Ewige  Geister  der  Naturkräfte  also  waren  die  griechi- 
schen Götter,  ob  sie  auch  »himmlische«  waren,  wie  Welcker  meint,  das 
hangt  von  der  sprachlichen  Erklärung  von  fadg  und  von  dessen  Ver- 
hältniss  zu  Zevg  ab.  Welcker  hat  die  gewichtigsten  linguistischen  Zeu- 
gen für  die  Erklärung  von  Zeus  als  dyaus  von  /div  also  für  Zeus  als 
den  Gott  des  leuchtenden  Himmels  und  Tür  die  Ableitung  von  fcög  aus 
derselben  Wurzel  theils  angeführt,50)  theils  ausgezogen.51)  Das  Erstere, 
die  Erklärung  des  Zeusnamens  ist  unbestritten  und  scheint  unbestritten 
bleiben  zu  sollen ;  gegen  das  Letztere,  die  Ableitung  von  &eog  aus  der- 
selben Wurzel  hat  Georg  Curtius0-)  Widerspruch  erhoben.  So  Triftiges 
mir  nun  seine  Gründe  auch  zu  enthalten  scheinen  werde  ich  mich  wohl 
hüten,  mich  in  diesen  Streit  der  Linguisten  zu  mischen  oder  in  demsel- 
ben Partei  zu  ergreifen;55)  auch  wird  dies  zu  meinem  Zwecke  nicht 
nöthig  sein ,  da  ich  nicht  die  Natur  des  Göttlichen  schlechthin  in  der 
griechischen  Urreligion  zu  untersuchen  mir  vorgesetzt  habe ,  da  es  mir 
daher  gleichgiltig  sein  kann,  ob  die  Götter  ausser  als  ewige  Geister  auch 
noch  als  »die  Angebeteten«54)  oder  als  »die  Himmlischen«  bezeichnet 
werden.  Das  worauf  es  mir  ankommt  ist  die  Natur  des  Zeus ;  dass  er 
der  Himmlische  sei  steht  fest,  dass  aber  Zeus  und  &edg  nicht  so  iden- 
tificirt  werden  dürfen  oder  so  promiscue  gebraucht  worden  sind,  wie 
dies  Welcker  mit  grossem  Nachdruck  lehrt ,  das  lässt  sich ,  auch  abge- 
sehn  von  allen  etwaigen  linguistischen  Differenzen ,  wie  ich  denke  aus 
anderen  Gründen  erweisen. 

»Von  der  höchsten  Wichtigkeit  nun  ist  es,  sagt  Welcker  (S.  1 32  f.), 
dass  von  dem  Appellativum  &eds,  &eol  durch  die  Form  der  Name  des 
einen,  bestimmten  Ztvo,  unterschieden  wird,  welcher  die  Bedeutung  des 
Wortes  in  sich  schliesst,  aber  dadurch,  dass  er  durch  die  Form  von  den 
Göttern  geschieden  und  eine  Persönlichkeit  ist,  als  Gott  der  Götter, 


50)  Götterl.  4.  S.  134  Note  4. 

54)  Daselbst  S.  430  ff. 

♦ 

52)  Grundzüge  der  griechischen  Etymologie  4.  S.  SSO,  vergl.  S.  SOS. 

53)  Preller  beobachtet,  Curtius  anführend,  Mythol.  2.  Aufl.  S.  87  dieselbe  Zurück- 
haltung, und  wenn  man  sich  erinnert,  wie  vornehm  die  Herren  Linguisten  uns  arme 
Philologen  gelegentlich  behandeln,  so  muss  dies  sehr  natürlich  erscheinen;  unsere 
Selbständigkeit  der  Linguistik  gegenüber  opfern  wir  damit  nicht  und  wollen  wir  nicht 
opfern. 

54)  DÖderlein  bei  Curtius  a.  a.  0. 


26  J.   OVERBECK,  [26 

ihnen,  welche  durch  ihre  besonderen  Eigennamen  besondere  Kräfte, 
Eigenschaften ,  Wesen  ausdrücken ,  gegenübergestellt  wird ,  also  nicht 
ein  Gott  unter  den  Göttern,  sondern  auch  vorzugsweise  oder  überhaupt 
Gott,  die  Gottheit  ist.  Dass  von  Alters  her  Zeus  wenigstens  im  Allge- 
meinen in  diesem  seinem  höheren  und  absoluten  Sinn  aufgefasst  worden 
sei,  geht  in  der  That  aus  seinem  von  den  Göttern  der  Mehrheit  ihn  un- 
terscheidenden,  und  doch  Gott  bedeutenden  Namen  hervor« 
Gott  bedeutenden  Namen?  Dies  ist  entschieden  unrichtig;  Zeus:  dyaus 
bedeutet  nicht  Gott,  sondern  Himmelsgott,  Himmel,  Glanz  als  Gott,  und 
eben  so  sollen  ja  die  &tol,  wenn  Curtius  nicht  Recht  haben  sollte,  nicht 
»die  Götter«,  sondern  «die  Himmlischen,  die  Glänzenden«  sein.  Der  Über- 
gang der  Bedeutungen  Himmel  und  Gott  in  einander,  von  dem  Welcker 
(S.  1 30)  redet,  ist  unbestritten,  aber  er  muss  hier  nur  richtig  angewen- 
det werden.  Wenn  wir  »Himmel«  für  »Gott«  sagen ,  so  tibertragen  wir, 
abgesehn  davon,  wie  starken  Antheil  an  der  Sache  eine  gewisse  euphe- 
mistische Scheu  hat,  die  Idee  des  Göttlichen  auf  das  Himmlische ;  wenn 
aber  Zeus  und  fcog  aus  einer  /div  kommen,  so  bezeichnet  diese  nicht 
zunächst  das  Göttliche  (wie  unser  Gott  von  gut55)),  sondern  es  bezeich- 
net zunächst  das  Himmlische ,  Leuchtende ;  die  Alten  also  übertrugen 
grade  umgekehrt  das  Himmlische  auf  die  Idee  der  Gottheit,  sie  nannten 
die  Gottheit  »himmlisch«,  der  Himmel,  der  Glanz  war  ihnen  das  Primi- 
tive, aus  dem  sich  die  Idee  des  Göttlichen  erst  entwickelte  oder  mit 
dem  das  Göttliche  designirt,   sinnlich -geistig  genannt  wurde.06)    Also 


55)  Grimm,  Geschichte  der  deutschen  Sprache  S.  541. 

56)  Vollkommen  bestätigt  dies  was  Welcker  S.  4  35  aus  Max  Möller's  Darstellung 
mittheilt :  »wir  sehn ,  dass  sie  [die  Arier]  bevor  ihre  Trennung  statthatte  einen  Namen 
für  einen  Gott  [wohlgemerkt  nicht  für  Gott,  die  Gottheit]  hatten,  welcher  den  Glanz 
der  Sonne,  Himmel  und  Tagslicht  ausdruckt«  und  das.  »es  war  ein  gluck- 
licher  Wurf  der  Sprache,  das  ahnungsvolle  Gefühl  des  Daseins  einer  göttlichen  Macht 
durch  ein  Wort  auszudrücken,  welches  Licht  bedeutet.«  Und  gleicherweise  stimmt 
hiermit  die  a.  a.  0.  in  der  Note  47  mitgetheilte  Ansicht  von  Max  Schmidt:  »dass  Jupiter 

der  Tages-,  Himmels-,  Sonnengott  sei ;  denn  die  Spuren  der  waltenden  Gottheit, 

die  sich  in  der  ganzen  Natur  offenbaren,  vermochte  der  Mensch  nicht  sofort  unter 
einem  Begriff  zusammenzufassen ;  vielmehr  glaubte  er  zu  jeder  Erscheinung  der  Natur 
ein  besonderes  Wesen  annehmen  zu  müssen ,  das  jene  Erscheinung  hervorbringe,  — 
den  Tag,  den  Himmel,  die  Sonne  natürlich  als  die  oberste,  höchste  Gottheit,  weil  diese 
Natorkraft  die  gewaltigste  unter  allen  zu  sein  schien.«  Das  trifft  denn  freilich  den  Nagel 
genau  auf  den  Kopf!  Auch  Hr.  Dr.  H.  D.  Müller  hat  diesen  Punkt  im  Philologus  a.  a.  0. 
S.  554  durchaus  richtig  beleuchtet,  und  Welcker  hat  ihm  hierauf  Nichts  geantwortet. 


27]  Beiträge  zua  Emcbnntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  27 

nicht  »das  Wesen  der  Götter,  Geist,  UnvergttnglichkeiU  wird  in  Zeas' 
Individualnamen  gesteigert,  wie  Welcker  S.  \  33  sagt,  sondern  der  Göt- 
ter Wesen:  himmlisch,  leuchtend;  und  daraus  folgt  nicht  ein  alleiniger 
Gott  über  dem  All,  oder  ein  dem  sichlbaren  All  entgegengestellter,  wie 
Welcker  meint,  sondern  es  folgt  daraus  ein  specifisch  himmlischer,  Him- 
melsgott, ein  mehr  als  die  anderen  Götter  himmlischer,  glänzender,  ein 
höchster  und  vornehmster  Gott,  aber  dennoch  nur  ein  Gott  neben  Göt- 
tern, ein  primus  inter  pfares,  was  denn  Zeus  auch  durch  eine  weite,  fast 
durch  die  ganze  Entwickelung  hin  bleibt.  — 

So  wenig  aber  Zeus  seinem  Namen  und  dessen  primitiver  Bedeu- 
tung nach  der  Gott  über  den  Göttern  der  Natur,  der  alleinige  Gott  ist, 
eben  so  wenig  ist  das  richtig,  was  Welcker  über  Gleichsetzung  von 
Ztvg  und  &cög  gesagt  hat.*7)  Gleich  auf  derselben  Seite  133  lesen  wir: 
»es  lässt  sich  daher  im  grammatischen  Sinne  verstehn  was  wir  im  Etym. 
M.  lesen  Zeiig,  6  &eds  p.  408.  52;«  lässt  sich,  ja,  wenn  wir  dem  Gram- 
matiker Welcker' sehe  Einsicht  auf  Grund  Welcker'scher  Hypothese  zu- 
trauen wollen;  aber  irren  werden  wir  dabei  jedenfalls,  da  der  ehrsame 
Lexikograph  an  gar  nichts  Anderes  gedacht  hat,  als  zu  sagen :  Zeus,  der 
bekannte  Gott,  nämlich  der,  dessen  Namen  Kornutos  so  und  so,  Andere 
anders  ableiten,  wie  es  im  Fortgange  des  Artikels  heisst ,  grade  so  wie 
wir  bei  demselben  p.  24.  54  lesen  ^{hjvaia,  ij  &e6g9  und  p.  434.  44 
~H()a,  tj  &€og  u.  s.  w.  was  natürlich  nicht  anders  zu  verstehn  ist  als 
p.  604.  40:  Nt]Q€VQ>  6  &ccXao(uog  daifimv  und  Ahnliches,  was  sich  bei 
allen  Götternamen  wiederholen  würde,  wenn  nicht  der  Grammatiker 
meistens  gleich  zu  Anfang  durch  orthographische  und  sonstige  Quis- 
quilien  von  der  Erklärung  abgehalten  würde.58) 

Aber  nicht  allein  von  diesem  späten  Sprachgebrauche  lässt  sich 
behaupten,  oder  muss  bestimmt  behauptet  werden,  dass  er  keineswegs 
nach  Welcker' s  Annahme  Zeug  und  &eog  gleich  setzt,  auch  in  Beziehung 
auf  den  früheren  und  frühesten  von  Homer  an  abwärts  hat  Welcker  Glei- 
ches mit  Unrecht  angenommen.  Auf  S.  1 80  seiner  Götterlehre,  wo  wir 
dem  anfänglich  monotheistischen  Charakter  der  Religion  und  der  tran- 


57)  Dass  Preller,  Mythol.  2.  Aufl.  S.  85  dies  ohne  Bedenken  befolgt  nimmt  mich 
Wunder. 

58)  Yergl.  z.B.  p.  277.  35:  Jiowaog'  ol  fup  äibvv\ov  ovtop  6vo(aoCov<hp  und 
wieder  p.  280.  5  dubwooq*  xcct  ixraotv  x.  r.  A.  p.  376.  20  'Epfifjg'  nugii  rb  igdi 
ro  Xt'yat.  und  so  fort. 


28  J.  OvERBECK,  [«8 

scendentalen  Gottesidee  des  Zeus  Kronion  wiederbegegnen,  bat  Welcker 
eine  Anzahl  homerischer  und  nachhomerischer  Dichterstellen  ausgeho- 
ben, durch  welche  er  glaubt  beweisen  zu  können,  »dass  schon  bei  Homer 
Zeus  zuweilen  gleichbedeutend  mit  &eog,  tö  &eiop9  neben  &eog  oder 
damit  abwechselnd  gebraucht  ist,  so  wie  später  &eög  oder  &eol  gesagt 
wird.«  Es  ist  nöthig,  diese  Stellen,  die  Welcker  doch  sicherlich  nicht 
aufs  Gerathewohl  zum  Nachweis  des  homerischen  Gebrauchs  von  &eog 
aus  dem  Damm'schen  Wörterbuche,  das  er  S.  181  citirt,  herausgegriffen 
hat,  im  Einzelnen  näher  zu  betrachten.  Die  erste  II.  13.  730: 

aAXco  fiiv  yaQ  edwxe  &eög  noXe/UTjia  tyya, 
aXko  <F  iv  avq&eooi  n&el  voov  evQvona  Zeig. 
will  ich  als  zweifelhaft  gelten  lassen;  sie  beweist  nicht,  dass  in  ihr  #eo£ 
und  Zeus  gleichbedeutend  oder  parallel  stehn ,  da  auch  &eog  ng  ver- 
standen werden  kann,  obwohl  nicht  muss ;  sie  ist  nach  den  übrigen  zu 
beurteilen.  Die  zweite  II.  19.  86 ff.  geht  Zeus  gar  nicht  an,  wie  es  aus 
Welcker' s  Anführung  scheinen  könnte,  der  mit  vs.  90  abbricht,  während 
vs.  91  zeigt,  dass  der  vs.  90  genannte  &eog  die  Ate  sei: 

&eog  dia  navra  rekevra 
nqeaßa  dibg  &vydtt]Q  "At^,  rj  navrag  äärcu. 
In  der  dritten,  Od.  4.  236 

araQ  &eog  äXXor  tri  aXk(p 
Zevg  äya&ov  re  xaxov  re  dtdot, 
steht  Zevg  in  Apposition  zu  &eog  grade  wie  &ea  yXavxwTtig  sJ&rjvt]  oder 
noch  genauer  und  zwar  ganz  genau  so  wie  Od.  1 9.  396 : 

&eog  de  ol  avrog  edwxev,  'Eqfieiag. 
In  der  vierten,  Od.  14.  440: 

qi&  ovrwg  Evfjuue9  (pikog  Alt naxql  yevoio 
mit  der  Antwort :  &eog  de  ro  fdv  dtooei,  ro  d*  idaei  ist  das  &eög  sicher 
nicht  Zeus,  sondern:  ein  Gott ,  jeglicher  Gott;  und  dass  in  der  fünften, 
Od.  3.  231  ebenfalls  so  verslanden  werden  muss,  wie  Voss  auch  rich- 
tig einsah  oder  fühlte  als  er  »ein  Gott«  übersetzte,  dies  geht  um  so 
sicherer  daraus  hervor,  dass  vorher  v.  228,  auf  welchen  sich  der  an- 
gezogene Vers  als  Antwort  bezieht,  die  &eo$9  nicht  Zeus  genannt  sind: 

ovx  av  efioiye 
iknofidvq)  rä  yevoir,  ovo*  ei  &eoi  äg  e&Houv 


231 :  Q€ia  &eog  yi&e'X&v  %ai  Ttjko&ep  avÖQa  occwoai 


29]  Beiträge  zur  Erkbnntniss  und  Kritik  der  Zbusreligion.  29 

Sowie  in  dieser  letzten  Stelle  in  faög  ein  Bezug  auf  Zeus  angenommen 
ist,  ohne  dass  von  diesem  überhaupt  die  Rede  war,  so  ist  auf  der- 
selben Seile  weiterhin  gesagt,  was  ich  schon  oben  berührt  habe,  »dass 
Prädicate  von  Zeus  auf  die  Götter  übertragen  sind ,  wie  fcol  rä  navra 
Övvuvtcu  oder  ioaoiv  (Od.  10,  309,  4.  376),  ötoi  äiiyeverai  (II.  2.  400 
vgl.  2.  400,  3.  296,  Od.  23.  81  u.  sonst) ,  als  ob  Zeus  und  die  Götter 
eins  wären,  wie  Gott  durch  den  Plural  Elohim  ausgedrückt  wird.« 
Hier  fehlt  aber  wie  ich  wiederholen  muss  jeder  Schatten  eines  Be- 
weises für  diese  angebliche  Übertragung,  und  ich  kann  nicht  umhin  zu 
glauben,  dass  nur  die  Voreingenommenheit  für  seinen  transcendentalen 
Zeus  Kronion  Welckern  veranlassen  konnte,  Prädicate  des  Göttlichen 
überhaupt  als  von  Zeus  auf  die  Götter  übertragen  aufzufassen ,  worin 
ihm  so  leicht  ein  Anderer,  der  die  Sache  im  Zusammenhange  prüft, 
nicht  folgen  wird.  Das  aaiytvirai,  dem  auch  noch  das  cuev  eovreg  (z.  B. 
Od.  3.  1 46)  entspricht ,  kann  doch  nicht  ernstlich  irre  führen ,")  da  es 
entweder  aus  dem  uralten  Begriffe  der  ewigen,  ungeborenen  Götter 
(nicht  nur  des  Zeus,  oben  S.  23  f.)  heraus  gesagt  ist,  trotzdem  die  home- 
rischen Götter  geboren  sind ,  oder  da  es  in  derselben  Weise  uneigent- 
lich ,  wenn  auch  ohne  Bewusslsein  dieser  Uneigentlichkeit  gebraucht  ist 
wie  das  Prüdicat  der  Unsterblichkeit  bei  Göltern ,  die  fürchten  müssen, 
von  Menschen  umgebracht  zu  werden,  wie  z.B.  Kirke,  oder  die  elendig- 
lich umgekommen  wären,  wie  der  von  den  Aloaden  eingesperrte  Ares, 
wenn  er  nicht  in  der  zwölften  Stunde  noch  von  Hermes  gerettet  wor- 
den wäre. 

Nicht  besser  aber  als  mit  den  besprochenen  homerischen  Stellen 
steht  es  mit  denen  der  späteren  Dichter,  die  Welcker  S.  1 80  in  der 
Note  1  anführt;  überall  ist  ohne  Zwang  &eog  rig  oder  &eäv  reg  zu  ver- 
stehen ,  und  dass  in  der  That  so  nicht  nur  verstanden  werden  könne, 
sondern  auch  verstanden  werden  müsse,  dies  geht  ans  dem  Wechsel 
oder  der  Parallele  des  fcög  mit  &eol,  später  mit  ro  &eior9  ro  daifioviov 
hervor  in  Stellen,  die  zum  Theil  Welcker  selbst  anführt.  Es  handelt  sich 


59}  Ebenso  wenig  das  Ztvg  xal  faol  oder  vollends  &sol  akkot,  das  Preller  a.  a.  O. 
bei  dieser  Gelegenheit  anzieht  und  mit  Jupiter  ceterique  dii  vergleicht;  da  Zeus  als 
König  der  Götter  den  anderen  voransteht  und  da  die  &tol  aXkoi  ihn  so  recht  als  primus 
inter  pares  zeigen.  Analog  kommt:  i'Eavia  nymavtlq  xal  to7q  aXXoig  &to7g  naot*  in- 
schriftlich vor  Corp.  Inscr.  Add.  Tom.  2.  p.  1059,  Hestia  als  die  zeitweilig  zuerst  be- 
rücksichtigte voran  wje  sonst  Zeus. 


30  J.  OVERBBCK,  [30 

liier  eben  Überall  um  Prädicate  des  Göttlichen  schlechthin  ,"*)  des  Gött- 
lichen, das  im  Polytheismus  in  viele  einzelne  Glieder  gespalten,  die 
Einheit  des  Gemeinsamen  in  dieser  Vielheit  bildet,  aber  es  handelt  sich 
nicht  um  Zeus ,  der  auch  hier  überall  mit  in  der  Vielheit  ist. 


3. 

Nachdem  ich  im  vorstehenden  Abschnitte  zu  zeigen  versacht  habe, 
dass  Zeus  seinem  Namen  nach  nicht  der  absolute,  transcendente  Gott, 
sondern  der  Gott  des  Himmels ,  also  von  allem  Anfang  an  ein  an  ein 
Naturgebiet  gebundener  Gott  sei  wie  alle  übrigen  Götter,  und  dass  auch 
die  dichterische  Sprache  ihn  nur  graduell,  nicht  specißsch  von  den 
anderen  Göttern  unterscheidet,  müssen  wir  uns  jetzt  den  hauptsäch- 
lichen Cullen  des  Zeus  als  den  ältesten  Zeugnissen  für  sein  Wesen  zu- 
wenden. Und  wenn  sich  nun  aus  deren  unbefangener  Prüfung  unzwei- 
felhaft ergeben  wird,  dass  Zeus  in  keinem  derselben  als  Gott  schlecht- 
hin ,  sondern  durchaus  nur  als  Gott  des  Himmels  je  nach  dessen  ver- 
schiedenen Erscheinungen  und  Einflüssen  auf  das  Erdenleben  verehrt 
worden  sei  ,61)  so  wird  man  sich  nicht  entbrechen  können  einzugestehen 
dass  Zeus'  Erscheinung  in  der  homerischen  und  nachhomerischen  Poesie 
und  Kunst ,  dass  seine  ganze  jehovahartige  Herrlichkeit  und  seine  An- 
näherung an  die  reine  Göttlichkeit  einer  Steigerung  der  Ideen  im  Zu- 
sammenhange mit  dem  Fortschritt  in  der  Bildung  der  Nation  angehört. 


60)  Vergl.  hierzu  Lehrs*  popul.  Aufss.  S.  \  28  f.,  wo  namentlich  der  Satz  zu  unter- 
schreiben ist :  »bis  zu  diesem  (vorher  bestimmten)  Grade  supponirter  Persönlichkeit 
kann  Gedanke  und  Anschauung  dem  Griechen  in  Beziehung  der  Einheit  seiner  Götter- 
Vielheit  vorgehn;  aber  Gestalt  kann  dieser  Gott  nie  gewinnen«  u.  s.  w.  Auch  das 
Folgende  zeigt  und  macht  recht  fühlbar ,  dass  und  warum  unter  diesem  allgemein  ge- 
setzten &tb<;  neben  fttiov  und  Öaifioviov  nicht  Zeus  gemeint  sein  kann 

6t)  In  Beziehung  hierauf  muss  ich  wieder  Hrn.  Dr.  H.  D.  Müller  a.  a.  0.  S.  556 
vollkommen  zustimmen  wenn  er  sagt:  »sodann,  und  das  ist  die  Hauptsache,  stellt  sich 
in  mehren  uralten  Culten  und  den  daran  sich  knüpfenden  Mythen,  wenn  man  sie  ge- 
hörig analysirt,  das  Wesen  des  Zeus  in  einer  Auffassung  dar,  welche  keine  Spur  von 
dem  transcendentalen ,  ewigen  Gotte  zeigt ,  sondern  deutlich  erkennen  lässt ,  dass  er 
wesentlich  auf  derselben  Grundlage  erwachsen  ist,  wie  die  übrigen  grossen  Götter.« 
Was  dann  folgt  ist  freilich  wieder  gänzlich  verkehrt. 


31]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  31 

und  zwar  derselben  Steigerung,  die  Welcker  unübertrefflich  geschil- 
dert10) and  deren  Bewusstsein  in  der  Nation  selbst  er  in  dem  Mythus 
vom  Titanenkampfe,  soviel  ich  verstehe  mit  Recht,  gefunden  hat;03) 
einer  Steigerung  aber,  die  nicht  Zeus  allein,  sondern  die  alle  grossen 
Götter  betroffen  hat ,  indem  sie  alle  aus  Nalurgeistern ,  als  welche  sie 
den  Göttern  der  Barbaren  gleich  waren  ,6i)  zu  sittlichen  und  intelligenten, 
gesteigert  menschenartigen  Wesen  wurden ,  **)  so  dass  also  in  der  grie- 
chischen Religion  ein  grossartiger  Fortschritt  auf  die  Religion  des  Gei- 
stes hin  staltgefunden  hat  und  zwar  ein ,  so  weit  unsere  Forschung 
reicht,  stetiger,  nicht  aber  ein  von  einem  Rückschritt  unterbrochener 
von  einer  hypothetischen  reineren  Urreligion  zu  einer  verwilderten  und 
verflachten ,  aus  der  die  Reform  erst  wieder  umkehren  musste. 

Der  älteste  Hauptsitz  des  pelasgischen  urgriechischen  Zeus  war 
bekanntlich  inDodona,  aber  nicht  in  dem  später  allein  bekannten  in 
Epirus,  sondern  in  einem  früh  untergegangenen  und  vergessenen  in 
Phthia.  Diesen  Satz  hat  Welcker,  Götterl.  1 .  S.  1 99  f. ,  indem  er  daran 


62)  In  den  »die  Reform«  überschriebenen  Abschnitten  50  f.  seiner  Götterlehre. 

63)  Daselbst  Abschnitt  56  f. 

64)  Vergl.  Welckers  Götter).  Abschnitt  46  f. 

65)  Dass  freilich  die  Götter  der  reformirten  Religion  von  den  ursprünglichen 
Göttern  der  Natur  so  durchaus  verschieden  gewesen  seien,  wie  es  Welcker  behauptet 
(S.  230  u.  sonst),  kann  ich  nicht  zugestehen,  obgleich  dies  die  Ansicht  auch  derer  Aller 
ist,  welche  die  Genesis  der  griechischen  Götter  aus  der  Natur  läugnen.  Mir,  und  nicht 
mir  allein,  hat  immer  geschienen,  dass  der  Nabelstrang,  der  die  aus  der  Natur  ge- 
borenen Götter  mit  dieser  verbindet,  nie  vollkommen  gelöst  oder  durchschnitten  wor- 
den, obgleich  er  bei  einigen  leichter  und  deutlicher  bei  anderen  weniger  deutlich  zu 
erkennen  ist ;  die  poetischen  Götter  haben  ein  doppeltes  Walten ,  in  der  Natur  und 
zwar  in  bestimmten  Kreisen  und  dann  über  der  Natur  im  Gebiete  des  Geistigen  nach 
dem  Allgemeinbegriff  des  Göttlichen;  aber  in  jenem  Walten  in  bestimmten  Kreisen  der 
Natur  ist  das  Band  das  sie  mit  der  Natur  verbindet  erhalten,  und  wie  Vieles  auch  in 
den  rtfiai  und  Tegra*  der  Götter,  um  mit  Herodot  zu  reden,  durch  die  ursprüngliche 
Naturwesenheit  bedingt  sei  ist  auf  vielen  Punkten  bereits  zur  Evidenz  naehgewiesen. 
Dass  in  dem  Nachweis  dieser  »Übertragungen«  aus  dem  Naturgebiet  in  das  Ethische 
mancher  Leichtsinn  und  manche  Seichtheit  sich  laut  gemacht  hat,  konnte  die  allge- 
meine Erkenntniss  wohl  aufhalten,  gefährdet  aber  die  Sache  nicht,  und  dass  kein 
Göttername,  kein  Mythus,  wenigstens  kein  echter  und  alter  aus  dem  poetisch  geistigen 
Wesen  erklärt  werden  kann,  dies  kann  nur  denen  verhüllt  bleiben,  auf  die  weil  sie 
speculiren  anstatt  Historisches  historisch  zu  erforschen  der  Ausspruch  des  Goethe' sehen 
Mephisto  Anwendung  findet.  Von  »Umgestaltung«  bei  der  »Eins  auf  das  Andere  ge- 
folgt sei«  spricht  auch  Welcker  selbst  a.  a.  0.  S.  226. 


32  J.  OVERBRCK,  [32 

erinnert,  dass  schon  die  alte  Kritik  eingesehen  hat,  der  von  Achill 
II.  16.  235  angerufene  Zeus  dodonäos  pelasgikos  müsse  dem  Heimath- 
lande des  Betenden  angehören,  meiner  Einsicht  nach  mit  unwiderleg- 
lichen Gründen  und  zur  vollen  Evidenz  erwiesen.66)  Nicht  beistimmen 
kann  ich  jedoch  dem  einen  Grunde,  den  Welcker  in  der  Note  unter  an- 
deren geltend  macht,  und  dem  ausführlicher  zu  widersprechen  um  der 
ziemlich  weitreichenden  Consequenzen  willen  nothwendig  ist.  Welcker 
meint  nämlich ,  das  thesprotische  Dodona  sei  nicht  Svöx^/n^og  und  der 
dvaxeifieQog  J.  in  Thessalien  komme  »die  thesprotische  Eichet  nicht  zu. 
Ersteres  ist  ohne  allen  Zweifel  richtig,07)  Letzteres  nicht.  Denn  erstens 
wird  daran  zu  erinnern  sein ,  dass  ein  Ort  nach  griechischen  Begriffen 
sehr  > schwerwinterlich«  sein  und  doch  die  herrlichsten  yrjyot  hervor- 
bringen kann;  wer  kennt  nicht  die  »rigida  Bologna«  der  heutigen  Ita- 
liener, und  wer  weiss  nicht,  dass  dort  nicht  allein  Eichen,  sondern 
auch  Lorbeern  und  andere  immergrüne  Laubhölzer  wachsen?  Und  was 
würde  ein  alter  Epiker  von  der  ionischen  Küste  wohl  zu  unserem  Klima 
sagen,  die  wir  doch  Eichen  haben  so  schön  man  sie  wünschen  mag? 
Um  den  Satz,  der  schwerwinterlichen  Dodona  komme  der  (pTjyoc  nicht  zu, 
aufrecht  zu  erhalten  müsste  man  das  t^Aolt*  vaiwv  im  achilleischen  Ge- 
bete mit  einem  Scholiasten  auf  Bergeshöhe  und  das  dvc%ei[juQog  auf  den 
beschneiten  Berggipfel  bezieh  n,  wie  Welcker  dies  auch  tbut;  aber  mit 
Unrecht;  tijXo&i  nebst  rijte  und  rtjkov  heisst  stets  fern,  in  der  Ferne 
von  dem  Redenden ,  nie  fern  in  der  einsamen  Höhe  oder  hoch.  Und  in 
diesem  Sinne:  fern  von  Achill,  fern  von  Ilion,  in  der  fernen  Heimath, 
wie  es  auch  ein  anderer  Scholiast  richtig  versteht  muss  das  TtjXa&t  im 
Gebete  Achills  auch  ganz  unzweifelhaft  gefasst  werden:  den  Gott  in  der 
eigenen  fernen  Heimath,  seinen  Gott  ruft  Achilleus  an,  seinen  Zeus, 
den  pelasgischen ,  den  er  von  dem  Zeus  *Idtj&ev  pedecov,  an  den  er  sich 
näher  wenden  könnte,  wenn  es  sich  hier  blos   um  Zeus  schlechthin 


66)  Ich  kann  die  Motive  nicht  ermessen,  nach  denen  Preller,  Mytbol.  9.  Aufl.  S.96 
Welckers  Lehre  nur  so  halbwegs  und  gleichsam  beiläufig  anerkennt. 

67)  Wenn  daher  Preller  a.  a.  0.  Note  3  das  dvox*i(**Qog  auf  Tbesprotien  be- 
ziehn  will,  indem  er  es  auf  die  dort,  in  der  Gegend  von  Janina  nach  dem  Zeugnisse 
Leake's  häufiger' als  irgendwo  sonst  vorkommenden  Gewitter  bezieht,  so  kann  ich  ihm 
durchaus  nicht  zustimmen ;  Gewitter  und  Gewitterstürme  können  durch  dvox*i(i*Qoe 
für  eine  Gegend  nimmer  ausgedrückt  werden,  am  wenigsten  für  die  Gegend  um  das 
thesprotische  Dodona,  wie  wir  sie  aus  antiken  und  modernen  Zeugnissen  kennen. 


33]  Beiträge  zur  Erkbnntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  33 

handelte ,  unterscheidet.  Dies  ist  die  sprachlich  und  sachlich  ein- 
fache und  natürliche  Interpretation  der  Stelle,  die  andere:  rrjXo&i  für 
fern  in  der  Höhe,  im  Äther,  die  ein  höchst  Bedeutendes  als  unnötiger- 
weise versteckt  betrachtet,  da  es  auf  der  flachen  Hand  lag  ai&eQi  vaiwv 
zu  schreiben,68)  wenn  dies  gemeint  war,  ist  sachlich  gekünstelt  und 
schroff  und  sprachlich  mindestens  bedenklich.  Was  aber  die  Eiche  an- 
langt, auf  die  mir  Alles  ankommt,  und  welche  dem  phthiotischen  Do- 
dona  vindicirt  werden  muss,  wenn  man  in  das  Wesen  des  dortigen 
Zeus  Einsicht  gewinnen  will ,  so  ist  es  freilich  richtig  was  ein  Scbo- 
Hast60)  angiebt,  dass  Homer  (in  der  Ilias)  die  Eiche  in  Dodona  über- 
gangen hat,  wenn  er  aber  zwei  Mal:  5.  693  und  7.  60  den  vynjkrjQ  und 
rtsQiKaXXtjg  (prjyog  dibg  aiyio%oio  als  bei  Ilion  stehend  nennt,  so  fragt 
sich  doch  noch  sehr,  aus  welcher  Tradition  er  dies  thut ,  und  dem  Zeus 
die  Eiche  als  heiligen  Baum  beilegt,  wenigstens  ist  unerwiesen  und 
dürfte  schwer  zu  erweisen  sein  dass  der  Dichter  der  Ilias  hier  an  die 
» thesprotische  Eiche«  gedacht  habe,  und  dass  die  hier  genannte  Eiche 
dem  ältesten  Gült  des  pelasgischen  Zeus  überhaupt  und  also  auch  dem 
Urdodona  in  Thessalien  abzusprechen  sei.  Noch  in  den  Metamorphosen 
Ovids  (7.  622)  betet  Äakos  unter  hoher  Eiche  stehend  um  ein  Volk,  und 
der  Gott,  zu  dem  er  betet,  der  hellenische  Zeus  ist  der  Gott  von  Phthia, 
der  Hellanios  Aginas  kein  anderer  als  der  phthiotisch-dodonäische,  der 
ja  so  gut  ein  Gott  der  Nässe,  der  Fluth  ist  wie  der  Regengeber  Aginas ,  ) 


68)  Auf  Grund  welcher  Auctorität  Gerhard,  Griech.  Mythol.  I.  §  4  89.  2  in  der 
That  schreibt:  »Ztv  ava  daiSrnvatt,  TliXaayixi,  ai&tQi  vaiwv  betet  Achill«  u.  s.w. 
ist  mir  unbekannt. 

69)  Siehe  b.  Welcker  a.  a.  0.  in  der  Note. 

70)  Denn  auf  ihn  und  auf  Phthia  bezieht  sich  die  deukalionische  Fluthsage ,  was 
Welcker  selbst  S.  200  anerkennt,  ja  hervorhebt,  wie  denn  auch  Preller,  Mythologie 
2.  Aufl.  I.  S.  65  die  Deukalionssage  vorzüglich  Thessalien  (und  dem  Parnass,  der  hier 
nicht  in  Frage  kommt)  zuschreibt,  und  Welcker  es  mit  Recht  »etwas  stark«  nennt, 
dass  diese  Sage  später  auf  Thesprotien  und  das  dortige  Dodona  übertragen  worden  ist. 
Sowie  aber  der  phthiotisch-dodonäische  Zeus  es  ist,  der  die  deukalionische  Fluth 
sendet,  so  ist  es  der  hellenische,  der  als  Regengott,  wenn  er  auch  nicht  vtnog  ge- 
nannt wird,  auf  Äakos' Bitte  bei  grosser  Dürre  Regen  sendet;  und  danach  kann  es 

i  denn  auch  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  Umwandlung  des  Zeus  in  einen  vatog, 

|  den  wir  nur  aus  Epirus  kennen  (Gerhard  Myth.  §  490.  4),  zum  mindesten  begrifflich 

schon  im  Urdodona  in  Phthiotis  vollzogen  war,  und  nicht  erst  der  Zeit  nach  der  Über- 
siedelung nach  Thesprotien  angehört,  während  es  zugleich  hieraus  sich  ergiebt,  dass 
sich  der  vatog  begrifflich  nicht  oder  nicht  ursprünglich  auf  Quellen  und  das  quellen- 

Abhandl.  d.  R.  S.  Ges.  d.WUi.  X.  3 


34  J.  OVERBBCK,  [34 

wie  dies  Dissen  zu  Pind.  Nem.  4.  51 ,  gestützt  auf  0.  Muller  (Aeginet. 
p.  59)  bereits  richtig  eingesehn  und  ausgesprochen  hat.  Welcker  freilich 
widerspricht  S.  204,  aber  sicherlich  mit  um  so  grösserem  Unrecht,  da 
er  selbst  S.  203  sagt:  »die  Myrmidonen  Äginas  sind  die  Hellenen  Achills, 
ihr  Äakos  und  Peleus  gehören,  was  die  Sage  nur  umkehrt,  ursprünglich 
nach  Phthia  und  dahin  also  auch  der  hellenische  Zeus.«  Ja  freilich! 
wenn  man  dies  aber  anerkennt ,  wie  will  man  sich  da  noch  dem  von 
mir  behaupteten  Schlüsse  entziehn?  Der  Zeus  der  Hellenen  Achills,  des 
Achi Ileus  selber,  derjenige,  den  er  anruft,  und  den  er  nach  Welckers 
guter  Bemerkung  (S.  201)  nicht  anrufen  würde,  »wenn  nicht  die  Pe- 
lasger  von  seinem  Stamme  unterworfen  und  ausgetrieben  wären  und 
dadurch  dieser  Gott  ihm  gehörte,  weil  fremde  Götter  nicht  angerufen 
werden«,  ist  der  pelasgische,  dodonäische,  eben  der,  den  wir  suchen. 
Und  ist  dies  der  Fall,  so  gehört  auch  die  Eiche,  auf  der  Deukalion 
wahrsagt  und  unter  der  Aakos  betet  so  gut  wie  Deukalion  und  Aakos 
selbst  nach  Phthia.  Denn  den  Umweg  über  das  jüngere  Dodona  um 
von  daher  »die  thesprotische  Eiche«  mitzunehmen  haben  die  Aakiden 
Äginas  nicht  gemacht,  diesen  Satz  wird  mir  Welcker  vertheidigen,  sollte 
ihn  mir  Jemand  angreifen.  Von  der  grössten  Wichtigkeit  aber  ist  die 
Gewinnung  der  Eiche  für  das  phlhiotische  Dodona  wegen  der  Natur 
des  Orakels  und  der  sich  aus  dieser  ergebenden  Natur  des  Gottes,  dessen 
Stimme  im  Orakel  vernommen  wurde. 

Aus  der  Odyssee  (14.  327  und  19.  296 71))  wissen  wir,  dass  im 

reiche  Gebiet  um  das  jüngere  Dodona  bezieht,  sondern  auf  Regen,  der  die  Quellen 
o&hrt,  die  deswegen  ix  Au>$  sind.  Unbemerkt  aber  darf  ich  hier  nicht  lassen,  dass 
nach  Schol.  IL  4  6.  233  Deukalion  auf  der  Eiche  sitzend  wahrsagt,  angeblich  nachdem 
er  nach  Epirus  gekommen  ist,  thatsäcblich  ohne  Zweifel  in  Phthiotis. 

74)  Die  dritte  Stelle,  4  6.  407,  die  Welcker  (S.  202)  ebenfalls  citirt  und  auf  die 
er  S.  34  3  Note  3  zurückkommt,  hat  mit  dem  dodonäiscben  Orakel  Nichts  zu  thun  und 
ist  auf  dasselbe  nur  durch  antikes  Misverständniss ,  das  für  öipioreg  als  Orakel  ro- 
Iaovqoi  oder  VTtoqtipai  schrieb  bezogen  worden,  und  dies  bat  auch  Welcker  beirrt, 
was  besonders  der  Consequenzen  wegen,  die  Welcker  S.  343  aus  dem  öewv  tiQcbfie&a 
ßovXag  zieht,  zu  bemerken  wichtig  ist.  Der  ganzen  Situation  jener  Stelle  nach,  nämlich 
in  der  Berathung  der  Freier,  ob  man  dem  Telemachos  auflauern  und  ihn  ermorden 
solle,  kann  es  keinem  Betheiligten  entfernt  in  den  Sinn  kommen,  erst  eine  Deputation 
an  das  dodonäische  Orakel  zu  senden ,  um  zu  erkunden ,  ob  Zeus*  ötfiuneg  den  Mord 
erlauben  oder  nicht;  das  war  auf  anderem  Wege  kürzer  zu  erfahren,  da  Zeus  aller  Zei- 
chen Herr  ist.  Und  dass  &tfHOvtg  nicht  nur  Orakelsprüche  sind  brauche  ich  ja  nicht 
nachzuweisen.  Auch  Preller,  Myth.  2.  Aufl.  4.  S.  96  Note  5  citirt  nur  die  beiden  von 
mir  anerkannten ,  nicht  die  dritte  Stelle. 


35]         Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  35 

thesprotischen  Dodona  (dass  dies  gemeint  sei  geht  aus  14.  315,  19. 
291  ff.  hervor)  Zeus  Rath  aus  der  Eiche  vernommen  wurde,  »wenn  sie 
im  Winde  rauschte  und  flüsterte«  setzt  Welcker  (S.  202)  ohne  Zweifel 
richtig7*)  hinzu,  und  die  Orakel  der  Eiche  gelten  auch  sonst  (z.B.  Plat. 
Phaedr.  275  b)  als  die  ältesten.  Das  Orakel  im  Urdodona  aber  behandelt 
Welcker  als  Incnbationsorakel,  deutet  er  auf  tellurische  Mantik,  was  er  in 
seinen  kleinen  Schriften  zur  griech.  Litteraturgeschichte  3.  S.  90  ff.  aus- 
führlich zu  begründen  versucht  hat.73)  Wie  mir  scheint  nicht  mit  Glück, 
denn  ich  kann  mich  nicht  überzeugen,  dass  die  Deutung  der<2Ütto«  avmro- 
nodeg  xa^auvvai  aus  uralter  roher  Sitte,  die,  fortschreitender  und  weit 
fortgeschrittener  Cultur  gegenüber  mönchisch  bewahrt,  nothwendig  auf- 
fallen und  zum  Charakterismus  werden  musste,  wie  Strab.  8.  505  und 
andere  Alte  und  Neue n)  verstanden ,  nicht  durchaus  das  Richtige  treffe. 
Die  ungewaschenen  Fttsse  bezieht  Welcker  auf  das  Gebot,  in  Gegen- 
wart der  Gottheit  die  Füsse  zu  entblössen ; 7ö)  aber  »ungewaschene« 
Füsse  sind  nicht  »entblösste«  und  ich  sehe  nicht  ein,  mit  welchem 
Rechte  man  den  Begriff  dvvnodrjToi  so  ohne  Weiteres  durch  dvmronodeg 
ersetzt  glauben  darf;  denn  wenn  in  den  Scholien  zu  Homer  unter  man- 
chen anderen  Deutungen  des  alten  Gebrauchs  der  Seiler70)  gelegentlich 
auch  die  mit  unterläuft:  ij  rovro  ex  nvog  j&ovs  inl  ti/ut}  rov  &eov  not- 
ovptcq  x.  r.  X.y  so  kann  uns  das  denn  doch  wahrhaftig  nicht  leiten,  denn 
nach  was  für  Erklärungen  haben  die  Grammatiker  nicht  herumgetaslet. 

72)  Das  geht  u.  A.  auch  noch  aus  Suid.  v.  dwddvt)  hervor:  uaiovnav  zwv  pap- 
xivofiiviov  ixiveTro  dij&tv  fj  dgvg  rftovaa*  al  Si  [yvpctixig  nQoq>rftidtg)  iq>&tyyovro 
an  xadt  Xiyn  6  Zivg. 

73)  Auch  Lassauix:  Das  pelasg.  Orakel  des  Zeus  in  Dodona,  Würzb.  4840.  S.  7 
deutet  das  Erdlagern  der  Selloi  auf  Traumorakel ;  desgleichen  Preller,  Mythol.  2.  Aufl.  4 . 
S.  97,  wogegen  sich  weder  NSgelsbacb,  Nachhom.Theol.  S.  4  79  ff.  noch  C.  F.  Hermann, 
Gottesdienstl.  Altertb.  §  39.  4  9  ff.  (vgl.  den  §  44,  der  von  Traumorakeln  handelt,  ohne 
Dodonas  zu  erwähnen)  noch  dessen  Herausgeber  Stark  in  einer  richtigeren,  den  Zeug- 
nissen des  Alterthums  entsprechenden  Auffassung  haben  beirren  lassen. 

74)  Welcker  selbst  führt,  Kleine  Schriften  a.  a.O.  Note  6  Heyne's  (vitae  auste- 
ritalem  affectasse  istos  homines),  Valkenaer's  und  Heinrich's  hier  beistimmende  Urteile 
an.  Auch  Lobeck,  Aglaoph.  264  behandelt  die  Seiler  als  gens  fera  et  silvestris. 

75)  Auch  hier  folgt  ihm  Preller  a.  a.  0.  mit  dem  Zusatz,  die  awnodrjola  sei  bei 
gottesdienstlichen  Verrichtungen  etwas  Gewöhnliches;  war  sie  das,  warum  wäre  sie 
bei  den  Seilern  bemerkt  worden?  Auch  Lassauix  a.  a.  O. ,  wenn  er  »das  Barfussgehn« 
der  Priester  einen  uralten  morgenländischen  Brauch  nennt,  trifft  im  Wesen  der  Sache 
überein. 

76)  Siehe  Welcker  a.  a.  O.  Note  7. 

3* 


i 

i 

ii 


36  J.  OVEBBECK,  [36 

Und  ebensowenig  kann  uns  die  Annahme  des  Eustathius  (zu  II.  1 6. 233), 
die  Seiler  haben  auf  Fellen  geschlafen  und  durch  Träume  Zeus  Orakel 
empfangen,  wie  man  in  mehren  Traumorakeln  auf  dem  Felle  der  Opfer- 
thiere  schlief,  leiten,77)  da  dies  eine  blos  gemachte  Erklärung  sein  kann, 
und  wahrscheinlich  nur  nach  Analogie  der  Incubationsmantik  erfunden 
ist.  Dass  nach  II.  1.  63,  S.  5  Zeus  auch  Träume  sendet  kann  hier  um 
so  weniger  angezogen  und  benutzt  werden,  da  ganz  abgesehen  davon, 
dass  Zeus  nicht  der  einzige  Traumorakeier  ist,  das  Traumseuden  in 
diesen  Stellen  stricte  nur  zu  der  poetischen  Motivirung  der  Begebenheit 
gehört  und  mit  Traumorakelthum  Nichts  zu  thun  hat.78)  Aber  dies  Alles 
und  was  sich  sonst  noch  gegen  die  Hypothese  Welckers  sagen  lässt, 
gewinnt  seine  rechte  Bedeutung  erst,  wenn  wir  einerseits  bedenken, 
dass  das  Orakel  im  thesprotischen  Dodona  ein  Filial  des  phthiolischen 
»Mutterorakels«  war,  als  welches  es  auch  Welcker  (Götter].  1.  S.  199) 
ausdrücklich  anerkennt,  und  wenn  wir  andererseits  die  Eiche,  aus 
deren  Rauschen  im  thesprotischen  Dodona  das  Orakel  verkündet  wurde, 
auch  für  das  phthio tische  Dodona  gewonnen  haben.  Wie  gross  ist  wohl 
die  Wahrscheinlichkeit,  dass  eine  Pflanzstätte  eines  Mutterorakels  die 
Art  der  Mantik  so  total  geändert  haben  sollte,  und  wie  gross  bleibt  sie, 
nachdem  wir  an  der  Stätte  des  Mutterorakels  dasselbe  Werkzeug  der 
Mantik,  wenn  ich  so  sagen  darf,  die  Eiche  kennen,  welches  in  der 
Pflanzstätte  anerkanntermassen  und  zwar  nach  den  Zeugnissen  aller 
guten  und  alten  Schriftsteller,  Dichter  und  Prosaisten,  deren  keiner 
auch  nur  mit  einem  Wort  auf  Incubation  hindeutet,  allein  diente,  wäh- 
rend ein  Piaton  die  Orakel  der  Eiche  schlechthin  die  ältesten  nennt? 
Denn  man  darf  die  Differenz  der  Mantik  hier  und  dort,  aus  dem 
Rauschen  der  Eiche  im  Windeswehen  und  aus  Träumen  nicht  so 
beschönigen  oder  überdecken  wollen,  wie  dies  Welcker  thut,  wenn  er 
(Götter!.  S.  201)  sagt:  »die  Wahrsagung  aber  kraft  der  Erde  zeigt  diese 
in  Abhängigkeit  vom  himmlischen  Zeus  nicht  weniger  als  das  Luftreich«; 
mag  nach  Hesiod.  9Eqy.  1 8  der  Eronide  wohnen  im  Äther,  in  den  Wur- 
zeln der  Erde  und  in  den  Menschen ,  der  Zeus ,  dessen  Stimme  man  im 
Rauschen  der  windbewegten  hochwipfeligen  Eiche  vernahm  und  ein 
Zeus  der  erdgelagerten  Priestern  prophetische  Träume  »kraft  der  Erde« 


77)  Obgleich  dies  auch  Lassaulx'  Slütze  bei  gleicher  Annahme  ist. 

78)  Ähnlich  sendet  Athene  der  Penelope  ein  Traumgesicht  Od.  4.  795  ff. 


37]  Beiträge  zur  Erkenntniss  cnd  Kritik  der  Zeusreligion.  37 

sandte  sind  gänzlich  verschieden  oder  sie  offenbaren  gänzlich  verschie- 
dene Seiten,  Kräfte  and  Beziehungen  desselben  göttlichen  Wesens. 
Der  Zeus  der  in  den  Wurzeln  der  Erde  wohnt  ist  der  %&6vio<;  und 
chthonisch  ist  das  Traumorakel  kraft  der  Erde ;  der  Zeus  aber,  dessen 
Stimme  man  im  Rauschen  der  windbewegten  Eiche  vernahm ,  und  das 
ist  es,  worauf  es  mir  ankommt  und  um  dessentwillen  ich  die  vor- 
stehende Untersuchung  niederschreiben  musste,  der  ist  ein  Himmels- 
gott, der  Wind,  der  in  den  Zweigen  der  Eiche  rauschte  und  flüsterte 
ist  sein  Hauch,79)  ist  der  lebendige  und  belebende80)  Odem  des  Himmels 
und  sein  Ausfluss,  und  im  Säuseln  des  Windes  naht  Zeus  wie  Jehovah 
im  alten  Testament.81)  Dieser  Gott  des  Himmels  und  des  himmlischen 
Windes  ist  dann  aber  auch  consequenterweise,  da  der  Wind  die  Regen- 
wolke herbeiführt  und  sich  beim  Regen  erhebt,  weiter  zum  Regengott 
geworden,  als  der  er  in  der  phth ioti sehen  Deukalionssage  und  als  hei- 
dnischer erscheint,  und  in  weiterer  Folge  dessen,  weil  Quellen  und 
Flüsse  vom  Regen  des  Himmels  ernährt  wie  gezeugt  werden  und  weil 
deshalb  Quellen  und  Flüsse  i%  Jioq  sind,  zum  vafog,  und  zum  Gotte 
der  quellenreichen  Gegend  um  das  neue  Dodona.  Als  Luft  -  und  Regen- 
zeus, den  die  von  Braun82)  edirle  Büste  des  berliner  Museums  sehr 
schön  darstellt ,  und  zwar  wahrscheinlich  noch  mit  mönchischen  oder 
derwischartigen  Seilerpriestern,  wie  Sophokles88)  (Trach.  1166)  u.  An- 
dere annehmen,  kam  Zeus  in  die  neue  Pflanzstätte  seines  Gultus  in 
Epirus,  wo  man  noch  oder  wieder  seine  Stimme  im  Rauschen  der 
windbewegten  Eiche  hörte ,  und  wo  wir  ihn  zugleich  als  vaiog ,  dessen 
Orakel  man  spater  aus  dem  intermittirenden  Quell  am  Fusse  der  Eiche 
vernahm,84)  dem  Hellanios  entsprechend  kennen.  Verpaart  mit  Ge- 
Dione85)  aber  wurde  er  wohl  erst  hier,  wie  auch  Welcker  (Götterl.  1. 


79)  Vergl.  e'x  Jibg  avQcu  u.  Welcker  2.  S.  197,  Lauer  S.  204,  Gerbard  §  199.7. 

80)  Yergl.  die  attischen  Tritopatoren ;  Preller  Mylh.  2.  Aufl.  I.  S.  371  und  was 
Gerhard,  Griech.  Myth.  §  165.  I  anführt. 

81)  1.  Kön.  19.  11—13. 

82)  Antike  Marmorwerke  1.  Dekade  Taf.  4. 

83)  »Sonst  ein  guter  Antiquar«  sagt  Welcker  Götterl.  S.  200  Note,  wir  streichen 

das  Wörtlein  »sonst.« 

« 

84)  Serv.  ad  Yerg.  Aen.  3.  466,  Plin.  2.  103. 

85)  Und  zwar  ganz  unzweifelhaft  ehelich,  wie  auch  Welcker  S.  253  f.  ausfuhrt, 
nicht»  mehr  geistig  als  ehelich«,  wie  Gerhard,  Griech.  Mylhol.  §  190.  4  nach  Stuhr, 
Rel.  Syst.  2.  41  ff.  sagt. 


38  J.  OVBRBECK,  [38 

203  und  253)  bestimmt  annimmt,86)  und  mit  dieser  weiteren  Entwickelung 
seiner  Mythologie  hangt  die  Umwandeiung  zusammen,  dass  die  Pe- 
leiadenpriesterinen  an  die  Stelle  der  Seiler  treten,  wie  dies  Strabon 
(7.  329)  ausdrücklich  und  ohne  Zweifel  richtig  bezeugt.  Das  Resultat 
aus  Allem  aber,  was  wir  von  dem  dodonäischen  Zeus  wissen,  ist,  dass 
er  als  Gott  des  Himmels  in  dessen  atmosphärischen  und  auf  das  Erden- 
leben einwirkenden  Ausflüssen  erscheint,  dass  er  der  Gott  eines  Na- 
turreichs, ein  Gott  in  der  Natur  ist,  nicht  über  derselben  und  so  wenig 
monotheistisch  gesinnt,  dass  er,  im  schroffsten  Gegensatze  zu  Jehovah, 
der  da  sagt :  du  sollt  keine  anderen  Götter  haben  neben  mir !  als  man 
nach  Herodot  (2.  53)  bei  seinem  Orakel  anfragte,  ob  man  die  Namen 
anderer  Götter  gebrauchen  solle,  antwortete:  braucht  sie.87) 


8  6)  Ein  Zweifel  hiergegen  kann  sich  nur  daran  knüpfen ,  dass  die  Ilias  Aphrodite 
als  Diones  Tochter  kennt,  so  dass  also  der  Dichter,  war  Dione  nur  epirotisch-do- 
donäisch ,  seine  dodonäischen  Traditionen  aus  verschiedenen  Quellen  geschöpft  haben 
müsste ;  unmöglich  ist  freilich  auch  diese  Annahme  nicht.  Dass  freilich  die  dodonäi- 
sche  Aphrodite  ein  Kind  asiatischen  Cultus  war  kann  ich  Welckern  (S.  355)  eben  so 
wenig  zugestehen  wie  das  Andere,  dass  Phidias'  Dione  in  Poseidons  Gefolge  im  West- 
giebel des  Parthenon  gebildet  habe;  so  wie  ich  diesem  Letzteren  schon  in  meiner  Ge- 
schichte der  griech. Plastik  4.  S.  346  widersprochen  habe,  so  halte  ich  was  das  Erster« 
anlangt  an  der  Ansicht  fest,  die  Völcker  im  Rhein.  Mus.  4833.  S.  843  aufgestellt  hat, 
und  deren  consequente  Entwickelung  zu  dem  Erfreulichsten  in  Gerhards  Mythologie 
gehört,  dass  nämlich  eine  pelasgische  Göttin  von  Dodona,  Tochter  der  Dione,  eine 
nordgriechische  Aphrodite,  sie  möge  geheissen  haben  wie  immer  man  glauben  mag, 
mit  der  asiatischen,  meergeborenen,  uranischen  Aphrodite  erst  spater  verbunden  und 
verschmolzen  worden  ist. 

87)  Nach  Herodot  geschah  dies  zu  einer  Zeit,  als  die  Pelasger  noch  namenlose 
Götter  verehrten.  Diese  namenlosen  Götter  sind  bis  auf  den  heutigen  Tag  unerklärt, 
denn  auch  was  Welcker,  Götterl.  226  über  dieselben  sagt  fruchtet  für  die  Erklärung 
grade  so  wenig  wie  seine  Berufung  auf  das  was  Max  Müller  (ausgezogen  bei  Welcker 
S.  227  f.)  über  die  Vedengötter  mittheilt.  Ja,  wenn  M.  Müller  S.  228  mit  Recht  sagt, 

die  Vedengötter  »sind  Masken  ohne  einen  Schauspieler ,    sie  sind  nomina 

nicht  numina,  Namen  ohne  Wesen,  nicht  Wesen  ohne  Namen«,  so  ist 
dies  ja  das  ganz  genaue  Gegentheil  von  den  herodoteischen  Göttern  ohne  Name n, 
so  dass  ich  nicht  begreife ,  wie  Welcker  sich  für  diese  hierauf  berufen  kann.  So  lange 
ich  an  die  Identität  von  Ztvg  und  &tog  =  dyaus  und  dewas  glaubte,  meinte  ich,  wie 
ich  dies  in  meiner  Geschichte  der  griech.  Plastik  4.  S.  36  in  Note  4  6  angedeutet  habe, 
die  Lösung  des  Problems  gefunden  zu  haben ,  indem  ich  annahm  nicht  von  namen- 
losen Göttern  sei  die  Rede  gewesen,  sondern  von  einem  namenlosen  Gott,  nämlich 
von  Zeus  =  #«o?  (als  einem  Gotte  ohne  Individualnamen  wie  Apollon,  Athene  u.  A.), 
dies  aber  sei  für  den  Polytheisten  Herodot  und  für  seine  polytheistischen  Quellen,  die 


39]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  39 

Der  arkadische  Zeus,  dessen  Gull  auf  dem  Lykäongipfel  nach  Allem 
was  wir  von  demselben  erfahren  in  das  höchste  Alterthum  hinaufreicht, 
was  auch  Welcker  (Götterl.  1.  210  f.)  anzuerkennen  scheint,  so  dass 
die  Frage,  ob  die  Arkader  Pelasger  waren  oder  nicht,  hier  ganz  irre- 
levant wird  ,**)  dieser  arkadische  Zeus  Lykäos  ist  so  allgemein  als  Gott 
des  Himmelslichts  wie  Lucetius,  Diespiter  anerkannt,  dass  es  überflüssig 
ist,  dabei  länger  zu  verweilen.  Nur  das  sei  hervorgehoben,  dass  er  als 
solcher  dem  Grundwesen  des  dyaus  und  dem  Grundbegriffe  der  /div 
am  allernächsten  steht,  und  dann  sei  bemerkt,  dass  nach  dem  was 
Pausan.  8.  38.  3  berichtet,  dieser  Zeus  so  gut  wie  der  dodonäische  und 
der  Hellanios  auch  in  der  Atmosphäre  waltet,  indem  sein  Priester  in 
einer  Art  von  Zauber  den  Regen  beschwört  sowie  Aakos  in  Agina  den- 
selben erbetet.  Ob  der  hierbei  gebrauchte  Eichenzweig ,  da  doch  die 
Eiche  dem  Zeus  nicht  schlechthin  heilig  genannt  werden  kann ,  nicht 
auf  eine  nähere  Verbindung  oder  auf  einen  inneren  Zusammenhang  des 
arkadischen  Zeus  mit  dem  dodonäischen  hinweise,  mag  einstweilen  da- 
hinstehen, sowie  ich  auch  darauf  verzichte ,  auf  den  Bericht  des  Pau- 
sanias,  der,  wie  ich  glaube,  tiefer  gefasst  werden  kann,  als  er  bisher 
gefasst  worden,  einzugehn.  Ebenso  lasse  ich  den  eigentlichen  Sinn 
der  Schattenlosigkeit  derer,  welche  das  Heiligthum  des  Zeus  lykäos 
betraten,  unerörtert,  obwohl  ich  mit  der  Auffassung  Welckers89)  nicht 
übereinstimme  und  glaube ,  dass  die  Deutung  aus  des  Lichtgottes  Nähe 
und  Natur90)  —  weil  am  Sitze  des  Urlichts  kein  Dunkel  sein  kann  —  viel 
näher  liegt.  Die  Hauptsache,  die  durch  alle  diese  Zweifel  nicht  verändert 
wird,  ist,  dass  der  arkadische  Zeus  Lykäos  durchaus  Naturgott,  Gott  des 
Himmels,  des  Himmelslichtes  und  der  Atmosphäre  ist  und  dass  dies 
dem  indo- germanischen  Namen  und  Urwesen  des  Gottes  entspricht. 


Peleiadenpriesterinen  in  Dodona  ein  undenkbarer  Begriff  gewesen,  so  dass  sie  also 
&60i  sagten,  wo  sie  faog  oder  Ztvg  sagen  mussien ;  jetzt  aber  nach  dem  oben  (S.  25) 
erwähnten  Zweifel  über  die  Ableitung  von  &tog  und  nach  dem  weiteren  Zweifel ,  ob 
Zens  wirklich  ein  älterer  Gott  war  als  die  übrigen  Götter  (oben  S.  25)  muss  ich  auch 
diese  Lösung  fallen  lassen.  Es  wird  aber  gut  sein,  sich  darüber  nicht  zu  täuschen, 
dass  das  Problem  ungelöst  dastehe. 

88)  Im  ersten  Bande  seiner  Götterlehre  erklärt  sich  (S.  SO)  Welcker  sehr  be- 
stimmt gegen  das  Pelasgerthum  der  Arkader,  im  zweiten  (S.  236)  ist  ihm  der  lykäische 
Zens  » der  altpelasgische  Zeus.« 

89)  Die  er  in  seinen  kleinen  Schriften  3.  S.  161  näher  darlegt. 

90)  Auf  diese  weist  auch  Preller  hin,  Myth.  2.  Aufl.  1.  S.  99. 


40  J.  OVERBECK,  [40 

Als  Lichtgott  fasse  ich  aber  auch  den  Zeus  Aktäos  auf  Pelion, 
dessen  nichl  mit  Akräos  zu  vertauschenden,  wenngleich  in  späterer  Zeit 
durch  diesen  gewöhnlicheren  verdrängten  Beinamen  Welcker91)  gegen 
Starks92)  Einwendungen,  die  Preller93)  annimmt,  mit  Recht  festhält, 
während  er  ihn,  wie  ich  glaube  mit  Unrecht,  von  ^tj/i^reQog  ä*Trj  ab- 
leitet, da  er  viel  natürlicher  und  näher  aus  duraivcoy  dxrig  abzuleiten 
sein  dürfte,  worauf  schon  Lauer04)  hinwies,  wenn  auch  nicht  in  allzu 
klarer  Weise.  Der  Hauptbeweis  hiefür  und  gegen  die  andere,  an  sich 
scheinbar  noch  näher  liegende  Ableitung  von  dxrrj  Ufer,  die  unter  An- 
deren früher  Preller  (a.  a.  0.)  befolgte,  scheint  mir  in  Aktäons  Figur 
und  Bedeutung  zu  liegen ,  auf  die  auch  Welcker  sich  für  seine  Deutung 
hauptsächlich  beruft,  und  den  ich  durchaus  nicht  als  Herr  des  Getraides 
fassen  kann ,  wie  Welcker,  sondern  der  mir  als  der  Sohn  der  Mära  »des 
weiblichen  Sirius«,05)  als  Herr  der  50  Hundstagshunde,  als  Jäger,  als 
der,  dessen  Gespenst  die  orchomenischen  Fluren  verheerte  bis  man  ihn 
sühnte,96)  als  der,  dessen  Bild  die  rasenden  Hunde  beschwichtigte 
der  Dämon  der  Hundssternhitze  zu  sein  scheint,  während  der  Mythus 
von  seinem  eigenen  Zerrissenwerden  von  seinen  Hunden  in  getrübter 
Gestalt  auf  uns  gekommen  ist,  sich  aber  gleichwohl  noch  so  verstehen 
lässt,  dass  er  der  von  mir  angenommenen  Bedeutung  nicht  widerspricht. 
Alle  solche  Punkte,  deren  ich  noch  mehre  berühren  und  späterer  Er- 
örterung im  Einzelnen  vorbehalten  muss ,  in  einer  Abhandlung  zu  er- 
ledigen, die  kein  Buch  werden  soll,  ist  unmöglich.  Aktäon  aber  ist  der 
Heros  des  Zeus  Aktäos,  und  dieser  als  Lichtgott  naturgemäss  auch  Gott 
der  Gluthbitze  der  Hundstage.  Und  hierauf  bezieht  sich  der  Bittgang 
mit  den  Widderfellen ,  von  dem  uns  Dikäarch  De  Pelio  berichtet.  Dass 
man  in  dieser  Procession  auf  den  Gipfel  des  Pelion  ohne  Zweifel  den 
Zeus  anflehte ,  die  kühlen  und  feuchten  Etesien  zu  senden  hat  Welcker 


91)  ArchSolog.  Zeitung  4  860  S.  45. 

92)  Das.  4859.  S.  92. 

93)  Mythol.  2.  Aufl.  4.  S.  4  4  2.  Früher  hatte  derselbe,  Demeter  und  Persephone 
S.  248  und  noch  Mythol.  4.  Aufl.  S.  93  so  gut  wie  O.  Müller  Orchom.  243  u.  342  f. 
den  Aktäos  anerkannt. 

94)  System  d.  Mythol.  S.  4  98  u.  203. 

95)  Welcker,  Archäol.  Zeitung  a.  a.O.  S.  4  5. 

96)  Und  der  deshalb  sicher  nicht  »um  die  Fruchtbarkeit  talismanisch  an  das  Land 
zu  knüpfena  wie  O.  Müller  a.  a.  0.  342  meinte,  an  einen  Felsen  angekettet  war. 


44]  Beiträge  zur  Ekkbnntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  41 

(Götterl.  S.  205)  richtig  eingesehn,  obgleich  er  die  Bedeutung  der 
Widderfelle,  die  als  dib$  xcbfoa  auch  iu  den  Zeusfesten  Athens  eine  so 
grosse  Rolle  spielen  und  über  die  Welcker  der  naiven  Angabe  des  Di- 
käarch  Glauben  schenkt,  schwerlich  erkannt  hat.  Der  Widder,  das  lässt 
sich  noch  ungleich  stricter  und  sicherer,  als  es  bisher  geschehen  ist,97) 
erweisen ,  ist  in  der  ganzen  Mythologie ,  er  erscheine  wo  und  wie  er 
wolle,  das  Symbol  der  Wolke,  und  so  trug  man  in  dieser  Procession 
auf  Pelion  wie  in  den  attischen  Processionen  die  Felle  des  symbolischen 
Thieres,  nach  einem  auch  sonst  beglaubigten  Gebrauche  als  Zeichen 
dessen ,  um  dessen  Verleihung  oder  Abwendung  (das  Letztere  in  den 
Mämakterien  in  Athen)  man  den  Gott  anflehen  wollte.  Aber  sei's  darum, 
etwaiger  Widerspruch  hiegegen ,  der  mich ,  da  ich  die  Sache  hier  un- 
bewiesen lassen  muss,  nicht  wundern  würde,  hebt  die  Hauptsache 
nicht  auf,  dass  Zeus  Aktäos  Gott  des  Lichtes  und  der  Hitze  war,  und 
dass  er  in  der  Atmosphäre  waltet  wie  der  Zeus  Lykäos ;  und  dass  der 
Zeus  Ikmäos  von  Keos,  den  man  um  dieselbe  Zeit,  in  welche  die  Pro- 
cession des  Aktäos  fiel,  in  der  Zeit  der  Hundstage,  wie  jenen  um  die 
Elesien  anflehte  nach  Giern.  Alex.  Strom.  6.  630,  sich  als  Dritter  in 
diese  Reihe  stellt,  braucht  nur  erinnert  zu  werden. 

Dass  aber  der  Zeus  Laphystios ,  der  Yerschlinger,  Aufschlürfer :  °*) 
der  Wolken  nämlich  und  der  Feuchtigkeit,  wie  ihn  auch  Lauer90)  ge- 
fasst  hat,  ebenfalls  wie  der  Lykäos  und  Aktäos  ein  Licht-  und  in  Folge 
dessen  ein  Hitzegott  sei,  und  dass  die  Annahme  dieser  Natur  des  Gottes 
ganz  allein  alle  Züge  des  Atbamasmythus  erklärt,  der  wie  0.  Müller100) 
mit  Recht  sagt  in  alten  Gebräuchen  am  Laphystiosheiligthum  wie  in 
seinen  Angeln  hangt,  dies  kann  ich  hier  nur  als  meine  auf  sorgfältiger 
Untersuchung  beruhende  Überzeugung  aussprechen,  wenn  ich  nicht  den 
ganzen  Atbamasmythus  hier  analysiren  will ,  was  nicht  dieses  Ortes  ist. 


97)  Namentlich  von  Lauer  a.  a.  0.  S.  408.  Forchhammer,  Hellenika  S.  204. 

98)  AayvvGHv  und  Xatpvy^bg  hangt  mit  kandaam  und  Xcctitco  zusammen.  Vgl. 
besonders  II.  4  4.  476,  vom  Löwen :  inevtot,  di  &  alpa  xal  ty%axa  ndvta  kaqtvooH. 

99)  A.  a.  O.  S.  219.  Schon  aus  der  Bedeutung  des  ka<pvoativ  geht  hervor,  was 
sich  durch  die  ganze  Sage  beglaubigt,  dass  der  Laphystios  nicht  ein  »winterlich  finsterer 
Gott«  sein  kann,  als  welchen  ihn  Preller  Gr.  Mythol.  1 .  Aufl.  2.  S.  209  f.  fasst.  Dass 
den  Athamas  »Sommergluth  rasend  macht«  hat  auch  Gerhard  eingesehn,  Phrixos  der 
Herold  Berl.  1842.  S.  6. 

4  00)  Orchomenos  S.  4  58. 


42  J.  OVEHBBCK,  [42 

Und  ebenso  kann  ich  nur  darauf  hinweisen ,  dass  man  den  Athamas- 
raythus  bisher  consequent  deswegen  misverstanden  hat,  weil  man 
Athamas  und  die  Athamantiden  als  die  Opfer  anstatt  der  Opferer, 
der  Priester  des  Laphystios  betrachtete,  während  doch  Athamas  nach 
keiner  unserer  Quellen  geopfert  wird,101)  Piaton IW)  die  Athamantiden 
eben  so  bestimmt  als  die  Opferer  bezeichnet  und  Herodot103)  nicht  min- 
der bestimmt  bezeugt,  dass  der  Fluch ,  geopfert  zu  werden ,  die  Nach- 
kommen des  Kytissoros  betreffe.  Diese  gelten  freilich  für  Abkommen 
de6  Phrixos  und  als  solche  des  Athamas,  und  es  ist  möglich,  dass 
ein  Geschlecht  die  Opferer  und  die  Opfer  wirklich  umfasst  habe,  wie 
denn  auch  in  einem  anderen  orchomenischen  Culte,  dem  des  Dionysos,104) 
die  an  den  Agrionien  geopferten  Frauen  (OXetcu)  und  die  opfernden 
Männer  (iPokottg)  einem  Geschlecht  angehörten,  aber  es  kann  dies 
auch  blosse  Mythencombination  sein ,  und  es  kommt  darauf  nicht  an, 
sondern  vielmehr  auf  das  Andere,  das  Phrixos  das  einzige  im  echten 
Mythus  beabsichtigte  Opfer,  und  dass  seine  Nachkommen  die  wirklichen 
Opfer  waren,  ferner  darauf,  das  Phrixos' Opfer  vollzogen  werden  soll 
bei  grosser  Dürre  des  Landes,  wie  dies  der  Schol.  Pind.  Pyth.  4.  288 
mit  nackten  Worten  sagt,  während  er  in  den  verschiedenen  mythischen 
Einkleidungen  nur  ganz  leicht  und  obenhin  verhüllt  ist.  Athamas  aber, 
der  Phrixos  opfern  will ,  dem  dieser  auf  der  Widderwolke  reitend  ent- 
flieht, er  selbst  Wolke  (<pqi£oq  von  q:piaaw) l05)  und  Sohn  der  Wolke 
(Nephele)  mit  seiner  Schwester  Helle,  Regen ,  die  von  der  Widderwolke 
herabfeilt,  Athamas,  den  Nephele  verlässt,  der  in  Raserei  den  Klearchos 
oder  Learcbos  den  rühmlichen  oder  den  Volkfsührer,  den  König,  tödtet, 
Athamas  ist  Priester  und  ist  Heros  des  Zeus  Laphystios  so  wie  Lykaon 
des  Lykäos,  Aakos  des  Hellanios,  Akttton  des  Aktäos;  die  Dörrhitze  des 
Landes  aber  wirkt  der  Laphystios ,  und  diesem  in  seiner  Furchtbarkeit 


104)  Bei  Herodot  7.  4  97  soll  er  geopfert  werden,  aber  Kylissoros  iniervenirt 
und  hebt  das  Opfer  auf,  auch  Sophokles  hatte  nach  Schol.  Arist.  Nub.  256  im  *A%  axt- 
(paprj<p6()og  gedichtet,  dass  Nephele  Athamas*  Opferung  verlangt  habe ,  nicht  aber  dass 
das  Opfer  vollzogen  worden  sei. 

4  02)  Minos  p.  34  5  c:  otag  tivoiag  övovoiv  oi  rov  'A&apavTog  txyovoi'Elltjvtg 
ovreg,  vergl.  auch  Schol.  Apoll.  Rhod.  Arg.  2.  653. 

4  03)  A.  a.  0.  ravTct  dt  naoxpvoir  qI  KvtioocIqov  tov  &qI£ov  naidog  anoyovot, 
x.  r.  A. 

4  04)  Den  Etym.  M.  p.  557.  54  ebenfalls  als  Laphystios  kennt. 

4  05)  Vgl.  Gerhard,  Phrixos  der  Herold  S.  6  Note  22. 


43]  Beitrage  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  43 

gelten  die  Menschenopfer,  welche  die  Athamantiden  bringen,  mögen 
diese  nun  real  fortbestanden  haben  oder  durch  andere  Kathannata  er- 
setzt worden  sein,  wie  Welcker106)  annimmt,  der  daran  erinnert,  dass 
auch  andere  Völker  durch  strenges  Priesterthum  oder  durch  Noth  und 
Angst  des  Volkes  auf  diese  Spitze  der  Opferpflicht  (Menschenopfer) 
hinaufgetrieben  worden  seien ,  wie  denn  in  Schweden  bei  Hungersnoth 
der  König  geopfert  wurde. 

Den  Zeus  Meilichios  und  Maimaktes  von  Athen  hat  Welcker  (Göt- 
terl.  S.  207  f.)  als  Gott  der  milden,  guten  und  den  der  stürmischen  Jah- 
reszeit verstanden  und  für  Beide  einen  ursprünglich  physischen  Sinn  iu 
Anspruch  genommen,  womit  ich  durchaus  übereinstimme ;  Beide  stellen 
den  Himmel  in  seiner  heiteren  und  finsteren  Erscheinung  und  in  seiner 
günstigen  und  verderblichen  Einwirkung  auf  das  Leben  der  Erde  und 
der  Menschen  dar;  auch  dieser  athenische  Zeus  also  waltet  in  der  Atmo- 
sphäre. Das  Dioskodion  findet  in  diesen  Gülten  seine  vollständige  Er- 
klärung. 

Erwähnt  zu  werden  verdient  noch  der  Zeus  Peloros  von  Tempe, 
den  Welcker  übergeht,  und  der  sich  in  der  von  Baten  bei  Athen.  4  4. 
639  überlieferten  Sage  als  Gott  der  Fruchtbarkeit  der  Erde  und  als  Ver- 
leiher der  reichen  Erndte  zu  erkennen  giebt,  so  dass  er  zu  Kronos  in 
der  richtigen  Auflassung  eben  so  in  Parallele  tritt,  wie  sein  Fest,  die 
Pelorien  mit  den  Eronien ;  hierauf  wird  zurückzukommen  sein. 

Dass  der  mit  Trophonios  als  Zeus  Trophomos107)  identificirte  Zeus 
in  Lebadeia  von  einer  ähnlichen  Idee  seinen  Namen  als  Nährer,  Nähr- 
gott  habe ,  ist  anerkannt ;  aber  auch  der  Agidengott  Ammon ,  der  nicht 
von  dem  ägyptischen  Amun  herzuleiten,  sondern  mit  ihm  identificirt 
worden  ist,106)  während  seine  Wiege  in  böotisch  Theben  stand,  dürfte 


106)  GötlerL  1.  S.  206. 

4  07)  Strab.  9.  414,  vergl.  Liv.  45.  27. 

108)  Es  freut  mich,  diese  Ansicht  weuigstens  mit  Gerhard  zu  theilen,  der  Griech. 
Mythol.  §.  198.  7  sagt:  »Zwar  ob  die  dort  (im  Ammonion)  und  in  Dodona  zugleich  als 
Orakelgrunderinen  erschienenen  Tauben  wirklich  aus  (ägyptisch)  Theben  und  von  dem 
Ägyptischen  Ammon  (Amun)  kamen,  bleibt  trotz  Herodot's  Versicherung  sehr  zweifel- 
haft, darum  hauptsächlich ,  weil  mancher  altgriechische  Götterdienst  durch  das  ihm 
selbstfindig  zukommende  Widdersymbol  zur  Verwechselung  (besser  wohl  Identification) 
mit  jenem  ägyptischen  Widdergott  früh  auffordern  mochte.a  Sonst  ist  bekanntlich  der 
Glaube  an  die  ägyptische  Ableitung  ziemlich  allgemein ;  aber  ich  bin  fest  überzeugt, 
dass  böotisch  Theben  die  Wiege  des  griechischen  Ammoncultus  und  dass  die  Gephy- 


44  J.  OVERBECK,  [44 

gleicher  Bedeutung  und  von  dem  Stamme  abzuteilen  sein,  der  in  Hesy- 
chius  und  des  Etym.  Magn.  Glosse  d/ifia •  tj  ryocpog  xal  ij  fujrtjQ  xara 
vnoxyiofia ,  nämlich  als  rpocpog,  und  der  unserem  Worte  »Amme«  zum 
Grunde  liegt.  Ammon  ist  ein  anderer  ryocpog,  ryocpciviog. 

Wie  alt  und  ursprünglich  der  Gült  des  Zeus  Lakedämon  in  Sparta 
sei,  wissen  wir  nicht,  dass  der  ihm  gegenübergestellte  Uranios  auf  der 
Diarchie  beruht  hat  Welcker  bemerkt  (Götterl.  S.  243). 

Was  wir  in  den  sämmtlichen  alten  Culten  des  Zeus,  von  denen  wir 
nähere  Kunde  haben,  finden,  nämlich  dass  Zeus  als  Naturgolt  im  Him- 
mel und  vom  Himmel  aus  in  den  atmosphärischen  Erscheinungen,  im 
Winde,  in  den  Wolken  und  im  Regen,  im  Licht  und  in  der  Gluthhitze 
auf  das  Erdenleben  einwirkt,  das  liegt  auch  noch  in  einer  ganzen  Reihe 
seiner  Beinamen  aus  localen  Culten  vor,  welche,  wenn  sie  alt  sind,  die 
ursprüngliche,  wenn  sie  später  sind,  die  trotz  aller  fortschreitenden  Re- 
ligion des  Geistes  festgehaltene  Bedeutung  des  Zeus  als  eines  Gottes  der 
Natur,  in  der  Natur,  nicht  über  oder  jenseit  derselben  erhärten.100) 
Und  danach  darf,  ja  muss  man,  wie  ich  am  Eingange  dieses  Abschnittes 
behauptet  habe,  diese  Naturbedeutung  bei  Zeus  so  gut  wie  bei  den  an- 
deren Göttern  als  die  primitive  Grundlage  seiner  Verehrung  betrachten, 


räer-Ägiden  seine  Träger  waren.  Daraus  erklärt  sich  Pindar's,  des  Gephyräers  Ammon- 
verehrung,  und  daraus  die  Thalsache,  dass  sich  Ammoncultus,  früher  und  später  findet, 
wohin  die  Gephyräer  bei  ihrer  Apoikie  und  Wanderung  gelangen  :  in  Athen  Hesych.  v. 
'AfAfioiw  loqxr}' Aftr\vri<nv  ayoptvi]  (woBÖckh  Staatshaush.  2.  259  *A\i\Mnvux  lesen  will), 
in  Sparta  Paus.  3.  18.  3,  Böckh  a.  a.  0.  258,  von  Sparta  aus  in  Thera  weil  in  Kyrene 
{vgl.  was  Gerhard  a.  a.  0.  Anna.  7  anführt) ,  von  wo  der  Handel  über  die  libysche 
Ammonsoase  ging  (Müller  Orchom.  S.  343)  und  wo  ohne  Zweifel  die  Identificirung  mit 
dem  so  ähnlich  benamseten  ägyptischen  Widdergott  vollzogen  wurde,  der  dann  in 
Griechenland  wie  alles  Fremde  über  das  Heimische  zur  Geltung  gelangte.  So  haftet 
Ammon  an  den  Ägiden-Gephyräero ,  dass  Therons  Geschlecht  in  Akragas ,  der  ägidi- 
schen Stammes  war  (Müller  Orchom.  332)  den  Namen  der  Emmeniden  führte.  Und 
wenn  wir  den  Ammoncult  in  Elis  Paus.  5.  4  5.7  nicht  als  ägidischer  Stiftung  bezeugt 
finden,  ist  es  verwehrt,  diese  anzunehmen?  Findet  sich  auf  Kreta  wirklich  Ammon- 
cultus, wie  Diod.  3.  74  angiebt,  warum  sollte  er  nicht  mit  der  dorischen  Colonisirung 
dahin  gelangten  Ägiden  seinen  Ursprung  verdanken?  Von  dem  Cult  in  Sparta  stammt 
derjenige  in  Aphyta  in  sofern  indirect,  weil  er  auf  einer  dem  Lysandros  gewordenen 
Traumerscheinung  des  Ammon  beruht,  die  ihn  die  Belagerung  von  Aphyta  aufheben 
Hess,  weshalb  die  Aphytäer  Ammon  als  Retter  verehrten  Paus.  3.  18.  2 ,  Plut.  Lysand. 
20,  Böckh  a.  a.  0.  258.  Wo  bleibt  hier  der  ägyptische  Ursprung? 

4  09)  Vergl.  Lauer  Syst.  d.  griech.  Mythol.  S.  4'96ff. ,  Gerhard  G riech.  Mylhol. 
§.  4  99,  Welcker,  Götterl.  2.  S.  4 93 ff. 


45]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  45 

von  der  aus  sich  mit  den  Culturfortschritten  der  Nation  die  Götter  weiter 
und  weiter  erhoben  und  zu  Geistern  auch  ausser  der  Natur  umgewan- 
delt wurden,  in  einer  Steigerung  die  ungebrochen  und  unaufhaltsam 
weiter  aufwärts  ging ,  und  die  bei  Homer  keineswegs  abschliesst ,  son- 
dern an  der  noch  die  späteren  Dichter,  besonders  die  Tragiker  und  dann 
die  Philosophen ,  Beide  schöpfend  aus  dem  gemeinsamen  Born  des  Na- 
tionalgeistes, betheiligt  sind. 


Ehe  aber  nun  zu  weiteren  Erwägungen  und  Betrachtungen  des 
Zeus  in  seiner  poetisch  nationalen  Darstellung  fortgeschritten  wird,  muss 
hier  noch  ein  Punkt  von  grosser  Bedeutung  in's  Auge  gefasst  werden, 
auf  den  namentlich  Welcker  ein  ganz  besonders  schweres  Gewicht  legt, 
indem  er  aus  demselben  allerdings  nicht,  oder  wenigstens  nicht  direct110) 
einen  Monotheismus  und  eine  transmundane  Existenz  des  Zeus  ableitet, 
dennoch  aber  auf  ihn  die  Annahme  einer  exceptionellen  Stellung  des 
Zeus  den  übrigen  Göttern  gegenüber  gründet,  einer  exceptiouelleren  als 
die  ich  für  gerechtfertigt  halten  kann.  Ich  meine  das  Attribut  des  Blitzes 
und  denCultus  auf  Bergeshöhen,  die  Welcker  im  31.  und  32.  Abschnitte 
seines  Buchs  behandelt. 

Was  nun  zunächst  den  Blitz  anlangt,  so  kann  man  im  Allgemeinen, 
wenn  auch  nicht  ohne  Einschränkung111)  zugeben,  dass  seine  Hand- 
habung, dass  das  Gewitter  den  Völkern  als  das  höchste  Zeichen  der 
göttlichen  Macht  erschienen  sei,  wie  dies  Welcker  S.  165  ausspricht 
und  motivirt.  Aber  in  demselben  Masse  wie  man  die  Richtigkeit  dieser 
Behauptung  anerkennt  wird  es  wichtig  nachzuweisen ,  oder  sagen  wir 


HO)  So  wie  freilich  im  Rhein.  Mas.  a.  a.  0.  S.  626  die  Bergeshöhen  und  die 
Blitze  neben  der  Etymologie  von  Zeus  Kronion  (die  ihn  ja  als  den  Gott  von  Ewigkeit 
bezeichnen  soll)  geltend  gemacht  werden,  liegt  darin,  wenn  auch  nicht  ausgesprochen, 
die  Behauptung,  Bergeshöhen  und  Blitze  erweisen  Zeus  als  den  Höchsten  im  Sinne  des 
Jehovah  oder  des  absoluten  Gottes. 

Hl)  Vgl.  z.  B.  was  G.  Bühler  über  den  Parjanya,  den  Donnergott  der  Yeden 
mittheilt  in  Benfey's  Orient  und  Occident  1861.  Hft.  S.  S.  *Hff.,  besonders  über  die 
Stellung  des  Gottes  S.  2« 6  ff. 


46  J.  OVERBECK,  46] 

lieber,  daran  zu  erinnern,  was  Welcker  wenigstens  an  dieser  Stelle 
vergessen  zu  haben  scheint ,  erstens ,  dass  in  Zeus'  ältesten  und  wich- 
tigsten Cullen,  die  wir  im  vorigen  Abschnitte  durchmustert  haben,  man 
ihn  wohl  im  Licht  und  in  der  Gluthhitze  des  Himmels ,  im  Wehen  des 
Windes  und  im  Ergüsse  des  Regens  erkannte  und  anbetete,  dass  er  aber 
in  diesen  nirgend  als  Herr  des  Donners  und  Blitzes  charakterisirt  wird,112) 
dass  seine  Verehrung  sich  nicht  auf  sein  Blitzwerfen  gründet,113)  sich 
nicht  an  seine  Herrlichkeit  im  Gewitter  wendet,  und  zweitens,  dass  Zeus 
von  den  Göttern  Griechenlands  ja  keineswegs  allein  den  Blitz  führte.114) 
Was  dies  Letztere  anlangt,  so  könnte  es  trivial  erscheinen,  wenn 
erwähnt  wird,  dass  Pallas  Athene  den  Blitz  führt  so  gut  wie  die  Ägis, 
das  Donnergewölk,  und  zwar  nicht  hie  und  da  nur,  sondern  als  Pallas 
durchweg,  grade  so  ständig  wie  Zeus  selbst,  denn  die  Lanze  der  Palla- 
dien  ist  der  Blitz  und  ein  Palladion  ohne  Agis  giebt  es  nicht.115)   Und 

4  4  2)  Was  das  Beiwort  anlangt,  das  Achäos  (Azan.  fragm.  2,  Schol.  Eurip.  Orest. 
383)  dem  lykäischen  Zeus  giebt,  so  ist  erstens  zweifelhaft,  ob  dasselbe  aortgonog  zu 
schreiben  sei,  wie  Welcker,  GÖtterl.  2.  S.  4  94  thut,  der  dasselbe  auf  Blitz  bezieht, 
oder  aortgamdg,  wie  Andere  schreiben.  Im  letzteren  Falle  würde  es  mit  dem  Blitz 
schlechthin  Nichts  zu  thun  haben,  sondern  sich  auf  den  Glanz  des  Lichtes  beziehn 
(vgl.  z.  B.  aoreQGmop  oppa  Ar\T<aag  xoqtjq  b.  Aesch.  fragm.  209  (Ahrens)),  und  dass 
dies  bei  dem  Zeus  lykäos  das  Natürlichere  und  Näherliegende  ist  kann  vernünftiger- 
weise nicht  bestritten  werden.  Sollte  dies  aber  dennoch  nicht  zutreffen,  AchSos  wirk- 
lich aoTtQonog  geschrieben  und  auf  den  Blitz  gedeutet  haben ,  so  kann  natürlich  eine 
solche  Stelle  eines  späteren  Dichters  für  das  Wesen  eines  Gottes  wie  der  Lykäos  Nichts 
beweisen,  da  man  es  in  diesem  Falle  als  ein  Prädicat  des  Zeus  schlechthin,  des  poeti- 
schen Zeus  und  als  aus  diesem  auf  die  alte  Cultfigur  übertragen  ansprechen  darf. 

113)  Ober  das  Alter  einiger  Gülte,  in  denen  dies  der  Fall  ist,  wie  in  dem  des 
xaraißaTtiQ  in  Olympia  Paus.  5.  4  4.  4  0,  vergl.  Lauer,  System  d.  griech.  Myth.  S.  4  99. 
Note  264  lässt  sich  nicht  absprechen.  Den  Guit  oder  Altar  des  Zeig  xtgavvwg  das. 
hält  Paus.  a.  a.  0.  7  nicht  für  hochalterthümlich ;  die  Beiworte ,  die  sich  auf  Zeus' 
Blitzen  und  Donnern  beziehn  (Lauer  a.  a.  0.)  gehören  fast  ohne  Ausnahme  der  poe- 
tisch-nationalen  Entwickelung  des  Gottes  an,  und  diese  ist  eben  nicht  die  primitive. 
Allerdings  erscheint  in  dem  berühmten  Kameo  der  Marcusbibliothek  der  eichenbekränzte 
dodonäische  Zeus  mit  der  Ägis  gerüstet,  wie  denn  auch  die  Ilias  an  jenen  beiden  Stel- 
len, wo  sie  den  wybg  des  Zeus  erwähnt  (5.  693  und  7.  60)  diesen  als  ägiochos  be- 
zeichnet, dennoch  ist  zweifelhaft,  ob  der  dodonäische  Zeus  als  blitzend  und  donnernd 
gedacht  wurde,  was  übrigens  ihm  dem  Regengott  als  solchem  auch  zukommen  konnte. 

4  4  4)  Vgl.  was  Wieseler  in  den  Jahrbüchern  des  Vereins  von  Altertbumsfreunden 
im  Rheinlande  4  844  S.  352  angeführt  hat. 

4  4  5)  Es  ist  deshalb  überflüssig  auf  die  nicht  geringe  Zahl  von  Kunstdarstellungen 
hinzuweisen ,  in  denen  Pallas  Athene  den  wirklichen  Blitzstrahl  wie  sonst  ihre  Lanze 
schwingt.  Vgl.  auch  Wieseler  a.  a.O.  und  Preller,  Gr.  Myth.  1.  S.  430. 


47]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  47 

wenn  man  diese  Blitzwaffe  und  die  Ägis  der  Pallas  Athene  aus  ihrem 
nahen  Verhältnisse  zu  Zeus  und  so  ableiten  wollte ,  als  waren  ihr  diese 
Attribute  von  Zeus  übertragen,  wie  das  etwa  der  Vorstellung  des  Ascby- 
los  (Eum.  825)  entsprechen  würde,  oder  als  sei  Athene  nur  eine  Hypo- 
stase oder  ein  Ausfluss  des  Zeus ,  so  würde  man  sehr  stark  irren.  Ab- 
gesehn  von  manchem  Anderen  und  schon  früher  Bemerkten  dürften  die 
neuesten  und  tiefgreifenden  Untersuchungen  Bergk's  über  die  Trito- 
geneia110)  erwiesen  haben,  dass  die  Religion  der  Pallas  Athene  eine 
grossere  Selbständigkeit  in  ihren  Wurzeln  und  Keimen  gehabt  hat,  als 
Allen  bequem  anzunehmen  sein  mag,  ja  dass  sie  nicht  einmal  durchaus 
als  Zeus'  Tochter  gelten  darf,  als  welche  sie  Welcker  (S.  238)  anspricht. 
Der  Blitz  und  die  Agis  kommen  der  Athene  oder  genauer  gesprochen 
der  Pallas  Athene  als  Pallas  selbständig  zu ,  weil  sie  als  solche  Göttin 
des  Gewölks  wie  als  Athene  Göttin  des  Ätherlichte  und  der  Ätherklar- 
heit ist.  Denn  dieser  Dualismus  in  dem  Wesen  der  Göttin  liegt  in  den 
beiden  Namen,  die  nie  mit  einander  vertauscht  werden  können,  wie  man 
das  zum  Theil  schon  eingesehn  hat,117)  und  dieser  Dualismus  kann  nicht 
allein ,  sondern  muss  durch  alle  Mythen  und  Sagen  der  Pallas  Athene 
durchgeführt  werden,  wenn  diese  zur  endlichen  Klarheit  gelangen  sollen. 
Aber  auch  Pallas  Athene  ist  nicht  die  Einzige,  welche  ausser  Zeus, 
und  zwar  von  Rechts  wegen,  den  Blitz  führt,  auch  Apollon  kommt  blitz- 
werfend vor,  wofür  Wieseler  im  Bulletüno  des  Instituts  1852.  p.  i  84  ff. 
nicht  allein  die  Hauptbeweisstellen  litterarische  und  artistische  zusam- 
mengetragen,118) sondern  was  derselbe  auch  durch  Verweisung  auf  den 


116)  In  Jahn's  Jahrbüchern  18§0. 

117)  So  z.  B.  erklärt  sich  Gerhard  Griech.  Myth.  §.  348.  3  mit  Recht  gegen  die 
Bezeichnung  Pallas  Polias  statt  Athene  Polias. 

118)  Da  mir  Petri  Burmanni  Za/g  xcaaißatrjg  nicht  zuganglich  ist,  auf  den  Wiese- 
ler a.  a.  0.  sich  für  die  Behauptung  bezieht;  neppure  mancano  gli  esempj  d'una  cor- 
rispondente  (nämlich  auf  das  Blitzwerfen)  attivita  di  lui,  so  will  ich  hier  anführen,  was 
ich  zur  Beglaubigung  derselben  habe  auffinden  können.  Dass  schon  Sophokles  Oed. 
tyr.  v.  469  sq.  (Herrn.)  Apollon  vomParnass  blitzen  18sst  ist  bekannt,  nach  delphischer 
Sage  aber  wurden  sowohl  die  4000  Mann,  die  Xerxes  gegen  Delphi  sandte  (Justin.  2. 
12:  quae  manus  tota  imbribus  etfulminibus  deleta  est),  wie  auch  die  Gallier  unter 
Brennus  (Paus.  10.  23.  3  ij  w  yaq  yrj  niaa,  ootjv  ini!%(v  i}  tüv  rdkoawv  axQtaia, 
ßialmg  xai  im  nktiovov  ioeieto  rfjg  fmtQaq,  ßpovrai  xt  xai  xiQctvvQi  <wv*%uq  iyl- 
vovto  xtL  vgl.  Schol.  Kall.  hymn.  Del.  175)  durch  Blitze  aulgerieben  und  von  dem 
apollinischen  Heiligthum  vertrieben,  ebenso  wie  nach  orchomenischer  Sage  (Paus.  9. 
36.  3)  Apollon  die  Phlegyer  mit  Blitzen  und  Erdbeben  vernichtete. 


48  J.  OVERBECK,  [48 

von  den  Alten  statuirten  Zusammenhang  zwischen  der  Sonne  und  dem 
Gewitter  oder  den  Blitzen  als  wohlberechtigt  erwiesen  hat.  Gleichwie  der 
Blitz  wird  aber  dem  Apollon  consequenter  Weise  auch  die  Ägis,  das  Symbol 
der  Wetterwolke  zu  vindiciren  sein,  und  zwar,  nach  der  von  Stephani119) 
entwickelten  Ansicht,  ihm  unter  dem  Beinamen  BotjdQo/iiog  oder  Boy&oog, 
wie  ich  auch  jetzt  noch,  nach  Erwägung  der  Zweifel,  die  Wieseler120)  da- 
gegen ausgesprochen  hat,  annehme.  Ich  bin  nämlich  nicht  allein  überzeugt, 
dass  das  Attribut ,  welches  der  Stroganoffsche  Apollon  in  der  linken 
Hand  erhebt,  sich  auch  bei  wiederholter  Prüfung  als  Ägis  und  nicht  als 
Marsyasfell  erweisen  wird,  ein  Attribut,  das  Wieseler  nur  sehr  mit  Un- 
recht für  den  Apollon  Patroos  des  Leochares  in  Athen  in  Anspruch  zu 
nehmen  scheint,  sondern  ich  glaube  auch,  dass  der  Dichter  der  Ilias  in 
jener  Stelle  des  1 5.  Gesanges,  in  welchem  er  aen  Apollon  mit  der  Agis 
ausgerüstet  und  mit  ihr  die  Argeier  schreckend  darstellt,  durch  das  Her- 
vorheben des  mächtigen  Rufes  oder  Schreiens,  das  Apollon  in  dem 
Augenblick  erhebt,  wo  er  die  Ägis  schüttelt,121)  auf  den  Cullbeinamen 
des  BotjdQOfiwQ  und  Botj&oos>  den  selbst  er  in  dieser  seiner  Schil- 
derung nicht  gebrauchen  durfte,  hat  anspielen  wollen,  während  anderer- 
seits eben  das  ßotj  in  diesem  Gultbeinamen  als  bezüglich  auf  die  Stimme 
des  Donners  seine  volle  Bedeutung  erhält,  wenn  man  es  mit  dem  Attri- 
but  der  geschwungenen  oder  geschüttelten  Agis  zusammenbringt.  Sowie 
aber  das  Attribut  der  Ägis  und  der  Beiname  Boedromios  den  Apollon 
als  Gott  der  Wetterwolke  dürfte  ihn  auch  noch  ein  anderes  Attribut  und 
ein  anderer  Gultbeiname  als  Blitzgott  angehn.  Ich  meine  das  Schwerdtm) 
und  den  Beinamen  Xqvöoxoq  oder  XyvödoQog,  obgleich  ich  zugestehe, 
dass  sich  das  für  jetzt  wenigstens  nicht  strict  beweisen  lässt.1*) 

4  4  9)  Apollon  BoSdromios,  Erzstatue  des  Grafen  Sergei  Stroganoff  u.  s.  w.  Peters- 
burg 4860.  S.  5S  ff. 

ISO)  Der  Apollon  Stroganoff  und  der  Apollon  vom  Belvedere  Göttingen  1864. 
S.  7  ff. 

194)  IL  4  5.  390  f.  avtaQ  intl  natevoma  iddv  JavadSv  Ta%uncik(ov 

o*7g,  int  d'avvbe  avae  \niya 

4  98)  Er  führt  es  im  Gigantenkampfe  in  zwei  Vasenbildern  bei  Gerhard,  Auserl. 
Vasenbb.  4.  Taf.  64  und  Trinkschalen  und  Gefässe  Taf.  9  und  gegen  Tityos  in  dem 
münchener  Vasenbilde  No.  409  des  Jahn' sehen  Verzeichnisses,  abgeb.  b.  Gerhard, 
Trinkschalen  und  Gefässe  Taf.  G.  4 — 3. 

4  93)  Über  Chrysaor  als  Blitz  vergl.  Stark:  Mytholog.  Parallelen  in  den  Berichten 
der  kgl.  sächs.  Ges.  d.  Wiss.  4  856.  S.  58  und  Preller,  Griech.  Mythol.  4.  Aud.  9. 
S.  46.  Sollte  es  Zufall  sein,  dass  Apollon  in  eben  der  Stelle  des  4  5.  Gesanges  der  Ilias 


49]  Beiträge  zur  Ebkbnntniss  und  Kritik  der  Zelsreligion.  49 

Drittens  blitzt  auch  Ares.  Für  diese  Behauptung  kann  ich  mich 
freilich  nicht  auf  das  Citat  berufen,  welches,  seitdem  Winkelmann m) 
dasselbe  gebraucht  hat,  von  nicht  wenigen  unserer  MythologQn1*5)  ihm 
nachgeschrieben,  obgleich  es  gänzlich  falsch  ist;  denn  es  ist  kein  anderes 
als  die  so  eben  (Anm.  1 1 8)  angeführte  Stelle  des  Sophokles,  die  sich  nicht  auf 
Ares ,  sondern  auf  Apollon  bezieht.  Eben  so  wenig  berufe  ich  mich  auf 
die  von  Winkelmann  angeführte  Paste  der  Stosch'schen  Sammlung,  die 
er  in  seinen  Denkmälern  unter  No.  4  hat  abbilden  lassen,  denn  diese 
stellt  sicher  Zeus  und  nicht  Ares  dar.  Ich  berufe  mich  vielmehr  ganz 
allgemein  auf  Ares9  Speer  und  behaupte,  dass  dieser  nichts  Anderes  sei, 
und  nichts  Anderes  sein  könne,  als  eben  der  Blitz.  Es  kann  nämlich  mei- 
ner Oberzeugung  nach  keinem  Zweifel  unterliegen ,  dass  Preller  in  der 
neuen  Auflage  seiner  Mythologie  (1.  S.  251)  mit  der  Deutung  des  Ares 
als  des  Gottes  des  finsteren  Sturmgewölks  am  Himmel  vollkommen  das 
Rechte  getroffen  hat,  indem  er  den  Gott,  abgesehn  von  dessen  Beinamen 
Enyalios,  über  den  ich  ganz  verschiedener  Meinung  bin ,  ganz  so  fasst, 
wie  ich  ihn  seit  Jahren  in  meinen  Vorlesungen  über  griechische  Mytho- 
logie gefasst  und  durchzuführen  versucht  habe.  Ist  diese  Ansicht  aber 
die  richtige,  so  folgt  der  Rest  meiner  Behauptung  von  selbst,  und  wenn 
man  den  Speer  der  Pallas  und  der  Palladien  als  den  Blitz  anerkennt,  so 
muss  man  auch  den  des  Ares,  den  Speer  des  Gottes  des  Sturm-  und 
Donnergewölks  als  den  Blitz  anerkennen. 

Ich  will  nun  von  denjenigen  einzelnen  und  zweifelhaften  Kunst- 
werken und  Stellen  später  Schriftsteller,  die  Winkelmann  (a.  a.  0.)  weiter 
citirt,  um  zu  beweisen,  dass  auch  Dionysos,  Hephästos,  Pan,  Herakles, 
Kybele,  Here,  Eros  blitzwerfend  vorkommen,  ganz  absehn,  da  die  et- 
waige Frucht  ihrer  genauen  Kritik  für  meine  Zwecke  ohnehin  wenig 
austragen  würde;136)  mir  genügt  vollkommen,  gezeigt  zu  haben,  dass 

in  der  er  die  Ägis  führt  sich  vs.  256  dem  Hektor  ausdrücklich  als  Phoibos  Apollon 
Chrysaoros  vorstellt?  und  weiter,  sollte  sich  das  Achselband  des  Stroganoff 'sehen 
Apollon  nicht  bei  erneuter  Prüfung ,  die  freilich  nur  von  Stephani  erbeten  werden  kann, 
nicht  als  Telamon  eines  Schwerdtes  anstatt  als  Köcherband  erweisen? 

124)  »Ober  die  blizenden  Gottheiten«,  Alte  Denkmäler  4.  S.Cap.  No.  3.  4. 

425)  Z.  B.  von  Lauer  a.  a.  0.  S.  242.  Note  740,  von  Gerhard,  Griech.  Myth. 
§  343.  3. 

426)  Auch  was  sonst  noch  einzeln  hier  und  da  Ähnliches  vorkommt,  wie  z.B.  die 
blitzwerfende  Here  einer  Gemme  von  Kertsch  Ann.  4  840.  p.  4  6  und  was  Wieseler  im 
Bull.  a.  a.  0.  und  in  den  Jahrbb.  des  rhein.  Altert  hu msvereins  a.  a.  0.  beigebracht  bat, 
glaube  ich  übergehn  zu  dürfen. 

Abbaodl.  d.  K.  S.  Gel.  d.  Wiw.  X.  4 


50  J.   OVERBECK,  [50 

ausser  Zeus  Pallas  Athene  und  Ares  und  zwar  regelmässig  und  nach 
Naturnotwendigkeit  ihres  Wesens  und  dass  Apollon  in  einer  ganzen 
Reihe  von  Culten,  und  zwar  auch  motivirter  Weise,  den  Blitz  führt,  um 
daran  die  Behauptung  zu  knüpfen,  dass  dem  Zeus  der  Blitz  ursprünglich 
nicht  als  Zeichen  der  höchsten  Herrschaft  im  Himmel  und  auf  Erden  oder 
als  dem  absoluten  Gotte  beigelegt  wurde,  sondern  dass  er  ihm,  wie  der 
Pallas  Athene  und  dem  Ares,  als  dem  Gotte  zukam,  der  die  Wolken  am 
Himmel  sammelt  und  zerstreut,  der  weht  und  stürmt,  regnet,  hagelt  und 
schneit,  dem  ve^ektjye^Trjg  und  xthaivecpfjs,  und  dass  Zeus  eben  des- 
halb den  Blitz  in  denjenigen  seiner  ältesten  Culte  nicht  geführt  hat ,  in 
denen  er  als  der  Gott  der  himmlischen  Luft  und  des  Lichts  und  der 
Gluthhitze  des  Äthers  aufgefasst  und  verehrt  wurde. 

Über  den  Gultus  des  Zeus  auf  Bergeshöhen,  auf  den  Welcker 
S.  1 69  ff.  ebenfalls  ein  grosses  Gewicht  legt ,  können  wir  uns  noch  kür- 
zer fassen.  Die  Thatsache,  dass  Zeus  an  vielen  Orten  auf  Berghöhen 
verehrt  worden  sei  kann  und  soll  nicht  bestritten  werden,  und  sie  bleibt 
richtig  und  bedeutsam  auch  dann,  wenn  man  Welckern  einige  Abzüge 
in  seiner  Liste  macht,  so  wenn  man  vor  allen  Dingen  den  »Berg  der 
schwerwinterlichen  Dodona«,  der  nach  dem  oben  (S.  32)  Gesagten  nicht 
anerkannt  werden  kann,  streicht,  so  ferner,  wenn  man  eigensinnig  genug 
ist,  den  »Felsaltar  des  höchsten  Zeus«  in  Athen  für  die  Pnyx  zu  halten 
und  was' dergleichen  mehr  sein  mag.  Und  ebenso  bleibt  die  andere 
Thatsache  richtig  und  bedeutsam,  dass  andere  Götter  nur  ausnahmsweise 
Cultus  auf  Bergeshöhen  hatten,  wenngleich  die  Fälle  wohl  nicht  ganz  so 
selten  sind,  wie  es  nach  Welcker's  Darstellung  S.  1 70  scheinen  möchte.127) 
Aber  darauf  kommt  es  viel  weniger  an ,  als  auf  die  Beantwortung  der 
Frage,  in  welchem  Sinne  dem  Zeus  der  Cult  auf  Bergeshöhen  galt?  Und 


4  27)  Für  die  apollinische  Religion  darf  z.  B.  der  22.  und  23.  Vers  des  delischen 
Apollonhymnus  nicht  vergessen,  an  das  Lykoreion  auf  der  Höhe  des  Parnass ,  an  den 
Maleates  auf  der  Höhe  des  Kynortion  (Paus.  2.  27.  8)  und  den  Pythaeus  auf  Thor  na  x 
(Paus.  3.  4  0.  10)  erinnert  und  geltend  gemacht  werden,  dass  der  Tempel  in  Phigalia 
hoch  genug  liegt,  um  sich  mit  manchem  Heiliglhum  des  Zeus  zu  messen,  Here  heisst 
Dirphya  vom  Berge  Dirphys  Gerh.  Myth.  §  2t  5.  5,  das  xoxxvyiov  ogog  Paus.  2.  36.  2 
weist  ebenfalls  auf  Bergcult;  an  den  kyllenischen  Hermes  erinnert  Welcker ;  der  Helios 
Alabyrios  auf  Rhodos  ist  bekannt  (vgl.  für  Helioscult  auf  Bergeshöhen  z.  B.  Mercklin, 
die  Talossage  S.  4  5  [mit  Note  4  54]  und  S.  I  6),  und  so  findet  sich  noch  Manches,  welches 
hier  im  Einzelnen  zusammenzutragen  ohne  besonderes  Interesse  ist,  vgl.  Hermann, 
GoUesdiensll.  Alterthümer  §  4  4. 


51]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  51 

da  glaube  ich ,  dass  Welcker  das  Richtige  trifft  oder  andeutet,  wenn  er 
S.  169  schreibt:  »Man  glaubte  dem  himmlischen  Zeus  sich  zu  nähern, 
wenn  man  am  bestimmten  Tage  nach  stundenlangem  Aufsteigen  das 
Land  und  alles  Irdische  in's  Kleine  zusammengezogen  und  tief  unter  sich 
sah,  den  Himmel  wie  allumfassend  über  sich.«  Dem  Himmelsgott,  dem 
Athergott,  so  scheint  mir,  galt  der  Cult  auf  den  in  den  Himmel  ragen- 
den ,  gleichsam  den  Himmel  stutzenden  Bergen ,  auf  deren  Gipfel  sich 
deshalb  auch  der  Himmelszeus  niederlässt.  Mit  Zeus'  angeblicher  pri- 
mitiven absoluten  Gottnatur  hat  also  auch  dieser  Gultus  in  seinen  Wur- 
zeln Nichts  zu  thun,  den  Himmelsgott  Zeus  aber  brauchen  wir  uns  durch 
denselben  nicht  erst  erweisen  zu  lassen. 


5. 

Wenn  es  mir  gelungen  sein  sollte,  durch  die  vorstehenden  Ab- 
schnitte darzuthun ,  dass  Zeus  in  seinen  ältesten  und  originalen  Culten 
so  wenig  wie  in  seinem  Namen  als  der  Gott  schlechthin,  als  transmun- 
daner  Gott  über  der  Natur  charakterisirt  wird,  sondern  als  Gott  des 
Himmels,  eines  Naturreichs  wie  die  anderen  griechischen  Götter,  so  er- 
wächst mir  nun,  und  zwar  noch  ehe  ich  mich  zu  dem  Nachweise  wende, 
dass  Kronion  den  Sohn  des  Kronos ,  den  geborenen  Zeus ,  nicht  aber 
den  Gott  von  Ewigkeit  her  bedeute,  die  Aufgabe,  Zeus1  Stellung  im  natio- 
nal poetischem  Göttersystem  von  der  gegebenen  Basis  aus  zu  moti- 
viren.  Dass  ich  diese  Stellung  des  Zeus  wie  das  ganze  poetische  Götter- 
system als  die  Frucht  eines  langsamen  Wachsens  und  als  das  Resultat 
einer  Steigerung  in  der  Idee  von  den  Göttern  im  Zusammenhange  mit 
den  Fortschritten  in  der  Bildung  der  Nation  betrachte  habe  ich  schon 
ausgesprochen ;  es  bleibt  mir  hier  wesentlich  eine  Beleuchtung  des  Zeus 
als  narfiQ  avÖQ&v  re  &&5v  re,  als  vtpiarog  kqcwvtcw,  in  seinem  Verhält- 
niss  zur  Moira  und  in  seinem  angeblichen  »Schaffen«  übrig. 

Anlangend  nun  zuerst  den  Vater  Zeus,  und  zwar  den  Vater  der 
Götter,  so  ist  es  überflüssig,  darzuthun,  dass  dies  Wort  vielfach  nicht 
im  genealogischen  und  eigentlichen ,  sondern  im  patriarchalischen  und 
uneigentlichen  Sinne  gebraucht  wird  und  so  allein  gebraucht  werden 
kann,  und  dass  es  Zeus  als  ein  »Clanshaupt«  bezeichnet,  um  mich  eines 


52  J.  0 VERBECK,  [52 

Welcker'schen  Ausdrucks  (S.  179)  zu  bedienen,  den  er  freilich  S.  181 
vergessen  zu  haben  scheint,  wenn  er  schreibt,  dass  das  »Vater  der  Göt- 
ter im  eigentlichen  Sinn  gelte.«  Welcker  selbst  hat  eine  Reihe  von  Stellen 
angeführt  (S.  179),  in  denen  im  Munde  der  Thetis,  der  Here,  des  Posei- 
don die  Anrede  Zev  7iare(j  schlechterdings  nicht  im  eigentlichen  Sinne 
gebraucht  sein  kann;  diese  Stellen  würden  sich  sehr  wesentlich  ver- 
mehren lassen,  wenn  darauf  Etwas  ankäme,  was  aber  deswegen  nicht 
der  Fall  ist,  weil  die  genealogische  Ableitung  von  Zeus,  die  den  eigent- 
lichen Sinn  des  Worts  Vater  begründet,  sich  auf  einen  verhältnissmässig 
nicht  sehr  weiten  Kreis  von  olympischen  Göttern  beschränkt.  Die  »vor- 
läufige Übersicht  des  neuen  Systems«  bei  Welcker  S.  138  f.  giebt  eine 
hier  sehr  brauchbare  Zusammenstellung  dieser  genealogischen  Ableitun- 
gen von  Zeus ,  aus  der  wir  sowohl  das  langsame  Zustandekommen  wie 
die  verschiedenartig  feste  und  zum  Theil  ganz  lockere  und  äusserliche 
Verknüpfung,  die  ja  in  einzelnen  Fällen  Nichts  ist  als  ein  Unterbringen 
von  fremden  Göttern,128)  wie  endlich  die  Schranke  und  Grenze  ermessen 
können,  örtlich,  an  verschiedenen  Orten  und  zu  verschiedenen  Zeiten, 
unabhängig  von  einander  sind  die  Götter  zu  Geborenen  und  dann  zu 
Zeus1  Kindern  geworden,  und  zwar  aus  sehr  verschiedenen  Gründen, 
zum  Theil  aus  solchen  ihrer  ursprünglichen  Natur  und  des  Verhältnisses 
dieser  zur  Natur  des  Himmelsgottes ;  so  z.  B.  Athene  als  Ausfluss  des 
himmlischen  Lichts  und  der  Atherklarheit,  Apollon  und  Artemis  als  Son- 
nen- und  Mondgötter,  die  Dioskuren  als  Morgen-  und  Abendstern,  als 
himmlische  Erscheinungen ,  Hermes  nicht  als  Gott  des  thieriscben  Trie- 
bes und  des  himmlischen  Umschwungs  (diesen  Letzteren  läugne  und 
bestreite  ich  überhaupt),  sondern  als  Gott  der  Wolken,  desgleichen  Ares 
in  anderer  Wendung,  Hephäslos  nach  dem  Glauben,  dass  das  vulkani- 
sche und  irdische  Feuer  vom  himmlischen  im  Blitz  entzündet  werde; 
alle  diese  Götter,  wie  sie  denn  beschränktere  Naturgebiete  vertreten, 
sind  von  Zeus  als  dem  Gotte  des  umfassenden  Himmelreichs  in  seiner 
wechselnden  Erscheinung  und  verschiedenen  Einwirkung  auf  das  Leben 
der  Erde  abgeleitet,  nicht  als  untere  Götter  von  Gott,  aus  dem  Gott- 
begriffe des  Zeus  hypostasirt.   Dafür  liegt  auch  darin  ein  Beweis ,  dass 


128)  Dies  gilt  wenigstens  nach  Welcker* s  Ansichten  für  die  »thrakischen«  Götter 
Ares  und  Dionysos  und  für  die  orientalische  Aphrodite;  dass  ich  hier  in  gewissen  Be- 
ziehungen anderer  Meinung  bin  kommt  jetzt  nicht  in  Betracht. 


53]  Beitrage  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  53 

Poseidon  and  Aides  Zeus'  Brüder,  nicht  seine  Söhne  heissen,  was  Wel- 
cker  S.  241  »die  eigentümlichste  Ausweichung  vom  System«  nennt. 
Aber  weder  von  einem  System  noch  von  einer  Ausweichung  von  dem* 
selben  kann  hier  die  Rede  sein,  sondern  die  Tbatsache  gründet  sich  auf 
die  Dreitheilung  der  physischen  Well,  die  Welcker  hier  (S.  241)  und  in 
dem  Abschnitte  »Zeus  mit  zwei  Brüdern«  (S.  1 60  f.)  sehr  gut  beleuchtet, 
auf  die  ursprüngliche  Goordination  von  Himmel,  Erde  und  Meer,  das 
TQiX&a  di  navra  didaorai,  welches  den  Mythus  von  der  Verkeilung  der 
Weltherrschaft  unter  die  drei  Kronidenbrüder  geboren  hat,  und  ur- 
sprünglich von  einer  Unterordnung  der  zwei  Anderen  unter  Zeus  Nichts 
wusste.  Denn  Poseidon  ist  eben  wie  Zeus  Vater  und  Herrscher  eines 
grossen  thalassischen  Reichs  geworden  und  Aidoneus  unabhängiger 
Herrscher  in  der  chthonischen  und  katachthonischen  Welt  und  würde 
auch  Vater  sein ,  wenn  die  Idee  des  katachthonischen  und  des  Reichs 
des  Todes  ihn  nicht  hatte  unfruchtbar  werden  lassen. 

Wenn  nun  aber  Zeus  in  einer  Reihe  von  örtlichen  Mythen  und  Sa- 
gen Vater  der  meisten  höchstgeehrten,  mächtigsten  und  erhabensten 
Götter  geworden  war,  der  Götter,  deren  geistige  Auffassung  ihre  eigenen 
Naturculte  und  die  Gülte  der  mit  der  Natur  concreter  gebliebenen  Gott- 
heiten, wie  Gäa,  Helios,  Selene  u.  A.  wenngleich  nicht  örtlich  (wo  sie 
ruhig  fortbestanden),  so  doch  im  nationalen  Götterglauben  und  vor  Allem 
in  der  Heldenpoesie  verdunkelt,  zurückgedrängt  und  beschrankt  hatte, 
so  war  es  schon  hiernach  natürlich  und  in  der  Zeit  patriarchalischer  In- 
stitutionen gegeben  und  bedingt,  dass  Zeus  als  der  oberste,  als  der 
Herrscher  dieser  seiner  Kinder  erschien  und  gefasst  wurde."9)  Und 
diese  Stellung  musste  ihm  ferner  die  des  Glanshauptes ,  des  Herrschers 
und  patriarchalischen  Vaters  auch  über  die  für  den  poetischen  Glauben 
untergeordneten  Gölter  eintragen,  die  genealogisch  nicht  von  ihm  abge- 
leitet oder  mit  ihm  verknüpft  waren,  und  deren  Unterordnung  zum  Theil 
aus  dem  Siege  im  Titanenkampfe  und  einer  Unterwerfung  nach  dem- 
selben abgeleitet  wurde,  während  andererseits  das  Beispiel  der  früher 
und  später  örtlich  und  in  den  Culten  entstandenen  genealogischen  Ver- 
knüpfungen einer  Reihe  von  Gottheiten  mit  Zeus  weiter  führen  musste 


4*9)  Daraufweist  den  homerischen  Zeus  noch  Poseidon  hin  II.  4  5.  197 

&vyat6Qtooip  yuQ  n  xul  vikm  ßikvtQov  ettj 
inna/Xoig  int6<nr  inoat'fitv,  ovg  rtxtv  avvog, 
oi  i'&tv  oTQvvovtog  axovaovrat  xal  ctvdyxy* 


54  J.  OvERBECK,  [54 

und  weiter  gefuhrt  hat,  indem  man  das  Wort  Vater  für  Musen,  Chariten, 
Hören  wörtlich  verstand  und  in  der  Erdichtung  von  Müttern  wörtlich 
anwandte. 

Dass  ich  aber  die  Gesammtorganisation  der  olympischen  Basileia 
unter  Zeus  als  die  Frucht  der  Organisation  des  heroischen  Staates  und 
als  sein  Abbild  betrachte,  habe  ich  schon  früher  angedeutet,  und  will 
darauf,  da  es  hier  nicht  auf  eine  Durchführung  im  Einzelnen  ankommt, 
nicht  nochmals  zurückkommen. 

Wenn  nun  die  Grundsätze,  die  wir  für  den  Vater  der  Götter  gel- 
tend gemacht  haben  richtig  sind,  so  müssen  sie  auch  für  den  Vater  der 
Menschen  gelten ,  wie  denn  auch  Welcker  an  der  bereits  angeführten 
Stelle  eine  gleiche  Auffassung  der  Phrase  tcccttjq  avdyow  re  &mv  re  für 
beide  Theile  fordert.  Hat  sich  uns  nun  der  nartj^  &mv  nur  in  einzelnen 
concreten  Fällen,  namentlich  im  Munde  der  Athene  und  anderer  leib- 
licher Kinder,  nicht  aber  allgemein  im  eigentlichen  Sinne  bewährt,  so 
kann  auch  der  tvccttjq  ävdQtov  nicht  und  noch  viel  weniger  im  eigent- 
lichen Sinne  gelten  oder  verstanden  worden  sein.  Welcker  freilich  be- 
müht sich  S.  181  f.,  eine  wirkliche  Vaterschaft  des  Zeus  den  Menschen 
gegenüber  zu  erweisen,  aber  mit  sehr  geringem  Erfolge,  wie  mir  schei- 
nen will.  Wenn  im  Hymnus  auf  den  pythischen  Apollon  (vs.  150,  336 
Herrn.)  die  Götter  und  Menschen  von  den  Titanen  stammen,  so  wird 
hiedurch  selbst  die  Möglichkeit,  dass  sie  nach  einer  anderen  Ansicht  von 
Zeus  stammen,  die  Welcker  a.  a.  0.  behauptet,  kaum,  die  Wahrschein- 
lichkeit gewiss  nicht  erwiesen;  wenn  in  der  Sage  von  den  Weltaltern 
in  den  besiodischen  Werken  und  Tagen  109  und  127  die  Menschen  des 
goldenen  und  silbernen  Geschlechts  von  den  Göltern  um  Eronos  ge- 
macht werden  (nofyoav)  ,m)  sowie  die  des  dritten  und  vierten  Ge- 
schlechts von  Zeus  (143,  157  nolTjoe),  so  ist  hier  von  einer  Vaterschaft 
im  einen  wie  im  anderen  Falle  keine  Rede,  denn  es  handelt  sich  um  ein 
Machen  und  Bereiten,  facere  und  formare,  wobei  die  Art  und  Weise  im 
letzten  Falle  nicht  angegeben  wird,  wohl  aber  im  dritten,  bei  dem  eher- 
nen Geschlechte,  das  Zeus  ix  /uehäv,  doch  wohl  nicht  als  Vater,  bildet. 
Gleiches  gilt  von  Simonides  von  Amorgos  und  von  Piaton,  die  Welcker 


4  30)  Dass  sich  hiermit  das  bpo&tv  ytyaaoi  faoi  ftvrpoi  x  av&Qamoi  vs.  4  08 
nicht  vertrage  und  dass  4  08  nebst  4  06  und  407  als  Interpolation  zu  betrachten  sei 
hat  schon  GÖttling  erinnert,  der  auch  mit  gutem  und  vollem  Recht  auf  das  noluv, 
efformare  nicht  procreare  Gewicht  legt. 


55]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  55 

(S.  182)  anführt;  ein  Machen  der  Menschen  aus  Erde  wie  bei  dem  Letz- 
leren (Polit.  p.  37  t)  begründet  keine  Vaterschaft.  Aber  freilich  verwech- 
selt Welcker  die  Begriffe  von  Schaffen ,  Machen  und  Zeugen  auch  sonst 
noch,  und  wenn  ihm  Zeus  im  Ehebunde  mit  Here,  Demeter  und  anderen 
Gottinnen  »schaffend«  ist,  warum  sollte  er  da  nicht  als  Vater  gellen, 
wenn  er  die  Menschen  aus  Baumstämmen  schnitzt  oder  aus  Thon  knetet? 
Am  schlimmsten  aber  fährt  Welcker  a.  a.  0.  mit  der  Stelle  der  Odyssee 
20.  202  wo  Philoitios  sagt 

ZeV  71CCT6Q 

ovk  iXeaigcig  avdqa^  enrjv  dtj  yeivecu  avrog  x.  r.  A. 
in  der,  wie  Welcker  schreibt,  Schwenck  vor  langer  Zeit131)  eine  Spur 
der  Ansicht  erkannte,  dass  Zeus  die  Menschen  »erschaffen«  habe, 
wenn  auch  der  Widerspruch,  welchen  dies  mit  der  homerischen  Mytho- 
logie bilde,  nicht  zu  heben  sei.  Welcker  aber  meint,  »Philoitios  beziehe 
sein  yeivsai  auf  seine  Anrede  Zev  ndrey,  und  man  werde  nicht  sagen 
wollen,  dass  er  in  seiner  Ruchlosigkeit  eines  sonst  im  weiteren 
Sinne  genommenen  Namens  spotten  wolle.«  Gewiss  nicht,  und  zwar  um 
so  weniger,  je  weniger  Philoitios,  den  Welcker  mit  Melanthios  verwech- 
selt zu  haben  scheint,  ruchlos  ist.  Man  werde  vielmehr,  fährt  Welcker 
fort,  dem  Scholiasten  beipflichten,  der  an  das  narrjQ  dvö^v  re  &ewv  re 
erinnert.  Schwerlich!  denn  dann  wäre  in  der  That  einem  sonst  in  wei- 
terem Sinne  genommenen  Namen  eine  andere  und  eigene  Bedeutung 
gegeben ,  die ,  mag  sie  ernst  oder  spöttisch  gemeint  sein ,  und  zwar  an 
dieser  einen  Stelle,  einen  Widerspruch  mit  der  homerischen  Mythologie 
begründet,  der  auch  schwerlich  dadurch  zu  heben  ist,  dass  dem  Philoi- 
tios die  Erinnerung  an  Odysseus  den  Gedanken  an  die  dioyeveig  ßaoi- 
Xrjes  nahe  legen  mag,  sondern  den  zu  beseitigen  nur  dann  gelingen 
möchte,  wenn  man  eine  versleckte  Anspielung  auf  Herakles  annehmen 
dürfte,  der  gemäss  man  etwa  hti\v  xal  yeivecu  avrog ,  auch  dann,  wenn 
du  sie  selbst  gezeugt  hast,  schreiben  müsste.  Will  man  aber  dies  nicht 
als  Expediens  gelten  lassen,  gut,  so  erkenne  man  den  Widerspruch  un- 
verhüllt an,  aber  gründe  dann  auch  Nichts  auf  ihn. 

Auch  dagegen  muss  ich  Einspruch  erheben,  wenn  Welcker  S.  1 83 
schreibt:  »das  Gefühl,  dass  die  Menschen  aus  Gott  seien,  drückt  im 
Allgemeinen  sich  auch  aus  durch  die  unzähligen  Sagen  der  Einfalt  von 


131)  In  der  Zeitschrift  für  die  Altertbuiuswissenschaft  1834.  S.  951 . 


&6  J.  OVERBECK,  [56 

den  Stammvätern  aus  Zeus  und  dessen  Vermählung  mit  den  Landen,  als 
Phthia,  Ägina,  Thebe,  Taygete  u.  s.  w.«  Die  Menseben?  Nein,  die 
hochadeligen  Anaktengeschlechter,19*)  deren  sich  manche,  viele  bis  auf 
Zeus ,  so  gut  wie  andere  auf  A  pol  Ion  und  andere  Götter  zurückführten, 
und  wie  auch  andere  Götter  mit  den  Repräsentantinen  oder  Heroinen 
der  Landschaften  und  Städte ,  wo  jene  Cult  hatten ,  vermählt  wurden, 
wahrhaftig  nicht  in  dem  Sinne ,  den  Welcker  behauptet.  Gleiches  gilt 
nich  minder  von  Pind.  Nem.  5.  7,  wo  die  Äakiden,  aber  wahrlich  nicht 
»die  Menschen«  von  Kronos  und  Zeus  abgeleitet  werden;  und  einzig 
und  allein  für  die  Spätzeit,  aus  der  Welcker  a.  a.  0.  Kleanthes'  ex  rov 
yag  yevog  softer  und  Aratos'  nar^Q  dvägäv  —  tov  y&Q  y&og  ia/iiv  citirt, 
kann  die  Annahme  einer  Vaterschaft  des  Zeus  deu  Menschen  gegenüber 
zugegeben  werden ,  während  mit  Bestimmtheit  nach  dem  Vorherigen 
zu  läugnen  ist,  was  Welcker  behauptet,  dass  Epiktet's  Ausspruch :  »Wer 
von  der  Lehre  wahrhaft  sich  überzeugen  kann ,  dass  wir  Menschen  alle 
von  Gott  bevorzugt  geschaffen  sind  und  dass  Gott  Vater  ist  der  Men- 
schen wie  der  Götter,  der,  mein'  ich ,  wird  über  sich  keinen  unedlen, 
keinen  gemeinen  Gedanken  fassen«  »auch  für  die  älteste  Zeit  gel- 
ten müsse. a 

Wenn  nun  nach  dem  Allen  gesagt  werden  muss,  dass  das  nareQ  Zev 
und  das  nar^g  ävÖQmv  re  &ewv  re  im  Allgemeinen  im  figürlichen  und 
patriarchalischen  Sinne  gebraucht  werde ,  so  ist  auch  noch  darauf  hin- 
zuweisen ,  dass  mit  diesem  uneigentlichen  und  patriarchalischen  Sinne 
der  Anrede:  »Vater«  sich  die  Ausdrücke  ä?a£,  vyiorog  und  vTiarog  xqswv- 
tco?,  denen  sich  solche  wie  /urjdewv  u.  A.  anschliessen  aufs  natürlichste 
verbinden,  Ausdrücke,  die  doch  nicht  so  gar  selten  sind ,  wie  Welcker 
S.  479  annimmt,  und  die,  weit  entfernt  zu  dem  ttccttjq  einen  Gegensatz 
zu  bilden ,  dessen  Begriff  der  patriarchalischen  Basileia  nur  nach  einer 
bestimmten  Richtung  hin  präcisiren. 

Hiernächst  ist  ein  Wort  zu  sagen  über  das  von  Welcker  S.  193  ff. 
besprochene  »Schaffen«  des  Zeus,  welches  ein  Zeugen  im  Ehebunde  mit 
einer  Erdgötlin  ist.  Wie  zunächst  die  Alten  dies  »Schaffen«  aufgefasst 
haben,  das  lehrt  uns  ein  Äschylos  in  dem  bekannten  herrlichen  Frag- 


13*)  Götterl.  2.  S.  215  heisst  es  bei  Welcker:  »dass  die  Könige  und  namentlich 
die  sagenhaften  wie  Dardanos,  Tantalos  [Söhne]  von  Zeus  hiessen,  und  die  Eitel- 
keit stolzer  Geschlechter  und  ihrer  genealogischen  Schmeichler,  musste  dann 
auch  zu  vielen  Dichtungen  führen.« 


57]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  57 

mente  der  Danaiden , 18S)  das  Euripides 1M)  nachgeahmt  hat,  oder  auch 
ein  Vergil,185)  von  Neueren  verweise  ich  besonders  auf  PrellerV*6)  treff- 
lich gehaltene  Opposition.  Welcker  aber  widerlegt  sich  eigentlich  selbst, 
schon  indem  er  S.  196  Zeus  in  seinem  Yerhältniss  znr  Natur  »grund- 
verschieden von  Jehovah«  nennt  und  wieder  daselbst,  wenn  er  schreibt: 
»das  Wort  Schöpfer  (Himmels  und  der  Erden)  fehlt  den  Sprachen,  deren 
Völkern  eine  absolute  Trennung  des  Göttlichen  von  der  Materie  nicht 
in  den  Sinn  kam«  d.  h.  den  Ariern;  nur  dass  er  hierfür  hätte  sagen  müs- 
sen, die  Idee,  der  Begriff  oder  das  Dogma  eines  ausserweltlichen  Gottes 
von  Ewigkeit  her,  der  den  Kosmos  der  ganzen  Welt  durch  seinen  Wil- 
len und  sein  Wort  schafft,  fehlt  diesen  Völkern,  fehlt  auch  den  Griechen, 
denen  alle  Schöpfung  eine  Zeugung  war.  Richtig  ist,  was  wir  S.  197 
lesen,  dass  der  Gedanke  des  Psalmisten:  ehe  denn  die  Berge  geworden 
und  die  Erde  und  die  Welt  geschaffen  wurden  bist  du  Gott  von  Ewig- 
keit zu  Ewigkeit,  sich  in  der  griechischen  Religion  nicht  ausgesprochen 
finde ;  aber  das  ist  es  ja  grade,  worauf  es  ankommt,  Zeus  ist  kein  ausser- 
welllicher  Gott,  kein  Gott  schlechthin  wie  Jehovah,  sondern  'ein  Gott  in 
der  Natur,  denn  falsch  ist  es,  wenn  Welcker  hinzufügt :  »aber  durch  den 
auf  den  Namen  Kronion  gelegten  Nachdruck  wird  indirect  angedeutet, 
was  dort  ausgesprochen  ist,«  denn  Kronion  ist  nicht  entfernt  der  Gott 
von  Ewigkeit  ber.  Und  so  sollte  man  auch  nicht  sagen :  »gewissermassen 
ist  Zeus  allerdings  Demiurg,  der  an  der  Materie  bildet,  die  ohne  seine 
Zeugung  keine  lebendigen  Gestaltungen  darbieten  würde ,  zu  göttlichen 
Werken  [?]  erst  durch  seine  Gottheit  befähigt  wird.  Die  Natur  ist  unter- 
geordnet indem  sie  ohne  ihn  immerdar  unverändert  ruhen  würde;« 
denn  dies  ist  griechischen  mythologischen  Anschauungen  diametral  ent- 
gegen. Es  kommt  aber  gar  sehr  darauf  an,  diese  Thatsache,  dass  die 
Griechen  die  Idee  des  Schaffens  eines  vor  der  Materie  dagewesenen 
Gottes  nicht  hatten,  und  zwar  weil  sie  keinen  supranaturalen,  transcen- 
denten  Gott  kannten ,  sondern  Zeus  wie  alle  Götter  von  Anfang  aus  der 


133)  Bei  Athen.  4  3.  600.  C,  wo  man  im  ersten  Verse  statt  ayvog  was  hier  kaum 
das  Richtige  treffen  dürfte,  da  es  auf  die  «/rorq?  des  ovfmrog  hier  am  wenigsten  an- 
kommt, wohl  Xayvos  lesen  möchte;  freilich  aber  steht  an  der  entsprechenden  Steifte 
bei  Earipides  atpvoe. 

134)  Daselbst.  43.  599  f. 
435)  Georg.  2.  323  ff. 

136)  Jahn's  Jahrbb.  a.  a.  0.  S.36. 


58  J.  Ovkrbeck,  [58 

Natur  sind,  so  dass  Zeus'  Ehen  nicht  anders  sind  als  die  Ehen  anderer 
Götter,  diese  Thatsache  unverhüllt  auszusprechen.  »Zeus  ist,  indem  von 
ihm  die  Gattin  unzertrennlich,  die  aus  seinem  Verhältniss  zur  Erde  her- 
vorging« nicht  »eben  so  innerweltlich  (immanent)  wie  er  überwelllich 
(transcendent)  ist«  wie  es  S.  196  heisst,  sondern  er  ist  durchaus  und 
nur  immanent,  durchaus  »hingegeben  an  die  Welt«  und  gar  nicht  »in  sich 
zurückgezogen,  nicht  in  sie  aufgehend,  oder  Weltgeist.«  — 

Und  nun  Zeus  und  die  Moira.  Wenn  sich  uns  Zeus  weder  in  seines 
Namens  Urbedeutung,  noch  in  seinen  ältesten  Culten,  noch  auch  in  sei- 
ner Herrscherstellung  in  der  Götterfamilie  und  im  Götterstaat,  noch  fer- 
ner als  Schöpfer  der  Menschen  und  der  Welt  als  Gott  schlechthin  gezeigt 
hat,  so  könnte  es  scheinen ,  dass  er  sich  als  solcher  in  seinem  Verhält- 
niss zur  Aisa,  Moira  offenbare.  Denn  ich  stimme  Welcker  von  ganzem 
Herzen  zu,  wenn  er  die  Idee  eines  Schicksals  über  Zeus  und  ausser  Zeus 
und  den  Göltern,  über  und  ausser  der  gewöhnlichen  göttlichen  Vorsehung 
und  Vorherbestimmung  bekämpft.137)  Aber  ich  kann  ihm  nicht  beistim- 
men, wenn  er  die  Moira ,  Aisa  als  identisch  mit  dem  göttlichen  Willen 
zu  Zeus  allein  in  ein  enges  Verhältniss  bringt.  Sie  ist  nicht  der  Ausfluss 
von  Zeus'  Willen  allein,  sondern  von  aller  Götter  Willen,  sie  eignet  nicht 
Zeus,  sondern  den  Göttern  als  Göttern,  als  Theilhabern  jenes  abstracten 
&eiov9  welches  allein  wir  als  die  insita  notitia  angesprochen  haben.  Die 
S.  1 87  von  Welcker  angeführten  Stellen,  obwohl  sie  nur  zufällig,  sichtbar 
nicht  absichtlich  ausgewählt  sind,  in  denen  die  Moira  der  Götter  {Moi^a 
focdv)  steht,  in  denen  die  Moira  als  Ausfluss  des  Willens  der  Here,  des 
Apollon  erscheint,  genügen  vollkommen,  um  meine  Behauptung  zu  be- 
weisen, die  es  denn  wohl  auch  rechtfertigt,  dass  später  nicht  Zeus  allein 
MoiQayerrjs  heisst,  sondern  auch  Apollon,  und  dass,  wie  Welcker  selbst 
anführt,  neben  Zeus  und  wie  Zeus  auch  Athene,  Here.  Apollon,  Posei- 
don, Kypris  dieKeren  senden  oder  abwehren.  Dass  aber  die  Moira  öfter 
zu  Zeus  als  zu  den  anderen  Göttern  steht,  und  dass  sich  aus  der  Formel 
i%  Jio$  Moiqa  die  Vaterschaft  des  Zeus  gegenüber  den  Moiren  ent- 
wickelt hat,  wie  sie  die  hesiodische  Theogonie  (904)  kennt,  das  darf 
uns  nicht  wundern,  da  dem  Zeus  als  dem  ßaotlevg  des  Olymp  die  ober- 
ste Entscheidung  in  den  Schicksalsdingen  natürlich  anheimfällt. 


137)  Götterl.  i.  S.  183  ff.  Womit  ich  freilich  nicht  jedes  Wort  in  diesem  Ab- 
schnitt unterschrieben  haben  möchte,  worauf  aber  hier  Nichts  ankommt. 


59]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zedsreligion.  59 

6. 

Wir  kommen  zum  Zeus  Kronion,  in  dem  jedenfalls  die  Ansicht 
Welcker's  von  der  Zeusreligion  culminirt.  Die  Erklärung  des  Kronos 
als  Chronos  ist  bekanntlich  nicht  neu,  sondern  von  einer  Anzahl  unserer 
bedeutendsten  Mythologen  bereits  früher  vertreten,  eben  so  wenig  kann 
man  die  mit  jener  Erklärung  im  Zusammenhange  stehende  Deutung  des 
Kronion  als  des  Gottes  von  Ewigkeit  her  in  ihrem  innersten  Kern  neu 
nennen ;  hält  man  Kronos  für  die  Zeit,  die  unendliche  Zeit,  so  kann  man 
ja  Sohn  der  Zeit  nicht  anders  als  in  dem  angegebenen  Sinne  fassen. 
Aber  trotzdem  ist  in  Welcker's  Bearbeitung  dieser  Idee  viel  Neues,  theils 
in  der  sehr  gelehrten  und  gründlichen  Beweisführung  für  dieselbe  als 
Thatsache,  theils  in  ihrer  weiten  Ausdehnung  und  Anwendung  auf  die 
griechische  Religion ,  endlich  in  der  Erhabenheit  der  Auffassung.  Des- 
wegen, und  obgleich  ich  keineswegs  verkenne,  dass  schon  von  An- 
deren, namentlich  von  Preller  (a.  a.  0.  S.  37)  Bedeutendes  gegen 
Welcker's  Lehre  eingewendet  worden  ist ,  kann  ich  nicht  glauben ,  dass 
es  verlorene  Mühe  sei,  dieselbe  schrittweise  zu  verfolgen  und  sie  in 
ihrer  Grundlage  und  in  allen  ihren  Consequenzen  neu  zu  prüfen. 

Welcker  beginnt  seine  Darstellung  (S.  141)  mit  einer  Behandlung 
des  Sprachgebrauchs  bei  Homer,  zu  der  ich  ihm  folgen  werde,  nach- 
dem ich  zuvor  noch  einmal  darauf  hingewiesen  habe,  dass  Homer  für 
den  Zeus  Kronion  überhaupt  unsere  älteste  Quelle  ist,  da  das  Wort, 
wie  ich  schon  oben  (S.  22)  bemerkt  habe,  uns  in  keinem  der  ältesten 
Gülte  auch  nur  zufällig  entgegentritt.  Es  fällt  mir  nicht  ein,  diesen 
negativen  Beweis  gegen  das  Alter  des  Kronion  als  an  und  für  sich 
schwerwiegend  oder  gar  entscheidend  zu  halten,  nur  glaube  ich,  dass 
er  im  Zusammenhange  mit  dem  Ferneren  ebenfalls  einiges  Gewicht  ge- 
winnen und  zum  Senken  der  Schale  mit  beitragen  wird. 

Untersuchen  wir  nun  zuerst,  ob  Welcker's  Deutung  des  Zeus- 
beinamens Kronion  nöthig  sei,  um  die  Thatsachen,  die  sich  im  ho- 
merischen und  späteren  dichterischen  Sprachgebrauch  an  ihn  knüpfen 
zu  erklären.  Welcker  sagt  a.  a.  0. :  » nun  ist  der  Beiname  Kronion  von 
allen  des  Zeus  der  häufigste  bei  Homer  und  Hesiodus  und  bei  allen 
Nachfolgenden  um  so  mehr,  als  sie  in  den  religiösen  Ton  der  ältesten 
Poesie  einstimmen.«  Dies  leitet  Welcker  aus  der  von  ihm  angenommenen 
Bedeutung  des  Kronion  ab,  durch  welche,  wie  er  sagt,  dem  Gölte  das 


60  J.  OVERBBCK,  [60 

höchste  Prädicat  beigelegt  werde.  Aber  gleich  hier  müssen  wir  fragen, 
ob  sich  bei  dem  bekannten  grossen  Gewichte,  das,  namentlich  auch  in 
den  homerischen  Gedichten,  auf  das  naryo&ev  övofxa&iv  in  der  Be- 
zeichnung und  namentlich  in  der  Anrede  gelegt  wird,138)  die  Thatsache 
der  überwiegend  häufigen  Bezeichnung  und  namentlich  der  Anrede  des 
Zeus  als  Kqoviwv  oder  Kqovidrjg  nicht  viel  einfacher  aus  eben  dieser 
Sitte  und  aus  der  Analogie  der  noch  häufigeren  Bezeichnung  und  An- 
rede des  Agamemnon  als  Atreides130)  erkläre?  Und  da  es  feststeht, 
dass  Homer  Eronos  als  Person  und  als  den  Vater  des  Zeus  kennt  und 
anerkennt,140)  so  kann  ich  allerdings  nicht  zweifeln,  dass  der  Dichter 
Kronion  und  Eronides  so  gut  wie  Sohn  des  Eronos  genealogisch  ver- 
standen hat,  und  dass  sich  die  Häufigkeit  des  Beinamens  nicht  aus 
dessen  Gewicht  als  »das  höchte  Prädicat,«  sondern  aus  der  Sitte  des 
natQo&ev  ovo/ia^v  erkläre.  Und  diese  Bemerkung  gilt  eben  so  wohl 
auch  dem  gegenüber,  was  Welcker  im  Verfolge  des  ausgezogenen 
Satzes  bemerkt:  »auch  wird  Kronion  und  Eronides  sehr  oft  allein  statt 
Zeus  gebraucht,  und  wo  es  mit  Zeus  und  einem  anderen  gewichtvollen 
Beinamen  verbunden  steht,  muss  es  eben  so  wohl  wie  dieser  auch  Ge- 
wicht haben.«  Ganz  gewiss ;  aber  kein  anderes  als  wenn  Agamemnon 
ausschliesslich  Atreides  genannt  wird,  was  sich  ebenfalls  noch  häufiger 
findet,  als  Eronion  und  Eronides  für  Zeus,141)  nicht  selten  aber,  grade 
wie  bei  Zeus,  mit  besonders  ehrenvollem  Nachdruck,  so  selbst  im 
Munde  des  zürnenden  Achill  1 .  122:  Arqddri  vidierte.  Und  nicht  ver- 
schieden ist  es ,  wenn  andere  hervorragende  Helden ,  der  Peleide ,  der 
Tydeide,  der  Laertiade  bei  Homer  nur  natQo&ev  genannt  werden,  wäh- 
rend sich  derselbe  Sprachgebrauch  in  demselben  Sinne  bekanntermassen 
auch  auf  die  späteren  Dichter  fortpflanzt.  Hiernach  kann  ich  nun  weiter 
auch  nicht  als  richtig  anerkennen  was  Welcker  S.  142  schreibt:  »wäre 


4 38)  Es  genügt  auf  II.  4  0.  68  and  auf  die  Abhandlung  Wachsmuth's,  Hellenische 
Alterthumskunde  4.  S.  809  zu  verweisen. 

4  39)  In  den  ersten  4  2  Büchern  der  Ilias  steht  Zeus  Kronion  und  Kronides  im 
Ganzen  22  Mal,  Atreides  Agamemnon  aber  32  Mal. 

4  40)  Vgl.  11.2.205,34  9;  4.69,75;  5.  721;  6.  4  39;  8.383;  9.  4  94;  4  2.450; 
.44.  4  94;  45.  4  87;  4  6.  434 ;  4  8.  293,  um  von  den  Stellen  der  Odyssee  abzusehn. 

4  44)  In  den  ersten  4  2  Büchern  der  Ilias  steht  Kronion  und  Kronides  ohne  Zeus 
allein  oder  mit  einem  anderen  gewichtvollen  Beinamen  verbunden  28  Mal,  Atreides 
ohne  Agamemnon  allein  oder  mit  einer  zweiten  gewichtvollen  Ehrenbezeichnung  ver- 
bunden aber  44  Mal. 


61]  Beiträge  zur  Erkenntmss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  61 

dieser  Name  zuerst  aufgekommen  durch  die  Genealogie ,  so  würde  er 
weder  einen  so  nachdrucksvollen  und  häuGgen  Gebrauch  in  Bezug  auf 
Zeus  erhalten  haben,  noch  würden  dessen  beide  mythologische  Brüder, 
denen  der  Name  nur  genealogisch  zukommt ,  von  diesem  Gebrauche  in 
solchem  Grade  ausgeschlossen  sein«;  denn  während  sich  der  nach- 
drucksvolle und  häufige  Gebrauch  bei  Zeus  aus  der  Sitte  des  ncxrqo&ev 
övofMa&iv  wie  gesagt  und  aus  der  Analogie  besonders  des  Atreiden  bei 
Agamemnon  ganz  natürlich  auch  bei  der  blos  genealogischen  Geltung 
des  Kronion  erklärt,  so  erklärt  sich  eben  so  einfach  die  Ausschliessung 
des  Poseidon  und  Alfdoneus  von  demselben  Ehrenbeinamen  zum  Theil 
schon  dadurch ,  dass  diese  Götter  die  jüngeren  Brüder  sind ,  während 
Zeus  als  Erbe  und  Thronfolger  des  Kronos  der  Kronide  katexochen  ist. 
Wie  sehr  aber  der  genealogische  Ehrenname  und  grade  dieser  an  dem 
Altesten  haftet,  das  lehrt  uns  wieder;  die  Analogie  der  beiden  Atriden.14*) 
Ungleich  vollständiger  dagegen  und  in  der  That  in  erschöpfender  Weise 
erklärt  sich  die  Ausschliessung  des  Poseidon  und  Aftles  von  dem  Bei- 
namen der  Kroniden  dadurch ,  dass  sie  erst  durch  Mythenpragmatismus 
oder  »jenen  combinatorischen  Mythus«  wie  Welcker  sich  S.  4  41  aus- 
drückt, welcher  sie  zu  Brüdern  des  Zeus  macht,  überhaupt  zu  Kro- 
niden geworden  sind ,  was  Welcker  a.  a.  0.  berührt  und  S.  \ 60  ff. 
weiter  ausführt.  Der  Mythus  vom  Kronos  selbst ,  das  glaube  ich  hier 
nicht  erst  beweisen  zu  dürfen ,  da  ich  auf  diesen  Punkt  ohnehin  in  an- 
derem Zusammenhange  zurückkommen  muss,  haftet  in  seinen  Wurzeln 
und  in  seinem  ganzen  Umfange  ursprünglich  an  Zeus  allein,  und  er  ist 
auf  die  beiden  anderen  Götter  als  die  Brüder  und  die  drei  Göttinnen 
als  die  Schwestern  des  Zeus  einzig  und  allein  im  theogonischen  System 


Kkt)  Während  nämlich  Menelaos  in  den  vielen  Stellen ,  in  denen  er  vorkommt 
stets  als  ßor}¥  uyaöbg  oder  «(»qfyiAof  oder  iav&bg  vorkommt,  führt  er  den  Beinamen 
Atreides  in  den  ersten  \  *  Büchern  der  Ilias  Alles  in  Allem  8  Mal ,  Agamemnon  aber 
wie  schon  bemerkt  Alles  in  Allem  75  Mal,  wobei  die  Stellen  angerechnet  sind,  in  denen 
die  zwei  Atriden  als  'AxQtidai  vorkommen ,  Stellen  von  denen  man  leicht  zugestehn 
wird,  dass  in  ihnen  der  Ehrenname  eigentlich  an  Agamemnon  haftet  und  auf  den 
jüngeren  Bruder  mit  übertragen  ist.  Nun  kommen  freilich  Poseidon  und  Ai'doneus  selbst 
nicht  einmal  so  oft  als  Kroniden  vor,  wie  Menelaos  Atride  heisst ;  aber  wenn  man  aus 
der  Häufigkeit  ihrer  beiderseitigen  Erwähnungen  überhaupt  ein  Recbenexempel  auf- 
machen würde,  so  würde  man  finden,  dass  sich  die  Zahl  der  Stellen,  wo  Menelaos 
vorkommt  zu  denen ,  wo  er  Atride  heisst  wesentlich  proportioual  verbalten  zu  denen 
wo  jene  Götter  vorkommen  und  wo  sie  Kroniden  heissen. 


62  J.  OVERBECK,  [62 

und  nur  so  weit  übertragen  worden ,  wie  dies  die  Consequenz  des  Sy- 
stems gebieterisch  forderte.  Und  wiederum  erklärt  sich  aus  der  That- 
sache,  dass  der  ganze  Mythus  von  Kronos  ursprünglich  nur  den  Zeus 
angeht,  oder  vielmehr,  es  bestätigt  diese  Thatsache  was  Welcker  a.a.O. 
weiter  bemerkt,  dass  nämlich  »nur  die  Geburt  des  Zeus  von  Rhea  auf 
einigen  Punkten  gefeiert  worden  ist,  nirgend143)  die  der  ihm  ge- 
gebenen Brüder.«  Denn  dass  Rhea  den  Zeus  geboren,  und  nicht  allein 
geboren,  sondern  auch  vor  seinem  Vater  gerettet  hat,  das  ist  ein  wirk- 
licher, wenn  auch,  kein  Urmythus,  eine  ausführlich  auch  von  den 
Dichtern  erzählte  Geschichte,  dass  aber  Poseidon  so  gut  wie  Axdes,  wie 
Here,  Hestia  und  Demeter  Rhea's  Kinder  sind,  ist  kein  irgendwie  signi- 
ficanter  Mythus ,  wenigstens  nicht  für  die  nationale  und  poetische  My- 
thologie, sondern  eine  blosse  Folge  der  combinatorischen  Theogonie, 
folglich  auch  gänzlich  gleichgiltig.#Wenn  aber  Welcker  S.  1 41  f.  schreibt: 
»grade  dass  bei  Homer  Kronion  als  Ehrenname  stetig  allein  des  Zeus 
gebraucht,  sowie  dass  dieser  von  ihm  dagegen  nie  ein  Sohn  Rhea's  ge- 
nannt wird,  beweist,  dass  gegen  diesen  neueren  Mythus  die  alte  reli- 
giöse Anschauung  sich  noch  in  Kraft  erhielt,  nach  welcher  Kronion  be- 
stimmter als  Zeus  den  Unterschied  Gottes  von  der  Welt  ausdrückt,  und 
nach  welcher  allein  Zeus  ursprünglich  und  wesentlich  Kronion  war«, 
so  muss  ich  darauf  entgegnen,  dass  auch  bei  keinem  einzigen  Helden, 
der  nargo&ev  genannt  wird,  die  Mutter  jemals  mit  irgendwelchem 
Nachdruck  erwähnt  wird,  wie  denn  auch  von  allen  Göttern  und  Göt- 
tinen  nur  Apollon  und  Hermes  als  Söhne  des  Zeus  und  der  Leto  resp. 
der  Maias  vorkommen.  Und  zwar,  weil  das  fitjtQo&ep  övofia&w  durch- 
aus nur  Ausnahme  und  unhellenische  Sitte  ist.144)  Nach  diesem  Allen 
glaube  ich  mit  Bestimmtheit,  behaupten  zu  dürfen ,  dass  wir  in  keinem 
Falle  der  Anwendung  des  Kronion  bei  Homer  zu  der  Welcker'schen 
Erklärung  zu  greifen  nöthig  haben ,  dass  vielmehr  ganz  gewiss  im  Be- 
wusstsein  des  Dichters,  dem  Kronos  eine  Person  und  reale  Grösse  ist 


143)  Vergl.  jedoch  Pausan.  8.  8.  1  u.  3,  jene  immerhin  merkwürdige  Stelle,  in 
welcher  von  Rhea  nach  der  Geburt  des  Poseidon  Ähnliches  berichtet  wird  wie  der 
populäre  Mythus  von  ihr  nach  Zeus'  Geburt  erzählt,  merkwürdig  auch  dadurch,  dass 
Pausanias  angiebt ,  durch  diesen  Mythus  zum  Glauben  an  die  rätbselvolle  Sinnigkeit 
der  griechischen  Mythologie  bekehrt  worden  zu  sein ,  was  Forchhammer  im  Philologus 
f  4.  3.  p.  385  ff.  ausgebeutet  hat. 

\  44)  Bachofen  in  den  Verhandlungen  der  Stuttgarter  Philologenvers.  S.  40. 


63]  Beiträge  zur  Ehkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  63 

nach  Analogie  seines  gesammten  Sprachgebrauchs,  Kronion,  Kronides 
und  Sohn  des  Kronos  einzig  und  allein  mit  Beziehung  auf  den  wirk- 
lichen mythologischen  Vater  des  Zeus  gesetzt  ist. 

Was  aber  den  Sprachgebrauch  der  späteren  Dichter  anlangt,  na- 
mentlich zunächst  denjenigen  Pindar's ,  über  den  Welcker  S.  1 42  han- 
delt, so  erklärt  sich  dieser  ebenso  aus  der  feststehenden  mythologischen 
Thatsache  und  aus  dem  grossen  Einflüsse  der  epischen  Poesie,  dem 
sich  so  leicht  kein  späterer  Dichter  entzieht145)  und  am  allerwenigsten 
ein  Pindar,  mit  seiner  »Hingebung  an  den  Mythus«,  die  Welcker  selbst 
hervorhebt. 

Wenn  man  nun  die  vorstehenden  Bemerkungen  über  Homer' s  Ver- 
hältnis zu  den  Namen  Kronion  und  Kronides  anerkennt,  so  könnte  man 
sich  immer  noch  um  die  von  Welcker  angenommene  Bedeutung  dieser 
Worte  zu  vertheidigen,  auf  die  zweite  Position  zurttckziehn,  Homer  selbst 
habe  das  überkommene  Urwort  Kronion  misverstanden  und,  durch  die 
eingebürgerte  Genealogie,  nach  der  Zeus  ein  Enkel  ist,  irre  geleitet, 
dasselbe  im  gewöhnlichen  Sinne  falsch  angewendet;  und  allerdings 
finden  wir  bei  Welcker  S.  1 42  die  Behauptung ,  welche  das  Einnehmen 
dieser  zweiten  Position  wenigstens  vorbereitet:  »der  Name  Kronion  ist 
so  alt  wie  für  uns  im  griechischen  Alterthum  irgend  Etwas.« 
Aber  wo  wäre  auch  nur  der  Schatten  eines  Beweises  fUr  diese  Be- 
hauptung? wo  die  Möglichkeit,  einen  Beweis  zu  finden,  als  in  den 
ältesten  Culten,  in  denen  man  aber  wie  bemerkt,  vergebens  suchen 
wird.  Denn  das  Einzige,  was  nun  noch  übrig  bliebe,  nämlich  die  zweite 
Behauptung ,  Kronion  erkläre  sich  aus  sich  selbst,  und  verbürge  in  sich 
selbst  sein  Alter,  wie  der  Name  des  Zeus,  diese  Behauptung  hat  Welcker 
nicht  ausgesprochen,  und  die  wird  auch  wohl  kein  vernünftiger  Mensch 
im  Ernst  aussprechen.  Dagegen  sucht  Welcker  die  aufgestellte  Bedeutung 
von  Kronion  durch  den  Nachweis  zu  erhärten ,  dass  Kronos  Chronos, 
Zeitgott  im  Sinne  vom  Gott  der  unendlichen  Zeit  sei ;  wenn  ihm  dieser 
Nachweis  gelänge ,  so  würde  er,  das  muss  man  zugestehn ,  die  mehr- 
berührte zweite  Position  einnehmen  können,  und  zu  behaupten  be- 
rechtigt sein :  Homer  hat  das  ihm  überkommene  Wort  Kronion  misver- 


J  45)  Herodot's  berühmter  Ausspruch  über  Homer  und  Hesiod :  ovrot  di  iimv  oi 
notfjffotTte  rfjv  ftiQyovir\v  "EXkqotv  xcii  voiai  Ösoiai  rag  inantvfiiag  dovceg  x.  r.  A.  ent- 
hält im  Hinblick  auf  die  spätere  Poesie ,  den  poetischen  Nationalmythus  eine  grosse 
und  beherzigenswerthe  Wahrheit. 


64  J.  OVEHBBCK,  [64 

standen;  und  weiter:  folglich  ist  dasselbe  wenn  auch  grade  nicht  als 
Urwort  wie  Zeus,  doch  als  sehr  alt  und  als  alter  denn  der  genealogische 
Mythus  erwiesen.  Freilich.  Wir  haben  also  zu  untersuchen,  ob  Welcker 
den  Nachweis  von  Eronos9  Bedeutung  als  Chronos  gebracht  habe,  ob 
dieser  überhaupt  zu  bringen  sei. 


7. 

»Kqovoq  ist  xqovos,  die  Zeit «  Es  sei  mir  verstattet,  diese 

Grundbehauptung,  mit  der  alles  Andere  steht  und  füllt,  zuerst  sprach- 
lich, sodann  an  den  Zeugnissen  der  Alten  und  endlich  sachlich  zu  prüfen. 
»Kronos,  also  schreibt  Welcker  S.  1 40,  ist  XQ°V°£>  die  Zeit,  und  wurde 
als  Eigenname  so  in  der  Schrift  gestempelt,146)  wie  Ka^fAavwQ  für  Xa$- 
fidvtoQy  '^[MpixTvwv  füv^{upurri<Dr,U7)  wie  vielen  alten  Namen  geschehen 
ist.«  Beziehn  sich  die  letzten  Worte ,  wie  aus  dem  Beispiel  des  Ap- 
yixriKov  mit  v  für  *  geschlossen  werden  muss ,  im  Allgemeinen  auf  die 
bekannte  Thatsache ,  dass  viele  mythologische  Namen  durch  eine  ge- 
ringe Veränderung  der  Form  aus  Appellativen  herausgebildet  und  zu 
Individualnamen  differenzirt  sind  ,148)  so  ist  dagegen  Nichts  einzuwen- 
den ;  hat  Welcker  als  er  sie  niederschrieb  aber  speciell  den  Wandel  des 
*  und  %  a's  eines  der  Mittel  zur  Bildung  der  Individualform  aus  dem 
entsprechenden  Appellativum  im  Auge  gehabt,  und  meint  er,  dass  viele 
alte  mythologische  Namen  eben  durch  dieses  Mittel  ausgeprägt  und  aus 
dem  Appellativum  differenzirt  worden  seien ,  so  muss  man  bedauern, 
dass  er  ihrer  nicht  mehre  nennt,  und  namentlich,  dass  er  nicht  mehr 
Beispiele  mythologischer,  in  hochalterthttmlicher  Zeit ,  um  die  es  sich 
doch  zunächst,  ja  allein  handelt,  so  gebildeter  Namen  anführt.  Vielmehr 


4  46)  Im  Rhein.  Mus.  a.  a.O.  beisst  es  statt  dessen  jedenfalls  richtiger,  »dass  der 
Anfangsbuchstabe  nur  der  verschiedenen  Aussprache  angehöre«,  denn  die  Fixirung 
des  Namens  Kronos,  er  sei  entstanden  wie  er  entstanden  sein  mag,  liegt  natürlich 
aller  Schrift  weit  voraus. 

4  47)  Im  Rhein.  Mus.  a.  a.  0.  werden  als  Analoga  weiter  hinzugefügt:  JfCQtjtmov 
von  XQfimog,  Kffjotiag  für  X(pi*iXag  und  &*(pldt](iov ,  K*QiXa<;  auf  phrygischen  und 
I  milesischen  Münzen. 

'  448)  Vergl.  auch  Welcker,  Gölterl.  4.  S.  4  33. 


65]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  65 

ist  unter  den  von  Welcker  angeführten  Beispielen  mythologisch  und  alt 
nur  KaQfiaPiDf),  für  welchen  doch  die  Erklärung  0.  Müllers  (Prolegg. 
S.  4  59)  aus  Kad-aQfiavwQj  welche  dem  Wesen  und  Wirken  des  Karmanor 
vortrefflich  entspricht,  immer  noch  erwogen  zu  werden  verdient,  und 
somit  dürfte  die  Erklärung  des  Kronos  aus  xqovos  in  mythologischen 
Analogien  bis  jetzt  schwerlich  eine  starke  Stütze  finden.  Ist  dies  aber 
nicht  der  Fall,  so  kann  man  auch  den  übrigen  von  Welcker  angeführten 
Beispielen  eben  kein  grosses  Gewicht  beilegen ,  vielmehr  verfangen  sie 
eben  so  wenig ,  wie  Alles ,  was  man  schon  seit  langer  Zeit  und  oft 
genug149)  zur  Begründung  der  Ableitung  des  Kq6vo<±  von  xqovoc,  vor- 
getragen hat.  Man  beruft  sich  auf  den  Wechsel  von  %  und  %  in  den  Dia- 
lekten ,  auf  die  Thatsache  des  ionischen  %  für  %  \  aber  man  vergisst 
Zweierlei  nachzuweisen,  was  hierbei  sehr  genau  in  Frage  kommt, 
erstens  nämlich,  dass  entweder  Kronos  der  Gott  von  einem  Volksstamm 
benannt  worden  sei ,  der  überhaupt  in  analogen  Fällen  *  für  %  sprach,190) 
oder  zweitens  dass  irgendwo  und  irgendwann  in  Griechenland  das  Ap- 
pellativ XQ°V0$  xqovoq  gesprochen  worden  sei.  Bis  aber  entweder  my- 
thologische Analoga  zu  der  Individualdifferenzirung  des  Zeitgottes  ifyo- 
vog,  der  bekanntlich  auch  spät  noch  als  Xqovoq  vorkommt,  aus  dem  Ap- 
pellativ xQovog  beigebracht ,  oder  bis  die  eben  angedeutete  Alternative 
erwiesen  worden  sein  wird,  muss  es  erlaubt  sein,  die  Erklärung  des 
Kqovoq  aus  xqovos  besten  Falls  für  möglich,  gewiss  aber  nicht,  sie  für 
zwingend  oder  erwiesen  zu  halten. 

Nächst  dem  Namen  selbst  zieht  Welcker  auch  das  Epitheton  äyxv- 
koptjrrjs,  welches  dem  Kronos  bei  Homer  oftmals,  bei  Hesiod  (Theog. 
168)  in  der  Geschichte  des  Herrschaftswecbsels  gegeben  wird,  zum 
Beweise  der  Deutung  des  Kronos  als  xQovog  heran,  insofern  er  S.  143 
schreibt,  dies  Beiwort  scheine  Kronos  »als  der  Zeit«  zuzukommen« 
Aber  er  widerlegt  sich  selbst  S.  265,  wo  er  diesen  Gedanken  weiter 
begründet,  und  schreibt :  »Zeus  wird  genannt  Kq6vov  nah  äyxvkofirJTea*. 
Nun  ist  zwar  die  Zeit  das  Weiseste,  wie  Pindar,  denn  sie  erfindet  Alles, 


4  49)  Vergl.  z.B.  Buttmann,  Mylhologufl  S.  S.  33,  griech,  Gramm.  §  47,  Kühner, 
ausfuhr!,  griech.  Gramm.  §  39  a. 

4  50)  Der  kretische  Künstler  Kresilas  gehört  einer  anderen  Gegend  der  völker- 
banten  Insel  an  (Kydonia)  als  diejenige,  wo  der  Kronosmythus  Wurzel  halte  and  einer 
Zeit,  deren  Dialekteidentität  mit  der  Zeit  der  Entstehung  des  Kronosmythus  man 
schwerlich  ohne  Beweis  zugestehn  wird. 

Abh.ndl.  d.  R.  8.  Gel.  d.Wisg.  X.  5 


66  J.  OVBBBECK,  [66 

wie  Thaies  sagt krummsinnig  aber  scheint  Kronos  doch  so 

allgemein  nicht  mit  Bezug  auf  den  Begriff  der  Zeit  genannt  zu  sein, 
als  deren  Wege  unerforschlich  seien,  wie  Wegkrümmen  undurchschau- 
bar, sondern  mit  Bezug  auf  einen  besonderen,  auffal- 
lenden, gelungenen  Streich,  auf  eine  einzelne  Dichtung.« 
Dem  ist  einfach  beizustimmen ,  denn  ganz  gewiss  bezieht  sich  das  Bei* 
wort  dyxv)iofxrjTrjgy  welches  als  ein  besonders  charakterislisches  ständig 
geworden,  auf  die  Geschichte,  den  Mythus  selbst,  in  dem  es  Hesiod  ge- 
braucht, und  nach  welchem  Kronos  sich  mit  der  ihm  von  Gäa  gegebenen 
Harpe  in  den  Hinterhalt  legt  und  aus  diesem  heraus,  feig  und  listig, 
nicht  mit  offener  Gewalt  den  Vater  bezwingt.  Zeus  hat  Kronos  und  die 
Titanen  im  offenen  Kampfe ,  mit  grader  Gewalt  bezwungen ,  Kronos  hat 
durch  Hinterlist  und  Heimtücke  gesiegt,  darin  liegt  der  charakteristische, 
auch  die  Folgen  bedingende  Unterschied  der  beiden  Geschichten  vom 
Thronwechsel,  wie  sie  die  Theogonie  erzählt,  und  darin  zugleich  der 
Unterschied  im  Wesen  der  beiden  Götter,  welches  auf  Seiten  des  Kronos 
durch  das  die  ganze  Geschichte  in  nuce  enthaltende  Epitheton  äyxvXo- 
fj^njg  bezeichnet,  festgehalten  und  ausgeprägt  ist.  Und  wenn  Welcker 
im  Verfolg  der  angezogenen  Stelle  (S.  265)  weiter  schreibt:  »so  ist  es 
der  naYven ,  volksmässigen  Auffassung  gemäss ,  nach  welcher  der  die 
Idee  in  ein  mystisches  Räthsel  einkleidende  Weise  sich  richtet,  indem 
er  dabei  seinen  eigenen  Gedanken  im  Sinn  behält «,  so  vermisse  ich 
hier  eben  so  wohl  die  nähere  Bezeichnung ,  welcher  Weise  hier  gemeint 
sei,  wie  für  die  Schlussworte  des  Satzes  allen  und  jeden  Beleg101).  Ist 
dem  Homer  Kronos  eine  mythische  Person  wie  seine  anderen  Götter, 
und  an  dieser  Thatsache  kann  ernstlich  nicht  gezweifelt  werden,  so  ist 
es  unbegreiflich ,  aus  welchem  Umstände  man  merken  oder  schliessen 
soll,  dass  er  das  aus  dem  Mythus  vollkommen  erklärte  Beiwort  anders 
als   in  dem  mythischen,  naYven  und  volksmässigen  Sinne  verstanden 


4  51)  Es  macht  einen  eigenen  und,  ich  kann  es  nicht  verhehlen,  peinlichen  Ein- 
druck ,  Welckern  hier  auf  jenem  Standpunkte  Creuzer's  zu  finden,  von  dem  aus  dieser 
die  alten  Dichter  und  namentlich  auch  Homer  als  priesterlich  eingeweihte  Weise  be- 
trachtete, welche  dem  einfältigen  Volke  nur  die  Hülle  von  ihnen  selbst  ganz  anders 
begriffener  Geheimlehren  mittheilen.  Bei  Creuzer's  trotz  aUer  weitläufigen  Gelehrsam- 
keit eminenter  Unklarheit  konnte  dies  nicht  auffallen  und  ist  ein  solcher  Standpunkt 
wenigstens  consequent  festgehalten,  wie  er  sich  mit  der  historischen  und  kritischen 
Klarheit  eines  Welcker  verträgt  ist  ein  für  mich  unauflösliches  Räthsel. 


67]  Beitrags  zur  Ereenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  67 

habe ;  und  genau  dasselbe  gilt  von  den  späteren  Dichtern ,  welche  die 
mythische  Thatsacbe  als  solche  berichten.  Das  vorhomerische  Alter- 
thum,  das  Welcker  S.  264  wie  für  den  ganzen  Mythus  so  auch  für  das 
Beiwort  des  Kronos  in  Ansprach  nimmt,  bin  ich  weit  entfernt  zu  be- 
streiten oder  anzuzweifeln,  was  ich  behaupte  ist  nur  dies,  dass  gleich- 
wie dem  Homer  der  Mythus  von  dem  Thronwechsel  als  Mythus  zukam 
und  von  ihm  als  Mythus,  ohne  alle  erforschbare  reservatio  mentalis 
wiederberichtet  wurde,  ihm  ebenso  das  Wort  dyxvko/uijTrjg  in  seinem 
mythischen  Sinne  zugekommen,  und  von  ihm  in  eben  diesem  Sinne 
grade  so  naiv  und  volksmässig  gebraucht  ist,  wie  der  ganze  Homer 
durchaus  naYv  und  volksmassig  ist.138)  Und  danach  kann  ich  das  Wort 
dyxvXofi^rrjg  eben  so  wenig  wie  den  Namen  Kronos  als  einen  Beweis 
gelten  lassen ,  dass  Kqovog  Xqovos  sei. 

Ich  wende  mich  nun  zu  einer  Prüfung  der  antiken  Zeugnisse,  durch 
die  Welcker,  wie  er  S.  1 43  schreibt,  beweisen  will :  »neben  dem  genea- 
logischen Mythus  hat  sich  auch  die  Idee  immer  erhalten«,  nämlich 
die  Idee,  dass  Kronos  die  Zeit  und  Zeus  Kronion  der  Gott  von  Ewigkeit 
her  sei.  Mit  je  mehr  Bitterkeit  Welcker  im  Rhein.  Mus.  a.  a.  0.  S.  625 
es  seinem  Recensenten  im  Philologus  als  einen  Beweis  von  mangelnder 
Achtung  des  Gegners  und  der  Wahrheit  vorwirft,  dass  er,  anstatt  sich 
auf  alle  die  hier  in  Rede  kommenden  Beweismittel  Welcker's  einzu- 
lassen, nur  auf  die  von  ihm  natürlicherweise  als  nichtig  bezeichneten 
mannigfaltigen  Spielereien  verwiesen  hat,  welche  die  Orphiker  mit 
Kronos  getrieben  haben  ,15S)  um  so  mehr  muss  ich  eine  gewissenhafte 
Prüfung  dieser  Welcker'schen  Beweisstücke  als  meine  Pflicht  anerkennen, 
und  um  so  mehr  darf  ich  hoffen,  Welckern  durch  sie  einen  Beweis  meiner 
Achtung  vor  ihm  und  vor  der  Wahrheit  zu  geben« 

Zum  Eingange  muss  ich ,  besonders  da  es  sich  hier  um  ein  angeb- 
liches »sich  erhalten«  der  Idee  handelt,  nochmals  daran  erinnern,  dass 
Zeus  in  keinem  seiner  ältesten  Culte  jemals  Kronion  genannt  worden 
oder  für  uns  als  Kronion  erkennbar  ist,  und  dass  Homer,  der  älteste 
Zeuge  des  Namens  Kronion,  denselben  durchaus  als  persönliches  Patrony- 
mikon,  Kronos  als  persönlichen  Gott  und  Vater  des  Zeus  versteht.  Das- 


\ 52)  Nägelsbach,  homerische  Theologie  S.  5  ff. 

4  53)  »Den  unbestimmt  weiten  Kreis  orphischer  Ansichten  w  nennt  es  Welcker, 
Götterl.  1.  S.  U3. 

5* 


68  J.  OVERBECK,  [68 

selbe  gilt  unbestreitbar  für  Hesiod,  eben  so  unbestreitbar  für  die  von 
Homer  abhängigen  Dichter  des  Kyklos.154)  Ähnlich  verhält  es  sich  mit 
dem  olenischen  Hymnus,  den  Welcker  S.  144  herbeizieht,  und  von 
dem  er  meint,  dass  in  ihm  »nach  einer  besonderen  mystischen  Spe- 
culation«  Eileithyia  die  Mutter  des  Eros  älter  als  Kronos  genannt  werde 
(Pausan.  8.  21.  3).  Aber  hier  ist  Kronos  sichtbar  und  sicherlich  nicht 
als  ewige  Zeit,  als  Ewigkeit  gedacht,  wie  Welcker  es  S.  144  f.  nimmt, 
denn :  älter  als  die  Ewigkeit  ist  Unsinn ;  der  Sinn  aber  des  olenischen 
Gedankens  ist,  die  Eileithyia  als  zu  den  Urgöttern  gehörend  zu  bezeich- 
nen, die  älter  sind  als  selbst  die  zweite  Götterdynastie  der  populären 
Poesie.  Und  wieder  ganz  ähnlich  verhält  es  sich,  wenn  Epimenides 
Aphrodite ,  die  Moiren  und  Erinnyen  Töchter  des  Kronos  und  der  Eu- 
rynome  nennt  (Welcker  a.  a.  0.) ;  sie  sollen  als  Urgölter  bezeichnet 
werden,  die  Moiren  speciell  der  populären  Darstellung  in  der  hesiodi- 
schen  Theogonie  gegenüber,  welche  sie  (vs.  904)  zu  Töchtern  des  Zeus 
und  der  Themis  macht.  Dass  die  Moiren  nicht  erst  mit  Zeus  und  durch 
Zeus  auf  die  Welt  gekommen  seien,  dies  will  er  sagen  und  dies  sagt  er; 
warum  hier  Kronos  im  Sinn  von  Ewigkeit  stehn  solle,  das  vermag  ich 
nicht  abzusehn. 

Aber  auch  Pindar  gebraucht  Kronion  erweislich  nur  genealogisch, 
denn,  wenn  er  Zeus  »in  Hingebung  an  den  Mythus«  (Welcker  a.  a.  0. 
S.  142)  als  Rhea's  Sohn  anruft,  »für  Olympier  selige  Kroniden  und 
Könige,  des  Kronos  Söhne  sagt,  Here  und  Hestia  als  Töchter  der  Rhea 
preist  und  den  Poseidon  einige  Male  Sohn  des  Kronos  nennt«  (Welcker 
a.  a.  0.),  so  ist  vollständig  unerweislich,  dass  er  in  den  16  Stellen,  in 
denen  er  Vater  Kronion  oder  Kronion ,  Kronides  allein  sagt ,  dabei  an 
etwas  Anderes  als  an  den  genealogischen  Mythus  gedacht  habe ;  ja  aus 
seiner  ganzen  schlichten  Frömmigkeit  und  Gläubigkeit,  welche  nicht 
am  wenigsten  in  der  bekannten  Kritik  sich  offenbart,  die  Pindar  an  ihm 
unwürdig  dünkenden  Mythen  übt  ,,M)  ergiebt  sich  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit, ja  ich  möchte  sagen  mit  Gewissheit  und  Notwendigkeit, 


4  54)  Übrigens  kommt  in  den  uns  erhaltenen  Fragmenten  des  Kyklos  Kronion 
und  Kronides  je  nur  ein  Mal  vor,  ersteres  bei  Stasin.  Kypr.  fragm.  7.  vs.  5,  letzteres  bei 
Lescb.  IL  parv.  fragm.  6  nach  Welcker' s  Zählung  im  Epischen  Cyclus  3.  S.  54  3  u.  534. 

4  55)  Yergl.  Seebeck  über  den  religiösen  Standpunkt  Pindar's  im  Rhein.  Mus.  3. 
(4  845)  S.  504  ff. ,  wo  auch  die  Motive  der  Mythenkritik  Pindar's  gut  beleuchtet  sind. 


69]  Beiträge  zur  Erkerntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  69 

dass  er  in  der  That  nie  etwas  Anderes  als  den  genealogischen  Mythus 
im  Sinne  gehabt  habe. 

Weiter:  »anspielend  auf  die  eigentliche  Bedeutung,  schreibt  Welcker 
S.  144,  nennt  Aschylos  Kronion  (Zeus)  aiwvog  xQtwv  dnavarov  (Suppl. 
569  Weil.)  Sophokles  (Antig.  604  Herrn.)  äyrjQox;  xqo*<P«i  und  doch 
sagt  derselbe  Aschylos  (Prom.  91 3) 

nargog  d* äga  Kqovov  tot  rjdt]  navrekobg  xQav&rjaeras,1**) 
und  Sophokles  (Trachin.  1 27) 

ö  narret  ntqaivwv  ßaaikevg  Kqovldag, 
Beide  offenbar  anspielend  auf  eine  andere  Bedeutung  und  Etymologie 
von  Kronos ,  und  zwar  viel  offenkundiger,  als  in  den  von  Welcker  an- 
gezogenen Stellen  auf  die  von  ihm  als  die  eigentliche  snpponirte  Be- 
deutung von  Kronion ,  der  auch  in  diesen  Stellen  nicht ,  wohl  aber  in 
den  beiden  von  mir  entgegengesetzten  genannt  wird.  Zu  diesen  beiden 
Stellen  aber  fügen  sich  diejenigen,  die  ich  hier  wohl  nicht  im  Einzelnen 
nachzuweisen  brauche,  in  welchen  beide  Dichter  Kronos  als  Person, 
als  entthronten  Vater  des  Zeus  kennen,  und  den  Mythus  im  populären 
Sinne  ohne  selbst  versteckte  Hintergedanken  handhaben.  War  ihnen  aber 
Kronos  Person,  wie  sollte  ihnen  »der  eigentliche  Sinn«  von  Zeus  Kro- 
nion aufgegangen  oder  bei  ihnen  neben  dem  genealogischen  Mythus 
»erhalten«  sein. 

Pherekydes  von  Syros  begann,  wie  Welcker  S.  143  citirt,  sein 
Werk :  Zeug  fikv  xai  Xqovog  eig  äei  mal  X&tov  ijv9  was  so  nach  dem 
Zeugniss  des  Diogenes  von  Laerte ,  in  anderen  Worten  von  Mehren  be- 
zeugt wird.157)  Hier  hat  nun  Welcker  ganz  gewiss  Recht,  dass  nicht  wie 
Preller 158)  wollte ,  gegen  alle  Handschriften  Kgovog  zu  andern  sei ,  aber 
es  fehlt  auch  der  Nachweis ,  dass  Pherekydes  mit  einem  Gedanken  an 
Kronos  gedacht  habe ,  was  auch  von  Brandis  a.  a.  0.  anerkannt  wird. 
Der  Sinn  ist,  wie  auch  bei  Herrn ias130)  angedeutet  wird,  wahrscheinlich 
dieser:  im  Anfang  war  Gott  und  die  ewige  Zeit,  in  der  sich  Alles  ent- 


4  56)  Auch  in  dem  Vers  Eum.  759:  IJakXädog  Kai  Ao%lov  txai*  %ai  xov  nana 
xQcttPOvrog  tqitov  OtoTrJQOQ  dürfte  in  dem  navta  xQaipovrog  auf  Kronion  in  diesem 
Sinne  angespielt  oder  jenes  für  dies  gesetzt  sein. 

4  57)  Vergl.  Pherecyd.  fragmm.  ed.  Sturz  p.  40  ff.,  Welcker's  Note  a.  a.  0.  und 
Brandis  Geschichte  d.  griech.  Philosophie  4.  S.  80  ff. 

4  58)  Im  N.  Rhein.  Mus.  4.  S.  379. 

4  59)  Irris.  gentil.  philos.  p.  4  t.  6  ptv  aiörjQ  ro  notovv  (Zeus)  ^  dt  yij  ro  nao- 
XOv,  6  Öt  XQovog  iv  «5  zä  yiyropiva. 


70  J.  OVERBECK,  [70 

wickelt  und  die  Erde,  darauf  Alles  ist;  oder  es  waren,  wie  Brandis 
ausführt ,  Chronos  und  Zeus  zugleich  als  höheres,  schaffendes  und  be- 
lebendes Princip  bezeichnet ,  %&&v  aber  oder  X&ovirj  als  der  Inbegriff 
des  Stofflichen  gefasst.  Vom  Kronos  ist,  fasse  man  die  Worte  wie  man 
will,  keine  Rede.  In  ähnlichem  Sinne  hat  auch  Pindar  (Ol.  2.  17.)  die 
Zeit,  xqovov  den  Anfang  aller  Dinge  genannt,  ohne  entfernt  an  Kronos 
zu  denken. 

Und  wenn  nun  Kratinos,  um  auch  diesen  zu  berücksichtigen,  den 
Perikles  scherzend  einen  Sohn  der  Empörung  und  des  nQeoßvywrjQ 
Xqovoq  nannte  (Welcker  S.  144),  so  hat  Welcker  wiederum  ganz  Recht 
zu  sagen,  dies  dürfe  nicht  in  Kqovog  geändert  werden;  einen  Sinn  hat 
die  Stelle  nur,  wenn  Perikles  als  Emporkömmling  Sohn  der  Empörung 
und  der  Zeit  genannt  wird ,  mit  Kronos  hat  sie  Nichts  zu  thun ,  denn 
es  ist  nur  ein  witziger  Einfall,  der  Zeit,  %q6vo$  ein  Epitheton  zu  geben, 
welches  an  und  für  sich  auch  für  sie  passend ,  den  Namensanklang  an 
Kqovoc  verstärkte  und  zur  Yerpersönlichung  des  unpersönlichen  und 
unmythischen  %qovo$  als  Vater  neben  der  Mutter  Empörung  beitrug. 

In  allen  bisher  besprochenen  Stellen  vermag  ich  einen  Beweis  für 
die  Auflassung  des  Kronos  im  Sinne  Welcker' s  nicht  anzuerkennen; 
aber,  sollte  ich  mich  hierin  irren ,  so  bleibt  immer  noch  die  Frage  be- 
stehn,  ob  denn  die  Auffassung  der  Tragiker,  Pindar's,  des  ältesten 
prosaschreibenden  Philosophen  zu  beweisen  im  Stande  sei  was  Welcker 
beweisen  will  und  muss  beweisen  wollen,  nämlich  es  habe  sich  die 
Idee  neben  dem  genealogischen  Mythus  »immer  erhalten«?  Diese 
Frage  bleibt  bestehn  und  berechtigt  bis  die  Existenz  der  Idee  auch  in 
den  ältesten  Zeugnissen  und  von  ihnen  herab  in  ununterbrochener  Folge 
nachgewiesen  ist.  Denn  bis  dies  geschehn  ist ,  was  wohl  nie  gescbehn 
wird  und  kann,  bleibt  mir  immer  noch  zu  sagen  übrig,  dass  der  in 
den  ältesten  Quellen  rein  genealogisch  verstandene  Kronos  bereits 
von  Pindar,  Pherekydes,  Äschylos,  Sophokles  anders  verstanden,  um- 
gedeutet ,  nach  scheinbarer  Etymologie  neu  erklärt  worden  sei ,  bereits 
von  diesen  Alteren  so  gut  wie  von  nicht  wenigen  Jüngeren.  Denn  dass 
dieses  geschehn  sei  kann  freilich  Niemand  bezweifeln.  Nur  scheint  mir, 
und  nicht  mir  allein  ,lö°)  das  älteste ,  nicht  anders  erklärbare  Zeugniss 

4  60)  Auch  Buttmann  imMythologus  2.  S.34  und  Preller,  Mylhol.  2.  Aufl.  1.  S.  45. 
Note  3  citiren  diese  Stelle  des  Euripides  als  das  älteste  Zeugniss  für  die  neu  ange- 
nommene Deutung  des  Kronos. 


74]  Beiträge  zur  Erkbnntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  71 

dafür,  dass  Kronos  als  Chronos  gefasst  worden,  nicht  bei  Pindar, 
Ascbylos  oder  Sophokles ,  sondern  bei  Euripides  sich  zu  finden,  der 
(Heraclid.  900)  den  Aon  zum  Sohne  des  Kronos  macht.  Aber  wird  hie- 
durch  bewiesen,  dass  die  Idee  sich  »immer  erhalten«  habe?  Durch  ein 
Zeugniss  des  Euripides?!  Oder  wird  es  erwiesen  dadurch,  dass  in 
Doch  viel  spdlerer  Zeit ,  in  der  Zeit  der  unverständigsten ,  willkürlich* 
sten,  seichtesten  Mythenerklärung  Kronos  von  Einigen  oder  von 
Manchen  als  Chronos,  als  Zeit  gefasst  wurde?  Würde  es  erwiesen 
wenn  auch  Dionysios  (Arch.  rom.  1.  38)  und  Arnobius  (3.  29)  Recht 
hAtten  mit  der  Behauptung,  dass  die  Griechen  überhaupt,  alle  Griechen 
ihn  als  %qovos  verstehn?161)  und  nicht  vielmehr  Plutarcb  (Quaest.  Rom. 
1 2) ,  welcher  uns  ausdrücklich  bezeugt ,  dass  evioi ,  Einige ,  meinethalb 
Manche  und  Viele  ihn  so  erklärt  haben.  Welcker  meint  freilich  (S.  1 43) 
dies  ivioi  sei  »bescheidener  Ausdruck«  und  die  Menge  der  einzeln  vor- 
kommenden Zeugnisse  bestätige  dies ;  aber  was  hat  denn  die  Beschei- 
denheit mit  dieser  Angabe  des  Plutarch  zu  thun?  und  was  berechtigt 
uns,  dem  Schriftsteller,  indem  wir  ihm  Bescheidenheit  unterschieben, 
eine  kritisch  wohl  erwogene  Aussage  in  ihr  Gegentheil  zu  verkehren? 
Und  wenn  denn  wirklich  in  dieser  Spätzeit  nur  diese  eine  Deutung 
im  Schwange  gewesen  ist,  was  beweist  denn  die  Aussage  derjenigen 
Zeugen,  die  Welcker  (S.  144)  in  bunter  Reihe  aufführt:  »der  Scholiast 
zu  Apollonius  (1.  1098),  Cicero  (Nat.  deor.  2.  25),  Augustinus  (Civ.  Dei 
4.  10),  Themistius,  Lactantius,  Apuleius?«  Beweist  sie,  dass  die  Idee 
sich  »immer  erhalten«  habe?  Nimmermehr!  Welcker  meint  zwar  a.  a.O., 
es  sei  bei  einiger  Umsicht  und  Unbefangenheit  unmöglich  nicht  einzu- 
sehn ,  dass  sie  mit  ihrer  Auffassung  im  Rechte  seien ;  aber  selbst  wenn 
dies  der  Fall  wäre,  so  könnte  man  diese  Schriftsteller  dennoch  nicht  als 
Zeugen  gebrauchen,  und  zwar  nicht  einmal  als  Zeugen  für  die  Be- 
deutung des  Kronos;  denn,  wenn  man  ihnen  auf  diesem  Punkte  eine 
tiefere  und  richtige  mythologische  Einsicht  zutraute,  so  müsste  man 
ihnen  auch  auf  anderen  Punkten ,  auch  bei  der  Deutung  anderer  Gott- 
heiten folgen ;  und  ich  möchte  sehn,  wie  Welcker  den  abfertigen  würde, 
der  ihm  solches  zumuthen  möchte ! 

Wenn  ich  nun  als  Resultat  dieser  Einzelprüfung  der  von  Welcker 


4  61)   Wenn  wir  nämlich  ihre  Worte  so  urgiren  dürfen,  was  sehr  zweifelhaft  sein 
möchte;  jedenfalls  reden  diese  Schriftsteller  wesentlich  nur  von  ihren  Zeitgenossen. 


72  J.  OVERBECK,  [72 

angeführten  antiken  Zeugnisse,  mit  Ausschluss  der  Orphiker,  die  in  der 
Frage  ganz  gleichgiltig  sind,  glaube  behaupten  zu  dürfen,  dass  kein 
antikes  Zeugniss  existirt,  welches  uns  not h igt,  Kronos  nach 
ursprünglicher  Auffassung  als  Chronos,  als  unendliche  Zeit 
oder  Ewigkeit  anzuerkennen,  so  muss  ich  zugestebn,  dass  die  Mög- 
lichkeit, er  sei  dies  dennoch  gewesen  durch  das  Bisherige  noch 
nicht  widerlegt  ist.  Um  auch  diese  Möglichkeit  hinwegzuräumen  müssen 
wir  nun  untersuchen ,  was  wir  über  das  Wesen  des  Kronos  aus  seinen 
griechischen  Culten  und  seiner  Stellung  im  poetisch  nationalen  Götter- 
system zu  erkennen  vermögen,  und  ob  uns  dies  veranlassen  kann,  ihn 
als  das  aufzufassen ,  als  was  ihn  Welcker  erklärt. 


8. 

Welcker's  Auffassung  des  Kronos  glaube  ich  in  folgende  drei 
Hauptsätze  zusammenfassen  zu  dürfen,  denen  ich  die  eigenen  Worte 
als  Belege  beifügen  will : 

1.  Kronos  ist  als  Person  nur  aus  dem  Kronion  hypo- 
stasirt  und  wurde  nur  des  Zeus  wegen  und  als  zu  ihm 
gehörig,  und  zwar  ausnahmsweise  verehrt. 

Vergleiche  hierzu:  Welcker,  Götterl.  1.  148:  »unvermeidlich  war 
es ,  dass  nach  der  patronymischen  Form  Kronion ,  Kronides  statt  der 
blossen  Bedeutung  oder  des  Prädicats  mythisch  als  eine  Person  aufge- 
fasst  wurde ,  und  es  ist  möglich ,  dass  die  Idee  des  Kronos  als  Urzeit, 
Frühling  aller  Zeiten ,  selige  Yorzeit  dem  Glauben  an  eine  dem  Zeus 
vorangegangene  Dynastie  zu  Hilfe  gekommen  ist.«  Ebendaselbst  heisst 
Kronos :  dieser  nun  gesetzte  Vater  des  Zeus.« 

S.  150:  »Im  Cult  ist  Uranos  so  gut  wie  nicht  berücksichtigt 
gleich  dem  Kronos,  ein  Zeichen,  dass  er  nur  ein  Gedankenwesen 
war,  abgezogen  aus  Zeus.« 

S.  151:  »Die  beiden  Götterpaare  über  Zeus,  ein  Product  der 
systemalisirenden  Theologie ,  gaben  hinter  dem  Altar  oder  Tempel  des 
Allerhöchsten  wie  einen  Peribolos  des  Heiligthums  ab.« 

S.  142.  »Verehrt  wurden  die  zu  dieser  Entwickelung  verwandten 
Wesen  nur  seinethalb,  als  zu  ihm  gehörig,  und  zwar  nur  das  ihm  zu- 
nächst stehende  Paar  und  nur  ausnahmsweise.« 


73]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  73 

Endlich  S.  1 45  in  der  Note  die  Zustimmung  zu  dem  Satze ,  den 
Preller  im  7.  Bande  des  Philologus  S.  37  geschrieben  hatte :  »Kronos 
war  nur  die  theogonische  Begründung,  die  mythologische  Ableitung 
des  Zeus  Kgovitav,  dessen  Gült  ohne  Zweifel  den  des  Kronos  erst  ge- 
schaffen hat«,162)  und 

S.  4  55 :  «Kronos  ist  in  späteren  Zeiten  gleich  anderen  Wesen  der 
theogonischen  Dichtung ,  er  insbesondere  als  Vater  des  Zeus,  sowie 
Leto  als  Mutter  des  Apollon,  verehrt  worden.« 

2.  Eine  Ausnahme  hievon  bildet  Kronos  als  Gott 
der  Kronia,  in  denen  er  als  Weitherrscher  im  goldenen 
Zeitalter  verehrt  wurde. 

Vergleiche  S.  4  55  ff. ,  besonders  den  Satz :  »von  diesen  späten, 
eigentlich  dem  Zeus  geltenden  Ehren  des  Kronos  ist  bestimmt  das  alte 
und  berühmte  Fest  der  Kronia  zu  unterscheiden ,  bei  welchem  kaum 

eine  Spur 16S)  von  Rbea  zu  entdecken  ist Die  Kronia  beziehn 

sich  allein  auf  die  Idee  des  paradiesischen  Zustandes ,  welcher  vor  der 
Herrschaft  des  Zeus,  eigentlich  vor  aller  Wirklichkeit,  im  goldenen  Welt* 
alter  unter  dem  Regiment  des  Kronos  im  Himmel  gewesen  war.« 

3.  »In  der  Berührung  mit  Phönikiern  in  Kreta,  Rho- 
dos, Karthago,  Sicilien  nannten  die  Griechen  den  phö- 
nikischen  Baal  oder  Moloch  Kronos,  und  es  hat  nicht 
an  wunderlicher  Vermischung  beider  Wesen  gefehlt« 
(S.  1 45). 

Um  in  der  Fülle  von  Behauptungen  und  Lehren  dieser  Sätze  und 
der  ganzen  Gapitel  aus  denen  sie  entlehnt  sind,  und  in  denen  viel  Wah- 
res sich  mit  Vielem  mischt,  das  mir  nicht  richtig  scheint,  Bahn  zu  ge- 
winnen, will  ich  damit  anfangen,  meine  volle  Übereinstimmung  mit  allen 
den  Sätzen  zu  erklären,  die  Welcker  über  Uranos  und  Ge  in  ihrem  Ver- 
hältniss  zum  Zeus  ausgesprochen  hat,   um  dieselben,  oder  besonders 


4  62)  Dass  Preller,  und  zwar  schon  als  er  die  erste  Auflage  seiner  Mythologie 
schrieb,  von  diesem  Satze  in  seinem  ganzen  Umfange  zurückgekommen  war  und  den- 
selben auch  jetzt  nicht  wieder  aufgenommen  bat,  ist  kaum  für  weniger  aufmerksame 
Leser  zu  bemerken  nölhig. 

4  63)  Diese  Spur  findet  sieb  in  dem  Berichte  des  Philochoros  bei  Macrobius  4.  7 
und  bei  Hesychius  wo  die  Kronien  dem  Kronos  und  der  Göttermutter  geweiht  genannt 
werden ;  wahrscheinlich  ist  dies  aus  sonstigen  Culten  des  Kronos  und  der  Rhea  ge- 
dankenlos wiederholt,  denn  thatsächlich  hat  Rhea  mit  den  Kronien  Nichts  zu  thuu. 


* 


74  J.  OVBRBBCK,  [74 

Uranos,  auf  den  es  zumeist  ankommt,  als  »im  Cultus  so  gut  wie  nicht 
berücksichtigt,«  als  »bedeutungs-  und  wesenlos ,«  als  »nur  genealogi- 
schem Gebrauche  dienend«  und  als  »nur  des  Zeus  wegen  verehrt«  zu 
erweisen.  So  richtig  aber  dies  Alles  ist,  so  sehr  muss  ich  doch  dagegen 
sofort  Einsprache  thun,  dass  Eronos  mit  Uranos  durchweg  auf  eine  Stufe 
gestellt,  dass  von  ihm  durchweg  dasselbe  ausgesagt  wird  wie  von  Ura- 
nos. Es  ist  richtig,  dass  Uranos  sich  nicht  in  Bild  und  Gestalt  finde 
gleich  der  Gäa,  dem  Helios,  dem  Okeanos  (S.  151),  Gleiches  gilt  aber 
bekanntlich  nicht  von  Kronos;  es  ist  richtig,  dass  Uranos  keine  Tempel 
und  Altäre  habe,  und  mit  Recht  wird  die  Stelle  bei  Vitruv  1.  2.  5:  Jovi, 
Fulguri ,  Caelo  et  Soli  et  Lunae  aedificia  sub  divo  bestritten  (das.  in  der 
Note) ,  die  Erwähnung  in  späten  römischen  Inschriften  auf  ihre  richtige 
Bedeutung  zurückgeführt,  aber  Gleiches  gilt  wieder  nicht  vom  Kronos. 
Denn  selbst  wenn  wir  von  der  Aussage  des  Attius  (bei  Macrob.  Saturn. 
1.  7)  absehn,  dass  der  grösste  Theil  der  Griechen  und  am  meisten 
Athen  dem  Saturnus  die  Kronien  feiere  und  an  diesem  Tage  durch  alle 
Feldmarken  und  Städte  frohe  Mahle  begehe  und  Jeder  seinen  Diener 
bediene,  oder  wenn  wir  mit  Welcker  (S.  1 58)  annehmen  wollten ,  »der 
Dichter  scheine  nur  aus  Voraussetzung  nach  der  Verbreitung  des  Festes 
in  die  Ferne  zu  viel  zu  sagen,«  was  freilich  doch  noch  manchem  Zweifel 
unterliegt,  da  Gleiches  doch  wenigstens  noch  zwei  Mal  oder  drei  Mal 
bezeugt  wird  ,164)  auch  dann  noch  sind  uns  bestimmte  Feste  und  Culte 
des  Eronos  —  was  für  eines  Kronos  und  welcherlei  Culte  soll  weiterhin 
erörtert  werden  —  aus  Athen,  Olympia,  Elis,  Theben,165)  Lebadeia, 
Samos,"*)  Rhodos,  Kreta  undKyrene167)  bezeugt.  Und  auch  die  Behaup- 
tung Welcker's,  dass  die  zu  der  genealogischen  Entwickelung  verwand- 
ten Wesen,  Kronos  wie  Uranos,  nur  des  Zeus  wegen  Verehrung  genos- 
sen, ist  doppelt  unrichtig,  da  Uranos  gar  keine  Culte,  Kronos  dagegen 
entschieden  selbständige  Culte  hatte.  Denn,  mag  man  diejenigen  Kronos- 


4  64)  Von  Verrius  Flaccus  bei  Macrob.  a.  a.  0.  4.  4:  Saturnaliorum  dies  apud 
Graecos  festi  babentur  und  Schol.  Arist.  Nubb.  397:  naQu  Jo7g"Ekkrjaiv  tuQrrj; 
vergl.  noch  Athen.  4  4.  639,  wo  die  Kronien  eine  toqrrj  eXlfjnxwcaTt]  genannt  werden. 

1 65)  Nach  Plot.  Vita  Hom. 

4  66)  Nach  Hassgabe  des  Umstandes,  dass  auch  auf  Saroos  ein  Monat  Kqoviqs 
hiess,  siehe  Monatsberichte  der  Berl.  Akad.  1859.  S.  750  f. 

4  67)  Nach  Macrob.  4.7.  4  4  auch  aus  dem  hellenisirten  Alexandrien,  wenn  man 
der  Ausfüllung  der  hier  im  Text  befindlichen  Lücke  durch  den  einen  Codex  P.  Glauben 
schenken  will;  vgl.  jedoch  v.  Jan  zu  dieser  Stelle. 


75]  Beiträge  zur  Ebkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  75 

culte ,  welche  mit  Zeus-  und  mit  Rheaculten  verbunden  sind  also :  in 
Athen  im  Bezirke  des  Olympieion  (Pausan.  4.  48.  7),  wo  ein  Tempel 
des  Zeus  und  der  Rhea  war ,  in  Lebadeia,  wo  dem  Kronos  neben  Zeus 
Basileus ,  Here  Basilis  oder  Henioche,  Demeter  Europe  und  A  pol  Ion  ge- 
opfert wurde  und  wo  die  Bilder  des  Kronos,  des  Zeus  und  der  Here  in 
gemeinsamem  Tempel  standen  (Paus.  9.  39.  3  u.  4),  in  Olympia,  wo 
unter  6,  zwölf  Göttern  paarweise  geweihten  Altären  einer  für  Kronos 
und  Rbea  stand  (Sc hol.  Pind.  Olymp.  5.  8  u.  1 0) ,  mag  man  diese  Culte 
so  deuten,  als  ob  sie  dem  Kronos  um  des  Zeus  willen,  oder  Kronos  und 
Rbea  als  den  Eltern  des  Zeus  gegolten  hatten ,  was  freilich  auch  noch 
untersucht  werden  soll  und  z.  B.  für  Lebadeia  keineswegs  zuzugeben 
ist ,  so  bleibt  doch  unzweifelhaft ,  dass  der  Kronoscultus  in  Athen  am 
1 5.  Elaphebolion  (Corp.  Inscr.  gr.  523)  und  am  1 2.  Hekatombäon ,  wo 
die  Kronien  gefeiert  wurden ,  dass  ferner  der  Kronoscultus  in  Olympia 
auf  dem  Kronoshttgel  und  dass  derjenige  von  Kyrene ,  dass  derjenige 
von  Rhodos  und  von  Kreta  und  dass  die  Koinobomie  des  Kronos  mit 
Helios  in  Elis ,  so  verschieden  dies  Alles  unter  sich  gewesen  sein  mag, 
entfernt  nicht  auf  Zeus  oder  auf  das  theogonisch-genealogische  Verhält- 
niss  des  Kronos  zum  Zeus  begründet  war. 

In  gewissem  Sinne  giebt  dies  ja  auch  Welcker  zu ,  indem  er  den 
Kronos  der  Kronien  von  seiner  obersten  Behauptung  ausnimmt,  und  ent- 
wickelt, wie  der  Gott  in  diesen  Festen  als  Weltherrscher  im  goldenen 
Zeitalter  gefeiert  worden,  und  dass  der  Sinn  dieser  Feier  jeden  Gedan- 
ken an  den  Herrschaftswechsel ,  also  an  das  genealogische  Verhältniss 
des  Kronos  zum  Zeus  ausschliesse,  weil  man  ja  sonst  Zeus  als  den  hätte 
verehren  müssen ,  der  diesem  goldenen  Zeitalter  ein  Ende  gemacht  hat 
(S.  156).  Eben  so  unzweifelhaft  und  augenscheinlich  fehlt  jegliche  Be- 
ziehung auf  Zeus  dem  von  den  BaoiXcu  auf  dem  Gipfel  des  Kqomoq 
Xotfog  bei  Olympia  begangenen  Kronoscult  (Paus.  6.  20. 1),  welcher  dem 
Kronos  als  dem  ältesten  Herrscher  des  Himmels  galt  (Paus.  5.  7.  6),  dem 
die  Menschen  des  goldenen  Zeitalters  einen  Tempel  erbaut  haben  soll- 
ten. Und  dass  Gleiches  von  den  Gülten  auf  Rhodos  und  Kreta  gelte  ist 
bemerkt. 

Mit  diesen  letzten  Cullen  findet  man  sich  freilich  am  leichtesten  ab, 
indem  man168)  den  Kronos  für  den  phönikischen  Baal-Moloch  erklärt, 


1 68)  So,  um  von  Anderen  zu  schweigen,  noch  Gerhard,  griech.  Mythol.  §429.3. 


76  J.  OVBBBBCK,  [76 

aus  dessen  Kinderopfern  mau  auch  die  Sage  von  Kronos'  Kinder  ver- 
schlingung ableiten  zu  können  wähnt.  Allein  schon  Buttmann  (Mytho- 
logus  2.  S.  50)  schreibt  in  dieser  Hinsicht  sehr  richtig  als  das  Resultat 
einer  langen  Untersuchung:  »so  möchte  also  Alles,  was  zu  der  Ansicht 
fuhren  könnte ,  dass  die  Person  des  Kronos  aus  dem  phönikischen  El 
oder  Moloch  entstanden  sei  sich  reduciren  auf  Kinderopfer,  die  jenem 
obersten  Gotte  dort  gebracht  wurden,  verglichen  mit  der  Kind  er  ver- 
schlingung, welche  der  Mythos  von  diesem  alten  König  der  Götter  be- 
richtet. Vollkommen  hinreichend  war  dies  für  jene  alten  Griechen,  wel- 
che das  Bedürfniss  hatten,  ihre  Gottheiten  in  den  fremden  zu  finden, 
aber  ganz  nichtig  ist  es  für  unseren  kritischen  Zweck.« 
Und  in  der  T hat,  ich  wäre  trotz  Allem  was  man  schon  darüber  geschrie- 
ben hat ,  begierig ,  eine  wirklich  begründete  Ableitung  des  Kronos  aus 
Baal-Moloch  zu  lesen.  Dass  man  den  phönikischen  Gott  in  Griechenland 
Kronos  genannt ,  also  den  griechischen  Kronos  mit  dem  phönikischen 
Moloch  ähnlich,  in  gewissen  (scheinbaren)  Punkten  übereinstimmend 
gefunden  hat,  das  beweist  doch  in  der  That  nicht  das  Mindeste,  sondern 
es  ist,  um  mich  eines  Welcker'schen  Ausdrucks  zu  bedienen,  eine  wun- 
derliche Vermischung.  Und  wahrlich ,  wenn  man  alle  die  Götter  der 
Griechen .  welche  diese  selbst  früher  oder  später  mit  Barbarengötlern 
verglichen  und  identificirt,  aus  diesen  abgeleitet  haben ,  als  in  der  That 
aus  Barbarengöttern  entstanden,  als  wirklich  überkommen  auffassen 
wollte,  dann  müsste  man  damit  beginnen,  die  gesammten  Resultate  der 
modernen  vergleichenden  Sprach-  und  Mythenforschung  irgend  einem 
barbarischen  Götzen  in  die  glühenden  Arme  zu  werfen !  Die  Menschen- 
opfer, welche  Kronos  empfing,  beweisen  aber,  wenn  es  möglich  ist,  noch 
weniger;  denn  es  ist  überflüssig,  die  grosse  Zahl  von  Menschenopfern, 
die  griechischen  Göttern  in  reingriechischen  Staaten  und  Culten  fielen, 
hier  aufzuzählen,  da  dies  bekannte  Dinge  sind,169)  und  das  Vorurteil,  als 
seien  die  Menschenopfer  ungriechisch  und  unarisch,  das  noch  O.Mül- 
ler170) aussprach,  als  beseitigt  gelten  darf.  Dies  ist  denn  auch  von  An- 
deren171) eingesehn,  während  Preller  auch  in  der  2.  Auflage  seiner  My- 


169)  Vergl.  nur  Hermann's  Gottesdienstl.  AUertbümer  §  27. 

170)  Äschylos  Eumeniden  gr.  u.  deutsch  S.  139,  vergl.  Welcker  Götlerl.  1 .  S.  206. 
Note  3. 

171)  Hemer,  Schulzeitung  1833.  2.  No.  29,  Götterdienste  auf  Rhodos  3.  S.  13  f., 
Lauer,  System  d.  griech.  Mythol.  S.  166  u.  A. 


77]  Bkitbägb  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zrdsreligion.  77 

tbologie  noch  annimmt,  dass  in  der  Entmannungsgeschichte  des  Uranos 
Manches  ausländischen  Ursprungs  sei,  und  dass  die  Sage  von  Zeus'  Ju- 
gend auf  Kreta  und  den  Nachstellungen ,  durch  welche  er  vom  eigenen 
Vater  bedroht  war,  »der  auch  sonst  als  listig  und  grausam  geschildert 
wird,  höchstwahrscheinlich  nach  dem  Muster  des  phönikischen  Moloch- 
dienstes« erfunden  worden  (S.  44  f.),  obgleich  er  unmittelbar  hinzufügt: 
»aber  eben  so  gewiss  ist  Kronos,  der  Kronos  Homer's  und  eines  in 
ganz  Griechenland  verbreiteten  Gottesdienstes,  ein  altgrie- 
chischer Begriff.«172)  Aber  sei  es  hiermit  wie  es  sein  mag,  denn  dem 
gegenüber,  was  mir  Hauptsache  ist,  tritt  die  Frage  über  die  Ableitung 
des  kretischen  und  rhodischen  Kronos  aus  Baal  Moloch  oder  über  dessen 
spätere  Identificirung  mit  demselben  in  den  Hintergrund;  die  Haupt- 
sache für  mich  ist,  dass  beide  Annahmen  gleich  wenig  für  die  von  Wel- 
cker  statuirte  Wesenheit  des  Kronos  als  des  Gottes  der  unendlichen  Zeit 
sprechen ,  so  dass  vielmehr  erst  zu  erweisen  und  sicher  schwer  zu  er- 
weisen wäre,  wie  ein  Kronos-Chronos,  ja  wie  Oberhaupt  ein  blos  theo- 
gonisch  fingirter  Gott  ohne  Wesen  und  Realität  im  Glauben  und  ohne 
Cult  zur  Identification  und  Vermischung  mit  Baal  Moloch  hätte  gelangen 
sollen,  oder  wie  man  diesen  gar  aus  jenem  hätte  ableiten  können.  Möge 
man  deshalb  über  diese  Culte  denken  wie  man  will;  die  anderen  Culte 
des  Kronos  in  den  Kronien,  die  Culte  in  Athen,  Olympia,  Samos,  Ky- 
rene  und  wahrscheinlich  an  noch  vielen  anderen  Orten  kann  man  mit 
Molochculten  in  keiner  Weise  zusammenbringen ;  diese  Culte  sind  ohne 
Zweifel  rein  griechisch,  und  sie  haben  mit  Zeusealten  Nichts  zu  Ihun. 
Dies  betont  ja  auch  Welcker  selbst  S.  1 55  mit  grossem  Nachdruck 


172)  Es  sei  mir  erlaubt,  auf  die  Differenzen  und  wie  ich  sagen  muss  den  Fort- 
schritt der  Darstellung  dieser  Punkte  in  der  8.  gegen  die  I.Auflage  des  Preller'scben 
Buches  aufmerksam  zu  machen ;  an  dem  phönikischen  oder  sonst  ausländischen  Ur- 
sprünge des  Mythus  von  der  Geburt  der  Aphrodite  hält  er  noch  fest,  obgleich  diese 
mir  grade  eine  vollkommne  griechische  Erfindung  scheint,  die  in  den  zwei  Äugeln,  erstens 
der  Thatsache  des  Kommens  aus  dem  Meere,  über  das  Meer  der  orientalischen  Aphro- 
dite (Apheredeth)  und  zweitens  ihrem  am  meisten  charakteristischen  Beinamen  Ovgavia 
hangt.  Die  aus  dem  Meer  gekommene  Liebes-  und  Fruchtbarkeitsgöttin ,  die  in  ihren 
Galten  auf  griechischem  Boden  OvQavia  hiess,  grade  diese  scheint  mir  aus  dem  in's 
Meer  gefallenen  Schamgliede  des  Uranos  in  allen  ihren  Elementen  durch  eine  sinnreich 
künstliche  Erfindung,  aber  eben  recht  eigentlich  eine  solche,  die  als  ätiologischer  My- 
thus erscheint ,  abgeleitet  zu  sein.  Und  dass  man  für  die  Sage  von  der  Kinderver- 
schlingung  des  Kronos  auch  nicht  nöthig  hat,  auf  Moloch  und  seine  Culte  zurückzu- 
greifen, hoffe  ich  weiterhin  zu  zeigen. 


78  J.  OVBRBECK,  [78 

und  mit  eben  so  grossem  Recht,  indem  er  in  dem  oben  S.  73  zu  2  aus- 
gezogenen Satze  den  Kronos  der  Kronien  von  den  eigentlich  dem  Zeus 
geltenden  Ehren  ausnimmt.  Aber  diese  Kronien,  meint  Welcker  S.  156 
»beziehn  sich  allein  auf  die  Idee  des  paradiesischen  Zustandes,  welcher 
vor  der  Herrschaft  des  Zeus,  eigentlich  vor  aller  Wirklichkeit  im  golde- 
nen Weltalter  unter  dem  Regimente  des  Kronos  im  Himmel,  wie  Hesiod 
sich  ausdrückt,  gewesen  war.  Dieses  Fest,  fährt  er  fort,  war  eine  Nach- 
ahmung dieser  goldenen  Zeit  des  Friedens  und  des  arbeitslosen  Genus-* 
ses  und  hiess  Eronia  nur  allein  in  Bezug  auf  sie.«  Und  wir  sollen  glau- 
ben ,  dass  die  Idee  oder  der  Traum  eines  goldenen  Weltalters  vor  aller 
Wirklichkeit  ein  solches  Fest  durchaus  volkstümlichen  Charakters,  wie 
es  Welcker  selbst  schildert  und  wie  es  Buttmann  (Mylhologus  2.  S.  67  f.) 
mit  Recht  mit  den  Dionysien  vergleicht,  hervorgerufen  habe?  dass  man 
dies  volkstümliche  Fest  einem  allegorisch  speculativen  Kronos  gefeiert, 
es  nach  diesem  benannt  habe?  nach  einem  Gotte,  der  nicht  allein  kei- 
nen eigentlichen  Cult  hatte,  sondern  der  der  lebendigen  und  wirklichen 
Zeusreligion  in  ihren  ältesten  Wurzeln  widersprach?  »Aber  konnte  eine 
solche  Idee  so  tief  in's  Volk  eindringen?«  so  fragt  Welcker  selbst  S.  1 57; 
und  was  antwortet  er  sich?  «war  hingegen  das  Fest  der  allgemeinen 
Lustbarkeit  und  Gleichheit  schon  da,  so  konnte  es  eher  durch  die 
Beziehung  auf  den  Herrscher  der  Zeit  der  Freude  und  Unschuld  erhoben 
und  erweitert  werden.«  So  konnte  es  eher;  wie  schwankend  und  un- 
sicher lässt  hier  das  richtige  Gefühl  Welckern  sich  ausdrücken;  aber, 
angenommen  einstweilen,  wenn  auch  keineswegs  zugegeben  dies  Letz- 
tere, wem  galt  denn  das  alte,  primitive,  schon  da  gewesene,  später  durch 
die  Beziehung  auf  Kronos  erhobene  Fest  volkstümlicher  Lustbarkeit? 
welchem  Gotte  wurde  es  denn  gefeiert,  ehe  man  ihm  die  Beziehung  auf 
das  geträumte  goldene  Weltalter  unterschob?  Welcker  hat  sich  auf  diesem 
Punkte  durch  Buttmann,  dem  er  in  dieser  ganzen  Argumentation  ziemlich 
strict  folgt,  irre-  und  zu  einer  Annahme  fortleiten  lassen,  welche  aller 
Analogie  antiken  Wesens  und  Lebens  widerspricht  und  die  er  im  Ernste 
nicht  kann  aufrecht  erhalten  wollen,  nämlich  zu  derjenigen,  dies  Fest  sei 
ursprünglich  ohne  Beziehung  auf  eine  Gottheit  gewesen ,  es  habe  über- 
haupt nicht  religiös  begründete,  nicht  einer  Gottheit  und  ihren  Gaben  gel- 
tende Feste  gegeben.  Wo  wäre  eine  Spur  von  solchen  in  Griechenland, l7S) 

173)  Götterlehre  t.  S.  56  sagt  Welcker:  »alle  griechischen  Feste  ohne  Aus- 
nahme waren  religiös.« 


79]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  79 

wo  die  von  Wclcker  selbst  S.  4  59  mit  den  Eronien  parallelisirten 
Feste  entschieden  an  Gottheiten  anknüpfen,  ja  wo  wäre  eine  solche 
Spur  bei  irgend  einem  natürlich  lebenden  und  nicht  von  religions- 
loser Übercultur  zerfressenen  Volke  nachweisbar?  Buttmann  hat  auf 
das  nordische  Juulfest  als  analog  hingewiesen,  von  welchem  er  a.a.O. 
S.  56  schreibt:  »Bei  den  celtischen  und  anderen  nordischen  Völker- 
schaften war  die  Häuptlustbarkeit  im  Jahre  das  Jui~  oder  Juelfest,  das 
sich  nachher  im  Norden  an  das  christliche  Weihnachtsfest  anschloss, 
aber,  wie  bekannt,  schon  in  den  ältesten  heidnischen  Zeiten  vorhanden 
war.  Von  diesem  Feste  liest  man .  so  viel  ich  weiss ,  nirgend ,  dass  es 
das  Fest  eines  der  cellischen  oder  nordischen  Götter  war,  sondern  es 
war  eine  von  uralten  Zeiten  hergebrachte  Lustbarkeit,  womit  man  die 
Zeit  der  kürzesten  Tage  oder  vielmehr  der  langen  Nächte  erheiterte.« 
Aber  dies  ist,  obgleich  es  Welcker  in  seine  Argumentation  aufgenommen 
hat ,  bestimmt  irrig ;  das  Juulfest  ist  allerdings  primitiv  religiösen  Cha- 
rakters wie  allein  schon  sein  Name  »Jöla-blöt,  d.  h.  Wintersonnenwende- 
Opfer«  beweist,  insofern  das  Opfer  als  solches  ja  immer  die  Gottheit 
involvirt,  der  geopfert  wird.  Mein  College,  Herr  Prof.  Theodor  Möbius, 
an  welchen  ich  mich  mit  der  Bitte  um  Auskunft  über  die  Natur  des 
Junifestes  wandte ,  antwortet  mir  im  grösseren  Zusammenhange  folgern 
dermassen:  »Von  den  drei  grossen  allgemeinen  Opferfesten,  die  in  heid- 
nischer Zeit  alljährlich  in  Norwegen  gefeiert  wurden  (1 .  zur  Begrüssung 
des  Winters,  am  1 4. October ,  2.  für  Frieden  und  Fruchtbarkeit, 
am  12.  Januar,  3.  für  Sieg  und  Kriegsglück,  am  14.  April)  war  am  be- 
deutendsten das  zweite ,  auch  Jöl  genannt  oder  Jöla-blöt  d.  h.  Winter- 
sonnen wende-0 p  fe r ,  von  dem  christlichen  Könige  H&kon  (935 — 961) 
auf  Weihnachten  verlegt,  was  daher  noch  heutzutage  Juul  oder  Juulefest 
bei  den  Danen  und  Schweden  genannt  wird.  Indem  man  hiebei  um 
Frieden  und  Fruchtbarkeit  opferte,  die  vor  Allen  der  Gott 
Frey  verlieh,  hierbei  aber  einen  dem  Frey  geheiligten  Eber 
vorführte,  um,  die  Hände  auf  ihn  gelegt,  feierliche  Gelübde 
auszusprechen,  ist  es  zwar  wahrscheinlich,  dass  dies  Opfer  vor- 
zugsweise dem  genannten  Gotte  zu  Ehren  abgehalten  worden,  ohne 
dass  diess  irgendwo  —  soweit  ich  nachkommen  kann  —  ausdrücklich 
bezeugt  wäre  [dies  die  Quelle  von  Buttmann's  Irrthum],  eben  so  wenig, 
als  dass  das  dritte  Fest ,  an  welchen  man  um  Sieg  opferte  deshalb  als 
ein  Odinsfeat  (als  des  Sieg  verleihenden  Gottes)  gegolten  hätte.  Das 


80  J.  OVBRBECK,  [80 

erste  Fest  steht  mit  keinem  Gotte  in  Verbindung  d.  h.  mit  keinem  irgend- 
wie charakterisirten  wie  Frey  oder  Odin.  Opfer  (Dank*  oder  Sübnopfer) 
als  solche  involviren  ja  immer  die  Gottheit,  der  man  opfert, 
nur  dass  dieselbe  vor  dem  Zwecke  der  festlichen  Zusammenkunft 
und  vor  Allem  des  mehrtägigen  Trinkgelages  in  diesem  Falle,  und 
zwar  in  einer  Zeit ,  die  eine  verhältnissmässig  sehr  späte  zu  nennen  ist, 
etwas  in  den  Hintergrund  getreten  zu  sein  scheint.«174)  Es 
ist,  als  wenn  dieses  von  den  Kronien  geschrieben  wäre,  bei  denen  eben- 
falls die  allgemeine  Lustbarkeit,  der  volkstümliche  Charakter  der  Fest- 
freude, den  ursprünglichen  religiösen  Anlass  verdunkelt  hat.  Verdunkelt 
sage  ich,  aber  keineswegs  unsichtbar  gemacht  für  den,  der  sehn  will  und 
unbefangen  ist.  Der  Gott  aber,  dem  ursprünglich  das  altische  und  wahr- 
scheinlich fast  allgemein  griechische  (wie  italische)  Fest  der  Freude  und 
Gleichheit ,  wie  dem  Frey  das  Opfer  für  Frieden  und  Fruchtbarkeit  ge- 
golten hat,  ist  kein  anderer  als  Kronos,  aber  nicht  der  Kronos,  Herrscher 
des  verhaltnissmässig  spät  geträumten  vorzeitlichen  goldenen  Weltalters, 
sondern  der  Gott  der  realen,  alljährlichen  goldenen  Zeit,  des  xqvüqvv 
&e$og  wie  der  Sommer  in  Delphi  hiess,  welche  in  den  Monat  fällt,  in 
welchem,  wie  uns  bestimmt  bezeugt  ist,  das  Opfer  an  Kronos  {rwKQovm 
frvola)  dargebracht  wurde,  und  der  in  Athen  (und  in  Samos)  von  Alters 
her  K$6pu>g,  Kronosmonat  d.  h.  Reife-  und  Erndtemonat  hiess  weil  er 
der  Reife-  und  Erndtemonat  (Juli)  in  der  That  war,  der  Monat,  wo  man 
nach  glücklich  eingebrachter  Erndte  von  der  strengen  Arbeit  ruhte,  und 
sich  an  dem  Überfluss  der  Gottesgabe  und  im  Bewusstsein  dieses  Über- 
flusses gütlich  that  wie  in  Thessalien  an  den  Pelorien,  die  ja  auch  Athen. 
4  4.  636  mit  den  Kronien,  als  einer  iofnrj  ekXTjvixcordry]  vergleicht.  Es 
ist  das  die  Zeit,  in  der  man  noch  heutzutage  Kronien  feiert,  in  der  nach 


474)  Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  ja  noch  heutzutage  mit  den  Kirchweihfesten 
oder  Kirmseo.  In  katholischen  Landen  findet  allerdings  an  denselben  noch  eine  Kirch- 
weihe und  ein  Gottesdienst  zu  Ehren  des  Schutzpatrons  statt,  allein  wie  sehr  tritt  auch 
dies  ursprünglich  aHein  bestimmende  Moment  hinter  die  auf  die  Kirchweihe  folgende 
mehrtägige  Lustbarkeit  mit  Trink-  und  Tanzvergnügen  zurück,  bei  dem  wohl  kein 
Mensch  an  die  Bedeutung  des  Festes  auch  nur  einen  Augenblick  denkt.  In  protestan- 
tischen Ländern  ist  nun  aber  von  dieser  ursprünglichen  Bedeutung  vollends  garnicht 
mehr  die  Rede,  und  doch  hat  auch  in  diesen  wohl  jedes  Dorf  seine  Kirmes  an  einem 
bestimmten  althergebrachten  Tage,  jedenfalls  dem  Namenstage  des  Schutzpatrons  der 
Kirche.  Wer  will  nun  in  diesen  Fällen  die  ursprüngliche,  und  doch  gänzlich  ver- 
dunkelte Bedeutung  dieser  Feste  läugnen? 


84]  Beiträge  zur  Erkknntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  81 

eingeheimster  Erndte  die  Arbeiter  einen  guten  Tag  (Erndtebier)  haben, 
an  dem,  wie  man  ebenfalls  noch  heutzutage  z.  B.  im  Holsteinischen  und 
Schleswigschen  (wahrscheinlich  auch  noch  anderswo,  in  den  genannten 
Gegenden  war  ich  oft  genug  Augenzeuge)  sehn  kann,  die  Gutsherrschaft 
den  Knechten  und  Mägden  ein  Fest  bereitet,  dessen  Mittelpunkt  nicht 
sie,  die  Gutsherrschaft  ist,  sondern  bei  dem  die  Knechte  und  Mägde  die 
Hauptpersonen  abgeben,  die  auch  von  der  Herrschaft  bedient  werden. 

Nun  hat  freilich  Welcker  S.  1 57  Note  die  Angabe,  der  Hekatombäon 
habe  von  Alters  in  Attika  Kvovwg  oder  Kqopkov  geheissen  dno  rqg 
yevofuvrjg  rw  Kqovm  &voiag  »eine  beliebige  Erklärung«  genannt;  freilich 
hat  Buttmann  geschrieben :  »dass  keine  Spur  in  irgend  einem  Schrift- 
steller in  dem  Kronos  der  Griechen  einen  Gott  des  Feldbaus  ahnen  lasse« 
(a.  a.  0.  S.  54)  und  Welcker  sagt  S.  1 57,  dass  er  dies  mit  Recht  ge- 
schrieben habe;  allein  S.  464  lesen  wir  bei  Welcker:  »dieser  Monat 
(Hekatombäon)  war  der  erste  nach  der  Sommersonnenwende  und  im 
attischen  Jahr,  weshalb  er  auch  KQOvmv,  der  älteste  oder  Urmgnat  ge- 
heissen  hatte,  wenn  nicht,  weil  etwa  dem  Kronos  geopfert 
worden  war,«  also  wenigstens  eine  bedingte  Zustimmung  zu  derErklä- 
rung,  die  S.  157  als  »eine  beliebige«  abgefertigt  wird.  Und  was  den' Gott 
des  Feldbaus,  speciell  den  Gott  der  Reife  und  Erndte  anlangt,  so  ist  es 
mir  unmöglich,  nicht  so  ziemlich  in  Allem  was  wir  von  dem  griechischen 
Kronos,  wie  in  Allem  was  wir  von  dem,  wie  auch  Buttmann  als  Funda- 
mentalsatz annimmt,  unzweifelhaft  wirklich  identischen  Saturnus  Italiens 
wissen,  lauter  Zeugnisse  für  eben  diese  Wesenheit  und  Bedeutung  des 
Gottes  zu  erkennen,  in  seinem  Namen,  in  seinem  standigen  Attribut,  in 
der  Zeit  seiner  Feste,  in  der  Art,  wie  diese  Feste  gefeiert  wurden,  in 
sonstigen  Nachrichten  über  seine  Culte  und  über  seine  Verehrer,  in  dem 
Umstände,  dass  Kronos  zum  Herrscher  einer  fabelhaften  goldenen  Zeit 
und  in  einem  fabelhaften  Schlaraffenlande  geworden  ist,  und  endlich  in 
dem  Umstände ,  dass  er  auf  Kreta  zum  Vater  des  dort  verehrten  Zeus 
hat  gemacht  werden  können.  Wir  haben  nun  dies  Alles  im  Einzelnen 
zu  prüfen. 


Abbanal,  d.  K.  S.  Ges.  d.  Witt.  X.  6 


82  I.  OVEBBKCK,  [82 


9. 

Der  Name  Kqovoq  ist  nach  der  auch  von  6.  Hermann,  Heuler, 
Schümann,  Lauer  und  Preller  befolgten  Etymologie  von  ngccivca  abzu- 
leiten; freilich  hatWelcker  S.  145  in  derNole  diese  Ableitung  eine  »un- 
glückliche« genannt,  aber  dass  sie  zunächst  antikem  Sprachgefühl  ent- 
spricht  beweisen  die  oben  S.  69  milgetheillen  Stellen  des  Aschylos  und 
Sophokles,175)  und  so  wie  sprachlich  Nichts  gegen  dieselbe  einzuwenden 
ist,176)  so  hat  jetzt  auch  die  moderne' Linguistik  sich  derselben  ange- 
schlossen, wahrend  das  Wort  Xqovoq  als  grundverschieden  beleuchtet 
wird.177)  Dabei  werden  wir  denn  wohl  einstweilen  und  bis  diese  Argu- 
mente widerlegt  sind,  Beruhigung  fassen  dürfen. 

Von  grosser  Bedeutung  für  die  Erkenntniss  des  Wesens  des  Kronos 
ist  sein  ältestes  und  allein  ständiges  Attribut  —  denn  den  sein  Hinter- 
haupt verhüllenden  Schleier  hat  er  nicht  immer  —  das  Krummmesser, 
dessen  Bedeutung  aber  noch  bestimmt  festgestellt  werden  muss.  Das 
Wort  aqnr\)  welches  für  dies  Messer  des  Kronos  am  meisten  gebraucht 
wird,  bezeichnet  kein  im  wirklichen  Leben  des  höheren  Alterthums  ge- 
brauchtes Instrument  ,178)  sondern  kommt  nur  in  der  Hand  mythologi- 
scher Personen  vor,  nämlich  ausser  bei  Kronos  bei  Zeus  im  Kampfe  mit 
Typhon  bei  Apollodor  (1 .6.3),  bei  Hermes  bei  der  Enthauptung  des 
Argos,  bei  Perseus  im  Gorgonenmythus  (Beides  mehrfach,  namentlich 
in  Kunstwerken)  und  bei  Herakles  und  Iolaos  im  Kampfe  gegen  die  Hy- 
dra,179) ein  einziges  und  spätes  Mal  auch  bei  Theseus  im  Kampfe  gegen 
Minotauros,180)  bei  diesen  Allen  ausser  Kronos  aber  nur  in  relativ  späten 
Zeugnissen ,  und  zwar  entweder  nach  blosser  Analogie  der  Harpe  des 
Kronos  als  mythologisches  Schneideinstrument,  oder  promiscue  mit  an- 


175)  Vergl.  auch  II.  t.  449  oif  «pa  nci  ol  ifttxpalcuvs  KqovIw  worauf  Preller 
Mythol.  2.  Aufl.  4.  S.  45.  Note  4  hinweist. 

476)  Dies  erkennt  auch  Hr.  Dr.  H.  D.  Müller  im  Philologus  a.  a.  0.  S.  555  an, 
wo  er  von  **/(>a>  ableiten  will. 

477)  Vergl.  B.  Curtius,  Grundzöge  der  griech.  Etymologie  4.  S.  424  mit  S.  4  68. 

478)  Nämlich  der  Art,  wie  es  später  für  einen  Elephantenstachel  gebraucht  wird 
Ael.  H.  An.  4  3.  22. 

479)  Welcker,  Alte  Denkmäler  3.  Taf.  6.  S.  263  ff.,  oder  lion.  deil'  Inst.  3.  tav. 
46.  2.  Ann.  4  4.  p.  4 03 sqq. 

4  80)  0.  Jahn,  Archäolog.  Beiträge  S.  266. 


83]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  83 

deren  Schneide-  und  Stichwaffen,  also  ohne  specielle  Bedeutung.181) 
Specifisch  gehört  die  Harpe  Kronos  einzig  und  allein ,  and  nur  bei  ihm 
wird  sie  niemals  durch  ein  anderes  Instrument  ersetzt.  Eine  solche  aus- 
schliesslich mythologische  Waffe,  die  ihre  Analogie  in  der  ebenfalls  aus- 
schliesslich  mythologischen  Agis  findet,  kann  nun  offenbar  noch  weniger 
als  solche  Waffen ,  die  auch  im  wirklichen  Gebrauche  des  Menschen 
vorkommen,  wie  etwa  der  Bogen  und  die  Pfeile  Apollon's,  die  gleich- 
wohl anerkanntermassen  ihre  bildliche  Bedeutung  haben,  bedeutungslos 
sein,  muss  vielmehr  mit  Notwendigkeit  eine  ganz  prägnante  Bedeutung 
haben.  Nun  giebt  es  aber  zweierlei  Götterattribute,  allegorische  und 
symbolische ;  allegorisch  z.  B.  sind  die  Pfeile  Apollon's  für  Sonnenstrah- 
len, Zeus'  Ägis  für  Wettergewölk ;  symbolisch  aber  sind  z.  B.  der  Bogen 
der  Artemis,  der  sie  als  Jagdgöttin  charakterisirt  oder,  um  ein  ganz  un- 
zweifelhaftes Beispiel  zu  wählen  Hermes'  ökßov  xal  nXovrov  fäßdog* 
Ware  nun  die  Harpe  des  Kronos  ein  allegorisches  Attribut  der  ersleren 
Art,  so  könnte  sie  einzig  und  allein  als  ein  Bild  des  Blitzes  betrachtet 
werden,  als  welches  sie  in  Apollodor's  Erzählung  vom  Typhonkampfe 
des  Zeus  augenscheinlich  gilt.  Und  wirklich  hat  Lauer  in  seiner  Mytho- 
logie S.  164  den  allerdings  nicht  eben  glücklichen  Gedanken  gehabt,  die 
Harpe  des  Kronos  nach  Analogie  derjenigen  des  Perseus,  die  er  als 
Blitzstrahl  (wohl  mit  Recht)  auffasst,  ebenfalls  filr  den  Blitz  zu  erklaren. 
Welcker  aber  verwirft  eine  solche  Annahme  ausdrücklich  und  mit  Recht, 
indem  er  S.  4  54  schreibt:  »nicht  die  leiseste  Spur,  dass  Kronos  einst 
den  Blitz  gehabt.«  Ist  also  die  Harpe  des  Kronos  nicht  allegorisch  be- 
deutsam ,  und  will  man  sie  nicht  etwa  als  eine  wunderliche  Ausgeburt 
der  Phantasie  Hesiod's  betrachten ,  dem ,  während  er  nach  einer  Waffe 
filr  Kronos  zu  dem  bekannten  Zwecke  suchte,  nicht  ein  Schwerdt,  ein 
Dolch,  ein  gewöhnliches  Messer,  sondern  durch  unerklärlichen  Zufall 
ein  ganz  neues  Wort  cfyft^  in  die  Feder  gerieth ,  eine  Ansicht,  die  ich 
Welckern  trotz  Allem  was  er  gesagt  hat,  nicht  unterzuschieben  wage, 


4  81)  So  hat  Herakles  in  den  allen  Vasen  des  Hydrakampfes,  welche  in  den  Mon. 
delT  Inst.  a.  a.  0.  zusammengestellt  sind  in  No.  5,  4,  6  das  grade  Schwerdt,  in  No.  4 
u.  5  die  Harpe,  die  in  No.  %  u.  6  IoLaos  handhabt;  ebenso  führt  Perseus  im  Gorgonen- 
abenteuer,  er  der  in  späteren  Kunstwerken  so  oft  mit  der  Harpe  erscheint  in  der  alten 
Metope  von  Selinunt  das  grade  Schwerdt,  dasselbe  in  den  Mon.  dell'  Inst.  2.  49  zu- 
sammengestellten Argosmonumenien  Hermes  in  No.  5  und  dem  Hauptbilde ,  wahrend 
er  in  der  Gemme  No.  9  die  Harpe  führt. 

6* 


84  J.  OVRBBBCK,  [84 

so  bleibt  Nichts  übrig,  als  die  Harpe  symbolisch  bedeutsam  zu  fassen. 
Man  darf  sie  folglich  nicht  aus  der  Geschichte  erklaren,  in  der  sie  für 
uns  erkennbar  am  frühesten  in  Anwendung  kommt ,  wie  dies  Welcker 
allerdings  thut,  indem  er  sie  mehrfach  (so  S.  4  45,  160)  als  die  blosse 
theogonische  Waffe  des  Kronos  behandelt,  sondern  man  muss  mit  Butt- 
mann (Mythol.  a.a.O.  S.  36)  sagen:  »nicht  etwa  zum  Andenken  an  jenes 
mythische  Factum  wird  Kronos  mit  der  Sichel  gebildet;  sie  war  langst 
d  a  vor  diesem  episch  ausgebildeten  Mythus.« 

Wohl;  aber  was  ist  denn  aQmjt  and  als  was  war  sie  symbolisches 
Attribut  des  Kronos  lange  vor  der  epischen  und  theogonischen  Entman- 
nungsgeschichte. Je  weniger  aqnr\  ein  Instrument  des  wirklichen  Ge- 
brauchs ist,  und  obwohl  sieb  ihr  Name  etymologisch  verstelm  l&sst,18*) 
wird  ihre  Bedeutung  vollkommen  klar  erst  aus  der  zweiten  Bezeichnung 
mit  der  sie  belegt  wird:  dqinavov.  Und  bekanntlich  nennt  schon Hesiod 
selbst  Theog.  <  62  dies  Instrument  tytnavov,  und  mit  demselben  Namen 
wird  es  in  jenen  Sagen  bezeichnet,  welche  den  Namen  der  Vorgebirge 
Zaynhj  und  Jqhcavov  und  den  von  Kerkyra  von  der  von  Kronos  weg- 
geworfenen Harpe  ableiten.183)  Jqinavov  aber,  oder  episch  dyerzdrt] 
ist  ein  Wort  der  lebenden  Sprache  und  ein  Instrument  des  wirklichen 
Gebrauchs,  und  zwar  seit  II.  18.  551  und  Odyss.  18.  368  die  Getreide* 
siehe) ,  und  niemals  etwas  Anderes  als  diese.  Und  mit  diesem  Sprach- 
gebrauche stimmt  es  vollkommen,  dass  in  den  ältesten  Kunstwerken, 
welche  die  Harpe  in  mythologischem  Gebrauche  zeigen  ,184)  dieselbe  als 
einfache,  wenn  auch  zum  Theil  als  gezahnte185)  Getraidesichel  erscheint, 
keineswegs  aber  als  jenes  waffenartige  Instrument  mit  einer  graden  und 
einer  krummen  Spitze,  das  aus  spateren  Kunstwerken  so  bekannt  ist, 
dass  man  über  demselben  die  älteste  Gestalt  und  mit  der  ältesten  Gestalt 


482)  PreHer  stellt  afitri  mit  sarpio  und  dem  makedonischen  Monat  roynimoe 
d.  h.  SchnUteraonat  zusammen,  MythoL  2.  Aufl.  4 .  S.  45.  Note  3. 

483)  VergL  Preller,  Griech.  Mythol.  2.  Aufl.  4.  S.  45.  Note  3. 

484)  Siehe  die  oben  Note  4  84  angeführten  Vasen  mit  der  Hydra. 

4  85)  Vergf .  eben  das.  und  wenigstens  bei  einer  Kronos-  oder  Satamusdarstellung, 
fifttfger  Kunstmythol.  4 .  Taf.  4 .  No.  2.  Aber  diese  Zähnung  kann  ich  nur  für  Misver- 
stlntfuiss  des  Beiwortes  na^xapodovg  betrachten,  weiches  gewiss  nicht  scharfe  Zähne 
der  Harpe,  sondern  sie  als  scharfzahnig,  d.  h.  scharf,  schneidend  schlechthin  bezeich- 
net, wie  das  z.B.  schon  Pape  in  s.  griech.  Handwörterbuch  oingesebn  hat,  wffarend 
Preller,  Mythol.  2.  Aufl.  S.  45.  Note  3  wieder  auf  das  »mit  scharfen,  spitzen  ZUhnenc 
zurückgreift. 


85]         Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  85 

auch  die  älteste  und  einfachste  Bedeutung  der  Harpe  schier  aus  den 
Augen  verloren  und  vergessen  bat.  Dass  also  die  Harpe  des  Kronos  sein 
ältestes  und  ständiges  Attribut  die  Sichel ,  die  Getraidesichel  sei»  wird 
sich  mit  Hecht  nie  läugnen  lassen ,  und  fraglich  kann  nur  sein,  in  wel- 
chem Sinne  dem  Gott  dies  Attribut  beigelegt  worden  sei.  Buttmand 
(a.  a.  0.  S.  36)  antwortet:  »als  altes  Attribut  des  Hieroglyphs  der  Zeit«189) 
Aber  wo  ist  auch  nur  der  Schatten  eines  Beweises,  dass  die  Sichel  ein 
altes  Attribut  des  angeblichen  Hieroglyphs  der  Zeit  sei,  dass  man  die 
Zeit  im  höheren  Alterthum  als  die  abmähende  und  nicht  vielmehr  ata 
die  verschlingende  gefasst  habe  im  Sinne  jenes  orphischen  Verses  auf 
Chronos-Kronos  (Hymn.  12.  3) 

ög  danavag  fiiv  anavra  %ai  av&ig  c/maXiv  avrogl 
Buttmann  beruft  sich  (S.  34)  auf  Macrobius  1.  8  und  auf  ein  Epigramm 
in  Brunk's  Analeklen  (Adttm.  64  5)  auf  Laertes'  zerstörtes  Grab  ,  wo  es 
heisst  : 

tpjjX*1  *<**  ntTQt]v  6  nokvg  xqvvoq,,  ovdi  aidiJQOv 
cpeiderai,  äXXa  fiirj  ndvr  oXs'xst  d^iTtavrj. 

Und  das  ist  Alles?  und  damit  sollen  wir  uns  zufrieden  geben  und  bewie- 
sen glauben,  dass  dieses  Bild,  diese  Übertragung  in  die  Urzeit  gehöre, 
in  so  uralte  Zeit,  dass  dieser  Sinn  vergessen  und  verborgen  blieb  wah- 
rend der  ganzen  Periode,  in  der  alte  Schriftsteller  und  noch  ältere  Kunst- 
werke das  von  Kronos  im  Mythus  als  Waffe  gebrauchte  Instrument,  mit 
dem  er  den  Meislerschnitt  gethan  hatte,  auf  Hermes,  Zeus,  Perseus, 
Herakles  und  lolaos  übertrugen?  oder  ist  in  diesen  Übertragungen  die 
Harpe  auch  ein  Attribut  des  Hieroglyphs  der  Zeit?  Es  lässt  sich  viel- 
mehr mit  der  grössten  Sicherheit  behaupten,  dass  in  diesen  Übertragun- 
gen die  Harpe  Nichts  sein  könne  und  sein  solle,  als  ein  Schneide*  und 
Mord insirument  furchtbarer  und  gewaltiger,  als  ein  solches  in  Menschen* 
band  vorkommt,  diesen  so  aberlegen  wie  die  Agis  menschlichen  Schil- 
den; jenes  selbige  Schneide-  und  Mordinstrument,  dem  die  mythische 
That  des  Kronos  gleichsam  die  Weihe  gegeben  hatte,  und  welches  in 


186)  Preller,  welcher  in  der  ersten  Auflage  seiner  Mythologie  S.  42  sich  über 
diesen  Punkt  sehr  unklar  und  widerspruchsvoll  ausgesprochen  hatte,  sagt  in  der  neuen, 
was  ich  mit  lebhafter  Freude  anerkenne,  S.  4S  »die  Sichel  deutet  zunächst  auf.  Brndte 
und  Erodteaegen.«  Dabei  können  wir  einstweilen  etehn  bleiben,  da»  was  P„  weiter 
folgen  lässt  moss  ich  weiterhin  beleuchten. 


86  J.  OVBRBECK,  [86 

denjenigen  Fällen  wieder  in  Anwendung  gebracht  wird,  wo  Götter  und 
halbgöttliche  Helden  ähnlich  gewaltige  Schnitte  auszuführen  haben  wie 
den,  welchen,  als  Vorbild  aller,  Eronos  ausgeführt  halte.  Oder  sollen  wir 
aus  dem  nur  im  späteren  und  spätesten  Sprachgebrauche  überhaupt  vor- 
kommenden bildlichen  Gebrauche  der  Sichel  als  Instrument  der  Alles 
niedermähenden  Zeit  entnehmen,  dass  sich  der  hieroglyphische  Sinn  des 
Attributs  «immer  erhalten«  habe  nach  Analogie  der  Art,  wie  Welcker  aus 
späten  Schriftstellern  gegenüber  den  früheren  beweist,  dass  die  Idee  des 
Kronion  sich  neben  dem  genealogischen  Mythus  erhalten  habe?  Und 
auch  noch  darauf  muss  ich  hinweisen,  dass  eine  ähnliche  bildliche  Be- 
deutung irgend  eines  anderen  alten  Götterattributs  vollkommen  uner- 
hört ist. 

Fasst  man  nun  dies  Alles  zusammen,  so  wird  man  einsehn,  dass 
nichts  Auderes  übrig  bleibt  als  das  Attribut  der  Getraidesichel  dem  Gotte 
in  seiner  einfachen,  natürlichen  und  wirklichen  Bedeutung,  d.  h.  als 
das  Instrument  der  Erndte ,  des  Abschneidens  des  reifen  Getraides  zu- 
zusprechen. Und  wenn  dies  der  Fall  ist,  so  beweist  dies  Attribut  den 
Gott,  seinen  Träger  als  den  Gott  der  Erndte,  des  Sommers,  grade  so  wie 
Demeter  dQejiavrjyoyog  durch  dasselbe  Attribut  als  Erndte-  und  Getraide- 
göttin  bezeichnet  wird. 

Als  solcher  hat  er  in  seinem  Wesen  zwei  Seiten ,  die  freilich  ur- 
sächlich untrennbar  mit  einander  verbunden  sind,  die  sich  aber  auch  je 
für  sich  auffassen  lassen,  eine  segensreiche  und  eine  verderbliche,  wel- 
che beide  Preller  in  der  früheren  Ausgabe  seiner  Mythologie  1 .  S.  43 
gut  hervorhebt,187)  wenn  er  schreibt,  der  Gott  der  Reife  und  Erndte  sei 
»in  jenen  Klimaten  um  so  mehr  [auch]  eine  böse,  zerstörende  Macht, 
weil  dort  die  Zeit  der  Erndte  [die  doch  ein  Segen  ist]  mit  der  des  Alles 
verwüstenden  Sonnenbrandes  zusammenfallt.«  Diese  beiden  Seiten  in 
dem  Wesen  des  Gottes  treten  nun  in  seinen  Mythen  und  Gülten  uns  ge- 
trennt entgegen ;  dem  verderblichen,  Alles  verdörrenden  Gotte  des  som- 
merlichen Sonnenbrandes  gellen  die  Mythen  von  der  Kinderverschlin- 
gung,  die  Vorstellung  als  Greis  und  die  Menschenopfer  einiger  Culte, 
dem  segensreichen  Gotte  der  Erndte  aber  werden  die  Kronien  als 


4  87)  Weniger  klar  und  prficis  in  der  zweiten,  wo  gleichwohl  S.  46  ebenfalls 
darauf  hingewiesen  ist,  dass  die  Zeit  der  Erndte  mit  derjenigen  des  höchsten  Sonnen- 
brandes zusammenfalle. 


87]  Beitrage  zur  Ebkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  87 

Brodtefeste  gefeiert  und  Früchte  und  Kuchenopfer  dargebracht;  er,  der 
Verleiher  der  jährlichen  Zeit  des  Überflusses  und  Genusses  ist  zum 
Herrscher  des  geträumten  goldenen  Weltalters  und  er  ist  zum  Vater  des 
Zeus  auf  Kreta  nach  dessen  dortiger  Cultauffassung  geworden. 

Ehe  ich  dies  naher  begründe  will  ich  noch  hervorbeben,  dass  mei- 
ner Überzeugung  nach  Kronos'  Verhältniss  zum  Uranos  und  in  der  Ent- 
mannungsgeschichte durchaus  speculativ  aufgefasst  werden  muss ,  also 
wesentlich  so  wie  dies  Preller  in  der  neueren  Auflage  seiner  Mythologie 
tbut  (S.  45),  wenn  er  die  Entmannung  so  fasst,  dass  durch  sie  der  all- 
zu grossen  Fruchtbarkeit  ein  Ende  gemacht,  und  dadurch  ein  neuer  Zeit- 
abschnitt eines  ungehinderten  Wachsthums  aller  irdischen  und  himm- 
lischen Kräfte  herbeigeführt  wird.  Vielleicht  noch  klarer  und  bestimmter 
wurde  in  der  früheren  Auflage  (S.  43)  Kronos  in  theogonischer  Bezie- 
hung als  Gott  der  Reife  und  Vollendung  dargestellt,  weil  jetzt  die  Zeit 
gekommen  war,  wo  die  Zeugungen  des  Uranos  aufhören  mussten,  damit 
sich  die  neu  entstandenen  Naturkräfte  in  Ruhe  ausbreiten  und  entfalten 
konnten.  Gegen  die  in  eben  dieser  früheren  Darstellung  enthaltenen 
Unklarheiten  und  Widersprüche,  durch  welche  Kronos  dem  Uranos  ge- 
genüber als  Gott  des  ausdörrenden  Sonnenbrandes  bezeichnet  wurde, 
der  den  unerschöpflichen  Regengüssen  seines  Vaters  ein  Ende  macht, 
kämpfe  ich  nicht  weiter,  da  Preller  sie  selbst  getilgt  hat,  und  nur  dage- 
gen muss  ich  mich  noch  auflehnen,  dass  auch  in  der  neuen  Auflage 
(S.  38)  in  die  kosmogonischen  und  theogonischen  Zeugungen  des  Ura- 
nos das  Fragment  aus  Äschylos'  Danaiden  eingemischt  wird.  Denn  so 
gewiss  auch  Anschauungen  dieser  Art  zur  Paarung  von  Uranos  und  Gäa 
wie  von  Zeus  und  Dione,  Zeus  und  Here  u.  A.  geführt,  und  so  die  theo- 
gonisch-kosmogonische  Paarung  begründet  haben,  so  wenig  hat  die 
Regenbefruchtung  der  Erde  durch  den  Himmel  mit  den  kosmogonischen 
Zeugungen  des  Uranos  und  der  Gäa  auch  nur  das  Mindeste  zu  thun. 
Uranos' Zeugungen  haben  wir  etwa  nach  Analogie  der  vergiliscben  Verse 
(Georg.  2.  336  ff.)  als  Weltfrühling  zu  fassen,188)  dem  eine  zweite,  voll- 
kommnere  Periode  der  Kosmogonie  und  der  eigentlichen  Theogonie, 
eine  Periode  der  Reife  und  Vollendung,  ein  Wellsommer  folgen  musste, 
den  der  Reifer  und  Vollender,  der  xyaivow  Kqovoq  heraufführt.  Und  in 
der  That  zeigt  eine  nähere  Prüfung  des  Gehalts  der  hesiodischen  Theo- 


188)  Vergl.  auch  Brandis,  Gesch.  d.  griech.  Philos.  \ .  S.  7 5 f. 


88  J.  OVBRBBCK,  [88 

gonia,  dass  der  Dichter  in  den  Uraniden  und  den  übrigen  bei  Uranos' 
Entmannung  vorhandenen  theogonischen  Potenzen  alle  Kräfte  und  Er- 
scheinungen des  Kosmos  als  im  Keime  vorhanden  hat  darstellen  wollen, 
während  sich  dieselben  in  den  auf  die  Entmannung  folgenden  Fortzen- 
gongen  der  Urpotenzen  zu  der  ganzen  Fülle  der  Erscheinungen  und  der 
ideellen  Mächte  des  Weltalls  entwickeln.  Dass  aber  Kronos  zum  Ver- 
treter dieses  Weltsommers  geworden ,  das  geschah ,  weil  er  Gott  des 
jährlichen  irdischen  Sommers  war,  und  dass  er  seine  That  mit  der  Sichel 
vollbringt,  das  ist  aus  der  charakterisirenden  Hauptfunction  jedes  ernd- 
tenden,  die  Zeugungen  des  Frühlings  abmähenden  Sommers  entnommen. 
So  ist  Alles  speculativ  und  doch  in  der  Darstellung  deswegeh  dichterisch 
und  mythisch,  weil  die  Bilder  aus  der  Anschauung  entnommen  sind  und 
auf  Thatsächlichem  in  älteren  Mythen  und  Culten  beruhen. 

Wenden  wir  uns  nun  den  Culten  des  Kronos  zu ,  so  haben  wir  es 
natürlich  zuerst  mit  den  attischen  Kronien  zu  thun  als  dem  bekanntesten 
Feste  des  Gottes.  Cber  die  Natur  des  Festes,  die  auch  Welcker  im 
Grunde  nicht  verkennt,  braucht  nach  dem  früher  Gesagten  hier  nicht 
mehr  Viel  hinzugefügt  zu  werden.  Die  Zeugnisse  des  Philochoros  und 
des  Attius  bei  Macrob.  Saturn.  1.  10.  22  u.  7.  37  charakterisiren  es  als 
ein  Fest  der  allgemeinen  Lustbarkeit,  namentlich  als  ein  solches  der 
Knechte  nach  Einbringung  der  Erndte  (frugibus  et  fructibus  iam  coactis; 
Philoch.  nach  Macrobius'  Obersetzung)  und  das  ohne  allen  Zweifel  auch 
mit  Beziehung  auf  den  Erudtesegen  gefeiert  wurde;  bekannt  ist,  dass 
es  auf  den  1 2.  Hekatombäon  fiel  (Demosth.  adv.  Timocrat.  p.  708)  und 
in  sofern  als  öffentliches  Fest  bezeichnet  ist,  als  seinetwegen  die  Sitzung 
der  Bule  ausfiel  [dta  ravr  äcpei/utvrjs  ttjq  ßovkfjs,  Demosth.  a.  a.  0.), 
wenngleich  die  Opfer  nicht  von  Staats  wegen  dargebracht  wurden,  weil 
es  in  dem  Verzeicbniss  der  Opfer  dieses  Monats  im  Corp.  Inscr.  gr. 
No.  157  fehlt.  Auch  auf  die  Gründe,  die  ich  für  den  primitiv  religiösen 
Charakter  des  Festes  und  seine  ursprüngliche  Beziehung  auf  Kronos 
geltend  gemacht  habe,  will  ich  nur  zurückverweisen.  Nun  scheint  es 
mir  aber  unwidersprechlich,  dass  ein  Gott,  welchem  nach  eingebrachter 
Erndte  und  mit  Rücksicht  auf  dieselbe,  also  als  Dank  für  dieselbe  ein 
Opfer  dargebracht  und  ein  Fest  gefeiert  wurde,  eben  hierdurch  als  ein 
Gott  der  Erndte  und  weiterhin  als  derjenige  bezeichnet  wird,  dem  man 
den  Segen  des  Feldes  zu  verdanken  glaubte.  Bemerken  aber  muss  ich 
noch,  dass  man  weder  das  von  Philochoros  (a.  a.  0.),  Plutarch  (Thes.  1 2), 


89]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  89 

dem  Etymologicum  magnum  (v.  f£xccro/Ltßaiwv) ,  Hesychius  (v.  Kqbvta) 
übereinstimmend  bezeugte  hohe  Alter  des  Kronosfestes  und  Kronos- 
opfers  im  Kronosmonat,  noch  die  Dauer  desselben,  welche  ausser  De- 
mosthenes  (a.a.  0.)  Machon  (bei  Athen.  43.  p.  581  a.),  Lukian  (Saturn.  7, 
Call.  14)  und  Plutarch  (non  posse  suav.  vivi  16)  verbürgen,  ohne  Will- 
kuhr  in  Abrede  stellen  kann,  wahrend  die  Cultgestalt  des  Kronos,  nicht 
eines  geträumten  Herrschers  des  goldenen  Weltalters  uns  aus  den 
Kuchenopfern  nochmals  entgegentritt ,  welche  er  nach  Corp.  Inscr.  gr. 
No.  623  am  1 5.  Elaphebolion  empfing  wie  Zeus  Georgos  im  M&makte- 
rion  (G.  I.  gr.  a.  a.  0.).  Und  somit  nehme  ich  die  athenischen  Kronien 
als  ein  erstes  bestimmtes  Zeugniss  dafür  in  Anspruch ,  dass  Kronos  als 
Gott  der  Erndte  und  folglich  als  Gott  des  Landbaus  und  vegetativer 
Fruchtbarkeit  verehrt  worden  sei. 

Sehn  wir  nun  vorerst  von  den  in  anderem  Zusammenhange  zu  er- 
wägenden Nachrichten  ganz  ab,  welche  wie  Schol.  Arist.  Nubb.  397, 
Verr.  Flacc.  b.  Macrob.  1.  4.  7,  Attius  das.  1.  7.  37,  Athen.  43.  p.  639 
die  Kronien  als  ein  überall  in  Griechenland  gefeiertes  Fest  bezeu- 
gen, Nachrichten,  deren  Glaubwürdigkeit  in  Bausch  und  Bogen  und  ohne 
besondere  Beweise  und  Gründe  in  Abrede  zu  stellen  ebenfalls  nur  Will- 
kühr  genannt  werden  könnte,  so  begegnet  uns  als  das  nach  den  atheni- 
schen Kronien  bekannteste  Fest  und  Opfer  des  Kronos  das  auf  dem 
Gipfel  des  Kqovioq  Ucpog  bei  Olympia  am  Tage  des  Frühlingsäqui- 
noctiums  im  eleischen  Monat  Elaphios  von  den  BaaiXai  dargebrachte 
(Pausan.  6.  20.  4),  dessen  chronologisches  Zusammentreffen  mit  dem 
attischen  Opfer  am  4  5.  Elaphebolion  ich  nicht  für  zufällig  hallen  kann, 
welches  mir  vielmehr  als  ein  Opfer  nach  vollbrachter  Aussaat,189)  wie 
dasjenige  imHekatomb&on  als  Fest  nach  vollendeter  Erndte  erscheint.100) 
Das  hohe  Alter  aber  dieses  eleischen  Frühlingsopfers  für  Kronos  ist  um 
so  sicherer  anzunehmen,  da  in  den  BaoiXai  xcdov/uevot  eine  eigene 
Priesterschaft  mit  eigenthttmlichem ,  in  seinem  Ursprünge  dunklem  Na- 
men auftritt,  und  da  sich  der  Cultus  nicht  an  den  von  Pausan.  5.  7.  4 
bezeugten  Tempel  des  Kronos  als  des  ersten  Herrschers  im  Himmel 

4  89)  Die  doppelte  Saatzeit,  im  Herbst  and  im  Frühling,  ist  bekannt,  vgl.  Hermann 
Priv.  Alterth.  §4  5.  4* ;  die  letztere  aber,  obgleich  in  historischer  Zeit  die  weniger  ge- 
bräuchliche, lässt  sich  als  die  ursprünglichere  erweisen. 

4  90)  So  fasst  dasselbe  auch  Heffler.  Relig.  d.  Griechen  u.  Römer  S.  330,  dessen 
Abhandlung  über  Kronos  in  der  Schulzeitung  von  1833.  Tl.  No.  29 f.  mir  leider  un- 
zugänglich gewesen  ist. 


90  J.  OVERBBCK,  [90 

anknüpft,  den  die  Menschen  der  goldenen  Zeit  gebaut  haben  sollten, 
noch  auch  an  den  Altar  des  Kronos  und  der  Rhea,  den  der  Schol.  Pind. 
Ol.  5.  8  u.  10  anführt,  sondern  an  eine  Naturstätte,  an  welcher  unter 
verschiedenen  Varianten191)  Kronos'  Name  untrennbar  haftet,  ohne  dass 
auf  derselben  ein  Tempel  oder  sonst  irgend  eine  Art  von  Einrichtung 
auf  die  Entstehung  des  Gultus  in  späterer  Zeit  hinwiese. 

Die  Erwähnung  der  BaoiXai  xakov/ievoi  lässt  uns  hier  den  Cultus 
von  Lebadeia  anfügen,  bei  welchem  Kronos  an  dem  Tqoiptovia  oder 
BaviXeia  genannten  Feste  Antheil  hatte.  Auch  Welcker  berührt  diesen 
Cultus  S.  155,  aber  er  sagt  nur  ablehnend:  »dass  wegen  des  Orakels 
des  Trophonios  ausser  dem  Zeus,  der  Here  und  anderen  Göttern  auch 
dem  Kronos  (ohne  Rhea)  geopfert  wurde  (Paus.  39.  3  u.  4)  hat  nach 
Art  dortiger  Theologie  keine  besondere  Bedeutung.«  Dies  verstehe  ich 
nicht.  »Hat  keine  besondere  Bedeutung  nach  Art  dortiger  Theologie«? 
also  die  Theologie  von  Lebadeia  hat  keine  besondere  Bedeutung?  und 
washeisst:  keine  besondere  Bedeutung?  heisst  das  keine  überhaupt? 
und  will  Welcker,  indem  er  die  lebadeische  Theologie  für  bedeutungs- 
los erklärt,  auch  den  dortigen  Cult  des  Kronos  für  bedeutungslos  er- 
klären und  somit  beseitigen?  Oder  ist  hierein  Druckfehler,  wie  ihrer 
leider  eine  so  grosse  Zahl  das  Buch  verunziert,  und  soll  es  heissen: 
hat  eine  besondere  Bedeutung,  d.  b.  eine  singulare,  eigentümliche? 
Wenn  dies  der  Fall  ist,  so  muss  man  bedauern,  dass  Welcker  Nichts 
gethan  hat,  um  diese  eigenthümliche  Bedeutung  der  lebadeischen  Re- 
ligion und  des  Antheils  des  Kronos  an  denselben  aufzuklären;  denn 
Niemand  wird  läugnen,  dass  diese  Religion  dunkel  und  noch  keineswegs 
durchaus  verstanden  sei.  Und  deswegen  darf  man  auch  über  dieselbe 
nicht  so  apodiktisch  absprechen  wie  Lauer  (System  der  griech.  Mythol. 
S.  167),  der  es  für  »unzweifelhaft«  erklärt,  dass  Kronos  in  Lebadeia 
Beziehung  zu  Fruchtbarkeit  und  Gedeihen  habe.  Aber  wahrscheinlich 
in  hohem  Grade  bleibt  es  immerhin,  dass  diese  Ansicht  im  Wesentlichen 
das  Richtige  treffe.192)  Denn,  dass  Trophonios,  der  Mittelpunkt  des  Cultus 
ein  Dämon  der  Fruchtbarkeit,  ein  Nährdämon  der  Erde  sei,198)  wird  sich 


4  94)  Kqovov  Xotpog,  Kqovwq  ko<pog,  Kqoviov  oqoq  bei  Pausan.,  Kqovov  nayos 
b.  Pind.  Ol.  8.  17,  5.  47,  44.  SO,  Kqovhov  b.Xenoph.  Hell.  7.  4.  14,  vergl.  £.  Cur- 
tius  Peloponnesos  2.  S.  51. 

492)  Angenommen  ist  dies  auch  von  Heffter  Rel.  d.  Griechen  u.  Römer  S.  329. 

4  93)  Müller,  Orchomenos  S.  4  49. 


91]  Beitrage  ztm  Ebkjcnntniss  und  Kbitie  dem  Zeusäkligion.  91 

nicht  l&ugnen  lassen ,  eben  so  wenig ,  dass  Demeter,  seine  Amme ,  als 
Erdmutter  mit  seinem  Cult  verbunden  war;  die  Bedeutung  des  Zeus 
ßaatXevg  und  der  Here  ßaatXlg  oder  ^viopj m)  ist  dunkel ,  und  man  darf 
sie  nicht  mit  Lauer  ohne  Weiteres  als  Wesen  bezeichnen,  die  dem 
Segen  des  Ackerfeldes  vorstehn  ,195)  obgleich  auch  dies  nicht  unwahr- 
scheinlich ist;  zu  beachten  ist  ferner  der  Zeus  vhiog  im  Haine  des 
Trophonios  neben  dem  Heiligthum  der  Demeter  Europe  (Paus.  a.  a.  0. 
§  4) ,  insofern  er  als  regnender  Gott  ebenfalls  Gott  der  Befruchtung  und 
der  Fruchtbarkeit  ist.  Er  erscheint  bei  Pausanias  als  ein  anderer  denn 
der  ßaodevg  und  als  ein  Dritter  der  im  Tempel  mit  Kronos  und  Here 
aufgestellte;  da  man  aber  nach  Pausan.  (a.  a.  0.  §  5)  vor  dem  Opfer 
den  Zeus  Basileus  und  die  Demeter  Europe  anrief,  mit  der  nach  dem 
froheren  §  der  vhtog,  nicht  der  ßaatXevg  verbunden  ist,  während  hier 
der  veriog  ganz  wegfällt ,  so  ist  die  Identität  des  ßaoitevg  und  veriog 
viel  wahrscheinlicher  als  die  Nichtidentität;  danach  würde  sich  eine 
ahnliche  Bedeutung  auch  für  die  Here  ßaodig  ergeben,  während  in  dem 
mit  angerufenen  Apollon,  als  Helios- Apollon  gefasst,  die  zweite  Be- 
dingung der  Fruchtbarkeit:  Licht  und  Wärme  neben  dem  Regen  des 
Zeus  aufzutreten  scheint.  Stellt  sich  also  in  diesem  Gölterkreise,  zu  dem 
noch  die  ebenfalls  im  Haine  des  Trophonios  verehrte  Herkyna  hinzutritt, 
die  nicht  minder  deutliche  Beziehung  zum  Wasser  hat ,  wie  der  Zeus 
virioi  (Pausan  a.  a.  0,  §  2  u.  3) ,  allerdings  ein  Kreis  von  Gottheiten 
dar,  welche  die  Fruchtbarkeit  der  Erde  oder  des  Ackerfeldes  darstellen 
oder  bewirken,  so  wird  man  dem  in  dieser  Gesellschaft  auftretenden 
Kronos  schwerlich  mit  Recht  gleiche  Bedeutung  absprechen  können, 
während  er  als  Reifer  und  Zeitiger  der  Frucht,196)  welche  die  übrigen 
Gottheiten  erzeugt,  genährt  und  gepflegt  haben,  und  mit  der  Trophonios, 
der  Mittelpunkt  des  Kreises  und  Cultus  nährt ,  seinen  vollberechtigten 
Platz  und  seine  ganz  natürliche  Erklärung  findet.  Doch  sei  dem  wie  ihm 


494)  *H»wpi  bei  Paus.  a.  a.  0. ,  aber  ßaadig  Müller  a.  a.  0.  148.  Note  5. 

4  95)  Panofka's  Abhandlung  über  den  Trophonioscult  von  Rhegion  in  den  Schrif- 
ten der  berl.  Akademie  4848  ist  wie  gewöhnlich  unbrauchbar. 

496)  Auf  gleichen  Grand  kann  die  vom  Etym.  M.  v.  rHkg  p.  426.  4  8  bezeugte 
Koinobomie  des  Kronos  und  Helios  und  dass  Kronos  in  dem  von  Welcker  S.  4  45  ci- 
ttrien  chaldSischen  Oradel  'Hekiov  naQififOQ  heisst,  mindestens  eben  so  fuglich  zu- 
rückgeführt werden,  wie  auf  das  Ordnen  des  Zeilmasses,  wie  Welcker  meint.  Ist  es 
denn  nicht  Helios,  der  unter  Kronos*  Vorstandschafl ,  oder  durch  welchen  Kronos  das 
Oetraide  reift? 


92  J.  Overbeck,  [92 

sei,  bedeutungslos  ist  dieser  Kronoscultus  nicht,  Beziehung  auf  Zeus 
als  den  tbeogoniscben  Sohn  des  Kronos  hat  er  gleichfalls  nicht,  and 
aus  einer  Geltung  des  Kronos  als  Chronos  vermag  ich  denselben  nicht 
zu  deuten. 

Kehren  wir  nun  noch  einmal  zu  dem  eleiscben  Cultus  zurück,  so 
ist  freilich  zu  gestehn ,  dass  in  ihm  die  Natur  des  Opfers  und  die  mit 
diesem  im  Zusammenhange  stehende  des  Gottes  nicht  ausdrücklich, 
sondern  hauptsächlich  dessen  Alter  und  Unabhängigkeit  von  anderen 
Culten  angegeben  wird ,  dafür  aber  finden  wir  in  den  in  Kyrene  ge- 
feierten Kronien,  bei  denen  man  sich  nach  Macrob.  4.  7.  25  mit  Feigen 
bekränzte  und  mit  Kuchen  beschenkte ,  wiederum  Züge ,  welche  sich 
aus  der  ländlichen  Natur  des  Gottes,  dem  das  Fest  galt,  und  den  man 
nach  Macrobius'  ausdrücklichem  Zeugnisse  als  Spender  der  Baumfrucht 
und  des  Honigs  betrachtete ,  leicht  und  einfach ,  aus  irgend  einer  an- 
deren schwer,  wenn  überhaupt  erklären  lassen.  Dass  aber  diese  Kro- 
nien in  Kyrene  selbständig  entstanden  und  dass  sie  ausser  Zusammen- 
hange mit  uns  unbekannt  gebliebenen  Culten  des  Mutterlandes  waren, 
kann  vernünftigerweise  Niemand  behaupten,  ja  ich  glaube  filr  die  Zu- 
rückführbarkeit  derselben  auf  eine  Stiftung  der  Ägiden ,  die  allerdings 
nicht  bewiesen  werden  kann,  nach  der  Natur  der  ägidischen  haupt- 
sächlich agrarischen  Culte  und  nach  der  Geschichte  von  Kyrene  einige 
Wahrscheinlichkeit  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen,  die,  wenn  man  sie 
anerkennt,  uns  einen  tiefen  Hintergrund  der  Religion  erschliessen  und 
vielleicht  einst  auf  ihren  inneren  Zusammenhang  hinführen  würde. 

Hier  wird  es  nun  am  Orte  sein,  ein  paar  Nachrichten  in's  Auge 
zu  fassen,  welche  die  Verehrer  des  Gottes  angehn.  Plutarch  (de  nobil, 
20)  giebt  an ,  die  Menschen  unter  Kronos  seien  Landbauer  gewesen, 
was  auch  Welcker  S.  157  beiläufig  erwähnt,  aber  nur,  um  die  Be- 
merkung daran  zu  knüpfen ,  dies  passe  ganz  zu  der  volksmässigen  Art 
des  Festes ,  an  dem  die  Herren  sich  unter  die  Diener  mischen.  Dies  ist 
unbestreitbar  richtig;  aber  eben  diese  volksmassige  Art  des  Festes  in 
Verbindung  mit  der  Angabe,  die  das  Fest  Begehenden,  denn  diese  sind 
in  Plutarch's  Worten  bezeichnet,  seien  Bauern  gewesen,  und  dies  wie- 
der in  Verbindung  mit  den  von  Macrobius  übersetzten  Worten  des  Phi- 
lochoros:  delectari  enim  deum  honore  servorum  contemplatu  laboris, 
bezeichnet  wiederum  Kronos  als  den  Gott  des  Landbaus,  der  Bauern  und 
der  Knechte,  welchen  letzteren  in  den  entwickelten  Zuständen  griechischer 


93]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  93 

Staatsverfassungen  die  thälige  Landarbeit  wesentlich  and  hauptsächlich 
zufiel,  mit  denen  sich  aber  am  Kroaosfeste  die  vornehm  und  städtisch 
gewordenen  Herren  mischten,  sie  die  einst  selbst  die  wahren  Kronosver*- 
ehrer  waren,  denn  es  gab  zu  seiner  Zeit  keine  Sclaven ,  sagt  Kronos  bei 
Lukian.  Kronos  erscheint  in  diesen  Spuren  überwucherter  alter  Cultur  nnd 
Cnlte  sehr  ähnlich  dem  namentlich  von  Welcker  im  Anhange  zu  seiner 
Trilogie  S.  1 86  ff.  trefflich  beleuchteten  Dionysos  der  alten  Ziegenhirten 
und  Weinbauern,  und  es  ist  schon  von  vielen  Alten  und  Neuen  die 
weitere  Ähnlichkeit  der  dionysischen  Festlust  mit  der  Festlust  der  Kro- 
nien  in  Parallele  gezogen  worden ,  eine  Ähnlichkeit,  die  meiner  Über- 
zeugung nach ,  aus  der  Verwandtschaft  der  Wurzeln  beider  Culte  her* 
stammt.  Nur  dass  der  dionysische  Cultus  unter  vielen  und  harten 
Kämpfen  der  adeligen  Städter  gegen  seine  bauerischen  Träger,  unter 
Kämpfen ,  die  Niemand  besser  beleuchtet  hat,  als  Welcker  a.  a,  0. ,  all- 
mülig  in  die  Stadt  eindrang  und  sich  hier  festsetzte  und  herrlich  ent- 
faltete ,  ohne  dabei  alle  Elemente  seines  ursprünglichen  ländlichen  Cha- 
rakters einzubttssen,  während  der  Kronoscult  der  Kronien,  obgleich 
auch  er  in  die  Stadt  eingedrungen  ist,  mehr  und  mehr  den  wirklich 
thätigen  Landbauern,  den  Knechten  anheimfiel,  ohne  dass  deshalb  Kro- 
nos zum  Gotte  der  Knechte  und  Sclaven  geworden  wäre. 

Die  Natur  der  Kronoaverehrer,  nämlich  dass  sie  Bauern  seien,  geht 
auch  aus  den  von  Welcker  S.  4  58  f.  angezogenen  und  in  etwas  anderem 
Sinne  gedeuteten  Ausdrucken  der  Komödie;  Kqwmv  o£w  (Arist.  Nubb. 
398),  Äföytoc  (ib.  929)  Kp6voi  rpxytpdoi  (id.  Vespp.  4  480)  hervor. 
Welcker  meint,  diese  Ausdrücke  gehn  »altvaterische  Einfalt,  Be- 
schränktheit und  Altersschwäche«  an  und  knüpfen  sich  an  den  Begriff 
altväterlicher  Glückseligkeit  des  fabelhaften  goldenen  Zeitalters.  Bei 
näherer  Erwägung  aber  ergiebt  sich,  dass  dieselben  mit  Altersschwäche 
als  solcher  Nichts  zu  thun  haben ,  sondern  sich  auf  altväterliche  Einfalt, 
Beschränktheit ,  bäuerliche  Unbildung  im  Gegensatze  zu  der  modernen 
und  raffinirten  Cultur  und  Sophistik  beziehe,  und  dass  man  zu  ihrer  Ab- 
leitung nicht  auf  ein  fabelhaft  goldenes  Uralter,  so  populär  dessen  Bilder 
za  der  Zeit  gewesen  sein  mögen  ,197)  zurückzugreifen  nölhig  hat ,  son- 
dern nur  auf  ländliche,  bäuerliche  Sitten  und  Culte.  So  ist  das  RqovUav 


481)  Vsrgl.  Welcker  a.  a.  0.,  besonders   aber  Bergk,  de  reliquiis  csmoediae 
atticae  p.  4 93 sqq. 


91  J.  OVBRBBCK,  [94 

6£a>v  dem  Sokrates  in  den  Mund  gelegt,  der  mit  demselben  den 
Strepsiades ,  bekanntlich  überhaupt  und  ganz  besonders  in  der  hier  in 
Rede  stehenden  Scene  den  Typus  altväterlicher  Einfalt  und  Beschrankt- 
heit, Bäuerlichkeit,1*)  verhöhnt  und  zwar  als  dieser  altfromm  meint, 
den  Blitz  sende  doch  offenbar  Zeus ,  Meineidige  zu  strafen ,  worauf  ihm 
Sokrates  sein: 

%ai  TrcÜg,  ©  fiv>Qe  ov  xai  Kqoviwv  ögew  xai  ßixxeoeXtjve 
an  den  Kopf  wirft ,  was  Droysen  ganz  gut  mit : 

Wie,  was,  o  du  Narr,  altmodischer  Kauz,  Altweibergeschichten- 
erzähler 
übersetzt  hat.  Noch  charakteristischer  ist  es ,  dass  das  Kqopos  äv  von 
dem  äiixog  X6yog  gegen  den  dixcuog  gebraucht  wird ,  bekanntlich  der 
verkörperten  neuen  und  faulen  Bildung  gegenüber  dem  Vertreter  der 
alten  Einfachheit  und  Kraft,  Einfalt  und  Bäuerlichkeit.  Und  nicht  min- 
der deutlich  ist  der  Sinn  der  dritten  Stelle  in  den  Wespen,  wo  es  von 
Bdelykleon,  der  Parallelfigur  des  Strepsiades  als  Repräsentant  der  guten 
alten  Zeit,  heisst,  er  tanze  die  Tänze  der  Thespis  und  wolle  die  jetzt 
aufgeführten  Tragödien  —  im  Gegensatze  zu  den  wirklich  altmodischen  — 
als  Kqovoi  TQaytpöol,  d.  h.  als  altmodisches  Zeug  darthun,  wo  eine  an- 
dere Erklärung  gar  nicht  möglich  ist.  Dass  bei  diesen  Vertretern  der 
guten  alten  Zeit  an  eine  Ableitung  aus  dem  goldenen  Zeitalter  und  an 
einen  erst  durch  dieses  vermittelten  Bezug  zum  Eronos  gar  nicht  zu 
denken  ist,  muss  einleuchten,  womit  natürlich  nicht  entfernt  geläugnet 
werden  soll,  dass  in  anderen  Stellen,  wie  sie  Preller  in  der  neuen  Be- 
arbeitung seiner  Mythologie  S.  46  Note  S  anführt,  die  Ausdrücke  Kq6- 
vtoi  u.  s.  w.  so  gut  wie  Tanerol  und  Kodqoi  sich  auf  Alter  und  Alters- 
schwäche beziehn ;  ist  ja  doch  Kronos  auch  der  ye^wp  und  ryiytQw ! 
Wichtig  aber  ist  es,  die  in  den  angeführten  Stellen  vorhandene  Be- 
ziehung auf  altväterliche  Ländlichkeit  und  Einfalt  wohl  in's  Auge  zu 
fassen  und  von  dieser  anderen  getrennt  zu  betrachten. 

Und  wenn  denn  nun  die  Natur  der  alten  Eronos  Verehrer  auf  grie- 
chischem Boden  verdunkelt  worden  ist  und  mit  ihr  die  Natur  des  Gottes 
selbst,  so  ist  Beides  auf  italischem  Boden  im  Cultus  des  Saturnus  voll- 
ständig erhalten.   Es  ist  mir  allerdings  wohl  bewusst,  dass  von  den 


198)  apyotxog  m» o(a>v  rgvyog,  xQaawgf  igimv  niftovoietg,  der  seine 

Ziegen  hütet  dup&tpar  hw^ivog  (Nubb.  vs.  47,  50,  72). 


95]  Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  95 

Meisten  und  auch  von  Welcker  die  Herbeiziehung  des  Saturnus  zur  Auf- 
klärung des  griechischen  Kronos  perhorrescirt  wird,  dass  man  alle 
Zeugnisse  für  die  wirkliche  Identität  beider  Gottheiten  eben  so  bestimmt 
verwirft  wie  alle  jene  Nachrichten ,  die  von  einer  Übertragung  der  grie- 
chischen Kronien  als  Saturnalien  nach  Italien  reden.  Es  ist  gewöhnlich 
geworden ,  von  einer  späteren  Identificirung  des  Kronos  und  Saturnus 
und  von  einem  Synkretismus  ihrer  Mythen  zu  reden ,  aber  es  ist  nicht 
gehörig  beachtet,  dass  alle  die  Züge  in  den  Gülten,  aufweiche  es  für 
die  Erkenntniss  der  Natur  des  Gottes  in  Griechenland  und  Italien  an- 
kommt,190) echt  volkstümlich  und  gewiss  alt  sind,  während  die  theo- 
gonischen  Mythen  vom  Kronos ,  die  seine  alte  Gullnatur  Nichts  angehn, 
dem  Saturnus  nur  ganz  äusserlich  und  in  später  Mythencombination 
angedichtet  sind.  Eben  hierin  aber  liegt  ein  Fingerzeig,  um  die  Grenze 
des  späten  Synkretismus  und  der  alten  wirklichen  Identität  zu  erkennen, 
die  eine  verschiedene  Ent Wickelung  im  Einzelnen  nicht  ausschliesst ;  und 
was  diese  alte  Identität  anlangt  muss  ich  gestehn,  dass  ich  in  allen  neueren 
mythologischen  Schriften  vergebens  nach  einem  durchschlagenden  Ar- 
gument gegen  dieselbe  gesucht  habe.  Ich  kann  vielmehr  auf  diesem 
Punkte  mich  nur  gänzlich  mit  Buttmann  einverstanden  erklären,  der 
(Mythol.  2.  S.  29)  von  der  Identität  von  Kronos  und  Saturnus  ausgeht 
und  mehrfach  auf  dieselbe  zurückkommt  und  der  a.  a.  0.  schreibt:  »wer 
den  Saturnus  vom  Kronos  trennen  will ,  der  trenne  nur  auch  eben  so 
leichtsinnig  [dies  will  ich  nicht  gesagt  haben]  den  Yulanus ,  den  Mer- 
curius,  die  Diana,  die  Minerva  von  den  entsprechenden  griechischen 
Gottheiten,  von  denen  die  Namen  sie  trennen.«  Dass  aber  Saturnus 
wirklich  und  ganz  unzweifelhaft  Gott  des  Landbaus,  dass  seine  Verehrer 
Bauern  waren,  dieses,  was  Buttmann  in  Abrede  stellen  musste,  weil  er 
sonst  die  gleiche  Natur  des  Kronos  und  seiner  Verehrer  hätte  zugeben 
müssen,  dürfte  nach  den  neuesten  Forschungen  über  Namen  und  Culte 
des  Saturnus*00)  schwer  zu  bestreiten  sein. 

Wenn  sich  nun  in  diesen  Culten  und  Cultusspuren ,  so  fragmenta- 
risch und  verdunkelt  wir  sie  kennen  mögen ,  dennoch  als  gemeinsamer 


499)  loh  brauche  mich  nur  auf  das  zu  berufen,  was  6.  Sippel:  De  cultu  Sa* 
turni,  Marb.  1848.  S.  66  f.  als  Gründe  für  die  spätere  Identificirung  anführt,  es  sind 
eben  ao  viele  Zeugnisse  für  die  Identität. 

100)  Ich  verweise  auf  die  treffliche  Darstellung  Preller's,  Rom.  Mythol.  S.  408  ff. 


96  J.  Ovebbeck,  [96 

Erklärungsgrund  am  einfachsten  der  Glaube  an  einen  von  ländlicher  Be- 
völkerung angebeteten  Gott  ergiebt,  dessen  Obhut  man  die  im  Frühlinge 
bestellte  Saat  empfahl  und  dem  man  die  Fülle  und  den  Segen  der  Erndte 
dankte ,  so  ist  daraus  die  Vorstellung  des  im  goldenen  Weltalter  herr- 
schenden Eronos  so  leicht  abzuleiten,  dass  es  dazu  nicht  mehr  bedarf 
als  der  einfachen  Worte  Preller' s ,  Mythol.  1 .  43  (der  ersten  Auflage) : 
»als  Erndtegott  ist  er  zugleich  der  Herrscher  des  goldenen  Zeitalters, 
wo  ewige  Reife  und  ewige  Erndte  war,«  denn  wenn  Kronos  herrscht 
und  wo  er  herrscht  ist  Reife  und  Erndte ,  nur  dass  man ,  um  die  Vor- 
stellung zu  erschöpfen,  hinzusetzen  muss:  und  wo  die  Menschen  in  ein- 
fachen, von  allen  Mängeln  und  Übeln  der  Civilisation  unbeleckten  Zu- 
standen lebten  wie  die  bäuerlichen  Verehrer  des  Kronos  und  in  Freude, 
Friede  und  Brüderlichkeit,  wie  die  Herren  und  Knechte  an  den  Kronien. 
Denn  dass  in  der  That  diese  beiden  Vorstellungen  des  goldenen  Zeit- 
alters ,  die  eine  von  einer  Vorzeit  der  Unschuld  und  Einfall  und  die 
andere  von  einer  Zeit  der  üppigsten  Fülle  und  des  mühelosen  Genusses 
sich  mit  einander  verbanden  hat  am  ausführlichsten  Bergk  in  seinen 
Commentationes  de  reliquiis  comoed.  ant.  atticae  p.  188  sqq.  dargelegt 
und  Welcker  nicht  bestritten;  wie  aber  einerseits  nach  der  Natur  seiner 
Gaben  und  seiner  Feste,  andererseits  gemäss  der  Natur  seiner  Verehrer 
Kronos  zum  Repräsentanten  und  Herrscher  dieser  geträumten  goldenen 
Zeit  werden  konnte,  dies  scheint  mir  so  einfach  und  leicht  begreiflich 
wie  irgend  Etwas ,  und  ich  glaube ,  mich  für  das  Natürliche  und  Nahe- 
liegende einer  solchen  Ideenverbindung  und  Übertragung  auf  Welcker 
selbst  und  auf  das  berufen  zu  dürfen  v  was  er  über  die  Verbindung  der 
Kronien  mit  der  Idee  des  goldenen  Weltalters  gesagt  bat,  nachdem  ich 
gezeigt  habe,  dass  die  Art,  wie  er  sich  diese  Verbindung  hergestellt 
denkt,  irrig  sei. 

Ist  nun  aber  die  Ideenverbindung  zwischen  dem  Kronos  der  länd- 
lichen Culte  und  Erndtefeste  und  dem  Kronos,  Herrscher  der  goldenen 
Zeit,  so  wie  ich  sie  vermittelt  deuks,  richtig,  so  wird  es  erlaubt  sein/ 
die  unter  diesem  Gesichtspunkte  gewichtige  Tbatsache,  dass  man  aller- 
dings am  meisten  in  Athen,  aber  keineswegs  allein  daselbst  von  dem 
goldenen  Weltalter  und  seinem  Herrscher  Kronos  erzählte ,  mit  jenen 
oben  (S.  89)  bei  Seite  gelassenen  oder  zurückgestellten  Nachrichten  in 
Verbindung  zu  bringen,  nach  denen  allerdings  ganz  besonders  in  Athen 
(maxime  Athenis ,  Attius  b.  Macrob) ,  aber  keineswegs  in  Athen  allein 


97]  Beiträge  zur  Erkbnntntss  und  Kritik  der  Zgusreligion.  97 

die  Kronien  gefeiert  wurden ,  und  es  dürfte  hieraus  sich  eine,  vielleicht 
Manchem  unerwartete  Stütze  für  die  Glaubwürdigkeit  jener  Nachrichten 
ergeben,  welche  da  bezeugen,  dass  die  maxima  pars  Graium  die 
Kronien  gefeiert  habe  (Attius),  dass  Saturnaliorum  dies  apud  Grae- 
c  o  s  etiam  fest!  habentur  (Varr.  Flacc.) ,  dass  die  Kronien  seien  naqa 
toiq  "EXhjatp  Ioqttj  (Schol.  Aristoph.)  oder  eine  so^ttj  iXhjvixordrTi 
(Athen.).  —  Soviel  über  die  eine,  grössere  Hälfte  der  Kronosculte  in 
Griechenland,  welche  dem  Gott  in  seinem  segensreichen  Wirken  gelten. 

Über  die  andere  Hälfte  der  Culte  und  über  den  Mythus,  der  Kronos 
als  verderblichen  Gott  schildert,  glaube  ich  mich  kurz  fassen  zu  dürfen. 

Was  zuerst  die  Gülte,  nämlich  die  Menschenopfer  anlangt,  welche 
sich  bekanntlich  auf  Rhodos  und  Kreta  beschränkten,  so  steht  zunächst 
deren  Ursprung  nicht  fest,  und  man  kann  nicht  sagen,  dass  sie  dem 
griechischen  Kronos  und  nicht  vielmehr  dem  Kronos  genannten  Baal- 
Moloch  gegolten  haben ,  ich  meine  nicht  einem  mit  Baal-Moloch  identi- 
ficirten,  schon  vorhanden  gewesenen  griechischen  Kronos,  sondern 
pure  dem  ersteren ,  der  nur  hier  so  gut  wie  an  manchen  anderen  Orten 
Kronos  genannt  wurde.  Es  ist  dies  Welcker's  Ansicht,  der  ich  nur  dies 
Eine  entgegenstellen  möchte,  dass  sie  nicht  nothwendig  die  richtige  ist, 
so  viel  Wahrscheinliches  sie  auch ,  besonders  deswegen  für  sich  hat 
weil  wir  ähnliche  Culte  des  griechischen  Kronos  auf  griechischem  Bo- 
den nicht  finden.  Aber  erwiesen  ist,  soviel  ich  zu  sehn  vermag  trotz 
dem  Allen  noch  nicht,  dass  diese  rhodischen  und  kretischen  Menschen- 
opferculte  dem  phönikiscben  Baal-Moloch-Kronos  und  nicht  dem  grie- 
chischen Kronos  gelten,  und  als  möglich  muss  ich  dies  immer  noch  hin- 
stellen, wobei  als  nicht  unbedeutender  Incidenzpunkt  in  Rücksicht  kommt, 
dass  das  rhodische  Opfer  auf  den  6.  Metageitnion  (30.  Juli)  fiel,  also 
wenigstens  annähernd  mit  dem  attischen  Kronion  am  12.  Hekatombäon 
coincidirte  und,  worauf  es  hier  besonders  ankommt,  in  der  Zeit  des 
grössten  Sonnenbrandes  begangen  wurde.  Dass  in  einer  solchen  Zeit  dem 
griechischen  Kronos,  mag  er  auch  als  Gott  der  Reife  und  Erndte  verehrt 
worden  sein,  als  dem  im  Sonnenbrande  und  in  der  Dürre  der  Erde 
furchtbaren  Gotte  Menschenopfer  als  Sühnopfer  dargebracht  worden 
sein  können ,  und  zwar  nach  griechischer  Cultstiftung ,  das  möchte  ich 
nach  zahlreichen  Analogien  anderer  griechischer  Culte  weder  unmög- 
lich noch  überraschend  nennen.  Namentlich  dürfte  hier  einerseits  auf 
die  Culte  des  Zeus  Lykäos  und  Laphystios,  sicherer  Hitze*  und  Dürre- 

Abhandl.  d.  K.  S.  Gm.  d.WUi.  X.  7 


98  J.  OvERBECK,  [98 

götler  und  auf  die  Menschenopfer,  die  A pol  Ion  Tbargelios  als  Sühnopfer 
empfing,301)  zu  verweisen  sein  und  andererseits  auf  die  Menschenopfer, 
welche  dem  Dionysos  fielen,202)  da  dieser  als  Gott  der  vegetativen 
Fruchtbarkeit  und  Fülle  mit  dem  Kronos  als  dem  Gotte  der  Fülle,  Reife 
und  des  Erndtesegens  in  Parallele  tritt. 

Was  aber  den  Mythus  von  der  Kinderverschlingung  anlangt,  so  ist 
dieser  ganz  gewiss  nicht  aus  den  Menschen-  oder  Kinderopfern  des 
Kronos  abzuleiten,  sondern  er  beruht,  wie  auch  Preller  und  zwar  in 
der  früheren  Auflage  seiner  Mythologie  (4.  S.  43)  besonders  klar  an- 
gedeutet hat,  auf  der  natürlichen  Wirkung  derselben  Kraft  des  Gottes, 
welche  die  Erndte  zeitigt,  dann  aber  in  dörrendem  Sonnenbrande 
Alles  verzehrt ,  was  der  Gott  mit  einer  Gattin  Erde  —  denn  nur  eine 
solche  kann  ihm  zukommen ,  und  eine  solche  ist ,  ganz  von  der  Er- 
klärung ihres  Namens  abzusehn ,  begrifflich  auch  Rhea  —  erzeugt  hal. 
Nur  dass  man  diesen  Mythus  von  der  Kinderverschlingung  in  seinen 
Keimen  ganz  allgemein  verstehn  und  die  Substiluirung  der  mythisch - 
theogonischen  Kinder  des  Kronos  als  blosse  theogonisch-combinato- 
riscbe  Übertragung  oder  Anwendung  betrachten  muss.  Auf  diesem 
Punkte  muss  ich  der  namentlich  von  Lauer  (Syst.  d.  griech.  Mythol. 
S.  169)  entwickelten  Ansicht,  der  übrigens  auch  Preller  zuneigt v  ent- 
gegentreten ,  sofern  Lauer  die  Verschlingung  der  theogonischen  Kinder 
für  an  sich  bedeutend  hält,  und  Prelier  in  der  hesiodischen  Darstellung 
das  Princip  findet,  dass  das  Vollkommenste  stets  das  Letzte  und  des- 
wegen Zeus  der  Jüngste  sei  (Myth.  2.  Aufl.  1.  S.  47).  Dies  wage  ich 
als  bestimmt  irrig  zu  bezeichnen.  Denn  erstens  giebt  die  Verschlingung 
der  Kroniden :  Hestia ,  Demeter,  Here ,  Afdes  und  Poseidon ,  wenn  wir 
diese  Gottheiten  in  ihrer  Bedeutung  fassen,  wie  Lauer  wollte,  ein  ganz 
unwahres  und  unleidliches  Bild,  und  zweitens  sind  ja  diese  Gottheiten 
auf  keinem  anderen  Wege  zu  Kronos'  Kindern  geworden  als  auf  dem- 
jenigen des  combinatorischen  Mythus,  der  sie  zu  Geschwistern  des 
Zeus  machte.  Die  ganze  Entwickelung  ist  vielmehr  unzweifelhaft  diese : 
ursprünglich  bedeutsam  ist  nur,  dass  Kronos  alles  Gezeugte  wieder  ver- 
schlingt als  Gott  des  dörrenden,  verzehrenden  Sonnenbrandes,  den  Jeder 
zu  würdigen  wissen  wird,  der  z.  B.  die  sommerliche  oder  nachsommer- 


t04)  Hermann,  Gottesdienstl.  Alterthümer  §  60.  4,  17  ff.;  §  68.  4«. 
202)  Hermann,  a.a.O.  27.  4. 


99]  Beiträge  zur  Ebkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.  99  \ 

liehe  Campagna  di  Roma  kennt ;  die  Kinder  des  Kronos  aber  sind  ur- 
sprünglich entschieden  namenlos ,  die  ganze  Vegetation ;  dann  entstand 
der  Mythus  der  Zeus  zu  Kronos'  Sohn  machte  (von  dem  nachher),  weiter 
und  auf  anderem  Wege  der,  welcher  die  beiden  anderen  Götter  zu 
Zeus'  Brüdern  und  nach  dem  auch  im  Titanenmythus  hervortretenden 
Gesetze  des  Parallelismus  die  3  Göttinen  zu  seinen  Schwestern  stem- 
pelte ;  als  Zeus'  Geschwister  wurden  nun  diese  fünf  gleichfalls  zu  Kro- 
nide n,  und  als  solche  nun  erst  zu  den  von  dem  Vater  Verschlungenen. 
Da  sie  aber  grosse  Cultgottheiten  waren  und  als  solche  fortbestanden, 
also  nicht  verschlungen  sein  konnten,  musste  der  Mythus  von  Kronos' 
Entthronung  durch  Zeus  nothwendig  auch  auf  ihre  Rettung  durch  den 
auf  anderem  Wege  geretteten  und  in  Folge  der  Verschlingungsgeschichte 
aus  dem  Altesten  zum  Jüngsten  gewordenen  Zeus  ausgesponnen  werden, 
was  durch  die  Fabel  von  dem  Wiederausbrechen  der  Kinder  sowie  des 
statt  des  Zeus  verschlungenen  Steines  bewerkstelligt  wurde.  Dies  Alles 
aber  ist  einzig  und  allein  theogonische  Poösie ,  blosse  nothgedrungene 
Combination  ohne  den  leisesten  Anhalt  der  Bedeutsamkeit. 

Bedeutsam  dagegen  und  eine  blosse  Gonsequenz  des  ersten  Be- 
deutsamen, der  ursprünglichen  Kinderverschlingung  ist  es,  dass  Kronos 
als  Greis  erscheint,  ein  Bild  der  verlebten  Natur,  wie  Preller  (S.  46) 
wieder  richtig  sagt ,  der  Natur  die  im  Sonnenbrande  kahl  und  grau  und 
alt  geworden  ist.  Alle  weiteren  Schilderungen  aber  des  alten,  kahl- 
köpfigen, mürrischen  vertrockneten  Kronos  yiqwv  und  TQiyiqwv  sind 
Consequenzen  und  Ausmalungen  dieser  Anschauung,  welche  durch  die 
andere  Anschauung  von  der  Entthronung  durch  Zeus ,  von  des  Kronos 
Herrschaft  vor  der  des  Zeus  also  im  Uralterthum ,  wesentlich  unter- 
stützt wurde ,  und  in  der  That  so  befestigt  und  popularisirt  worden  ist, 
wie  es  uns  Schriftstellen  und  Kunstwerke  beweisen.  Dies  Alles  ist  ein- 
fach und  klar  auch  ohne  weitere  Worte;  schwierig  bleibt  nur  die  eine 
Frage ,  auf  welchem  Wege  Kronos  zum  Vater  des  Zeus  geworden  sei, 
eine  Frage,  deren  Beantwortung  wir  uns  jetzt  schliesslich  zuwenden, 
und  um  derentwillen  alles  Vorstehende  untersucht  und  ausgesprochen 
werden  musste. 


100  J.  OVBRBECK,  [400 


10. 


Welcker  fasst  die  Sache  kurz  wie  folgt :  »Unvermeidlich  war  es, 
sagt  er  (Götter).  1 .  S.  1 48)  dass  nach  der  patronymischen  Form  Kronion, 
Kronides  statt  der  blossen  Bedeutung  oder  des  Prädicats  Kronos  mythisch 
als  eine  Person  aufgefasst  wurde.«  S.  4  49  lesen  wir:  »zu  einer  Zeit,  wo 
etwa  Apollons  oder  anderer  Götter  Geburtsfest  als  das  Heiligste  gefeiert 
wurde,  durfte  der  Mythus  sich  nicht  scheuen,  auch  den  Kronos  als 
Vater  im  eigentlichen  Sinne  zu  fassen,  und  ihm  die  grosse  Göttin  zu 
vermählen,  die  wirkliche,  alte,  hochangesehene  Göttin  Rhea.«  Sodann 
S.  150:  »denkbar  ist  es,  dass  die  Dichtung  im  Zusammenhange  ge- 
standen habe  mit  dem  Obergang  von  den  Naturgöttern  zu  den  menschen- 
artigen. Denn  Zeus,  wenn  er  auch  nicht  aufgehört  hatte,  der  höchste 
Gott,  oder  Gott  vor  und  über  allen  Naturgöttern  zu  sein,  war  doch  auch 
Gott  eines  Naturreichs ;  durch  jenen  Mythus  aber  erfährt  er  scheinbar  [?] 
in  diesem  Bezug  eine  Umwandlung,  indem  er  unter  die  Götter  dieser 
neuen  Periode  nicht  als  Natur,  sondern  nur  als  Person  eintrat ,  eben  so 
wie  die  aus  ihm  geborenen  Götter.« 

Der  Vater  Kronos  also  wird  aus  Kronion  hypostasirt.  Die  Mutter 
aber  ist  eine  wirkliche  Gultgestalt  und  zwar  sie  nebst  dem  Kinde  und 
schon  vor  dem  Mythus ,  der  Kronos  zum  Vater  und  zu  ihrem  Gemahl 
machte.  Dies  finden  wir  weiter  ausgeführt  im  2.  Bande  der  Welcker' - 
sehen  Götterlehre  S.  216  ff.  in  dem  Capitel:  Rhea  und  das  Zeuskind 
oder  der  kretische,  kretageborene  Zeus. 

Rhea  nämlich  ist  die  phrygische  Kybele-Rhea,  deren  ursprüng- 
licher Name  nicht  Kybele,  sondern  Rhea  war  und  auf  Kreta  auch  blieb 
(S.  221),  «dasselbe  Wesen,  wie  die  grosse  Göttin,  Mutter,  JUä9  Mutter 
der  Götter,  auch  Kybele  der  Phryger«  (S.  218) ,  welche  mit  ihrem  Kinde 
auf  Kreta  in  Lyktos  (S.  216)  und  an  der  östlichen  Küste  in  der  diktäi- 
schen  Höhle  bei  Knossos  (S.  21 8)  Gült  hatte.  Dieser  Kybele-Rhea  eignet 
»nach  phrygischem  Urmythus«  ein  Kind ,  welches  sie  »für  sich  (de  soi) 
hervorbringt«  (S.  220.  Note),  ohne  dass  hierbei  ein  Vater  irgendwie  in 
Rücksicht  genommen  wurde ,  und  demgemäss  finden  wir  »bei  der  alten 
idäischen,  diktäischen  Höhle  keine  Spur  nicht  nur  von  einer  Verehrung 
des  Kronos  mit  der  Rhea,  oder  des  Kronos  allein,  oder  der  Geschwister 
des  Zeus«  (S.  224),   vielmehr  wurde  »die  eteokretische ,  phrygische 


404]        Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.        104 

Rhea,  die  Hauptgöttin  dieser  Lande,  der  sich  die  nach  Kreta  gewan- 
derten Dorier  zuwendeten ,  hier  nicht  als  Gattin  des  Kronos ,  sondern 
für  sich  mit  dem  Sohne  gefeiert«  (S.  227).  Und  andererseits  ist ,  nach- 
dem Rhea  von  den  Phrygem  zu  rein  genealogischen  Zwecken  entlehnt 
und  mit  dem  aus  Kronion  bypostasirten  Kronos  verpaart  war,  mit  dieser 
Entlehnung  »kein  Cult  der  Rhea,  der  Rhea  und  ihrer  Kinder,  oder  der 
Rhea  und  eines  Neugeborenen ,  in  einer  heiligen  Höhle  [dies  als  der 
Ursprüngliche  des  Rhea-Kybelecultus  nämlich]  irgendwo  verbunden, 
sondern  es  blieb  bei  der  genealogischen  Formel«  (S.  227). 

Das  Elternpaar  des  Zeus  also  kommt,  der  Vater  durch  Hypostase 
aus  Kronion ,  die  Mutter  durch  genealogische  Entlehnung  einer  wirk- 
lichen Muttergöttin  mit  einem  Kinde  zu  Stande ,  die  Verbindung  aber 
wird  bewirkt  durch  Identification  des  griechischen  Zeus  mit  dem 
phrygisch-eteokretischen  Kybelekinde.  Denn  der  griechische  Zeus  ist 
von  dem  kretischen  ursprünglich  «ganz  verschieden«  (S.  248,  220, 
226,  227  u.  and.  Stellen).  Der  kretische  Zeus,  das  Rheakind,  Atys  war 
»ursprünglich  ganz  im  Allgemeinen  Leben,  Frühling«  (S.  249),  und  ent- 
spricht vielmehr  dem  Dionysos ,  der  auch  mit  dem  Atys  vermischt  wird 
(S.  220) ;  er  ist  der  Gott  alles  Naturlebens  und  »von  dem  obersten  Gotte 
der  Griechen  so  gründlich  verschieden,  dass  wir  keinen  Anlass 
haben,  den  Namen  des  Zeus  auch  bei  dem  kretischen  Volksstamme, 
welcher  jenen  Nalurgott  von  jeher  verehrt  hatte ,  vorauszusetzen ,  viel- 
mehr annehmen  müssen,  dass  ihm  erst  die  Griechen  den  Namen  ihres 
höchsten  Gottes  beilegten,  »weil  er  dort,  wo  sie  sich  mit  den  Ein- 
geborenen einigten,  der  oberste  Gott  war«  (S.  227).  »Das  Merk- 
mal des  Höchsten  gab  hier  Anlass  zur  Verschmelzung«  (S.  228) ,  und 
wenn  Atys  Zeus  genannt  wurde ,  »so  ist  er  nur  örtlich  in  die  höchste 
Ordnung  gehoben,  wie  Aristäos-Apollon  in  Keos  auch  Zeus  hiess« 
(S.  220).  Diese  Identification  zu  vollenden  kommt  hinzu,  dass  »Zeus 
nicht  als  der  Herr  der  Welt ,  sondern  nur  physisch ,  als  Regen  aufge- 
fasst,  oder  Hyes  und  der  phrygische  Hyes-Sabazios  ganz  ähnliche  Fi- 
guren sind«  (das.)  »Der  Neugeborene  der  Rhea ,  der  im  Wesentlichen 
als  ein  Sabazios-FIyes  wie  in  Phrygien  zu  denken  ist,  wurde  Zeus  ge- 
nannt, da  Zeus,  blos  physisch  genommen,  mit  jenem  hinlänglich  über- 
einstimmte« (S.  228). 

Diese  ganze,  hier  nur  in  den  Hauptpunkten  ausgezogene  Combi- 
nation ,  geistreich  und  gelehrt  und  weit  aussehend  wie  sie  sein  mag, 


102  J.  Overbbck,  [402 

• 

und  so  viel  Scheinbares  sie,  besonders  in  der  Lehre  von  der  Identification 
des  Naturzeus,  Regenzeus  mit  dem  Atys  haben  mag,  bangt  wie  in  ihren 
beiden  Angeln  in  den  beiden  Behauptungen,  dass  einerseits  Kronos  aus 
Eronion  abgeleitet,  eine  theogoniscbe  Fiction,  keine  Cultgestalt  sei, 
und  dass  andererseits  Rhea  wirklich  mit  der  phrygischen  Kybele  i den- 
sisch ,  dass  sie  mit  dem  Zeuskinde  aus  der  phrygischen  grossen  Mutter 
mit  dem  ihr  eignenden  Atyskinde  hervorgewachsen,  nicht  aber  erst 
später  mit  der  phrygischen  Göttin  identificirt  oder  durch  Theokrasie 
vermischt  sei.  Dies  sieht  auch  Welcker  selbst  sehr  wohl  ein,  denn 
1.  S.  149  schreibt  er:  »Nur  weil  ihr  Name  und  Cult  fremd  und 
dunkel  waren,  konnte  sie  (Rhea)  mit  dem  ureinheimischen 
Kronos  verbunden  werden.« 

Über  die  Irrigkeit  der  Welcker' sehen  Ansichten  über  Kronos  und  über 
dessen  reale  Cultpersönlichkeit  kein  Wort  mehr.  Was  aber  Rhea  und  die 
Frage  über  ihre  ursprüngliche  Identität  oder  ihre  spatere  Vermischung  mit 
der  phrygischen  Kybele  anlangt,  ist  Welcker  früher  anderer  Ansicht  ge- 
wesen  als  er  jetzt  ist ,  indem  er  in  seinem  Werke  über  die  Aschylische 
Trilogie  Prometheus  S.  200  Folgendes  schrieb:  »die  häufige  und  ganz 
gewöhnliche  Vermischung  der  Kurelen  und  Korybanten  erklärt  sich  theils 
aus  der  Gemeinschaft  des  Standes ,  theils  aber  hat  sie  einen  natür- 
lichen und  mächtigen  Grund  in  der  bei  den  alten  Schriftstellern  eben 
so  häufigen  Verwirrung  der  phrygischen  und  lydischen 
grossen  Mutter  mit  der  kretischen  Rhea,  welche  erst  Zoega  in 
einer  meisterhaften  Abhandlung203)  gelöst  hat«,  was  er  auf  den  fol- 
genden Seiten  weiter  ausführt.  Nun  kann  mir  allerdings  Nichts  auf  der 
Welt  ferner  liegen,  als  Welckern  aus  dieser  Umkehr  seiner  wissen- 
schaftlichen Überzeugung  einen  Vorwurf  zu  machen ,  da  ich  den  Werth 
des  solonischen  yrjgdaxco  d'  aiei  noila  didaaxo/iepog  zu  würdigen  weiss, 
und  an  mir  selbst  recht  gründlich  zu  erfahren  hoffe;  allein  wo  wir 
einen  Mann  wie  Welcker  in  dieser  Art  mit  seiner  eigenen  Forschung 
und  Überzeugung,  die  er  auf  anderen  Punkten  durch  sein  ganzes  Leben 
so  energisch  festgehalten  hat,  im  stricten  Widerspruche  finden,  da  muss 
uns  dies  sehr  vorsichtig  machen ,  und  wir  müssen  von  dem  Welcker 
van  1859  sehr  starke  Beweise  gegen  den  Welcker  von  1824  verlangen, 
wenn  wir  jenem  statt  diesem  und  der  in  der  That  meisterhaften  Ab- 


203)   Bassirilievi  antichi  di  Roma  4 .  p.  45  sqq.  und  81  sqq. 


403]        Beiträge  zur  Erkbnntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.        4  03 

handlung  eines  Zogga  folgen  und  glauben  sollen.   Und  diese  starken 
Beweise  eben  sind  es,  die  ich  in  der  neuen  Ausfuhrung  vermisse. 

Allerdings  finden  wir  (Götter I.  2.  S.  221)  die  Behauptung  oder  An- 
nahme, Rhea  sei  der  ursprungliche  Name  gewesen,20*)  der  auch  in  Kreta 
nie  durch  die  spatere  Form  der  phrygischen  Kybele  verdrängt  worden : 
aber  er  stützt  diese  Annahme,  auf  welche  schliesslich  Alles  ankommt, 
und  durch  welche  ganz  allein  die  Frage  über  die  ursprüngliche  Einerlei- 
heil  oder  die  spätere  Theokrasie  von  Kybele  und  Rhea  entschieden  wer- 
den kann ,  auf  nichts  Anderes  und  Nichts  mehr,  als  auf  den  Vers  des 
Apollonios  Rhod.  Argon.  1.  1139: 

§6pßw  xal  rvnavfp  'Psir/v  <P(*uy€$  iXaomvro, 
ferner  auf  Lukiau  de  sacrificat.  5.  1 0  ö  Mvyd6viog  oeßci  tt/v  'Pdav  und 
darauf,  dass  Sophokles  im  Philoktet  (393)  den  Chor  die  fi^rtjff  avrov 
Jiix;  als  oQeorBQa  rca/ußcori  Ta  anrufen  lässt,  womit  er  allerdings  auf  die 
prjrrjQ  oqhtj  d.  i.  die  Kybele,  die  troisch-phrygische  Göttin  anspielt. 
Aber  diese  Stellen  können  absolut  Nichts  beweisen ,  da  sich  die  sopho- 
kletecbe  durch  die  Annahme  der  bereits  —  und  zwar  bereits  seit  lange 
—  vollzogenen  Theokrasie  vollkommen  erklart,  und  da  der  .Name  Rhea 
in  den  beiden  anderen  Stellen  ungenauer  Ausdruck  ist,  desselben  Schla- 
ges wie  in  der  Opposition  des  Demetrios  von  Skepsis  gegen  Euripidea 
bei  Strab.  10.  p.  472.  20,  die  auch  Welcker  anfuhrt:  Rhea  sei  nicht  in 
Kreta,  sondern  nur  in  Phrygien  und  Troas  verehrt  worden,  wer  anders 
rede,  der  spreche  mythologisch,  nicht  historisch.  Hier  meint  Demetrios, 
wie  dies  auch  Welcker  in  seiner  Trilogie  S.  204  ganz  klar  und  richtig 
beleuchtet,  Kybele,  die  Euripides  in  den  Bakchen  (vs.  59,  75,  103) 
wirklich  mit  Rhea  confundirt,  und  deren  Namen  er  mit  dem  der  Rhea 
promiscue  gebraucht,  und  er  kann  nur  Kybele  meinen,  da  ihm  der  Rhea- 
dienst  und  dieRheasage  auf  Kreta  unmöglich  unbekannt  sein  konnte,  und, 
wie  aus  den  Worten  selbst  hervorgeht,  sehr  wohl  bekannt  war.  Er  op- 
ponirt  also  gegen  die  Vermischung  von  Kybele  und  Rhea  und  wenn  wir 
nun  gleichwohl  im  Texte  Strabon's  den  verkehrten  Namen  Rhea  statt 
Kybele  finden,  so  ist  zunächst  an  eine  momentane  Gedankenlosigkeit 
Strabon's  beim  Excerpiren  zu  denken.  Denn,  so  gelaufig  vermöge  der 
Theokrasie  der  Name  Rhea  für  Kybele  geworden  ist,  reden  genaue 

204)  Über  seine  Ableitung  vergl.  Preller,  Griech.  Mythol.  2.  Aufl.  k .  S.  502.  Note 
3.  Welcker's  Annahme,  der  Name  stamme  aus  i'ga  mit  Lautverschiebung  (GÖtterl.  2. 
S.H6)  scheint  mir  nicht  sehr  plausibel,  viel  eher  mochte  ich  Preller's  Vorschlag  folgen. 


104  J.  OVERBECK,  [404 

Schriftsteller,  da  wo  sie  von  der  phrygischen  Göttin  sprechen,  nie  von 
Rhea,  sondern  setzen  die  anderen ,  d.  h.  die  wirklichen  asiatischen  Na- 
men. So  berichtet  Herodot  (5. 102),  die  einheimische  Göttin  von  Sardes 
sei  Kybele  (nicht  Rhea);  ebenso  Strabon  (10.  p.  469.  12),  die  Berekyn- 
ten,  ein  phrygischer  Stamm,  verehrten  Rhea,  d.  h.  die  mit  der  griechi- 
schen vermischte  Göttin,  und  sie  nennen  sie,  nicht  etwa  Rhea,  sondern: 

/nt]T6()a  &mv  xai  "sfydiOTW  xai  <pQvyiav  &aov  /uydktjv xai  'Idaiav 

xai  ^/ivdvfujvtjv  xai  JSmvtyvtjv  xai  Ileoaivovvrida  xai  Kvßektjv  [xai  Kv~ 
ßyßtjv  Meineke].  Ebenso  p.  470.  15,  wo  er  von  der  Vermischung  des 
Dionysischen  mit  dem  Phrygischen  spricht,  sagt  er  wiederum  von  den 
Phrygern,  sie  nannten  Rhea :  Kybele,  Kybebe,  Dindymene,  aber  nicht 
Rhea ;  und  in  Kyzikos  kennt  er  (1 .  p.  45)  wohl :  die  fi^rtjQ  'Idaia,  (1 2. 
p.  575.  11)  die  fujrtjQ  z/ivdv/urjvt],  (13.  p.  589.  17)  /utjr^og  &ewv  Uqov 
ayiov  TtiQeirjg  cnixakovfuvov,  nirgend  aber  Rhea;  und  auch  Pausanias, 
wo  er  (8.  47.  4)  über  Kyzikos  und  Prokonnessos  berichtet,  sagt:  äyakfia 
MtjTQog  JipdvfiyvrjQ  aber  nicht  Rhea's;  ebenso  spricht  er  bei  Pessinus 
(1.  4.  5)  von  "AydimiS)  bei  der  Steunoshöhle  (10.  32.  3)  von  MtjrQog 
uqov  und  äycd/ua  aber  nimmer  von  Rhea.  Und  ganz  gleicherweise  wird 
von  keinem  der  bei  Zoega  (a.  a.  O.  S.  83.  6)  angeführten  Schriftsteller, 
die  von  dem  Cult  von  Berekyntos  handeln,  die  Göttin  Rhea  genannt, 
und  Gleiches  gilt  wiederum  von  den  Gülten  auf  Sipylon  (Zoega  a.  a.  O.  7) 
und  von  den  sonstigen  asiatischen  Gülten.  Und  demnach  stellt  sich  die 
Sache  so,  dass  allerdings  von  nicht  wenigen  griechischen  Schriftstellern, 
vonEumelos  an203)  Rhea,  die  griechische,  theogoniscbe  Mutter  des  Zeus 
Kybele,  oder  Bergmutter ,  auch  Dindymene  genannt  wird,  von  keinem 
aber  ausser  von  den  zwei  von  Welcker  angeführten,  unter  diesen  Um- 
ständen am  allerwenigsten  schwer  wiegenden,  die  asiatische  Göttin, 
unter  so  mancherlei  Namen  sie  immer  auftreten  mag,  Rhea,  ein  deut- 
licher und  entscheidender  Beweis  allein  schon  dies,  um  von  alle  dem 
Anderen,  was  Zoega  mit  eben  so  grossem  Scharfsinn  wie  umfassender 
Gelehrsamkeit  geltend  gemacht  hat,  abzusehn,  dass  wir  es  wirklich  mit 
Synkretismus  und  Theokrasie  zweier  getrenntep  Gestalten,  und  nicht  mit 
ursprünglicher  Einheit  bei  nur  scheinbarer  Verschiedenheit  zu  thun  ha- 
ben, und  dass  der  Name  der  asiatischen,  phrygisch-troischen  Göttin 
nicht  ursprünglich  Rhea  gewesen  sei,  wie  Welcker  annimmt  und  worauf 

205)  Schol.  II.  6.  4  30,  Gerhard,  Griech.  Mythol.  §  444.  3,  Zogga  a.  a.  O.  S.  88. 
16ff. 


405]        Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.        105 

er  seine  ganze  Combination  baut  und  bauen  muss,  wie  er  dies 
selbst  anerkennt  in  den  bereits  angezogenen  Worten:  »nur  weil  ihr 
Name  und  Cultus  fremd  und  dunkel  waren,  konnte  sie  mit  dem 
ureinheimischen  Eronos  verbunden  werden.«206)  Fallt  aber 
dieser  Grund,  auf  welchem  das  ganze  Gebäude  ruht,  so  können  wir  für 
unsere  Zwecke  ein  näheres  Eingehn  auf  die  Lehren  Welcker's  über  den 
»phrygischen  Urmythus«  von  der  Mutter  mit  ihrem  Sohne,  der  nach  ihm 
durch  semitische  Einflüsse  getrübt  worden  wäre,  entbehren.  Denn,  sind 
Kronos  und  Rhea  nicht  auf  dem  Wege,  den  Welcker  annimmt,  zu  Gatten 
und  zum  Elternpaar  des  Zeus  geworden,  so  kann  auch  nicht  jene  Iden- 
tification des  Zeus  mit  dem ,  ursprünglich  ganz  im  Allgemeinen  Leben, 
Frühling  bedeutenden  Sohne  der  phrygischen  Göttermutter  stattgefunden 
haben ,  die  Welcker  lehrt.  Und  weiter  folglich  kann  auch  der  Mythus 
von  der  Geburt ,  dem  Geborenwerden  des  Zeus  nicht  ursprünglich  an 
Rhea  haften,  was  allein  schon  daraus  hervorgeht,  dass  er  in  diesem 
Falle  und  so  wie  Welcker  sich  die  Sache  denkt  t  hundertmal  für  einmal 
Sohn  Rhea's  heissen  müsste.307)  Und  wenn  sich  nun  die  Sache  so  stellt, 
dass  Kronos,  den  Welcker  als  blosse  theogonisch-genealogische  Fiction 
und  Abstraction  betrachtet,  eine  wirkliche  Gultgestalt  ist,  so  kann  im 
Gegensatze  hierzu  Rhea  nicht  die  wirkliche  Göttin  benachbarter  Stämme, 
sondern  grade  sie  muss  eine  ausgedachte  theogonische  Potenz  sein  wie 
Leto,  Maias  u.  A.,  die  Welcker  1.  S.  1 48  ablehnend  vergleicht,  und  folg- 
lich haben  wir  uns  den  ganzen  Geburtsmythus  des  Zeus  anders  zu  er- 
klären, haben  wir  zu  versuchen  uns  die  Hergänge  bei  dessen  Entstehung 
anders  vorstellig  zu  machen  als  Welcker  sie  dargestellt  hat. 

Dieses  beziehe  ich  aber  nicht  auf  das  Grundmotiv  des  Mythus,  dass 
Zeus  überhaupt  zu  einem  Geborenen  geworden  ist,  vielmehr  glaube  ich, 
wie  ich  dies  auch  schon  oben  (S.  24)  ausgesprochen  habe,  dass  Welcker 
eben  dies  Grundmoliv  als  solches  vollkommen  aufgedeckt  hat,  indem  er 
an  das  Geborensein  und  die  Geburlsfeste  der  anderen  Götter  als  das 
Heiligste  in  ihrem  Cultus  erinnert.   So  gut  wie  alle  Gölter  zuerst  ewige, 


206)  Dass  auch  Preller,  griech.  MylhoL  2.  Aufl.  S.  47  und  S.  502 ff.  Rhea  für 
nicht  reingriechisch  erklärt,  sondern  sie  aus  der  kleinasiatischen  Bergmutter  und  Kybele 
ableitet,  hat  mich  wohl  bedenklich  gemacht,  aber  kann  mir  die  Überzeugung  von  der 
Richtigkeit  meiner  Ansicht  nicht  rauben. 

207)  Vergl.  oben  S.  62,  wo  nach  Welcker  bemerkt  ist,  dass  Homer  Zeus  nie  Sohn 
Rhea's  nennt. 


106  J.  OVERBBCK,  [406 

aeiyev&tai  sind  und  dann  zu  geborenen  worden  und  Ellern  erhielten,  so 
gut  inusste  dies  bei  Zeus  geschehn,  wenn  nicht  in  die  Grundanschauungen 
der  Religion,  in  ihre  Ideen  von  den  Göttern  und  von  ihrem  Wesen  ein 
nimmer  erträglicher  Zwiespalt  kommen  sollte,  wozu  dann  noch  die  Thal- 
sache  kommt,  dass  «Genealogien  aufwärts  die  Würde  erheben  und  er- 
klären sollen,  anstatt  das  Wesen  der  Person  als  minder  umfassend  dar- 
zustellen«, wie  Welcker  abermals  mit  der  klarsten  Einsicht  schreibt  (1. 
S.  1 42).  Im  Grundprincip  also  kann  ich  mich  Welckern  durchaus  an- 
schliessen,  es  kommt  nur  auf  dessen  Anwendung  und  Consequenzen  an. 
Und  hier  glaube  ich  macht  die  Geburtssage  des  Apollon  und  des  Hermes 
vollends  Alles  klar.  Denn ,  so  wenig  Zeus  von  Anfang  an  Kronos'  und 
Rhea's  Sohn  war,  grade  so  wenig  war  Apollon  von  Anfang  an  und  in 
seinen  mannigfaltigen  ältesten  Culten  Sohn  des  Zeus  und  der  Leto,  Her- 
mes derjenige  des  Zeus  und  der  Maias,  mau  nannte  vielmehr  für  Beide 
weder  Vater  noch  Mutter.  So  gut  aber  Apollon  und  Hermes  zu  Söhnen 
des  Zeus  geworden  sind,  und  zwar  dem  Prinzip  nach  auch  auf  demsel- 
ben Wege  ist  Zeus  zum  Sohne  des  Kronos  geworden.  Als  das  mytho- 
logische Bedttrfniss  eingetreten  war,  diese  Götter  als  geboren  zu  fassen, 
da  suchte  man  ihnen  Väter;  da  machte  man,  und  zwar  zunächst  örtlich, 
Apollon  den  Gott  des  himmlischen  Tageslichts,  den  Helios-Apollon,  wie 
ihn  Welcker  wenigstens  begrifflich,  wenn  auch  schwerlich  mythologisch 
richtig  nennt,  zum  Sohne  des  lichten  Himmels  und  einer  erfundenen 
Mutter,  bedeute  diese,  Leto,  nun  Nacht  oder  was  sonst;  den  Hermes  als 
Gott  der  Wolken  und  als  solcher  im  Regen  Vermittler  des  Himmels  und 
der  Erde,  der  Ober-  und  Unterwelt  und  Ausrichter,  didxroQog  des  Hirn* 
mels,  zum  Sohne  des  Wolkenhimmels  des  Zsvg  xekaiveiptjg  noch  mehr 
als  r€(peX7jye()6T?is,  und  einer  abermals  erfundenen  Muttergöttin,  Maia 
oder  Maias,  die  wohl  nicht  mehr  als  dies  ist.208)  Und  so  wie  in  diesen 
beiden  Fällen  der  Vater  wirkliche  Cultgestalt  ist,  während  die  Mütter 


208)  So  auch  Lauer,  System  d.  griech.  JUythoI.  S.  tl\  und  Preller  griech.M^thol. 
2.  Aufl.  1.  S.  298;  Welcker,  Gölterl,  1.  S.  344  widerspricht,  der  Form  Äfatug  wegen; 
dies  jedoch  ist  nicht  stichhaltig,  da  Maiag  nur  die  Individualform  neben  dem  Appella- 
ti vum  fxaia  aus  pä  sein  kann ;  der  einzige  Grund,  den  man  mit  Recht  gegen  diese  An- 
sicht geltend  machen  kann  ist,  dass  Hermes  Maiadtvg  und  Matadtig  heisst,  was  auf 
eine  prägnante  Bedeutung  des  mütterlichen  Namens  hinweist;  da  aber  dieser  Name 
Maiadeus  auch  nicht  in  ältester  Poösie  und  nicht  vor  Hipponax,  vielmehr  nur  bei  die- 
sem  vorkommt,  so  ist  es  schwerlich  gewagt ,  hier  ein  Misversfändniss  oder  ein  Nicht- 
verslehen der  Bedeutung  anzunehmen. 


407]        Beiträge  zur  Erkenntniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.        4  07 

nur  fictiv,  theogonisch  gedichtet  sind ,  und  deswegen  auch  nur  in  dem 
Iheogonischen  Mythus  ,  in  Beziehung  auf  die  Geburt  der  Kinder  und  in 
dem  was  mit  dieser  nothwendig  zusammenhangt  lebendig,  im  Cult  nur 
der  Kinder  wegen  berücksichtigt  sind:  grade  so  ist  auch,  wie  ich  gezeigt 
habe,  der  Vater  des  Zeus  eine  wirkliche  Cultgestalt,  und  scheint  die 
Mutter  Rhea  eine  theogonische  Fiction,  die  in  Allem  was  wir  von  ihrem 
Mythus  und  von  ihrem  Cultus  wissen,  mit  Leto  ganz  auf  einer  und  der- 
selben Stufe  steht. 

Es  bleibt  uns  nun  nur  noch  die  Beantwortung  der  Frage  übrig,  wie 
kommt  Zeus  zu  den  Eltern,  oder  speciell,  wie  kommt  er  zu  dem  Vater, 
Kronos,  den  die  Theogonie  ihm  giebt? 

Hier  könnte  man  sich  versucht  fühlen  die  Lösung  aus  dem  Begriffe 
des  Kronos,  nicht  sowohl  als  Herrscher  der  goldenen  Zeit,  wie  ihn  Butt- 
mann nicht  zum  besten  fasste,  als  vielmehr  als  Vertreter  der  Urzeit,  der 
titanischen  Zeit  und  als  Vertreter  einer  obsolet  gewordenen  Cultur  und 
Religion  abzuleiten.  Welcker  selbst  deutet  einen  derartigen  Gedanken 
wenigstens  im  Vorübergehn  an,  wenn  er  1.  S.  1 48  schreibt:  »es  ist  mög- 
lich ,  dass  die  Idee  des  Kronos  als  Urzeit,  Frühling  aller  Zeiten,  dem 
Glauben  an  eine  dem  Zeus  vorangegangene  Dynastie  zu  Hilfe  gekommen 
ist,«  allein  mit  Recht  bemerkt  er  das.  S.  1 56  »die  Dichtung  von  den  Welt- 
altern steht  in  keinem  inneren  Zusammenhange  weder  mit  dem  Götter- 
kampfe noch  mit  Zeus  und  der  Religion  überhaupt,  und  ist  nicht  durch 
sie  entsprungen.«  Auch  ist  unerweislicb ,  dass  die  Dichtung  von  den 
Weltaltern  älter  oder  auch  nur  so  alt  sei,  wie  der  Geburtsmythus  des 
Zeus.  Aber  auch  aus  dem  Mythus  vom  Titanenkampfe,  in  welchem  Kro- 
nos als  das  Haupt  der  gestürzten  Dynastie  erscheint,  kann  man  die  Vater- 
schaft des  Kronos  deswegen  nicht  ableiten ,  weil  keine  Spur  vorhanden 
ist,  dass  Kronos  vor  dem  fertigen  theogoniseben  Mythus  oberster  Gott, 
Haupt  einer  Götterdynastie  gewesen  ist,  wozu  er  vielmehr  erst  als  Vater 
des  Zeus  und  in  Folge  des  Titanenmythus  geworden  zu  sein  scheint,  so 
dass  wahrscheinlich  der  Geburtsmvthus  des  Zeus  und  die  Vaterschaft 
des  Kronos  alter  ist,  als  der  Titanenroy  thus,  und  diesen  wenn  auch  nicht 
in  seinem  Wesen,  so  doch  in  seiner  Form  bestimmt  hat. 

Überdies  haben  wir  uns  daran  zu  halten,  dass  der  Mythus  von 
Zeus9  Geburt  ein  kretischer,  von  Kreta  ausgegangen  ist,  wo  vollends 
keine  Spur  einer  solchen  Dynastenstellung  des  Kronos  vorhanden  ist 
noch  auch  davon,  dass  von  hier  der  Mythus  vom  Titanenkampfe  in  sei- 


i\ 
i 


108  J.  0 VERRECK,  [408 

ner  Idee  ausgegangen  wäre.  Folglich  müssen  wir  die  Erklärung  im  kre- 
tischen Zeuscult  suchen,  und  es  wird  sich  hauptsächlich  darum  handeln, 
ob  sich  darthun  lässt,  dass  der  kretische  Zeus  so  aufgefasst  worden  ist, 
dass  er  zum  Sohne  des  Kronos  als  des  Gottes  der  Fülle  und  der  Reife, 
der  tellurischen  Fruchtbarkeit  gedichtet,  dass  dem  Zeus  in  einem  solchen 
Gotte  ein  Vater  gesetzt  werden  konnte. 

Grosse  Theile  dieser  Untersuchung  hat  schon  Welcker  vorweg  ge- 
nommen und  Manches  von  dem ,  worauf  es  ankommt,  so  bestimmt  and 
klar  ausgesprochen ,  dass  ich  seine  eigenen  Resultate  in  dieser  gegen 
ihn  gerichteten  Darstellung  verwenden  kann.  Vor  allen  Dingen  ist  der 
Satz  richtig ,  dass  sich  der  Geburtsmytbus  an  Zeus  als  einen  in  der  Na- 
tur, und  zwar  auf  dem  Gebiete  vegetativer  Fruchtbarkeit  als  Hyes  wal- 
tenden Gott  anknüpft,  der  sich  sachlich  vollkommen  mit  Hyes-Sabazios 
und  mit  Dionysos  vergleichen  lässt,  und  den  Welcker  wiederholt  als 
Gott  des  Naturlebens  bezeichnet.  Nur  durfte  er  diesen  nicht,  wie  er  es 
doch  mit  so  gar  gewaltigem  Nachdruck  thut,  von  dem  Zeus  der  Griechen 
als  schlechtbin  verschieden ,  grundverschieden  hinstellen;  denn  grund- 
verschieden ist  dieser  kretische  Zeus  wohl  von  dem  homerischen,  poe- 
tisch national  gesteigerten  und  abgeklärten  Herrscher  und  Vater  der 
Götter  und  Menschen ,  aber  durchaus  nicht  von  dem  Zeus  vieler  ört- 
lichen Naturculte  in  anderen  Gegenden  Griechenlands,209)  namentlich 
nicht  von  dem,  der  mit  einer  Gattin  Erde,  sie  heisse  Gäa,  Dione,  Here, 
Demeter  oder  wie  immer  sonst  verpaart,  mit  dieser  im  warmen  Früh- 
lingsregen alles  Blühen  und  Gedeihen  der  Natur  zeugt,  nicht  schafft. 
Nur  in  sofern  kann  man  den  kretischen  Zeus  des  Naturlebens  von  dem 
mit  der  Erdgöttin  zeugenden  anderer  Gülte  verschieden  nennen,  als  er 
in  Kreta  noch  stricter,  als  in  anderen  Gülten  an  das  Gebiet  des  Natur- 
lebens  der  Erde  gebunden  erscheint,  und  zwar  bis  zu  dem  Grade,  dass 
er,  wie  Dionysos,  mit  dem  Leben  der  Natur  auch  absterbend  gedacht, 
dass  sein  Grab  wie  das  des  Zagreus-Dionysos  gefeiert  werden  konnte. 
Aber  auch  darin  hat  Welcker  Unrecht,  dass  er  2.  S.  217  behauptet,  in 
Kreta  selbst  oder  in  Beziehung  auf  Kreta  und  den  kretischen  Zeus  sei 
sonst  niemals  von  mehr  als  dem  Kinde  und  dann  auch  von  dem  Grabe 


209)  Es  genügt  auf  das  hinzuweisen,  was  über  Naturculte  des  Zeus  bei  Welcker 
Götterl.  2.  S.  193  ff.  unter  der  Überschrift :  einzelne  Bezüge  des  Zeus  zusammengestellt 
ist,  obwohl  sich  das  hier  Gesagte  noch  vermehren  liesse ;  vergl.  Lauer  a.  a.  0.  S.  K  96  ff., 
wo  freilich  Vieles  und  manches  Verkehrte  durcheinander  steht. 


*09]        Beitrage  zdr  Erkefintniss  und  Kritik  der  Zeusreligion.        409 

die  Rede,  vielmehr  erscheint  der  kretische  Zeus  demjenigen  anderer 
Localculte  auch  darin  verwandt,  dass  er,  wie  jene,  eine  Gattin  Erde  hat, 
die  Hellotis  Europe  nämlich,  mit  der  er  in  Stier-  d.  h.  in  Flussgestalt 
zeugt,  und  die  mit  Sonne  und  Mond  und  dergleichen  nicht  das  Entfern- 
teste zu  thun  hat,  sondern,  was  ich  freilich  erst  in  einer  eigenen  Ab- 
handlung nachweisen  kann,  eine  so  sichere  Erdgöttin  ist  wie  irgend  eine 
der  mit  Zeus  gepaarten  Göttinen,210)  sie  mögen  Gäa,  Dione,  Here,  Deme- 
ter oder  Io  heissen,  denn  auch  diese  gehört  in  diesen  Kreis«  Auch  darf 
man  den  Zeussohn  Minos,  und  die  Gestalt  des  Zeus ,  der  mit  diesem  in 
geheimer  Grotte  die  ennaeterischen  Zusammenkünfte  hat,  und  ihm  die 
Gesetze  verleiht,  durch  welche  Kreta  regiert  wird,  wie  Sparta  durch  die 
Rhetra  des  delphischen  Apollon ,  nicht  so  ganz  und  gar  aus  den  Augen 
verlieren  wie  es  Welcker  thut,  wenn  er  sagt,  bei  dem  kretischen  Zeus 
sei  nur  von  der  Geburt  und  dem  Grabe  die  Rede« 

Allerdings  aber  kommt  es  für  unseren  Zweck  hierauf  kaum ,  dage- 
gen wesentlich  darauf  an ,  dass  der  kretische  Zeus  in  eminenter  Weise 
Gott  des  Naturlebens,  der  vegetativen  Fruchtbarkeit  sei.  Einen  solchen 
Gott  als  ewigen,  nicht  geborenen  und  unendlichen  hinzustellen  ist  nicht 
allein  fernliegend,  sondern  würde  gradezu  unnatürlich  sein,  um  so  mehr, 
je  naturgemässer  mit  der  auflebenden  Natur  des  Frühlings  sich  der  Be- 
griff der  Jugend ,  eines  jugendlichen  Gottes  derselben ,  so  gut  wie  mit 


%i0)  Schwende  sagt  in  seiner  Griech.  Mythologie  S.  56  unter  Anderem :  »Zeus 
ward  auf  Kreta  als  Stier  verehrt,  nämlich  als  Urheber  der  Fruchtbarkeit,  welche 
der  Himmelskönig  durch  Witterung,  insbesondere  durch  Regen  giebt.«  »Deshalb  zeugt 
er  als  kretischer  Stier  mit  der  kretischen  Göttin  Europe,  seiner  Gattin.c  »So  wie  Zeus 
mit  Here  zeugt  im  Lenze,  wenn  der  Kukkuk  ruft,  so  zeugt  er  in  Kreta  mit  Europe  als 
krokosbauchender  Stier  ebenfalls  im  Lenz,  denn  das  Blühen  der  Natur  ist  diese 
Zeugung.«  Alles  dies  ist  vollkommen  richtig  und  wird  auch  noch  dadurch  bestätigt,  dass 
in  der  Münze  von  Gortys  in  Mionnet's  Empreintes  No.688  auf  dem  Scepter  der  Europe, 
wie  auf  demjenigen  der  polykleitischen  Here  in  Argos,  der  Kukkuk  sitzt,  das  Symbol 
des  liQog  yapoq  im  Frühling.  Dass  gleichwohl  Europe,  richtiger  Hellotis  Europe,  denn 
Hellotis  ist  ihr  Cult-,  Europe  wie  bei  Demeter  nur  ihr  Beiname  (Sleph.  Byz.  nQvttQOv 
yag  ixakino  'Ekkanig  [Grotys  nämlich] ,  ovtcd  yaQ  naga  Kqtjoiv  [auch  in  anderen 
Städten  z.B.  Knossos]  Evqcotitj),  ftirSchwenck  Himmelsgöttin  wie  bei  Anderen  Mond- 
göttin ist,  gehört  mit  zu  der  unbegreiflichen  Verblendung  derer,  welche  nicht  begreifen 
können,  was  doch  Welcker  in  Beziehung  auf  Here  so  sonnenklar  gemacht  hat,  dass  der 
himmlische  Zeus  im  Frühlingsregen  nicht  den  Himmel  (oder  gar  den  Mond!)  befruchten, 
nicht  mit  dem  Himmel  oder  dem  Mond  Blumen  und  Kräuter,  Gras  und  Getraide  er- 
zeugen kann,  sondern  einzig  und  allein  mit  der  Erde.  Doch  dies  nur  beiläufig;  Europe 
und  die  eben  so  verkannte  Io  behalte  ich  mir  eigens  zu  behandeln  vor. 


110  J.  Overbbck,  Beiträge  zur  Kritik  der  Zeusreligion.  [110 

der  herbstlich  absterbenden  Natur  sich  der  Begriff  des  Alters,  eines  al- 
ternden ,  endlich  leidenden  und  gestorbenen ,  begrabenen  Gottes  eben 
dieser  Natur  verbindet.  War  nun  Zeus  auf  Kreta  wesentlich  ein  solcher 
Gott  des  Naturlebens,  der  jung  auflebenden  und  der  alternd  absterben* 
den  Natur  wie  Dionysos,  so  war  ein  Mythus  von  seiner  Geburt  so  gut 
wie  unvermeidlich.  Und  nun  scheint  mir  auch  der  Rest,  nämlich  die 
Verknüpfung  dieses  Mythus  mit  Krön os  nicht  mehr  fern  zu  liegen,  sofern 
auch  dieser  ein  Gott  ähnlicher  Geltung  war,  bei  dem  aber  im  Namen 
wie  im  Wesen  von  allem  Anfang  an  keine  Jugend,  kein  Aufblühn,  son- 
dern die  Reife,  die  Vollendung  und  das  Alter  betont  wurde.  Aber  eben 
weil  bei  Kronos  in  seinem  Sondermythus  und  Gultus  nicht  sowohl  das 
Erzeugen  als  das  Reifen  der  Natur  hervorgehoben  war,  musste  ihm, 
wenn  er  ein  Vater  werden  sollte ,  eine  fingirte,  und  zu  genealogischem 
Zwecke  herangezogene  Gattin,  dem  Begriffe  nach  eine  Mutter  Erde  ge- 
geben werden,  so  gut  wie  Kronos  dem  Begriffe  nach  Gott  des  Himmels 
ist.  Deshalb  heisst  Zeus  in  älterer  Theologie  auch  Uranide  und  spätere 
Theologen  geben  ihm  den  Äther,  den  Himmel  zum  Vater,  ohne  damit 
thatsächlich  etwas  Neues  zu  sagen,  obwohl  sie,  in  der  Deutung  des  Kro- 
nos als  Chronos  befangen,  allerdings  etwas  Neues  zu  sagen  meinen  durf- 
ten. Dass  die  Alten  und  nicht  wenige  der  Neueren  dem  Hitze-  und  Dörr- 
gott Kronos  gegenüber  die  Mutter  Gäa-Rhea  zu  einer  Göttin  des  Flies- 
sens  und  der  Feuchte  gestempelt  haben,  ist  unbestreitbar  sinnig,  nament- 
lich dem  Mythus  von  der  Kinderverschlingung  gegenüber,  insofern  Kronos, 
der  mit  der  Göttin  der  Feuchte  vereinigt  zeugerisch  fruchtbar  auftritt, 
von  derselben  getrennt,  ihr  entgegenwirkend  das  Gezeugte  im  Sonnen- 
brande wieder  verzehrt.  Aber  mag  dies  fehl  gehn ,  mag  selbst  Rhea's 
Namen  dunkel  bleiben  —  und  dass  er  durchaus  befriedigend  erklärt  sei 
wird  man  wohl  kaum  sagen  dürfen  —  wie  ja  auch  nach  dem  Urteil  der 
Linguisten  Leto's  Name,  den  man  zu  verstehen  glaubte,  dunkel  ist,311) 
dies  Alles  ändert  an  der  Hauptsache,  an  dem  Princip  des  Mythus  von 
Zeus'  Geburt  Nichts ,  und  auch  daran  Nichts,  dass  dieser  wie  derjenige 
des  Apollon  und  Hermes  sich  an  den  Vater  und  nicht  an  die  Mutter 
knüpft. 

2H)  Vergl.  6.  Curtius,  Grundzuge  der  griech.  Etymologie  1.  S.  96. 


LOCKE  S  LEHRE 

VON  DER  MENSCHLICHEN  ERKENNTNISS 


IN  VERGLEICHUNG 


MIT  LEIBNIZS  KRITIK  DERSELBEN 


DARGESTELLT 


VON 


G.  HARTENSTEIN. 


Abhandl.  d.  K.  S.  Ges.  d.  Wi«.  X.  8 


Der  Verschiedenheil  der  Ansicht  über  den  Ursprung  der  mensch- 
lichen Vorstellungen  und  Begriffe  ist  nicht  erst  seit  Kant  eine  über  die 
Grenzen  der  Psychologie  hinausgreifende  Bedeutung  beigelegt  worden. 
Nachdem  jedoch  Kant  für  die  »Geschichte  der  reinen  Vernunft«  allge- 
meine Gesichtspunkte  aufgestellt  hatte ,  auf  welche  sich  die  wesentliche 
Verschiedenheit  der  metaphysischen  Versuche  sollte  zurückführen  lassen, 
von  denen  der  eine  eben  die  Verschiedenheit  der  Ansichten  über  den 
Ursprung  der  Begriffe  als  Unterscheidungsmerkmal  hervorhob,1)  sind 
neben  Aristoteles  und  Plato  Locke  und  *Leibniz  vorzugsweise  als 
Repräsentanten  zweier  ganz  verschiedener  philosophischer  Denkweisen 
angesehen  und  der  Gegensatz  der  psychologischen  Ansicht  über  den 
Ursprung  der  Begriffe,  ob  sie  aus  der  Erfahrung  entlehnt  oder  angeboren 
seien,  nicht  nur  für  ein  Merkmal,  sondern  auch  für  den  Grund  der  diver- 
girenden  Richtungen  dieser  Denker,  ja  der  metaphysischen  Lehrmeinun- 
gen überhaupt  gehalten  worden.  Während  jedoch  bei  Leibniz  vorzugs- 
weise dessen  Metaphysik  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen  hat,  sind 
die  Untersuchungen  Locke's  über  die  menschliche  Erkenntniss  vorzugs- 
weise von  Seilen  der  in  ihnen  niedergelegten  psychologischen  Erörter- 
ungen ins  Auge  gefasst  worden,  und  die  Bedeutung  des  ihm  im  Gegen- 
satze zu  Leibniz  beigelegten  Empirismus  und  Sensualismus  für  die 
Metaphysik  erschien  als  so  geringfügig,  dass  man  auch  da,  wo  man  dem 
absoluten  Idealismus  der  nachkantischen  Philosophie  in  Deutschland 
nicht  huldigte ,  ihn  höchstens  als  einen  Vertreter  des  gewöhnlichen  ge- 
sunden Menschenverstandes  hat  gelten  lassen.  Dieses  Urtheil  hat  sich 
in  neuester  Zeit  zum  Theil  dahin  modificirt,  dass  man  die  grosse  Bedeu- 
tung Locke's  nicht  blos  für  seine  Zeit,  sondern  für  die  Geschichte  der 
Philosophie  überhaupt  wieder  bereitwillig  anerkannt  hat.  Drobisch  hat 


\)  Kart,  Krit.  d.  rein.  Vera.  (Werke  herausg.  von  Hartenstein)  Bd.  II,  S.  634. 

8* 


11 4  G.  Hartenstein,  [4 

ihn  mit  Recht  als  den  »Vorläufer  Kant's«  bezeichnet;  Charles  deRöruusal 
hebt  in  einem  lesenswerten  Aufsatze  über  ihn  hervor,2)  dass  er,  ob- 
gleich keines  seiner  Werke  den  Stempel  des  Genies  (ragt,  obgleich  ihnen 
der  Glanz  der  Einbildungskraft,  der  Schwung  der  Leidenschaft ,  über- 
haupt alles  Blendende,  Aufregende,  Fortreissende  fehlt,  obgleich  seine 
Darstellung,  wenn  auch  nicht  nachlässig,  doch  oft  bequem  und  weit- 
schweifig ist,  obgleich  er  das  Nachdenken  weit  mehr  anregt,  als  befrie- 
digt, doch  wenigstens  in  Frankreich  und  England  ein  Jahrhundert  mit 
seiner  Denkweise  beherrscht  hat.  Der  Grund  davon  liegt  nicht  blos  in 
der  leichten  Zugänglichkeit  seiner  Lehre;  sein  Werk  ist  immer  noch 
trocken  und  ernsthaft  genug,  um  flüchtige  oder  nach  glänzenden  Resul- 
taten mehr ,  als  nach  gründlichen  Untersuchungen  begierige  Leser  zu 
ermüden  und  abzuschrecken;  —  sondern  vor  Allem  in  seiner  Unbefan- 
genheit, seiner  Ehrlichkeit  und  aufrichtigen  Wahrheitsliebe,  in  der  Ent- 
schlossenheit, mit  welcher  er  althergebrachte  Lehrmeinungen  seiner 
Kritik  unterwirft,  in  dem  Muthe,  auf  die  Einbildung  einer  Einsicht,  die 
keine  ist,  lieber  Verzicht  zu  leisten,  als  sich  und  Andere  durch  unbe- 
gründete Salze  in  wissenschaftliche  Selbsttäuschungen  verstricken  zu 
lassen.  Diese  Eigenschaften  theilt  er  mit  allen  wirklich  grossen  Denkern, 
vor  Allem  mit  Kant;  und  durch  diese  Eigenschaften  hat  er  ein  Jahrhun- 
dert beherrscht,  welches  nicht  durchaus  so  frivol  war ,  als  man  häufig 
gemeint  hat,  und  für  dessen  Frivolitäten  wenigstens  er  selbst  nicht  ver- 
antwortlich ist. 

Jedenfalls  haben  seine  Untersuchungen  bei  seinem  grossen  Zeit- 
genossen Leibniz ,  dem  Niemand  eine  Hinneigung  zu  den  Leichtfertig- 
keiten einer  späteren  Zeit  Schuld  geben  wird ,  eine  Aufmerksamkeit  er- 
regt, die  es  diesem  der  Mühe  werlh  erscheinen  Hess,  ihnen  eine  Arbeit, 
die  nouveaux  essais  sur  ientendement  humain  zu  widmen,  die  neben  der 
Theodicee  die  ausführlichste  unter  allen  seinen  philosophischen  Schriften 
ist.  An  ein  Werk,  welches  ihm  unbedeutend  erschienen  wäre,  würde 
Leibniz  schwerlich  diese  speziell  eingehende  Sorgfalt  gewendet  haben; 
an  der  blossen  Polemik  als  solcher  hatte  er  keine  Freude,  und  wie  häufig 


2)  Drobisch  »über  Locke  den  Vorläufer  Kant's«  in  d.  Zeitschr.  für  exacte  Philos. 
Bd.  II,  S.  \ .  —  CflARL.  de  Remüsat,  Locke,  sa  vie  et  ses  oeuvres.  (Revue  de  deux  tnondes 
4  859.  7*.  23.)  Auch  Scharer  in  seiner  Schrift:  »J.  Locke,  seine  Verstandestheorie  und 
seine  Lehren  über  Religion,  Staat  und  Erziehung c  (Leipz.  4  860)  sagt  S.  77:  »Locke 
gehört  unstreitig  zu  den  Philosophen  ersten  Rangs. a 


5]  Locke's  Lehre  von  dbh  mbnschl.  Erkenntniss  u.  s.  vv.  115 

auch  Locke's  Bach  ihm  lediglich  als  Anknüpfungspunkt  für  die  Darlegung 
seiner  eigenen  Ansichten  dient,  ohne  eine  Uebereinstimmung  in  sehr 
wichtigen  Punkteu  würde  er  schwerlich  Veranlassung  genommen  haben, 
die  Darlegung  seiner  eigenen  Gedanken  gerade  an  das  Locke'sche  Werk 
anzuknüpfen.  Seine  Kritik  ist,  auch  wo  er  wirklich  polemisirt,  durchaus 
im  Tone  der  Achtung  gehallen ;  sie  verräth  nur  in  seltenen  Fällen  einen 
Anflug  einer  lebhafteren  Erregung,  und  ein  starker  Beweis  seiner  Hoch- 
achtung liegt  überdies  darin  t  dass  er  die  Veröffentlichung  seiner  im  J. 
1704  entstandenen  nouveaux  essais  unterliess,  weil  Locke  unterdessen 
gestorben  war.3) 

Indem  nun  der  Versuch  gemacht  werden  soll,  dem  Verhältniss 
zwischen  der  Locke'schen  und  Leibnizischen  Theorie  der  Erkenntniss, 
d.  h.  ihrer  Lehre  über  die  Grundlagen,  Methoden  und  Grenzen  derselben 
eine  spezielle  Erörterung  zu  widmen ,  scheint  es  zweckmässig  erst  die 
Lehre  Locke's  im  Zusammenhange  vor  Augen  zn  legen,  um  an  ihr  die  Ver- 
gleichungspunkte sowohl  für  die  zustimmenden  als  für  die  abweichenden 
Erörterungen  Leibniz's  zu  gewinnen.  Diese  Untersuchung  erscheint  in- 
sofern nicht  als  überflüssig,  als  die  Darstellungen  des  Lehrbegriffs  bei* 
der  Denker  ihren  Gegensatz  in  Beziehung  auf  die  Theorie  der  Erkennt- 
niss  gewöhnlich  grösser  erscheinen  lassen ,  als  er  sich  bei  einem  ein- 
gehenden Studium  ihrer  Schriften  zeigt  und  überdies  die  gewöhnliche 
Schätzung  Locken  Leibniz  gegenüber  eine  so  untergeordnete  Stellung 
anweist,  dass  es  der  Mühe  werth  ist,  die  Ausgangspunkte,  die  Richtung 
und  den  Erfolg  der  Leibnizischen  Polemik  gegen  ihn,  sofern  eine  solche 
wirklich  vorhanden  ist,  einer  genaueren  Prüfung  zu  unterwerfen.  Da  es 
dabei  nicht  blos  auf  allgemeine  Umrisse,  sondern  auf  das  Einzelne  an- 
kommt, so  mag  es  erlaubt  sein,  in  der  Mittheilung  der  Belegstellen  nicht 
allzu  sparsam  zu  sein,  um  so  mehr,  als  die  Anführung  der  eigenen 
Worte  beider  Denker  nicht  selten  als  eine  weitere  Ausführung  des  im 
Texte  Gesagten  wird  angesehen  werden  können. 


3)  Mr.  Hugony,  schreibt  Leibniz  an  Remond  de  Montmort  unter  dem  14.  März 
4  7 1  4  9  a  vu  mes  reflexions  assez  e'tendues  sur  Pouvrage  de  Mr.  Locke.  Mais  je  me  suis 
degoute  de  publier  des  refutations  des  auteurs  morts ,  quoiqu'elles  dussent  paraitre  durant 
leur  vte  et  4tre  communiquees  ä  eux  memes.  j 


116  G.  Hartenstein,  [6 


I. 

Die  Ueberzeugung,  dass  die  Untersuchung  des  ErkenntnissvermO- 
gens  noth wendig  sei,  um  die  Grenzen  zwischen  dem  dem  Menschen 
erreichbaren  und  dem  ihm  unerreichbaren,  dem  wahren  und  dem  einge- 
bildeten Wissen  zu  ziehen  und  somit  den  Grund  und  Boden  für  jede  auf 
die  metaphysische  Erkenntniss  der  Welt  gerichtete  Untersuchung  abzu- 
stecken ,  spricht  Locke  im  Eingange  seines  Werkes  mit  derselben  Be- 
stimmtheit aus,  wie  Kant  in  der  Vorrede  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft. 
Die  Veranlassung  seines  Nachdenkens  über  diesen  Gegenstand  waren 
Gespräche  zwischen  ihm  und  seinen  Freunden  über  Fragen,  die  zunächst 
mit  der  Frage  nach  dem  Ursprünge  und  den  Grenzen  der  Erkenntniss 
nichts  gemein  hatten;  aber  die  Schwierigkeiten,  in  die  sie  sich  verwickel- 
ten ,  ohue  sie  lösen  zu  können ,  Hessen  in  Locke  den  Gedanken  entste- 
hen ,  dass  sie  überhaupt  mit  der  ganzen  Discussion  auf  einem  falschen 
Wege  seien,  und  dass,  bevor  man  sich  auf  dergleichen  Fragen  einlasse, 
man  erst  die  Fähigkeit  zu  erkennen  untersuchen  müsse,  um  zu  bestim- 
men, was  innerhalb  und  was  ausserhalb  derselben  liege.4)  Die  Möglich- 
keit des  Erfolgs  einer  solchen  Untersuchung  setzt  er  voraus ,  obgleich 
er  ihre  Schwierigkeiten  nicht  verkennt;  denn  da  das  Erkennlnissver- 
mögen  dem  Auge  gleiche,  welches  uns  die  Dinge  sichtbar  mache  ohne 
sich  selbst  zu  sehen,  so  gehöre  Kunst  und  Anstrengung  dazu,  es  in  eine 
gewisse  Entfernung  zu  rücken  und  selbst  zum  Gegenstande  der  Betrach- 
tung zu  machen.5)  Die  Aufgabe,  die  er  sich  stellt,  ist  den  Ursprung,  die 
Gewissheit  und  den  Umfang  der  menschlichen  Erkenntniss,  so  wie  die 
Gründe  und  Grade  des  Glaubens,  der  Meinung  und  des  Fürwahrhaltens 
zu  untersuchen,  die  bei  den  Menschen  in  Beziehung  auf  die  verschiede- 


4)  Locke  Ess.  Cancern,  hum.  widerstand.  (17  edit.  London  4775)  Epistle  to  the 
reader  (p.  2) :  After  tve  had  a  white  puxzled  ourselves,  without  Coming  any  nearer  a  reso- 
lution  of  those  doubts  which  perplexed  us,  it  came  into  my  thoughts,  that  we  took  a 
wrong  course,  and  that  before  we  set  ourselves  upon  enquiries  of  that  nature,  ü  was  ne- 
cessary  to  examine  our  own  abilities  and  see  what  objects  our  understandings  were,  or 
were  not,  fitted  to  deel  with.  Die  Introduction  vor  dem  { .  Buch  spricht  jedoch  §  1  nicht 
gerade  von  der  Notwendigkeit,  sondern  blos  von  der  Nützlichkeit  einer  solchen  Unter- 
suchung. 

5)  a.  a.  0.  Introduct.  JH  [p.  I). 


?]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  117 

nen  Objecte  der  Erkenntniss  sich  vorfinden ;  und  er  thut  dabei  von  vorn 
herein  Verzicht  auf  eine  physikalische  oder  metaphysische  Untersuchung 
des  Wesens  der  Seele;  er  hält  es  für  seinen  Zweck  für  ausreichend,  die 
verschiedenen  Vermögen  der  Erkenntniss ,  die  sich  in  dem  Menschen 
vereinigt  finden,  in  so  fern  zu  untersuchen,  als  sie  ihre  Thäligkeit  in  Be- 
ziehung auf  die  der  menschlichen  Auffassung  sich  darbietenden  Objecte 
der  Erkenntniss  ausüben,  und  so  in  einfach  historischer  Weise  darzu- 
legen, durch  welche  Mittel  der  Mensch  zu  den  Vorstellungen,  die  er  über 
die  Dinge  thatsächlich  hat,  gelange,  und  darnach  die  Grenzlinie  zwischen 
gewisser  Erkenntniss  und  den  über  die  Dinge  herrschenden  Meinungen 
zu  bestimmen;  Meinungen,  die  so  verschiedenartig,  zum  Theil  einander 
so  entgegengesetzt  seien  und  doch  so  zärtlich  gehegt  oder  so  leiden- 
schaftlich vertheidigt  und  bestritten  werden,  dass  man  vermuthen  möchte, 
entweder  es  gebe  überhaupt  keine  Wahrheit,  oder  dem  Menschen  stehe 
wenigstens  kein  Mittel  zu  Gebote  sich  ihrer  zu  versichern.6)  Es  ist  also 
eine  empirische  Analyse  des  menschlichen  Vorstellungs-  und  Gedanken- 
kreises ,  von  welcher  Locke  die  Entscheidung  über  Wahrheit  und  Irr- 
thum,  Wissen  und  Meinen  erwartet  und  ganz  in  ahnlicher  Weise ,  wie 
Kant  das  Endresultat  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ausspricht,  deutet 
Locke  sogleich  im  Eingange  seines  Werks  an,  dass,  obwohl  eine  solche 
Untersuchung  den  Skepticismus  zurückzuweisen  und  der  Faulheit  im 
Denken  ihre  Vorwände  zu  nehmen  im  Stande  sei ,  doch  durch  sie  alle 
unfruchtbaren  Streitigkeiten  über  Fragen,  deren  Beantwortung  ausserhalb 
der  menschlichen  Erkenntniss  liege,  abgeschnitten  werden.7)    Wenn 


6)  a.  a.  0.  §  2  This  being  my  purpose,  to  enquire  into  the  original,  certainty  and 
extent  of  human  knowledge,  together  with  the  grounds  and  degrees  of  belief ',  opinion  and 
assenty  I  shall  not  at  present  meddle  with  the  physical  Constitution  of  our  mmd>  or  trouble 
myself  to  examine,  wherein  its  essenee  consists.  .  .  .  It  shall  suffice  to  my  present  pur- 
pose, to  consider  the  discernmg  faculHes  of  a  man,  as  they  are  employed  about  the  ob' 
jects,  which  the  have  to  do  whith;  and  I  shall  imagine  !  have  tiot  wholly  misemployed 
myself  in  the  thoughts  I  shall  have  on  this  oecasion,  if  in  this  historical  piain  me- 
thod  I  com  gwe  any  aeeount  of  the  ways,  whereby  our  understandmgs  eome  to  attain 
those  notions  of  things  we  have  and  com  set  down  any  measures  of  the  certainty  of  our 
knowledge  u.  s.  w. 

7)  Kant,  Krit.  d.  r.  V.  Bd.  II,  S.  534.  Locke,  IntroducL  §  6.  7.  Selbst  das  Bild 
vom  Ocean,  aaf  den  sich  das  menschliche  Denken  hinauswage  und  auf  dem  es  sich 
ohne  Selbstkritik  in  lauter  Irrfahrten  zu  verlieren  in  Gefahr  sei,  welches  Kant  (a.  a.  0. 
S.  236)  so  beredt  ausmalt,  findet  sich  bei  Locke  a.  a.  O. 


118  G.  Hartenstein,  [8 

dabei  Kant  die  Geschichte  der  Metaphysik  überhaupt  im  Auge  hat,  wel- 
che »ein  Kampfplatz  sey,  der  ganz  eigentlich  dazu  bestimmt  zu  seyn 
scheine ,  die  Kräfte  im  Scheingefecht  zu  üben ,  auf  dem  noch  niemals 
irgend  ein  Fechter  sich  den  kleinsten  Platz  habe  erkämpfen  und  auf  sei- 
nen Sieg  einen  dauerhaften  Besitz  habe  gründen  können«,  so  liegt  darin, 
dass  Locke  zunächst  die  Grundlosigkeit  der  herrschenden  Schulmeta- 
physik seiner  Zeit  vor  Augen  zu  legen  bemüht  ist,  keine  wesentliche 
Verschiedenheit  der  Endabsicht  beider  Denker;8)  denn  denselben  Dogma- 
tismus, welchen  Locke  bekämpft,  fand  auch  noch  Kant  vor. 

Um  sich  für  seine  Untersuchung  den  Grund  und  Boden  zu  ebnen, 
beginnt  Locke  mit  der  Kritik  der  Annahme  angeborner  Vorstellungen 
oder  vielmehr  angeborner  Erkenntnissprincipien.  Er  schickt  dabei  die 
Bemerkung  voraus,  dass  diese  Annahme  unnöthig  sei,  sobald  sich  nach- 
weisen lasse,  auf  welche  Weise  der  Mensch  die  Erkenntniss,  welche  er 
wirklich  habe,  erwirbt;  aber  abgesehen  davon,  erklärt  er  die  Annahme 
selbst  für  unhaltbar.  Ihre  Hauptstutze  liege  in  der  Berufung  darauf,  dass 
es  gewisse  sowohl  theoretische  als  praktische  Sätze  gebe,  über  deren 
Wahrheit  ein  schlechthin  allgemeines  Einverständniss  herrsche.  Aber 
abgesehen  davon,  dass  dieses  allgemeine  Einverständniss,  selbst  wenn 
es  sich  factisch  nachweisen  Hesse ,  nichts  für  das  Angeborensein  be- 
weisen würde,9)  lasse  es  sich  thatsächlich  gar  nicht  nachweisen;  es 


8)  Kant,  Kr.  d.  r.  V.  S.  17.  Locke,  Epistle  to  the  reader  [S.  6);  In  an  age,  that 
produces  such  masters,  as  the  great  Huygenius  and  the  incomparable  Mr.  Newton,  'tis 
ambition  enough  to  be  employed  as  an  under-labourer  in  Clearing  the  ground  a  Utile  and 
removing  some  of  the  rubbish  that  lies  in  the  way  of  knowledge;  which  certainly  had  been 
very  much  more  advanced  in  the  world,  if  the  endeavours  of  ingenious  and  industrious 
man  had  not  been  much  cumbered  xcith  the  learned  but  frivolous  use  of  uncouth,  affected 
and  unintelligible  terms,  introduced  into  the  sciences]  and  there  made  an  ort  of,  to  that 
degree,  that  phüosophy,  which  ü  nothing  but  the  true  knowledge  of  things,  was  thought 
unfit  or  uncapable  to  be  brought  into  well~bred  Company  and  polite  conversation. 

9)  B.  I,  eh.  I.  §  3.  This  argument  drawn  from  tho  universal  consent,  had  this  rot*- 
fortune  in  il,  that  if  it  were  true  in  matter  of  fact,  that  tttere  were  certain  truths,  w herein 
all  mankind  agreed,  it  would  not  prove  them  innaie,  if  there  ean  be  any  other  way  shewn, 
how  man  may  come  to  that  universal  agreement  m  the  things  they  do  consent  in.  §  \  8 
führt  aus ,  dass  Sätze  wie :  süss  ist  nicht  bitter ,  ein  Kreis  ist  kein  Viereck  and  un- 
zählige andere  dann  ebenfalls  für  angeboren  erklärt  werden  müssten.  Auch  könne 
man  nicht  sagen,  dass  die  Anerkennung  solcher  Sätze  Folge  der  Anwendung  eines  all- 
gemeinen Principe,  etwa  des  Satzes  des  Widerspruches  sei.  §  SO  As  to  the  difference 
to  being  more  gener al,  that  makes  this  maxim  more  remote  from  being  innate,  those  gene- 
ral  and  abstract  ideas  being  more  strangers  to  our  first  apprehensions  u.  s.  w. 


9]  Locke's  Lehre  von  deb  menschl.  Erkenntmss  u.  s.  w.  119 

gebe  genug  Menschen ,  denen  solche  angeblich  angeborne  Wahrheiten 
wie  z.  B.  der  Satz  des  Widerspruchs  in  dieser  Form  gar  nicht  zum  Be- 
wusstsein  kommen.10)  Dem  gegenüber  berufe  man  sich  darauf,  dass  an- 
geborene •  Principien  solche  seien,  deren  Wahrheit  der  Mensch  aner- 
kenne, sobald  er  zum  Gebrauche  seiner  Vernunft11)  komme.  Solle  das 
so  viel  heissen  als  der  Mensch  entdecke  diese  Wahrheiten  durch  den 
Gebrauch  der  Vernunft,  so  übertrage  man  der  Vernunft  ein  sehr  unnö- 
thiges  Geschäft;  warum  soll  sie  erst  entdecken,  was  der  Mensch  schon 
besitzt?12)  Bedenke  man  ferner,  dass  die  Vernunft  das  Vermögen  ist, 
aus  bekannten  Principien  unbekannte  Sätze  abzuleiten ,  so  müsste  man 
einen  mathematischen  Lehrsatz  eben  so  für  angeboren  erklären,  wie  ein 
mathemalisches  Axiom;  die  unmittelbare  Zustimmung  endlich,  die  uns 
gewisse  Sätze  abnöthigen,  beruhe  auf  einer  andern  Operation  des  Gei- 
stes, als  auf  der  des  discursiven  Denkens;  beruhte  sie  hierauf,  so  wäre 
das  eben  ein  Beweis,  dass  jene  Sätze  nicht  angeboren  sind.13)  Solle  aber 
der  obige  Satz  eine  Zeitbestimmung  enthalten  und  so  viel  heissen  als : 
eine  angeborne  Wahrheit  kommt  zum  Bewusstsein  des  Menschen,  so- 
bald sein  Vernunftgebrauch  beginnt,  so  würde,  selbst  angenommen, 
dass  dies  wirklich  der  Fall  sei ,  auch  das  nichts  beweisen.  Denn  wie 
folgt  das  Angeborensein  einer  Wahrheit  daraus,  dass  mit  dem  Gebrauche 
oder  der  Thätigkeit  eines  gewissen  Vermögens  das  Bewusstsein  und  die 


4  0)  a.  a.  0.  §  5  'Tis  evident,  that  all  children  and  idiots  have  not  the  least  appre- 
hension  or  thought  of  them ,  and  the  want  of  that  is  enough  to  destroy  that  universal 
assent,  .  .  .  it  seemvng  to  me  near  a  contradiction  to  say,  that  were  any  truths  mprmted 
on  the  soul,  tohich  it  percewes  or  understands  not;  imprinting,  if  it  signißes  any  thing, 
being  nothing  eise,  but  the  making  certain  truths  to  be  perceived.  For  to  imprint  any  thing 
on  the  mind,  without  the  minds  perceivüig  it,  seems  to  me  hardly  intelligible. 

H)  Es  mag  erlaubt  sein,  das  Wort  reason  durch  Vernunft  zu  übersetzen.  Locke 
kennt  den  Unterschied  der  Kaut* sehen  Philosophie  zwischen  Verstand  und  Vernunft 
nicht;  reason  ist  ihm  das  Vermögen  des  discursiven  Denkens.  B.  IV,  eh.  XVIf. 

42)  a.  a.  0.  §  9.  To  make  reason  discover  those  truths  thus  imprinted,  is  to  say, 
that  the  use  of  reason  discovers  to  a  man,  what  he  knew  before;  and  if  men  have  those 
wnate,  impressed  truths  originally  and  before  the  use  of  reason,  and  yet  are  ahoays  igno- 
rani  of  them,  tili  the  eome  to  the  use  of  reason,  'tis  in  effeet  to  say,  that  men  know  and 
knoto  them  not,  at  the  same  Urne. 

43)  a.  a.  0.  §44.  Those  who  will  take  the  pains  to  reflect  tvith  a  little  attention 
on  the  Operations  of  the  understanding ,  will  find  that  this  ready  assent  of  the  mind  to 
some  truths  depends  not  either  on  native  inscription  or  the  use  of  reason,  but  on  a  faculty 
of  the  mind  quite  distinet  from  both  of  them,  as  we  shall  see  hereafler. 


120  G.Hartenstein,  [10 

Anerkennung  derselben  eintritt?14)  Gerade  der  Umstand,  dass  die  an- 
geblich angebornen  Satze  dargelegt  werden  müssen,  um  als  wahr  aner- 
kannt zu  werden,  zeige,  dass  sie  nicht  angeboren  sind;  sie  enthalten  den 
Ausdruck  eines  vorher  nicht  vorhandenen  Wissens.15)  Zu  sagen ,  dass 
die  Erkenntniss  solcher  Satze,  bevor  sie  dargelegt  und  anerkannt  sind, 
nur  implicile,  nicht  expliciie  uns  inwohne,  heisse  im  Grunde  nichts  An- 
deres sagen,  als  ihre  Erkenntniss  sei  möglich,  und  das  gelle  von  einer 
Masse  von  Erkenntnissen ,  die  Niemand  für  angeboren  erklare.16)  Wirk- 
lich angeborne  Wahrheiten  mttssten  sich  nicht  nur  vor  allen  andern 
Erkenntnissen  als  deren  Grundlagen,  sondern  auch  als  solche  mit  voller 
Deutlichkeit  und  Bestimmtheit  im  Bevvusstsein  ankündigen;  aber  weder 
das  eine  noch  das  andere  sei  der  Fall.17)  Ueberhaupt  könne  von  ange- 
bornen  Principien,  die,  insofern  sie  Wahrheiten  sein  wollen,  immer 
Satze  sein  müssen,  nicht  die  Rede  sein,  so  lange  nicht  bewiesen  sei, 
dass  es  angeborne  Begriffe  gibt  und  Locke  gesteht,  er  werde  dem- 
jenigen sehr  dankbar  sein,  der  ihm  einen  Satz  nachweise,  bei  welchem 
die  in  ihm  vorkommenden  Begriffe  für  angeboren  erklart  werden  müs- 
sen.18) Die  Probe,  ob  die  in  den  angeblich  angebornen  Sätzen  enthalte- 
nen Begriffe  angeboren  seien,  könne  man  bei  jedem  Kinde  machen,  um 
zu  prüfen ,  mit  welchem  Rechte  die  Begriffe  Identität  und  Verschieden- 
heit, Ganzes  und  Theil,  Einheit,  Unendlichkeit,  Ewigkeit  (als  das  Haupt- 
merkmal im  Begriffe  Gottes)  u.  s.  w.  für  angeboren  erklärt  werden  kön- 


14)  a.  a.  0.  §44.  By  what  kind  of  logic  will  it  appear,  that  any  notion  is  origi- 
nally  by  nature  imprmted  in  the  mind  in  its  first  Constitution,  because  it  comes  first  to  be 
observed  and  assented  to,  when  a  faculty  of  the  mind,  which  hos  quite  a  distitict  province, 
begins  to  exert  üself? 

4  5)  a.  a.  0.  §  21 .  This  cannot  be  denied,  that  tnen  grow  first  acquainted  with 
many  ofthese  self-evident  truths,  upon  their  being  proposed;  but  it  is  clear,  that  who- 
soever  does  so,  fiuds  in  himself,  that  he  then  begins  to  know  a  proposüion,  which  he  knew 
not  before. 

16)  a.  a.  0.  §  22.  It  will  be  hard  to  conceive  what  is  meant  by  a  principle  imprin- 
ted  on  the  understanding  implicitly,  unless  it  be  this  that  the  mind  is  capable  o  funder- 
standing  and  assentimg  firmly  to  such  propositions.  And  thus  all  mathemaUcal  demotistra- 
tions  as  well  as  first  principles  must  be  received  as  native  impressions  of  the  mind,  which 
I  fear  they  will  scarce  allow  them  to  be,  who  find  it  harder  to  demonstrate  a  proposüion, 
then  assent  to  it  when  demonstrated. 

17)  Die  Ausführung  §  24—27. 

4  8)  a.  a.  0.  §  23.  /  would  gladly  have  any  one  name  the  proposüion,  whose  terms 
or  ideas  were  either  of  them  innate.  Vgl.  eh.  III,  §  1 9. 


44]  Locke's  Lehre  von  der  mbnschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  121 

nen.10)  Eine  Vorstellung,  von  der  wir  kein  Bewusstsein  haben,  sei 
keine  Vorstellung;  eine  Vorstellung,  die  ins  Bewusstsein  eintrete,  sei 
entweder  eine  neue,  vorher  nicht  gehabte,  oder  eine  früher  erworbene, 
im  Gedöchtniss  aufbewahrte,  und  Niemand  könne  ein  Beispiel  auch  nur 
einer  einzigen  angeblich  angebornen  Vorstellung  nachweisen ,  deren  er 
sich  als  einer  in  seinem  Bewusstsein  vorhandenen  unabhängig  von  den 
Veranlassungen  bewusst  werden  könnte,  bei  welchen  sie  entstanden 
ist.10)  Gibt  es  mithin  keine  angebornen  Vorstellungen  Y  so  gibt  es  auch 
keine  angebornen  Sätze  und  Wahrheilen. 

Dies  gilt  von  den  sogenannten  praktischen  Principien  nicht  minder, 
als  von  den  speculaliven  oder  theoretischen.  Die  empirische  Berufung 
auf  die  allgemeine  Uebereinstimmung  rücksichllich  gewisser  sittlicher 
Anforderungen  ist  noch  weniger  begründet,  als  die  auf  die  Ueberein- 
stimmung über  gewisse  theoretische  Erkenntnisse ;  die  Thatsache,  dass 
die  angeblich  angebornen  praktischen  Principien  nicht  befolgt  werden, 
beraubt  sie  eigentlich  ihres  praktischen,  das  Wollen  bestimmenden  Cha- 
rakters und  lässt  sie  zu  blos  theoretischen  Sätzen  herabsinken ; 21)  natür- 
liche, allgemein  verbreitete  Neigungen  beweisen  dafür  nicht  das  Ge- 
ringste; gerade  auf  praktischem  Gebiete  ist  die  Verschiedenheit  der 
Urtheile  und  Handlungen  eine  handgreifliche  Thatsache;  und  die  weil- 
verbreitete Billigung,  welche  offenbar  unmoralische  Handlungen  bei  gan- 
zen Völkern  gefunden  haben,  zeigt,  dass  das,  was  man  Gewissen  nennt, 
nichts  ist,  als  die  eben  vorhandene  Meinung  des  Handelnden  über  die 


19)  B.  I,  eh.  III.  §  2—4  8. 

20)  a.  a.  0.  §  20.  /  desire  an  instance  of  an  idea,  pretended  to  be  innate,  which 
(before  any  Impression  of  it)  any  one  could  revise  and  remember  as  an  idea  he  had  for- 
merly  known;  toithout  which  consciousness  of  a  former  pereeption  thereis  no  remem- 
brance,  and  tohatever  idea  comes  into  the  mind  toithout  that  consciousness,  is  not  remem- 
brance  or  comes  not  out  oftnemory,  nor  can*be  said  to  be  in  the  mind  before  that  ap- 
pearance,  For  what  is  not  eüher  actually  in  view  or  in  the  memory,  not  can  be  said  to  be 
in  the  mind  before  that  appearance. 

21)  B.  I,  eh.  II.  §  3.  First,  I  have  always  thought,  the  actions  of  men  the  best 
Interpreters  of  their  thoughts.  But  since  it  is  certain,  that  most  mens  practices  and  some 
men's  open  professions  have  either  quesüoned  or  denied  these  principles,  it  is  impossible 
to  establish  an  universal  consent ,  .  .  .  toithout  which  ü  is  impossible  to  conclude  them 
innate.  Secondly,  'tis  very  stränge  and  unreasonable  to  suppose  innate  practical  principles, 
that  terminate  only  in  contemplation.  Practical  principles  derived  from  nature  are  there 
for  Operation  and  must  produce  conformity  of  aetion,  not  barely  speculative  assent  to  their 
truth,  or  eise  they  are  in  vain  distinguished  from  speculative  maoeims. 


122  G.  Hartenstein,  [4  2 

Rechtmässigkeit  oder  Unrechtmassigkeit  gewisser  Handlungen.22)  Zu 
sagen ,  dass  die  an  gebor  nen  praktischen  Principien  durch  Gewohnheit, 
Erziehung  u.  s.  vv.  verdunkelt,  ja  ganz  verwischt  werden  können,  heisst 
eben  zugestehen,  dass  es  über  sie  keine  allgemeine  Uebereinslimmung 
gebe,  auf  welche  doch  das  Angeborensein  derselben  gegründet  werden 
sollte,  wenn  man  nicht  etwa  seinen  eigenen  Ueberzeugungen  allgemeine 
Gültigkeit  beilegen  und  sie  eben  darum  für  angeboren  erklären  oder  be- 
haupten will,  dass  Satze,  welche  manche  Menschen  nicht  anerkennen, 
doch  von  allen  Menschen  anerkannt  werden.23) 

Bei  dieser  Bestreitung  angeborner  Vorstellungen  und  angeborner 
Sätze,  —  denn  für  die  Frage  nach  den  Gründen  der  Erkenntniss  sind 
nicht  sowohl  jene  als  diese  das  Entscheidende,  —  beruft  sich  Locke 
nirgends  auf  ein  vorausgesetztes  Wissen  über  die  Natur  und  das  Wesen 
der  Seele,  sondern  alle  seine  Gegengründe  bewegen  sich  um  die  beiden 
Hauptgesichtspunkte ,  dass  die  Thatsachen  der  Erfahrung  zu  jener  An- 
nahme nicht  passen  und  dass  wirklich  angeborne  Begriffe  und  Satze 
sich  in  einer  ganz  andern  Weise  ankündigen  und  wirksam  zeigen  mtiss- 
ten,  als  nachweislich  der  Fall  ist. 

Gibt  es  keine  angebor  nen  Begriffe  und  Satze,  die  das  ursprüng- 
liche, durch  nichts  vermittelte  Eigenthum  der  Seele  sind,  ist  also  die 
letztere  ursprünglich  ohne  alle  Vorstellungen,  so  kann  der  Ursprung 
aller  Vorstellungen  nur  in  der  Erfahrung  liegen.  Die  Erfahrung  hat 
ein  doppeltes  Gebiet,  das  der  äusseren  und  das  der  inneren  Wahr- 
nehmung; die  erstere  bezeichnet  Locke  als  Sensation,  die  zweite  als 
Reflexion.  Sensation  ist  die  durch  die  Sinne  vermittelte  Wahrneh- 
mung äusserer  Gegenstande;  Reflexion  die  Wahrnehmung  der  Tätig- 
keiten der  Seele  in  Beziehung  auf  die  durch  die  Sinne  dargebotenen  ia4rM/ 
Vorstellungen;  die  letztere  nennt  er  Reflexion,  weil  die Thatigkeiten  der  !^on 
Seele  durch  die  innere  Auffassung,  durch  eine  Art  inneren  Sinnes  Ob- 
ject  der  Auffassung  und  dadurch  Inhalt  des  Bewusstseins  werden.21) 


22)  a.  a.  0.  §  8.  Conscience  is  nothing  eise  but  our  own  opinion  or  judgment  of  •'•'*&«. 
the  moral  rectitude  or  provity  of  our  own  actions.  And  if  conscience  be  a  proof  of  innaie  *'fti$  ^ 
prtnciples,  contraries  may  be  innate  principles,  since  some  men  wiih  the  same  bent  of  con-  ^rfthe^ 
science  prosecute  tohat  others  avoid.  *  1 0.  s 

23)  a.  a.  0.  §  20.  *^ 

24)  B.  II,  eh.  I.  §  2.  Lei  us  then  suppose  the  mind  to  be,  as  we  soy,  white  paper,  *a 
void  of  all  character8,  wühout  any  ideas;  how  comes  ü  to  be  furnished?  whence  comes  it  *rf, 


* 


i 


13]  Locke's  Lehre  von  der  menshl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  123 

Sensation  und  Reflexion  bieten  uns  den  gesaromten  Inhalt  unseres  Vor- 
stellungskreises dar  und  es  lässt  sich  kein  Bestandteil  desselben  nach- 
weisen, der  nicht  auf  eine  dieser  beiden  Quellen  oder  auf  beide  ver- 
bunden zurückgeführt  werden  konnte.    , 

Diese  von  Locke  ganz  allgemein  ausgesprochnen  Satze  hätten  ver- 
hindern sollen,  seine  Lehre  von  vorn  herein  als  einen  reinen  Sensua- 
lismus zu  bezeichnen;  die  Thatsache,  dass  nicht  nur  das.  was  im  Be- 
wusstsein  geschieht ,  sondern  auch  die  geistige  Thätigkeit  selbst  Gegen- 
stand der  inneren  Auffassung  ist  und  dass  die  innere  Auffassung  dieser 
Thätigkeiten  Beitrage  zu  dem  menschlichen  Vorstellungskreise  darbietet, 
welche  auf  die  sinnliche  Empfindung  nicht  zurückgeführt  werden  kön- 
nen ,  sammt  der  darin  liegenden  Ueberschreitung  des  Sensualismus  ist 
geradezu  die  eine  und  zwar  die  wichtigere  Hälfte  seiner  Grundansichr. 
Nur  können  die  Vorstellungen ,  durch  welche  wir  die  inneren  Thätig- 
keiten bezeichnen,  nicht  eher  zum  Bewusstsein  kommen,  als  die  sinn- 
liche Empfindung  diesen  Thätigkeiten  ein  Material  dargeboten  hat;  der 
Mensch  kann  die  Vorstellung  des  Empfindens,  Denkens,  Wollens  u.  s.  w. 
nicht  eher  haben ,  als  er  empfunden,  gedacht,  gewollt  hat,  und  selbst 
dann  bedarf  es  der  Aufmerksamkeit,  um  diese  verschiedenen  Arten  des 
geistigen  Thuns  zum  Bewusstsein  zu  bringen.25)  Locke  behauptet  nicht, 
dass  der  Inhalt  der  sinnlichen  Empfindung  der  ausschliessliche  Inhalt 
des  Bewusstseins  sei ;  aber  er  spricht  den  Satz  aus,  dass  die  sinnliche 
Empfindung  die  Bedingung  der  Ausübung  der  übrigen  geistigen  Thätig- 


by  that  vaste  störe,  which  the  business  and  boundless  fancy  of  men  hos  painted  in  it? . . . . 
To  this  J  answer,  inone  word,  from  experience  .  . . .  Our  Observation  employed  either 
about  external  sensible  objects,  or  about  the  internal  Operations  of  our  mind,  perceived 
and  reflected  on  by  ourselves,  is  that  which  supphes  our  understanding  with  all  the  mate- 
Hals  of  thinking  ...  §  3.  This  great  source  of  rnost  of  the  ideas  we  have  depending 
whoüy  upon  our  senses  and  derived  by  thetn  to  the  understanding,  l  call  Sensation. 
§  4.  The  other  source  . . .  tho*  it  be  no  sense,  as  having  nothing  to  do  with  external  ob- 
jects ,  yet  it  is  very  like  it  and  might  properly  enough  be  called  internal  sense  . .  /  call 
reflection.  By  reflection  I  would  be  understood  to  tnean  that  noticet  which  the 
takes  of  it$  own  Operations  and  the  manner  of  them,  by  reason  whereof  there  come 
to  be  ideas  of  these  Operations  in  the  understanding. 

25)  a.  a.  0.  §7.  8.  Children,  when  they  come  first  into  it,  are  surrounded  with  a 
world  of  new  things,  which  by  a  constant  sollicitation  of  their  senses  draw  the  mind  con- 
tiantfy  to  them  .  . .  Meris  business  (in  the  first  years)  is  to  acquaint  themselves  with  what 
ü  to  be  found  withaut,  and  so  growing  up  in  constant  attention  to  outward  setisatiom, 
sddom  make  a  considerable  reflection  on  what  passes  withm  them  u.  s.  w. 


124  G.  Hartenstein,  [U 

keiten  ist;  er  spricht  diesen  Satz  aas  im  Zusammenhange  mit  seiner 
Polemik  gegen  die  Behauptung  der  cartesianischen  Schule,  dass  die  Seele 
immer  denke,  d.  h.  dass  das  Denken  eben  so  das  Wesen  der  Seele,  wie 
die  Ausdehnung  das  Wesen  des  Körpers  sei.26)  Gleichwohl  ist  ihm  die 
Reflexion  nicht  eine  verwandelte,  weiter  entwickelte  Sinnlichkeit;  son- 
dern so  vorsichtig  er  auch  vermeidet  über  das  Wesen  der  Seele  und 
ihrer  Wirkungsart  etwas  dogmatisch  zu  behaupten,  so  ist  doch  ihre  Be- 
fähigung, sich  auf  Grundlage  der  sinnlichen  Empfindung  eiue  diese  aber- 
schreitende Welt  von  Vorstellungen,  Gedanken,  Bestrebungen  aufzu- 
bauen, etwas,  was  nicht  anzuerkennen  der  unbefangenen  Beobachtung 
unmöglich  sei.37)  Gerade  darin ,  dass  der  menschliche  Vorstellungskreis 
die  sinnliche  Empfindung  tiberschreitet,  findet  Locke  das  wesentliche 
Motiv,  das  Mannigfaltige,  was  sich  dem  Bewusstsein  als  sein  Inhalt  dar- 
bietet, insofern  es  darauf  Anspruch  macht,  Erkenntniss  zu  sein,  einer 
prüfenden  Kritik  zu  unterwerfen. 


n. 

Auf  dieser  Grundlage  unteruimmt  nun  Locke  eine  Analyse  des 
menschlichen  Vorstellungskreises,  wie  er  wirklich  beschaffen  ist;  er  ver- 
sucht ihn  in  seine  Elemente  zu  zerlegen  und  den  Beitrag  zu  bestimmen, 
den  diese  Elemente  allein  oder  in  Verbindung  mit  den  übrigen  zu  der 
menschlichen  Erkenntniss  liefern.  Der  Geist  ist  in  dieser  Beziehung  an 
die  Dinge,  an  die  auf  sie  sich  beziehenden  Empfindungen  und  die  dadurch 
erregten  inneren  Thätigkeiten  gebunden,  passiv;  was  er  seiner  eigenen 


26)  a.  a.  0.  §  40 — 49.  Das  Resultat  §  20.  /  see  no  reason  therefore  to  believe  that 
the  soul  thinks  before  the  senses  have  furnished  it  with  ideas  to  thmk  on. 

27)  Ebendas.  §  24.  All  those  sublime  thoughts,  which  totoer  above  the  chuds  and 
reach  as  high  as  heaven  itself,  take  their  riet  and  footing  here;  tn  all  that  great  extent, 
wherein  the  mind  wandere  ...  it  stirs  not  one  jot  beyond  theee  ideas  which  sense  or  re- 
fleetion  have  offered  for  its  contemplation.  eh.  VII,  §  4  0.  Andrerseits  B.  II,  cb.  XXIII. 
§  4  5.  It  is  for  want  of  reßection  that  we  ort  apt  to  think  that  our  senses  shew  us  nothing 
but  material  things.  Every  act  of  Sensation,  when  duly  considered,  gives  us  an  equal  view 
of  both  parte  of  nature,  the  corporal  and  spiritual.  For  whilst  I  know,  by  seeing  or  hea- 
ring,  that  there  is  sotne  corporeal  being  without  me,  the  objeet  of  that  Sensation,  I  do 
more  certainly  know,  that  there  is  some  spiritual  being  within  me  that  sees  and  hears. 


*5]  Locke's  Lehre  von  deb  mknschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  125 

Thätigkeit  zuzuschreiben  ein  Recht  hat,  ist  eingeschlossen  in  die  Gren- 
zen, die  ihm  der  Thatbestand  der  menschlichen  Natur  vorschreibt.38) 

Die  letzten  Elemente  des  Vorstellungskreises  bezeichnet  Locke  als 
einfache  Vorstellungen  (simple  ideas)  im  Gegensatze  zu  zusammengesetz- 
ten (complex  ideas).  Die  Möglichkeit,  einfache  Vorstellungen  von  den 
zusammengesetzten  zu  unterscheiden ,  unterliegt  ihm  keinem  Zweifel; 
ohne  an  der  Stelle,  an  welcher  er  diese  Unterscheidung  einführt,  auf 
eine  genauere  Begriffsbestimmung  der  Einfachheit  einer  Vorstellung  ein- 
zugehen,29) bemerkt  er  später,30)  dass  er  gewisse  Vorstellungen  mehr  in 
Beziehung  auf  die  Art,  in  welcher  sie  ins  Bewusstsein  eintreten,  als 
insofern  sie  von  andern  Vorstellungen  unterschieden  sind,  für  einfache 
erkläre.  So  ist  ihm  die  qualitative  Bestimmtheit  der  sinnlichen  Empfin- 
dung, insofern  für  die  Empfindung  selbst  ein  verschiedenartiges  Mannig- 
faltige sich  nicht  unterscheiden  lässt,  das  Merkmal  ihrer  Einfachheit;  die 
Kalte  und  Harte  eines  Stücks  Eis  sind  eben  so  einfache  Vorstellungen, 
wie  der  Geruch  und  die  Farbe  der  Lilie.  Er  nennt  daher  auch  solche 
Vorstellungen  einfach,  welche  aus  mehreren  aber  qualitativ  gleichen 
Theilen  zusammengesetzt  sind.31) 


28)  B.  I,  cb.  I.  §  25.  In  this  part  the  understanding  is  merely  passive  and  whether 
or  no  it  will  have  these  beginnings  and  as  ü  were  materials  of  knowledge,  is  not  in  its 
oton  power.  For  the  objecto  of  our  senses  do  . .  obtrude  their  particular  ideas  upon  our 
minds,  whether  we  will  or  no ;  and  the  Operations  of  our  minds  will  not  let  us  be  without, 
at  leasty  some  obscure  notions  of  them.  Vgl.  eh.  II,  §  3. 

29)  eh.  II,  §  1 .  [The  simple  idea)  being  each  in  itself  uncoinpounded  contains  in 
it  nothing  but  one  uniforme  appearance  or  coneepUon  in  the  mind,  and  is  not 
disünguishable  into  different  ideas. 

30)  eh.  XIII,  §  4.  Though  1  have  often  mentioned  simple  ideas ,  ...  yet  having 
treated  them  there  rather  in  the  way,  that  the  come  into  the  mind,  than  as  dislinguished 
from  others  more  compounded,  ü  will  not  be  perhaps  a  miss  to  take  a  view  of  some  of 
them  under  this  consideration  u.  s.  w. 

3 1 )  Hierher  gehört  die  Antwort,  welche  Locke  auf  den  Einwurf  Barbeyrac's,  dass 
er  den  Raum  fälschlich  für  eine  einfache  Vorstellung  erkläre ,  weil  der  Baum  Theile 
habe,  dem  Uebersetzer  seines  Werkes  Coste  mittheilte  und  die  auch  in  der  Oben  an- 
geführten Ausgabe  als  Anmerkung  zu  B.  II,  eh.  XV.  §  8  (p.  4  59)  steht.  The  question 
is  to  know,  whether  the  idea  of  extension  agrees  wüh  this  (vgl.  Anm.  29)  definüion? 
Which  will  effectually  agree  to  ü,  if  ü  be  understood  in  the  sense  which  Mr.  Locke  had 
principally  in  his  view;  for  that  compositum  which  he  designed  to  exelude  in  this  defini- 
fson,  was  a  composition  of  different  ideas  in  the  mind  and  not  a  composilion  of  the  some 
kind  tn  a  thmg,  whose  essence  consists  in  having  parts  ofthe  same  kind  etc.  Vgl.  Locke 
Essais  etc.  traduü  par  Coste.  Amst.  1755  p.  4  52. 


126  G.  Hartenstein,  [16 

Einfache  Vorstellungen  bieten  nun  in  einer  von  der  Willkühr  schlecht- 
hin anabhängigen  Weise  nicht  nur  die  einzelnen  Sinne,  jeder  seine  eige- 
nen dar,  sondern  auch  mehrere  Sinne ;  eine  dritte  Glasse  derselben  bietet 
die  Reflexion  allein,  eine  vierte  Sensation  und  Reflexion  in  Verbindung 
dar.33)  Ohne  den  Anspruch  zu  machen,  die  einfachen  Vorstellungen 
irgendwie  vollständig  aufzuzahlen ,  rechnet  er  zu  der  ersten  Classe  die 
qualitativ  verschiedenen  Empfindungen  der  einzelnen  Sinne ,  zu  denen 
auch  die  Solidität  der  Körper  als  Empfindung  des  Tastsinns  gehören 
soll;33)  zu  der  zweiten  Ausdehnung,  Gestalt,  Bewegung,  Ruhe;  zu  der 
dritten  die  Vorstellung  des  Denkens  und  Wollens ;  zu  der  vierten  die 
Vorstellungen  von  Lust  und  Schmerz,  Kraft,  Existenz  und  Einheit,  wäh- 
rend die  Vorstellung  der  Zeit  an  die  Reflexion  auf  den  Verlauf  unserer 
eigenen  Vorstellungen  gebunden  sei. 

In  den  spezielleren  Erörterungen  zunächst  über  diejenigen  ein- 
fachen Vorstellungen ,  die  uns  auf  dem  Wege  der  sinnlichen  Wahrneh- 
mung zugeführt  werden,34)  bemerkt  Locke,  dass  jede  solche  Vorstellung 
positiv  ist,  gleichviel  ob  sie  durch  eine  positive,  oder,  indem  er  sich  des 
hergebrachten  Schulausdrucks  bedient,  durch  eine  privative  Ursache 
hervorgebracht  ist;35)  die  Empfindung  des  Schwarzen  ist  eben  so  posi- 
tiv ,  wie  die  des  Rothen  oder  des  Blauen ,  die  Wahrnehmung  der  Ruhe 
eben  so  positiv,  wie  die  der  Bewegung.  Viel  wichtiger  als  diese  Bemer- 
kung ist  ihm  jedoch  die  Frage,  ob  die  sinnlich  wahrgenommenen  Quali- 
täten als  Eigenschaften  der  Dinge  selbst  angesehen  werden  können. 
Zu  dieser  Frage  findet  er  sich  berechtigt  durch  die  Unterscheidung  zwi- 
schen den  Vorstellungen,  insofern  sie  eben  nur  Vorstellungen  sind  und 
insofern  sie  Modificationen  der  sie  verursachenden  Körper  bezeichnen.36) 


33)  B.  II,  eh.  III—  VII. 

33)  B.  II,  eh.  IV.  ist  diesem  Begriff  gewidmet,  um  die  Cartesianische  Gleicbsetzung 
zwischen  Ausdehnung  und  Körperlichkeit  zu  bestreiten. 

34)  B.  II,  eh.  VIII. 

35)  a.  a.  0.  §  \ — 6.  Dass  der  Gebrauch  des  Begriffs  einer  privativen  Ursache 
nur  eine  Anbequemung  an  den  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  der  Schule  ist,  zeigt  §  6 : 
The  privative  cause  I  have  here  ossigned  of  positive  ideas,  are  aecordmg  to  the  common 
opinion ;  but  in  truth  it  will  be  hard  to  determine  whether  there  be  really  any  ideas  front 
a  privative  cause,  tut  it  be  determmed,  whether  rest  be  any  more  a  privatum  then  tnotion. 
Vgl.  §  4. 

36)  a.  a.  0.  §  7.  To  discover  the  nature  of  our  ideas  the  better  and  to  discourse 
of  them  inteWgibly ,  it  will  be  convenient  to  distinguish  them,  as  the  are  ideas  or  per- 


,1 


4. 


'*■( 


<7]  Locke's  Lehre  von  der  messciil.  Erkenntniss  u.  s.  w.  127 

Die  gemeine  Auffassung — und  man  darf  hinzusetzen,  auch  die  zu  Locke's 
Zeit  herrschende  Schul philosophie —  macht  diese  Unterscheidung  nicht 
und  betrachtet  die  Vorstellungen  als  Ausdruck  der  Qualität  der  Dinge 
selbst.  Locke  ist  sehr  ausführlich,  um  dieses  Vorurtheil  zu  zerstören; 
er  beruft  sich  namentlich  auf  die  Relativität  aller  sinnlichen  Empfindun- 
gen, welche  es  verbieten,  die  gelbe  Farbe  und  die  Wärme  mehr  für  eine 
Eigenschaft  des  Feuers  zu  halten,  als  den  Schmerz,  den  es  uns  verur- 
sacht, wenn  es  uns  brennt;37)  aber  er  ist  gleichwohl  nicht  geneigt,  dem 
gesammten  Inhalte  unseres  sinnlichen  Bewusstseins  diese  blos  phäno- 
menologische Bedeutung  zuzugestehen.  Der  Grund  davon  liegt  darin, 
dass  er  die  durch  die  Cartesianische  Schule  verbreitete  Ansicht  von  der 
Entstehung  der  sinnlichen  Empfindung  filr  richtig,  wenigstens  für  sehr 
wahrscheinlich  hält.  Zugegeben,  dass  man  unter  der  Qualität  eines  Kör- 
pers lediglich  sein  Vermögen  zu  verstehen  habe ,  gewisse  qualitativ  be- 
stimmte und  von  andern  unterschiedene  Vorstellungen  in  uns  hervor- 
zubringen,38) und  ferner  angenommen,  dass  die  noth wendige  Bedingung, 
unter  welcher  ein  Körper  eine  Vorstellung  in  uns  erregen  kann,  ein  Ein- 
druck (impulse)  auf  das  Organ  ist,  so  wird  die  Entstehung  der  sinnlichen 
Vorstellungen  davon  abhängen,  dass  sinnlich  nicht  wahrnehmbare  Theil- 
cben  der  uns  umgebenden  Körper,  die  nach  Gestalt,  Bewegung,  Textur 
und  Zahl  verschieden  sind,  die  sinnlichen  Organe  berühren  und  so  die 
Empfindung  erzeugen/9)  Ausdehnung,  Gestalt,  Solidität  und  Beweglich- 
keit der  materiellen  Theile  werden  dabei  vorausgesetzt,  und  man  bat 
daher  ein  Recht,  das,  was  diese  Vorstellungen  bezeichnen,  als  eine 
Eigenschaft  der  Körper,  diese  Vorstellungen  selbst  als  den  Körpern  ähn- 
lich zu  betrachten.  Locke  nennt  sie  die  ersten,  alle  übrigen  zweite  Qua- 


ceptions  in  our  minds,  and  as  they  are  modifications  of  matter  in  the  bodies  that  cause 
such  perceptions. 

37)  a.  a.  0.  §  «5—2«. 

38)  a.  a.O.  §8.  Whatsoever  the  mmd  percewes  in  itself  or  is  the  immediat  object 
of  perception,  thought  or  understanding,  that  I  call  idea,  and  the  power  to  produce 
any  idea  in  our  mind,  I  call  quality  of  the  subject,  wherein  that  power 
is*  Thus  a  snow-ball  having  the  power  to  produce  in  us  the  ideas  of  white,  cold  and 
round,  the  powers  to  produce  those  ideas  in  us,  as  they  are  in  the  snow-ball,  1  call  qua" 
Usus;  and  as  they  are  sensations  or  perceptions  in  our  understanding,  1  call  them  ideas; 
which  ideas  if  1  speak  of  sometimes  as  in  the  things  themselves,  I  would  be  understood  to 
mean  those  qualities  in  the  objects  which  produce  them  in  us. 

39)  a.a.OJII  flgg. 

Abband!,  d.  K.  S.  Ges.  d.  Wim.  X.  9 


128  G.  Hartenstein,  [*8 

litäten  (prmary,  secondary  qualities);  die  letzteren  zerfallen  wieder  in 
zwei  C lassen,  je  nachdem  ein  Ding  eine  sinnliche  Empfindung  unmittel- 
bar oder  mittelbar,  durch  eine  von  einem  andern  Dinge  empfangene 
Einwirkung ,  hervorbringt ,  wie  z.  B.  wenn  wir  die  Farbe  des  von  der 
Sonne  gebleichten  Wachses  wahrnehmen ,  in  welchen  letzteren  Fallen 
der  gemeine  Sprachgebrauch  vorzugsweise  den  Begriff  der  Kraft  an- 
wendet, indem  er  der  Sonne  die  Kraft  das  Wachs  zu  bleichen  zu- 
schreibt. <°) 

Den  einfachen  sinnlichen  Vorstellungen  stehen  zur  Seite  die  durch 
Reflexion ,  durch  die  innere  Auffassung  der  psychischen  Ereignisse  und 
Thätigkeiten  dargebotenen.  Locke  trägt  kein  Bedenken,  diese  verschie- 
denen Thatigkeitsformen  als  Vermögen  der  Seele  zu  bezeichnen,  ohne 
mit  dieser  Bezeichnung  auf  eine  Bestimmung  des  Wesens  der  Seele 
Anspruch  zu  machen;41)  er  benutzt  sie  als  ein  bequemes  Hülfsmittel,  die 
verschiedenen  geistigen  Tbätigkeiten ,  soweit  sie  sich  auf  die  Erkennt- 
niss  beziehen,  zu  unterscheiden  und  in  ihrer  natürlichen  Stufenfolge 
aufzuzahlen.  Das  erste  Seelenvermögen,  welches  sich  auf  die  Vorstel- 
lungen bezieht,  ist  das  Vorstellungsvermögen;  das  Vorstellen  ist  daher 
die  erste  und  einfachste  Vorstellung,  welche  wir  durch  Reflexion  erlan- 
gen. Im  blossen  Vorstellen  verhält  sich  die  Seele  rein  passiv ;  dadurch 
unterscheidet  es  sich  vom  Denken,  welches  einen  Grad  willkührlicher 
Aufmerksamkeit  einschliesst,  bei  welchem  sich  der  Geist  als  thätig  zeigt. 
Was  Vorstellen  sei,  darüber  verweist  Locke  jeden  an  seine  eigene  innere 
Erfahrung;42)  es  lasse  sich  darüber  nur  so  viel  mit  Gewissheit  sagen, 


40)  a.  a.  0.  §  23.  §  96. 

4  i )  Es  ist  in  dieser  Beziehung  vorläufig  auf  seine  Erörterungen  über  den  Begriff 
der  Kraft  und  des  Vermögens  überhaupt  zu  verweisen  B.  II,  eh.  XXI.  —  B.  IV,  eh.  VI, 
§  \l,  wo  er  die  möglichen  Erweiterungen  des  Wissens  überschlägt,  sagt  er:  1  have 
mentioned  here  only  corporeal  substances ,  whose  Operations  seem  to  lie  more  level  to  owr 
understanding ;  for  as  to  the  Operation  of  spirits,  both  their  thinking  and  moving  of  bodies, 
we  at  first  sight  find  ourselves  at  a  loss,  though  perhaps,  when  we  have  applied  our 
thoughts  a  little  nearer  to  the  consideration  of  bodies  and  their  Operations  and  examined 
how  far  our  notions  even  in  these  reach  with  any  clearness,  beyond  sensible  matter  of 
fact,  we  shall  be  bound  to  confess,  that  even  in  these  too,  our  discoveries  amount  to  very 
little  beyond  perfect  ignorance  and  incapaeüy.  Dergleichen  Aeusserungen  beweisen 
neben  vielen  andern  ähnlicher  Art ,  wie  wenig  dogmatischen  Werth  Locke  auf  die  von 
ihm  selbst  adoptirte  mechanische  Erklärung  der  Entstehung  der  Vorstellungen  ge- 
legt hat. 

42)   B.  II,  eh.  IX,  §  \.  §  2. 


49]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  129 

dass  die  in  dem  körperlichen  Organe  stattgefundene  Veränderung  ins 
Bewusstsein  eintreten  müsse,  wenn  eine  Vorstellung  entstehen  solle, 
daher  trotz  der  A Sectio n  selbst  des  gesunden  Organs  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung nicht  eintritt,  wenn  das  Erkenntnissvermögen  sie  nicht  auf- 
fasst.43)  Er  knüpft  daran  die  für  die  psychologische  Erörterung  eben  so 
nothwendige  als  fruchtbare  Bemerkung,  dass  Vieles  für  eine  sinnliche 
Wahrnehmung  gehalten  wird ,  was  eigentlich  eine  durch  frühere  Erfah- 
rungen bedingte  Deutung  der  sinnlichen  Empfindung  ist;  und  beruft 
sich  hierbei  vorzüglich  auf  die  ergänzende  Auslegung,  die  wir  den  Wahr- 
nehmungen des  Gesichts  unwillkührlich  geben.44) 

Das  nächste  Vermögen ,  durch  welches  ein  Fortschritt  in  der  Er- 
kenntniss geschieht,  ist  das  Vermögen  die  durch  Sensation  und  Reflexion 
erworbenen  Vorstellungen  festzuhalten.  Dies  geschieht  auf  doppeltem 
Wege,  erstlich  durch  die  verweilende  Aufmerksamkeit ,  zweitens  durch 
das  Wiederhervorrufen  früher  gehabter  Vorstellungen ,  also  durch  das 
Gedächtniss. tt)  Von  der  Wichtigkeit  des  Gedächtnisses  oder ,  wenn  es 
erlaubt  ist,  einen  von  Locke  selbst  nicht  angewendeten  Ausdruck  zu 
gebrauchen,  der  Reproduction ,  hat  er  eine  sehr  ausgedehnte  Vor- 
stellung; alle  übrigen  Vermögen  würden  bei  der  Unfähigkeit  des  Men- 
schen eine  grosse  Masse  von  Vorstellungen  gleichzeitig  sich  gegenwärtig 
zu  halten,  ohne  sie  so  gut  wie  nutzlos  sein;46)  aber  durch  die  Bezeich- 


43)  a.  a.  0.  §  4.  Want  of  Sensation  in  this  case  is  not  thro'  any  defect  in  the  organ, 
.  .  .  but  that,  which  uses  to  produce  the  idea,  tho'  conveyed  in  by  the  usual  organ,  not 
betng  taken  notice  of  in  the  understanding  and  so  imprinting  no  idea  on  the  mind,  there 
fottows  no  Sensation,  Es  mag  bemerkt  werden,  dass  das  Wort  understanding  bei  Locke, 
wie  in  der  englischen  Sprache  überhaupt,  der  allgemeine  Ausdruck  theils  für  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Auffassung  und  Erkenntniss,  theils  für  die  verschiedenen  dabei 
stattfindenden  geistigen  Operationen  ist. 

44)  a.  a.  0.  §  8.  Er  führt  dabei  einen  Brief  von  Molineux  an,  der  die  spater  an 
Chesselden's  Blinden  gemachten,  in  den  Philosoph.  Transaetions  erst  1728  veröffent- 
lichten Beobachtungen  gewissermassen  voraussagt. 

45)  B.  II,  eh.  X,  §  \.  The  next  faculty  of  the  mind,  whereby  it  makes  a  further 
progress  towards  knowledge,  is  that  which  I  call  retention  or  the  keeping  of  those 
simple  idcas ,  which  from  Sensation  or  reflexion  it  had  reeeived.  This  is  done  two  ways. 
First,  by  keeping  the  idea  ...  for  some  Urne  actually  in  view,  which  is  called  contempla- 
tion.  The  other  way  of  retention  is  the  power  to  revive  again  in  our  minds  those  ideas, 
which  after  imprinting  have  disappeared  .  . .  This  is  memory,  which  is  as  it  were  the 
store-house  of  our  ideas. 

46)  a.  a.  0.  §  8.  Memory  . .  is  of  so  great  moment,  that  were  it  is  wanting,  all 
the  rest  of  our  faculties  are  in  great  measure  useless. 

9* 


1 30  G.  Hartenstein,  [20 

nung  des  Gedächtnisses  als  des  Vermögeos ,  sich  aus  dem  Bewusstsein 
verschwundener  Vorstellungen  als  früher  gehabter  wieder  bewusst  zu 
werden  oder  sie  als  solche  wieder  hervorzurufen,  glaubt  er  sich  jeder 
näheren  Untersuchung  über  die  Bedingungen  und  Gesetze  der  Repro- 
duction  überhoben.47) 

Sinnliche  Wahrnehmung,  Aufmerksamkeit  und  Gedächtniss  würden 
wenig  nützen,  wenn  sie  nur  unklare  und  verworrene  Vorstellungen  der 
Gegenstände  darbölen.  Aber  der  Mensch  hat  auch  ein  Unterscheidungs- 
vermögen (faculty  of  discerning);  diese  Fähigkeit,  die  Gleichheit  oder 
Verschiedenheit  der  Dinge  zu  bemerken,  ist  der  eigentliche  Grund  des 
allgemeinen  und  unmittelbaren  Einverständnisses  über  gewisse  Sätze, 
die  man  geneigt  ist  für  angeboren  zu  halten.  In  dieser  Bestimmung  der 
Vorstellungen  durch  Unterscheidung  gibt  sich  die  Richtigkeit  des  Urtheils 
(judgtnent)  zu  erkennen,  während  dem,  was  man  Geist  (wit)  nennt, 
hauptsächlich  die  rasche  Verknüpfung  und  Vergleichung  der  Vorstellun- 
gen eigentümlich  ist.48) 

Indem  nun  keine  Unterscheidung  möglich  ist  ohne  Vergleichung, 
spricht  Locke  zwar  nicht  von  einem  besonderen  Vergleichungsvermögen, 
aber  er  legt  auf  die  Thätigkeit  des  Vergleichens  als  einer  ins  Unbestimm- 
bare hin  reichen  Quelle  von  Vorstellungen  und  Begriffen  das  grösste 
Gewicht.40)  Bei  der  Betrachtung  eines  Gegenstandes  sind  wir  nicht  auf 
ihn  beschränkt;  der  Geist  vermag  jede  seiner  Vorstellungen  zu  über- 
schreiten ,  um  ihr  Verhältniss  zu  andern  ins  Auge  zu  fassen.  In  dieser 
Gegenüberstellung  der  Dinge  oder  Vorstellungen  entdeckt  er  Beziehun- 
gen oder  Verhältnisse ;  er  bezeichnet  sie  durch  Worte,  welche  eben  die 
Ausdrücke  für  die  bestimmte  Art  der  Beziehung  sind,  und  die  Dinge  und 
Vorstellungen  heissen  dann  die  Glieder  des  Verhältnisses.00)  Wo  die 
Beziehung  keine  gegenseitige  ist,  übersieht  man  dabei  leicht  die  nur 
relative  Bedeutung  solcher  Vorstellungen  und  verfällt  in  den  Irrthum, 
als  ob  dergleichen  Vorstellungen  etwas  dem  Gegenstande  selbst  Zu- 
kommendes seien.    Jedes  Verhältniss  setzt  aber  nothwendig  zwei  von 


47)  a.  a.  0.  §  2. 

48)  B.  II,  cb.  XI,  §  \.  2. 

49)  a.  a.  0.  §  4.  The  comparing  them  one  with  another  . . .  is  another  Operation 
of  the  mind  about  its  ideas,  and  is  that  upon  which  depends  all  that  large  tribe  of  ideas, 
comprehended  under  relation.  Vgl.  B.  II,  eh.  XXV,  §  4. 

BO)  B.  II,  eh.  XXV,  §  2—6. 


2-1]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  131 

einander  verschiedene  oder  für  verschieden  gehaltene  Vorstellungen 
voraus ;  der  ihr  Verhältniss  bezeichnende  Begriff  ist  nicht  nur  von  den 
Begriffen ,  welche  die  Glieder  des  Verhältnisses  bezeichnen ,  verschie- 
den, sondern  er  kann  auch  bestimmter  und  deutlicher  sein,  als  die  letz- 
teren ;  ebenso  kann  sich  das  Verhältnis  ändern ,  ohne  dass  das  eine 
Glied  desselben  einer  Veränderung  unterliegt.  Wie  unermesslich  man- 
nigfaltig aber  auch  die  Vorstellungen  sein  mögen,  die  der  Mensch  durch 
Vergleichung  gewinnt,  zuletzt  finden  sie  sämmtlich  ihren  Stütz-  und  An- 
fangspunkt in  einfachen,  von  der  Sensation  oder  Reflexion  dargebote- 
nen Vorstellungen.51) 

Eine  fernere  Thätigkeit,  die  der  Geist  in  Beziehung  auf  das  ur- 
sprüngliche Material  seines  Vorstellens  ausübt,  ist  die  Verbindung 
(compositum) ,  vermöge  deren  mehrere  einfache  Vorstellungen  zu  einer 
Vorstellungsgruppe  (complex)  vereinigt  werden.  Zu  dieser  Verbindung 
und  Verknüpfung  mag  auch  die  Erweiterung  (enlarging)  gerechnet 
werden,  die  der  Geist  mit  gewissen  Vorstellungen  vorninjmt;  denn  Er- 
weiterung ist  Verknüpfung  gleichartiger  Vorstellungen ,  wie  besonders 
an  den  Zahlbegriffen  deutlich  ist.58) 

Welche  Vorstellungen  und  Vorstellungsgruppen  nun  auch  durch 
diese  Thätigkeiten  des  Geistes  der  Mensch  erworben  habe,  er  wird 
suchen,  sie  zu  bezeichnen;  dazu  stehen  ihm  articulirte  Laute  zu  Gebote; 
er  bezeichnet  sie  also  durch  Worte.  Worte  sind  Zeichen  von  Vorstel- 
lungen, Vorstellungen  sind  von  den  Dingen  entlehnt,  und  es  würde  eine 
unendliche  Menge  von  Worten  nöthig  sein ,  wenn  jedes  einzelne  Ding 
und  jede  einzelne  Vorstellung  durch  ein  besonderes  Wort  bezeichnet 
werden  sollte.  Um  diesen  Uebelstand  zu  vermeiden,  verallgemeinert  der 
Geist  die  besonderen  Vorstellungen,  indem  er  das  Individuelle,  was 
ihnen  als  einzelnen  anhaftet,  weglässt  und  so  die  Abstracta,  die  Gattun- 
gen des  Gleichartigen  feststellt.  Diese  allgemeinen  und  als  solche  be- 
stimmten Vorstellungen  verknüpft  er  mit  Namen ;  sie  sind  gleichsam  die 
Modelle  und  Typen,  auf  welche  die  wirklichen  Dinge  je  nach  ihrer 


5«)  a.  a.  0.  §7.  9. 

52)  B.  II,  eh.  XI,  §  6.  Composition  whereby  the  mind  puts  together  several  of 
those  simple  ones  it  hos  reeeived  .  . .  Under  this  composition  may  be  reckoned  also  (hat  of 
enlarging,  w herein,  though  the  composition  does  not  so  much  appear  as  in  more  com- 
plex ones,  yet  it  is  nevertheless  a  putting  several  ideas  together,  though  of  the  same  kind. 


1 32  6.  Hartenstein,  [22 

Gleichheit  oder  Verschiedenheit  bezogen  werden.53}  Dieses  Vermögen 
der  Abstraction  spricht  Locke  den  Thieren  gänzlich  ab,  während  das 
Vermögen  zu  vergleichen  und  Vorstellungen  zu  verbinden  ihnen  in  ge- 
wissem Grade  nicht  abgesprochen  werden  könne;  und  zwar  fehlen 
ihnen  allgemeine  Begriffe  nicht  desshalb,  weil  ihnen  die  Organe  für  die 
Bildung  articulirter  Laute  fehlen ,  sondern  in  dem  Mangel  der  Fähigkeit 
zu  abstrahiren  liegt  das  specifische  Unterscheidungsmerkmal  zwischen 
Mensch  und  Thier.54) 

Ueberblickt  man  nun  die  Gesammtheit  dieser  Bestimmungen  Locke's 
über  die  Entstehung  des  menschlichen  Vorstellungskreises,  über  welche 
er  sich  am  Schlüsse  derselben  mit  grosser  Bescheidenheit  äussert,55)  so 
darf  man  nicht  übersehen,  dass  er,  neben  dem  durch  die  äussere  und 
innere  Erfahrung  dargebotenen  Material  der  Vorstellungen,  sich  auf  eine 
Mehrheit  geistiger  Thäligkeiten  beruft,  durch  welche  jenes  Material  zum 
Theil  dergestalt  umgebildet  werde,  dass  sich  der  Zusammenhang  dieser 
Producte  des  Unterscheiden^  Vergleichens,  Verknüpfens  und  Beziehens 
mit  den  primitiven  Elementen  derselben  der  fluchtigen  Betrachtung  leicht 
entziehe.  Der  menschliche  Vorstellungskreis  unterscheidet  sich  von  dem 
der  Thiere  eben  vermöge  dieser  der  menschlichen  Natur  eigentümlichen 
Thätigkeiten ,  die  Locke  einfach  als  eine  weise  und  zweckmässige  Ein- 


53)  a.  a.  0.  §  8.  9.  The  use  of words  then  being  to  stand  as  outward  marks  of 
our  internal  ideas  and  those  ideas  being  taken  from  particular  things ,  if  every  particular 
idea  .  . .  should  have  a  distinct  name,  names  most  be  endless.   To  prevent  this,  the  mind 

\  makes  the  particular  ideas  . .  to  become  gener al;  which  is  done  by  considering  them  as 

the  are  in  the  mind  such  appearances,  separate  from  all  other  existences  and  the  ctrcvro- 
stances  of  real  existence  .  . .  This  is  called  abstraction,  whereby  ideas,  taken  from 
particular  beings,  become  gener  al  representatives  of  all  of  the  same  kind,  and  their  names 

!  gener  al  names  . . .  Such  precise,  naked  appearances  in  the  mind  ...  the  undcrstanding 

lays  up  {with  names  commonly  annexed  to  them)  as  Standards  to  rank  real  existences  into 

|  sorts,  as  the  agree  with  these  patterns,  and  to  denominate  them  accordingly . 

54)  a.  a.  0.  §40.  41. 

!  55)  a.  a.  0.  §  4  5 — 17.  Thus  1  have  given  a  short  and,  I  think,  a  true  history  of 

the  first  begmnings  of  human  knowledge  . . .  wherein  I  must  appeal  to  experience  and 
Observation,  whether  J  am  in  the  right;  the  best  way  to  come  to  truth  being  to  examine 
things  as  really  they  are  and  not  to  conclude  they  are ,  as  we  fancy  of  ourselves  ...  If 

;  other  men  have  either  innate  ideas  or  infused  principles,  the  have  reason  to  enjoy  them; 

I  and  if  they  are  sure  of  itt  it  is  impossible  for  others  to  deny  them  the  privileges  that  they 

|  have  above  their  neig hb our.    1  can  speak  only  on  what  l  find  in  myself.  .  . . 

I pretend  not  to  teach,  but  to  enquire. 

i 


23]  Locke's  Lehre  von  der  mbnscul.  Erkenntmss  u.  s.  w.  133 

richtung  des  Schöpfers  betrachtet,  deren  Wirkungsart  aber  nicht  weniger 
als  der  durch  äussere  und  innere  Erfahrung  dargebotene  Stoff  zu  den 
Voraussetzungen  gehört,  deren  er  sich  zur  Erklärung  des  Vorstellungs- 
kreises bedient.  Was  aus  den  durch  äussere  Erfahrung  dargebotenen 
Elementen  wird,  hängt  von  der  Activität  des  Geistes  eben  so  ab,  als  von 
dem  Verkehr  mit  der  Aussenwelt.56) 


m. 

Um  nun  den  Gehalt  an  Erkenntniss  zu  untersuchen,  den  diese  Pro- 
ducte  der  geistigen  Thätigkeiten  haben,  erachtet  es  Locke  für  notwen- 
dig, zuvörderst  die  Hauptclassen  der  zusammengesetzten  Vorstellungen 
oder  Begriffe  zu  unterscheiden.  Sie  lassen  sich  nach  seiner  Ansicht  auf 
drei  Classen  zurückführen,  Substanzen,  Modi  und  Relationen.  Diese 
Bezeichnungen  bedürfen  einer  Erklärung.  Unter  Substanzen  versteht  er 
diejenigen  Verknüpfungen  einfacher  Vorstellungen  oder  Vorstellungs- 
gruppen, die  mit  der  Voraussetzung  gedacht  werden,  dass  sie  bestimm- 
ten wirklich  existirenden  Dingen  entsprechen ,  dergestalt  dass  die  für 
sie  und  in  ihnen  vorausgesetzte  Substanz  als  der  Anknüpfungspunkt  für 
die  übrigen  in  der  Vorstellungsgruppe  enthaltenen  Bestandteile  gehal- 
ten wird.  Der  Begriff  der  Substanz  entspricht  also  dem  Begriff  des  Dings 
mit  seinen  Eigenschaften ,  insofern  es  als  der  Träger  der  letztern  ange- 
sehen wird.57)  Locke  setzt  hinzu ,  dass  dieser  Begriff  nicht  auf  einzelne 


56)  B.  II,  eh.  XII,  §  i.  As  the  mind  is  wholly  passive  in  the  reeeption  of  all  its 
simple  ideas,  so  its  exerts  several  acts  of  its  own,  whereby  out  of  its  simple  ideas,  as  the 
materials  and  foundations  of  the  rest,  the  other  are  framed. 

57)  B.  II,  eh.  XII,  §  6.  The  idea  of  substance  are  such  combinations  of  simple  ideas 
as  are  taken  to  represent  distinet  particular  things  subsisting  by  themselves,  in  which  the 
supposed  idea  of  substance,  such  as  it  is,  is  the  first  and  chief.  In  der  first  letler  to  the 
Bishop  ofWorcester  (vgl.  die  hier  angef.  Ausg.  v.  Locke's  Essay  p.  83  Anm.)  erläutert 
er  diesen  Begriff  so :  The  ideas  of  the  gualities  and  actions  or  powers  are  pereeived  by 
the  mind  to  be  themselves  inoonsistent  wüh  existence;  . .  we  must  coneeive  a  substratum 
or  subjeet,  w herein  the  are  ....  Because  a  relation  cannot  be  found  in  nothing  or  be  the 
relation  of  nothing ,  and  the  thing  here  related  as  a  supporter  or  a  support  is  not  repre- 
sented  . .  by  any  clear  and  distinet  idea ,  therefore  the  obscure  and  indistinet  vague  idea 
of  thing  or  something  is  all  that  is  left  to  be  the  positive  idea  which  hos  the  relation  of 
a  support  or  substratum  to  modes  or  aeeidents. 


134  G.  Hartenstein,  [24 

Dinge  beschrankt  sei,  sondern  sich  auch  auf  Collect! v Vorstellungen  meh- 
rerer Dinge  erstrecke;  die  Vorstellung  einer  Armee  oder  einer  Schaf- 
heerde  nennt  er  eben  so  die  Vorstellung  einer  Substanz,  als  die  des  ein» 
zelnen  Menschen  oder  Schafes.98)  Bei  der  Kritiklosigkeit,  mit  welcher 
die  natürliche  Auffassung  der  Dinge  die  Einheit  des  Seins  auf  alles  das 
überträgt,  was  sich  ihr  als  irgendwie  verknüpft  darstellt,  erscheint  diese 
Bestimmung  weniger  auffallend,  als  sie  sein  würde,  wenn  es  Locke  nicht 
vor  Allem  darauf  ankäme,  die  Beschaffenheit  dieses  natürlichen  Vorstel- 
lungskreises kenntlich  zu  machen. 

Als  modi,  —  eine  Bezeichnung  für  die  es  schwer  ist  ein  congruen- 
tes  deutsches  Wort  zu  finden,  —  bezeichnet  er  die  zusammengesetzten 
Vorstellungen,  welche  nicht  mit  der  Voraussetzung  gedacht  werden, 
dass  das  durch  sie  Bezeichnete,  eine  selbstständige  Existenz  habe, 
sondern  welche  als  Anhängsel  und  Affectionen,  Attribute,  Accidenzen 
oder  Modificationen  der  Substanzen  gedacht  werden.  Sie  zerfallen  in 
zwei  Classen,  einfache  modi,  wenn  die  in  ihnen  verknüpften  einfachen 
Vorstellungen  gleichartig,  gemischte  modi,  wenn  diese  ungleichartig 
sind.59)  So  sind  z.  B.  die  Raum-  und  Zahlbegriffe ,  die  verschiedenen 
näheren  Bestimmungen  des  Denkens,  der  Lust  und  Schmerzempfindun- 
gen einfache  modi;  zu  den  gemischten  modis  gehören  alle  die  unbe- 
stimmbar mannigfaltigen  ungleichartige  Bestandteile  einschliessenden 
Begriffe,  welche  nicht  die  Dinge  selbst  bezeichnen  und  doch  von  ihnen 
ausgesagt  werden.  Vorzugsweise  bilden  die  Begriffe  des  Denkens,  der 
Bewegung  und  der  Kraft  die  Anknüpfungspunkte  für  diese  gemischten 
modi,  welche  die  nach  den  Gesichtspunkten  der  Ursachen,  Mittel,  Gegen- 
stände, Werkzeuge,  Zwecke,  der  Zeit,  des  Orts  u.  s.  w.  verschiedenen 
Modificationen  jener  Vorstellungen  bezeichnen ;  in  diesem  Sinne  ist  die 
Vorstellung  des  Laufens  und  Ringens  nicht  weniger  ein  gemischter  mo- 
dus, als  die  der  Dankbarkeit  oder  der  Rache;  aber  eine  Aufzählung  aller 


58)  B.  II,  cb.  XII,  §  C. 

59)  a.  a.  0.  §  4.  Mo  des  1  call  such  complex  ideas  y  which,  howewer  compounded, 
contain  not  in  them  the  supposition  of  subsisting  by  themselves,  but  are  considered  as 
dependences  on,  or  affections  of  substances.  §  5.  Of  these  modes  are  ttoo  softes,  which 
deserve  distinct  consideration ;  first,  there  are  some  which  are  only  variations  or  different 
combinations  of  the  same  simple  idea  .  . .  and  these  I  call  simple  modes.  Secondly,  there 
are  others  compounded  of  simple  ideas  of  several  kinds,  put  together,  to  make  one  com- 
plex on;  ...  and  these  I  call  mixed  modes. 


25]  Locke's  Lkhre  von  der  menscbl.  Erkbnntniss  ü.  s.  w.  135 

dieser  Vorstellungen  würde  nicht  viel  weniger  heissen,  als  ein  Wörter- 
buch des  grössten  Theils  der  Worte  und  Begriffe  liefern ,  deren  sich  die 
Theologie,  die  Moral,  die  Jurisprudenz,  die  Politik  und  die  verschiede- 
nen übrigen  Wissenschaften  bedienen.60)  In  der  Bildung  dieser  zusam- 
mengesetzten Vorstellungen  ist  der  Geist  thätig  und  überschreitet  die 
Erfahrung;61)  die  Einheit,  die  er  ihnen  zuschreibt,  liegt  in  der  ihnen 
beigelegten  Verknüpfung  und  dem  äusseren  Zeichen  derselben,  dem 
Namen;  gewöhnlich  bekommen  nur  die  Complexionen  dieser  Art  eine 
bestimmte  Benennung,  rucksichtlich  deren  ein  Bedttrfniss  der  Mitthei- 
lung vorhanden  ist.  Daher  finden  sich  nicht  in  allen  Sprachen  Zeichen 
ftlr  alle  Begriffe  und  jede  Sprache  hat  Worte,  für  welche  es  in  anderen 
Sprachen  keine  genau  entsprechenden  gibt;  in  der  Veränderlichkeit  die- 
ser Vorstellungsgruppen  liegt  ein  Grund  für  die  Veränderlichkeit  der 
Sprachen.88) 

Der  Begriff  dessen ,  was  Locke  modus  nennt,  ist  im  hohen  Grade 
unbestimmt  und  schwankend;  das  negative  Merkmal,  durch  welches  er 
ihn  begrenzt,  dass  das  durch  den  Begriff  modus  Bezeichnete  nicht  eine 
selbständige  Existenz  in  Anspruch  nimmt,  sondern  nur  Anhängsel  und 
Modifikation  der  Substanzen  ist,  passt  nicht  durchweg  zu  den  von  ihm 
selbst  angeführten  Beispielen.  Welcher  Substanz  Modification  sollte  wohl 
der  Begriff  des  Triumphs  oder  des  Ostracismus  sein?  Wenn  Locke  den 
Begriff  des  Vaters  und  des  Sohnes  für  Relationen ,  den  des  Vatermords 
für  einen  gemischten  Modus  erklärt,  so  bezeichnet  der  letztere  zunächst 
nicht  die  Modification  eines  Pings,  sondern  bat  zu  seiner  Voraussetzung 
jenes  Verhältniss  zwischen  Vater  und  Sohn.  Für  die  Relationen,  die 
dritte  Hauptclasse  der  zusammengesetzten  Begriffe,  macht  er  als  das 
wesentliche  Merkmal  die  vergleichende  Betrachtung  der  Dinge  gel- 


60)  B.  II,  eh.  XXII,  §40—4  2. 

64)  a.  a.  0.  §  2.  The  mind  often  exercise  an  active  power  in  making  these  several 
combinations.  . .  .  And  hence,  I  think,  it  is  that  these  ideas  are  called  notions,  as  if 
they  had  their  original  and  constante  existence  more  in  the  thoughts  of  men ,  than  in  the 
reality  of  things,  and  to  form  such  ideas,  it  sufficed,  that  the  mind  puts  the  parte  of  them 
together  and  that  they  were  consistent  in  the  understanding,  without  considering,  whether 
they  had  any  real  being. 

62)  a.  a.  0.  §  i.  Every  mixed  mode  consisting  of  many  distinet  simple  ideas ,  it 
seems  reasonable  to  enquire,  whenee  it  hos  his  unity  ?  . . .  To  which  I  answer,  it  is  piain, 
it  hos  his  unity  from  an  act  of  mind  combining  those  several  simple  ideas  together  . . .  and 
the  mark  of  this  unity  . ..  is  one  natne  gwen  to  that  combinations.  Vgl.  §  5 — 7. 


1 36  G.  Hartenstein,  [*t> 

tend;63)  wo  er  aber  von  den  moralischen  Relationen  spricht,  kommt  er 
noth wendig  vielfach  auf  Begriffe,  die  er  auch  als  gemischte  modi  be- 
zeichnet. Daher  subsumirt  er  auch  bisweilen  die  Relationen  geradezu 
unter  die  gemischten  modi,**)  und  umgekehrt;  obwohl  er  Raum,  Zeit, 
Zahl  für  einfache  modi  erklärt,  bemerkt  er  doch,  dass  alle  Bestimmungen 
dieser  Begriffe  Verhältnisse  und  Beziehungen  einschliessen.05)  Man  würde 
der  Unterscheidung  der  Substanzen,  modi,  und  Relationen  die  des  Dings, 
der  Eigenschaft,  und  der  Beziehung  oder  des  Verhältnisses  Substituten 
können ,  wenn  nicht  Locke  als  Beispiel  für  die  modi  Begriffe  anführte, 
welche  Verhältnisse  und  Beziehungen  bezeichnen ,  und  wenn  er  nicht 
umgekehrt  die  Einsicht  hätte,  dass  das,  was  als  Eigenschaft  der  Dinge 
vorgestellt  wird,  auf  Verhältnissen  beruht. 

Indessen  diese  ganze  Unterscheidung  der  drei  Haupte  lassen  der 
Vorstellungen  ist  für  ihn  nur  das  Mittel,  um  dadurch  einen  Leitfaden  für 
die  Untersuchung  zu  gewinnen,  welchen  Anspruch  auf  Erkenntniss  die 
unter  die  eine  oder  die  andere  Classe  fallenden  Begriffe  machen  können. 
So  wenig  systematisch  diese  Untersuchung  bei  Locke  auch  angelegt  ist, 
so  enthält  doch  das  1 3 — 23.  Capitel  des  zweiten  Buchs  eine  Kritik  der- 
jenigen Begriffe,  welche  zu  allen  Zeiten  die  Mittelpunkte  metaphysischer 
Lehrmeinungen  gewesen  sind  und  um  welche  sich  namentlich  die  ari- 
stotelisch -  scholastische  Metaphysik  gruppirt.  Sie  sind  der  des  Dings 
und  seiner  Eigenschaften  (Substanz  und  Accidenz),  der  Kraft,  der  Ur- 
sache und  Wirkung,  des  Raums,  der  Zeit,  der  Zahl,  des  Endlichen  und 
Unendlichen,  des  Ich;  und  die  Bedeutung  des  Locke'schen  Werks  beruht 
zum  mindesten  eben  so  sehr,  als  auf  seinen  psychologischen  Analysen, 
auf  dieser  Untersuchung  des  Erkenntnisswertbes ,  den  diese  Begriffe  in 
der  Gestalt,  wie  sie  sich  factisch  in  dem  menschlichen  Gedankenkreise 
nachweisen  lassen ,  haben  oder  nicht  haben.  Bei  der  Darlegung  dieser 
Untersuchungen  ist  es  zweckmässig ,  die  bei  Locke  durch  die  Unter- 
scheidung der  modi,  Substanzen  und  Relationen  bestimmte  Reihenfolge 
fallen  zu  lassen,  und  mit  dem  Begriffe  des  Dings  und  seiner  Eigenscbaf- 


63)  B.  II,  eh.  XU,  §  7.  The  last  sort  of  complex  ideas  is  that  tve  call  relations, 
which  consists  in  the  cotisideration  and  comparing  one  idea  with  another.  Vgl.  cb.  XXV, 

64)  B.  III,  eh.  IV,  §  1 .  Mixed  modes,  under  which  I  comprise  relations  too. 

65)  B.  II,  eh.  XXI,  §  3. 


37]  Locke's  Lehre  von  der  menschi.  Erkenntniss  u.  s.  w.  1 37 

len  zu  beginnen ,  um  darauf  die  Begriffe  folgen  zu  lassen ,  welche  die 
Beziehungen  und  Verhältnisse  der  Dinge  bezeichnen. 

Der  Begriff  des  Dings,  sagt  Locke,  wie  er  thatsächlich  in  der  Auf- 
fassung theils  der  äusseren  Objecte,  theils  unserer  selbst  sich  aufdringt, 
beruht  darauf,  dass  eine  Mehrheit  einfacher  Vorstellungen,  die  sich  be- 
harrlich einer  gleichzeitigen  Auffassung  darbieten,  unter  einander  in  die 
Einheit  einer  Gesammtvorstellung,  die  durch  ein  besonderes  Wort  be- 
zeichnet wird,  verknüpft  ist.  Unsere  Vorstellung  eines  Menschen,  eines 
Pferds,  eines  Stücks  Gold,  Blei  u.  s.  w.  ist  nichts  als  die  Complexion  der 
an  den  durch  diese  Worte  bezeichneten  Gegenständen  wahrgenommenen 
Merkmale;  und  in  ähnlicher  Weise  bilden  wir  aus  den  Merkmalen  des 
Denkens,  des  Ueberlegens,  Zweifeins,  Hoffens,  Wollens  u.  s.- w.  die  Com- 
plexion ,  welche  wir  Geist  oder  Seele  nennen.  Bei  keiner  dieser  Com- 
plexionen  nehmen  wir  in  irgend  einem  ihrer  Bestandteile  d.  h.  in  irgend 
einem  der  Merkmale  des  Dings  einen  Grund  wahr,  warum  es  mit  den 
übrigen  gerade  so  und  nicht  anders  verknüpft  ist;  ferner  können  wir  uns 
keine  Vorstellung  davon  machen,  wie  das,  was  den  einfachen  Bestand- 
teilen der  Complexion  entspricht,  für  sich  exisliren  könne,  und  so 
setzen  wir  der  ganzen  Complexion  Etwas  voraus,  was  den  einzelnen 
Bestandteilen  derselben  eine  Unterlage,  einen  Träger,  einen  Stützpunkt 
darbiete;  wir  unterscheiden  und  verknüpfen  in  dieser  Unterscheidung 
das  Ding  und  seine  Eigenschaften,  die  Substanz  und  ihre  Accidenzen, 
so  dass  die  letzteren  der  ersteren  als  inhärierend  gedacht  werden.06) 


66)  B.  II,  eh.  XXIII,  §  I .  The  mind  being  furnished  wüh  a  great  number  of  the 
simple  ideas,  . . .  take  notice  also ,  that  a  certain  number  of  these  simple  ideas  go  con- 
siantly  together;  which  being  presumed  to  belong  to  one  thing,  and  words  being  suüed  to 
common  apprehensions,  . .  .  are  called,  so  united  in  one  subjeet,  by  one  name;  which  by 
inadvertancy  we  are  apt  afterwards  to  talk  of  and  consider  as  one  simple  idea ,  which 
indeed  is  a  complication  of  many  ideas  together;  because,  not  imagining,  how  these  simple 
ideas  can  subsist  by  themselves,  we  aecustom  ourselves  to  suppose  some  subslratum, 
wherein  they  do  subsist  or  from  which  they  do  result;  which  therefore  we  call  sub- 
stance.  §  3.  Thus  we  come  to  have  the  ideas  of  a  man,  horse,  gold,  water  etc.,  of  which 
substances  whether  any  one  hos  other  clear  idea,  farther  than  of  certain  simple  ideas 
coeevisting  together,  I  appeal  to  every  one's  own  experience.  §  5.  The  same  happens  con- 
cerning  the  Operations  of  the  mind  vi*.  thinkingt  reasoning,  fearing  etc.,  which  we  con- 
cluding  not  to  subsist  of  themselves,  nor  apprehending  how  they  can  belong  to  body,  . . 
we  are  apt  to  think  these  the  actions  of  some  other  substance ,  which  we  call  spirit.  Dar* 
über,  dass  die  Ursache  der  bestimmten  Verknüpfung  der  Merkmale  in  der  Einheit  des 
Dings  gänzlich  unbekannt  ist,  vgl.  besonders  B.  IV,  eh.  VI,  §  7flgg. 


1 38  G.  Hartenstein,  [28 

Dabei  macht  er  ausdrücklich  darauf  aufmerksam,  dass  diese  Complexio- 
nen  zum  grossen  Theile  nicht  blos  in  den  Merkmalen  bestehen,  die  in 
dem  Dinge  sich  wirklich  als  coexistirend  nachweisen  lassen,  sondern 
dass  die  Vorstellung  von  dem,  was  die  Dinge  sind,  in  sehr  vielen  Fällen 
ihre  nähere  Bestimmung  durch  das  erhält,  was  sie  thun  und  leiden,  so 
dass  diese  Potentialitäten,  diese  Kräfte  und  Vermögen  den  Dingen  eben 
so  als  ihre  Eigenschaften  beigelegt  werden,  wie  das,  was  sie  unabhän- 
gig von  ihrem  Wirken  und  Leiden  sind  oder  zu  sein  scheinen.67)  So  sind 
unsere  Vorstellungen  von  den  Dingen  zusammengesetzt  aus  den  Vor- 
stellungen einerseits  ihrer  ruhenden  Eigenschaften  und  denen  der  von 
ihnen  ausgehenden  und  in  sie  einströmenden  Wirkungen,  andererseits 
der  Substanz  als  des  Trägers  dieser  Mannigfaltigkeit.  Natürlich  legen 
wir  dabei  jedem  einzelnen  Dinge  seine  eigene  Substanz  unter;  den  Ge- 
danken einer  allgemeinen,  allen  Dingen  gemeinschaftlich  zu  Grunde  lie- 
genden Substanz  berührt  Locke  gar  nicht,  weil  er  sich  in  dem  natür- 
lichen Vorstellungskreise  in  der  That  nicht  vorfindet;  aber  er  erinnert 
an  die  substanziellen  Formen  als  den  schulmässigen  Ausdruck  für  die 
natürliche  Vorstellungsweise  und  spricht  von  einem  allgemeinen  Begriff 
der  Substanz,  insofern  das  Verhältniss  von  Substanz  und  Accidenzen 
bei  jedem  Dinge  immer  dasselbe  ist.68) 

Welchen  Erkenntnisswerth  bat  nun  dieser  Begriff  der  Substanz, 
insofern  er  mit  dem  Anspruch  auftritt,  das  Wesen  der  Dinge  zu  bezeich- 
nen? Gar  keinen,  ist  Locke's  Antwort  auf  diese  Frage;  denn  der  Begriff 
der  Substanz  bezeichnet  nichts  als  ein  gänzlich  unbekanntes  Etwas, 
welches  den  Qualitäten  der  Dinge  als  ihr  Träger  vorausgesetzt  wird. 
Er  enthält  nicht  den  geringsten  Aufscbluss  weder  über  sein  eigenes 
Was,  noch  über  die  Art,  wie  die  Eigenschaften  und  Kräfte  theils  mit  der 
Substanz,  theils  unter  einander  verbunden  sind.09)   Locke  benutzt  diese 


67)  B.  II,  eh.  XXIII,  §7.8.  The  power  of  drawing  iron  is  one  of  the  ideas  of  the 
complex  one  of  that  substance  we  call  a  loadstone,  and  a  power  to  be  so  drawn  is  a  pari 
of  the  complex  one  we  call  iron  u.  s.  w. 

68)  Vgl.  hierüber  die  aus  dem  ersten  Briefe  an  den  Bischof  von  Worcester  in  der 
hier  citirten  Ausgabe  I,  244  in  der  Anmerkung  angeführten  Stellen. 

69)  B.  II,  eh.  XXIII,  §  2.  If  any  one  will  examine  hitnself  concerning  his  notion  of 
pure  substance  in  general,  he  will  find  he  hos  no  other  idea  of  it  at  all  but  only  a  sup- 
position  of  he  knows  not  what  support  of  such  quaUties,  which  are  capable  of  producing 
simple  ideas  in  us ;  which  qualüies  are  commonly  caüed  aeeidents.  If  any  one  should  be 
asked,  what  is  Ihe  subjeet  w  her  ein  colour  or  weight  inheres,  he  would  have  nothing  to 


29]  Locke's  Lehre  von  der  mknsciil.  Erkenntniss  u.  s.  vv.  139 

Gelegenheit,  um  sehr  ausführlich  auseinanderzusetzen,  dass  der  Begriff 
einer  geistigen  und  einer  körperlichen  Substanz  gleich  viel  oder  vielmehr 
gleich  wenig  Ausschluss  über  das  Wesen  des  Geistes  und  des  Körpers 
darbiete.  Denken ,  Wollen  sammt  allen  übrigen  Merkmalen ,  die  wir  in 
die  Complexion,  welche  wir  Geist  oder  Seele  nennen,  zusammenfassen, 
sind  gerade  so  begreiflich  und  so  unbegreiflich,  wie  Ausdehnung,  Cohä- 
sion,  Mittheilung  der  Bewegung,  die  wir  als  das  Wesen  des  Körpers 
denken.70)  Es  bleibt  uns  nichts  übrig  als  die  Vorstellungen  von  Körper 
und  Geist  zu  nehmen ,  wie  sie  sich  bei  dem  ersteren  durch  die  ersten 
Qualitäten,  bei  dem  zweiten  durch  die  Begriffe  aufdringen,  durch  die 
wir  die  innern  Ereignisse  und  Tätigkeiten  auffassen;  sobald  wir  diese 
Grenze  überschreiten ,  verwickeln  wir  uns  in  unentwirrbare  Schwierig- 
keiten und  entdecken  nichts  als  unsere  Unwissenheit.71) 

Der  Umstand ,  dass  der  von  Locke  in  seiner  Wertlosigkeit  aufge- 
zeigte Begriff  der  Substanz  geradezu  den  Mittelpunkt  der  durch  Aristo- 
teles zur  Geltung  gekommenen  Schulmetaphysik  bildet,  macht  es  be- 


say,  but  the  solid  extended  parte;  and  if  he  were  demanded,  what  is  it  that  solidity  and 
extension  inhere  in,  he  would  not  be  in  a  much  better  case,  than  the  Jndian,  who,  saying 
lhat  the  world  was  supported  by  a  great  elephant,  was  asked,  what  the  elephant  rested 
on;  to  which  his  answer  was,  a  great  tortoise;  but  again  pressed  to  know  what  gave  Sup- 
port to  the  broad-backed  tortoise  replied:  something,  he  knew  not  what.  And  thus  here, 
as  in  all  other  cases  where  we  use  words  wühout  having  clear  and  distinct  ideas,  we  take 
like  children,  who,  being  questioned,  what  such  a  thing  is,  which  they  know  not,  readily 
gwe  the  satisfactory  answer,  that  it  is  something.  . ..  The  idea  then  we  have,  to  which 
we  gave  the  general  name  substance,  being  nothing  but  the  supposed,  but  unknown 
support  of  those  qualities  we  find  ewisting,  which  we  imagine  cannot  subsist  sine  re  sub- 
Staate,  without  something  to  support  them,  we  call  that  support  substantia,  which  is  in 
piain  English  Standing  under  or  upholding.  Vgl.  B.I,  eh.  III,  §  4  8.  II,  eh.  XXXI,  §  6flgg. 
III,  eh.  XIII,  §  19. 

70)   B.  II,  eh.  XXIII,  §  16—32. 

7  \)  a.  a.  0.  §  30.  The  substance  of  spirit  is  unknown  to  us,  and  so  is  the  substance 
of  body  equally  unknown  to  us.  Two  primary  qualities  or  proper Hes  of  body,  viz.  solid 
coherent  parts  and  impulse,  we  have  distinct  clear  ideas  of;  so  likewise  we  know  and 
have  distinct  clear  ideas  of  two  primary  qualities  or  properties  of  spirit,  viz.  thinking 
and  power  of  action.  . . .  We  have  also  the  ideas  of  several  qualities  inherent  in  bodies; 
. . .  we  have  likewise  the  ideas  of  the  several  modes  of  thinking ...  §  32.  Whensoever  we 
would  proeeed  beyond  these  simple  ideas  we  have  from  Sensation  and  reflection  and  dive 
farther  into  the  nature  of  things,  we  fall  presently  into  darkness  and  obscurity,  per- 
plexedness  and  diffieuities,  and  can  discover  nothing  farther  but  our  own  blindness  and 
ignorance. 


140  G.  Hartenstein,  [30 

greiflich,  dass  er  auf  ihn  mit  einer  Art  unermüdlicher  Ausführlichkeit 
immer  wieder  zurückkommt.  Das  31 .  Gapitel  des  IL  Buches  (§  6  flgg.) 
enthält  nochmals  die  ausführliche  Erörterung,  dass  die  Vorstellung  der 
Substanz  gleich  unvollständig  und  uugenügend  ist,  gleichviel  ob  man 
darunter  die  substantielle  Form  der  einzelnen  Dinge  oder  den  ganzen 
Complex  der  in  dem  Begriffe  des  Dings  zusammengefassten  Merkmale 
versteht.  Die  angebliche  substantielle  Form  ist  factisch  unbekannt;  wäre 
sie  bekannt,  so  müsste  sich  aus  ihr  die  Mannigfaltigkeit  der  an  dem 
Dinge  wahrgenommenen  Merkmale  und  der  Zusammenhang  der  letzte- 
ren unter  einander  ableiten  lassen;  der  Complex  der  Merkmale  aber  gibt 
schon  desshalb  einen  höchst  unvollständigen  Begriff,  weil  die  meisten 
dieser  Merkmale  ein  Wirken  und  Leiden  bezeichnen  und  es  noch  unbe- 
stimmt viel  mehr  solche  Verhältnisse  des  Thuns  und  Leidens  geben 
kann ,  als  wirklich  beobachtet  worden  sind.  Auch  gehört  hierher  die 
Nach  Weisung,  dass  der  grösste  Theil  der  Eigenschaften ,  die  wir  den 
Dingen  als  ihr  eigenes  Was  beilegen,  von  fremden,  oft  sehr  weit  ent- 
legenen Bedingungen  abhängt.72) 

Was  die  Vorstellungen  von  Aggregaten  mehrerer  Dinge,  wie  die 
einer  Heerde,  einer  Stadt,  einer  Flotte  u.  s.  w.  anlangt,  so  hätte  sie  Locke 
wohl  mit  Stillschweigen  übergehen  können,  da  wenigstens  die  herge- 
brachte Schulmetaphysik  von  der  Substanz  einer  Flotte,  einer  Stadt  nicht 
in  demselben  Sinne  gesprochen  hat,  wie  von  der  einer  Rose,  eines  Stücks 
Gold ,  Brod  u.  s.  w.  Gleichwohl  mag  es  der  pantheistischen  Verwech- 
selung der  Einheit  des  Begriffs  vom  Sein  mit  der  Einheit  des  Seien- 
den gegenüber  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  Locke  den  Begriff  der 
Welt  oder  des  Universums  als  ein  Beispiel  für  die  Fähigkeit  des  Geistes 
anführt,  die  heterogensten  und  entgegengesetztesten  Dinge  in  einen  Be- 
griff zusammenzufassen.73) 

Die  Complexionen  von  Vorstellungen,  durch  welche  wir  die  Dinge 
bezeichnen,  besteben  zum  grossen  Theile  aus  den  Kräften,  die  wir 
ihnen  beilegen;  was  die  Dinge  zu  sein  scheinen,  verrälh  sich  uns  durch 
das,  was  sie  wirken  und  leiden.   Für  beides  haben  wir  die  Vorstellung 


72)  B.  IV,  eh.  vi,  §  n. 

73)  B.  II,  eh.  XXIV,  §  2.  These  coüectwe  ideas  of  substances  the  mind  makes  by 
its  power  of  compositum  and  unitmg  severally,  eüher  simple  or  complex  ideas  into  one . . . 
§  3.  There  are  no  thmgs  so  remote,  not  so  contrary,  which  the  mind  cannot  by  this  ort  of 
composition  bring  into  one  ideay  as  is  visible  in  that  signißed  by  the  name  Universe, 


31]  Locke's  Lkhrk  von  der  menschl.  Erkrnntniss  u.  s.  w.  141 

des  ursächlichen  Zusammenhangs,  und  die  Vorstellung  der  Ursachen 
und  Wirkungen  gehört  zusammen  mit  dem  der  Kraft  und  der  Empfäng- 
lichkeit. Locke  trennt  die  Erörterung  über  diese  Begriffe;  er  widmet 
dem  Begriffe  der  Kraft  das  21.  Capitel  des  II.  Buches,  und  spricht  von 
Ursache  und  Wirkung  erst  im  26.  Capitel,  weil  er  den  ersteren  Begriff 
für  einen  modus,  den  zweiten  für  eine  Relation  erklärt,  und  es  verräth 
sich  auch  an  dieser  Stelle,  wie  wenig  durchgreifend  diese  ganze  Unter- 
scheidung zwischen  modus  und  Relation  ist.74)  Ist  ein  Unterschied  in  der 
Art,  wie  diese  Begriffe  in  dem  gewöhnlichen  Gedankenkreise  auftreten, 
so  liegt  er  darin,  dass  Ursache  und  Wirkung  sich  auf  die  wirkliche  Thä- 
tigkeit  und  das  wirkliche  Leiden  der  Dinge ,  der  Begriff  der  Kraft  und 
des  Vermögens  sich  auf  das  mögliche  Thun  und  Leiden  derselben  be- 
zieht. Die  Art,  wie  Locke  den  Ursprung  dieser  Vorstellungsarten  be- 
zeichnet, entspricht  diesem  Unterschiede.  Indem  wir,  sagt  er,  die  be- 
ständigen Veränderungen  der  Dinge  wahrnehmen ,  sehen  wir  die  Ent- 
stehung bestimmter  Qualitäten  und  Dinge  abhängig  von  audern  Dingen 
und  ihrer  Wirksamkeit,  und  dies  gibt  uns  die  Vorstellung  von  Ursache 
und  Wirkung.  Was  wir  Schaffen,  Zeugen,  Machen  u.  s.  w.  nennen,  sind 
verschiedene  Bestimmungen  dieses  Verhältnisses ;  die  Verschiedenheit 
der  Vorstellungen,  welche  das  entstandene  oder  veränderte  Ding  uns 
aufdringt,  ist  die  ausreichende  Veranlassung  des  unter  den  Dingen  an- 
genommenen ursächlichen  Verkehrs ,  obwohl  wir  über  die  Art,  wie  die 
Wirkung  hervorgebracht  wird,  dadurch  nichts  erfahren.75)  Uebertragen 


74)  Locke  geslehl  dies  selbst  «u,  indem  er  B.  N,  cb.  XXI,  §  3  sagt:  /  eonfess, 
power  includes  in  it  some  kind  of  relation  (o  relation  to  action  or  change),  as  indeed  which 
of  our  ideas,  of  ivhat  kind  soever,  when  attentively  considered,  does  not? 

75)  a.  a.  0.  eh.  XXVI,  §  \.  In  the  nolice,  that  our  senses  take  of  the  constant 
vicissitude  of  thmgs,  we  cannot  but  observe,  that  several  particular,  both  qualities  and 
substances,  begin  to  exist,  and  that  they  reeewe  this  their  eaHstence  from  the  application 
and  Operation  of  some  other  bring.  From  this  Observation  we  get  our  ideas  of  cause  and 
effecL  That  which  produce  any  simple  or  complex  idea,  we  denote  by  the  generai  name 
cause,  and  that  which  is  produced  effect.  . . .  Whatever  is  considered  by  us  to  conduce  or 
operate  to  the  producing  any  particular  simple  idea ,  or  collection  of  simple  ideas ,  .  .  . 
which  did  before  not  exist,  hath  in  our  minds  the  relation  of  a  cause  and  so  is  denomi- 
nated  by  us  . . .  §  2  a.  E.  The  notion  of  cause  and  effect  hos  its  rise  from  ideas  reeewed 
by  Sensation  and  reflection,  and  this  relation,  how  comprehensive  soevert  terminales  at 
last  in  them.  For  to  have  the  idea.  of  cause  and  effect,  ü  suffices  to  consider  any  simple 
idea  or  substance  as  beginning  to  exist  by  the  Operation  of  some  other,  without 
knowing  the  manner  of  that  Operation. 


142  G.  Hartenstein,  [32 

wir  nun  die  Bestimmungen  dieses  Verhältnisses,  gleichviel  ob  es  sich  uns 
durch  den  Wechsel  unserer  Wahrnehmungen,  oder  durch  unsere  eigene 
Thätigkeit  verräth,  auf  ein  zukünftiges  mögliches  Geschehen,  so  entsteht 
die  Vorstellung  der  Kraft,  oder  vielmehr  die  eines  möglichen  Wirkens 
und  Leidens.76)  Obgleich  es  nun  beinahe  keine  Art  sinnlich  wahrnehm« 
barer  Dinge  gibt,  deren  Veränderungen  uns  nicht  die  Vorstellung  eines 
möglichen  Leidens  darbieten,  und  obgleich  diesem  gegenüber  immer  die 
eines  möglichen  Thuns  steht ,  so  kündigt  sich  doch  die  Vorstellung  des 
letzteren,  der  activen  Kraft,  nirgends  so  bestimmt  und  deutlich  an,  als 
in  der  Reflexion  auf  die  Operationen  unseres  eigenen  Geistes.77)  Jede 
(wirkliche  oder  mögliche)  Thätigkeit  lässt  sich  auf  zwei  Arten  zurück- 
führen, Denken  und  Bewegen.  Die  Vorstellung  des  Denkens  bietet  uns 
lediglich  die  Reflexion  dar;  aber  auch  den  Begriff  der  bewegenden  Kraft 
entlehnen  wir  eigentlich  nicht  der  Körperwelt ;  denn  der  bewegte  Körper 
ist  vielmehr  leidend  als  thätig;  die  Mittheilung  der  Bewegung  ist  nur 
die  Fortsetzung  einer  schon  vorhandenen  Bewegung  und  die  Vorstellung 
eines  Anfangs  der  Bewegung  gewinnen  wir  nur  durch  die  Thatsache 
der  willkührlichen  Bewegung  unserer  Glieder.  Unsere  ganze  Vorstellung 
der  Kraft  und  des  (activen)  Vermögens  hat  daher  ihre  Quelle  weniger  in 
der  äusseren,  als  in  der  inneren  Erfahrung.78) 

So  wenig  diese  Erörterung  über  den  Begriff  der  Causalität  und  über 
die  damit  zusammenhängenden  der  Kraft  und  des  Vermögens  eigentlich 
die  Thatsache  überschreitet ,  dass  sich  diese  Begriffe  in  der  Auffassung 


76)  a.  a.  0.  cb.  XXI,  §  4 .  The  mind  being  informed  by  the  senses  of  alter ation  of 
those  simple  ideas  it  observes  in  things  without . . .,  reflecting  also  on  what passes  within 
itself  and  observing  a  constant  c hange  of  its  ideas,  . . .  and  concluding  from  what  it  hos 
so  constantly  observed  to  have  been ,  that  the  like  changes  will  for  the  future  be  made  in 
the  same  things,  by  like  agents  and  by  the  like  ways,  considers  in  one  things  the  possibi- 
lity  of  having  any  of  its  simple  ideas  changed,  and  in  another  the  possibility  of  making 
that  change  and  so  comes  by  that  idea  which  we  call  power.  §  2.  Power  thus  conside- 
red  is  twofoldt  viz.as  able  to  make  or  able  to  receive  any  change;  the  only  may  be  called 
active,  and  the  other  passive  power. 

77)  a.  a.  0.  §  4.  We  are  abundantly  furnished  with  the  idea  of  passive  power  by 
al  most  all  sortes  of  sensible  things  . . .  Nor  have  we  of  active  power  (which  is  the  more 
proper  signification  of  the  word  power)  fewer  instances  . . .  But  yet  if  we  will  consider  it 
attentively,  bodies  by  our  senses  do  not  afford  us  so  clear  and  distinct  idea  of  active  power, 
as  we  have  from  reßection  on  the  Operations  of  our  minds. 

78)  a.  a.  0.  §  4.  Es  gehören  hierher  auch  die  Anm.  70  angeführten  Erörterungen 
Locke's. 


33]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  1 43 

der  inneren  und  Süsseren  Veränderungen  geltend  machen,  so  ist  es  doch 
nicht  ohne  Interesse,  wie  vorsichtig  sich  Locke  über  den  Gebrauch  der 
Begriffe  Kraft  und  Vermögen  ausspricht.  Er  macht  darauf  aufmerksam, 
dass  die  ganze  Art,  wie  wir  die  Begriffe  des  Wirkens  und  Leidens  unter 
die  Dinge  vertheilen,  in  vielen  Fallen  nur  der  Ausdruck  einer  oberfläch- 
lichen Auffassung  ist;79)  er  erklärt  überdies  von  vorn  herein,  dass  er 
sich  des  Begriffs  des  activen  Vermögens  in  Beziehung  auf  die  Naturdinge 
nur  bediene,  um  sich  der  gewöhnlichen  Vorstellungsweise  zu  accommo-» 
diren;80)  ebenso  lehnt  er  die  Unterscheidung  verschiedener  Seelenver- 
mögen zwar  nicht  geradezu  ab,  aber  er  spricht  doch  sehr  bestimmt  aus, 
dass,  wenn  man  diese  Vermögen  wie  verschiedene  handelnde  Wesen  in 
der  Seele  auffasse,  daraus  Verwirrung  und  unnöthige  Schwierigkeiten 
entstehen  müssen,  wie  namentlich  da  deutlich  sei,  wo  man  davon 
spreche,  dass  ein  Vermögen  das  andere  bestimme,  auf  dasselbe  wirke 
u.  s.  w.81)  Er  geht  aber  auch  noch  einen  Schritt  weiter  und  streng  ge- 
nommen so  weit,  dass  er  den  ganzen  Begriff  des  Vermögens  zugleich 
für  eben  so  natürlich  und  für  eben  so  werthlos  erklärt,  wie  den  Begriff 
der  Substanz.    Die  Gewohnheit,  sagt  er,  die  verschiedenen  geistigen 


79)  a.  a.  0.  §  72. 

80)  a.  a.  0.  §2.  Since  active  power  make  so  great  a  pari  ofour  complexe  ideas 
of  natural  substances  and  I  mentton  them  as  such,  according  to  common  appre- 
hension;  yet  they  beiny  not  perhaps  so  truly  active  powers  as  our  hasty  thoughts  are 
apt  to  represent  them,  u.  s.  w. 

84)  a.  a.  0.  §  6.  The  ordinary  way  of  speaking  is,  that  the  understanding  and  will 
are  two  faculties  of  the  mind,  a  word  proper  enough,  ifit  be  used,  as  all  words  should 
be,  so  as  not  to  breed  any  confusion  in  men*s  thoughts,  by  being  supposed  {as  I  suspect 
it  hos  been)  to  stand  for  some  real  beings  in  the  soul  that  performed  those  actions  of 
understanding  and  volition. ...  I  suspect  that  this  way  of  speaking  of  faculties  had  misled 
many  into  a  confused  notion  of  so  many  distinct  agents  in  us,  which  had  their  several 
provinces  and  authorities  and  did  command,  obey  and  per  form  several  actions,  and  so 
many  distinct  beings;  which  hos  been  no  small  occasion  of  wrangling,  obscurity  and  un- 
certainty  in  questions  relating  to  them.  §  17.  If  i t  be  reasonable  to  suppose  and  talk  of 
faculties,  as  distinct  beings  that  can  act,  'tis  fit  that  we  should  make  a  speaking  faculty 
and  a  Walking  faculty  and  a  dancing  faculty, ...  as  well  as  we  make  the  will  and  under- 
standing to  be  faculties.  . . .  And  we  may  as  properly  say,  'tis  the  singing  faculty  sings 
arid  the  dancing  faculty  dances,  as  that  the  will  choses  or  that  the  understanding  con- 
ceives;  or,  as  is  usual,  that  the  will  direct  the  understanding  or  the  understanding  obeys 
or  not  obeys  the  will,  it  being  altogether  as  proper  and  intelligible  to  say,  that  the  power 
of  speaking  direct  the  power  of  singing  or  the  power  of  singing  obeys  or  äHsobeys  the 
power  of  speaking. 

Abhindl.  d.  K.  S.  Gef.  d. Wiss.  X.  40 


144  G.  Hartenstein,  [34 

Th&tigkeiten  auf  den  Begriff  verschiedener  Vermögen  zurückzuführen, 
fördert  die  Erkenntniss  unseres  geistigen  Wesens  so  wenig,  als  die  Vor- 
aussetzung verschiedener  Vermögen  des  Körpers  die  des  Körpers.  Der 
Magen  verdaut,  also  hat  er  ein  Verdauungsvermögen ;  der  Körper  schei- 
det gewisse  Stoffe  aus,  also  hat  er  ein  Ausscheidungsvermögen;  der 
Geist  erkennt,  also  hat  er  ein  Erkenntnisvermögen;  er  wählt  und  be- 
schließt, also  hat  er  ein  Willens  vermögen.  Locke  sieht  sehr  wohl,  dass 
alle  diese  Redeweisen  dem«  was  factisch  geschieht,  die  Vorstellung  der 
Möglichkeit  dieses  Geschehens  vorschieben  und  damit  nichts  besagen, 
als  was  sich  von  selbst  versteht,  ohne  den  geringsten  Aufschluss  über 
den  Hergang  der  gegebenen  Veränderung  zu  enthalten.82) 

Dass  er  dies  einsieht  und  doch  nicht  auf  den  Gebrauch  des  Ver- 
mögensbegriffs ganz  und  gar  Verzicht  leistet  oder  einen  Versuch  macht, 
einen  besseren  Begriff  an  seine  Stelle  zu  setzen,  ist  nicht  blos  eine  Folge 
seiner  Bereitwilligkeit,  sich  dem  hergebrachten  Sprachgebrauche  anzu- 
bequemen, sondern  es  liegt  darin  in  diesem  Falle  eben  so,  wie  in  andern 
gleich  wichtigen,  ein  charakteristisches  Merkmal  einer  gewissen  Genüg- 
samkeit, die  sich  bescheidet,  den  einmal  vorhandenen  Gedankenkreis 
einer  berichtigenden  Umbildung  nicht  unterwerfen  zu  können.  Dazu 
kommt,  dass  diese  Kritik  des  Vermögensbegriffs  bei  ihm  nicht  in  einer 
allgemeinen  Untersuchung  ober  den  Begriff  der  Causalität  wurzelt,  son- 
dern ihm  mehr  gelegentlich  bei  der  Erörterung  Über  die  Freiheit  des 
Willens  zuwächst;  eine  Erörterung,  welche,  so  interessant  sie  ist  und  so 
sehr  sie  zu  einer  Vergleichung  mit  der  Leibniz'schen  und  Kant'schen 
Lehre  von  der  Freiheit  auffordert,  doch  dem  Zwecke  dieser  Abhandlung 
so  fern  liegt,  dass  sie  hier  übergangen  werden  muss. 

Die  Erörterungen  Locke's  über  den  Begriff  der  Substanz,  der  Cau- 


82)  a.  a.  0.  §  20.  Nor  do  i  deny,  that  those  tuords  (power,  faculty  etc.)  are  to 
have  their  place  in  the  common  use  of  language  that  have  them  made  current.  lt  looks 
like  to  muck  affectation  wholly  to  lay  them  by,  and  philosophy  itself  . . .  must  have  so 
much  complacency,  as  to  be  clothed  in  the  ordinary  fasfuon  and  language.  . . .  But  Ute 
fault  hos  been,  that  facuUies  have  been  spoken  of  and  represented,  as  so  many  distinct 
agents.  For  it  being  asked,  what  it  was  that  digested  the  meat  in  the  stomach,  %t  was  a 
ready  and  very  satisfactory  answer  to  say  ÜuU  it  was  the  digestive  faculty  u.  6.  w.  Which 
ways  of  speaking,  when  put  into  more  intelligible  words  will,  1  thimk,  amount  to  thus 
much:  that  digestion  is  performed  by  something  that  is  able  to  digest,  motion  by  some- 
thing  able  to  move,  and  understanding  by  something  able  to  understand.  And  in  thruth  it 
WQuld.be  very  stränge,  ifit  should  be  otherwise. 


35]  Locke's  Lehre  von  obii  menschl.  Ebkenmniss  u.  s.  w.  1 45 

salit&t,  der  Kraft  und  des  Vermögens  machen  den  Erkenntnisswertb  der- 
selben im  Grunde  nicht  abhängig  von  der  Nachweisung  der  Art,  wie  wir 
nach  seiner  Ansicht  zu  ihnen  gelangen.  Wir  denken  zu  der  Mannigfal- 
tigkeit der  Merkmale  eines  Dings  die  Einheit  des  Dings  selbst  hinzu, 
wir  setzen  den  Veränderungen  der  Dinge  Ursachen,  Kräfte  und  Vermö- 
gen voraus ,  nach  Locke's  Lehre  dazu  veranlasst  durch  die  Thatsachen 
der  inneren  und  äusseren  Erfahrung;  aber  nicht  der  empirische  Ursprung 
dieser  Vorstellungsarten  ist  es,  was  ihn  misstrauisch  macht  gegen  die 
Befriedigung,  welche  sie  der  Schulmetaphysik  gewährt  hatten ;  sondern 
dass  ßie  den  unmittelbaren  Inhalt  der  Wahrnehmung  Überschreiten  und 
gleichwohl  keinen  Ausschluss  über  das  darbieten ,  worüber  sie  uns  w 
belehren  vorgeben ,  dass  sie ,  statt  ein  positives  Wissen  zu  enthalten, 
uns  vielmehr  lediglich  eine  Grenze  und  eine  Lücke  desselben  erblicken 
lassen ,  daran  nimmt  Locke's  nüchterner  Untersuchungsgeist  Anstoss. 
Dass  der  Begriff  des  Dings  und  seiner  Eigenschaften,  —  der  allerdings 
dadurch  nicht  tiefsinniger  wird,  dass  man  diese  Worte  in  die  lateinischen 
Substanz  und  Accidenz  übersetzt.  —  nicht  die  mindeste  Belehrung  dar- 
über enthält,  weder  was  das  Ding  ist,  noch  wie  die  gleichzeitigen  oder 
successiven  Merkmale  zu  ihm  kommen  und  umgekehrt,  dass  der  Begriff 
der  Ursache  die  Art  und  Weise  gänzlich  unbestimmt  lässt,  wie  die  Dinge 
auf  einander  wirken  und  von  einander  leiden,  diese  kritische  Reflexion 
ist  für  Locke  der  Sache  nach  von  dem  empirischen  Ursprung  dieser  Be- 
griffe ganz  unabhängig  und  man  darf  wohl  sagen,  dass  sie  für  ihn  das- 
selbe Gewicht  gehabt  haben  würden ,  wenn  er  jene  Vorstellungsarten 
für  angeboren  zu  erklären  sich  genöthigt  gefunden  hätte. 

Nicht  ganz  in  derselben  Richtung  verlaufen  seine  Erörterungen  über 
Raum  und  Zeit.  Beide  erklärt  er  für  einfache  Vorstellungen,  weil,  ob- 
wohl Theile  des  Raums  und  der  Zeit  unterschieden  werden  können, 
doch  in  dem  Inhalte  der  Vorstellung  von  Raum  und  Zeit  keine  Mehrheit 
verschiedenartiger  Vorstellungen  unterschieden  werden  kann;88)  alle 
Vorstellungen ,  die  unter  den  allgemeinen  Begriff  des  Raumes  und  der 
Zeit  fallen,  sind  einfache  modi  derselben.  Ueber  den  Ursprung  der  Vor- 


83)  Vgl.  die  oben  Anm.  31  angeführte  Anmerkung  zu  B.  II,  eh.  XV,  §  8  und 
dazu  noch  folgende  Worte :  So  that,  if  the  idea  of  extension  eonsists  in  havmg  parte$ 
extra  partes  (as  the  school  speaks),  'tis  always  a  simple  idea,  because  the  idea  of  having 
partes  extra  partes  catmot  be  resolved  into  two  other  ideas. 

40* 


146  G.  Hartenstein,  [36 

Stellung  des  Raums  begnügt  er  sich  mit  der  einfachen  Bemerkung,  dass 
wir  sie  durch  Gesichts-  und  Tastempfindungen  erhallen.84)   Da  die  Aus- 
dehnung und  Solidität  für  ihn  zu   den  wirklichen  Eigenschaften  der 
Körper  gehört,  so  macht  ihm  die  Frage,  wie  wir  durch  Gesichts-  und 
Tastempfindungen  räumliche  Vorstellungen  gewinnen,  nicht  die  geringste 
Sorge;  viel  wichtiger  ist  es  ihm,  die Modificationen  nachzuweisen,  denen 
die  Vorstellung  des  Raums  zugänglich  ist  und  zu  zeigen ,  dass  die  Vor- 
stellung des  Raums  mit  der  der  Körperlichkeit  nicht  identisch  ist  und 
die  Cartesianische  Schule  kein  Recht  hat,  beide  gleichzusetzen.   Selbst 
die  in  psychologischer  Beziehung  geradezu  entscheidende  Frage,  ob  die 
bestimmten  und  individuellen  räumlichen  Auffassungen  die  Grundlage 
für  die  allgemeine  Vorstellung  des  Raums,  oder  diese  die  Grundlage  für 
jene  darbieten ,  erörtert  er  nicht  ausdrücklich ;  seiner  ganzen  Denkart 
nach  hätte  er  sich  für  das  erstere  entscheiden  müssen  und  doch  behan- 
delt er  den  Raum  durchaus  als  das  allen  besonderen  Raumbestimmungen 
zu  Grunde  Liegende.  Jede  bestimmte  Entfernung  ist  eine  Modification 
des  Raums  und  jede  Vorstellung  derselben  ein  einfacher  modus  der  Vor- 
stellung von  Raum.    Die  Möglichkeit,  bestimmte  Entfernungen  so  oft  zu 
wiederholen  als  man  will,  gibt  uns  die  Vorstellung  der  Unermesslichkeit 
des  Raums ;  die  Möglichkeit,  die  allgemeine  Vorstellung  des  Raums  ent- 
weder durch  wirklich  wahrgenommene ,  oder  durch  beliebig  angenom- 
mene Verhältnisse  der  Grenzen  gewisser  Theile  desselben  zu  bestimmen, 
führt  auf  den  Begriff  der  Gestalt  und  zu  der  Möglichkeit,  sich  eine  end- 
lose Mannigfaltigkeit  von  Gestalten  zu  denken.85)   Die  Vorstellung  des 
bestimmten  Verhältnisses  zwischen  zwei  oder   mehreren  Punkten  im 
Räume,  die  man  unter  einander  als  ruhend  betrachtet,  bezeichnet  der 
Begriff  des  Orts  oder  der  Stelle,  und  Locke  hebt  hervor,  dass,  obgleich 
die  gewöhnliche  Auffassung  den  Dingen  ihren  Ort  nur  mit  Rücksicht 
auf  den  zunächstliegenden  Raum  anweise,   doch  der  Begriff  des  Orts 
eigentlich  ganz  relativ  ist;  das  Universum  ist  nirgendwo,  weil  ausser 
ihm  nichts  ist,  in  Beziehung  worauf  ihm  sein  Ort  angewiesen  werden 


84)  B.  II,  eh.  XIII,  §  2.  Wenn  er  dabei  auf  B.  II,  eh.  IV  zurück  verweist.,  so 
hatte  er  dort  von  der  Solidität  als  einer  Eigenschaft  des  Körpers  gesprochen ,  um  die 
Cartesianische  Gleichsetzung  zwischen  Raum  und  Körperlichkeit  abzuweisen.  Darauf 
kommt  er  auch  hier  §  25  wieder  zurück. 

85)  a.  a.  0.  §  3—6. 


37]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.w.  147 

könnte.86)  So  ist  der  Raum  mit  seinen  drei  Dimensionen,  der  Continuitat 
und  der  Unbeweglichkeit  seiner  Theile 87)  für  den  Menschen  ein  durch 
den  Gesichts-  und  Tastsinn  Gegebenes;  an  welches  sich  durch  die  Mög- 
lichkeit der  Wiederholung  vorgestellter  Raumgrössen  die  Vorstellung 
der  Unermesslichkeit  anknüpft;  aber  was  der  Raum  an  sich  sei,  erfahren 
wir  dadurch  nicht  im  Geringsten;  Locke  begnügt  sich  in  dieser  Bezie- 
hung zu  sagen,  er  werde  auf  die  Frage,  was  der  Raum  sei,  ob  eine 
Substanz  oder  ein  Accidenz,  antworten«  sobald  jemand  im  Stande  sei 
zu  sagen,  was  Ausdehnung  und  was  eine  Substanz  sei  oder  woher  man 
wisse,  dass  nur  unausgedehnte  Wesen  denken  und  ausgedehnte  Wesen 
nicht  denken  können.88) 

Etwas  tiefer  geht  die  Erörterung  über  die  Vorstellung  der  Zeit, 
wenigstens  hebt  sie  einen  Gesichtspunkt  hervor,  der  in  psychologischer 
Beziehung  fruchtbar  ist.  Locke  legt  das  wesentliche  Gewicht  darauf, 
dass  die  Vorstellung  des  Zeitlichen  gebunden  ist  an  die  Reflexion  auf 
die  Succession  unserer  eigenen  Vorstellungen.  Wen  Anschauungen  oder 
Gedanken  dergestalt  beschäftigen,  dass  er  auf  deren  Succession  nicht 
reflectirt,  für  den  entsteht  die  Vorstellung  der  Dauer  eben  so  wenig,  als 
sie  der  Schlafende  während  eines  traumlosen  Schlafs  hat.  Erst  die  Auf- 
merksamkeit auf  die  Aufeinanderfolge  unserer  Vorstellungen  gibt  uns  die 
Vorstellung  der  Succession  und  wir  nennen  Dauer  die  Entfernung  zwi- 
schen bestimmten  Theilen  dieser  Aufeinanderfolge.88)  Ist  einmal  diese 
Vorstellung  gewisser  Zeitdistanzen  entstanden,  so  ist  es  möglich,  sie  auf 


86)  a.  a.  0.  §  7 — 10.  —  §  4  0.  That  our  idea  of  place  is  nothing  eise  but  a  rela- 
tive posüion  of  a  thing,  I  think  is  piain.  . . .  To  say  that  the  world  is  somewhere,  tneans 
no  tnore  than  that  it  does  exist;  this,  though  a  phrase  borrowed  from  place,  signify  only 
its  existence,  not  location. 

87)  a.a.O.  §43. 44.  The  parts  of  pure  space  are  immoveable,  which  follows  from 
thevr  inseparability,  motion  being  nothing  but  change  of  distance  between  two  thing s. 

88)  a.  a.  0.  §  15 — 17. 

89)  a.  a.  0.  eh.  XIV,  §  3.  Reßection  on  these  appearances  of  several  ideas  one 
after  another  in  our  minds  is  that  which  furnished  us  urith  the  idea  of  succession,  and  the 
distance  between  any  parts  of  that  succession  or  between  the  appearance  of  any  two  ideas 
in  our  minds  is  that  we  call  duration.  For  . .  whilst  we  reeeive  successively  several  ideas, 
we  Jcnow  that  we  do  exist,  and  so  we  call  the  exislence  or  the  continuation  of  the  eocistence 
of  ourselves  or  any  thing  eise,  commensurate  to  the  succession  of  our  ideas,  the  duration 
of  ourselves  or  any  thing  coexistent  with  our  thinking.  Locke  lasst  hier  den  Begriff  der 
Distanz  in  der  Zeit  und  der  Dauer  in  der  gemeinsamen  Bezeichnung  duration  in  einan- 
der fliessen. 


1 48  G.  Hartenstein,  [38 

Dinge  und  Ereignisse  zu  übertragen,  welche  uns  nicht  unmittelbar  ein 
Bewusstsein  der  Aufeinanderfolge  von  Vorstellungen  gegeben  haben, 
eben  so  wie  wir  raumliche  Vorstellungen  auf  Dinge  übertragen,  die  wir 
nicht  gesehen  und  getastet  haben;00)  aber  der  Anknüpfungspunkt  für 
unsere  Vorstellung  bleibt  die  Succession  unserer  Vorstellungen  und  die 
der  räumlichen  Bewegung  eben  nur  insofern,  als  sie  uns  eine  bestimmte 
Aufeinanderfolge  von  Vorstellungen  aufdringt.01)  Für  diese  Aufeinander- 
folge, bemerkt  Locke,  scheine  es  ein  gewisses  Maass  der  Geschwindig- 
keit zu  geben ,  wenn  die  Vorstellungen  unterscheidbar  bleiben  sollen ; 
dieses  Maximum  der  Geschwindigkeit,  also  das  Minimum  der  Dauer, 
während  welcher  nur  eine  Vorstellung  ohne  Succession  wahrgenom- 
men werden  kann ,  ist  der  Moment.02)  Wollen  wir  nun  die  Dauer  mes- 
sen, Zeitdistanzen  bestimmen,  so  ist  das  nicht  so  unmittelbar  möglich 
wie  bei  Raumgrössen ;  den  Raum  messen  wir,  indem  wir  beliebig  ange- 
nommene Theile  des  Raums  mit  andern  Raumgrössen  vergleichen;  eine 
solche  unmittelbare  Vergleichung  der  immerfort  verschwindenden 
Zeitdistanzen  ist  nicht  möglich,  sie  wird  aber  mittelbar  möglich,  wenn 
Grund  zu  der  Voraussetzung  vorhanden  ist,  dass  irgend  etwas  eine  Zeit- 
strecke in  periodischer  Wiederkehr  in  gleiche  Theile  (heilt.03)  Jedes  in 

90)  a.  a.  0.  §  5. 

94)  a.  a.  0.  §  6.  If  any  one  should  think  we did  rather  get  {the  notion  of succes- 
sion) from  our  Observation  of  motion  by  our  senses,  he  will  perhaps  be  of  my  tnind,  when 
he  considers,  that  even  motion  produces  in  his  mind  an  idea  of  succession ,  no  otherwise 
then  as  it  produces  there  a  conünued  train  of  distinguishable  ideas.  §  4  6.  It  is  not  the 
motion  but  the  constant  train  of  ideas  in  our  minds,  .  •  that  furnishes  us  with  the  idea 
of  duration;  whereof  motion  no  otherwise  gives  us  any  perception,  than  as  it  causes  in 
our  minds  a  constant  train  of  ideas, 

92)  a.  a.  0.  §  9.  There  seem  to  be  certain  bounds  to  the  quickness  or  slowness  of 
the  succession  of  those  ideas  one  to  another,  beyond  which  they  can  neither  delay  nor 
hasten,  §  1  0.  The  reason  I  have  for  this  odd  conjecture  is  from  observing,  that  in  the 
Impression  made  upon  any  of  our  senses  we  can  but  to  a  certain  degree  perceive  any  suc- 
cession, which  if  exceeding  quick,  the  sense  of  succession  is  lost  . . .  Such  a  part  of  dura- 
tion, wherein  we  perceive  no  succession  is  that  we  may  call  an  instant,  and  is  that  which 
takes  up  the  time  of  only  one  idea  in  our  minds,  without  the  succession  of  another,  whe- 
rein therefore  we  perceive  no  succession  at  all. 

93)  a.  a.  0.  §H.  4  8.  Nothing  being  a  measure  of  duration  but  duration ,  as 
nothing  is  of  extension  but  extension,  we  cannot  keep  by  us  any  standmg,  unvarymg  mea- 
sure of  duration,  which  consists  in  a  constant  fleeting  succession,  as  we  can  of  certain 
lengths  of  extension  . . .  Nothing  then  could  serve  well  for  a  convenient  measure  of  Hmet 
but  what  hos  divided  the  whole  length  of  üs  duration  into  apparently  equal  portions  by 
constantly  repeated  periods.  Beispiele  dazu  §  10. 


39]  Locke's  Lehre  von  der  mbnschl.  Erkbnntniss  u.  s.  w.  1 49 

scheinbar  gleichen  Perioden  wiederkehrende  Ereigniss  kann  daher  zum 
Maass  der  Dauer  benutzt  werden,  und  wenn  dazu  vorzugsweise  die 
scheinbare  tägliche  und  jährliche  Bewegung  der  Sonne  benutzt  wird,  so 
hat  das  seinen  Grund  eben  in  der  Voraussetzung,  dass  diese  Bewegun- 
gen gleichförmig  sind;  eine  absolute  Gewähr  für  die  Gleichförmigkeit 
dieses  Maasses  gibt  es  nicht.84)  Wenigstens  ist  es  nicht  richtig  die  Zeit 
als  das  Maass  der  Bewegung  zu  definiren :  um  die  letztere  zu  messen, 
muss  der  Raum  nicht  weniger  in  Betracht  gezogen  werden,  als  die  Zeit, 
und  die  Bewegung,  welche  in  Verbindung  mit  dem  Räume  das  Maass  der 
Zeit  ist ,  kann  nur  dadurch  zum  Maasse  der  Zeit  benutzt  werden ,  dass 
sie  eine  constante  Folge  von  Vorstellungen  darbietet  in  Perioden ,  die 
gleich  weit  von  einander  entfernt  zu  sein  scheinen.05) 

Während  die  Vorstellung  des  Räumlichen  an  die  Auffassung  äusse- 
rer Objecto,  die  des  Zeitlichen  an  die  Reflexion  auf  die  Succession  der 
Vorstellungen  selbst  gebunden  ist,  entsteht  der  Begriff  der  Zahl  aus  der 
Wiederholung  und  Zusammenfassung  der  Vorstellung  der  Einheit ,  die 
uns  eigentlich  Alles,  was  innerlich  und  äusserlich  wahrgenommen  wird, 
darbietet.  Die  Vorstellungen  der  Zahlen  verbinden  daher  mit  der  gross- 
ten  Einfachheit  ihres  Elements  und  der  Möglichkeit  einer  vollkommen 
genauen  Unterscheidung  der  einzelnen  Zahlgrössen  die  grösste  Allge- 
meinheit ihrer  Anwendung.  Die  Bestimmtheit  der  Bezeichnung  jedes 
einzelnen  Glieds  der  Zahlenreihe  macht  es  einerseits  möglich  durch  sie 
alle  anderen  Grössen  zu  messen,96)  und  die  unbegrenzte  Möglichkeit  des 
Fortschritts  in  der  Zahlenreibe  ist  andererseits  eigentlich  das,  was  wir 
unter  der  Unendlichkeit  des  Raums  und  der  Zeit  verstehen.97) 

Somit  knüpft  sich  die  Vorstellung  der  Unendlichkeit  gleicbmäs- 
sig  an  Raum,  Zeit  und  Zahl.  Endlichkeit  und  Unendlichkeit  sind  modi 
der  Quantität  und  können  nur  dem  beigelegt  werden ,  was  Theile  hat 
und  durch  Hinzufügung  und  Wegnahme  derselben  der  Vermehrung  und 


94)  a.  a.  0.  §  19.  24. 

95)  a.  a.  0.  §  12. 

96)  a.  a.  0.  eh.  XVI,  §  4  —  4. 

97)  a.  a.  0.  §  8.  The  mind  makes  use  of  number  tu  measurütg  aü  things,  that  by 
im  are  tneasurable,  which  prineipaUy  are  expansUm  and  duraäon,  and  our  idea  of  tn- 
fSnüy,  even  toben  applied  to  tkose,  seems  to  be  nothing  but  ihewfimty  of  number  . . .  Thü 
endlest  addUkm  or  addibikty  of  numbers  it  that,  I  tftink,  which  gwes  us  the  cUarest  and 
most  distinet  idea  of  m/fntty. 


150  G.  Hartenstein,  [40 

Verminderung  zugänglich  ist;  daher  sind  diese  Begriffe  da  nicht  an- 
wendbar, wo  ein  Vorgestelltes  einer  Vermehrung  durch  hinzugedachte 
Theile  nicht  zugänglich  ist;  es  gibt  Grade  des  Weissen  und  Süssen, 
aber  kein  unendliches  Weiss  und  Süss.08)  Der  Ursprung  dieser  von  allem 
Verkehr  mit  dem,  was  in  den  Bereich  unserer  Erfahrung  fällt,  scheinbar 
so  entfernten  Vorstellung  liegt  aber  nirgends  anders  als  in  der  unbe- 
schränkten Möglichkeit,  bestimmte  Räume  und  Zeiten  mit  Hülfe  der 
ebenfalls  an  keine  bestimmte  Grenze  gebundenen  Zahlenreihe  ohne  Ende 
zu  wiederholen.90)  Der  Begriff  der  Unendlichkeit  ist  daher  ein  negativer, 
nämlich  der  eines  möglichen  endlosen  Fortschritts;  die  Meinung,  dass 
er  ein  positiver  Begriff  sei,  beruht  auf  der  falschen  Ansicht,  als  ob  das 
Ende  eine  Verneinung,  also  die  Verneinung  desselben  eine  Bejahung 
sei,  während  vielmehr  das  im  Begriff  des  Unendlichen  verneinte  Ende 
das  letzte  positive  Glied  der  durchlaufenen  Reihe  ist;  was  an  dem  Be- 
griff des  Unendlichen  positiv  ist,  bezieht  sich  auf  die  durchlaufenen 
Theile  der  Reihe,  nicht  auf  die  noch  zu  durchlaufenden.100)  Es  sei  daher 
wohl  möglich,  die  Unendlichkeit  des  Raums,  der  Zeit,  der  Zahl  d.  h.  die 
Möglichkeit  eines  Fortschritts  ohne  Ende,  aber  nicht,  einen  unendlichen 
Raum,  eine  unendliche  Zeit,  eine  unendliche  Zahl  vorzustellen ;  denn  das 
hiesse  behaupten,  dass  eine  Reihe,  in  deren  Begriff  es  liegt  nicht  durch- 
laufen werden  zu  können,  wirklich  durchlaufen  sei.101)  Dasselbe  gilt  von 


98)  a.  a.  0.  cb.  XVII,  §  4 .  Finite  and  infinite  seem  to  me  be  looked  upon  by  the 
mind  as  the  modes  of  quantity  and  to  be  attributed  in  thevr  first  designatton  only  to  those 
things,  which  have  parts  and  are  capable  ofincrease  or  dminution,  by  the  addüion  or 
subtraction  of  any  the  least  part.  §  6.  To  the  perfectest  idea  J  have  of  the  whitest  white- 
ness,  if  1  add  another  of  a  less  or  equal  whiteness  (and  of  a  whiter  than  1  have  I  cannot 
add  the  idea),  it  makes  no  increase;  . . .  and  therefore  the  different  ideas  of  whiteness  are 
called  degrees.  . .  If  you  take  the  idea  of  white,  which  one  parcel  of  snow  yielded  yester- 
day  to  your  sight,  and  an  another  idea  of  white  from  another  parcel  of  snow  you  see  to- 
day,  ...  they  embody,  as  it  were,  and  run  into  one,  and  the  idea  of  white  is  not  at  all 
increased. 

99)  a.  a.  0.  §  3  fgg.  §  8.  The  idea  of  infinity  consists  in  a  supposed  endless  pro- 
gression. 

100)  a.  a.  O.  §43—15. 

101)  a.  a.  O.  §  7.  /  thüxk  it  is  not  an  insignificant  subtility,  if  1  say,  that  we  are 
carefully  to  distinguish  between  the  idea  of  the  infinity  of  space,  and  the  idea  of  a  space 
infinite.  The  first  is  nothing  but  a  supposed  endless  progression  of  the  mind;  ...  but  to 
have  actuaUy  the  idea  of  space  infinite,  is  to  suppose  the  mind  already  passed  over,  and 
actually  to  have  a  view  of  all  those  repeated  ideas  of  space,  which  an  endless  repetäion 
can  never  totally  represent  to  it;  which  carries  in  it  a  piain  contradiction. 


41]  Locke's  Lehru  von  der  menschl.  Erkknntniss  u.  s.  w.  151 

der  Vorstellung  des  unendlich  Kleinen ;  wobei  er  zum  Schlüsse  bemerkt, 
dass  vielleicht  die  Mathematik  den  Begriff  des  Unendlichen  auf  eine  an- 
dere Weise  ableiten  könne;  dies  hindere  indessen  nicht,  dass  der  Ma- 
thematiker ursprünglich  diese  Vorstellung  auf  dieselbe  Weise  erworben 
habe,  wie  die  übrigen  Menschen.102)  Es  braucht  kaum  hinzugefügt  zu 
werden ,  dass  Locke  durch  diese  Bestimmung  des  Begriffs  des  Unend- 
lichen alle  Speculationen ,  die  auf  den  positiven  Begriff  eines  wirklich 
existirenden  Unendlichen  irgend  eine  wissenschaftliche  Deduction  zu 
gründen  unternehmen,  stillschweigend  abweist. 

Wahrend  die  bisherigen  Erörterungen  sich  auf  Begriffe  bezogen, 
deren  Bedeutung  und  Anwendung  zwar  nicht  ausschliessend,  aber  vor- 
zugsweise an  die  Auffassung  der  äussern  Erfahrung  gebunden  ist  oder 
sich  wenigstens  gleichmassig  auf  die  äussere  und  innere  Erfahrung  er- 
streckt, unterwirft  Locke  noch  einen  Begriff,  nämlich  den  der  Identität 
und  Verschiedenheit  einer  Untersuchung,  deren  Hauptgewicht  auf  eine 
Thatsache  der  innern  Erfahrung  feilt,  nämlich  auf  die  Identität,  welche 
jeder  sich  selbst,  seiner  eigenen  Persönlichkeit  zuschreibt;  eine  Erör- 
terung, von  welcher  gesagt  werden  muss,  dass  sie  der  erste  Versuch 
ist,  die  Bedeutung  dieser  Thatsache  festzustellen  und  dadurch  wenig- 
stens den  Anknüpfungspunkt  einer  möglichen  Untersuchung  des  Selbst- 
bewusstseins  zu  gewinnen. 

Locke  geht  dabei  von  der  Bemerkung  aus ,  dass  der  Begriff  der 
Identität  d.  h.  die  Vorstellung,  dass  etwas  dasselbe  Ding  sei,  nicht  auf 
die  Persönlichkeit  beschrankt  ist,  sondern  sich  zunächst  auf  äussere 
Dinge  bezieht,  so  oft  wir  dieselben  bei  wiederholter  Auffassung  für  die- 
selben erklären.  Diese  Erklärung  gründet  sich  darauf,  dass  wir  ein  Ding 
an  einer  bestimmten  Stelle  zu  einer  bestimmten  Zeit  wahrnehmen;  die 
Vorstellung  der  Identität  beruht  auf  der  vollkommenen  Gleichheit  unse- 
rer Vorstellungen  von  dem  Dinge  im  Moment  der  jetzigen  und  der  frü- 
heren Auffassung.  Dabei  fügt  er  aber  doch  hinzu ,  dass  der  Zuversicht 
der  Annahme,  ein  Ding  sei  dasselbe,  die  Voraussetzung  zu  Grunde  liege, 
es  sei  unmöglich,  dass  zwei  Dinge  derselben  Art  gleichzeitig  an  dem- 


102)  a.  a.  0.  §12. §22.  Some  mathemaiicians  perhaps  of  advanced  speculations 
may  have  other  ways  to  introduce  into  their  minds  ideas  of  infinity ;  but  thitt  hindert  not 
but  they  themselves,  as  well,  as  all  other  men,  got  the  first  ideas  which  they  had  of  in- 
finity ...  in  the  method  tue  have  here  sei  down. 


152  G.  Hartenstein,  [*2 

selben  Orte  ex i stiren.105)  Das  sogenannte  Princip  der  Individuation  ist 
nichts  Anderes,  als  dieses  individuell  bestimmte  Dasein  selbst,  welches 
jedes  Ding  an  eine  bestimmte  Zeit  und  einen  bestimmten  Ort  bindet,  die 
es  mit  einem  andern  derselben  Art  nicht  theilen  kann.104) 

Handelt  es  sich  um  die  Feststellung  der  Art  und  Weise,  in  welcher 
die  gewöhnliche  Auffassung  von  einer  Identität  der  Dinge  spricht ,  so 
sind  diese  Bestimmungen  gewiss  zu  eng;  auch  entgeht  es  Locke'n  nicht, 
dass  der  von  ihm  geltend  gemachte  Haltepunkt  der  Vorstellung  der  Iden- 
tität da  nicht  vorhanden  ist,  wo  ein  Ding  in  einer  Reihe  von  Veränder- 
ungen für  dasselbe  gehalten  wird.105)  Er  gesteht  daher  zu,  ein  unbeleb- 
ter Körper  sei  streng  genommen  nur  so  lange  derselbe,  als  die  seine 
Masse  constituirenden  Theile  dieselben  sind;  bei  belebten  Körpern, 
Pflanzen  und  Thieren,  fahren  wip  aber  trotz  des  Stoffwechsels  und  der 
Massenveränderung  fort  sie  für  dieselben  Dinge  zu  erklären,  indem  wir 
uns  dabei  an  die  Einheit  des  organischen  Lebens  halten.106)  Handelt  es 
sich  in  ähnlicher  Weise  um  den  Grund,  aus  welchem  wir  einen  bestimm- 
ten Menschen  für  denselben  halten,  so  ist  nicht  die  Einheit  der  Substanz, 


4  03)  B.  II,  eh.  XXVII,  §  4.  When  we  see  any  thing  to  bee  in  any  place  in  any 
instant  of  Urne,  we  are  sure,  that  it  is  that  very  thing  and  not  another  .  .  and  in  tkis  con- 
sists  identity,  when  the  ideas  attributed  to,  vary  not  at  all  from  what  they  were  that  mo- 
ment  wherein  we  consider  thetr  former  existence,  and  to  wkich  we  compare  the  present; 
for  we  never  finding ,  nor  coneeiving  it  possible,  that  two  things  of  the  same  kind  should 
exist  in  the  same  place  at  te  same  Urne,  whe  rightly  conclude,  that  whatever  exists  any 
where  at  any  time ,  exeludes  all  of  the  same  kind  and  is  there  itself  ahne.  When  there- 
fore  we  demand,  whether  any  thing  be  the  same  or  no,  it  refers  always  to  something  that 
ewisted  such  a  time  in  such  a  place,  ....  from  whence  it  follows,  that  one  thing  cannot 
haue  two  beginnings  of  existence,  nor  two  things  one  beginning. 

4  04)  a.  a.  0.  §  3.  From  what  hos  been  said,  it  is  easy  to  discover,  what  is  so 
much  enquired  after,  the  prineipium  individuationis  and  that  is  piain  the  existence 
itself,  which  determmes  a  being  of  any  sort  to  a  particular  time  and  place ,  incommuni- 
cable  to  two  beings  of  the  same  kind. 

405)  a.  a.  0.  §  2.  Only  as  to  things  whose  existence  is  in  succession,  such  as  are 
the  actions  of  finite  beings  v.  g.  motions  and  thoughts, . . .  concerning  their  diversity  there 
can  be  no  question;  because  each  perishmg  the  moment  it  begins,  they  cannot  exist  in 
different  times  or  in  different  places ,  as  permanent  beings  can  at  different  times  exist  in 
distant  places. 

4  06)  a.  a.  O.  §  3.  4.  That  being  one  plant,  which  hos  such  an  Organisation  of 
parts  in  one  eoherent  body,  partaking  of  one  common  life,  it  oonünues  to  be  the  same 
plant  as  long  as  it  partakes  of  the  same  Ufeu.  s.  w.  §  5.  The  case  is  not  so  much  diffe- 
rent in  brutes  u.  s.  w. 


43]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  153 

sondern  die  Einheit  der  Lebensfunctionen ,  wie  sie  sich  in  der  ganzen 
äusseren  Erscheinung  des  Menschen  zn  erkennen  gibt,  das,  woran  wir 
die  Vorstellung  seiner  Identität  anknüpfen ;  Niemand  würde  einen  Papa- 
gey ,  und  wenn  er  noch  so  vernünftig  spräche ,  für  einen  Menschen  er- 
klären, und  der  einfältigste  Mensch  gilt  immer  noch  für  einen  Menschen, 
wenn  er  so  aussieht.107) 

Hiervon  ganz  verschieden  ist  aber  die  Frage  nach  der  Einheit  der 
Persönlichkeit,  und  hier  macht  nun  Locke  mit  voller  Entschieden- 
heit den  Salz  geltend,  dass  die  empirische  Auffassung  unserer  selbst 
uns  keinen  andern  Haltepunkt  für  die  Einheit  der  Person  darbietet ,  als 
die  Einheit  und  den  continuirlichen  Zusammenbang  des  Bewusstseins 
dessen ,  was  wir  in  uns  selbst  als  Ereigniss  oder  Tbätigkeit  wahrneh- 
men, also  die  Einheit  des  Selbstbewusstseins.  Dieses  Selbstbewusst- 
sein  dehnt  sich  zum  Theil  über  Theile  und  Zustande  des  Körpers  aus, 
ohne  an  sie  abschliessend  oder  vorzugsweise  gebunden  zu  sein;  es 
greift  rückwärts  in  die  Vergangenheit,  und  obwohl  bei  weitem  nicht  alle 
unsere  Vorstellungsacte  den  Gedanken  an  das  eigene  Ich  einschliessen 
und  viele  Bestimmungen  des  Ich  im  Laufe  der  Zeit  ihm  wieder  ver- 
schwinden, so  findet  es  doch,  so  oft  es  den  Zusammenhang  seines  jetzi- 
gen Vorstellens  mit  seinem  früheren  Vorstellen  und  Handeln  wieder  an- 
knüpfen kann,  in  dieser  Einheit  des  Bewusstseins  sich  selbst;  und  die 
Einheit  des  Ich  ist  nichts  Anderes  als  eben  diese  Einheit  des  Bewusst- 
seins.10")  Die  Einheit  des  Ich  entscheidet  also  nichts  über  die  Einheit 


1 07)  a.  a.  0.  §  6.  7.  8.  Whatever  is  talked  of  other  deftnitions ,  ingenious  Obser- 
vation puts  it  past  doubt ,  that  the  idea  in  our  minds ,  of  tvhich  the  sound  man  in  our 
mouths  is  the  sign ,  is  nothing  eise  but  an  animal  of  such  a  certain  form :  since  I  think  it 
may  be  confident,  that  tchoever  should  see  a  creature  of  his  otvn  shape  and  make,  though 
it  had  no  more  reason  all  its  life  than  a  cat  or  a  parrot,  tcould  call  him  still  a  man ;  or 
whoever  should  hear  a  cat  or  a  parrot  discourse,  reason  and  philosophize,  xoould  call  or 
think  it  nothing  but  a  cat  or  a  parrot. 

i  08)  a.  a.  0.  §  9.  To  find  wherein  personal  identity  consists,  we  must  consider 
what  person  Stands  for;  tchich  I  think  is  a  thinlcing  intelligent  being,  that  has  reason  and 
reflection  and  can  consider  itself  as  itself,  the  satne  thmking  thing  in  different  times  and 
places;  which  it  does  only  by  that  consciousness,  tchich  is  inseparable  from  thinkmg  and, 
as  it  seems  to  me,  essential  to  it.  . . .  By  this  every  one  is  to  himself  that  which  he  call 
seif,  it  not  being  considered  in  this  caset  whether  the  satne  seif  be  continued  in  the  same 
or  divers  substances.  For  since  consciousness  ahoays  accompanies  thmking  and  'tis  that 
that  makes  every  one  to  be  what  he  calls  Seif, . . .  in  this  aione  consists  personal  identity 
. . .  and  as  far  as  this  consciousness  can  be  extendcd  backwards  to  any  past  action  or 


1 54  G.  Hartenstein,  [4* 

der  ihm  zu  Grunde  liegenden  Substanz,  ja  die  Frage  nach  der  Einheit 
des  erstereo  geht  nicht  einmal  als  Frage  auf  die  Einheit  der  letz  leren.1*) 
Um  dies  klar  zu  machen,  wirft  Locke  zwei  Fragen  auf:  \)  könnte,  wenn 
die  denkende  Substanz  eine  andere  würde,  die  Persönlichkeit  dieselbe 
bleiben  und  2)  könnte ,  wenn  die  Substanz  dieselbe  bleibt,  die  Persön- 
lichkeit sich  ändern?  mit  andern  Worten:  ist  die  Einheit  des  Selbstbe- 
wusstseins  in  einer  Mehrheit  von  Substanzen,  und  ist  in  einer  und  der- 
selben Substanz  eine  Vervielfältigung  der  selbstbewussten  Persönlich- 
keit denkbar?  Beide  Fragen,  bemerkt  er,  haben  zuvörderst  für  diejenigen 
keine  Bedeutung,  welche  die  psychischen  Vorgänge  lediglich  als  Functio- 
nen des  animalischen  Lebens  betrachten,  die  an  die  materiellen  Bestand- 
teile des  Leibes  gebunden  sind.  Denn  diese  denken  die  Einheit  des 
Ich  nothwendig  als  unabhängig  von  der  Einheil  der  Substanz,  gerade  so 
wie  die  Einheit  des  Thiers  nur  die  Einheit  der  Lebenstuncüonen  dieses 
bestimmten  Organismus  ist.  Dieser  Ansicht  gegenüber  hallen  die,  wel- 
che von  der  Einheit  des  Ich  auf  die  Einheit  der  immateriellen  Substanz 
schlicssen,  zu  zeigen,  warum  die  Identität  des  Ich  mit  einer  Vielheit 
oder  einem  Wechsel  der  ihm  zu  Grunde  liegenden  immateriellen  Sub- 
stanz nicht  vereinbar  sei,  und  Locke  ist  im  voraus  geneigt  anzunehmen, 
dass  dies  nicht  mit  zwingender  Noth wendigkeit  werde  nachgewiesen 
werden  können.110)  Denn  was  die  erste  Frage  anlangt,  ob  bei  einem 
Wechsel  der  Substanz  die  Identität  des  persönlichen  Bewusstseins  be- 
harren könne,  so  mllsste  sie  bejaht  werden,  wenn  es  möglich  wäre,  das 
gesammte  Bewusstsein  aus  der  einen  Substanz  in  die  andere  zu  ver- 
setzen. Wäre  das  Selbstbewußtsein  ein  einiger  und  untheilbarer  Act, 
so  wäre  das  allerdings  nicht  möglich ;  aber  das  wirkliche  Selbslbewussl- 
«Ain  ist  Lajh  solcher  untheilbarer  Act,  sondern  es  ist  immer  die  gegen- 
Di-stellung  früherer  Thatigkeiten;  und  die  Identität  des  Selbst- 
los bei  einem  Wechsel  der  Substanz  wäre  nicht  undenkbar. 


rar  reaches  the  iäenUty  of  that  person.  —  üeber  die  Beziehung  desSelbst- 

s  auf  die  Zustande  und  Tbeile  des  Leibes  vgl.  §  17.  18. 

i.  a.  0.  g  1 0.  The  question  being,  what  makes  the  same  person  and  not  whe- 

■e  tarne  identical  substance,   tchich  always  thinks  m  the  saune  person It 

me  eonsciousnest  that  mattet  a  man  be  himtelf  to  himsclf,  personal  identity 
'.hat  oniy,  whether  ü  be  anntxed  anly  to  one  individual  tubstance,  or  can  be 
a  tuccetsion  of  several  tubttancts. 
i.  a.  0.  §  IS. 


45]  Locke's  Lehre  von  der  meksciil.  Erkenntmiss  u.  s.  w.  155 

wenn  die  Erlebnisse  und  Thätigkeiten  der  ersten  Substanz  von  einer 
zweiten  als  in  ihr  früher  geschehen  vorgestellt  werden  könnten,  obgleich 
dies  nicht  der  Fall  gewesen  wäre ,  wie  wir  z.  B.  im  Traume  Dinge  als 
wirklich  vorstellen ,  die  nicht  wirklich  sind  noch  waren.  Will  man  also 
den  Wechsel  der  Substanz  für  unvereinbar  erklaren  mit  der  Identität  des 
persönlichen  Bewusstseins,  so  hat  man  zu  beweisen,  dass  die  angeführte 
Bedingung  der  Möglichkeit  des  Gegentheiis  nicht  eintreten  kann;  so  lange 
wir  aber  die  Natur  und  die  Wirkungsart  denkender  Substanzen  nicht 
genauer  kennen,  als  dies  der  Fall  ist,  lässt  sich  dieser  Beweis  nicht  füh- 
ren; wohl  aber  lässt  sieb  behaupten,  dass,  wenn  das  Gesammtbewusst- 
sein  der  einen  Substanz  in  eine  andere  übertragen  werden  könnte,  dann 
die  Identität  der  Persönlichkeit  trotz  der  Verschiedenheit  der  Substanz 
ungeschmälert  bleiben  würde.111) 

Die  andere  Frage,  ob  in  einer  und  derselben  Substanz  eine  doppelte 
oder  überhaupt  eine  verschiedene  Persönlichkeit  würde  entstehen  kön- 
nen, enthält  nichts  Unmögliches,  sobald  man  den  Fall  für  möglich  hält, 
dass  der  gesammte  Inhalt  des  Bewusstseins  dergestalt  verloren  geht, 
dass  aus  einem  späteren  Bewusstsein  keinerlei  Verbindungsglieder  in 
das  frühere  zurückreichen.  Die,  welche  eine  Präexistenz  der  Seele  und 
Seelenwanderung  annehmen ,  nehmen  eigentlich  diese  Möglichkeit  an ; 
aber  wie  man  auch  diese  Frage  beantworte,  es  wird  dadurch  nichts  an 
der  Thatsache  geändert,  dass  die  Identität  der  Persönlichkeit  lediglich 
in  dem  continuirlichen  Zusammenhange  des  Bewusstseins  besteht.112) 
Auf  dieser  Continuität  des  empirischen  Bewusstseins,  setzt  er  hinzu, 
und  (muss  man  in  seinem  Sinne  hinzufügen)  nicht  auf  der  indetermini- 
stischen Willensfreiheit,  beruht  die  Zurechnung  unserer  Handlungen  zu 
uns  selbst  sammt  dem  Rechte,  Strafen  und  Belobnungen  zuzufügen.119) 

Locke  bemerkt  am  Schlüsse  dieser  Erörterung  über  das  Ich,  die 
von  ihm  aufgeworfenen  Fragen  sammt  deren  hypothetischer  Beantwor- 


Hl)  a.  a.  0.  §13. 

HS)  a.  a.  0.  §  4 4.  —  §47.  Seif  is  that  conscious  thmking  thing  (whatever  sub- 
stance  tnade  up  of,  wheter  sptritual  or  material,  simple  or  compounded,  it  matters  not) 
tohich  is  sensible,  or  conscious  ofpleasure  and  pam,  capable  of  happmess  and  misery  and 
so  is  concerned  for  it  seif,  as  faras  that  consciousness  extends.  Dass  die  Einheit  der 
Substanz  ohne  die  Continuität  des  Bewusstseins  keine  Persönlichkeit  einschliesst,  fahrt 
er  weitlSoftig  aus  §  *3.  84. 

14  3)  a.  a.  0.  §4  8.  26. 


156  G,  Hartenstein,  [46 

tuog  werden  Manchem  wohl  fremdartig  vorkommen  und  er  gebe  zu, 
dass  wenn  wir  von  dem  Wesen  der  Seele  etwas  wttssten,  dergleichen 
Fragen  überflüssig,  ja  selbst  absurd  sein  würden ;  aber  eben  dieses  Wis- 
sen fehle  uns ;  und  es  ist  ein  Beweis  seines  nüchternen  Untersucbungs- 
geistes ,  dass  er  die  Thatsache  des  Selbstbewusstseins  und  die  empiri- 
schen Merkmale  desselben  von  den  Folgerungen  unterscheidet,  die  man 
darauf  gründen  zu  können  geglaubt  hatte.114)  Das  Resultat  Locke's  ist 
dasselbe,  welches  Kant  in  der  Darlegung  des  »Paraiogismus  der  reinen 
Vernunft«  ausspricht,  dass  nämlich  die  Einheit  des  Ich  nichts  entschei- 
det über  das  Wesen  der  dein  Selbstbewusstsein  vorausgesetzten  Sub- 
stanz. An  einen  Versuch,  die  Thatsache  der  Icbheit  irgendwie  zu  erklaren, 
denkt  keiner  von  beiden  Denkern ;  aber  die  Analyse,  welcher  Locke  den 
Begriff  des  Selbstbewusstseins  unterwirft,  hat  vor  der  einfachen  Aner- 
kennung der  psychischen  Thatsache  bei  Kant  den  Vorzug,  dass  sie  auf 
die  Beziehungen  zwischen  dem  Selbstbewusstsein  und  dem  Gesa  mm  t- 
inhalt  des  Bewusstseins  wenigstens  in  allgemeinen  Umrissen  hinweist. 


IV. 

Nachdem  Locke  die  wichtigsten  der  Begriffe,  durch  welche  wir  die 
uns  umgebende  Welt  und  uns  selbst  auffassen,  darauf  hin  geprüft  hat, 
inwiefern  sie  eine  wirkliche  Erkenntniss  darbieten ,  geht  er  dazu  über 
nicht  nur  den  wirklichen,  sondern  auch  den  möglichen  Umfang  des 
menschlichen  Wissens  zu  bestimmen,  insofern  er  durch  die  Art,  wie 
unser  Vorstellungskreis  zu  Stande  kommt,  bedingt  ist.  Die  letzten  Capi- 
tel  des  II.  Buchs  enthalten  einige  dazu  nöthige  Präliminarbestimmungen, 
indem  sie  Verschiedenheiten  unter  den  Vorstellungen  und  Begriffen  her- 
vorheben, die  entweder  in  der  Art,  wie  sie  selbst  gedacht  werden,  oder 
in  ihrer  Beziehung  auf  die  Objecte  der  Erkenntniss  sich  zu  erkennen 
geben.  In  der  ersteren  Beziehung  sind  die  Vorstellungen  entweder  klar 
und  deutlich ,  oder  dunkel  und  verworren ,  in  der  letzteren  bezeichnen 


4(4)  a.  a.  0.  §  11.  —  §  25  erklärt  es  Locke  für  die  wahrscheinlichere 
Meinung,  dass  das  Selbstbewusstsein  an  eine  immaterielle  Substanz  gebunden  sei; 
aber  über  den  Mangel  des  Wissens  darüber  spricht  er  sich  B.  IV,  eh.  Ol,  §  6  eben  so 
entschieden  als  bescheiden  aus.  Seine  skeptische  Behandlung  der  Frage,  ob  ein  mate- 
rielles Wesen  vorstellen  und  denken  könne,  hat  ihren  Grund  lediglich  hierin. 


47]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  \v.  157 

sie  eioerseits  entweder  wirkliebe  Dinge  oder  Einbildungen ,  andrerseits 
entsieht  im  Zusammenhange  damit  die  Frage  nach  ihrer  Wahrheit  oder 
Falschheit. 

Eine  einfache  Vorstellung  ist  klar,  wenn  sie  der  Art,  wie  das  Ob- 
jeet  sich  darstellt  oder  für  eine  wohlgeordnete  Auffassung  darstellen 
würde,  entsprechen.  Die  Klarheit  zusammengesetzter  Vorstellungen  be- 
steht in  der  Klarheit  der  einfachen  in  ihr  verknüpften  Vorstellungen.115) 
Die  Deutlichkeit  einer  Vorstellung  oder  eines  Vorstellungscomplexes  be- 
steht in  der  Möglichkeit  ihn  von  jeder  andern  Vorstellung  zu  unterschei- 
den.116) Deutlichkeit  und  Verworrenheit  sind  gebunden  an  die  Beziehung 
einer  Vorstellung  auf  andere  Vorstellungen;117)  bei  zusammengesetzten 
Vorstellungen  sind  es  die  sie  bildenden  Theilvorstellungen ,  von  deren 
vergleichender  Unterscheidung  die  Deutlichkeit  abhängt. m)  Aber  Deut- 
lichkeit und  Verworrenheit  ist  zugleich  wesentlich  an  die  Sprache  ge- 
bunden; denn  da  jede  Vorstellung  für  jeden,  der  sie  denkt,  gerade  das 
bezeichnet,  was  er  dabei  denkt,  und  also  für  ihn  von  jeder  andern  Vor- 
stellung hinreichend  unterschieden  ist,  so  würde  es  gar  keine  verworre- 
nen Vorstellungen  geben ,  wenn  nicht  die  schon  vorhandene  Verschie- 
denheit der  Worte  und  Benennungen  der  Dinge  die  Voraussetzung  ein- 
schlösse, dass  verschieden  benannte  Arten  der  Dinge  auch  verschieden 
seien;  eine  Vorstellung  ist  dann  verworren,  wenn  sie  als  Vorstellung 
einer  bestimmten  Art  von  Dingen  eben  so  gut  die  Bezeichnung  durch 
die  Benennung  einer  andern  Art  von  Dingen  gestattet;  ohne  diese  Be- 
ziehung auf  diese  in  der  Sprache  schon  festgestellten  Zeichen  der  Dinge 
(oder  der  ihrer  Verschiedenheit  entsprechenden  Vorstellungscomplexe) 
würde  es  wenigstens  schwer  sein  zu  sagen,  was  eine  verworrene  Vor- 


4  4  5)  B.  II,  cb.  XXIX,  §  8.  Our  simple  ideas  are  clear,  when  they  are  such,  as 
the  objecto  themselves,  from  whence  they  were  taken,  did  or  might,  in  a  weü-ordered 
Sensation  or  percepUon,  present  them.  So  far  as  they  either  want  any  thmg  of  that  origi- 
nal exaetness  or  have  lost  any  of  their  first  freshness,  .,.  so  fear  are  they  obscure. 
Complexe  ideas,  as  they  are  made  up  of  simple  ones,  so  they  are  clear,  when  the  ideas 
that  go  to  their  compositum  are  clear. 

4  4  6)  a.  a.  0.  §  4.  A  distinet  idea  is  that  wherein  the  mind  pereewes  a  difference 
from  all  other;  and  a  confused  idea  is  such  anone,  as  is  not  suffidently  distinguishable 
from  another,  from  which  it  ought  to  be  different. 

4  4  7)  a.  a.  0.  §44.  Confusion  mahmg  a  difficully  to  separate  two  things  that  should 
be  separatedy  concerns  always  two  ideas. 

448)  a.  a.  0.  §  7.  8.  40. 


4  58  G.  Hartknstkin,  [48 

Stellung  sei.119)  Vorstellungen,  welche  klar  und  deutlich  sind,  kann  man 
bestimmte  Vorstellungen  nennen;  es  sind  solche,  die,  so  oft  sie  ge- 
dacht werden,  unveränderlich  an  ein  bestimmtes  Wort  als  das  constante 
Zeichen  gerade  dieser  Vorstellung  und  dieses  Vorstellungscomplexes 
gebunden  sind.120) 

Vorstellungen,  die  in  der  Natur  begründet  sind  und  in  der  Wirk- 
lichkeit der  Dinge  ihren  Beziehungspunkt  oder  ihr  Vorbild  haben,  nennt 
Locke  reelle,  im  Gegensatze  zu  phantastischen.121)  Den  Gebrauch,  den 
er  hier  und  im  weiteren  Verlauf  des  Werks  von  der  Bezeichnung:  reelle 
Vorstellungen  im  Gegensatze  zu  blossen  Einbildungen  macht,  gestattet 
dieser  Unterscheidung  die  Bezeichnung  gültig  und  ungültig,  freilich  in 
einem  doppelten,  wesentlich  verschiedenen  Sinne  zu  substituiren ,  inso- 
fern dadurch  entweder  die  durch  innere  oder  äussere  Erfahrung  gewähr- 
leistete Thatsächlichkeit  oder  deren  Mangel  oder  auch  die  blosse  Wider- 
spruchlosigkeil  eines  Begriffs  bezeichnet  wird.  Locke  bedient  sich  dieser 
Bezeichnung  sowohl  im  Sinne  jener  empirischen,  als  dieser  logi- 
schen Gültigkeit.  Er  erklärt  desshalb  zuvörderst  alle  einfachen  Vor- 
stellungen für  reell,  d.  h.  sie  sind  mit  Ausnahme  der  sogenannten  ersten 


119)  a.  a.  0.  §  5.  Let  any  idea  be  as  it  will,  it  can  be  no  other  but  such  as  the 
mind  perceives  it  to  be,  and  that  very  pereepäon  sufficiently  distinguishes  it  from  all  other 
ideas  . . .  No  idea  therefore  can  be  undistinguishable  from  another.  §  6.  To  remove  the 
difßculty  . . ,  we  must  consider  that  things,  ranked  under  disiinct  names,  are  supposed 
different  enough  to  be  distinguished,  . .  and  there  is  nothing  more  evident,  than  that  the 
greatest  part  of  different  names  are  supposed  to  stand  for  different  things.  Now  every 
idea  a  man  hos,  being  visible,  what  it  is,  and  distinct  from  all  other  ideas  but  itself,  that 
which  makes  it  confused.  is,  when  it  is  such,  that  it  may  as  well  be  called  by  another 
t tarne y  as  that  which  it  is  expressed  by;  the  difference  lohich  keeps  the  things  distinct  and 
makes  some  of  them  belong  rather  to  the  one  and  sotne  of  them  to  the  other  of  those 
names,  being  left  out;  and  so  the  distmctUm,  which  was  intended  to  be  kept  up  by  those 
different  names,  is  quite  lost.  Vgl.  §  12. 

4  20)  Epistle  to  the  Reader  (p.  9) ;  /  have  in  most  places  chose  to  put  determinate 
or  determined  instead  of  clear  and  distinct.  This  I  thitik  may  fitly  be  called  a  deter- 
minate or  determined  idea,  when  such  as  it  is  at  any  Urne  objectively  in  the  mind  and  so 
determined  there,  it  is  annexed  and  without  Variation  determined  to  a  name,  which  is  to 
be  steadily  the  sign  of  that  very  same  object. 

421)  B.  H,  eh.  XXX ,  §  4 .  By  real  ideas  1  mean  such  as  have  a  foundation  in 
nature,  such  as  have  a  conformity  with  the  real  being  and  existence  of  things  or  with 
thevr  archetypes.  Fantastical  or  chimerical  I  call  such,  as  have  no  foundation  in 
nature  nor  have  any  conformity  with  the  reality  of  being,  to  which  they  are  tacitly  refer- 
red,  or  with  their  archetypes. 


40]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  it.  s.  w.  459 

Qualit&ten  zwar  keine  Abbildungen  der  Qualität  der  Dinge,  aber  sie  sind 
jederzeit  der  Einwirkung  der  Dinge  auf  unsere  Wahrnehmung  propor- 
tional.1*2) Er  nennt  aber  auch  alle  die  Vorstellungen  und  Begriffe  reell, 
welche,  ohne  an  einen  äusseren  Gegenstand  als  ihr  Original  gebunden 
zu  sein,  Producta  einer  willktthrlichen  Verknüpfung  von  unter  einander 
vertraglichen  Vorstellungen  sind.  Wer  den  Begriff  des  Muths  oder  der 
Gerechtigkeit  denkt,  verknüpft,  ohne  den  Anspruch  ein  existirendes  Ding 
zu  bezeichnen,  gewisse  Vorstellungen,  und  so  lange  diese  unter  einander 
verträglich  sind,  hat  der  Begriff  die  Bedeutung  eines  reellen  d.  h.  er  ist 
gültig;  abgesehen  von  in  sich  widersprechenden  Begriffen  könnte  bei 
allen  derartigen  Begriffen  die  Befürchtung  einer  Einbildung  nur  dann 
entstehen,  wenn  das  sprachliche  Zeichen,  durch  welches  jemand  einen 
solchen  Begriff  bezeichnet,  in  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  eine 
andere  Bedeutung  hätte.128)  Die  Vorstellungen  der  Substanzen  endlich 
(der  DingeJ  sind  nur  in  so  weit  reell ,  als  sie  Verknüpfungen  solcher 
Merkmale  {sind ,  die  den  an  den  Dingen  factisch  vorkommenden  Ver- 
knüpfungen der  Merkmale  entsprechen;  Abweichungen  davon  sind  Ein- 
bildungen.1*4) 

Aber  bei  den  reellen  oder  gültigen  Vorstellungen  und  Begriffen 
fragt  es  sich  ausserdem,  ob  sie  adäquat  oder  inadäquat  sind.  Ad- 
äquat würden  die  Vorstellungen  sein ,  welche  dein  Originale ,  auf  wei- 


nt) a.  a.  0.  §  2.  Our  simple  ideas  ave  all  real,  all  agree  to  the  reality  of  things. 
Not  that  they  are  all  of  them  the  images  or  representations  of  what  does  exist;  the  con- 
trary  whereof,  in  all  but  the  primary  qualities  of  bodies,  hath  been  ahready  shewed.  But 
though  whiteness  and  coldness  are  no  more  in  snow  than  pain  is,  yet  those  ideas  of 
tohiteness  and  coldness,  . .  being  in  us  the  effects  of  powers  in  things  without  us,  . .  they 
are  real  ideas  in  us ,  whereby  tue  distinguish  the  qualities  that  are  really  in  things  them- 
sehes,  ...  the  reality  lying  in  that  steady  correspondence  they  have  with  the  distinct  Con- 
stitution* ofreal  beings.  Wenn  Locke  die  einfachen  Vorstellungen  bisweilen  Copieen 
der  Dinge  nennt,  so  ihut  er  das  nicht  in  dem  Sinne,  als  wolle  er  dadurch  eine  qualita- 
tive Gleichheit  zwischen  den  Dingen-  und  den  Vorstellungen  bezeichnen,  sondern  sie 
sind  eben  nur  Copieen  d.  h.  Wirkungen  einer  äusseren  Ursache  ohne  qualitative 
Gleichheit  des  Bewirkten  mit  dem  Wirkenden  vgl.  B.  II,  eh.  XXXI,  §  it.  4  3. 

4 13)  a.  a.  0.  §  4.  Mixed  modes  and  relations  having  no  other  reality  but  what  they 
have  in  the  tninds  of  mm,  there  is  nothing  more  required  to  those  kind  of  ideas  to  make 
them  real,  but  that  they  be  so  framed,  that  there  be  a  possibility  of  existing  conformable 
to  them.  These  ideas  themselves  being  archetypes,  caraiot  differ  from  their  archetypes  and 
so  cannot  be  chtmerical,  unless  any  one  wül  jumble  together  in  them  inconsistent  ideas. 

4*4)  a.  a.  0.  §  5. 

Abhandl.  d.  K.  S.  Ges.  «f. Wim.  X.  4  4 


160  G.  Hartenstein,  [50 

ches  der  Vorstellende  sie  bezieht,  vollkommen  entsprechen;  inadäquat 
die,  welche  dieser  Forderung  fcum  Theil  nicht  entsprechen.125)  Einfache 
Vorstellungen  nun  sind  immer  adäquat,  denn  sie  sind  der  vollständige 
Ausdruck  der  Wirkung  der  Objecte  auf  den  Wahrnehmenden.136)  Eben 
so  sind  die  Vorstellungen  der  modi  und  Relationen ,  die  aus  willkür- 
lichen Verknüpfungen  einfacher  Vorstellungen  entstehen,  adäquat;  denn 
da  sie  nicht  die  Dinge  selbst,  sondern  die  Gesichtspunkte  und  Beziehun- 
gen bezeichnen,  deren  sich  das  Denken  bedient,  um  jenen  mit  Hülfe  der 
Sprache  ihre  Stelle  anzuweisen,  da  sie  mithin  kein  ausser  ihnen  liegen- 
des Original  haben,  sondern  ihre  eigenen  Originale  sind,  so  kann  ihnen 
nichts  an  ihrer  Angemessenheit  fehlen,  ausser  in  so  fern,  als  zu  ihrer 
Bezeichnung  Worte  angewendet  würden,  welche  in  der  Vorstellung 
anderer  Personen  schon  eine  bestimmtere  Bedeutung  haben.127)  Die  Vor* 
Stellungen  von  den  Substanzen  oder  Drogen  aber  sind  durchaus  höchst 
inadäquat;  in  der  weitläufigen  Auseinandersetzung  dieses  Satzes  wie- 
derholt und  ergänzt  Locke  seine  früheren  Erörterungen  über  den  äus- 
serst geringen  Erkenntnisswerth  der  ganzen  Art  und  Weise,  wie  wir 
das  Verhältniss  zwischen  Ding  und  Eigenschaft  aufzufassen  gewohnt 
oder  genöthigt'sind.1**) 

Von  der  Gültigkeit  und  Ungültigkeit  der  Vorstellungen  unterscheidet 
endlich  Locke  noch  die  Wahrheit  oder  Falschheit  derselben.  Er  geht 
dabei  von  dem  Satze  aus,  dass  Wahrheit  und  Falschheit  nicht  in  isolir- 
ten  Vorstellungen,  sondern  in  ihren  Verknüpfungen  und  Beziehungen 
liege,  also  sich  nicht  auf  Begriffe,  sondern  auf  Urlheile  beziehe.  Eine 
Vorstellung  an  sich  selbst  betrachtet,  insofern  ihr  Inhalt  lediglich  als 
im  Bewusstsein  gegenwärtig  angesehen  wird,  ist  weder  wahr  noch 
falsch;  die  Frage  nach  Wahrheit  und  Falschheit  entsteht  erst,  wenn  eine 
Vorstellung  rücksichllich  ihrer  Uebereinstimmung  oder  Nichtüberein- 
stimmung mit  etwas  Anderem,  was  nicht  sie  selbst  ist,  ins  Auge  gefasst 
wird.1")  Dieser  Vergleichungspunkt  liegt,  wenn  man  bei  den  gewöhn- 

4  25)  B.  II,  eh.  XXXI,  §4. 

4  26)  q.  a.  0.  §  2.  AU  our  simple  ideas  are  adequate,  because  bemg  nothing  but 
the  effects  of  certain  power*  in  things,  fitted  and  ordained  by  God  to  produce  such  Sen- 
sation* in  us,  they  cannot  but  be  eorrespondeni  and  adequate  to  those  powere. 

«27)  a.  a.  0.  §  3.  4. 

4  28)  a.  a.  0.  §  6—4  4. 

429)  B.  H,  eh.  XXXN,  §  4 .  When  ideas  themsehes  are  termed  true  or  faise,  there 
is  still  some  secret  or  tacit  proposition,  which  is  the  foundation  of  that  denomination. 


51]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntnis  u.  s.  w.  161 

Heben  Fallen  stehen  bleibt,  entweder  in  den  Vorstellungen  Anderer«  so- 
fern sie  sich  durch  die  Sprache  zu  erkennen  geben ,  oder  in  der  that- 
s&chlich  gegebenen  Wirklichkeit  der  Dinge ,  oder  in  dem  vorausgesetz- 
ten Wesen  derselben.1*0)  Handelt  es  sich  um  Wahrheit  und  Falschheit 
nach  dem  ersten  Gesichtspunkte,  so  ist  die  Gefahr  der  letzteren  bei  wei- 
tem kleiner  in  Beziehung  auf  die  Vorstellung  der  Dinge  und  ihrer  Qua- 
litäten, die  ziemlich  allgemein  mit  Benennungen  bezeichnet  werden,  über 
deren  Bedeutung  kein  Zweifel  ist,  als  rücksichtlich  der  gemischten 
modi.1*1)  Falsch  können  auch  nicht  die  willkührlicb  gebildeten  Begriffe 
sein,  weil  sie  sich  auf  gar  kein  ausserhalb  des  Vorstellenden  voraus- 
gesetztes Original  beziehen. m)  Rücksichtlich  der  Beziehung  der  Vor- 
stellungen auf  die  wirklichen  Dinge  endlich  unterscheidet  Locke  zwischen 
den  einfachen  Vorstellungen  ihrer  Qualitäten  und  dem  das  Ding  bezeich- 
nenden Gomplexe  derselben.  Die  ersleren  sind  eigentlich  niemals  falsch, 
denn  sie  sind  den  Wirkungen  der  Dinge  proportional ;  ihre  Wahrheit  be- 
steht in  der  Regelmassigkeit  der  sich  in  ihnen  darstellenden  Erschei- 
nungen, und  selbst  wenn  die  Empfindungen  des  einen  Menschen  von 
denen  des  andern  verschieden  wftren  und  z.  B.  dem  einen  als  blau  er- 
schiene, was  dem  andern  als  gelb ,  so  würde  jeder  durch  das,  was  ihm 
erscheint,  die  Dinge  mit  ausreichender  Sicherheil  unterscheiden  kön- 
nen.1*3) Aber  die  Vorstellungscomplexe,  welche  die  Dinge  bezeichnen, 


§  3 .  Truth  or  falshood,  lying  always  in  some  affirmation  or  negation,  mental  or  verbat, 
our  ideas  are  not  capable,  any  of  them,  of  being  false,  tili  the  mind  passes  some  judtjmeiit 
on  them,  thai  is  affirms  or  denies  something  of  them.  §  4.  Whenever  the  mmd  refers 
any  of  its  ideas  to  any  thing  ewtraneous  to  them,  they  are  then  capable  to  be  called  true 
or  false.  Vgl.  §  20.  25.  Locke  setzt  daher  §  26  hinzu,  es  sei  vielleicht  zweckmässiger, 
▼on  Richtigkeit  und  Unrichtigkeit  der  Vorstellungen  zu  sprechen.  All  our  ideas  are  in 
themsehes  right;  but  when  wecome  to  refer  them  to  any  thing,  as  to  their  patterns  and 
archetypes,  then  they  are  capable  of  being  wrong,  as  far  as  they  disagree  unth  such 
archetypes. 

130)  a.  a.  0.  §  4.  5.  Einen  vierten  Gesichtspunkt,  die  logische  Vergleichung  des 
Inhalts  der  Vorstellungen,  auf  die  er  im  vierten  Buche  alle  strenge  Erkenntniss  zurück- 
fahrt und  beschränkt,  übergeht  er  hier,  wo  es  ihm  eben  nur  um  die  Analyse  des  ge- 
wöhnlichen Gedankenkreises  zu  thun  ist. 

434)  a.  a.  O.  §  9.  1 0.  4  4.  When  a  man  is  thought  to  have  a  false  idea  of  justice, 
gratüude,  or  giory,  it  is  for  no  other  reason,  but  that  his  agrees  not  unth  the  ideas  which 
each  of  those  names  are  the  signs  ofin  other  men. 

432)  a.  a.  0.  §  17. 

4  33)  a.  a.OjU.  15. 

44» 


1 62  G.  Hartenstein,  [52 

können  falsch  sein ,  wenn  entweder  Merkmale  f  die  die  Dinge  nicht  ha- 
ben, in  sie  aufgenommen,  oder  solche,  die  sie  haben,  weggelassen  wer- 
den, wozu  noch  der  viel  gröbere  Irrlhum  kommen  kann,  dass  man  blosse 
Einbildungen  für  wirkliche  Dinge  und  die  durch  die  sinnlich  wahrnehm- 
baren Merkmale  bestimmte  Vorstellung  des  Dings  für  den  Ausdruck 
ihres  ganzlich  unbekannten  Wesens  hält134) 


V. 

Während  in  den  bisherigen  Erörterungen  Locke's  das  negative  Re- 
sultat liegt,  dass  der  menschliche  Vorstellungskreis ,  wie  er  nun  einmal 
ist,  kein  Wissen  weder  über  das  Wesen  der  Dinge,  noch  über  das  ihm 
selbst  zu  Grunde  liegende  reelle  Substrat  einscbiiesst,  beginnt  er  im 
dritten  Buche  eine  neue  Reihe  von  Untersuchungen,  um  theils  dieses  ne- 
gative Resultat  weiter  zu  begründen ,  theils  das  Gebiet  zu  bestimmen, 
innerhalb  dessen  für  den  Menschen  ein  strenges  positives  Wissen  mög- 
lich sei.  Er  eröffnet  diese  Untersuchung  mit  einer  Erörterung  über  die 
Sprache,  als  den  Ausdruck  des  Gedankenkreises,  wie  er  sich  als  ein 
Gewordenes  und  relativ  Fertiges  zu  erkennen  gibt.  Es  ist  dabei  von 
keiner  besonderen  Wichtigkeit,  dass  er  die  Sprache  für  eine  Erfindung 
des  Menschen  erklärt,  die  ihm  vermöge  seiner  Fähigkeit,  arliculirte  Laute 
zu  äussern,  möglich  war;135)  der  Grund,  warum  er  den  Bedeutungen 
der  Worte  eine  so  ausführliche  Erörterung  widmet,  ist  der,  dass  in  der 
Sprache  sich  die  Vorstellungen  und  ihre  Verknüpfungen  zu  erkennen 
geben.  Zwischen  Wort  und  Vorstellung  findet  eine  unauflösliche  Ver- 
schmelzung statt;  was  und  wie  der  Mensch  denkt,  kann  man  nur  aus 
dem  abnehmen,  was  er  spricht.136)  Locke  gesteht,  er  habe  anfangs  für 
den  Gegenstand  seiner  Untersuchung  die  Berücksichtigung  der  Sprache 


434)  a.  a.  0.  §48.  22—24. 

4  35)  B.  III,  cb.  II,  §  4.  8. 

4  36)  a.  a.  0.  §  2.  Words  in  their  primitive  and  immediate  signißcation  stand  for 
nothing  but  the  ideas  in  the  mind  of  htm  that  uses  them.  §  6.  Words  being  immediately 
the  signs  of  mens  ideas  ....  come  by  constant  use  to  be  such  a  connection  between  certain 
sounds  and  the  ideas  they  stand  for,  that  the  names  heard  almost  as  readüy  excüe  certain 
ideas,  as  if  the  objects  themselves,  which  are  apt  to  produce  them,  did  actually  affect 
the  senses. 


53]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Ehkenntniss  u.  s.  w.  463 

nicht  für  so  nothwendig  gehalten;  aber  eben  weil  unsere  Erkenntniss, 
obgleich  sie  sich  auf  die  Dinge  bezieht,  an  Worte  gebunden  ist  und 
Worte  ein  unvermeidliches  Mittelglied  zwischen  den  Gedanken  und  den 
Dingen  sind ,  sei  der  Umfang  und  die  Gewissheit  der  Erkenntniss  mil- 
bedingt durch  die" Beschaffenheit  und  Bedeutung  der  Worte.137)  Obwohl 
Worte  zunächst  der  Ausdruck  der  Vorstellungen  sind,  die  der  Sprechende 
selbst  hat,  so  liegt  doch  ihrem  Gebrauche  stillschweigend  eine  doppelte 
Beziehung  zu  Grunde,  theils  auf  die  Vorstellungen  anderer,  theils  auf 
die  Natur  der  Dinge.  Die  Voraussetzung,  dass  ein  Zweiter  mit  dem  ge- 
sprochenen Wort  dieselbe  Vorstellung  verknüpfen  werde,  welche  der 
Sprechende  dabei  hat,  ist  innerhalb  einer  gemeinschaftlichen  Sprache 
dem  Menschen  überaus  natürlich,  obwohl  sie  keineswegs  immer  gegrün- 
det ist,  zumal  häufig  die  Gedanken  mehr  an  den  Worten  als  an  den 
Dingen  haften  und  Menschen,  die  früher  das  Wort,  als  die  durch  das- 
selbe bezeichneten  Vorstellungen  kennen  lernen,  oft  wie  die  Papageyen 
reden ; m)  in  der  andern  Voraussetzung,  dass  Worte  die  Natur  der  Dinge 
bezeichnen,  sieht  Locke,  obwohl  er  es  hier  nicht  ausdrücklich  ausspricht, 
geradezu  den  Fundamentalirrthum ,  aus  dem  die  Selbsttäuschungen  der 
Schulmetaphysik  zum  grossen  Theile  herfliessen.190) 

Hierauf  bezieht  sich  sogleich  die  Erörterung  über  die  Bedeutung 
der  Worte,  welche  allgemeine  Begriffe  bezeichnen,  oder,  was 'dasselbe 
ist,  der  allgemeinen  Begriffe  selbst.  Schon  vorher  hatte  er  bemerkt,  dass 
die  Sprache,  selbst  angenommen,  dass  die  Bezeichnung  jedes  einzelnen 
Dings  durch  ein  besonderes  Wort  möglich  sei ,  in  diesem  Falle  nur  ein 


4  37)  B.  III,  eh.  IX,  §  34.  Tho'  knowledge  terminated  in  things,  yet  it  was  for  the 
most  part  so  much  by  the  intervention  of  words ,  that  they  seemed  scarce  separable  from 
our  gener al  knowledge.  At  least  they  interpose  themselves  so  much  belween  our  under- 
standing  and  the  truth,  which  it  would  contemplate  and  apprehend,  that  like  the  medium 
through  which  the  visible  objeets  pass ,  their  obscurity  and  disorder  does  not  seldom  cast 
a  misl  before  our  eyes  and  mpose  upon  our  understanding . 

138)  B.  III,  eh.  II,  §  7.  Because  by  familiär  use  from  our  cradles  we  come  to  learn 
certain  articulate  sounds  very  perfectly  and  have  them  readily  on  our  tongues,  . .  but  yet 
are  not  always  careful  to  examme  or  settle  their  signtfications  perfectly,  it  often  happens 
that  men  . . .  do  set  their  thoughts  more  on  words  than  things.  . . .  Nut  only  children, 
but  men  speak  several  words  no  otherwise  than  parrots  do,  only  because  they  have  learned 
them  and  have  been  aecostumed  to  those  sounds.  Vgl.  eh.  V,  §  4  5. 

139)  a.  a.  0.  §  5.  Because  men  would  not  be  thought  to  talk  barely  of  their  ima- 
ginations  but  of  things  as  really  as  they  are ,  therefore  they  often  suppose  their  words  to 
stand  for  the  relation  of  things. 


164  G.  Hartenstein,  [5* 

überaus  unzureichendes  und  unbequemes  Mittel  der  Mittheilung  sein 
würde;  sie  benutzt  also  die  von  einer  Mehrzahl  individueller  Dinge  gel* 
tenden  Allgemeinbegriffe  und  bezeichnet  sie  durch  bestimmte  Worte.140) 
Die  Entstehung  dieser  allgemeinen  Vorstellungen  oder  Begriffe  betrachtet 
Locke,  obwohl  er  von  einem  besondern  Abstractionsvermögen  gespro- 
chen hatte,  doch  als  einen  unwillkürlichen  psychischen  Vorgang;  das 
Wesentliche  dabei  ist,  dass  die  besonderen  Merkmale  der  einzelnen  Be- 
griffe weggelassen  und  die  mehreren  gemeinschaftlichen  Merkmale  in 
der  Gesammtvorslellung  des  Art-  oder  Gattungsbegriffs  verknüpft  wer- 
den.141) Allgemeine  Begriffe  sind  lediglich  Erzeugnisse  des  Denkens; 
ihre  Allgemeinheit  gehört  ihnen ,  den  Begriffen,  aber  nicht  den  Dingen, 
die  sie  bezeichnen;  es  gibt,  könnte  mau  im  Sinne  Locke's  sagen,  allge- 
meine Begriffe,  aber  keine  allgemeinen  Dinge.142)  Der  allgemeine  Begriff 
bezeichnet  überhaupt  weder  ein  einzelnes  Ding,  noch  eine  Mehrheit  ein- 
zelner Dinge,  sondern  eine  gewisse  Art  oder  Gattung  von  Dingen, 
und  wenn  man  durch  ihn  bezeichnen  zu  können  glaubt,  was  die  Dinge 
sind,  so  trifft  dieses  Wesen  gar  nicht  die  Dinge  selbst,  sondern  die 
Arten,  nach  welchen  man  sie  unterscheidet  und  ordnet.143)  Die  Richtung 
der  Abstraction  und  die  dadurch  bedingte  Unterscheidung  bestimmter 
Arten  mag  dabei  immerhin  durch  die  unter  den  Dingen  selbst  stattfin- 
dende Aehnlichkeit  bedingt  sein;144)  das  Wesen  der  Arten,  insofern 
wir  diese  durch  allgemeine  Begriffe  bezeichnen,  ist  immer  selbst  eine 
allgemeine  Vorstellung,  die  eine  Art  vermittelndes  Glied  ist  zwischen  den 
Dingen  und  den  Worten,  durch  welche  wir  die  letzteren  bezeichnen,14*) 


4  40)  a.  a.  0.  eh.  I,  §  3.  —  §  4  erwähnt  er  auch  der  Negationen  und  negativen 
Begriffe,  ohne  ihnen  eine  so  eingehende  Erörterung  zu  widmen,  wie  den  allgemeinen. 

4  44)  B.  III,  eh.  in,  §  6flgg. 

142)  a.  a.  0.  §  4  4.  General  and  universal  belong  not  to  the  real  existence 
of  things,  but  are  the  inventions  and  creatures  of  the  under Standing,  . .  and  concern  only 
signs,  whether  words  or  ideas.  Words  are  general,  when  used  for  signs  of  general  ideas  y 
. .  and  ideas  are  general,  when  they  are  sei  up  a$  the  representatives  ofmany  particular 
things;  but  universalis  belongs  not  to  things  themselves,  whieh  are  all  of  them  particular 
in  their  existence, 

4  43)  a.  a.  0.  §  4  2.  That  whieh  general  words  signify  is  a  sort  of  things  < .  . 
Whereby  it  is  evident,  that  the  essence  of  the  sorts  or  (if  the  latm  word  pleases  better) 
species  of  things,  are  nothing  eise  but  these  abstract  ideas. 

4  44)  a.  a.  0.  §  43  (vgl.  B.  HI,  eh.  VI,  §  28). 

145)  a.  a.  0.  When  we  say,  this  is  a  man,  that  a  horse  . . .  what  do  we  eise  but 
rank  things  under  different  specific  names,  as  agreeing  to  those  abstract  ideas,  of  whieh 


55]  Locke's  Lehre  von  drb  menschl.  Erkenntnis  u.  s.  w.  165 

und  so  wie  nichts  verbürgt,  dass  die  Zerlegung  und  Classification,  wel- 
che wir  in.  unseren  Abstractionen  mit  den  Dingen  vornehmen,  der  Natur 
der  Dinge  entspreche,  so  haben  wir  kein  Recht,  die  Merkmale,  die  in 
unsern  Art-  und  Gattungsbegriffen  vorkommen ,  für  das  unentstandene 
und  unzerstörbare  Wesen  der  Dinge  zu  erklaren;  denn  die  Dinge  ent- 
stehen, verandern  sich  und  vergehen,  aber  die  Begriffe  ihrer  Arten  be- 
halten ihre  Bedeutung,  nämlich  für  unser  Denken,  aber  nicht  für  die 
Dinge.  Dem  ooncreten  Ding  ist  jedes  seiner  Merkmale  gleich  wesentlich 
oder  gleich  unwesentlich;  was  die  Vorstellung  davon  für  wesentlich  und 
unwesentlich  halt,  dafür  liegt  der  regulirende  Gesichtspunkt  lediglich  in 
den  schon  festgestellten  Art-  und  Gattungsbegriffen.146) 

Dass  den  Dingen,  abgesehen  von  der  Art,  in  welcher  wir  sie  durch 
allgemeine  Begriffe  bezeichnen  und  classificiren ,  ein  eigenes  Was  zu- 
komme, ist  eine  Voraussetzung,  an  der  Locke  so  wenig  zweifelt  als 
daran,  dass  die  Dinge  sind ;  aber  er  fordert,  dass  man  das  reelle  Wesen 
der  Dinge,  oder  —  weil  wir  von  den  Dingen  in  keiner  anderen  Weise 
etwas  wissen ,  als  indem  wir  sie  vorstellen,  —  das  reelle  Wesen  des 
Gedachten  und  Vorgestellten  Oberhaupt  von  dem  nominellen  Wesen 
unterscheide.  Das  Wort  Wesen,  bemerkt  er,  bedeutet  zunächst  das.  was 
ein  Ding  ist.  Dadurch  aber,  dass  die  Schulphilosophie  vorzugsweise  mit 
allgemeinen  Begriffen  operirt  habe,  habe  das  Wort  Wesen  diese  seine 
ursprüngliche  Bedeutung  beinahe  ganz  verloren,  und  man  habe  das 
Wesen  der  Dinge  in  den  Benennungen  gesucht,  die  die  Sprache  den 
Arten  und  Gattungen  der  Dinge  je  nach  den  darüber  festgestellten  All- 


we  have  made  those  narne$  the  sign*?  And  what  are  the  essenees  of  those  speciee  sei  out 
and  marked  by  names,  but  those  abstract  ideas  in  the  nrnd,  which  are,  as  it  tvere,  the 
bände  between  parUcular  things  that  extet,  and  the  names  they  are  to  be  ranked  under? 
And  when  general  names  have  any  conneciion  wüh  particular  beings,  the  abstract  ideas 
are  the  medium  that  umtes  them,  so  that  the  essenees  of  speciee,  as  distinguished  and 
denominated  by  us,  neither  are  nor  ean  be  any  thing  but  those  precise  abstract  ideas  we 
have  in  our  mmds. 

U6)  a.  a.  0.  §  49.  AU  things  that  existe,  besides  their  author,  are  aü  liable  to 
ehange;  ...  tu  which  changes  ü  is  evident,  their  real  essence,  t.  e.  that  Constitution, 
whereon  the  properties  of  these  several  things  depended,  is  destroyed  and  perished  wüh 
them.  But. essenees  being  taken  for  ideas  established  in  the  mind,  . . .  they  are  supposed 
to  remain  steadily  the  same.  whatever  mutations  the  particular  substances  are  hoble.  . . . 
From  what  hos  been  seid,  ü  is  evident,  that  the  doctrine  of  the  mmutabilüy  of  essenees 
proves  them  to  be  only  abstract  ideas.  Vgl.  eh.  VI,  §  4.  5. 


1 66  G.  Hartenstein,  [56 

gemeinbegriffen  gibt.  Das  Wort  Wesen  ist  in  dem  einen  Falle  an  die 
Sache,  in  dem  andern  an  das  Wort,  als  die  Bezeichnung  des  allgemeinen 
Begriffs  geknüpft.147) 

Um  nun  die  Frage,  in  wie  fern  durch  allgemeine  Begriffe  das,  was 
durch  sie  gedacht  wird,  auch  erkannt  wird,  in  wie  fern  also  der  allge- 
meine Begriff  nicht  bloss  das  nominelle,  sondern  auch  das  reelle  Wesen 
ausdrückt ,  zu  beantworten , .  greift  Locke  zurück  zu  seiner  Unterschei- 
dung zwischen  einfachen  und  zusammengesetzten  Vorstellungen»  von 
denen  die  letzteren  in  solche  zerfallen,  die  ohne  Beziehung  auf  ein  äus- 
seres Object  lediglich  durch  ihren  eigenen  Inhalt  gedacht  werden  und 
keinen  Vergleichungspunkt  ausser  sich  haben  (die  gemischten  modi  und 
die  Relationen),  und  solche,  deren  Bedeutung  an  die  Beziehung  auf  ein 
äusseres  Object  gebunden  ist  (die  Substanzen) . 

Es  muss  befremden ,  dass  Locke  von  den  einfachen  Vorstellungen 
den  Satz  ausspricht,  dass  bei  ihnen  das  reelle  und  das  nominelle  Wesen 
der  durch  ihre  Namen  bezeichneten  Arten  zusammenfällt.148)  Er  gibt 
nicht  einmal  einen  Grund  davon  an;  dieser  kann  ftlr  ihn  auch  nicht  darin 
liegen  sollen,  dass  etwa  die  sinnlich  wahrgenommenen  Qualitäten  mit 
der  eigenen  Qualität  der  Dinge  identisch  waren ;  sondern  er  scheint  zu 
diesem  seiner  eigenen  Denkart  nicht  angemessenen  Ausdrucke  dadurch 
gekommen  zu  sein,  dass  das  Was  einer  einfachen  Vorstellung  nur  durch 
sich  selbst  erkennbar  sei  und  sich  jeder  Definition  entziehe»149) 


1  47)  a.  a.  0.  §  1 5.  First,  essence  may  be  taken  for  the  being  of  any  thing,  whereby 
it  is  what  ü  is.  And  thus  the  real  internal,  but  generally  in  substances  unknown  Consti- 
tution of  things,  whereon  their  discoverable  qualities  depend,  may  be  callcd  essence,  This 
is  the  proper  signißcaHon  of  the  toord,  . . .  and  in  this  sense  ü  is  stiU  used,  when  we  speak 
of  the  essence  of  particuktr  things,  without  gwing  them  any  name.  Secondly,  the  learning 
andLdisputes  of  the  schools  having  been  much  busied  about  genus  and  species,  the  ward 
essence  had  altnost  lost  its  primary  signification  and  . . .  hos  been  almost  wholly  applied 
to  the  artißcial  Constitution  of  genus  and  species.  ...  It  being  evident,  that  things  are 
ranked  under  names  into  sorts  or  species,  only  as  they  agree  to  certain  abstract  ideas,  to 
which  we  have  annexed  a  name ,  the  essence  of  each  genus  or  sort  comes  to  be  nothing, 
but  that  abstract  idea,  which  the  general  or  sortal  (if  I  may  have  leave  so  to  call  it)  name 
Stands  for.  These  two  sorts  of  essences  may  not  unfiUy  be  termed,  the  one  the  real,  the 
other  the  nominal  essence. 

t  48)  a.  a.  0.  §  18,  vgl.  eh.  IV,  §  3. 

4  49)  B.  HI,  eh.  IV,  §  7.  Vgl.  damit  §  48  die  Nachweisung,  warum  bei  etufachen 
Vorstellungen  zwischen  der  niedrigsten  Art  und  der  höchsten  Gattung  nur  sehr  uenig 
Mittelglieder  liegen. 


57]  Locke's  Lehre  von  der  mknschl.  Erkenntniss  ü.  s.  w.  1 67 

Für  die  gaoze  grosse  Ciasse  von  Begriffen  ferner,  weiche  er  als 
gemischte  modi. und  Relationen  bezeichnet,  legt  er  überall,  wo  er  von 
ihnen  spricht,  das  entscheidende  Gewicht  darauf,  dass  sie  willktthrliehe, 
wenn  auch  nicht  schlechthin  zufällige  und  grundlose  Verknüpfungen  und 
Beziehungen  einfacher  Vorstellungen  sind ,  die  weder  an  die  Voraus- 
setzung einer  äusseren  Existenz,  noch  an  die  bestimmte  Form  des  äus- 
serlich  Gegebenen  gebunden  sind.150)  Sie  haben  daher  kein  Maass  ausser 
sich;  sie  sind  das,  als  was  sie  gedacht  werden,  ohne  dass  auch  nur  ge- 
fragt werden  könnte,  ob  dieser  Inhalt  des  Gedachten  mit  einem  ausser- 
halb dieses  Inhalts  liegenden  Objecto  übereinstimme  oder  nicht;  von 
einem  Unterschiede  dessen ,  was  der  Begriff  enthalt  und  was  das  Wort 
bedeutet,  kann  daher  bei  ihnen  keine  Rede  sein;  was  der  Begriff  für 
den,  der  ihn  bildet,  enthalt,  besagt  auch  das  Wort  und  desshalb  fällt  bei 
ihnen  das  nominelle  und  reelle  Wesen  zusammen.161)  Wer  den  Begriff 
einer  von  drei  Seiten  begrenzten  Flache  durch  das  Wort  Dreieck  be- 
zeichnet, dessen  Denken  ist  in  der  Feststellung  dieses  Begriffs  nicht  nur 
unabhängig  von  der  Frage,  ob  ein  Dreieck  existirt,  sondern  der  Begriff 
enthalt  auch  den  Grund  der  Eigenschaften  des  Dreiecks;  das  Wesen  des 
Dreiecks  ist  der  Inhalt  seines  Begriffe,  eben  so  wie  das  Wesen  der  Dank- 
barkeit und  der  Gerechtigkeit  in  den  in  diesen  Begriffen  verknüpften 
Merkmalen  liegt.152)  Dieser  Satz  gilt,  insofern  bestimmte  Begriffe 
dieser  Art  mit  bestimmten  Worten  bezeichnet  werden;  bei  der  Masse 
von  Zufälligkeiten,  denen  die  Bildung  dieser  Begriffe  sammt  ihren  Be- 
nennungen ausgesetzt  ist,  ist  gleichwohl  die  Bedeutung  der  letztern  im 


450)  B.  III,  eh.  V,  §  3.  The  essenaes  of  the  speeies  of  mixed  modes  are  not  only 
made  by  the  mind,  but  made  very  arbitrarly,  made  tvithout  patterns  or  referenee  to  any 
real  existence.  Wherein  they  differ  firom  those  of  substances ,  which  carry  with  themjthe 
supposiUon  of  some  real  being,  from  which  tke  are  taken,  and  to  which  the  are  confor- 
mable.  Die  Ausführung  und  Limitation  dieses  Salzes  vgl.  §  5 — 7. 

151)  a.  a.  0.  §  44.  The  names  of  mixed  modes  always  signifles  (when  they  have 
any  determmed  significaHon)  the  real  essence  of  their  speeies.  For  these  abstraet  ideas 
bemg  . .  not  referred  to  the  real  existence  of  things,  there  is  no  supposition  of  any  thmg 
more  signified  by  that  name,  but  barely  that  complex  idea  the  mind  iiself  hos  formed,  . . . 
and  is  that  on  which  all  the  properties  of  the  speeies  depend  and  from  which  alone  they 
flow ;  and  so  in  these  the  rjal  and  nominal  essence  is  the  same. 

152)  a.  a.  O.  §  4  3.  Er  fügt  hinzu:  üence  I  think  it  w,  tltat  these  essences  of  the 
speeies  of  mixed  modes  are  by  a  more  particular  name  called  notions;  as  by  a  pecutiar 
right  appertaining  to  the  understanding . 


1 68  6.  HARTBKSTfilN.  [58 

allgemeinen  viel  schwankender ,  als  die  der  Bezeichnungen  für  die  ein- 
fachen Vorstellungen,  wie  schon  daraus  hervorgeht,  dass  jede  Sprache 
eine  Menge  Worte  hat ,  ftlr  die  es  in  einer  andern  Sprache  keine  genau 
entsprechenden  Worte  gibt.135) 

Ein  davon  ganzlich  verschiedenes  Verhältniss  ßndet  aber  bei  den 
Vorstellungscoxnplexionen  statt,  durch  welche  wir  die  Dinge  (die  Sub- 
stanzen) bezeichnen.  Dass  Locke  auf  diesen  Gegenstand  noch  einmal 
sehr  ausführlich  zurückkommt,  ist  keineswegs  eine  blosse  Wiederholung; 
wahrend  er  vielmehr  früher  (vgl.  oben  S.  1 37fgg.)  sich  auf  die  Nachwei- 
sung beschränkt  hatte ,  dass  das  Was  der  den  Dingen  vorausgesetzten 
Substanzen  factisch  unbekannt  sei,  geht  er  hier  auf  die  Nachweißung  der 
Unmöglichkeit  ein, dasselbe  durch  allgemeine  Begriffe  zuerkennen. 
Was  wir  von  den  Substanzen  zu  wissen  glauben,  fassen  wir  unter  den 
allgemeinen  Begriff  der  betreffenden  Art  von  Dingen  zusammen  und 
der  Inhalt  dieses  allgemeinen  Begriffs  gilt  für  das  Wesen  dieser  Art; 
dergestalt  dass  das  Wesen  des  einzelnen  Dings  durch  die  Beziehung  auf 
den  Inhalt  des  Begriffs  seiner  Art  bestimmt  wird.  Dadurch  wird  die 
Entscheidung  über  das  angebliche  Wesen  der  Dinge  in  die  Reihenfolge 
der  logischen  Abstractionen  verwickelt.  Ohne  diese  Beziehung  auf  die 
in  den  angenommenen  Arten  liegenden  Unterscheidungsgründe  dessen, 
was  dem  Dinge  wesentlich  und  unwesentlich  sein  soll,  ist  ihm  jede  seiner 
Eigenschaften  gleich  wesentlich  und  gleich  unwesentlich.154)  Dass  wir 
nun  durch  die  Feststellung  der  Arten  der  Dinge  die  leisen  und  fast  unmerk- 


4  53)  a.  a.  0.  §  8.   Vgl.  fi.  III,  eh.  IX,  §  6. 

\  54)  B.  111,  eh.  VI,  §  2.  The  tneasure  and  boundary  ofeach  sort  or  species,  whereby 
it  is  constituted  a  partieuiar  sort  and  dietinguished  from  others  is  thai  we  call  its  essence, 
which  is  nothing  but  that  abstract  idea  to  which  the  name  is  annexed.  §  H  .  it.  4  3.  Our 
distinet  species  are  nothing  but  distinet  compiex  ideas  with  distinet  names  annexed  to 
them.  It  is  true,  every  substance  thai  exists,  hos  its  peculiar  constitutum,  whereon  depend 
those  sensible  qualities  and  powers,  we  observe  in  it.  But  the  ranking  the  thmgs  inlo  spe- 
cies ,  which  is  nothing  but  sorting  them  under  several  titles,  is  done  by  us,  aecording  to 
the  ideas  we  have  of  them.  §  4.  Lei  any  one  exatnine  his  own  thoughts  and  he  will  find, 
that  as  soon  as  he  supposes  or  speaks  of  essential,  the  consideration  of  some  species  or 
the  compiex  idea  signified  by  general  name  com/es  Mo  his  mind,  and  it  is  in  reference  to 
that,  that  this  or  that  quaUty  is  said  to  be  essential.  . . .  So  that  essential  and  not  essen- 
tial  relate  only  to  our  abstract  ideas  and  the  names  annexed  to  them.  §  6.  AU  such 
paterns  and  Standards  being  quite  laid  aside,  partieuiar  beings,  considered  only  in  them- 
sehes,  will  be  found  to  have  all  their  qualities  equaUy  essential,  and  every  thing,  in  each 
individualy  will  be  essential  to  it,  or,  which  is  more,  nothing  at  all. 


59]  LocKfc's  Lehre  von  dbr  mbnscbl.  Erkenntnis*  u.  s.  w.  169 

liehen  Uebergttnge  zwischen  ihnen,  wie  sie  in  der  Wirklichkeit  vorkommen, 
nur  einigermassen  vollständig  erschöpfen  können,  ist  mehr  als  unwahr« 
schemlich ;  wenigstens  im  Gebiete  der  lebendigen  Wesen  liegt  eine  fesle 
Grenzbestimmung  der  einzelnen  Arten  weder  in  der  Fortpflanzung«  noch 
viel  weniger  in  den  sogenannten  subslanziellen  Formen,  von  denen  sich 
ohnedies  Niemand  etwas  träumen  Iftsst,  als  die  Schulphilosophie. ,M) 
Sollte  überhaupt  diese  Annahme,  dass  die  Arten  der  Dinge  durch  ge- 
wisse ihnen  inwohnende  Formen  oder  Wesenheiten  wirklich  von  ein- 
ander unterschieden  sind  und  durch  die  diesen  substanziellen  Formen 
entsprechenden  allgemeinen  Begriffe  ihrem  Wesen  nach  erkannt  werden, 
gerechtfertigt  werden,  so  müsste  sich  beweisen  lassen,  erstlich,  dass  die 
Natur  überhaupt  die  Absiebt  habe,  die  Classen  der  Dinge  nach  gewissen 
vorausbestimmten  Mustern  hervorzubringen,  eine  Voraussetzung,  die  in 
der  rohen  Form,  wie  man  sie  gewöhnlich  macht,  einer  viel  genaueren 
Prüfung  unterworfen  werden  müsste;  sodann  wäre  zu  untersuchen,  ob 
die  Natur  die  Darstellung  dieser  Wesenheiten  immer  ausführe  und  er- 
reiche, wobei  die  Frage  entstehen  würde,  ob  Ausbildungen  eine  eigene 
Gasse  von  Dingen  bilden  oder,  zu  einer  andern  Ciasse  gehören ;  jeden- 
falls aber  müsste  das  reelle  Wesen  der  Dinge ,  die  wir  nach  Classen 
sondern,  uns  bekannt  sein,  um  nach  dessen  Unterschieden  die  Arten 
der  Dinge  zu  bestimmen ,  und  gerade  dies  ist  bei  unserer  Unwissenheit 
über  das  Wesen  der  Dinge  unmöglich.196)  Vielmehr  bestehen  unsere  Be- 
griffe von  den  Dingen  lediglich  aus  den  empirisch  wahrgenommenen 
Eigenschaften  sammt  den  Kräften ,  welche  wir  ihnen  beilegen ;  weder 
jene  noch  diese  sind  vollständig  bekannt;  die  Erfahrung  verr&th  davon 
bald  weniger,  bald  mehr,  und  je  nach  dem  Reichthum  oder  der  Armuth 
dieser  Kenntniss  bedeutet  eine  und  dieselbe  Bezeichnung  der  Dinge  für 
verschiedene  Menschen  Verschiedenes,  zwar  genug,  um  das  Verstand- 
niss  im  Verkehr  des  gewöhnlichen  Lebens  zu  sichern,  aber  durchaus  zu 
wenig,  um  diese  Begriffe  von  den  Dingen  als  Ausdruck  eines  strengen 


165)  a.  a.  0.  §  12.  23.  24. 

4  56)  a.  a.  0.  §  4  4 — 49.  —  To  distinguish  substantial  bemgs  mto  species,  aecord- 
mg  to  the  usual  supposiüon  that  there  are  certain  prent*  e$sences  or  forms  of  things, 
whereby  aü  the  indwiduab  existmg  are  by  naiure  distmgnished  into  species,  thsse  ihings 
are  neeessary:  ...  fourthly,  the  real  essence  of  those  Ihings,  which  tee  distinguish  into 
species  and  as  so  distinguished  we  name,  ought  to  be  known. 


170  G.Hartenstein,  [60 

Wissens  betrachten  oder  als  Grandlage  wissenschaftlicher  Folgerungen 
benutzen  zu  können.157) 

Zu  dieser  in  der  Sache  selbst  gegründeten  Unvollkommenheit  der 
Erkennlniss,  die  dergestalt  an  die  Sprache  d.  h.  an  den  wirklich  vor- 
handenen in  der  Sprache  seinen  Ausdruck  findenden  Gedankenkreis  ge- 
bunden erscheint,  dass  die  Bezeichnungen  der  einfachen  Empfindungen 
und  der  einfachen  modi  noch  am  meisten  geeignet  sind,  das,  was  sie 
bezeichnen  sollen,  bestimmt  auszudrücken,  während  die  Benennungen 
der  modi  mucti  und  der  Substanzen  dies  nur  sehr  unvollkommen  oder 
gar  nicht  leisten,158)  kommen  nun  noch  eine  Menge  von  Fehlern  im  Ge- 
brauche der  Sprache,  die  zwar  an  sich  vermieden  werden  könnten,  die 
aber  gleichwohl  häufig  begangen  werden  und  den  Gedankenkreis,  inso- 
fern er  auf  Erkennlniss  Anspruch  macht,  vollends  verwirren.  Bald 
braucht  man  Worte,  mit  welchen  man  überhaupt  gar  keinen  bestimmten 
und  klaren  Begriff  verbindet,  ein  Fehler  zu  dem  schon  der  Umstand 
reiche  Veranlassung  gibt ,  dass  die  Menschen  die  Worte  früher  lernen 
als  die  durch  sie  bezeichneten  Begriffe;  bald  bedient  man  sich  der  Worte 
in  verschiedenen  Bedeutungen,  was  eben  so  klug  ist,  als  ob  jemand  in 
einer  Rechnung  ein  und  dasselbe  Zahlzeichen  für  verschiedene  Zahl« 
grossen  anwenden  wollte ;  bald  gebraucht  man,  um  tiefsinnig  zu  erschei- 
nen ,  dunkle  und  unklare  Bezeichnungen ;  bald  nimmt  man  Worte  für 
Bezeichnungen  von  Sachen ,  die  gar  nicht  existiren ,  wobei  Locke  nicht 
unterlässt,  die  substanziellen  Formen,  die  vegetativen  Seelen,  den  horrar 
vacui  u.  s.  w.  als  Beispiele  anzuführen;  bald  gibt  man  den  Worten  Be- 
deutungen, die  sie  nicht  haben  können,  was  namentlich  bei  den  Worten, 
durch  die  wir  die  Dinge  bezeichnen,  überall  der  Fall  ist,  wenn  wir  mei- 
nen, dadurch  ihr  eigenes  Wesen  auszudrücken;  bald  setzt  man  irrthüm- 
lich  als  etwas  Selbstverständliches  voraus,  dass  die  Worte  eine  unzwei- 
felhafte und  bestimmte  Bedeutung  haben,  und  streitet  über  Worte,  bei 
welchen  sich  jeder  der  Streitenden  im  Grunde  etwas  Anderes  denkt.150), 
Diese  Fehler  schliessen  zum  Theil  geradezu  grobe  Irrthümer  ein,  und 
so  findet  sich  Locke  veranlasst,  im  4 1 .  Capitel  des  dritten 'Buchs  eine  Art 


157)  a.  a.  0.  §  20.  Our  distmguishing  substances  into  species  by  names  is  not  al 
all  founded  on  their  real  essence,  nor  can  we  pretend  to  ränge  and  determme  them  exactltj 
into  species  aecording  to  internal  essential  differenecs.  cf.  §  30.  B.  III,  eh.  IX,  §  12 — 17. 

158)  B.  111,  eh.  IX. 

159)  B.  III,  eh.  X,  §  4—  1%. 


61]  Locke's  Lehre  von  der  mknsciil.  Erkenntniss  u.  s.  w.  171 

pädagogischer  Anweisung  hinzuzufügen,  wie  wenigstens  diese  aus  Nach- 
lässigkeit und  Mangel  an  Ueberlegung  entstehenden  Fehler  vermieden 
werden  können. 


VI. 

Die  bisherigen  Erörterungen  bilden  die  Grundlage,  auf  welche  ge- 
stutzt Locke  im  vierten  Buche  seines  Werks  das  abschliessende  Urtheil 
über  den  Umfang  und  die  verschiedenen  Grade  der  Gewissheit  der 
menschlichen  Erkenntniss  ausspricht.  Der  Fundamentalsatz ,  den  er  in 
dieser  Beziehung  an  die  Spitze  stellt,  besteht  in  der  Erinnerung  daran, 
dass  für  den  menschlichen  Geist  der  einzige  Gegenstand  seines  Denkens 
seine  eigenen  Vorstellungen  sind;  alle  Erkenntniss  bezieht  sich  unmittel- 
bar nicht  auf  die  Dinge,  sondern  auf  das  Verhältniss  der  Vorstellungen ; 
die  Erkenntniss  selbst  ist  die  Wahrnehmung  der  Verknüpfung  oder  der 
Sonderung,  der  Vereinbarkeit  oder  Unvereinbarkeit,  der  Ueberemstim- 
mung  oder  Nichtübereinstimmung  unter  den  Vorstellungen  nnd  Begriffen. 
Wenn  wir  erkennen :  weiss  ist  nicht  schwarz ,  so  nehmen  wir  die  Un- 
vereinbarkeit der  diese  Empfindungen  bezeichnenden  Vorstellungen 
wahr;  und  wenn  wir  erkennen:  die  drei  Winkel  eines  Dreiecks  sind 
gleich  zwei  rechten,  so  nehmen  wir  wahr,  dass  diese  Bestimmung  von 
den  drei  Winkeln  des  Dreiecks  ohne  Widerspruch  nicht  getrennt  werden 
kann.160)  Als  die  Classen  der  Falle,  in  denen  über  Uebereinstimmung 
und  Nichtübereinstimmung  der  Vorstellungen  geurtheiU  wird,   unter- 


t  60)  B.  IV,  eh.  I,  §  \ .  Since  the  mind  in  all  its  thoughts  and  reasonings,  hath  no 
other  immediate  objeet  but  its  own  ideas,  which  ü  alone  does  or  can  contemplate ,  it  is 
evident,  that  our  knowledge  is  only  conversant  about  them.  §  J.  Knowledge  then  seems 
to  me  to  be  nothing  but  the  percepUon  of  the  connexion  and  agreement  or  disagreemetU 
and  repugnaney  of  any  of  our  ideas.  In  this  alone  ü  eonsists.  Das  Wort  agreement 
schliesst  Identität  und  Zusammengehörigkeit  zugleich  ein.  Es  mag  erlaubt  sein,  für 
dasselbe  der  Kürze  wegen  das  deutsche  Wort  Uebereinstimmung  zu  gebrauchen.  — 
Am  Schlüsse  des  Capitels  §89  setzt  Locke,  um  seine  Definition  der  Erkenntniss  vor 
dem  Einwurfe  zu  schützen,  als  sei  sie  zu  eng,  noch  den  Unterschied  zwischen  wirk- 
licher und  habitueller  oder  gedächtnissmässiger  Erkenntniss  aus  einander,  bei  welcher 
letzteren  wir  die  Ueberzeugung  von  der  Richtigkeit  eines  Satzes  haben,  weil  wir  uns 
erinnern,  den  Zusammenhang  seiner  Beweise  früher  eingesehen  zu  haben,  ohne  dass 
dieser  Zusammenbang  uns  gerade  jetzt  gegenwärtig  ist. 


172  6.  Haetbhstbin,  16* 

scheidet  Locke  folgende  vier:  1)  Identität  und  Verschiedenheit,  2)  Be- 
ziehungen, 3)  Coexislenz,  4)  Wirklichkeit111)  Die  Entscheidung  über 
Einerleiheit  und  Nichteinerleiheit  der  Vorstellungen  ist  der  erste,  allen 
übrigen  zu  Grunde  liegende  Act  des  Geistes ,  der  in  jedem  einzelnen 
Falle  unmittelbar  und  nicht  erst  durch  Vermittlung  eines  allgemeinen 
Denkgesetzes  stattfindet,  wo  der  Inhalt  des  Vorgestellten  mit  Bestimmt- 
heit gedacht  wird.  Entsieht  Über  Einerleiheit  und  Nichteinerleiheit  ein 
Zweifel ,  so  wird  man  immer  finden ,  dass  er  sich  nicht  auf  den  Inhalt 
der  Vorstellung,  sondern  auf  den  Namen  bezieht.  Von  allen  ihrem  Inhalt 
nach  verschiedenen  Vorstellungen  gilt  in  alle  Ewigkeil  der  Satz ,  dass 
die  eine  nicht  die  andere  ist;  aber  das  würde  zu  keinerlei  positiver  Er- 
kenntniss  führen,  wenn  wir  nicht  durch  die  verschiedenen  Gesichts- 
punkte ihrer  Vergleicbung  Mittel  gewannen  über  ihre  Verhaltnisse 
und  Beziehungen  zu  urtbeilen.  Die  dritte  Classe  von  Fallen,  wo  wir 
über  Uebereia Stimmung  und  Nichtübereinstimmung  urtheilen,  bietet  die 
Coexistenz  d.  h.  die  gleichzeitige  Verknüpfung  der  Merkmale  in  den  Din- 
gen dar ;  die  vierte  soll  die  Anerkennung  oder  Voraussetzung  der  Exi- 
stenz des  Vorgestellten  bezeichnen«182)  Die  Unterscheidung  dieser  vier 
Glassen  scbliessl  eigentlich  zwei  verschiedene  Gesichtspunkte  ein ;  die 
beiden  ersten  halten  sich  innerhalb  des  Vorstellungskreises  selbst,  die 
beiden  letzten  beziehen  sich  auf  das  Verhaltniss  der  Vorstellung  zu  den 
als  wirklich  gedachten  Objecten  der  Vorstellung;  sie  können  aber  in  so 
fern  unter  den  ersten  Gesichtspunkt  gebracht  werden ,  als  in  der  als 
wirklich  vorgestellten  Verknüpfung  der  Merkmale  in  den  Dingen  der 
Grund  der  Annahme  liegt,  dass  die  diesen  Merkmalen. entsprechenden 
Vorstellungen  mit  einander  verknüpfbar  sind,  und  dass  der  Begriff  der 
Existenz  selbst  eine  von  den  Vorstellungen  ist,  welche  in  die  verglei- 
chenden Operationen  des  Erkennens  mit  eingeht.   Uebrigens  bemerkt 


4  64)  a.  a.  0.  §  3.  To  vnderstand,  wherein  this  agreement  or  disagremneni  consists, 
l  think  we  may  retinae  ü  all  to  these  four  sorts:  4)  identity  or  diversüy,  2)  relation, 
3)  coexistence  or  necessary  conneccion ,  4)  real  eatistenoe.  §  7 .  Wühin  these  four  sorts  of 
agreement  or  disagreememt  i$,  I  suppose,  contained  all  the  knowledge  we  have  or  are 
capable  of:  for  all  the  enquvries  that  we  can  make  coneerning  any  of  our  ideas,  all  that 
we  knotv  or  can  affin*  coneerning  any  of  them,  is,  that  itisoris  not  the  same  wiiit  some 
other;  that  it  does  or  dorn  not  always  coexisi  wüh  some  other  idea  in  the  same  subjeet; 
that  ü  hos  this  or  that  relation  to  some  other  idea;  or  that  U  hos  a  real  ewistence. 

4  62)  a.  a.  0.  §  4—7. 


63]  Lockb's  Lbhrb  von  »kr  vknscul.  Erkenntniss  u.s.  w.  473 

Locke  selbst,  dass  Identität  und  Coexistenz  eigentlich  nur  Verhält- 
nisse bezeichnen,  dass  es  ihm  aber  rathsam  geschienen  habe,  sie  aus 
der  Masse  der  letzteren  herauszuheben,  weil  sie  dem  Denken  so  eigen* 
thttmliche  Veranlassungen  der  Bejahung  und  Verneinung  darbieten,  dass 
sie  eine  gesonderte  Betrachtung  verdienen.163) 

Handelt  es  sich  nun  darum,  die  Arten  oder,  wie  Locke  sagt,  die 
Grade  der  Erkenntniss m)  zu  bestimmen ,  so  reduciren  sich  diese  zw» 
nächst  auf  zwei  Classen,  je  nachdem  die  Entscheidung  über  Ueberein- 
stimmung  oder  Nichtübereinstimmung  der  Vorstellungen  unmittelbar  oder 
mittelbar,  durch  andere  vermittelnde  Vorstellungen  erfolgt.  Die  erstere 
nennt  er  die  intuitive,  die  zweite  die  demonstrative  Erkenntniss, 
Die  intuitive  Erkenntniss  wirkt  unwiderstehlich,  sie  sc  hl  i  esst  jeden  Zwei- 
fel, jeden  Aufschub  der  Entscheidung  aus  und  bietet  den  grösstmttg- 
liehen  Grad  der  Gewissheit  dar.185)  Die  demonstrative  Erkenntniss  be- 
darf der  Vehnitlehmgen  amderer  Vorstellungen,  deren  Darlegung  der 
Beweis  ist;  aber  so  wie  das  demonstrative  Denken  in  jedem  Punkte 
seines  Fortschreitens  auf  die  intuitive  Erkenntniss  der  Uebereinstimmung 
oder  Nichtübereinstimmung  der  den  Fortschritt  vermittelnden  Begriffe 
zurückgewiesen  ist,160)  so  unterscheidet  es  sich  von  der  letzteren  auch 

463)  a.  a.  0.  §7.  Though  identity  and  coexistence  are  truly  notking  but  relations, 
yet  they  are  so  peeuHar  ways  of  agreement  and  disagreement  of  our  ideas,  that  they  deserve 
well  to  be  oonsidered  as  dfrtihcl  heads  and  not  wider  relaüon  m  general. 

4  64)  Locke  unterscheidet  degrees  of  knowledge  (B.  IV,  eh.  II)  und  degrees  of  assettf 
(B.  IV,  eh.  XVI).  Der  erste  Ausdruck  bezeichnet  in  der  That  Arten  der  Erkenntniss, 
der  zweite  den  Grad  der  Zustimmung,  den  uns  eine  Art  der  Erkenntniss  sbnöthigt. 

4  65)  B.  IV,  eh.  II,  §  4 .  ff  we  wift  reflect  on  our  own  ways  of  thinkthg,  we  shall 
find,  that  sometimes  the  mind  pereeives  the  agreement  or  disagreement  of  two  ideas  im- 
mediatety  by  themsetves,  witkout  the  intervention  of  any  other;  and  this  I  think  we  may 
call  intuitive  knowledge  . . .  Such  kmd  of  truths  the  mind  pereeives  at  the  first  sight' 
of  the  ideas  together,  by  bare  intuition,  . . .  this  kind  of  knowledge  i$  the  elearesi  and 
most  eertain  that  human  frailty  is  capable  of.  This  part  of  knowledge  is  rrresütible,  and 
Uke  bright  sunshme  forces  itself  immediately  to  be  pereewed,  as  soon  as  ever  the  mind 
turns  its  view  that  way,  and  leaves  no  room  for  hesitation  doubt  or  examinaUon.  — 
<§  S.  When  the  mind  cannot  so  bring  its  ideas  together,  as  by  their  tmmediate  comparison 
and  as  it  were  juxtaposithn  . . .  to  pereewe  their  agreement  or  disagreement,  it  is  fam 
by  the  Intervention  of  other  ideas  to  discover  the  agreement  and  disagreement,  wkkh  H 
searches;  and  this  is  that  wkkh  we  caU  reasoning.  §  3.  Those  mtervenmg  ideas  . . . 
are  catted  proofs. 

4  66)  i.  a.  0.  §  7.  In  every  step  reason  makes  in  demonstrative  knowledge,  there 
is  an  intuitive  knowledge  of  that  agreement  or  disagreement  Ü  seeks  with  the  next  tnter- 
mediate  idea,  which  it  uses  as  a  proof. 


474  G.  Hartekstbih,  [64 

dadurch,  dass  es,  so  gewiss  auch  der  geführte  Beweis  sein  mag,  doch 
den  Zweifel  nicht  ausschliesst  und  überhaupt  dem  durch  eine  Reihe  von 
Spiegeln  reflectirten  Lichte  gleicht,  welches  bei  jedem  Reflexe  etwas 
von  seiner  ursprünglichen  Helligkeit  verliert.107) 

Alles,  was  nicht  unter  diese  intuitive  oder  demonstrative  Erkennt- 
niss  fällt,  gehört  in  das  Gebiet  der  Meinung  oder  des  Glaubens.  Streng 
genommen ,  würde  dabin  auch  die  sinnliche  Erkenntniss  gehören  d.  h. 
die  Voraussetzung,  dass  unseren  Yorsteliungen  von  den  Dingen  auch 
wirklich  Dinge  entsprechen.  Denn  obwohl  nichts  gewisser  sein  könne, 
als  dass  wir  die  Vorstellungen,  die  wir  auf  ein  wirkliches  Object  bezie- 
hen, wirklich  haben,  so  sei  doch  das  ein  Gegenstand  des  Zweifels,  ob 
diese  Beziehung  der  Vorstellung  auf  die  Objecte  sich  rechtfertigen  lasse. 
Indessen  da,  wenn  Alles  nur  ein  Traum  wäre,  alles  Denken  und  Forschen 
sehr  unnütz  sein  würde,  und  da  der  hartnackigste  Skeptiker,  der  z.  B. 
das  Feuer,  cjas  ihn  brennt,  für  einen  Traum  erkläre,  doch  wenigstens 
die  Verknüpfung  seines  Schmerzes  mit  der  Vorstellung  des  brennen- 
den Dings  nicht  leugnen  könne,  so  scheine  es  gerechtfertigt,  wenn  aus- 
ser den  beiden  oben  genannten  Arten  der  Erkenntniss  noch  eine  dritte, 
die  sinnliche,  angenommen  werde.168) 

Auf  Grund  dieser  Bestimmungen  unternimmt  nun  Locke  die  defini- 
tive Abschätzung  sowohl  des  Umfangs  als  der  Realität  der  menschlichen 
Erkenntniss.   Da  alle  Erkenntniss  in  der  Wahrnehmung  der  Ueberein-r 


4  67)  a.  a.  0.  §  4—6. 

4  68)  a.  a.  0.  §  4  4.  These  two,  intuüion  and  demonstration,  are  the  degrees  of  our 
knowledge;  whatever  comes  short  of  one  of  these,  with  what  assurance  soever  embraced, 
is  but  faith,  or  opinion,  but  not  knowledge,  at  least  in  all  general  truths.  There  is  indeed 
another  perception  of  the  mind,  employed  about  beyond  bare  probability  and  yet  not 
reaching  perfectly  to  either  of  the  foregoing  degrees  of  certainty. . . .  There  can  be  nothing 
more  certain,  than  that  the  idea  we  receive  from  an  external  object,  is  m  our  mind.  . . . 
But  whether  there  be  any  thing  more  than  barely  that  idea  in  our  minds;  ...  is  that, 
whereof  some  man  think  there  may  be  a  question  made.  ...  If  any  one  say  a  dream  may 
do  the  same  thing, and  all  those  ideas  may  be  produced  in  us  without  any  external  objects, 
he  may  please  to  dream  that  I  make  htm  the  answer,  4 )  that  is  no  great  matter,  whether 
I  remove  his  scruple  or  no;  where  all  is  bu,t  dream,  reasoning  and  argumenta  are  of  no 
use,  ...  2 )  that  I  believe  he  will  allow  a  very  manifest  differenee  between  dreaming  of 
being  in  the  fire  and  being  actually  in  it  . . .  So  that,  l  think,  we  may  add  to  the  two 
former  sorts  of  knowledge  this  also  of  the  existence  of  particular  external  objects  . . .  and 
allow  these  three  degrees  of  knowledge,  viz.  intuitive,  demonstrative  and  sensitive.  B.IY, 
eh.  XI  behandelt  diesen  Gegenstand  noch  einmal. 


65]  Locke's  Lehre  von  der  mensghl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  175 

Stimmung  oder  Nichtübereinstimmung  der  Vorstellungen  besteht,  so 
kann  es  zunächst  keine  Erkenntniss  geben ,  wo  die  Vorstellung  fehlt. 
Es  kann  auch  keine  geben,  wo  die  Verhältnisse  der  Vorstellungen 
nicht  innerlich  wahrgenommen  oder  gedacht  werden.109)  Es  folgt  daraus, 
dass  der  Umfang  der  Erkenntniss  nicht  nur  geringer  sein  wird ,  als  die 
Wirklichkeit  der  Dinge,  sondern  auch  beschränkter,  als  der  Umfang  un- 
serer Vorstellungen.  Denn  während  die  sinnliche  Erkenntniss  sich  nicht 
weiter  erstreckt  als  die  Wirklichkeit ,  die  gerade  jetzt  unsere  Sinne  be- 
rührt, bieten  sich  weder  mittelbar  noch  unmittelbar,  also  weder  für  die 
intuitive  noch  für  die  demonstrative  Erkenntniss,  alle  die  Beziehungen 
dar,  welche  zwischen  den  Vorstellungen  möglich  sind.170)  Gewiss,  sagt 
Locke,  ist  die  menschliche  Erkenntniss  einer  grossen  Erweiterung  fähig, 
wenn  die  Menschen  aufrichtig  und  mit  voller  Geistesfreiheit  auf  die  Ent- 
deckung der  Wahrheit  denselben  Fleiss  und  denselben  Eifer  wenden 
wollten,  den  sie  anwenden,  um  Irrthilmer,  Parlbeiinteressen,  einmal  an- 
genommene Systeme  zu  vertheidigen ;  aber  er  spricht  zugleich  die  Ueber- 
zeugung  aus,  dass  unsere  Erkenntniss  niemals  alles  das  umfassen  werde, 
was  wir  zu  wissen  wünschen,  und  dass  es  immer  unmöglich  bleiben 
werde,  gewisse  Fragen,  die  sich  auf  Vorstellungen  beziehen,  die  wir 
haben,  zu  beantworten.171) 

Werden  diese  allgemeinen  Sätze  auf  die  vier  Classen  der  Fälle  be- 
zogen ,  rücksicbtlich  deren  eine  Entscheidung  über  Uebereinstimmung 
und  Nichtübereinstimmung  der  Vorstellungen  gesucht  wird ,  Identität, 
Coe&istenz,  Relation  und  Wirklichkeit,  so  ergeben  sich  folgende  nähere 
Bestimmungen  zunächst  über  den  Umfang  der  Erkenntniss.  Was  zuerst 
Identität  und  Nichtidentität  der  Vorstellungen  anlangt,  so  ist  in  Beziehung  • 
auf  sie  der  Umfang  der  Erkenntniss  immer  so  gross,  als  der  Umfang 
unseres  Vorstellens ;  denn  es  ist  unmöglich,  eine  Vorstellung  zu  haben, 
ohne  unmittelbar  zu  wissen ,  dass  sie  sich  selbst  gleich  und  von  jeder 
andern  verschieden  ist.172)  Die  Erkenntniss  der  Coexistenz  dagegen  d.  h. 


169)  ff.  IV,  eh.  III,  §  4.  2. 

470)  a.  a.  Ü.  §  3  —  5.  §  6.  From  all  which  is  evident,  that  the  extent  of  out 
knowledge  comes  not  only  short  of  the  reality  of  things,  but  even  of  the  extent  of  our  own 
ideas. 

\1\)  a.  a.  0.  §  6.  Zu  diesen  Fragen  rechnet  er  auch  die,  ob  ein  materielles 
Wesen  denken  könne,  deren  Unbeanlworllichkeil  er  hier  erörtert. 

«72)  a.a.O.  §  8. 
Abhandl.  d.  K.  S.  Gm.  d.  Wim.  X.  <  2 


176  -  G.  Hartenstein,  [66 

der  Verknüpfung  der  Merkmale  in  den  Dingen ,  die  wir  als  Substanzen 
bezeichnen,  ist  äusserst  beschränkt.  Denn  dass  die  sinnliche  Erkennt- 
niss,  vermöge  deren  wir  überhaupt  die  Wirklichkeit  der  Dinge  anneh- 
men, sich  nicht  weiter  erstreckt  als  unsere  Erfahrung,  versteht  sich  von 
selbst.173)  Aber  auch,  was  wir  von  den  Dingen  zu  wissen  im  Stande 
sind,  ist  auf  die  Grenzen  der  Erfahrung  beschränkt.  Unsere  Vorstellun- 
gen von  den  Dingen  sind  zunächst  nichts  als  empirisch  gegebene  Com- 
plexionen  einfacher  Vorstellungen  und  wir  haben  kein  Mittel,  weder  über 
die  Ursachen  gerade  einer  solchen  Verknüpfung  von  Merkmalen,  noch 
über  die  Art,  wie  die  abgeleiteten  Qualitäten  durch  die  ursprünglichen 
bedingt  sind,  etwas  zu  entscheiden ;  insofern  aber  in  jeneComplexionen 
auch  die  Vorstellungen  activer  und  passiver  Kräfte,  welche  den  Dingen 
inwohnen  sollen,  mitbestimmend  eingehen,  sind  wir  ebenfalls  ganz  und 
gar  an  die  Erfahrung  gewiesen,  und  während  es  ein  demonstratives  von 
der  Erfahrung  unabhängiges  Wissen  darüber  gar  nicht  gibt ,  bezweifelt 
Locke,  dass  selbst  eine  erweiterte  Erfahrung  darüber,  welche  Kräfte  in 
einer  notwendigen  Verknüpfung  und  in  einem  notwendigen  Gegen- 
satze unl£r  sich  und  mit  der  empirisch  gegebenen  Beschaffenheit  der 
Dinge  stehen,  einen  wesentlichen  Aufschluss  zu  geben  im  Stande  sein 
werde.174) 

Rucksichtlich  der  Beziehungen  und  Verknüpfungen  der  Vorstellun- 
gen dagegen,  deren  Gültigkeit  und  Notwendigkeit  von  der  Vergleichung 
mit  der  Erfahrung  unabhängig  ist,  gibt  es  nicht  nur  ein  streng  demon- 
stratives  Wissen,  sondern  es  1ässt  sich  im  Voraus  gar  nicht  bestimmen, 
bis  zu  welchen  Grenzen  auf  diesem  Gebiete  die  menschliche  Ei  kenn t- 
niss  sich  werde  erweitern  können.  Locke  beruft  sich  in  dieser  Bezie- 
hung vor  Allem  auf  das  grosse  Beispiel  der  Mathematik;  aber  er  glaubt 
nicht,  dass  das  Gebiet  eines  mit  vollkommener  Sicherheit  fortschreiten- 
den strengen  Wissens  auf  Grössenbegriffe  beschränkt  sei;  er  hält  na- 
mentlich die  Moral  einer  gleich  strengen  Ausführung  für  zugänglich  und 
findet  den  Grund,  dass  die-BegrUndung  und  Erweiterung  eines  strengen 
Wissens  vorzugsweise  der  Mathematik  gelungen  ist,  hauptsächlich  darin, 
dass  die  mathematischen  Grundbegriffe  weniger  verwickelt  sind  als  die 


473)  a.  a.  0.  §  21.  Im  Gebiete  des  objeetiv  Seienden  nimmt  Locke  davon  nur 
das  Dasein  Gottes  aus,  für  dessen  Existenz  er  einen  demonstrativen  beweis  für  möglich 
hält.   Vgl.  B.  IV,  eh.  X. 

Mi)  a.  a.  0.  §  10.  12.  13.  16. 


67]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntnis  u.  s.  w.  477 

moralischen,  dass  der  Mathematik  ein  vollkommen  genau  bestimmtes 
und  unzweideutiges  Zeichensystem  zu  Gebote  sieht  und  dass  sie  der 
Unterstützung  durch  die  sinnliche  Anschauung  zugänglich  ist.179) 

Trotzdem  ist  unsere  Unwissenheit  jedenfalls  unvergleichbar  viel 
grösser  als  unser  Wissen,  und  Locke  hebt  diese  dunkle  Seile  des  mensch* 
liehen  Denkens  geflissentlich  hervor,  um  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
um  wie  viel  notwendiger  es  sei,  sich  der  Lösung  von  Aufgaben  zuzu- 
wenden, die  innerhalb  der  Grenzen  unserer  Befähigung  liegen,  als  sich 
in  dunkle  Abgründe  zu  verlieren,  wo  unsere  Augen  uns  gänzlich  unnütz 
sind.176)  Die  Ursachen  unserer  Unwissenheit  liegen  vor  Allem  darin, 
dass  uns  Vorstellungen  geradezu  fehlen;  in  diesem  Sinne  sind  die 
Schranken  unserer  Organisation,  die  uns  nur  ein  beschränktes  Erfah- 
rungsgebiet zugänglich  macht,  und  die  dadurch  bedingten  Schranken 
der  Erfahrung  auch  die  Grenzen  der  möglichen  Erkenn tniss.177)  Die 
zweite  Ursache  ist  die  Unmöglichkeit  die  vermittelnden  Glieder  zwischen 
unseren  Vorstellungen  und  den  durch  sie  bezeichneten  Thatsachen  auf- 
zufinden; als  eines  der  zunächst  liegenden  Beispiele  führt.  Locke  die 
Unmöglichkeit  an ,  den  Zusammenhang  zwischen  den  äusseren  Verän- 
derungen der  Körper  und  unseren  eigenen  Vorstellungen  nachzuwei- 
sen.178) Eine  dritte  Ursache  besteht  darin,  dass  wir  dem  Inhalte  der 
Vorstellungen,  die  wir  haben  und  haben  können,  keine  strenge  Folge 
leisten ;  sie  besteht  in  der  Ungelenkigkeit ,  Schwerfälligkeit  und  Nach- 
lässigkeit des  Denkens  und  kann  zum  grössten  Theile  vermieden  wer- 
den.17*) 


476)  a.  a.  0.  §  18—10. 

476)  a.  a.  0.  §  SU. 

477)  a.  a.  0.  §  23 — £6.  Distinct  ideas  of  the  several  sorts  of  bodies,  that  fall 
under  the  examination  of  our  senses,  perhaps  we  may  have,  but  adequate  ideas,  I 
suspect,  we  have  not  of  any  one  amongst  thern.  And  tho  the  former  of  these  will  serve  us 
for  common  use  and  diseourse,  yet,  whilst  we  want  the  latter  we  are  not  capable  of 
scientifical  knowledge;  nor  shall  ever  he  able  to  discover  generale  imtruetive,  unquestion- 
able  truths  concerning  them.  Certamty  and  demonstration  üre  things  we  must  not,  in  these 
matter s,  pr elend  on. 

478)  a.  a.  0.  §  28.  How  any  thought  should  produce  a  moHon  in  body,  is  as 
remote  from  the  natwre  of  our  ideas,  as  how  any  body  should  produce  any  thought  in  the 
mind.  That  ü  is  so,  if  not  experience  did  convince  us,  the  consideration  of  the  things 
themselves  toould  never  be  able,  in  the  least,  to  discover  to  us. 

'      479)  a.  a.  0.  §  30. 

48* 


178  G.  Hartenstein,  [68 

Fragt  man  nun :  worin  besteht  für  Locke  in  letzter  Instanz  das,  was 
dem  Denken  den  Charakter  der  Erkenntniss,  des  Wissens  gibt,  so  liegt 
die  Antwort  einfach  in  dem  Satze :  es  ist  die  Anwendung  der  Formen 
und  die  Befolgung  der  Gesetze  des  Denkens,  vermöge  deren  es  sich  in 
der  Entscheidung  über  die  Verhältnisse  der  Begriffe  abschliessend  von 
dem  Inhalte  dieser  Begriffe  selbst  leiten  lässt.  Die  Wahrheit  des  Den- 
kens ist  gebunden  an  die  Natur  der  Begriffe  d.  h.  an  das ,  was  in  ihnen 
gedacht  wird,  an  ihren  Inhalt,  und  die  in  diesem  Inhalte  des  Gedachten 
liegenden  Bestimmungen  und  Folgerungen  sind  ewige  Wahrheiten, 
nicht  weil  sie  vor  dem  Denken  und  unabhängig  von  demselben  exisli- 
ren,  sondern,  weil  sie  für  jede  Intelligenz,  die  sich  nach  dem  Inhalte  des 
Gedachten  zu  richten  fähig  ist,  ohne  Rücksicht  auf  Zeit  Verhältnisse  gül- 
lig sind.180)  Locke  hält  hiermit  die  Definition  der  Wahrheit  fest,  von  wel- 
cher er  ursprünglich  ausgegangen  war,  dass  nämlich  ihr  wesentliches 
Merkmal  in  der  Uebereinstimmung  der  Gedanken  nicht  mit  den  Dingen, 
sondern  unter  sich  selbst  liege.  Aber  er  verbirgt  sich  zugleich  nicht, 
dass  diese  Bestimmung  ungenügend  erscheinen  werde ,  weil  eine  Er- 
kenntniss ,  die  nur  in  der  Uebereinstimmung  der  Gedanken  unter  sich 
selbst  bestehe,  über  das  Verhältniss  derselben  zu  den  Dingen  nichts 
entscheide  und  blossen  Phantasieen  und  Hirngespinsten  denselben  Werth 


180)  a.  a.  0.  §  3  \ .  In  respect  of  universality, . . .  our  knowledge  follows  the  nature 
of  our  ideas.  If  the  ideas  are  abstretet,  tu  hose  agreement  or  disagreement  we  pereeive, 
our  knowledge  is  universal.  For  what  is  knoum  of  such  general  ideas,  will  be  true  of 
every  particular  thing,  in  which  that  essence  i.  e.  tkat  abstract  idea  is  to  be  found, 
and  what  is  once  known  of  such  ideas,  will  be  perpetually  and  for  ever  true.  B.  IV, 
eh.  XI,  §  \  4 .  Knowledge  is  the  consequence  of  the  ideas  (be  they  what  they  will} ,  that 
are  in  our  minds  producing  their  general  certain  propositions.  Many  of  these  are  called 
aeternae  Verität  es  and  all  of  them  are  indeed  so,  not  from  being  written  all  or  any 
of  them  in  the  minds  of  all  men,  or  that  they  were  any  of  them  propositions  in  any  onefs 
mind,  tili  he  having  got  the  abstract  ideas  . . .  But  wheresoever  we  can  suppose  such  a 
creature  as  man  is,  endowed  which  such  faculties  and  thereby  furnished  which  such  ideas 
as  we  have,  we  must  conclude  he  must  needs ,  when  he  applies  his  thoughts  to  the  con- 
sideration  of  his  ideas,  know  the  truth  of  certain  propositions,  that  will  arise  from  the 
agreement  or  disagreement  which  he  will  pereeive  in  his  own  ideas.  Such  propositions 
are  therefore  called  et  er  na  l  truths,  not  because  they  are  eternal  propositions  actually 
formed  and  antecedent  to  the  understanding ,  that  at  any  times  make  them;  nor  because 
the  are  imprinted  on  the  mind  from  any  pattern  that  are  any  where  of  them  out  of  the 
mind  and  existe  before;  but  because  being  once  made  about  abstract  ideas,  so  as  to  be 
true,  they  will  . . .  by  a  mind  having  those  ideas  allways  actually  be  true. ' 


69]  Locke's  Lehre  von  der  mbnschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  179 

zuzugestehen  nöthige,  wie  den  Untersuchungen  des  nüchternsten  Men- 
schen. Diese  geforderte  Uebereinstimmung  der  Gedankenverknüpfung 
mit  den  gedachten  Gegenständen  nennt  Locke  die  Realität  der  Er* 
kenntniss,  und  um  zu  /eigen,  in  wiefern  sie  sich,  trotz  der  Beschränkung 
alles  Erkennens  auf  das  Denken,  von  blossen  Einbildungen  unterschei- 
det, macht  er  folgende  Gesichtspunkte  geltend.181) 

Wenn  wir  von  Erkenntniss  der  Dinge  sprechen ,  so  gilt  es  sich  zu 
besinnen,  dass  wir  von  den  Dingen  durchaus  nicht  unmittelbar,  sondern 
lediglich  vermittelst  unserer  Vorstellungen  wissen,  und  man  spricht  von 
Realität  der  Erkenntniss,  .sofern  angenommen  werden  kann ,  dass  die 
Vorstellungen  den  Dingen  entsprechen.  Worin  besteht  nun  das  Kriterium 
der  Uebereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung  der  Vorstellungen 
mit  den  Dingen?  Wie  kann  das  auf  sich  selbst  beschränkte  Denken  wis- 
sen, ob  es  den  Dingen  entspricht?  Um  diese  Frage  zu  beantworten,  ist 
es  nöthig  die  verschiedenen  Classen  der  Vorstellungen  zu  unterschei- 
den.181) 

Was  zuerst  die  einfachen  Vorstellungen  anlangt,  so  müssen  sie 
gerade  desshalb,  weil  das  Denken  sie  nicht  aus  sich  selbst  erzeugen 
kann ,  bedingt  sein  durch  die  Einwirkung  der  Dinge  auf  den  Geist.  Sie 
sind  also  keine  Einbildungen,  sondern  natürliche  und  regelmässige  Wir- 
kungen der  ausser  uns  vorhandenen  Dinge ;  sie  zeigen  uns  die  Dinge 
zwar  nicht,  wie  sie  sind,  aber  sie  zeigen  sie  uns  als  solche  Erscheinun- 
gen ,  welche  die  Dinge  in  uns  hervorzurufen  geeignet  sind.  In  sofern 
stimmen  unsere  einfachen  Vorstellungen  mit  der  Existenz  der  Dinge 
überein,  in  einer  Weise ,  die  ausreichend  ist  um  uns  in  der  uns  umge- 
benden Welt  zurechtzufinden.183)  Und  darauf  beruht  auch  die  Realität 

181)  B.  IV,  eh.  IV,  §  1 .  2.  If  our  knowledge  of  our  ideas  terminate  in  them  and 
reach  no  further 9  where  there  is  something  further  mtended,  our  most  serious  thoughts 
will  be  of  lütle  more  use,  than  the  reveries  of  a  crazy  brain  ....  But  I  hope,  to  make  it 
evident,  that  this  way  of  eertainiy ,  by  the  knowledge  of  our  own  ideas,  goes  a  lütle 
further  than  bare  imaginationt  and  1  believe  it  will  appear,  that  aü  the  eertainiy  of  gene- 
rai  truths  a  man  has,  lies  in  nothing  eise. 

«82)  a.  a.  0.  §  3. 

183)  a.  a.  0.  §4.  The  simple  ideas  represent  to  us  things  under  those  appearances 
which  the  are  fitted  to  produce  in  us;  whereby  we  are  enabled  to  distinguish  the  sorts  of 
particular  substances,  to  discern  the  states  they  are  in  and  to  take  them  for  our  necessities 
and  apply  them  to  our  uses.  . . .  Thus  the  idea  of  whiteness  . . .  has  all  the  real  conformity 
it  ean  orought  to  have  with  things  without  us.  And  this  conformity  between  our  simple 
ideas  and  the  existence  of  things  is  sufficient  for  real  knowledge. 


480  G.  Hartbnstkin,  [70 

unserer  Erkenntniss  von  den  Substanzen,  obgleich  sie  an  die  empirische 
Wahrnehmung  einer  gewissen  Verbindung  von  Merkmalen  der  Dinge 
gebunden  und  auf  sie  beschrankt  ist.184) 

Alle  übrigen  Complexionen  von  Vorstellungen  sind  dagegen  gar 
nicht  darauf  angelegt,  Copieen  oder  Abbilder  von  irgend  etwas  ausser 
ihnen  zu  sein ,  sie  beziehen  sich  nicht  auf  existirende  Dinge ,  als  ihre 
Originale,  sondern  sie  bezeichnen  nichts  als  sich  selbst.  Dass  also  diese 
Begriffe  Realität  haben  d.  h.  dass  der  Begriff  mit  dem,  was  er  bezeich- 
net, übereinstimmt,  ist  ganz  unzweifelhaft.  Und  diese  Uebereinstimraung 
erstreckt  sich  über  die  blossen  Gedanken  hinaus  zu  den  Dingen  selbst; 
denn  in  allem  Denken  und  Schliessen,  welches  sich  innerhalb  dieser 
Begriffe  bewegt,  betrachten  wir  die  Dinge,  insofern  (nicht  sowohl  unsere 
Vorstellungen  mit  ihnen,  als  vielmehr)  sie,  die  Dinge,  mit  unseren 
Vorstellungen  und  Gedanken  übereinstimmen.185)  Das  aus- 
gebreiteteste  Beispiel  dieser  Art  von  Erkenntniss  bietet,  wie  schon  be- 
merkt, die  Mathematik  dar,  die  jedermann  nicht  nur  für  eine  gewisse, 
sondern  auch  für  eine  reelle  Erkenntniss  hält  und  welche  gleichwohl 
sich  nur  mit  Vorstellungen  und  Begriffen  beschäftigt,  ohne  dass  die 
Wahrheit  und  Wirklichkeit  dieser  Erkenntniss  von  der  Existenz  der 
Gegenstände  abhängt,  an  denen  die  mathematischen  Bestimmungen  vor- 
kommen mögen.  Dass  die  drei  Winkel  eines  Dreiecks  zwei  rechten  gleich 
sind,  ist  eine  reelle  Erkenntniss,  gleichviel  ob  ein  dreieckigtes  Ding 
existirt  oder  nicht.  Und  eben  desshalb,  weil  der  Geometer  die  Dinge 
insofern  betrachtet,  in  wiefern  sich  geometrische  Bestimmungen  an  ih- 
nen finden,  kann  er  daraufrechnen,  dass,  was  von  den  geometrischen 


484)  a.  a.  0.  §  \l.  Herein  tkerefore  is  founded  the  reality  of  our  knowledge  con- 
cerning  substances,  that  all  our  comp  lex  ideas  of  them  must  be  such  and  such  only,  as  are 
made  up  of  such  simple  ones,  as  hos  been  discovered  to  coexist  in  tiature.  And  our  ideas 
being  thus  true,  tho*  not  perhaps  very  exact  copies,  are  yet  the  subjects  of  real  {as  far  as 
we  have  any)  knowledge  of  them. 

185)  a.  a.  0.  §  5.  All  our  complex  ideas  except  those  of  substances ,  being  arche- 
types  of  the  minds  own  making,  not  intended  to  be  the  copies  of  any  thing,  not  referred 
to  the  existence  of  things  as  to  their  original,  cannot  want  any  conformity  necessary  to 
real  knowledge.  . . .  So  that  we  cannot  but  be  infallibly  certain  that  all  (he  knowledge 
we  attain  concerning  these  ideas  is  real  and  reaches  the  things  themselves.  Because  in  all 
our  thoughts,  reasoning  and  discourses,  we  intend  things  no  far t her,  than  as  they 
are  conformable  to  our  ideas.  So  that  in  these  we  carvnot  miss  of  a  certain  and 
undoubted  reality. 


71]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  481 

Constructionen,  insofern  auch  von  den  Dingen  gelten  wird.186}  Eben  so 
verhält  es  sich  mit  den  moralischen  Begriffen;  auch  sie  bedeuten  nichts 
Anderes  als  sich  selbst;  sie  richten  sich  nicht  nach  dem,  was  ist  und 
geschieht,  sondern  dieses  wird  nach  ihnen  bestimmt,  und  wenn  der  Ge- 
danke richtig  ifijt,  dass  der  Mord  den  Tod  verdient,  so  wird  dieser  Satz 
von  jeder  wirklichen  Handlung,. die  dem  Begriffe  des  Mordes  entspricht, 
ebenfalls  gültig  sein.187) 

So  ist  Wahrheit  immer  ein  Prädicat  von  Sätzen ,  und  ein  Satz  ist 
wahr,  wenn  er  eine  den  Verhältnissen  der  Dinge  d.  h.  des  Gedachten 
entsprechende  Verknüpfung  oder  Trennung  der  Zeichen  enthält.188)  Aber 
gerade  darum,  weil  bei  der  Unentbehrlichkeit  der  Sprache  zur  Bezeich- 
nung der  Gedanken  die  Menschen  oft  in  Begriffen  zu  denken  glauben» 
während  sie  nur  Worte  mit  einander  verknüpfen,  ist  es  nothwendig,  die 
gedachte,  begriffsmässige  Wahrheit  von  der  blos  in  den  Worten  liegen- 
den zu  unterscheiden.180)  Die  ausführliche  Erörterung,  welche  Locke 
diesem  Unterschiede  widmet,  hat  die  Absicht  zu  zeigen,  dass  das  auf 
eine  fortschreitende  Erkenntniss  gerichtete  Denken  in  gewissem  Sinne 
unabhängig  sei  und  sich  unabhängig  halten  müsse  von  der  Sprache; 
dem  wissenschaftlichen  Denken  ist  sein  Weg  nicht  nothwendig  durch 
die  in  der  Sprache  vorhandenen  Vorstellungscomplexe  vorgezeichnet, 
sondern  durch  den  Inhalt  des  Gedachten  selbst.  Desshalb  ist  die  in  dem 
sprachlichen  Ausdruck  liegende  Wahrheit  theils  mehr  als  die  gedachte; 
denn  sie  enthält  ausser  dem  Verhältniss  der  Begriffe  auch  noch  die  Be- 
ziehungen der  Worte  aufeinander;  theils  weniger,  denn  sie  kannr  ob- 
gleich wahr,  doch  leer  an  Erkenntniss  sein.190)  Zu  solchen,  den  Worten 


486)  a.  a.  0.  §  6.  7.  Vgl.  eh.  XII,  §  7. 

«87)  a.  a.  0.  §  7—9.  Vgl.  B.  III,  eh.  XI,  §16. 

4  88)  B.  IV,  eh.  V,  §  8.  Truth  seems  to  me,  in  the  proper  import  of  the  word,  to 
signify  nothing  but  the  joining  and  separating  of  signs,  as  the  things  signißed  by  them  do 
agree  or  düagree  one  with  other.  So  that  truth  properly  belongs  only  to  propositions. 

1 89)  a.  a.  0.  §  3.  To  form  a  clear  notion  of  truth,  it  is  very  necessary  to  consider 
truth  of  thought  and  truth  of  words,  distinctly  one  of  another;  but  yet  it  is  very  difficult 
to  treat  of  them  asunder,  because  it  is  unavoidabie,  in  treatmg  of  mental  propositions,  to 
make  use  of  words;  and  then  instantes  given  of  the  mental  propositions  cease  immediately 
to  be  barely  mental  and  become  verbal.  For  a  mental  proposition  being  nothing  but  a 
bare  consideration  of  the  ideas,  as  they  are  in  our  mmds  slripped  of  names,  they  lose  the 
nature  of  pure  mental  propositions,  as  soon  as  they  are  put  into  toords.  Zur  Erläute- 
rung §  4. 

4  90)  a.  a.  0.  §  6.   When  ideas  are  so  put  together  or  separated  in  the  mind,  as 


182  6.  Hartenstein,  [72 

nach  wahren,  aber  für  die  Erkenntoiss  unfruchtbaren  Sätzen  rechnet  er 
erstlich  alle  identischen  Sätze.  Den  Wahn,  als  ob  durch  identische  Sätze 
etwas  erkannt  werde,  vergleicht  er  mit  der  Erwartung  eines  Affen,  der 
dadurch  satt  zu  werden  hofft,  dass  er  eine  Auster  aus  einer  Pfote  in  die 
andere  wirft.191)  Sodann  sind  aber  auch  alle  die  Sätze  unfruchtbar  für 
die  Erkenntniss,  in  denen  ein  oder  mehrere  Merkmale  eines  Begriffs  von 
diesem  selbst  ausgesagt  werden;  wie  namentlich  in  allen  den  Fällen 
geschieht,  wo  der  Gattungsbegriff  von  einer  Art  prädicirt  wird;  ein  Ver- 
fahren, welches  nützlich  sein  mag,  um  einem  Andern  auseinanderzusetzen, 
was  man  bei  einem  bestimmten  Begriffe  denkt ,  welches  aber  die  Er- 
kenntniss selbst  nicht  im  geringsten  vermehrt.192)  Ueberhaupt  alles  Den- 
ken ,  welches  entweder  ein  Abstractum  an  die  Stelle  des  andern  setzt, 
nnd  somit  über  den  Inhalt  des  Begriffs,  mit  welchem  man  zu  thun  hat, 
nicht  hinausführt ,  bewegt  sich  lediglich  in  Worten  und  ist  leer  an  Er- 
kenntniss, ein  Satz,  durch  welchen  Locke,  obgleich  er  den  Unterschied 
analytischer  und  synthetischer  Urtheile  nirgends  ausdrücklich  gelten 
macht,  doch  so  hart  an  der  Grenze  der  Einsicht,  dass  jede  wirkliche 
Erweiterung  der  Erkenntniss  auf  synthetischen  Urtheilen  beruht,  streift, 
dass  eben  nur  die  Bezeichnung  solcher  Urtheile  als  synthetischer  fehlt.19*) 
Enthalten  alle  Sätze,  welche  den  Gattungsbegriff  von  der  Art  prä- 
diciren,  nicht  eine  Erweiterung  und  Vermehrung,  sondern  lediglich  eine 
Auseinandersetzung  oder  Wiederholung  dessen,  was  wir  schon  wissen, 
so  ist  es  sehr  natürlich,  dass  Locke  die  Frage  aufwirft,  in  wie  fern  es 
möglich  sei ,  allgemeine  Sätze  mit  dem  Anspruch  auf  Erkenntniss  auf- 


they  or  the  things  they  stand  for,  do  agree  or  not,  that  is,  as  I  may  call  ü,  mental 
truth.  But  truth  of  words  is  something  more,  and  that  is  the  affirming  or  denying  of 
words  one  of  another ,  as  the  ideas  they  stand  for  agree  or  disagree.    And  this  agam  is 
twofold,  either  purely  verbal  and  trifling,  . .  or  real  and  instructive.  Vgl.  §  8. 
491)  B.  IV,  eh.  VIII,  §  3. 

192)  a.  a.O.  §4.  Another  sort  of  triflmg  propositions  is,  when  a  part  of  the  com- 
plex  idea  is  predicated  of  the  name  of  the  whole.  . .  Such  are  all  proposüions  toherein 
the  genta  is  predicated  of  the  species.  §9.0/'  this  sort  a  man  may  find  an  infinite  number 
of  propositions,  reasonmgs  and  conclusions  in  books  of  metaphysicks,  school-divinity  and 
some  sort  of  natural  phüosophy;  and  afler  all,  know  as  litüe  of  God,  spirits  or  bodies, 
as  he  did  before  he  sei  out. 

193)  a.  a.  0.  §  43.  This,  I  think,  I  may  lay  down  for  an  infallible  rule,  that, 
whatever  the  distinet  idea  any  toord  Stands  for,  is  not  knoum  and  considered,  and  some- 
thing, not  contained  in  the  idea,  is  not  affirmed  or  denied  of  ü,  there  our  thoughts 
stick  wholly  in  sounds  and  are  able  to  attain  no  real  truth  or  falshood. 


73]  Locke's  Lehre  von  der  mbnsghl.  Erkenntnis  u.  8.  w.  183 

zustellen.  Allgemeine  Sätze  sind  ihm,  wie  allgemeine  Begriffe,  eine  Ab- 
breviatur des  Denkens;  indem  sie  eine  Masse  von  Einzelnheilen  umfas- 
sen,  erweitern  sie  den  Gesichtskreis,  verkürzen  den  Weg  der  Forschung, 
und  sind  diejenige  Form,  in  welcher  sich  das  Denken  vorzugsweise  be- 
wegt.194) Die  Wahrheit  eines  allgemeinen  Satzes  hängt  aber  immer  von 
der  Kenntniss  der  Grenzen  und  des  Wesens  dessen  ab,  was  in  den  Um- 
fang  der  in  ihm  vorkommenden  allgemeinen  Begriffe  fällt.  Solche  genaue 
Grenzbestimmungen  sind  nun  allerdings  möglich  bei  den  einfachen  Vor- 
stellungen und  den  modus;  denn  bei  ihnen  fällt  das  nominelle  und  reelle 
Wesen  zusammen,  d.  h.  der  Begriff  ist  bei  ihnen  die  Sache  selbst.  Aber 
ganz  anders  verhält  es  sich  bei  allgemeinen  Sätzen  über  die  Dinge,  die- 
sen  Complexionen  von  Merkmalen,  denen  wir  ein  unbekanntes  Substra- 
lum,  die  Substanz,  unterlegen.  So  lange  wir  nicht  wissen.  —  und  wir 
wissen  es  in  der  That  nicht,  —  wie  ursprünglich  die  sinnlichen  Merk- 
male der  Dinge  bedingt  sind ,  welches  notwendige  Band  sie  unter  ein- 
ander  verknüpft,  ja,  wie  überhaupt  die  Körper  in  uns  Empfindungen 
und  Vorstellungen  erwecken,  können  wir  von  ihnen  keinen  Satz  mit  dem 
Anspruch  auf  strenge  Allgemeinheit  aussprechen,  zumal  überdies  der 
grösste  Theil  dessen ,  was  wir  den  Dingen  als  beharrliche  oder  wech- 
selnde Eigenschaft  beilegen ,  auf  äusseren  zum  Theil  sehr  entlegenen 
und  unbekannten  Bedingungen  beruhen  mag.198)  Möglich,  dass  der  Fleiss 


194)  B.  IV,  ch.V,  §10. 

195)  B.  IV,  eh.  VI,  §  4.  Because  we  cannot  be  certain  of  the  truth  of  any  general 
proposition,  unless  we  know  the  precise  bounds  and  extent  of  the  species  the  terms  stand 
for,  it  is  neeessary  we  should  know  the  essence  of  eaeh  species ,  which  is  that  which  con- 
stitutes  and  bounds  it.  This,  in  all  simple  ideas  or  modes,  is  not  hard  to  do.  For  in  these 
the  real  and  nominal  essence  being  the  satne,  or,  which  is  all  one,  the  abstract  idea  which 
the  general  term  Stands  for,  being  the  sole  essence  and  boundary  that  is  or  can  be  suppo- 
sed  of  the  species,  there  can  be  no  doubt ,  how  far  the  species  extends  or  what  things  are 
comprehended  under  each  term.  . . .  But  m  substances,  wherein  a  real  essence,  distinet 
from  the  nomiml,  is  supposed  to  constitute,  determine  and  bound  the  species,  the  extent 
of  the  general  word  is  very  unceriain;  because,  not  knowing  this  real  essence,  whe  cannot 
know  what  is  or  is  not  of  that  species.  §13.  All  general  knowledge  lies  only  in  our  own 
thoughis  and  consists  barely  in  the  contemplaHon  of  our  own  abstract  ideas.  Wherever 
we  pereeive  any  agreement  or  disagreement  anongst  them,  there  we  have  general  know- 
ledge and  by  pulting  the  names  of  those  ideas  together  accordmgly  in  proposiUons  can 
with  certainty  pronounce  general  truths..  But  because  the  abstract  ideas  of  substances,  for 
which  their  speeifick  names  stand, . . .  have  a  discoverable  connexion  or  inconsistency  with 
but  a  very  few  other  ideas,  the  certainty  of  universal  proposiUons  concerning  substances 


184  G.  Hartenstein,  [74 

und  die  Geschicklichkeit  der  Beobachtung  durch  scharfsinnige  Verknüp- 
fung  der  Phänomene  auf  Vermuthungen  Führt,  welche  die  jetzige  Erfah- 
rung Überschreiten;  es  werden  das  aber  immer  nur  Vermuthungen  blei- 
ben, denen  die  strenge  Gewissheit  und  Allgemeinheit  fehlt.  Diese  bleibt 
beschränkt  auf  das  Gebiet  der  Begriffe,  die  ohne  den  Anspruch  das  Wesen 
der  Dinge  zu  bezeichnen  nichts  bedeuten  als  sich  selbst,  also,  nach 
Locke's  früheren  Bestimmungen,  die  mathematischen  und  ethischen.196) 

Trotz  des  Gewichtes,  welches  Locke  auf  die  Allgemeinheit  der 
Erkenntniss  innerhalb  der  Grenzen  legt,  in  denen  sie  ihm  als  erreichbar 
erscheint,  aber  auch  zugleich  im  Zusammenhange  mit  dem  Satze,  dass 
rücksichtlich  der  Erkenntniss  der  Wirklichkeil  die  Wahrheit  des  Allge- 
meinen auf  der  Wahrheit  des  durch  dasselbe  gedachten  Besonderen  be- 
ruht, ist  er,  theilweis  nicht  ohne  eine  gewisse  Ironie  über  die  Pedanterie 
der  Schulphilosophie  bemüht,  die  Unfruchtbarkeit  oder  wenigstens  die 
Entbehrlichkeit  der  allgemeinen  Formen  und  Formeln  nachzuweisen, 
deren  bewusst volle  Anwendung  die  wissenschaftliche  Methodologie  als 
ein  unentbehrliches  Hülfsmittel  des  Denkens  geltend  macht.  Es  gehören 
hierher  die  beiden  Gapitel  über  die  Axiome  und  über  den  Syllogismus, 
als  die  angeblich  notwendigen  Regulatoren  und  unentbehrlichen  For- 
men des  fortschreitenden  Denkens. 

Rücksichtlich  der  Axiome,  die  er  gewöhnlich  Maximen  nennt,  d.  h. 
der  unmittelbar  gewissen  und  allgemeinen  Sätze,  welche  für  bestimmte 
Gebiete  der  Erkenntniss  die  unentbehrliche  Grundlage  darbieten  sollen, 
fragt  er  zuvörderst,  innerhalb  welcher  Gebiete  sich  dergleichen  Sätze 
überhaupt  nachweisen  lassen.  In  Beziehung  auf  die  Existenz,  die 
Wirklichkeit  der  äusseren  Dinge  gibt  es  gar  keine,  rücksichtlich  der 
Verknüpfung  der  Merkmale  in  den  Dingen  gibt  es  deren  nur  überaus 
wenige;  alle  oder  wenigstens  die  meisten  solcher  unmittelbar  gewisser 
Sätze  beziehen  sich  auf  Einerleiheit  oder  Verschiedenheit  oder  auf  die 
Beziehungen  der  Begriffe.1*7)  In  beiderlei  Rücksicht  sind  aber  eigent- 
lich alle  Sätze  gleich  evident  und  unmittelbar  gewiss,  welche  eine  un- 


is  very  narrow  and  scanty  in  that  pari,  which  is  our  prirtcipal  enquiry  concernmg  them. 
Vgl.  die  §  8 — \l  analysirten  Beispiele. 

196)  a.  a.  0.  §  «3. 

497)  B.  IV,  eh.  VII,  §  5 — 7.  Rücksichtlich  der  Verknüpfung  der  Merkmale  in  den 
Dingen  ist  Locke  geneigt  den  Satz,  dass  zwei  Körper  nicht  in  demselben  Räume  zu* 
gleich  sein  können,  für  einen  unmittelbar  gewissen  Satz  zu  halten. 


T5]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  185 

mittelbare  Entscheidung  über  das  Verhältniss  oder  die  Beziehung  meh- 
rerer Begriffe  enthalten.  Jeder  Begriff  ist,  was  er  ist,  und  für  Jeden,  der 
einen  bestimmten  Begriff  denkt,  ist  es  unmittelbar  gewiss,  dass  die- 
ser Begriff  dieser  und  nicht  ein  anderer  ist.  Die  Satze:  ein  Mensch  ist 
kein  Pferd,  oder:  wenn  ich  von  den  fünf  Fingern  jeder  Hand  zwei  weg- 
nehme, so  bleiben  an  jeder  Hand  drei,  sind  eben  so  evident,  als  der 
Satz:  es  ist  unmöglich,  dass  etvvafe  zugleich  sei  und  nicht  sei,  oder  der: 
Gleiches  zu  Gleichem  und  Gleiches  von  Gleichem  gibt  Gleiches.108)  Wenn 
nun  die  Schulphilosophie  gewisse  allgemeine  Sätze,  die  sie  wegen  ihrer 
unmittelbaren  Evidenz  Axiome  oder  Maximen  nennt,  Für  die  entweder 
der  Zeit  oder  der  Sache  nach  ersten  Erkenntnisse  und  somit  für  die 
Grundlage  des  fortschreitenden  Denkens  erklärt,  so  ist  das  ein  Irrthum. 
Einzelnvorstellungen  sind  früher,  als  allgemeine;  das  Kind  weiss  viel 
früher,  dass  die  Ruthe  kein  Zucker  ist,  als  es  an  den  Satz  des  Wider- 
spruchs denkt,  und  eben  so  wenig  ist  der  Satz :  das  Ganze'  ist  gleich  der 
Gesam  rotheit  seiner  Theile,  der  Grund  der  Erkenntniss,  dass  1+2  =  3 
ist;  vielmehr  nimmt  ein  Denken,  welches  sich  des  Inhaltes  des  Gedach- 
ten bewusst  ist,  in  unzähligen  Fällen  das  Verhältniss  dieses  Inhaltes  un- 
mittelbar wahr,  ohne  erst  den  Umweg  durch  die  aus  allgemeinen  Be- 
griffen gebildeten  Sätze  zu  nehmen,  welche  man  Axiome  nennt.190)  So 
wie  aber  diese  Axiome  keinen  Beweis  für  spezielle  an  sich  evidente 


198)  a.  a.  0.  §  4.  Every  one  finds  in  himself,  that  he  knows  the  ideas  he  has;  that 
he  knows  also,  when  any  one  is  in  his  understanding  and  tohat  it  is;  and  that,  tvhen  more 
than  one,  are  there,  he  knows  them  distinctly  and  unconfusedly  one  from  another.  Which 
ahoays  being  so  {it  being  impossible  but  that  he  should  perceive  what  he  perceives),  he 
can  never  be  in  doubt,  when  any  idea  is  in  his  mind,  that  it  is  there  and  is  that  idea  it 
is,  and  that  two  distinct  ideas,  when  they  are  in  his  mind,  are  there  and  are  not  one  and 
the  satne  idea.  Die  Beispiele  §  6. 

199)  a.  a.  0.  §  9.  1 0.  These  magnified  maxims  are  not  the  principles  and  founda- 
tions  of  all  our  other  knowledge.  For  if  there  be  a  great  tnany  other  truths  which  have 
as  much  selfevidence  as  they  and  a  great  many  that  we  fcnow  before  them,  it  is  impossible 
they  should  be  the  principles  from  which  we  deduce  all  othw  truths. . . .  What  idea  soever 
is  affirmed  of  itself  or  whatsoever  two  entire  distinct  ideas  are  denied  one  of  another, 
the  mind  eannot  but  assent  to  such  a  proposition,  . . .  as  soon  as  it  widerstand  the  terms, 
. . .  without  . . .  regarding  those  made  in  more  general  terms  and  called  maxims.  §H: 
1 .  2.  Vgl.  IV,  cb.  XII,  §  3.  These  general  rules  are  but  the  comparing  our  more  general 
and  abstract  ideas,  which  are  the  workmanship  of  the  mind,  made  . .  for  the  easier  dis- 
patch  in  its  reasonitigs  and  drawing  into  comprehensive  terms  and  short  rules  its  various 
and  multiplied  observations. 


486  6.  Hartenstein,  [76 

Sätze  und  daher  auch  niemals  die  Begründung  einer  Erkenntnis  ent- 
halten, so  sind  sie  auch  untauglich  zur  Erweiterung  der  Erkenntniss  und 
zur  Entdeckung  vorher  unbekannter  Wahrheiten.  Die  grossen  Entdeckun- 
gen eines  Newton  sind  nicht  bedingt  durch  die  Anwendung  des  Satzes 
der  Identität  und  der  arithmetischen  und  geometrischen  Axiome ,  son- 
dern durch  die  Auffindung  der  die  Wahrheit  der  von  ihm  entdeckten 
Sätze  vermittelnden  Begriffe.  Der  Nutzen ,  den  dergleichen  allgemeine 
Sätze  haben,  besteht  lediglich  darin,  dass  sie  ein  Mittel  theils  der  ge- 
ordneten Mittheilung  schon  gewonnener  Erkenntniss,  theils  der  Wider- 
legung im  Verkehr  mit  hartnäckigen  Streitköpfen  sind.  Sind  vollends  die 
Begriffe  Falsch  und  unklar,  kleben  die  Gedanken  an  den  Worten»  statt 
bestimmte  Vorstellungen  zu  bezeichnen,  so  werden  dergleichen  mit 
aromatischer  Gewissheit  ausgesprochne  Allgemeinheiten  geradezu  eine 
Stütze  von  Irrthümern,  wie  Locke  z.  B.  an  der  cartesianischen  Gleich- 
setzung der  Begriffe  des  Raums  und  des  Körpers  weitläuftig  auseinander- 
gesetzt.300) 

Ganz  in  ähnlicher  Weise  spricht  er  Über  den  Nutzen,  welchen  die 
bewusstvolle  Auwendung  des  "syllogistischen  Formalismus  für  die  Sicher- 
heit und  den  Fortschritt  der  Erkenntniss  habe.  Bei  den  engen  Grenzen, 
an  welche  die  sinnliche  Empfindung  und  die  unmittelbaren  Entschei- 
dungen über  das  Verhältniss  der  Empfindungen  gebunden  sind ,  beruht 
der  grösste  Theil  der  Erkenntniss  auf  Deductionen  und  Schlüssen,  also 
auf  Vermittelungen  des  Denkens.'201)  Diese  Thätigkeit  des  Subsumirens 
und  Schliessens  legt  er  einem  besondern  Vermögen,  der  Vernunft  (reason) 
bei  und  ihre  Functionen  bestehen  erstlich  in  der  Auffindung  der  vermit- 
telnden  Begriffe  (sagacity),  zweitens  in  der  Anordnung  derselben,  um 
ihren  Zusammenhang  übersehen  zu  können,  drittens  in  der  Wahrneh- 
mung dieses  Zusammenhanges ,  endlich  viertens  in  der  Ableitung  des 
Schlusssatzes.302)  Erkläre  man  nun  den  Syllogismus  für  das  grosse 
Werkzeug  der  Vernunft  und  für  den  sichersten  Wegweiser  in  der  Aus- 
übung dieses  Vermögens,  so  sei  zuvörderst  deutlich,  dass  der  Syllogis- 
mus eigentlich  nur  die  Verknüpfung  der  vermittelnden  Glieder  des  Be- 
weises vor  Augen  legt  und  dass  diese  Verknüpfung  in  jedem  einzelnen 


«00)  B.  IV,  cb.VII,  §  II.  JSfgg. 

201)  B.  IV,  eh.  XVII,  §  2.  Sense  and  intuition  reach  but  a  very  little%way.  The 
greatest  part  of  our  knowledge  depends  upon  deduetions  and  intermediate  ideas. 
102)  a.  a.  0.  §3. 


77]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  1 87 

Fälle  eben  so  gut  ohne  die  Hülfe  der  syllogistischen  Regeln  wahrgenom- 
men werden  kann  als  mit  ihr,  man  müsste  denn  annehmen,  dass  Nie- 
mand ohne  das  Bewusstsein  jener  Regeln  einen  richtigen  Schluss  ma- 
chen könne,  wobei  es  nur  unbegreiflich  sein  würde,  wie  Aristoteles 
selbst  jene  Regeln  und  Formen  habe  entdecken  können.308)  Die  Anord- 
nung der  vermittelnden  Begriffe,  die  der  Syllogismus  nicht  finden  lehrt, 
hänge  von  dem  Inhalt  der  Begriffe  selbst  ab  und  die  syllogistische  Form 
könne  der  Einsicht  in  die  Verhaltnisse  der  Begriffe  nichts  hinzufügen.904) 
Allerdings  lasse  sich  jede  Schlussfolge  in  syllogistischer  Form  darstel- 
len, und  Leute,  die  daran  gewöhnt  sind,  mögen  dies  Ihun;  aber,  gänz- 
lich unfähig  unsere  Ei  kennt niss  zu  erweitern ,  sei  der  Syllogismus  im 
besten  Falle  nichts  als  die  Kunst,  die  Erkenntniss,  die  man  schon  bat, 
geltend  zu  machen.205) 

Diese  Erörterungen  Locke's  über  die  Entbehrlichkeit  und  den  ge- 
ringen Werth  der  syllogistischen  Formeln  berühren  keineswegs  seine 
Ueberzeugung  von  der  Allgemeingültigkeit  und  Noth wendigkeit  des  de- 
monstrativen Wissens,  sondern  sie  lehnen  für  ein  auf  dasselbe  gerichtetes 


203)  a.  a.  0.  §  4.  God  hos  not  been  so  sparing  to  men  to  make  them  barely  ttop- 
legged  creatures  and  left  it  to  Aristotle  to  make  them  rational  t.  e.  those  few  of  them  that 
he  could  get  so  to  examine  the  grounds  of  syllogisms,  as  to  see,  that  m  above  thrcescore 
toays  that  three  propositions  may  be  laid  together,  there  are  but  about  fourteen,  wherem 
one  may  be  sure  that  the  conelusion  is  certain  and  in  the  other  not.  ...  I  say  not  this any 
way  to  lessen  Aristotle  . . .  And  1  readily  own,  that  all  right  reasoning  may  be  reduced 
to  his  forms  of  syllogism.  But  yet  1  think  without  any  diminution  to  htm,  1  may  truly 
say,  that  they  are  not  the  only ,  nor  the  best  way  of  reasoning  . . .  And  he  himself,  it  is 
piain,  found  out  some  forms  to  be  conclusive  and  others  not;  not  by  the  forms  themselves, 
but  by  the  original  way  of  knowledge  i.  e.  by  the  visible  agreement  of  ideas. 

204)  a.  a.  0.  (p.  293.)  The  natural  order  of  the  connecting  the  ideas  must  direct 
the  order  of  the  syllogisms  and  a  man  must  see  the  connexion  of  each  intermediate  idea 
with  those  that  it  connect,  before  he  com  with  reason  make  use  of  it  in  syllogism. 

205)  a.  a.  0.  (p.  298.)  If  men  skilled  in  and  used  to  syllogisms* find  them  assisting 
to  their  reason  tri  the  discovery  of  truth,  I  think  they  ought  to  make  use  of  them.  AU  that 
l  am  at  is,  that  they  should  not  ascribe  more  to  these  forms  than  belongs  to  them.  §  6. 
The  rules  of  syllogism  serve  not  to  furnish  the  mind  with  those  intermediate  ideas  that 
may  shew  the  connexion  of  remote  ones.  . . .  Syllogism,  at  best,  is  but  the  ort  of  fencing 
with  the  Utile  knowledge  we  have,  without  making  any  addüion  to  it.  —  Der  allgemeinen 
Beurtheilung  des  Werths  der  syllogistischen  Formen  gegenüber  ist  die  Bemerkung, 
welche  Locke  über  die  gewöhnlich  angenommene  Stellung  der  Begriffe  im  Syllogismus 
macht/ so  wie  die  Bestreitung  des  Satzes,  dass  in  jedem  Syllogismus  wenigstens  eine 
allgemeine  Prämisse  vorkommen  müsse  (§  8),  nur  von  untergeordneter  Bedeutung. 


188  G.  Hartenstein,  [78 

Denken  nur  die  Notwendigkeit  ab,  seine  Operationen  an  das  Bewusst- 
sein  jener  Regeln  und  Formeln  zu  knüpfen.  Nicht  diese  logischen  Regeln 
und  Formeln  geben  den  Gedankenverbindungen  ihre  Nolhvvendigkeit 
und  Allgemeingültigkeit:,  sondern  der  Inhalt  und  die  Beziehungen  des 
Gedachten  selbst.  Aber  der  Umfang  des  demonstrativen  Wissens  und 
seiner  Grundlage,  des  intuitiven,  ist  sehr  gering;  die  Lage  des  Menschen 
würde  namentlich  rücksichtlich  seiner  praktischen  Bedürfnisse  sehr  hülf- 
los sein,  wenn  er  sich  in  seinem  Fürwahrhallen  und  seinen  Entschließ 

9 

sungen  lediglich  hieran  halten  sollte,  und  so  unterlässt  Locke  nicht,  auch 
noch  die  Arten  des  Fürwahrhaltens  ins  Auge  zu  fassen,  welche  nicht 
unter  den  Begriff  des  unmittelbaren  intuitiven  und  des  strengen  demon- 
strativen Wissens  fallen,  und  nimmt  davon  Gelegenheit,  am  Schlüsse 
des  gahzen  Werks  das  Verhältniss  des  prüfenden  Denkens  zum  religiö- 
sen Glauben  näher  zu  bestimmen. 

Den  Ersatz  des  Mangels  an  strengem  Wissen  bildet  im  Allgemeinen 
das  Urtheil  nach  Wahrscheinlichkeit,  ein  Fürwahrhalten  aus  Gründen, 
die,  wie  Locke  sagt,  nicht  unveränderlich  oder  als  solche  der  Erkennt- 
niss  zugänglich  sind,  sondern  nur  in  den  meisten  Fällen  uns  ausreichend 
erscheinen.10")  Darauf  gründet  sich  der  Unterschied  zwischen  Wissen 
und  Glauben,  und  die  Grade  der  Wahrscheinlichkeit,  so  wie  des  damit 
verbundenen  Fürwahrhaltens  richten  sich  nach  der  Sicherheit  der  Be- 
obachtung, der  häutigen  Wiederholung  der  Erfahrung,  der  Zahl  und  der 
Glaubwürdigkeit  der  Zeugen.207)  Für  Meinungen  über  Dinge  die  nicht 
durch  Erfahrung  und  Zeugniss  constatirt  werden  können ,  erklärt  Locke 
die  Analogie  als  das  Mittel  einer  wahrscheinlichen  Erkenntniss/ohne 
auf  die  Bedingungen  und  Grenzen  des  Schlusses  nach  Analogie  näher 
einzugehen;  denSchluss  nach  Induction  zergliedert  er  nirgends  ausführ- 


206)  B.  IV,  eh.  XIV,  §  3.  The  faculty  which  God  hos  given  man  to  supply  the 
want  of  clear  and  certain  knowledge,  is  judgment;  whereby  the  mind  takes  its  ideas  to 
agree  or  disagree,  or,  which  is  the  same,  any  proposition  to  be^true  or  false,  wühout 
pereeiving  a  demonstrative  evidence  in  the  proofs.  §  4.  Judgment  is  the  putting  ideas 
together  or  separatmg  them  from  one  another  in  the  mind,  when  their  certain  agreement 
or  disagreement  is  not  pereeived,  but  presumed  to  be  so.  eh.  XV,  §  I.  Probability  is 
nothing  but  the  appearance  of  such  an  agreement  or  disagreement,  by  the  intervention  of 
proofs ,  whose  connexion  is  not  constant  and  immutable  or  at  ieast  is  not  pereeived  to  be 
so,  but  is  or  appears  for  the  most  part  to  be  so  and  is  enough  to  induce  the  mind  to 
judge  the  proposition  to  be  true  or  false  rather  than  the  cohlrary.  Vgl.  eh.  XYfl,  §  17. 

807)  B.  IV,  eh.  XIV,  §  6. 


79]  Locke's  Lehre  von  der  uenschl.  Erkenntisiss  u.  s.w.  189 

lieh,  wie  überhaupt  nirgends  in  seinem  Werke  Erörterungen  vorkommen, 
die  auf  einen  besonderen  Einfluss  der  Lehre  Baco's  von  Verulam  auf  ihn 
schliessen  lassen/06)  Dagegen  könnte  es  auffallen,  dass  er  die  durch  die 
Offenbarung  beglaubigten  Wunder  ausdrücklich  von  den  Fallen  aus- 
nimmt, wo  eine  der  Erfahrung  zuwiderlaufende  Behauptung  die  Kraft 
des  Zeugnisses  aufhebe  ,m)  wenn  nicht  seine  Bestimmung  des  Verhält- 
nisses zwischen  Vernunft  und  Glauben  sehr  deutlich  lehrte,  wie  wenig 
er  geneigt  war,  die  Rechte  des  prüfenden  Denkens  einer  äusseren  Auto* 
rität  gegenüber  aufzuopfern. 

Unter  dem  Glauben,  im  Unterschiede  oder,  wenn  man  so  will,  im 
Gegensatze  zur  Vernunft  versteht  Locke  die  Zustimmung  zu  Sätzen, 
welche  ohne  einen  durch  die  natürlichen  Erkenntnisskräfte  aus  dem  In- 
halte der  Begriffe  abgeleiteten  Beweis,  sich  auf  die  Glaubwürdigkeit 
dessen  stützt,  der  dergleichen  Sätze  durch  ausserordentliche  Mittheilung 
von  Gott  erhalten  zu  haben  versichert.  Eine  solche  Mittheilung  heisst 
Offenbarung,  und  zwar  eine  ursprüngliche,  während  die  Mittheilung 
ihres  Inhalts  durch  den,  der  sie  zuerst  empfangen  hat,  eine  überlie- 
ferte Offenbarung  sein  würde.210)  Eine  ursprüngliche  Offenbarung  vor- 
ausgesetzt, bemerkt  nun  Locke  zuvörderst,  kann  der,  welchem  sie  ge- 
worden ist,  anderen* Menschen  durchaus  keine  einfache  Vorstellung  mit- 
theilen, die  ihnen  nicht  vorher  durch  Sensation  oder  Reflexion  bekannt 
gewesen  wäre.  Denn  jede  Art  der  Mittheilung  müsste  sich  bestimmter 
Zeichen  bedienen;  durch  Zeichen  aber  ist  es  nur  möglich,  Vorstellungen 
mitzutheilen,  die  schon  vorher  bekannt  waren.  .Es  lässt  sich  ferner  zwar 
die  Möglichkeit  denken ,   dass  die  nämlichen  Wahrheiten ,  welche  wir 


208)  B.  IV,  eh.  XVI,  §  12.  —.Für  das  Verhältnis»  zwischen  Locke  und  Bacon 
ist  geradezu  entscheidend,  dass  während  dieser  das  Wissen  auf  Induction  gründet 
oder  wenigstens  beschränkt,  jener  ein  lediglich  auf  eine  Masse  beobachteter  Fälle  be- 
ruhendes Fürwahrhalten  von  dem  Begriffe  des  Wissens  ausschliesst  und  in  das  Gebiet 
der  blossen  Wahrscheinlichkeit  verweist. 

209)  a.  a.  0.  §  43.  44. 

240)  B.  IV,  eh.  XVIII,  §  2.  Reason,  as  contr adis  Unguis  hed  to  faith,  I  take  to  be 
the  diseovery  of  the  certainty  or  probability  of  such  propositions  or  truüis,  tvhich  the 
mind  arrwes  at  by  deduetion  made  from  such  ideas  tohich  it  hos  got  by  the  use  of  its 
natural  faculties.  Faith  is  the  assent  to  any  proposition  not  thus  made  out  by  the  de- 
duetion of  reason,  but  upon  the  credit  of  the  proposer,  as  Coming  from  God,  in  some 
extraordmary  way  of  communication.  This  way  of  dtocovering  traditipn  to  men  is  called 
revelation. 


490  G.  Hartenstein,  [80 

durch  vernünftiges  Denken  erreichen  können,  durch  Offenbarung  mit- 
getheilt  werden.  Aber  in  diesem  Falle  würde  die  letztere  weder  not- 
wendig, noch  sonderlich  nützlich  sein,  weil  uns  unabhängig  von  ihr 
Mittel  zu  Gebote  stehen  würden,  diese  Erkenntnisse  zu  erlangen  und 
eine  durch  eigenes  Denken  gewonnene  Erkenntniss  besser  begründet 
ist,  als  ein  Fürwahrhalten ,  welches  sich  lediglich  auf  das  Factum  der 
Offenbarung  stützt.  Dies  gilt  nicht  blos  von  der  Demonstration  z.  B. 
eines  geometrischen  Lehrsatzes,  sondern  selbst  von  äusseren  Thatsachen; 
wie  z.  B.  der,  welcher  die  Sündfluth  miterlebt  hätte,  eine  grössere  Zu- 
versicht über  dieses  Factum  haben  würde ,  als  der  sie  aus  der  Bibel 
kennen  lernt.211) 

Eben  desshalb  kann  auch  der  Anspruch,  mit  welchem  ein  geoffen- 
barter Satz  auftritt,  den  denkenden  Menschen  nicht  dazu  bringen,  etwas 
für  wahr  zu  halten,  was  evidenten  Sätzen  zuwiderläuft.  Man  wird  einen 
solchen  Satz  nicht  für  geoffenbart  halten  können  und  zwar  desshalb, 
weil,  ob  der  fragliche  Satz  wirklich  von  Gott  mitgetheilt  ist  und  ob  der, 
welchem  er  mitgetheilt  ist,  ihn  richtig  verstanden  habe,  immer  einem 
möglichen  Zweifel  ausgesetzt  bleibt,  während  ein  wirklich  evidenter 
Satz  eben  dadurch  evident  ist,  dass  er  den  Zweifel  ausschliesst.312)  Dies 
gilt  sogar  für  den  unmittelbaren  Empfänger  der  Offenbarung,  wie  viel 
mehr  da,  wo  es  sich  um  eine  überlieferte  Offenbarung  handelt.  Um  die 
Frage  zu  entscheiden ,  ob  ein  bestimmtes  Buch ,  welches  mit  dem  An- 
spruch auftritt,  geoffenbarte  Sätze  zu  enthalten,  wirklich  geoffenbart  sei, 
bedürfte  es  einer  diese  Behauptung  des  Geoffenbartseins  bestätigenden 
zweiten  Offenbarung.   In  allen  den  Fällen  also,   wo  wir  durch  unser 


2H)  a.  a.  0.  §  3.  4.  The  knowledge  we  have  that  this  revelation  came  at  first 
from  God,  can  neuer  be  so  sure  as  the  knowledge  we  have  from  the  clear  and  distmct  per- 
ception  of  the  agreement  or  disagreement  of  our  own  ideas.  . . .  The  like  hold»  in  inaUer 
of  fact,  knowable  by  our  senses. 

t\%)  a.  a.  0.  §  5.  We  can  never  assent  to  a  proposition,  that  affirms  the  same 
body  is  in  two  distant  places  at  once ,  however  it  should  pretend  to  the  authority  of  a 
divine  revelation,  since  the  evidencef  first,  that  we  deceive  not  ourselves  in  ascribing  it  to 
God,  secondly,  that  we  understand  it  right,  can  never  be  so  great,  as  the  evidence  of  our 
own  intuitive  knowledge  . . .  And  therefore  no  proposition  can  be  recewed  for  divine  reve- 
lation or  obtain  the  assent  due  to  all  such,  if  it  be  contradictory  to  our  clear  intuitive 
knowledge;  because  this  would  be  to  subvert  the  principles  and  foundations  of  all  know- 
ledge, evidence  and  assent  whatsoever.  And  there  would  be  left  no  difference  between 
truth  and  falshood,  no  measurea  of  credible  and  incredible  in  the  world  u.  s.  w.  Vgl.  §  8. 


81]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  191 

eigenes  Denken  ein  evidentes  Wissen  erlangen  können,  ist  die  Vernunft 
der  competente  Richter;  die  Offenbarung  kanu  ihre  Entscheidungen  be- 
stätigen ,  aber  ihre  Gesetze  nicht  aufheben.213)  Als  der  einzige  Gegen- 
stand des  Offenbarungsglaubens  bleiben  daher  nur  Sätze  übrig,  über 
welche  wir  entweder  keinerlei  Erkenntnissquelle  haben,  welche  also  die 
Vernunft  übersteigen,  oder  rücksichtlich  deren  uns  nicht  vollkommen 
entscheidende  Gründe  des  Fürwahrhaltens  zu  Gebote  stehen.214)  Alles, 
was  Gott  wirklich  geoffenbart  hat,  ist  wahr  und  gewiss ,  daran  ist  kein 
Zweifel ;  aber  ob  das,  was  als  geoffenbart  hingestellt  wird,  wirklich  eine 
Offenbarung  ist  oder  nicht,  das  hat  die  Vernunft  zu  beurtheilen,  und 
namentlich  bei  einer  überlieferten  Offenbarung  wird  sie  nichts  für  offen- 
bart halten  können ,  was  ihren  an  sich  selbst  klaren  und  evidenten  Er- 
kenntnissen widerstreitet.  Wolle  man  diese  Grenzbestimmung  zwischen 
Vernunft  und  Glauben  nicht  zulassen,  so  werde  man  sich  gefallen  lassen 
müssen,  dass  die  Religion  der  Vernunft  ganzlich  entbehre,  und  sich  je- 
des Rechtes  begeben ,  gegen  die  ausschweifendsten  religiösen  Meinun- 
gen und  Ceremonien  Einspruch  zu  thun.215)  Dass  endlich  jeder,  der  mit 
dem  Anspruch  auftritt,  dass  ihm  eine  Offenbarung  von  Gott  zu  Theil 
geworden  sei,  und  sich  dabei  auf  ein  inneres  Licht,  auf  die  Wirkung  des 
Geistes  in  ihm  u.  s.w.  beruft,  sich  die  Frage  gefallen  lassen  müsse,  ob 
er  nicht  eine  schwärmerische  Selbsttäuschung  für  eine  ihm  gewordene 
Offenbarung  halte,  hätte  Locke  nach  dem  im  18.  Capitel  Vorgetragenen 
kaum  nöthig  gehabt  so  ausführlich  auseinanderzusetzen,  als  er  im 
1 9.  Capitel  thut. 


213)  a.  a.  0.  §  6.  In  all  things,  where  we  have  clear  evidence  front  our  ideas  and 
those  prindples  of  knowledge  /  have  above  mentioned ,  reason  is  the  proper  judge,  and 
revelation,  though  it  may  in  consenting  with  it  confirm  its  dictates,  yet  cannot  in  such 
cases  invaUdate  its  decrees. 

314)  a.  a.  0.  §  7.  There  being  many  things,  w  her  ein  we  have  very  imperfect 
notions  or  none  at  all,  and  other  things,  ofwhose  past,  present,  or  future  existence  by 
the  natural  use  of  our  faculties  we  can  have  no  knowledge  at  all,  these  as  being  beyond 
the  discovery  of  our  natural  faculties  and  above  reason,  are,  when  revealed,  the  proper 
matter  of  faith.  Vgl.  §  9.  §  10.  Nothing  that  is  contrary  to  ani  inconsistent  with  the 
clear  and  self-evident  dictates  of  reason  hos  a  right  to  be  urged  or  assented  to  as  a  matter 
of  faith,  wherein  reason  hath  nothing  to  do.  Die  Vernunft  nennt  Locke  eine  natürliche 
Offenbarung,  welche  die  historische  Offenbarung  überschreitet,  aber  nicht  widerlegen 
kann.  B.  IV,  eh.  XIX,  §  4. 

215)  a.  a.  0.  §11. 

Abhaodl.  d.  K.  S.  Gel.  d. Wisi.  X.  i  13 


192  G.  Hartenstein,  [88 

vn. 

• 

Ein  zusammenfassender  Ueberblick   über  das  Ganze  der  Lehren 
Locke's  dürfte  nun  in  der  That. durchaus  nicht  das  Urtheil  rechtfertigen, 
dass  seine  Ansicht  von  dem  menschlichen  Wissen  den  empiristischen 
Charakter  hat,  durch  den  man  sie  gewöhnlich  ausreichend  bezeichnen 
zu  können  glaubt.  Freilich  behauptet  er,  dass  alle  unsere  Vorstellungen 
in  letzter  Instanz  rücksichtlich  ihrer  Elemente  auf  die  Erfahrung  zurück- 
geführt werden  müssen,  aber  gleichwohl  wäre  es  nicht  richtig,  seinen 
Satz:  wovon  wir  keine  Vorstellung  haben,  davon  igt  auch  keine  Er- 
kenritniss  möglich,  in  den  Satz  zu  verwandeln:  wovon  wir  keine  Erfah- 
rung haben ,  davon  haben  wir  keine  Vorstellung.   Denn  jene  Ableitung 
der  Vorstellungen  aus  der  Erfahrung  ist  für  ihn  erstlich  nicht  auf  die 
äussere  sinnliche  Erfahrung  beschränkt,  sondern  die  innere  Wahrneh- 
mung der  Veränderungen,  welche  die  geistige  Thätigkeit  mit  dem  sinn- 
lichen Erfahrungsstoffe  vornimmt,  und  derRückschluss  auf  die  verschie- 
denen Arten  dieser  Thätigkeit ,  somit  auch  die  diesen  Thätigkeiten  vor- 
auszusetzende verschiedenartige  Befähigung ,  kraft  deren  in  dem  Unter- 
scheiden, Vergleichen,  Abstrahiren,  Combiniren,  Folgern  u.  s.w.  eine  un- 
bestimmte Mannigfaltigkeit  von  der  äusseren  Erfahrung  veranlasster,  aber 
in  dem  äusseren  Erfahrungsstoffe  nicht  unmittelbar  mitgegebener  Vorstel- 
lungsgebilde zu  Stande  kommt,  fällt  für  ihn  eben  so  in  das  Gebiet  der  er- 
fahrungsmässig  gegebenen  Thatsachen,  als  die  sinnliche  Empfindung  der 
Eigenschaften,  durch  die  sich  uns  die  Dinge  verrathen.  Den  Unterschied 
zwischen  Receptivität  und  Spontaneität,  die  Kant.  —  und  zwar  lediglich 
als  Ausdruck  einer  Thatsache  —  dem  menschlichen  Geiste  beilegt,  kann 
Locke,  wenn  auch  nicht  ganz  im  Sinne  Kant's,  ebenfalls  für  sich  in  An- 
spruch  nehmen.   Zweitens  aber  bezeichnet  diese  Berufung  auf  äussere 
und  innere  Erfahrung  bei  Locke  nur  den  Anfang,  den  Ausgangspunkt 
nicht  sowohl  unseres  Erkennens,  als  vielmehr  lediglich  unseres  Vorstel- 
lens  und  Denkens;  und  nur  in  dieser  Beziehung  hat  die  Frage,  ob  ein 
Denken,  welches  in  gar  keinem  nachweisbaren  Zusammenhange  mit  dem 
erfahrungsmässig  Gegebenen  stände,  einen  Anspruch  auf  Erkenntniss 
habe,  an  dieser  Stelle  für  ihn  gar  keine  Bedeutung;  denn  ursprünglich 
gibt  es  kein  solches  Denken. 

Was  aber  viel  wichtiger  ist,  als  diese  beiden  Punkte,  —  die  von 
Locke  behauptete  Unmöglichkeit,  den  Vorstellungen  und  Gedanken  einen 


,83]  Locke's  Lehre  von  der  mensciil.  Erkenntnis^  ii.  s.  w.  193 

andern  Ursprung  als  einen  empirischen  zuzuschreiben,  ist  für  ihn  nir-# 
gends  der  entscheidende  Gesichtspunkt,  wo  es  sich  darum  handelt,  den 
Gehalt  der  Erkenntniss  zu  bestimmen.  Bestimmt  man  das  wesentliche 
Merkmal  des  Empirismus  dahin ,  dass  er  die  natürlichen  Producte  der 
passiven  und  activen  Bewegung  der  Vorstellungen  und  Gedanken,  also 
die  unwillkührlich  durch  den  Verkehr  mit  der  Aussenwelt  und  die  inne- 
ren; zum  grossen  Theile  unwillkürlichen  Tätigkeiten  entstandene  Welt- 
ansicht für  wahr,  ftlr  übereinstimmend  mit  der  Beschaffenheit  der  da- 
durch vorgestellten  Dinge  hält,  so  sind  die  Resultate,  zu  welchen  Locke 
gelangt,  das  gerade  Gegentheil  des  Empirismus,  indem  sie  entweder  das 
Verhältniss  der  Vorstellungen  zu  djem  Vorgestellten  unbestimmt  lassen, 
oder  es  in  der  nachdrücklichsten  Weise  aussprechen,  dass  der  empirisch 
überkommene  Vorstellungskreis  keinen  Anspruch  auf  Wahrheit  in  die- 
sem Sinne  hat,  oder  endlich  darauf  hinweisen,  dass  diejenige  Formation, 
Verknüpfung  und  Erweiterung  des  Gedankenkreises,  welche  auf  den 
Namen  des  Wissens  Anspruch  machen  kann,  von  dei1  Erfahrung  insofern 
ganz  unabhängig  ist,  als  der  Beweis  ihrer  unerschütterlichen  Gewiss- 
heit durchaus  nicht  auf  den  Nachweis  weder  ihres  Ursprungs  aus  der 
Erfahrung,  noch  ihrer  Uebereinstimmung  mit  der  Erfahrung  gegrün- 
det ist. 

Rücksichtlich  des  ersten  Punktes  muss  an  die  Art  erinnert  werden, 
wie  Locke  sich  über  die  Existenz  der  Aussenwelt  und  das  Verhältniss 
unserer  Vorstellungen  zu  der  Qualität  der  Dinge  äussert.  Er  macht  kei- 
nen Anspruch  darauf  die  Existenz  der  äusseren  Dinge  beweisen  zu 
können;  aber  die  Zuversicht,  mit  welcher  wir  die  sich  uns  ganz  unwill- 
kührlich aufdringenden  Sinnesempfindungen  sammt  den  eben  so  unwill- 
kttbrlichen  Gefühlen  der  Lust  und  des  Schmerzes,  die  sie  in  uns  hervor- 
rufen, nicht  als  lediglich  von  dem  wahrnehmenden  Subject,  sondern  von 
den  Objecten  verursacht  ansehen,  ist  für  ihn  gross  genug,  um  sich  des 
Streits  mit  einem  Skepticismus  zu  begeben,  der  entschlossen  wäre,  die 
ganze  Welt  der  sinnlichen  Wirklichkeit  für  einen  Traum  zu  erklären 
(vgl.  oben  S.  174).  Rücksichtlich  des  ursachlichen  Verkehrs  zwischen 
den  Dingen  und  dem  empfindenden  Subject  bescheidet  er  sich  ebenfalls, 
keine  strenge  Theorie  aufstellen  zu  können;  er  hält  die  Art,  wie  die  Gar- 
tesianische  Schule  dieses  Verhältniss  zu  erklären  suchte,  für  eine  wahr- 
scheinliche Hypothese,  aber  das  Wesen  der  Seele  erklärt  er  für  gänzlich 

unbekannt.  Eine  gewisse  Hinneigung  zu  den  Voraussetzungen  der  damals 

13* 


194  6.  Hartenstein,  [84 

herrschenden  mechanischen  Naturphilosophie  verfuhrt  ihn,  Ausdehnung, 
Undurchdringlichkeit,  Gestalt  und  Beweglichkeit  als  den  körperlichen 
Dingen  an  sich  zukommende  Urqualiüilcn  beizulegen;  aber  er  hat  die 
vollkommen  klare  Einsicht,  dass,  was  wir  sonst  als  sinnlich  wahrnehm- 
bare Eigenschaften  den  Dingen  zuschreiben,  nicht  das  Was  derselben, 
sondern  nur  ihrVerhältniss  zu  dem  wahrnehmbaren  Subject  bezeichnet; 
unsere  sinnlichen  Vorstellungen  sind  keine  Abbildungen  der  Eigenschaf- 
ten der  Dinge,  obwohl  sie  ihren  Kräften  und  Veränderungen  proportio- 
nal sind. 

Lehrt  uns  mithin  die  sinnliche  Empfindung  über  das  Wesen  der 
Dinge  nichts,  so  gilt  dies  in  gleichem  Grade  von  den  Begriffen,  von  den 
Kategorieen,  unter  welche  das  Denken  die  Dinge  und  Ereignisse  sub- 
sumirt.  Die  Metaphysik  hatte  seit  Aristoteles  dadurch  ein  Wissen  über 
die  Dinge  gewinnen  zu  können  geglaubt,  dass  sie  die  Vorstellungsarlen 
der  natürlichen  Weltauffassung  in  logische  Abstracta  verwandelte;  und 
diese  genügsame  Voraussetzung  zerstört  Locke.  Nicht  in  so  fern,  als  ob 
er  durch  eine  genaue  psychologische  Nachweisung,  wie  die  die  gewöhn- 
liche Weltansicht  beherrschenden  Begriffe  der  Substanzialität  und  Cau~ 
salität  entstehen,  ihre  Unangemessenheit  an  den  wahren  Sachverhalt  vor 
Augen  gelegt  hatte;  eine  solche  Nachweisung  ist  abgesehen  von  den 
Schwierigkeiten  der  Psychologie  ohnedies  ohne  ein  anderweit  schon 
gewonnenes  metaphysisches  Wissen  nicht  möglich;  auch  nicht  in  so  fern, 
dass  er  in  der  gegebenen  Beschaffenheit  dieser  Vorstellungsarlen  das 
Motiv  eines  fortschreitenden,  auf  ihre  Umbildung  und  Berichtigung  ge- 
richteten Denkens  gefunden  oder  auch  nur  gesucht  hätte ;  sondern  da- 
durch, dass  er  die  breite  Kluft  des  Nichtwissens  aufdeckt,  welche  die 
Begriffe  der  Substanz  und  der  Kraft  zwar  einem  kritiklosen  Denken  ver- 
decken» aber  nicht  ausfüllen.  Sein  grosses  Verdienst  liegt  viel  weniger 
auf  dem  Gebiete  der  Psychologie,  —  leistet  er  doch  auf  eine  Theorie 
des  geistigen  Lebens  geradezu  Verzicht  und  seine  psychologischen  Er- 
örterungen  sind  durchaus  fragmentarisch,  —  als  vielmehr  auf  dem  der 
Metaphysik ;  seine  allgemeine  Ansicht,  dass  unsere  Vorstellungen  durch 
die  Erfahrung  entstehen ,  verfolgt  er  nirgends  in  das  Specielle  der  Ent- 
stehung bestimmter  Vorstellungen;  aber  er  unterwirft  die  wichtigsten 
von  den  Begriffen,  die,  welches  auch  ihr  Ursprung  sein  möge,  mit  dem 
Anspruch  auf  Erkennlniss  der  Dinge  auftreten,  einer  prüfenden  Kritik. 
Er  ist  fast  unermüdlich  in  der  Nach  Weisung,  dass  die  natürliche,  und 


85]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  ü.  s.  w.  195 

von  der  Schulphilosophie  zu  einem  Lehrsatze  erhoben  Voraussetzung 
der  Substanz,  des  Dings  mit  mehreren  Merkmalen,  sammt  der  Ver- 
knüpfung der  Merkmale  unter  sich  und  mit  der  Substanz  weder  über 
das  Wesen  des  Einen  (der  Substanz),  noch  über  das  Band  zwischen 
dem  Einen  und  dem  Vielen  (den  Accidenzen)  einerseits,  noch  über  das 
zwischen  den  letzteren  unler  einander  den  allergeringsten  Aufschluss 
gibt,  und  dass  die  Dinge,  insofern  wir  sie  durch  diese  Begriffe  auf- 
fassen, vollkommen  eben  so  unbekannt  bleiben,  als  wenn  wir  sie  ohne 
diese  Begriffe  auffassten.  Die  Unbrauchbarkeit  des  überkommenen  Be- 
griffs der  Kraft  und  des  Vermögens  legt  er  nicht  mit  derselben  Ausführ- 
lichkeit vor  Augen;  aber  wenn  er  die  Veranlassung,  von  activen  Kräf* 
ten  zu  sprechen,  nicht  in  dem  Verkehr  mit  der  Aussen  well,  sondern  in 
der  Wahrnehmung  unserer  eigenen  inneren  Thätigkeit  findet  und  doch 
zugleich  das  Wesen  der  Seele  für  unbekannt  erklärt ,  so  liegt  darin  ein 
ausreichender  Grund,  den  Gebrauch  dieser  Begriffe  für  einen  Nothbehelf 
zu  erklären,  dessen  wir  nicht  entbehren  können,  um  die  Beziehungen 
der  Dinge  zu  bezeichnen,  ohne  dass  wir  dadurch  einen  Aufschluss  über 
die  innere  Natur  dieses  Verhältnisses  gewinnen.  Die  Beschränktheit 
Locke's  liegt  darin,  dass  er  nirgends  einen  Versuch  macht,  auf  dem  Wege 
eines  nothwendigen  Denkens  die  Grenzen  des  einmal  vorhandenen  Ge- 
dankenkreises zu  überschreiten ;  und  es  kann  dahin  gestellt  bleiben ,  ob 
der  Grund  davon  darin  liegt,  dass  er  dies,  ähnlich  wie  Kant,  auf  theo- 
retischem Wege  für  unmöglich  hält,  oder  darin,  dass  er  nirgends  einen 
Versuch  macht ,  die  Lücken  unseres  Wissen  in  bestimmten  Problemen 
zu  formuliren,  in  denen  möglicherweise  die  Motive  ihrer  Lösung  gefun- 
den werden  könnten ;  aber  wenn  er  an  die  Stelle  der  Metaphysik  die 
bescheidenere  Aufgabe  der  Naturforschung  setzt,  so  hat  er,  trotz  der 
Einsicht,  dass  die  Erweiterung  und  Berichtigung,  die  die  menschliche 
Erkenntniss  von  ihr  zu  erwarten  hat,  nicht  eigentlich  auf  demonstrative 
Gewissheit,  sondern  nur  auf  allmählig  wachsende  Wahrscheinlichkeit  eine 
Aussicht  eröffnet,  dadurch  wirklich  den  Weg  bezeichnet,  auf  welchem 
seit  seiner  Zeit  thatsächlich  grosse  Erfolge  und  zwar  ohne  Mitwirkung 
eines  Einverständnisses  über  die  Fragen  der  Metaphysik  erreicht  wor- 
den sind. 

Trotz  dieser  Verzichtleistung  auf  ein  eigentlich  metaphysisches 
Wissen  gibt  es  dennoch  für  Locke  ein  Gebiet,  innerhalb  dessen  ein 
notbwendiges  und  allgemeingültiges  Wissen  allerdings  möglich  ist;  aber 


196  G.  Hartenstein,  [86 

es  liegt  nicht  in  der  Beziehung  der  Begriffe  auf  die  Dinge,  sondern  in 
den  Beziehungen  der  Begriffe  auf  einander.  Es  gibt  eine  Notwendig- 
keit des  Denkens,  eine  Abhängigkeit  der  Begriffs«  und  Gedankenver- 
knüpfungen, bei  welcher  der  Geist  nicht  mit  den  Dingen,  sondern  ledig- 
lich mit  den  Begriffen  beschäftigt  ist,  dergestalt  dass  die  Begriffe  sich 
nicht  nach  den  Dingen ,  sondern  diese ,  in  sofern  sie  Object  einer  Er- 
kenntniss  durch  Begriffe  werden,  sich  nach  den  Begriffen  richten.  (Vgl. 
S.  180.)  Die  beiden  Wissenschaften,  welche  demgemäss  einen  streng 
demonstrativen  Charakter  entweder  haben,  oder  dessen  fähig  sind,  sind 
die  Mathematik  und  die  Moral.  Dass  die  Mathematik,  obgleich  die  Vor- 
stellungen des  Raums  und  der  Zahl  mit  der  Auflassung  der  uns  umge- 
benden Welt  unauflöslich  verwebt  sind,  ihren  Erkennlnissgründen  nach 
von  der  Erfahrung  unabhängig  ist,  dass  sie,  indem  sie  den  Verhältnissen 
der  Zahl-  und  Raumgrössen  nachgeht,  ein  Wissen  erreicht,  dessen  Gül- 
tigkeit und  Nothwendigkeit  nicht  daran  gemessen  werden  kann,  ob  die 
Objecto  ihrer  Constructionen  existieren,  and  dass  dieses  Wissen,  weil 
die  Bedeutung  der  Begriffe,  die  Qualität  des  Gedachten  und  die  in  ihr 
begründeten  Folgerungen  eben  so  unabhängig  von  dem  Belieben  des 
Denkenden,  als  von  der  Existenz  der  Objecte  sind,  eine  strenge  Allge- 
meingüJtigkeit  hat,  —  diese  Einsicht  bildet  einen  eben  so  wesentlichen 
Bestandteil  der  Lehre  Locke's  als  seine  Ansicht  von  der  Art,  wie  der 
Mensch  zu  seinen  Vorstellungen  gelangt.  Einen  gleichen  demonstrativen 
Charakter  legt  er  auch  der  Moral  bei,  indem  das  Lob  und  der  Tadel,  die 
sich  im  moralischen  Urtheil  aussprechen,  sich  lediglich  an  die  Vorstel- 
lung gewisser  Willensbestimmungen  und  Handlungen  knüpfen  und  die 
Angemessenheit  oder  Unangemessenheit  der  Handlungen  an  die  in  jenen 
Urtheilen  liegende  Regel  lediglich  der  Vergleichung  der  Handlung  mit 
der  gedachten  Regel  bedarf,  um  in  ihr  ihr  Maass  zu  finden. 

Diese  Grehzbestimmung  zwischen  dem  Gebiete  des  Nichtwissens 
und  des  Wissens  ist  nun  in  der  That  ganz  unabhängig  von  der  Frage 
nach  dem  Ursprünge  der  Vorstellungen ;  auch  beruft  sich  dabei  Locke 
nirgends  auf  eine  besondere  Einrichtung  des  menschlichen  Geistes,  aus- 
ser insofern,  als  einer  Intelligenz,  welche  unfähig  wäre,  sich  des  Inhalts 
ihrer  Vorstellungen  bewusst  zu  werden,  sie  zu  unterscheiden  und  zu 
vergleichen,  jegliche  Erkennlniss  überhaupt  verschlossen  sein  würde; 
sondern  der  letzte  Stützpunkt  des  Erkennens  ist  für  Locke  der  Inhalt 
des  Gedachten  selbst  und  die  Nothwendigkeit  des  logischen 


87]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  497 

Denkens.  Wenn  er  gleichwohl  den  Satz  der  Identität  und  des  Wider* 
Spruchs ,  eben  so  wie  die  Axiome  der  Arithmetik  und  Geometrie  in  der 
Form  einer  abstracten  Allgemeinheit,  in  welcher  sie  an  die  Spitze  dieser 
Disciplinen  gestellt  zu  werden  pflegen,  nicht  Tür  falsch,  sondern  für  ent- 
behrlich hält;  so  geschieht  dies  desshalb,  weil  er  zeigen  zu  können 
glaubt,  dass  ein  Denken,  welches  sich  in  den  Verknüpfungen  der  Ge- 
danken durch  den  Inhalt  des  Gedachten  selbst  bestimmen  lässt,  nicht 
nötbig  habe,  den  Umweg  durch  diese  allgemeinen  Formeln  zu  nehmen, 
sondern  durch  die  Vergleichung  und  Beziehung  der  Begriffe  selbst  in 
jedem  einzelnen  Falle  zu  der  Anerkennung  der  darin  liegenden  Conse- 
quenzen  sich  genöthigt  finde.  Die  psychologische  Frage  nach  dem  Ur- 
sprung der  Begriffe  ist  für  diese  Endentscheidung  über  das  Gebiet,  in 
welchem  es  ein  nicht  seinen  Veranlassungen,  sondern  seinem  Gehalte 
nach  von  der  Erfahrung  unabhängiges  Wissen  gebe,  vollkommen  irrele- 
vant; der  Ursprung  der  Begriffe  entscheidet  ihm  nichts  über  Richtigkeit 
und  Unrichtigkeit  der  Sätze,  in  denen  ein  wirkliches  oder  eingebildetes 
Wissen  sieb  ausspricht. 

Die  allgemeinsten  Umrisse  der  Locke'schen  Lehre  dürften  sich  dem- 
gemäss  in  folgenden  Sätzen  aussprechen  lassen.  Der  Mensch  ist  mit  sei- 
nen Vorstellungen,  Begriffen,  Gefühlen  u.  s.  w.  sich  selbst  ein  unmittel- 
bar Gegebenes ;  aber  ohne  die  äussere  Erfahrung  würde  es  kein  Vor- 
stellungsbild der  Aussen  weit  für  ihn  geben  und  die  Gewalt,  mit  welcher 
die  sinnlichen  Empfindungen  sich  uns  aufdringen,  ist  stark  genug,  um 
die  Voraussetzung  der  Wirklichkeit  der  diese  Empfindungen  irgendwie 
verursachenden  Dinge  gegen  einen  Skepticismus  aufrecht  zu  erhalten, 
der  Alles  nur  für  einen  Traum  zu  erklären  geneigt  wäre.  Aber  es  gibt 
keine  Metaphysik  als  eine  allgemeingültige  und  nolh  wendige  Erkenntniss 
des  Wesens  der  Dinge;  die  Proportionalität,  welche  zwischen  den  Em- 
pfindungen und  den  Qualitäten  der  Dinge  stattfinden  muss,  gibt  keinen 
Aufcchluss  über  diese  Qualität  selbst ;  die  Naturforschung  ist  auf  fort- 
schreitende Erfahrung  angewiesen,  um  in  der  erweiterten  und  genaue- 
ren Auffassung  des  empirischen  Materials  Anknüpfungspunkte  für  mehr 
oder  weniger  wahrscheinliche  Hypothesen  zu  finden.  Das  Gebiet  des 
reinen  und  strengen  Wissens  eröffnet  sich  erst  da ,  wo  das  Denken  mit 
seinem  eigenen  Inhalt  beschäftigt  von  Gedankenbestimmungen  zu  Ge- 
dankenbestimmungen so  fortschreitet,  wie  es  der  Inhalt  des  Gedachten 
selbst  gestattet  oder  fordert.  So  verwandelt  sich  für  Locke  im  Verlaufe 


498  G.  Habtbkstein,  [88 

« 

der  Untersuchung  die  Kritik  des  Erkennlnissvermögens  in  eine  Kritik 

■ 

der  Erkenntniss  d.  b.  der  Begriffe,  die  mit  dem  Anspruch  auf  sie  gedacht 
werden,  deren  entscheidender  Schwerpunkt  nicht  in  seinen  psychologi- 
schen Annahmen ,  sondern  in  der  Anerkennung  der  logischen  Gesetz- 
massigkeit liegt. 


vm. 

Die  Untersuchungen  Locke's  hatten  die  Aufmerksamkeit  Leibniz's 
nicht  erst  zu  der  Zeit  auf  sich  gezogen,  wo  dieser  seine  nouveaux  essais 
mr  l' entendement  humam  schrieb,  sondern  schon  im  J.  1 696  hatte  er  eine 
Reihe  von  kurzen  Bemerkungen  unter  der  Aufschrift :  reflexions  sur  l'essai 
de  E  entendement  humain  de  Mr.  Locke  an  diesen  in  der  Absicht  geschickt, 
dass  dieser  Aufsatz  der  französischen  Uebersetzung  des  Locke'schen 
Werkes  beigefügt  werden  sollte;  und  da  dies  nicht  geschah,  so  wurde 
er  erst  1708  ohne  Leibniz's  Willen  mit  den  nachgelassenen  Briefen 
Locke's  veröffentlicht.  Leibniz  hatte  hier  anerkaunt,  dass  die  Unter- 
suchung über  die  menschliche  Erkenntniss  von  der  grössten  Wichtig- 
keit, ja  der  Schlüssel  aller  übrigen  sei,216)  und  sogleich  hinzugefügt,  dass 
es  nach  seiner  Ansicht  keine  andern  Erkenn tnissprineipien  gebe,  als  die 
Erfahrung  und  den  Satz  der  Identität  und  des  Widerspruchs ; 2I7)  dass 
aber  eben  desshalb  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  es  angeborne  Vor- 
stellungen gebe  oder  nicht,  weder  für  den  Anfang  noch  für  die  weiteren 
Fortschritte  des  erkennenden  Denkens  von  entscheidender  Wichtigkeit 
sei ,  weil  die  Gesetzmässigkeit  des  Schliessens  sich  nicht  ändere,  möge 
man  die  Frage  bejahen  oder  verneinen;  überhaupt  sei  die  Frage  nach 
dem  Ursprünge  der  Vorstellungen  gar  keine  Präliminarfrage  für  die  Phi- 
losophie ;  man  müsse  vielmehr  schon  bedeutende  Fortschritte  in  dersel- 
ben gemacht  haben,  um  sie  beantworten  zu  können.218)  Während  diese 

2  4  6)  Leibnizii  opera  philosophica  ed.  Erdmann  p.  4  36a.  De  toutes  les  recherches 
il  riy  a  point  de  plus  importante,  puisque  c'est  la  clef  de  toutes  les  autres. 

247)  a.  a.  0.  p.  4366.  Mon  opinion  est  donc  qu'on  ne  doit  rien  prendre  pour 
principe  primüif,  si  non  les  experiences  et  V axiome  de  l'idcnticite  ou  ce  qui  est 
la  meme  chose,  de  la  contradiction,  qui  est  primüif,  puisqri  autrement  il  riy  aurait  point 
de  difference  entre  la  verite  et  la  faussete. 

2  4  8)  a.  a.  0.  p.  137a.  Pour  ce  qui  est  de  la  question,  s'il  y  a  des  idees  et  des 
verites  creees  avec  nous,  je  ne  trouve  point  absolument  necessaire  pour  les  commencemens, 


M]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  199 

Satze  den  psychologischen  Vorbau,  welchen  Locke  seiner  Lehre  von  den 
Grundlagen  und  den  Grenzen  der  menschlichen  Erkenntniss  gegeben 
hatte,  für  überflüssig  erklären ,  in  der  Sache  selbst  aber  eben  dasselbe 
aussprechen,  was  Locke  will,  stellt  sich  der  avant-propos  zu  den  nou- 
veaux  essais  sur  F entendetnent  humain  auf  einen  davon  verschiedenen 
Standpunkt.  Es  handle  sich  zuvörderst  darum ,  ob  die  Seele  eine  leere 
Tafel  sei,  so  dass  Alles,  was  von  ihr  vorgestellt  werde,  von  den  Sinnen 
and  der  Erfahrung  komme,  oder  ob  sie  ursprünglich  die  Principien  einer 
Mehrzahl  von  Begriffen  und  Salzen  enthalte,  welche  die  äusseren  Objecto 
nur  gelegentlich  zum  Bewusstsein  bringen'.  Und  hiervon  hänge  die 
Beantwortung  der  andern  Frage  ab,  ob  alle  Wahrheit  sich  nur  auf  Er- 
fahrung, also  auf  Induclion  und  Beispiele  gründe,  oder  ob  es  noch  eine 
andere  Grundtage  derselben  gebe.  Die  sinnliche  Wahrnehmung  sei  un- 
entbehrlich für  alle  wirkliche  Erkenntniss;  aber  sie  gebe  immer  nur 
einzelne  Fälle,  es  fehle  ihr  die  Noth wendigkeit  uud  es  scheine  daher, 
dass  notwendige  Wahrheiten,  wie  sie  die  Mathematik  enthalte,  auf 
Principien  ruhen  müssen ,  äderen  Beweis  nicht  von  der  Erfahrung  und 
nicht  von  dem  Zeugnisse  der  Sinne  abhänge.219)  Während  also  Leibniz 
in  dem  früheren  Aufsatze  die  Entscheidung  über  Wahrheit  und  Irr th uro 
von  der  Ansicht  über  den  Ursprung  der  Vorstellungen  für  unabhängig 
erklärt  hatte,  weist  er  hier  auf  einen  Zusammenhang  beider  Untersuchun- 
gen hin.  Indessen  setzt  er  doch  sogleich  hinzu,  dass  sich  vielleicht 
Locke's  Ansicht  von  der  seinigen  nicht  so  gar  weit  entferne.  Denn  indem 


ni  pour  la  pratique  de  fort  de  penser,  de  la  dScider,  soit  qu*elles  nous  viennent  tottjours 
de  dekors  ou  qu'elles  viennent  de  nous;  on  raisonnera  jusie  pourvu  qu'qn  ..  precede  avec 
ordre  et  sans  prevention.  La  question  de  l'origine  de  nos  idees  et  nos  maximes  n'est  pas 
preHminaire  en  philosophie,  et  il  faul  avoir  faxt  de  grands  progres  pour  la  bien  resoudre. 
t19)  a.  a.  0.  p.  1946.  //  s'agit  de  savoir  si  Vame  en  eile  tneme  est  vuide  entiere- 
ment  comme  des  tablettes,  ou  ton  ria  encore  rien  ecrit  {tabula  rasa)  . .  et  si  tout  ce  qui 
y  est  traee  vient  uniquement  des  sens  et  de  texperience,  ou  si  tarne  consent  origtnairement 
les  prineipes  de  plusieurs  notions  et  doctrines ,  que  les  objets  externes  reveillent  seulement 
dans  les  occasions  ...  p.  195a.  D'ou  il  nait  une  autre  question,  savoir  si  toutes  les  veri- 
tes dependent  de  texperience,  c'est  ä  dire  de  tinduetion  et  des  exemples,  ou  s'il  y  en  a, 
qui  ont  encore  un  autre  fondement  . . .  Les  sens  quoique  necessaires  pour  toutes  nos  con- 
naissanees  actuelles  ...  ne  donnent  jamais  que  des  exemples,  c'est  d  dire  des  verites par- 
Uculieres  ou  individuelles.  Or  tous  les  exemples  . . .  ne  sufßsent  pas  pour  itablir  la  ne- 
eessite  universelle  . . .  D'ou  il  parait,  que  les  verites  necessaires,  telles  qu*on  les  trouve 
dans  les  mathematiques  pures  • . .  doivent  avoir  des  prineipes,  dont  la  preuve  ne  depende 
point  des  exemples,  ni  par  consequent  du  temoignage  des  sens. 


200  6.  Hartenstein,  [90 

er  den  Ursprung  der  Vorstellungen  auf  Sensation  und  Reflexion  zurück- 
führe,  und  die  Reflexion  nichts  Anderes  sei,  als  die  Wahrnehmung  des- 
sen, was  in  uns  ist  und  geschieht,  ohne  von  den  Sinnen  dargeboten  zu 
werden,  könne  er  mit  ihm  sagen,  dass  wir  uns  selbst  angeboren  seien.*0) 
Und  in  der  That  wurde  Locke  gegen  diesen  Satz  schwerlich  etwas  ein- 
zuwenden gehabt  haben,  wenn  er  auch  uriter  den  von  Leibniz  angeführ- 
ten Beispielen  angeborner  Vorstellungen  die  des  Seins,  der  Einheit, 
der  Veränderung,  der  Dauer,  der  Substanz  u.  s.  w.  abgelehnt  haben 
würde. 

Geht  man  nun  den  Erörterungen ,  welche  Leibniz  im  ersten  Buch 
seiner  nouveaux  essais  dem  entsprechenden  Theil  von  Locke's  Werk 
gegenüberstellt,  etwas  genauer  nach,  so  sollte  man  erwarte»,  dass  er 
nicht  nur  das  Vorhandensein  angeborner  Begriffe  oder,  wie  er  gewöhn- 
lich sagt,  angeborner  Erkenntnisse  behaupten,  sondern  auch  bestreiten 
werde,  dass  irgend  welche  Vorstellungen  durch  den  Verkehr  mit  der 
Aussenwelt  erworben  werden.  Denn  die  prttslabilirte  Harmonie  schnei- 
det den  Causalzusammenhang  zwischen  den  Aussenwelt  nnd  den  Vor- 
stellungen ab ;  nach  ihr  soll  die  Seele  alle  ihre  Vorstellungen  lediglich 
aus  sich  selbst  erzeugen,  und  wenn  die  sinnliche  Wahrnehmung  die  ge- 
legentliche Veranlassung  bestimmter  Vorstellungen  ist,  so  ist  damit  kein 
solcher  Zusammenhang  zwischen  jener  und  diesen  gesetzt,  dass  ohne 
die  sinnliche  Affection  die  Entstehung  der  Vorstellung  unmöglich  wäre, 
ausser  in  so  fern  als  Gott  den  Parallelismus  zwischen  beiden  ein  für 
allemal  im  Voraus  geordnet  hat.  In  der  That  erklart  nun  Leibniz ,  dass 
er  auf  die  Locke'sche  Lehre  zunächst  aus  dem  Standpunkte  einer  Accom- 
modation  an  die  gewöhnliche  Ansicht  eingehen  woHe,*")  um  za  zeigen, 


220)  a.  a.  0.  p.  196a.  Peut-etre  que  notre  habile  auteur  ne  s'ehignera  pas  entiere- 
ment  de  mon  sentiment.  Cor  . . .  il  avoue,  . .  que  les  idees  qui  riont  point  leur  origine 
dam  la  Sensation ,  viennent  de  la  reflexion.  Or  la  reflexion  n'est  autre  chose,  qu  une 
attention  ä  ee  qui  est  en  nous  . . .  Cela  etant  peut  on  wer,  qu'il  y  a  beaucoup  dinne  en 
notre  esprit,  puisque  nous  sommes  innes  ä  nous  memes  pour  ainsi  dire?  p.  1966.  Ainsi  je 
suis  porte  ä  croire  que  dans  le  fonds  son  sentiment  sur  ce  point  n'est  pas  different  du  mien 
Ott  plutot  du  sentiment  commun,  (Tautant  qu'il  reconnoit  deux  sources  de  nos  connaissances, 
les  sens  et  la  reflexion. 

221)  a.  a.  0.  p.  2066.  Je  croisf  que  toutes  les  pensees  et  actione  de  notre  ame 
viennent  de  son  propre  fond,  sans  pouvoir  lui  etre  donnees  par  les  sens  . . .  Mais  ä  present 
je  meUrai  cette  recherche  ä  pari  et  m'accotnmodant  aux  expressions  re$ues ,  puisqu'  en 
effect  elles  sont  bonnes  et  soutenabks  et  qu'on  peut  dire  dans  un  certain  sens,  que  les  sens 


94]  Locke's  Lehbe  von  der  mewschl.  Erkenntkiss  d.  s.  w.  S04 

dass,  wie  es  sieb  auch  mit  den  sinnlichen  Vorstellungen  verhallen  möge, 
die  Annahme  angeborner  Erkenntnisse  nicht  zu  entbehren  sei.  Der 
Grund,  auf  welchen  er  sich  dafür  beruft,  ist  jedoch  lediglich  der  schon! 
im  avant-propos  geltend  gemachte,  dass  »icht  angeborne,  sondern  durch 
die  Erfahrung  erworbene  Vorstellungen  unfähig  seien,  notwendige  Wahr- 
heiten und  Erkenntnisse  darzubieten.222)  Einen  Beweis  dafür,  dass  an- 
geborne Vorstellungen  nothwendig  wahr  sein  müssen  und  nicht  auch 
möglicherweise  falsch  sein  können ,  dass  es  also  nur  angeborne  Wahr- 
heiten und  nicht  auch  angeborne  Irrthümer  geben  könne,  sucht  man 
vergebens ;  denn  die  Berufung  darauf,  dass  jene,  die  inteHectuellen  Vor- 
stellungen immer  deutlich,  diese,  die  sinnlichen  verworren  seien,  kann 
unmöglich  für  einen  solchen  gelten ,  da  die  Deutlichkeit  eines  Begriffs 
von  der  Anwendung  geistiger  Operationen  auf  ihn  abhängt,  die  in  seiner 
Unabhängigkeit  von  der  sinnlichen  Empfindung  nicht  unmittelbar  mit- 
gesetet  sind.  Die  allgemeine  Uebereinstimmung  über  gewisse  Satze  ist 
für  Leibniz  kein*  ausreichender  Beleg  ihres  Angeborenseins ,  auch  soll 
die  Berufung  auf  angeborne  Erkenntnisse  nicht  als  Ruhekissen  der  Ober- 
flächlichkeit und  Faulheit  im  Denken  benutzt  werden;228)  gleichwohl  er- 
klärt er  die  Annahme  solcher  angeborner  Erkenntnisse  für  unentbehrlich, 
wenn  man  sich  das  thatsächlicbe  Vorhandensein  nothwendiger  Wahr- 
heiten erklären  wolle. 


externes  sont  cause  en  partie  de  nos  pensees ,  fexaminerai  comment  on  doit  dire  d  mon 

avis,  encore  dans  le  Systeme  commun  (partant  de  Faction  des  corps  sur  Farne ),  qu'il  y 

a  des  idees  et  des  prtHdpes,  qui  ne  nous  viennent  point  des  sens  et  que  nous  trouvons  en 
nous  sam  les  former,  quoique  les  sens  nous  donnent  occasion  de  nous  en  appercevoir.. 

222)  a.  a.  0.  p.  207a.  //  (Locke)  n'a  pas  assez  disUngue  ä  mon  avis  Forigine  des 
verites  necessaires,  dont  la  source  est  dans  Fentendement ,  davec  celles  du  fait,  qu'on  tire 
des  experiences  des%ens.  p.  209a.  Les  verites  necessaires  sont  innees  et  se  prouvettt  par 
ce  qui  est  interne,  p.  2096.  St  Fesprit  riavait  que  la  simple  capacite  de  recevoir  hs  oon* 
naissances  ou  la  puissance  passive pour  cela,  aussi  indeterminee  que  celle  qua  la  cire  de 
recevoir  les  figures  et  la  table  rase  des  recevoir  des  teures,  il  ne  serait  pas  la  source  des 
verites  necessaires  u.  s.  w.  p.  21 26  (§25).  La  nature  ne  s'est  point  donne  inutilement  la 
peine  de  nous  imprimer  des  connaissances  innees ,  puisque  sans  elles  il  n'y  aurait  aueun 
moyen  de  parvenir  ä  la  connaissance  actuelle  des  verites  necessaires  dans  les  sciences  de- 
monstratives. 

223)  a.  a.  0.  p.  207a.  Je  ne  fonde  pas  la  certüude  des  prindpes  mnes  sur  le  con- 
sentement  universel.  —  p.  2216.  St  c'est  lä  le  dessein  de  vos  amis  de  conseiller,  qu'on 
eher  che  les  preuves  des  verites,  sam  distinguer  si  elles  sont  innees  ou  non,  nous  sommes 
entierement  daecord.  vgl.  p.  2066. 


202  6.  Hartenstein,  P« 

Vergleicht  man  jedoch  die  Art,  in  welcher  er  die  Annahme  ange* 
boroer  Erkenntnisse  gegen  die  Locke'scbe  Bestreitung  derselben  gehend 
macht,  so  wird  man  sagen  müssen,  dass  er  dieses  Angeborensein  gar 
nicht  in  dem  Sinne  behauptet,  in  welchem  Locke  es  leugnet.  Dieser  hält 
für  die  Entscheidung  dieser  Frage  streng  den  Gesichtspunkt  fest,  dass 
von  angebornen  Vorstellungen  nur  dann  die  Rede  sein  könne,  wenn  sich 
nachweisen  lasse,  dass  sie,  gleichviel  ob  als  Vorstellungen  oder  als  Satze, 
nicht  nur  vor  allen  andern  Erkenntnissen  als  deren  Grundlage,  sondern 
auch  als  solche  bestimmt  und  deutlich  sich  im  Bewusstsein  ankündigen 
und  dass,  wenn  man  jener  Behauptung  die  Wendung  gebe,  dass  jene 
angeblich  angebornen  Erkenntnisse  nur  der  Möglichkeit  nach  in  uns  an- 
gelegt seien,  dies  nur  eine  leere  Ausflucht  sei,  welcher  gemäss  feine 
Masse  von  Erkenntnissen  für  angeboren  erklärt  werden  müssten,  die  für 
angeboren  zu  erklären  Niemandem  einfalle.  Gerade  diese  Wendung  aber 
ist  es,  welche  Leibniz  in  der  Behauptung  seines  Satzes  nimmt,  und  er 
dehnt  sie  bis  zu  einem  Umfange  aus,  innerhalb  dessen  der  ganze  Unter- 
schied zwischen  angebornen  und  erworbeuen  Erkenntnissen  schliesslich 
wegfallt.  Um  zuvörderst  die  Locke'scbe  Behauptung  zu  entkräften,  dass 
von  dem,  wovon  wir  kein  Bewusstsein  haben,  auch  nicht  gesagt  werden 
könne,  dass  es  im  Geiste  vorhanden  sei,  macht  er  auf  die  allgemeine 
Thatsache  aufmerksam ,  dass  in  den  Tiefen  der  Seele  eine  Masse  von 
Vorstellungen  und  Gedanken  ruhen,  ohne  dass  wir  uns  in  jedem  Augen- 
blicke derselben  bewusst  würden.224)  In  derselben  Weise  sind  nun  auch 
die  angebornen  Vorstellungen  nicht  actuell,  sondern  virtuell  in  uns 
vorhanden.  Er  bedient  sich  in  dieser  Beziehung  wiederholt  des  Gleich- 
nisses eines  Marmorblocks,  dessen  von  aussen  unsichtbare  Adern  eine 
bestimmte  Gestalt  einschliessen ,  die  erst  durch  Bearbeitung  desselben 
zum  Vorschein  kommt.  Sinnliche  Wahrnehmungen,  Unterricht,  Reflexion 
u.  s.  w.  mögen  noth wendig  sein,  um  diese  inneren  Schätze  an  das  Ta- 
geslicht des  Bewusstseins  zu  fördern ;  aber  sie  bringen  eben  nur  zum 
Bewusstsein,  was  obgleich  nur  virtuell  schon  in  uns  liegt.223)  Dieses 


224)  a.  a.  0.  p.  208a,  §5.  p.  21*6,  §26.  p.  217a,  §  12. 

225)  a.  a.  0.  p.  2086.  Rh.  Si  oti  peut  dire  qu'une  chose  est  dans  tarne,  quoique 
Farne  ne  tau  pas  encore  connue,  ce  ne  peut  etre  qu'ä  cause  qu'eUc  a  la  capacite  ou  faculte 
de  Ia  connaüre.  Th.  Pourquoi  ceia  ne  pourroit  Ü  aioir  encore  une  autre  cause,  teile  que 
serait  celle-ci,  que  tarne  peut  avoir  cette  chose  en  eile  sans  qu'on  s'en  soü  appercu;  cor 
puisq'une  connaissance  acquise  y  peut  etre  cachee  pour  Ia  memoire,  pourquoi  ia  nature 


93]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkeihntisiss  u.  s.  w.  203 

virtuelle  Vorbandensein  will  aber  Leibniz  nicht  blos  als  Fähigkeit  oder 
Vermögen  angesehen  wissen ;  der  Nichtgebrauch  einer  Sache ,  die  man 
besitze,  sei  mehr,  als  die  Möglichkeit  sie  zu  erwerben ;  mit  der  blos  pas- 
siven übrigens  aber  unbestimmten  Fähigkeit,  dergleichen  Erkenntnisse 
zu  erwerben,  werde  der  Geist  immer  noch  nicht  die  Quelle  notwendi- 
ger Wahrheiten  sein;  er  müsse  vielmehr  eine  sowohl  active  als  passive 
Disposition  haben,  dergleichen  Erkenntnisse  aus  sich  selbst  zu  entneh- 
men; und  weil  die  Ausübung  dieser  Disposition  dem  Menseben  natürlich 
sei,  spreche  man  eben  von  angeborenen  Vorstellungen.230)  So  sind  die 
angebornen  Erkenntnisse  bei  Leibniz  tbeils  nur  Möglichkeiten,  theite 
mehr  als  leere  Möglichkeiten,  und  daraus  erklärt  sich,  warum  er  bald 
ihr  Hervortreten  im  Bewusstsein  so  darstellt,  als  hänge  dies  nur  von  der 
Hinwegräumung  eines  Hindernisses,  der  Verdunkelung  durch  die  sinn- 
lichen Eindrücke  ab,  bald  den  Verkehr  mit  der  Sinnenwelt  geradezu  als 
die  Bedingung  der  Reflexion  auf  sie  und  somit  der  bewussten  Entwicke- 
lung  jener  angebornep  und  nothwendigen  Wahrheiten  bezeichnet.227)  In 
beiden  Fällen  bedeutet  das  Angeborensein  eigentlich  nur  die  Anerken- 
nung einer  von  der  Erfahrung  unabhängigen  Zunölhigung  des  Fürwahr- 
haltens oder  des  Handelns;  diese  Anerkennung  ist  auf  dem  theoretischen 
Gebiete  der  Ausdruck  der  logischen  Notwendigkeit,  auf  dem  praktischen 


ne  pourraü-elk  pas  y  avoir  aussi  cache  quelque  connaissance  originale?  Der  Ausdruck 
ebnnaissances  virtuelles  p.  208a.  Das  Gleichniss  vom  Marmorblock  z.  B.  p.  196a,  2456. 

226)  a.  a.  0.  p.  209a.  Avoir  une  chose  sans  s'en  servirt  est-ce  la  meme  chose  que 
a"  avoir  seulement  la  faculte  a*  acquerir?  Si  cela  etait,  nous  ne  possederions  jamais  que 
des  ehoses  dont  nous  jouissons,  au  lieu,  qu'on  sait,  qu'outre  la  faculte  et  tobjet  il  faut 
souvent  quelque  disposition  dans  la  faculte  . . .  pour  que  la  faculte  s'exerce  sur  fobjet. 
p.  2096  (vgl.  oben  Anm.  222).  p.  210a.  C'est  le  rapport  parUculier  de  tesprit  kumain 
d  ces  verites  qui  rend  Vexercice  de  la  faculte  aise  et  naturel  d  leur  egard  et  qui  fait  qu'on 
les  appelle  innees.  Ce  riest  donc  pas  une  faculte  nue,  qui  consiste  dans  la  seul  possibiHte 
de  les  entendre:  c'est  une  disposition,  une  aptitude,  une  preformation9  qui  detenninc  notre 
arne  et  qui  fait  qu'elles  en  peuvent  iure  Urees.  p.  221a.  Ce  ne  sont  que  des  habitudes  na- 
turelles, c'est  d  dire  des  dispositions  et  attitudes  actives  et  passives, 

227)  a.  a.  O.  p.  2186,  §20.  Les  idees  et  verites  innees  ne  sauraient  ilre  effaeees, 
mais  elles  sont  obscurcies  dans  tous  les  hommes  (comme  ils  sont  presentement)  par  leur 
penckant  vers  les  besoins  du  corps  . . .  Ces  caracteres  de  lumiere  interne  seraient  toujours 
eclatans  dans  lentendement  et  donneroient  de. la  chaleur  de  la  volonte,  si  les pereeplions 
confuses  des  sens  ne  s'emparoient  de  notre  attention.  Dagegen  p*  2696.  Les  sens  nous 
fournissent  la  mattere  aux  reflexions  et  nous  ne  penserions  pas  mSme ?  d  la  pen- 
see,  si  nous  ne  pensions  ä  quelque  autre  chose,  c*est  ä  dire  aux  particu- 
larites  que  les  sens  fournissent. 


204  G.  Hartenstein,  [94 

der  der  allgemeinen  und  natürlichen  Motive  des  Handelns,  welche  Leibniz 
als  lumiere  naturelle  bezeichnet.*8)  Er  geht  daher  so  weit ,  dass  er  die 
gesammte  Arithmetik  und  Geometrie ,  überhaupt  alle  Conseqoenzen  aus 
Axiomen  und  Grundsätzen  für  ebenso  angeboren  erklärt,  wie  diese 
Axiome  und  Grundsätze  selbst.229)  Dazu  kommt  endlich,  dass  er  die 
Entscheidung  der  Frage,  ob  ein  bestimmter  Begriff  angeboren  sei,  von 
der  deutlichen  Darlegung  seines  Inhalts  abhängig  macht,  ohne  sich  dar- 
über bestimmt  auszusprechen ,  ob  dabei  der  Inhalt  des  Begriffs  selbst 
oder  eine  neben  ihm  hergehende  besondere  Einrichtung  des  mensch- 
lichen Geistes  das  eigentlich  Maassgebende  sein  soll;  vielmehr  ist  er  ge- 
neigt ,  beides  in  einander  fliessen  zu  lassen ; ao)  und  so  erklärt  er  nicht 
nur  im  Verlaufe  der  Erörterung,  dass  eine  Ablehnung  der  angebornen 
Erkenntnisse  in  seinem  Sinne  auf  einen  blossen  Wortstreit  hinauslaufen 
würde,  sondern  legt  am  Schlüsse  derselben  dem  Vertreter  der  Locke- 
schen Lehre  auch  den  Satz  in  den  Mund,  dass  Locke  die  Ansicht  in  dem 
Sinne,  in  welchem  er  sie  aufstelle,  vielleicht  gar  nicht  bestreite.231)  Und 
wirklich,  wenn  man  in  dem  Satze:  nihil  est  in  intellectu  quod  non  fuerit 


228)  a.  a.  0.  p.  2446,  §  4.  Vorzugsweise  deutlich  tritt  die  theoretische  Bedeu- 
tung des  sogenannten  Angeborenseins  in  den  Beispielen  hervor,  die  Leibniz  zur  Erläu- 
terung anführte.  So  9agt  er  p.  2 Ha.  Quant  d  cette  proposition :  le  quarre  riest  pas  un 
cercle,  on  peut  dire  qu'elle  est  inneef  cor  en  fenvisageant,  on  fait  une  subsumption  ou 
appkcation  du  principe  de  contradiction  d  ce  que  l'entendement  fournit  lui  meme,  des  qu'oti 
appercoit  que  ees  idees  qui  sont  innees  renferment  des  notums  incompatibles. 

229)  a.  a.  0.  p.  208a.  Dans  ce  sens  on  doü  dire  que  ioute  farithmetique  et  toule 
la  gSometrie  sont  itmees  et  sont  en  nous  dune  moniere  virtuelle,  en  sorte  qu'on  les  y  peut 
trouver  en  considerant  attentivement  et  rangeant  ce  qu'on  a  deja  dans  Feaprit ,  sons  se 
servir  daucune  verite  apprise  par  Vexperience.  p.  2  4  2a.  Je  ne saurais  admettre  cette  pro- 
position :  tout  ce  qu'on  apprend  riest  pas  inne.  Les  verites  des  nombres  sont  en  nous  et 
on  ne  laisse  pas  de  les  apprendre.  p.  2 476.  Je  prends  toutes  les  verites  necessaires  pour 
innies.  Eben  so  in  praktischer  Beziehung  p.  2 4  4a,  ,2 146. 

230)  a.  a.  0.  p.  24  9a.  Lorsqu'on  demande  le  moyen  de  connaitre  et  dexaminer 
les  principes  innees,  je  repond,  qu'excepte  les  insUncts  dont  la  raison  est  inconnue,  il  faul 
tacket  de  les  reduire  aux  premiers  principes ,  c'estädire,  aux  axiomes  identi- 
ques  ou  immediates  par  le  moyen  des  definitions,  qui  ne  fönt  autre  chose,  qu'une  ex- 
posilion  distincte  des  idees.  p.  24  46,  §  24  antwortet  er  auf  den  Einwurf,  dass  die  Zu- 
stimmung zu  gewissen  Sitzen  eben  so  gut  auf  der  Betrachtung  der  Natur  der  Sache, 
als  auf  ihrem  Angeborensein  beruhen  könne:  L'un  et  f  autre  est  vrai.  La  nature  des 
choses  et  la  nature  de  l'esprit  y  concourent  ; .  .•  Ce  qu'on  appelle  la  lumiere  naturelle 
suppose  une  connaissance  distincte,  et  bien  souvent  la  consideration  de  la  nature  des  choses 
riest  autre  chose  que  la  connaissance  de  la  nature  de  tesprit  et  de  ces  idees  innees. 

234)  a.  a.  0.  p.  2446.  p.  2246,  §  24. 


95]  Locke's  Lbhbe  von  der  menschl.  Erkenntniss  ü.  s.  w.  905 

in  sensu ,  nisi  inlellectm  ipse ,  die  drei  letzten  Worte  oft  als  die  Grenz- 
scheide zwischen  Locke  und  Leibniz  angesehen  hat,  so  bemerkt  Leibniz 
selbst,  dass  Locke  sich  diesen  Satz  mit  jenem  Zusätze  sehr  wohl  an- 
eignen könne.23*)  Angeborne  Vorstellungen  oder  Erkenntnisse  würde 
Locke  aber  gleichwohl  nicht  anerkannt  haben,  weil  er  darunter  etwas 
Bestimmteres  gedacht  wissen  wollte,  als  Leibniz. 


IX. 

Bei  diesem  Sachverhalt  kann  es  nicht  überraschen ,  dass  Leibniz 
die  Art,  wie  Locke  im  zweiten  Buche  die  Entstehung  und  Beschaffenheit 
des  menschlichen  Vörstellungskreises  beschreibt  und  die  Elemente,  aus 
denen  er  besteht,  unter  allgemeine  Bezeichnungen  zusammen fasst,  viel 
weniger  zu  bestreiten,  als  in  einzelnen  Punkten  zu  ergänzen  und  zu  be- 
richtigen~sucbt.  Dass  der  Vorstellungskreis  aus  dem ,  was  von  aussen 
dargeboten  wird,  und  was  das  Bewusstsein  in  sich  selbst  findet,  er- 
wächst, darüber  ist  im  Grunde  kein  Streit  zwischen  beiden;  die  That- 
sache  der  äusseren  und  inneren  Wahrnehmung  bezweifelt  Leibniz  so 
wenig  als  Locke,  und  für  die  Art,  wie  die  äussere  Wahrnehmung  zu 
Stande  kommt,  ist  bei  Leibniz  die  Leugnung  des  physischen  Einflusses 
und  die  an  dessen  Stelle  gesetzte  prästabilirte  Harmonie  nur  ein  allge- 
meiner Gesichtspunkt ,  der  für  die  Erklärung  der  concreten  Thatsachen 
hinter  die  Berufung  auf  die  bestimmten  —  gleichviel  ob  unabhängig  von 
der  prästabilirten  Harmonie  vorhandenen  oder  durch  sie  gesetzten  — 
Beziehungen  der  Dinge  zu  der  Seele  zurücktritt.  Locke  hatte  sich  be- 
gnügt, die  sinnlichen  Empfindungen  als  einen  durch  die  leiblichen  Organe 
mitbedingten  Erfolg  des  Verkehrs  mit  der  Aussenwelt  zu  bezeichnen, 
der  den  sie  bewirkenden  Ursachen  proportional  sei,  ohne  dass  die  Qua- 
lität der  Empfindung  mit  der  Qualität  der  Dinge  identisch  gedacht  wer- 
den dürfe;  bei  Leibniz  entsprechen  die  sinnlichen  Vorstellungen  der  Con- 
stitution des  Leibes ,  dessen  Veränderungen  wieder  von  den  Einwir- 
kungen anderer  Körper  abhängen ;  ja  er  bedient  sich  zur  Bezeichnung 


232)  a.  a.  0.  p.  223a.  Nihil  est  in  intelleetu,  quod  non  fuerit  in  sensu,  excipe:  nisi 
intellectus  ipse  . . .  Cela  s'accorde  assez  avec  votre  auteur  de  tessai,  qui  a  cherche  une 
bonne  partie  des  idSes  dans  ia  reflexion  de  i'esprit  sur  sa  propre  nature. 


SOG  G.  Hartenstein,  [96 

• 

dieser  Abhängigkeit  geradezu  des  Begriffs  der  Ursache  und  Wirkung.233) 
Die  Locke'sche  Unterscheidung  erster  und  zweiler  Qualitäten  bestreitet 
er  nicht;  vielmehr  ist  er  nur  bemüht  zu  zeigen,  dass  nicht  nur  den  er- 
sten, sondern  auch  den  zweiten  Qualitäten  ein  Verhällniss  der  Aehnlich- 
keit  mit  den  Dingen ,  auf  welche  sie  sich  beziehen,  zukomme ;  sie  ver- 
halten sich  wie  die  Protection  eines  Kreises  auf  eine  Ebene  zu  dem  pro- 
jicirten  Kreise  selbst,2**)  ein  treffendes  Gleichniss,  welches  Locke  viel- 
leicht nicht  gefunden,  aber  schwerlich  abgelehnt  haben  würde. 

Gegen  die  Behauptung  Locke's  dagegen,  dass  es  in  der  Seele  keine 
Vorstellungen  geben  könne  ohne  ein  Bewusstsein  derselben,  und  gegen 
die  damit  zusammenhängende  skeptische  Frage,  mit  welchem  Rechte 
man  das  Vorstellen  eben  so  für  das  Wesen  der  Seele  erkläre,  wie  die 
Ausdehnung  für  das  Wesen  des  Körpers,  erhebt  Leibniz  eine  ausführ- 
liche und  lebhafte  Einsprache.  Er  macht  dagegen  vor  Allem  wiederholt 
die  Thatsache  geltend,  dass  wir  eine  unbestimmte  Mannigfaltigkeit  von 
Vorstellungen  habeu,  ohne  uns  derselben  in  jedem  Augenblicke  bewusst 
zu  sein,  und  zeigt,  dass  dies  gar  nicht  anders  sein  könne,  indem  es 
weder  vorwärts  noch  rückwärts  eine  unendliche  Reihe  von  Bewusst- 
seinsacten  geben  könne.235)   Diese  Polemik  hängt  zusammen  mit  dem 


233)  a.  a.  0.  p.  SS 6a.  Les  perceptions  de  tarnt  repondent  tpujours  naiureüement 
d  la  Constitution  du  corps  . . .  Lame  riest  jamais  privee  du  secours  du  corps,  parcequ'elle 
exprime  toujours  son  corps  et  ce  corps  est  toujours  frappe  par  les  autres,  qui  tenviron- 
nent,  dune  infinite  de  monier  es,  mais  qui  ne  fönt  souvent  qu'une  impression  confuse. 
p.  332a,  §  4  5.  11  est  bien  raisonnable  que  Veffet  repond  d  la  cause,  et  comment  assurer 
le  contraire? 

m 

234)  a.  a.  0.  p.  234  a.  II  ne  faut  point  s'imaginer  que  ces  idees  de  la  couleur  ou  de 
la  douleur  soient  arbitraires  et  sans  rapport  ou  conneteion  naturelle  avec  leurs  causes;  ce 
riest  pas  Yusage  de  dieu  dtagir  avec  si  peu  d ordre  et  de  raison.  Je  dirois  plutot  quil  y  a 
mne  moniere  de  ressemblattce ,  non  pas  entieiv  et  pour  ainsi  dvre  in  terminis;  mais  expres- 
sive ou  une  moniere  par  rapport  d  f  ordre,  comme  une  ellipse  et  mime  uns  parabole  ou 
hyperbole  ressemblent  en  quelque  facon  au  cercle ,  dont  elles  sont  la  projections  sur  le 
plan,  puisqu'il  y  a  un  certain  rapport  exact  et  naturel  entre  ce  qui  est  projette  et  la  pro- 
jection.  Zu  den  ersten  Qualitäten  will  Leibniz  auch  die  Kraft  gerechnet  wissen  in  den 
Füllen,  wo  ein  deutlicher  Begriff  derselben  möglich  ist;  p.  234a.  Je  crois  qrion  pour- 
roü  dire  que  hrsque  la  puissance  est  intelligible,  eile  doü  itre  comptee  parmi  les  qualites 
premieres;  mais  lorsqu'elle  riest  que  sensible  et  ne  dorme  qriune  idee  confuse,  il  faudra  la 
mettre  parmi  les  qualites  secondes.  p.  245a  bedien}  er  sich  einmal  des  Ausdrucks  qua- 
lites originales  ou  connoissables  distinctement. 

235)  a.  a.  0.  p.  224,  §  Hflgg.  —  p.  226,  §  49.  Lorsque  vous  avancez  qriil  riy 
a  rien  dans  Farne,  dont  eile  ne  s'appercowe,  c'est  une  petition  de  principe  ...  St  nous 


97]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  d.  s.  w.  207 

Gewicht,  welches  er  auf  die  kleinen  unmerklichen  Vorstellungen  legt, 
deren  Gesammtresullate  sich  dem  Bewusstsein  aufdringen,  während  sie 
selbst  sich  dem  Bewusstsein  entziehen.236)  Die  Fruchtbarkeit  dieses  Ge- 
dankens für  die  Psychologie  ist  unabhängig  von  der  nach  dem  System« 
der  prästabilirten  Harmonie  der  Seele  beizulegenden  absoluten  Sponta- 
neität; aber  gleichwohl  ist  er  von  keinem  entscheidenden  Einfluss  auf 
die  Lehre  von  der  Erkenntniss,  die  unmöglich  in  unbewussten  Vorstel- 
lungen zu  Stande  kommen  kann ,  und  es  darf  daher  genügen  ihn  hier 
nur  kurz  bezeichnet  zu  haben. 

Um  die  Gesammtheit  unserer  Vorstellungen  zu  classificiren ,  hatte 
Locke  zwischen  einfachen  und  zusammengesetzten  Vorstellungen  unter- 
schieden und  die  letzteren  in  Substanzen ,  modi  und  Relationen  einge- 
teilt. Die  erstere  Unterscheidung  ist  Air  Leibniz  selbst  eine  der  wesent- 
lichen Grundbestimmungen  seiner  eigenen  Psychologie,  und  er  begnügt 
sich  daher  Locke  gegenüber  mit  der  Bemerkung,  dass  Einfachheit  hier 
nur  die  für  den  Empfindenden  selbst  vorhandene  Ununterscheidbarkeit 
eines  Mannigfaltigen  bezeichne,  wobei  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlos- 
sen sei ,  dass  das,  was  wir  als  einfach  empfinden,  dennoch  zusammen- 
gesetzt sei.237)  Ebenso  erklärt  er  sich  aber  auch  mit  der  Unterscheidung 
zwischen  Substanzen,  modis  und  Relationen  einverstanden,238)  obwohl  er 
einige  Bemerkungen  darüber  hinzufügt ,  dass  der  Unterschied  zwischen 


uccordions  ce  principe,  nous  croirions  choquer  Xexperience  et  la  raison.  . . .  Mais  outre 
que  nos  adversaires  . . .  riont  point  äpporte  de  preuve  de  ce  qu'ils  avancent,  . .  il  est  aise 
de  leur  montrer  le  contraire,  c'est  d  dire,  qu'il  n'est  pas  possible,  que  nous  reflechissions 
toujours  expressement  sur  toutes  nos  pensees.  Aulremeni  l'esprit  ferait  reflexion  sur  chaque 
reflexion  ä  tinfini  sans  pouvoir  jamais  passer  ä  une  nouvelle  pensee.  Par  exemple  en 
mfappercevant  de  quelque  sentiment  present,  je  devrais  toujours  penser  que  fy  penset  et 
penser  encore  que  je  pense  d'y  penser  et  ainsi  ä  Tinfini.  Mais  il  faut  bien  que  je  cesse  de 
reflechir  sur  toutes  ces  reflexions  et  qu'il  y  ait  enfin  quelque  pensee  qu*on  laisse  passer  sans 
y  penser;  autrement  oh  demeureroit  toujours  sur  la  meme  chose. 

236)  Vgl.  u.  A.  den  avant-propos  zu  den  nouveaux  essais  p.  4  966 — 4  98a. 

237)  a.  a.  0.  p.  227a.  Je  crois  qu'on  peut  dire  que  ces  idees  sensibles  sont  simples 
en  apparence,  parce  qu'  etant  confuses  elles  ne  donnent  point  d  Fesprit  le  moyen  de  distin- 
guer  ce  qu'elles  contiennent  ....  Je  consens  pourtant  volontiers  qu'on  traite  ces  idees  de 
simples,  parce  qu'  au  moins  notre  apperception  ne  les  divisc  pas.  p.  250a,  §  30.  Dans 
le  fond,  les  idees  ...des  qualites  sensibles  ne  Hennent  leur  rang  parmi  les  idees  simples 
ou'd  cause  de  notre  ignorance. 

238)  a.  a.  0.  p.  238a.  Celle  division  des  objets  de  nos  pensees  en  substances,  modes 
et  relations  est  assez  ä  mon  gre\ 

Abhamil.  d.  K.  S.  Ges.  d.Witf.  X.  1  4 


208  G.  Hartenstein,  [98 

den  modU  und  Relationen  schwankend  sei ,  und  die  Anwendung  des 
Substanzbegriffs  auf  Aggregate  einer  Vielheit  von  Dingen  zurückweist.239) 
Auch  die  Locke'sche  Aufzählung  der  verschiedenen  geistigen  Operatio- 
nen, durch  welche  das  menschliche  Denken  den  unmittelbar  gegenwar- 
tigen sinnlichen  Vorstellungsinhalt  umgestaltet  und  Überschreitet  und  in 
deren  innerer  Auffassung  Locke  die  Quelle  der  von  der  sinnlichen  Em- 
pfindung unabhängigen  Vorstellungen  sucht,  nämlich  das  bewusste  Vor* 
stellen,  das  Festbalten  der  Vorstellungen  durch  die  Aufmerksamkeit  und 
das  Gedächtniss,  die  Unterscheidung  und  Vergleichung,  die  Verknüpfung 
und  Erweiterung  derselben,  begleitet  er  lediglich  mit  Bemerkungen, 
welche  nicht  gegen  die  Unterscheidung  dieser  Thätigkeiten  gerichtet 
sind,  sondern  auf  ihre  nähere  Bestimmung  und  speziellere  Schilderung 
abzielen  .m) 

Nur  in  einem  Punkte,  der  zugleich  eine  allgemeine  Bedeutung  hat, 
macht  Leibniz  eine  der  Locke'schen  Lehre  entgegengesetzte  t  oder  sie 
vielmehr  berichtigende  Begriffsbestimmung  geltend.  Sie  bezieht  sich  auf 
die  ZurUckfbhrung  der  verschiedenen  geistigen  Thätigkeiten  auf  ver- 
schiedene Seelen  vermögen.  Dass  Locke  mit  dem  Gebrauch  dieses  Be- 
griffs kein  Wissen  über  das  Wesen  der  Seele  in  Anspruch  genommen, 
sondern  diesen  Ausdruck  nur  benutzt  hatte ,  um  sich  in  einer  der  ge- 
wöhnlichen Auffassung  bequemen  Weise  versländlich  zu  machen,  ist 
oben  (S.  144)  durch  seine  eigenen  Worte  belegt  worden;  gleichwohl 
legt  ihm  Leibniz  wenigstens  indirect  die  Absicht  unter,  als  habe  er  da- 
mit mehr  sagen  wollen,  als  der  Fall  ist»  und  doch  zugleich  weniger 
sage,  als  die  Sache  verlange.  Blosse  Vermögen  ohne  ein  mit  ihnen  zu* 
gleich  gesetztes  Streben  seien  leere  Möglichkeiten;  man  müsse  sich 
deutlicher  darüber  erklären ,  worin  ein  solches  Vermögen  —  und  zwar 
zunächst  das  Gedächtniss  —  bestehe  und  wie  es  wirke,  und  dann  werde 
man  finden,  dass  es  in  der  Seele  gewisse  Dispositionen  gebe,  als  Reste 


239)  a.  a.  0.  p.  2386. 

240)  a.  a.  0.  L.  II,  eh.  XI — XIII  —  Psychologisch  am  wichtigsten  ist,  was  Leib- 
niz über  die  Perception  und  ihren  Unterschied  von  der  Apperception  sagt.  Es  nag 
nicht  unerwähnt  bleiben ,  dass  er  diesen  Unterschied  im  Wesentlichen  blos  als  einen 
quantitativen  bestimmt,  p.  233a.  faimerais  mieux  distmguer  entre  pereeptüm  et 
entre  apperception.  La  perception  de  la  lumiere  . .  par  exemple,  dont  nous  nous  apperce- 
vons,  est  composee  de  quantite  de  petites  pereeptions,  dont  nous  ne  nous  appercevons  pas 
et  un  bruit  dont  nous  avons  perception,  mais  ou  nous  ne  pretions  pomt  garde,  devient 
apperceptible par  une petite  addition  ou  augmentation. 


•ö]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntmss  u.  s.  w.  209 

früherer  Eindrücke ,  die  nur  gelegentlich  zum  Bewusslsein  kommen.241) 
Die  Frage,  ob  diese  Seelenvermögen  sammt  den  in  ihnen  liegenden  Dis- 
positionen verschiedene  Wesensbestimmungen  der  Seele  selbst  sind, 
berührt  er  an  dieser  Stelle  nicht;  vermöge  seines  Begriffs  von  der  Sub- 
stanz als  dem  Träger  einer  unbestimmten  Mannigfaltigkeit  von  Kräften 
hatte  diese  Frage  eigentlich  für  ihn  gar  keine  Bedeutung  und  desshalb 
sagt  er  später  einmal  ganz  kurz,  nicht  die  verschiedenen  Vermögen  seien 
das  eigentlich  Thätige ,  sondern  die  Substanz  vermittelst  ihrer  Vermö- 
gen.242) Die  Lücke  jedoch,  welche  in  der  Frage  nach  den  Bedingungen  ' 
bestimmter  Tätigkeiten  entweder  der  einzelnen  Seeleo  vermögen 
oder  der  Seelensubstanz  liegt,  ist  bei  Leibniz  so  wenig  ausgefüllt  als 
bei  Locke,  da  er  es  unterlässt  über  die  Art,  wie  die  »kleinen  unmerk- 
lichen Vorstellungen«  im  Bewusstsein  wirken,  eine  ins  Einzelne  gebende 
Rechenschaft  zu  geben.  Locke  legt  der  Seele  eine  gewisse  Anzahl  von  Ver- 
mögen bei,  ohne  dadurch  ein  Wissen  über  die  Art  und  die  Ursachen  ihrer 
Thätigkek  zu  beanspruchen;  Leibniz  beruft  sich  auf  eine  unbestimmte 
Vielheit  unter  sich  zusammenhängender  Thätigkeitsacte,  deren  Resultat 
das  sei,  was  im  -Bewusstsein  innerlich  wahrnehmbar  wird ;  aber  in  der 
unbestimmten  Allgemeinheit,  in  welcher  er  diesen  Gedanken  Ittsst,  passt 
seine  Vergleicbung  des  Geistes  mit  einer  nicht  einförmigen  und  blos 
passiven,  sondern  gefalteten,  elastischen,  auf  die  empfangenen  Einwir- 
kungen selbstständig  reagirenden  Membrane,  nur  mit  Ausnahme  der 
durch  die  Falten  dieser  Membrane  angedeuteten  angebornen  Begriffe, 
auf  die  Ansicht  Locke's  vom  geistigen  Leben  so  gut  wie  auf  die  sei- 
nige. **) 


241)  a.  a.  0.  p.  236a.  Je  vne  tonne  que  vous  vous  puissiez  toujours  payer  de  ces 
puissances  ou  facultes  nues,  que  vous  rejetteriez  apparemment  dans  les  philosophes  de 
Feeole.  11  faudrait  expliquer  un  peu  plus  distinctement ,  en  quoi  consiste  oette  faculte  et 
comtnent  eile  s'exerce,  et  cela  feroit  connaitre  qu'il  y  a  des  dispositions,  qui  sont  des  restes 
des  impressions  passees,  . . .  dont  on  ne  s'appercoit,  que  lorsque  la  memoire  en  trouve 
quelque  oceasion.  p.  2226.  Les  facultes  sans  quelque  acte,  les  pures  puissances  de  fe'cole, 
ne  sont  que  des  jictions,  que  la  nature  ne  connoit  point  et  qu'on  riobtient  qu'en  faisant  des 
abstractions.  p.  2236.  Les  puissances  veritables  ne  sont  jamais  des  simples  possibilites. 
p.  251a.  fentends  la  puissance  dans  le  sens  plus  noble,  %.  ou  la  tendance  est  Joint  e  d  la 
faculte.  cf.  p.  2716. 

242)  a.  a.  0.  p.  252a.  Ce  ne  sont  pas  les  facultes  ou  qualites,  qui  agissent}  mais 
les  substances  par  les  facultes. 

s         243)  a.  a.  0.  p.  238a. 


210  G.  Hartenstein,  [400 


X. 

Ganz  anders  gestaltet  sich  dagegen  das  Verhältniss  zwischen  Leib- 
niz  und  Locke  rücksichtlich  der  Frage  nach  dem  Erkenntnissgehalt, 
der  den  Begriffen,  in  welchen  der  factisch  vorhandene  Vorstellungskreis 
sich  bewegt,  zugesprochen  werden  kann.  Es  mag  erlaubt  sein*,  die  Kri- 
tik Leibniz's  in  dieselbe  Reihenfolge  zu  ordnen,  in  welcher  oben  die 
Erörterungen  Locke's  dargelegt  worden  sind. 

Der  wesentliche  Grund  der  Verzichtleistung' Locke's  auf  alle  Meta- 
physik im  Sinne  einer  Erkenntniss  des  Wesens  der  Dinge  Hegt  in  seinen 
Bedenken  gegen  den  Begriff  des  Dings  mit  der  Mehrheit  seiner  Eigen- 
schaften und  Kräfte ,  dem  die  Schulphilosophie  die  Worte  Substanzen, 
Attribute  und  Accidenzen  substituirt  hatte.  Dieser  ganze  Begriff  war  für 
ihn  ein  —  seiner  psychischen  Genesis  nach  freilich  nicht  genauer  unter- 
suchtes —  Product  aus  dem  Zusammenwirken  der  äusseren  Wahrneh- 
mungen mit  der  Vorstellungsthätigkeit,  welches  über  die  wahre  Be- 
schaffenheit dessen ,  was  dadurch  bezeichnet  werden  soll ,  keinen  Auf- 
schluss  gibt.  Es  ist  oben  bemerkt  worden ,  dass  Locke  in  dieser  that- 
sächlich  vorhandenen  Vorstellungsart,  vermöge  deren  wir  für  die  erfah- 
rungsmässig  gegebenen  Complexionen  von  Eigenschaften  das  Ding  als 
ihren  Träger  voraussetzen  und  hinzudenken,  ein  Problem  eines  fort- 
schreitenden Denkens  weder  gefunden  noch  auch  nur  gesucht  habe;  er 
betrachtet  sie  einfach  als  eine  dunkle  Region ,  welche  aufzuhellen  dem 
menschlichen  Denken  nicht  vergönnt  ist.  Für  Leibniz  war  der  Begriff 
der  Substanz  als  eines  mit  einer  Mehrheit  nicht  ruhender  Eigenschaften, 
sondern  thätiger  Kräfte  ausgestatteten  Wesens  der  Fundamentalbegriff 
seiner  Metaphysik ,  die  dadurch  im  Allgemeinen  den  Charakter  einer 
Reaction  der  aristotelischen  Anschauungsweise  gegen  die  mechanische 
Naturphilosophie  namentlich  der  Cartesianischen  Schule  bekommt.  Man 
wird  in  seinen  Schriften  vergeblich  nach  einer  Deduction,  nach  dem 
Versuch  eines  Beweises  der  Notwendigkeit  suchen,  den  Begriff 
der  Substanz  in  diesem  und  keinem  andern  Sinne  an  die  Spitze  der  Me- 
taphysik zu  stellen;  um  so  interessanter  ist  es  zu  untersuchen,  in  wel- 
cher Weise  und  mit  welchem  Erfolge  er  die  Locke'sche  Behauptung  der 
gänzlichen  Dunkelheit  und  wissenschaftlichen  Unbrauchbarkeit  dieses 
Begriffs  zu  entkräften  sucht.  ' 


*<M]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  ü.  s.  w.  21 1 

Dass  er  nämlich  an  den  von  Locke  geltend  gemachten  Schwierig- 
keiten keinen  Anstoss  nimmt,  verräth  sich  schon  da,  wo  bei  Locke  zuerst 
des  Begriffs  der  Suhstanz  als  eines  solchen ,  den  man  voraussetze,  ohne 
eigentlich  zu  wissen,  was  man  damit  meine ,  Erwähnung  geschieht.  Er 
bemerkt  dazu  ganz  kategorisch,  dieser  Begriff  sei  keineswegs  so  dunkel 
als  man  denke ;  man  könne  daran  so  viel  erkennen  als  nöthig  sei  und 
als  man  an  den  Dingen  überhaupt  erkennen  könne.244)  Den  Commentar 
zu  dieser  kurzen  Aeusserung  enthält  zunächst  das  23.  Capitel  des  zwei- 
ten Buchs«  Hier  leugnet  Leibniz  zuvörderst,  dass  wir  dem  das  Ding  be- 
zeichnenden Vorstellungscomplexe  »unbedachter  Weise«  die  Einheit  des 
Dings  voraussetzen;  die  Vorstellung  oder  der  Begriff  des  einen  Sub- 
jects  brauche  desshalb  nicht  eine  einfache  Vorstellung  zu  sein.345)  Locke 
hatte  die  wesentliche  Schwierigkeit  in  der  Frage  gefunden,  mit  welchem 
Rechte  wir,  da  den  Eigenschaften  oder  auch  den  Kräften  der  Dinge  keine 
selbstständige  Existenz  beigelegt  werden  könne,  und  sie  doch  unter 
einander  in  einer  Weise  verknüpft  seien ,  über  welche  sie  selbst  keinen 
Ausschluss  geben,  ihrer  Gesammtheit  die  Voraussetzung  eines  Substrats, 
einer  Substanz  unterschieben,  die  selbst  nicht  wahrgenommen  wird  und 
gleichwohl  der  unbekannte  Träger  der  Eigenschaften  und  Kräfte  sein 
soll.  Leibniz  erwidert,  man  thue  ganz  recht  so  zu  denken  und  man  habe 
sich  an  die  Voraussetzung  dieses  Substrats  zu  gewöhnen,  weil  wir  von 
vorn  herein  Subjecte  mit  mehreren  Prädicaten  denken  oder  zu  denken 
haben.  Es  ist  nicht  ganz  deutlich,  ob  Leibniz  damit  einen  Parallelismus 
des  logischen  Verhältnisses  zwischen  dem  Begriff  und  seinen  Merk- 
malen, und  des  reellen  zwischen  dem  Dinge  und  seinen  Eigenschaften 
geltend  machen  will,  vermöge  dessen  diese  zusammen  gehören,  wie 
jene;  er  fügt  jedoch  hinzu,  das  Ding  ohne  die  Eigenschaften  (die  abs- 
tracte  Substanz)  und  die  Eigenschaften  ohne  die  Substanz  (die  Wärme, 
die  Schwere  als  Abstracta),  würden  unbegreiflich  sein,  aber  eine  Sub- 
stanz mit  ihren  Eigenschaften  zu  denken  habe  keine  Schwierigkeit  und 


244)  a.  a.  0.  p.  2386.  L'idee  de  la  substance  riest  pas  si  obscure  qu'on  pense. 
On  en  peut  connoitre  ce  qui  se  doit  et  ce  qui  se  connoit  en  autres  choses;  et  meme  la  con- 
naissance  des  concreto  est  toujours  anterieure  ä  cellc  des  abstraüs;  on  concoü  plus  le 
chaud  que  la  chaleur. 

245)  a.  a.  0.  p.  2716.  Je  ne  vois  rieft  dans  les  expressions  recues  qui  merite  dMtre 
taxe  dinadvertance,  et  quoiquon  reconnoisse  un  seul  sujet  et  uns  seule  idee,  on  ne  recon~ 

»not*  pas  wie  seule  idee  simple. 


212  G.  Hartenstein,  [102 

ihr  Begriff  sei  keines weges  leer,  denn  durch  die  Eigenschaften  erfahre 
man  eben,  was  die  Substanz  ist.'246)  Lässt  man  nun  die  Frage,  ob  das 
logische  Verhältniss  zwischen  dem  Begriff  und  seinen  Merkmalen  einen 
genügenden  Aufschluss  über  das  Verhältniss  zwischen  dem  Dinge  und 
seinen  Eigenschaften ,  der  Substanz  und  ihren  Attributen  darbiete ,  da- 
hingestellt sein,*47)  so  trifft  doch  Locke  nicht  der  Vorwurf  leerer  Abs- 
traclionen,  durch  welche  er  Schwierigkeiten  erkünstele,  die  in  der  Auf- 
fassung des  Gegebenen  nicht  Hegen.  Locke  spricht  nicht  von  der  Sub- 
stanz im  Allgemeinen,  d.  h.  von  einer  von  ihren«Eigenschaften  losge- 
lösten Substanz;  sondern  von  dem  allgemeinen  Begriff  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Substanz  und  Accidenz  und  behauptet,  dass  dieser 
Begriff  weder  über  die  Art  der  Verknüpfung  der  letzteren  untereinander 
and  mit  der  erste  reu,  noch  über  das  eigene  Was  der  Substanz  eine  Er- 
kenntniss  enthalte;  Leibniz  ist  der  Ansicht,  dass  diese  Erkenntniss  sich 
von  selbst  darbiete,  wenn  man  eine  bestimmte  Substanz  mit  ihren  be- 


246)  a.  a.  0.  p.  27  Ja,  §  \ .  Je  crois  qu'on  a  raison  de  penser  ainsi  et  nous  riavons 
que  faire  de  nous  y  accoutumer  ou  de  le  (le  substratum)  supposer,  puisque  dabord 
nous  concevons  plusieurs  predicats  d'un  meme  sujet  et  ces  mots  metaphoriques  de 
soutien  ou  de  substratum  ne  signißent  que  cela;  de  sorte  que  je  ne  vois  point  pourquoi  on 
s'y  fasse  de  la  difficulte.  Au  contraire  c'est  plutot  le  concretum,  comme  savant,  chaud, 
hrisant,  qui  nous  vient  dans  tesprit,  que  les  abstractions  ou  qualites  {ear  ce  sont  elles,  qui 
sont  dans  l'objet  substantiel  et  non  pas  les  idees),  comme  savoir  chaleur  lumiere  etc.,  qui 
sont  bim  plus  difficiles  ä  comprendre  . . .  Ainsi  cest  nodum  in  scirpo  quaerere,  si  je  lose 
dire,  et  renverser  les  choses  que  de  prendre  les  qualites  ou  autres  lermes  abstraits  pour  ce 
qu'il  y  a  de  plus  aise  et  les  concreto  pour  quelque  chose  de  fort  difficile.  §  2 .  En  distin- 
guant  deux  choses  dans  la  substance,  les  attributs  ou  predicats  et  le  sujet  commun  de  ces 
predicats,  ce  riest  pas  merveille,  qu'on  ne  peut  rien  concevoir  de  particulier  dans  ce  sujet. 
II  le  faut  bien  puisqu'on  a  deja  separe  tous  les  attributs  ou  Ion  pourroit  concevoir  quelque 
detail.  Ainsi  demander  quelque  chose  de  plus  dans  ce  pur  sujet  en  gen  erat,  que  ce 
qu'il  faut  pour  concevoir  que  cest  la  meme  chose,  . .  cest  demander  timpossible  et  contre- 
venir  ä  sa  propre  supposition,  qu'on  a  fait  en  faisant  abslraction  et  concevant  separement 
le  sujet  et  ses  qualites  ou  accidences.  On  pourrait  appliquer  la  meine  pretendue  difficulte 
ä  la  notion  de  Ntre;  . . .  cor  tout  detail  etant  exclus  par  la,  on  aura  aussi  peu  ä  dire  que 
lorsqu'on  demande  ce  que  cest  que  la  pure  substance  en  gen  erat. 

t47)  Die  aristotelisch-scholastische  Metaphysik  findet  süllschweigend  in  der  Ver- 
knüpfung einer  Mehrheit  von  Merkmalen  in  der  Einheit  des  Begriffs  den  Rechtferti- 
gungsgrund für  den  Begriff  der  Substanz  mit  mehreren  Attributen  oder  Acctdenzen. 
Der  Widerspruch  dagegen  ist  alt,  und  trieb  die  Megariker  zu  dem  entgegengesetzten 
Extrem  in  der  Verwerfung  aller  nichtidentischen  Sätze.  Vgl.  meinen  Aufsatz:  über  dte 
Bedeutung  der  megarischen  Schule  für  d.  Gesch.  d.  metaphys.  Probleme  in  d.  Berich- 
ten der  Kön.  Sachs.  Ges.  d.  Wissensch.  Bd.  1,  p.  203flgg. 


403]  Locke's  Lehre  von  der  mbnschl.  Erkenntniss  u.  b.  w.  213 

stimmten  Accidenzen  auffasse.  Dies  verräth  sich  in  der  Art,  wie  er 
später  den  Locke'schen  Satz  bestreitet ,  dass  wir  nicht  im  Stande  sind, 
über  die  Dinge,  insofern  wir  auf  sie  die  Begriffe  der  Substanz  und  der 
Accidenzen  übertragen,  streng  allgemeine  Satze  zu  erkennen.248)  Gerade 
weil  sich  in  den  Eigenschaften  das  Wesen  der  Dinge  kund  gebe,  kön- 
nen wir  von  ihnen  allgemeine  Sätze  aussagen ;  und  selbst,  wenn  unsere 
Begriffe  von  den  Dingen  nur  eine  provisorische  Bedeutung  haben  und 
durch  neue  Erfahrungen  einer  Erweiterung  oder  näheren  Bestimmung 
unterliegen  sollten,  würde  es  gleichwohl  gestattet  sein,  den  Dingen  ein 
inneres  Wesen  beizulegen,  welches  sich  durch  die  wahrnehmbaren 
Eigenschaften  zu  erkennen  gibt.249)  Dass  wir  die  Art  des  Zusammen- 
hangs der  Eigenschaften  unter  sich  und  mit  der  Substanz  nicht  erkennen 
können,  gibt  Leibniz  zu;  wir  wissen  lediglich  durch  die  Erfahrung, 
dass  im  Wesen  des  Goldes  die  Schwere  mit  der  Dehnbarkeit  verbun- 
den ist;  aber  wir  lernen  dadurch  einen  Körper  kennen,  dessen  specifi- 
sches  Wesen,  obgleich  uns  unbekannt,  der  Grund  dieser  Eigenschaf- 
ften ist  und  sich  uns  wenigstens  dunkel  dadurch  zu  erkennen  gibt.260) 
Nur  müsse  man  nicht  verlangen,  dass  selbst  wenn  wir  die  innere  Con- 
stitution des  Körpers  und  damit  die  Ursachen  seiner  sinnlichen  Eigen-* 


248)  L.  IV,  eh.  VI.  Die  Erörterung  Locke's  im  31.  Cap.  des  zweiten  Buchs  über 
diesen  Gegenstand  übergeht  Leibniz  mit  Stillschweigen. 

249)  a.  a.  0.  p.  3566.  Nous  pouvons  itxe  assures  de  mille  verites,  qui  regardent 
Vor  ou  ce  corps  dont  l' essence  interne  se  fait  connaitre  par  la plus  grande  pe- 
santeur  comme  ici  bas  ou  par  la  plus  grand  duetilite  ou  par  d'autres  marques.  Car  nous 
pouvons  dire  que  le  corps  de  la  plus  grande  duetilite  connue  est  aussi  le  plus  pesant  de 
tous  les  corps.  Nach  einer  längern  Auseinandersetzung,  darüber  dass  viele  dieser  We- 
sensbestimmungen möglicherweise  nur  provisorisch  seien,  schliesst  er  p.  3576:  cepen- 
dant  il  sera  toujours  permis  et  raisonnable  dentendre  qu'il  y  a  une  essence  reelle  interne 
appartenante  par  une  proposition  reciproqne  sott  au  genre,  soit  aux  especes,  ktquelle  se 
fait  connaitre  ordinairement  par  les  marques  externes. 

250)  a.  a.  0.  p.  359a.  Nous  savons  presque  aussi  certainement  que  le  plus  pesant 
de  tous  les  corps  connus  ici  bas  est  fixe,  que  nous  savons  certainement  qu'il  fera  jour  de- 
rnam.  Cest  paroe  qu'on  fa  experimente  cent  müle  foisf  c' est  une  certitude  ex- 
perimentale  et  de  fait,  quoique  nous  ne  connaissions  point  la  liaison  de  la  fixüe 
avec  les  autres  quaUtes  de  ce  corps.  Au  reste  il  ne  faut  point  opposer  deux  choses  qui 
s'aecordent  et  reviennent  au  m&ne.  Quand  je  pense  ä  un  corps,  qui  est  en  mime  temps 
jaune,  fusible  et  resistant  ä  la  coupelle,  je  pense  ä  un  corps  dont  V essence  speeifi- 
que,  quoique  inconnue  dans  son  intörieur9  fait  emaner  ces  qua- 
Utes de  son  fonds  et  se  fait  connaitre  confusement  au  moins  par  elles.  Je  ne  vois  rien  de 
mauvais  en  cela. 


214  G.Hartenstein,  [104 

Schäften  (der  qualites  secondes)  wirklieb  erkennen  könnten,  uns  nun  auch 
in  sinnlich  anschaulicher  Weise  deutlich  werden  solle,  wie  diese  sinn- 
lichen Phantome  entstehen ,  die  ein  verworrenes  Resultat  der  Einwir- 
kungen der  Körper  auf  uns  sind;  es  würde  das  heissen,  eine  Täuschung 
durch  ihre  Erklärung  zerstören  und  sie  sich  doch  erhallen  wollen.351) 

Gerade  dieser  Begriffeines  unbekannten  Wesens  aber,  dessen 
Was  sich  durch  seine  wahrnehmbaren  äusseren  Eigenschaften  zu  er- 
kennen und  auch  nicht  zu  erkennen  geben  soll,  dergestalt,  dass  wir 
rücksichtlich  des  Zusammenhangs  desAeusseren  mit  dem  Inneren  nichts 
wissen,  als  was  uns  die  empirische  Thatsache  der  Verknüpfung  der 
Eigenschaften  in  der  vorausgesetzten  Einheit  des  Dings  lehrt,  ge- 
rade dieser  Begriff  ist  es ,  an  dem  Locke  Anstoss  genommen  und  wel- 
chem er  jede  wissenschaftliche  Brauchbarkeit  abgesprochen  hatte.  Leib- 
niz  ist  hier  in  seinen  Anforderungen  an  ein  Wissen  über  das  Wesen  der 
Dinge  jedenfalls  viel  genügsamer  als  Locke;  es  stört  ihn  darin  nicht 
einmal  die  von  ihm  übrigens  gebilligte  Auseinandersetzung  Locke's, 
dass  der  allergrösste  Theil  dessen,  was  wir  den  Dingen  als  Eigenschaft 
beilegen,  auf  Beziehungen  und  Verhältnissen  zu  andern  Dingen  beruht 
und  ihnen  folglich  gar  nicht  als  ihr  eigenes  Wesen  beigelegt  werden 
kann252)  Dass  Alles  das ,  was  wir  von  dem  Wesen  der  Dinge  wissen, 
lediglich  auf  der  Erfahrung  beruhe,  erkennt  Leibniz  so  vollständig  an, 
als  es  nur  der  entschiedenste  Empirist  thun  könnte,  und  gesieht  desshalb 
am  Schlüsse  der  ganzen  Erörterung  zu,  dass  dieses  Wissen  kein  mela- 


25  t)  a.  a.  0.  p.  358a.  Ces  idees  sensitives  dependent  du  detail  des  figures  et  mou- 
vemens  et  les  expriment  exaetement,  quoique  nous  ne  puissions  pas  y  demiler  ce  detail 
dans  la  confusion  dun  Irop  grande  muUilude  et  petitesse  des  actions  mecaniques,  qui  frap- 
pent  nos  sens.  Cependant  si  nous  elions  parvenu  d  la  Constitution  interne  de  quelque 
corps  nous  verrions  aussi  quand  ils  devraient  avoir  ces  qualites,  qui  seroient  reduites  elles 
meines  d  leurs  raisons  intelligibles ;  quand  meme  il  ne  seroit  jamais  dans  notre  pouvoir  de 
les  reconnaitre  sensiblement  dans.  ces  idees  sensitives,  qui  sont  un  resultat  confus  des  actions 
de  corps  sur  nous,  ...  p.  3586.  De  vouloir  que  ces  pkant&mes  confus  demeurent  et  que 
cependant  on  y  demile  les  ingrediens  par  la  pnantaisie  meme  c'esl  se  contredire ,  c'est 
vouloir  avoir  le  plaisir  d'Stre  trompe  par  une  agreable  perspective  et  vouloir  qu'en  mime 
tems  Cocil  voie  la  tromperie.  Wie  wenig  Leibniz  das  Bedürfniss  fühlt,  in  diesem  Punkte 
die  gewöhnliche  Vorstellungsart  zu  berichtigen,  zeigt  u.  A.  p.  2986,  wo  er  bei  Gelegen- 
heit einer  Erörterung  über  die  Präpositionen  sich  auf  die  Inh'ärenz  der  Accidenzen  in 
ihrem  Subject  oder  der  Substanz  als  die  natürliche  Vorslellungsart,  die  in  der  Sprache 
ihren  Ausdruck  finde,  beruft. 

252)  a.  a.  0.  p.  359a,  §  H. 


105]  Locke's  Lehre  von  der  mbnschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  215 

physisches,  d.  h.  aus  den  Begriffen  selbst  abgeleitetes  sei,  sondern  nur 
eiüe  moralische  oder  physische  Gewissheit  ei nsch Hesse;253)  aber  er 
übersieht  dabei ,  dasö  Lotke  zwar  den  Belehrungen  der  Erfahrung  so 
zugänglich  war,  wie  er  selbst,  dass  er  aber  dabei  zugleich  eine,  wenn 
auch  nicht  aus  blossen  Begriffen  abgeleitete,  aber  doch  eine  mit  den 
Ansprüchen  auf  Erkenntniss ,  mit  denen  eine  gewisse  Vorstellungsart 
auftritt,  vereinbare  und  ihnen  entsprechende  Begriffsbestimmung  ver- 
langt,  welche  er  eben  in  dem  hergebrachten  Substanzbegriff  vermisst. 

Zu  der  Zeit,  zu  welcher  das  Werk  Locke's  ihm  bekannt  wurde, 
hatte  Leibniz  seine  eigene  Metaphysik  schon  festgestellt  und  es  ist  nicht 
zu  verwundern,  dass  er  den  Mittelpunkt  derselben,  den  Begriff  der  Sub- 
stanz,  Locke's  Einwendungen  gegenüber  nicht  fallen  lassen  wolhe.  Für 
Leibniz  war  die  Substanz  nicht  sowohl  der  Trager  einer  Mehrheit  ruhen-* 
der  Eigenschaften ,  als  vieiraehr  der  Mittelpunkt  einer  Mannigfaltigkeit 
von  Thtttigkeiten.  Der  damals  durch  Naturforscher  und  Philosophen, 
die  er  häufig  als  Reformatoren  bezeichnet,  im  Gegensatze  zu  der  aristo-« 
telisch-  scholastischen  Lehre  geltend  gemachten  mechanischen  Natur- 
philosophie gegenüber  hatte  sich  ihm,  zunächst  mit  Beziehung  auf  die 
Veränderungen  der  Körperwelt,  die  Unentbehrlichkeit  des  Begriffs  der 
Kraft  aufgedrängt;  und  mit  ausdrücklicher  Berufung  auf  den  Begriff  der 
aristotelischen  Entelechie  und  der  subslanziellen  Formen  definirt  er  die 
Substanz  als  elre  capable  d'action.  Der  Vergleichungspuukt  für  die  Art, 
wie  die  Wirkungsart  dieser  primitiven  Thätigkeitsquellen  zu  denken  sei, 
war  ihm  das  psychische  Leben ;  die  innere  Erfahrung  schien  ihm  eine 
unmittelbare  Spontaneität  derjenigen  Entelechie ,  welche  die  Seele  ist, 
zu  verbürgen,  und  die  Unbegreiflichkeit  eines  physischen  Einflusses 
äusserer  Dinge  auf  die  vorstellende,  denkende  uud  wollende  Seele  ihre 
Annahme  notwendig  zu  machen ,  und  so  suchte  er  die  Entelechieen 
der  Körper  nach  den  abgestuften  Graden  ihrer  Aehnlichkeit  piit  der  Seele 
verständlich  zu  machen.351)   Da  er  nun  an  die  Stelle  äusserer  Einwir- 


853)  a.  a.  0.  p.  3596. 

254)  Die  nähere  Ausführung  dieser  kurzen  Andeutungen  sammt  den  Belegen 
enthält  meine  Abhandlung  de  matetiae  apud  Leibnüium  notione  et  ad  monadas  relatione 
(Lips.  1846).  Dass  Leibniz  den  Entelechieen  gegenüber  die  Annahme  eines  materiel- 
len, rein  passiven  Stoffs,  als  dessen,  worin  und  worauf  die  Entelechieen  wirken,  nicht 
aufgegeben  hat,  glaube  ich  daselbst  ausreichend  nachgewiesen  zu  haben.  Es  ist  eine 
durch  Leibniz's  eigene  Darstellung  nicht  gerechtfertigte  Ansicht,  wenn  man  seine  Lehre 


216  G.  Hartenstein,  [*©6 

kungen  einer  Entelechie  auf  die  andere  (des  injluxus  physicus)  eben  so, 
wie  an  die  Stelle  des  Occasioualismus  der  Cartesianischen  Schule,  das 
eine,  alle  speziellen  Wunder  überflüssig  machende  Wunder  der  prasta- 
bilirlen  Harmonie  gesetzt  halte,  so  konnten  die  ohnedies  nicht  sehr  tief 
gehenden  Erörterungen  Locke's  über  den  Begriff  der  Ursache  und  der 
Kraft  nur  ein  untergeordnetes  Interesse  für  ihn  haben;  aus  dem  26.  Ca- 
pitel  des  zweiten  Buchs  hebt  er  nur  die  Locke'sche  Definition  von  Ur- 
sache und  Wirkung  hervor,  um  daran  die  Bemerkung  zu  knüpfen ,  dass 
sie  nur  auf  die  wirkenden  Ursachen  passe  und  dass,  wenn  Locke  sage, 
Ursache  sei  das,  was  mache,  dass  etwas  anderes  zu  existiren  anfange, 
eben  in  diesem  Machen  die  eigentliche  Schwierigkeit  stecke ,  ohne  sich 
zu  erinnern,  dass  Locke  selbst  die  Art  dieser  Wirksamkeit  für  gänzlich 
unbekannt  erklärt  hatte  und  in  so  fern  für  die  darin  liegende  Schwierig- 
keit nicht  so  ganz  blind  war.395)  Rücksichtlich  der  Begriffe  Vermögen 
und  Kraft  stimmt  Leibniz  Locke' n  darin  bei,  dass  es  eigentlich  die  innere 
Erfahrung,  nicht  die  Beobachtung  äusserer  Vorgänge  ist,  welcher  wir 
diese  Begriffe  verdanken ,  nur  seien  sie  bei  weitem  nicht  so  einfach  als 
Locke  annehme;260)  die  Frage,  was  deun  durch  die  Berufung  auf  Ver- 
mögen und  Krüfte,  die  man  dem  beobachteten  Thatbestand  des  Verlaufs 
der  Veränderungen  unterschiebt,  erklärt  werde»  übergeht  er  mit  Still- 
schweigen und  begnügt  sich  eine  Reihe  von  Unterscheidungen  und  No- 
minaldefinitionen der  Begriffe  active  und  passive  Potenz,  ursprünglicher 
und  abgeleiteter  Kräfte,  u.  s.  w.  aufzustellen,  die  mit  seinem  Begriffe 
von  den  Entelecbieen  und  der  Materie  zusammenhängen,257)  wie  denn 


so  auffasst,  als  erkläre  er  die  Monaden  für  die  einzigen  Realprincipien  der  Erscheinungs- 
welt: im  Gegentheile  bezeichnet  er,  wo  er  ein  Interesse  hat  sich  bestimmt  auszu- 
drücken ,  durch  dieses  Wort  diejenigen  natürlichen  Einheiten,  in  denen  eine  Entelechie 
mit  der  Materie  verbunden  ist ;  die  Monade  ist  das  Resultat  aus  der  Verbindung  von 
Stoff  und  Kraft.  Vgl.  a.  a.  0.  p.  20. 

255)  a.  a.  0.  p.  277a.  Vous  ne  definisses  que  la  cause  efficiente  . .  //  faut  avouer, 
qu'en  disant  que  cause  efficiente  est  ce  qui  produit  et  effet  ce  qni  est  produü,  on  ne  se 
sert  que  des  synonymes.  II  est  vrai  que  je  vous  ai  entendu  dire  un  peu  plus  distinctement 
que  cause  est  ce  qui  fait  qu'  une  autre  chose  commence  ä  exister,  quoique  ce  mot  faxt 
iaisse.  aussi  la  prineipale  diffieulte  en  son  entier.  Die  Worte,  welche  Leibniz  hinzufügt : 
mais  cela  s'expüquera  mieux  aüieurs,  beziehe  ich  auf  seine  Auseinandersetzungen  über 
die  prästabilirte  Harmonie.  Vgl.  oben  Aum.  75. 

256)  p.  250,  §  3.  4. 

257)  Vgl.  oben  Anm.  8t .  82.  —  Leibniz's  eigene  Definitionen  p.  2496,  §  I. 


107]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  S17 

überhaupt  die  ganze  Frage  nach  dem  Begriff  der  Kraft  durch  seine  Auf- 
fassung des  Begriffs  der  Substanz  für  ihn  erledigt  war.  Die  übrigen  sehr 
sorgfältigen  Erörterungen  dieses  Capitels  beziehen  sich  auf  die  Frage 
nach  der  Willensfreiheit  und  müssen  hier  aus  demselben  Grunde,  wie 
oben  bei  Locke  übergangen  werden. 

Bei  weitem  kürzer  behandelt  Leibniz  die  Erörterungen  Locke's  über 
Raum,  Zeit  und  Zahl.  Der  grösste  Theil  der  hierher  gehörigen  Capitel 
(L.  II,  eh.  XIH — XVI)  besteht  in  schärferen  Bestimmungen  einzelner 
hierher  gehöriger  Begriffe  z.  B.  des  Begriffs  der  Distanz  (p.  239a.  fr), 
der  Figur  (p.  2396),  des  Orts  (p.  240a,  §  7),  des  Moments  (p.  241  fr),  der 
Zahl  (p.  243a)  und  der  Art  des  Zählens  (p.  243b,  §  S).  Sein  mathema- 
tischer Scharfsinn  ist  hier  Locke'n  durchaus  überlegen ;  das  psycholo- 
gische Interesse  dieser  Berichtigungen  besteht  in  der  Nach  Weisung,  dass 
diese  räumlichen  und  zeitlichen  Vorstellungen  bei  weitem  nicht  so  ein- 
fach sind,  als  Locke  behauptet.94*)  Dem  Locke'schen  Bekenntniss  der 
Unwissenheit,  was  der  Raum  sei,  stellt  er  die  Erklärung  gegenüber,  der 
Raum  sei  das  Abstractum  des  Ausgedehnten  und  Raum  und  Zeit  der 
Ausdruck  geordneter  Verhältnisse  nicht  blos  des  Wirklichen ,  sondern 
auch  des  Möglichen,  deren  Ordnung,  wie  die  aller  ewigen  Wahrheiten, 
in  letzter  Instanz  in  Gott  gegründet  sei.250)  Damit  hängt  die  Erklärung 
zusammen,  dass  die  Reflexion  auf  die  Aufeinanderfolge  der  Vorstellun- 
gen  die  Vorstellung  der  Zeit  in  uns  nur  erwecke,  nicht  erzeuge,  obgleich 
der  Grund,  den  Leibniz  dafür  anführt,  sich  nicht  sowohl  auf  die  allge- 
meine Vorstellung  .einer  unbestimmten  Dauer,  als  vielmehr  auf  das  Maass 
derselben  bezieht,260)  für  welches  Locke  selbst  auf  die  Noth wendigkeit 


258)  Vgl.  z.  B.  a.  a.  0.  p.  240a,  §  6.  2436,  §  5. 

259)  a.  a.  0.  p.  240a,  §  15.  Vetendue  est  l'abstraction  de  Ntendu.  p.  2406- 
Vespace  n'est  pas  plus  une  substance  que  le  temps.  . . .  (Test  un  rapport,  un  ordre,  non 
seulement  entre  les  existans,  mais  encore  entre  les  possibles,  comme  s'ils  existaient.  Mais  sa 
verite  et  realite  est  fondee  en  dieu,  comme  toutes  les  verites  eternelles. 

260)  a.  a.  O.  p.  2416.  Une  suile  de  pereeptions  reveille  m  nous  Cidee  de  la  duree, 
mais  eile  ne  la  faxt  point.  Nos  pereeptions  riont  jamais  une  suite  asse*  eonstante  et  regu- 
liere pour  repondre  ä  teile  du  tems ,  qui  est  un  continu  uniforme  et  simple  comme  une 
Ugne  droite.  Le  thangement  des  pereeptions  nous  donne  occasion  de  penser  au  tems  et 
on  le  mesure  par  des  changemens  uniformes;  mais  quand  il  riy  auroit  rien  d  uniforme 
dans  la  naturc,  le  tems  ne  laisserait  pas  4tre  determine  u.  s.  w.  ...  Cest  que  connaissant 
les  reglet  des  mouvemens  difformes  on  peut  toujours  les  rapporter  ä  des  mouvemens  uni- 
formes mteUigibles. 


?I8  G.  Hartenstein,  [*08 

einer  als  gleichförmig  sich  erweisenden  oder  als  solche  vorausgesetzten 
Bewegung  hingewiesen  hatte.  Dass  die  Vorstellung  der  Zeil  als  Vor- 
stellung ohne  den  Wechsel  anderer  Vorstellungen  nicht  vorhanden 
sein  würde,  wird  dadurch  nicht  widerlegt;  Locke  seinerseits  würde  sich 
vielleicht  durch  die  Behauptung,  dass  der  Wechsel  der  Vorstellungen 
die  Vorstellung  des  Zeitlichen  erwecke,  nicht  hervorbringe,  zu  der  Frage 
veranlasst  gefunden  haben,  was  denn  die  Vorstellung  des  Zeitlichen  für 
das  Bewußtsein  irgend  bedeute,  so  lange  sie  nicht  im  Bewusstsein  vor- 
handen sei. 

An  die  Begriffe  von  Raum,  Zeit  und  Zahl  hatte  Locke  den  des  Un- 
endlichen angeknüpft,  um  zu  zeigen,  erstlich,  dass  er  ein  Grössenbegriff, 
und  zweitens,  dass  er  ein  lediglich  negativer  Begriff,  der  eines  mög- 
lichen Fortschritts  ohne  Ende  sei.  Der  ganze  Begriff  ist- ihm  ein  Gedan- 
kenproduct ,  oder  vielmehr  der  Ausdruck  für  eine  Operation  des.  Den- 
kens ;  daher  zwar  die  Unendlichkeit  des  Raums,  der  Zeit  und  der  Zah- 
lenreihe, aber  nicht  der  unendliche  Raum,  die  unendliche  Zeit  oder  Zahl 
vorgestellt  werden  könne.  Diese  Auffassung  des  Unendlichen  erkennt 
Leibniz  innerhalb  der  von  Locke  selbst  bezeichneten  Grenzen  an;261) 
denn  dass  er  auf  die  Möglichkeit  eines  Fortschritts  ohne  Ende  rücksicht- 
lich der  Intensität  der  Qualitäten  d.  h.  des  Grades  aufmerksam  macht, 
ist  mehr  ein  Zusatz,  als  ein  Einwurf,  ebenso  wie  die  Hinweisung  dar- 
auf, dass  der  Fortschritt  in  der  Reihe  nach  derselben  Regel  und  unter 
den  gleichen  Verhältnissen  stattfinden  müsse.  Wenn  er  ein  Gewicht 
darauf  legt,  dass  die  Regel  des  Verfahrens  in  uns  selbst  liege  und  nicht 
von  der  sinnlichen  Erfahrung  entlehnt  sei,262)  so  trifft  das  Locke's  An- 
sicht nicht,  welcher  den  Ursprung  des  Begriffs  des  Unendlichen  keines- 
wegs in  der  äussern  Erfahrung,  sondern  lediglich  in  der  Thätigkeit  des 
Denkens  sucht.  Gleichwohl  deutet  Leibniz  hier  noch  auf  einen  andern 
Begriff  des  Unendlichen  hin ,  der  nicht  auf  der  Zusammenfassung  von 


261)  a.  a.  0.  p.  244a.  11  est  vrai  qu'ü  y  a  wie  infinite  de  c  hos  es,  (fest  ä  dire  qu'ü 
y  en  a  toujours  plus  qu'on  n'en  peut  assigner.  Mais  il  n'y  a  point  de  nombre  infini  ni  de 
ligne  ou  autre  quantüe  infinie,  si  Von  les  prend  pour  des  touts  verüables.  p.  2446.  On 
se  trampe  en  voulant  s'imagtnet  un  espace  absolu,  qui  sott  un  tout  absolu,  cotnpose  de 
parties.  II  n'y  a  rien  de  tel.  Cest  une  notion  qui  implique  contradiction  et  ces  tous  infi- 
nis  et  leur  opposes ,  infiniment  petits,  ne  sont  de  mise  que  dam  les  calculs  des  geometres, 
tout  comme  les  racines  imaginaires. 

262)  a.  a.  0.  p.  2446,  §4.  §6. 


409]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  219 

Grössen  beruhe  und  als  solcher  dem  Begriff  des  Endlichen  vorhergehen 
soll.'0)  In  sofern  jedoch  dieses  Unendliche  identisch  sein  soll  mit  dem 
Absoluten,  liegt  es  wenigstens  nicht  in  der  Reihe  der  Begriffe,  mit  wel- 
chen Locke  den  Begriff  des  mathematisch  Unendlichen  in  eine  von  Leib- 
niz  nicht  bestrittene  Verbindung  setzt,  und  Leibniz  nnterlässt,  den  Zu- 
sammenhang dieses  mathematisch  Unendlichen  mit  oder  seinen  Gegen- 
satz zu  dem,  was  er  das  wahre  Unendliche  nennt,  irgendwie  näher  dar- 
zulegen. Dass  die  Uebertragung  des  Begriffs  des  Unendlichen  auf  den 
Begriff  und  die  Eigenschaften  Gottes ,  wenn  sie  etwas  mehr  sein  will, 
als  der  Ausdruck  dafür,  dass  seine  Macht,  Weisheit  u.  s.  w.  jedes  uns 
bekannte  Maass  überrage,  die  Grenze  dessen,  was  uns  begreiflich  sei, 
überschreite,  hatte  Locke  gleich  im  Eingange  seiner  Erörterung  über 
das  Unendliche  hervorgehoben  und  in  der  Erklärung  Leibniz's,  dass  das 
wahre  Unendliche  Gott  und  die  göttlichen  Attribute  seien,  liegt  nichts, 
was  das  jenseits  dieser  Grenze  liegende  Dunkel  aufhellte. 

Eine  der  wichtigsten  Erörterungen  Locke's  hatte  endlich  der  An- 
wendung des  Begriffs  der  Identität  sowohl  auf  die  Dinge  ausser  uns  als 
auf  uns  selbst  gegolten,  d.  h.  der  Frage,  was  uns  in  unserer  natürlichen 
Auffassung  veranlasst,,  sowohl  jedes  individuelle  Ding  ausser  uns  für 
dasselbe  zu  erklären,  als  auch  uns  selbst  für  dieselbe  Person  zu  halten ; 
woran  sich  für  ihn  die  weitere  Frage  geknüpft  hatte,  ob  in  der  Einheit 
des  Selbstbewusstseins  auch  schon  der  Beweis  für  die  Einheit  der  Sub- 
stanz als  des  Trägers  dieses  Selbstbewusstseins,  mithin  für  die  reelle 
Einheit  der  Seele  liege.  Er  hatte  die  zwingende  Kraft  des  Schlusses 
von  diesen  lhatsächlich  vorgestellten  Einheiten  auf  die  Einheit  der  Sub- 
stanz geleugnet;  bei  den  unbelebten  äusseren  Dingen  ist  es  die  Gleich- 
heit der  Vorstellungen  von  dem  Dinge  im  Moment  der  früheren  und  der 
jetzigen  Auffassung,  bei  den  belebten  Wesen,  den  Menschen  nicht  aus- 
genommen ,  ist  es  die  Einheit  der  Organisation  und  der  Lebensfunetio- 
nen,  rücksichtlich  unserer  eigenen  Persönlichkeit  ist  es  der  continuir- 
liche  Zusammenhang  des  Bewusstseins  unserer  eigenen  Vorstellungen, 


263)  a.  a.  0.  p.  244a,  §  \.  Lc  vrai  infmi  ä  la  rigueur  n'est  que  dans  Vabsolu  qui 
est  anterieur  ä  toute  composition,  et  n'est  point  forme  par  faddition  des  parties.  §  2.  Z/fa- 
fini  veritable  riest  pas  une  modification,  c'est  fabsolu ;  au  contraire,  des  qu'on  modifie,  on 
se  borne  et  föime  un  fini.  p.  2446.  L'idee  de  fabsolu  est  en  nous  interieurement  comme 
celle  dfitre.  Ces  absolus  ne  sont  autre  chose  que  les  attributs  de  dieu ,  et  on  peut  dire 
qu'ils  ne  sont  pas  moins  la  source  des  idees,  que  dieu  est  lui  mime  le  principe  des  e*tres. 


g£0  G.  Hartenstein,  [440 

woran  die  Vorstellung  der  Identität  haftet ,  so  dass  namentlich  in  dem 
letzten  Falle  die  Vorstellung  des  mit  sich  selbst  identischen  Ich  nicht 
gebunden  erscheint  an  die  Identität  der  Substanz.  Diese  ganze  Reihe 
von  Erörterungen  bestreitet  Leibniz  keineswegs  als  irrthümlich,  in  so 
fern  sie  sich  auf  die  vorgestellte  Einheit  der  Dinge  und  unserer 
eigenen  Persönlichkeit  beziehen ;  aber  er  tadelt  die  Genügsamkeit  Locke's, 
dass  er  auf  der  Grundlage  dieser  vorgestellten  Einheit  nicht  einen  Schritt 
weiter  zur  Entscheidung  über  das  Wesen  der  Sache  selbst  fortgehe. 
Er  leugnet  desshalb,  dass  die  Dinge  nur  nach  ihren  räumlichen  und 
zeitlichen  Verhältnissen  einerlei  oder  verschieden  seien;  es  müsse  in 
ihnen  selbst  ein  Princip  der  Verschiedenheit  und  damit  der  Unterscheid- 
barkeit liegen ;  und  während  Locke  mit  einer  gewissen  Ironie  die  Be- 
deutung des  sogenannten  Princips  der  Individuation  eben  auf  diese  Gleich- 
heit räumlicher  und  zeitlicher  Verhältnisse  beschränkt  hatte,  legt  Leibniz 
auf  die  Anerkennung  desselben  im  Sinne  eines  die  Individualität  der 
Dinge  von  innen  heraus  bestimmenden  Princips  ein  grosses  Gewicht.164) 
Dass  für  ihn  dieses  Princip  der  Individuation  und  der  Identität  der  Dinge 
mit  sich  selbst  in  den  mit  der  Materie  verknüpften  Entelechieen,  in  den 
Monaden  liegt,  würde  sich  von  selbst  verstehen,  auch  wenn  er  es  nicht 
ausdrücklich  ausspräche.965)  Wenn  er  hinzufügt,  dass  ohne  eine  solche 
substanzielle  Einheit  die  den  Dingen  beigelegte  Einheit  und  Identität 


264)  a.  a.  0.  p.  2776,  §  2.  //  faut  loujours  qu'outre  la  difference  du  tems  et  du 
Ueu,  il  y  aitun  principe  interne  de  distincHon.  ...  §  3.  Le  principe  d individuation  revient 
dans  les  indmdus  au  principe  de  disUnction  dont  je  viens  de  parier.  Dann,  nachdem  er 
die  bekannte  Geschichte  von  dem  zwei  vollkommen  identische  Blatter  vergeblich 
suchenden  Edelmann  erzählt  hat,  setzt  er  hinzu :  On  voit  par  ces  considerations  negli- 
gees  jusqu'  ici,  combien  dans  la  philosophie  on  s'est  eloigne  des  notions  les  plus  naturelles 
et  combien  on  a  ete  eloigne  des  grands  principes  de  la  vraie  metaphysique  1  Als  ob  Locke 
in  Gefahr  gewesen  sein  würde,  zwei  an  verschiedenen  Zweigen  gewachsene  und  über- 
dies durch  allerlei  kleine  Verschiedenheiten  unterscheidbare  Blätter  ohne  Hülfe  des 
Princips  der  Individuation  für  identisch  zu  halten ! 

265)  a.  a.  0.  p.  278a.  L' Organisation  ou  configuration  sans  un  principe  de  vie 
subsistant,  que  j'appelle  monade,  ne  suffirait  pas  pour  faire  demeurer  idem  numero  ou  le 
meme  mdividu  . . .  Quant  aux  substances,  qui  ont  en  elles  memes  une  veritable  et  reelle 
unite  substantielle,  ä  qui  puissent  appartenir  les  actions  vitales  proprement  dites,  et  quant 
aux  etres  substantielles,  quae  uno  spiritu  contmentur,  comme  parle  un  ancien  jurisconsulte, 
c'est  d  dire  qu'un  certain  esprit  indwisible  anime,  Qti  a  raison  de  dire  qu'eUes  deineurent 
parfaitement  le  mime  individu  par  cette  ame  ou  cet  esprit,  qui  fait  le  moi  dans  Celles  qui 
pensent. 


44 <]  Locke's  Lehre  von  dbb  mbmschl.  Erkenntniss  u.  8.  w.          224 

nur  eine  scheinbare  sei  ,266)  so  muss  bemerkt  werden ,  dass  Locke  die 
metaphysische  Frage ,  ob  und  in  welchem  Sinne  die  Dinge  eins  sind, 
eigentlich  gar  nicht  berührt  und  sich  eben  begnügt  hatte,  zu  zeigen,  dass 
die  vorgestellte  und  den  Dingen  beigelegte  Einheit  über  jene  Frage 
nichts  entscheide. 

Gleichwohl  behauptet  Leibniz  rücksichtlich  der  Identität  der  Per- 
son keineswegs,  dass  der  Begriff  des  identischen  Selbstbewusstseins 
die  Identität  der  Seelenmonas  einschliesse,  sondern  nur,  dass  die  That- 
sache  der  Identität  des  Ich  mit  sich  selbst  eine  ausreichende  Bürgschaft 
für  diese  darbiete.  Dass  das  empirische  Ich  an  die  Continuität  dessen, 
was  in  das  individuelle  Bewusstsein  fällt,  gebunden  sei,  gibt  er  nicht 
nur  zu ,  sondern  fübrl  es  auch  in  seiner  Weise ,  geistreich  wie  immer, 
weiter  aus;  nur  könne  die  unmittelbare  Selbstauffassung  rücksichtlich 
der  Voraussetzung,  dass  der  Identität  des  empirischen  Ich  eine  identi- 
sche Substanz  zu  Grunde  liege,  unmöglich  täuschen;  höchstens  durch 
einen  Act  der  göttlichen  Allmacht,  also  durch  ein  Wunder,  sei  es  mög- 
lieh ,  dass  bei  einem  Wechsel  der  Substanz  die  Identität  des  Selbstbe- 
wusstseins unangetastet  bleibe.267)  So  ist  es  nicht  eine  Deduction  aus 


966)  a.  a.  0.  p.  2786;  Si  on  ne  se  rapporte  point  ä  Farne,  il  riy  aura  point  la 
meme  vie  ni  union  vitale  non  plus.  Amsi  cette  identüe  ne  seraü  qu' apparente, 

267)  a.  a.  0»  p.  280a.  II  semble  que  vous  tenez,  que  cette  identüe  apparente 
se  pourrait  conserver,  quand  il  n'y  en  aurait  point  de  reelle.  Je  croirois  que  cela  se 
pourrait  peut-etre  par  la  puissance  absolue  de  dieut  mais  suivant  Vordre  des  choses  Viden- 
tite apparente  d  la  personne  mime,  qui  se  sent  la  mime,  suppose  Videntite  rielle  d  chaque 
passage  prochain,  aecompagne  de  reflexion  ou  de  sentiment  du  moi,  une  pereeption 
intime  et  imme diäte  ne  pouvant  tromper  naturellement.  ...  7/  suffit  pour 
trouver  Videntüe  morale  par  soi  mime,  qu'il  y  ait  une  moyenne  liaison  de  consciosite  dun 
etat  voism  ou  meme  un  peu  elotgne  d  taufte,  quand  quelque  saut  ou  Intervalle  oublie  y 
seroitmSle.  Es  folgt  eine  Erläuterung  durch  Beispiele,  dann  fährt  Leibniz  p.  2806  fort: 
Pour  oe  qui  est  du  soi,  il  sera  bon  de  le  dütmguer  de  Vapparenee  du  soi  et  de  la 
consciosite.  Le  soi  fait  Videntite  reelle  et  physique,  et  V  apparence  du  soi,  ac- 
compagnee  de  la  verite ,  y  Joint  Videntite  personelle.  Ainsi ne  voulant  point  dire, 
que  Videntite  personelle  ne  seiend  pas  plus  hin  que  le  souvenir,  je  dirais  encore 
moins,  que  le  soi  ou  Videntite*  physique  en  depend.  L'identite  reelle  et  perso- 
nelle se  prouve  le  plus  certainement  qu'il  se  peut  en  mattere  de  fait,  par  la  refle- 
xton presente  et  immediate  cf.  p.  279a.  284a.  favoue  que  si  toutes  les  apparences  etoient 
changees  et  transferees  dun  esprit  ä  un  autre,  ou  si  dieu  faisoit  un  echange  entre  deux 
esprits,  donnant  le  corps  visible  et  les  apparences  et  consciences  de  Vun  d  V autre,  Videntite 
personelle,  au  Heu  d'e*tre  attachee  ä  celle  de  la  substance,  suwroit  les  appa- 
rences constantes  u.  s.  w. 


/ 


222  G.  Hartenstein,  [MS 

dem  Begriffe  der  Persönlichkeit  oder  des- Ich,  sondern  die  Bernfang  auf 
eine  Thatsache  der  innern  Erfahrung,  durch  die  sich  Leibniz  zu  einer 
Voraussetzung  berechtigt  glaubt,  welche  Locke  durch  diese  Thatsache 
für  nicht  hinlänglich  gewährleistet  gehalten  hatte.  Für  Locke  bleibt  da- 
her die  Identität  des  Ich  mit  sich  selbst  lediglich  ein  empirisches  Factum, 
welches  für  unsere  Selbstauffassung  an  die  ContinuRät  der  Zustände  des 
Bewusstseins  gebunden  ist;  für  Leibniz  jst  diese  Continuität  eine  Folge 
des  Zusammenhangs ,  kraft  dessen  jeder  spätere  Zustand  oder  Thötig- 
keitsacl  der  Seele  durch  ihre  früheren  bedingt  ist;208)  in  der  Sonderung 
des  Begriffs  vom  Ich  vom  Begriff  der  Seelensubstanz  stimmen  beide 
überein. 


XI. 

So  weit  sich  in  dem  Bisherigen  bei  grosser  Uebereinstimmung  in 
wichtigen  Punkten  ein  principieller  Gegensatz  zwischen  Locke  und  Leib- 
niz gezeigt  hat,  bezieht  sich  derselbe  durchaus  auf  metaphysische  Fra- 
gen; und  man  könnte,  weil  Leibniz  zu  der  Richtigkeil  seiner  Metaphysik 
die  Zuversicht  einer  sehr  lebhaften  Ueberzeugung  hat,  Locke  dagegen 
auf  eigentliche  Metaphysik  Verzicht  leistet,  vielleicht  sagen,  dass  beide 
in  dieser  Hinsicht  unvergleichbar  sind ,  wenn  nur  der  Leibnizische  Be- 
griff der  Substanz  und  der  Kraft  über  das  Wesen  der  Dinge  und  die 
Wirkungsart  der  von  ihm  den  Erscheinungen  vorausgesetzten  Realprin- 
cipien  ausgiebigere  Belehrungen  darböte,  als  der  Fall  ist  und  nicht  in 
seiner  Anwendung  auf  dieselbe  Erfahrung  zurückwiese,  deren  gegebene 
Formen  Locke  nicht  sowohl  als  die  Quelle,  als  vielmehr  als  die  Schranke 
des  Wissens  ansah.  Der  weitere  Verlauf  der  betreffenden  Werke  beider 
Denker  gibt  nun  Veranlassung,  ihr  VerhäHniss  rücksichtlich  solcher  Fra- 
gen zu  untersuchen,  die  sich  direct  auf  die  Fundamente,  die  Methoden 
und  die  Arten  der  Erkenntniss  beziehen.  Locke  hatte  diesen  Unter- 
suchungen eine  Reihe  von  Unterscheidungen  theils  der  Art,  wie  die 
Vorstellungen  gedacht  werden,  theils  ihrer  Beziehung  auf  das,  was 
durch  sie  gedacht  wird,  vorausgeschickt;  es  ist  in  dieser  Beziehung  an 


268)  a.  a.  0.  p.  Stba.Lavenir  dann  chaque  substance  a  une  parfaite  liaison  avee  U 
passe.  Cest  ce  qui  faxt  lidentüe  de  findividu. 


443]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  223 

seine  Unterscheidung  klarer  und  deutlicher,  vollständiger  und  unvoll- 
ständiger, reeller  und  chimärischer  oder  phantastischer,  wahrer  und  fal- 
scher Vorstellungen  zu  erinnern.  Leibniz  ist  weit  entfernt,  diese  Unter- 
scheidungen zu  verwerfen,  aber  er  bestimmt  sie  zum  Theil  schärfer,  zum 
Theil  anders  als  Locke  und  diese  Bestimmungen  verdienen  zuvörderst 
angegeben  zu  werden. 

Die  Locke'sche  Unterscheidung  klarer  und  deutlicher  Vorstellungen 
(vgl.  oben  Anm.  145,  116)  verwirft  Leibniz  als  ganz  ungenügend.  Er 
schliesst  sich  vielmehr  dem  Sprachgebrauch  der  Cartesianischen  Schule 
an,  dem  gemäss  eine  Vorstellung  zugleich  klar  und  verworren  sein  kann, 
wenn  sie  ausreicht,  das  Vorgestellte  von  anderem  Vorgestellten  zu  unter- 
scheiden, während  ihre  einzelnen  Merkmale  nicht  gesondert  von  einander 
gedacht  werden.200)  Locke  hatte  dabei  Unklarheit  und  Verworrenheit  als 
Unangemessenheit  an  die  für  gewisse  Vorstellungen  und  Vorstellungscom- 
plexe  in  der  Sprache  schon  festgestellten  Zeichen  erklärt.  Leibniz ,  ob- 
wohl mit  ihm  über  die  scientifischen  Nachtheile  einverstanden ,  welche 
die  Unbestimmtheit  der  sprachlichen  Bezeichnung  und  die  dadurch  veran- 
lasste Vieldeutigkeit  und  Confusion  des  mit  diesen  Sprachzeichen  operi- 
renden  Denkens  nach  sich  zieht,270)  hebt  hervor,  dass  Klarheit  und  Deut- 
lichkeit einer  Vorstellung  nicht  an  die  Art  ihrer  Bezeichnung,  sondern  an 
die  Art  gebunden  ist,  wie  ihr  Inhalt  gedacht  wird.271)  Er. findet  darin  die 
Veranlassung,  den  von  Locke  unbeachtet  gelassenen  Unterschied  zwi- 
schen Bild  und  Begriff  geltend  zu  machen.  Locke  hatte  gesagt,  dass 
eine  und  dieselbe.  Vorstellung  von  der  einen  Seite  deutlich,  von  der 
andern  verworren  sein  könne,  wie  wenn  Jemand  z.  B.  bei  der  Vorstel- 


269)  a.  a.  0.  p.  2886.  Je  dis  qu'une  idee  est  claire,  lorsqu'elle  suffit  pour  recon- 
naitre  la  chose  et  pour  la  distinguer;  . . .  sans  cela  Videe  est  obscure.  . . .  Suivant  celte 
notion,  que  vous  donnez  de  Videe  distincte,  je  ne  vois  point  le  moyen  de  la  distinguer  de 
Videe  claire.  Cest  pourquoi  fax  coutume  de  suivre  ici  le  langage  de  M.  Descartes ,  chez 
qui  une  idee  pourra  iure  claire  et  confuse  en  meme  tems  . . .  Ainsi  quoique  selon  nous  les 
idees  distmctes  distinguent  Vobjet  d'un  autre,  neanmoins,  comme  les  claires,  mais.confuses 
en  elles-mSmeSy  le  fönt  aussi,  nous  nommons  distinctes  non  pas  toutes  celles,  qui  sont  bien 
distinguantes  ou  qui  distinguent  les  objets,  mais  celles,  qui  sont  bien  distinguees,  c'est  ä 
dke  qui  sont  distinctes  en  elles-memes  et  distinguent  dans  Vobjet  des  marques  qui  le  fönt 
connaäre  u.  s.  w. 

270)  a.  a.  0.  p.  2906,  §  9.   294a,  §  12. 

27 1)  a.  a.  .0.  p.  290a.  //  ne  s'agit  point  des  noms,  mais  des  proprietes  distinctes, 
qui  se  dowent  trouver  dans  Videe  lorsqu'on  en  aura  demtte  la  confusion. 

Ablm.wil.  d.  K.  S.  Ger  d.  Wim.  X.  .15 


224  6.  Hartenstein,  [H4 

lung  eines  Tausendecks ,  von  dem  er  sich  keine  hinreichend  deutliche 
Vorstellung  machen  könne,  um  es  von  einem  Neunhundertundneunund- 
neunzigeck  zu  unterscheiden ,  doch  aus  der  deutlichen  Vorstellung  der 
Zahl  1000  Schlüsse  ziehe.  Die  Undeutlichkeit,  bemerkt  Leibniz,  gilt  hier 
dem  Bilde,  nicht  dem  Begriffe  des  Tausendecks.  Der  Begriff  kann 
deutlich,  das  Bild  unklar  und  verworren ,  und  umgekehrt  das  Bild  klar 
und  doch  der  Begriff  undeutlich  sein.271) 

Ebenso  unterlägst  Leibniz  nicht  die  Unbestimmtheit  zu  rttgen ,  de- 
ren sich  Locke  im  Gebrauche  der  Bezeichnung:  reelle  Vorstellungen 
schuldig  macht.  Leibniz  versteht  unter  Realität  einer  Vorstellung  ihre 
logische  Gültigkeit,  d.  h.  eine  Vorstellung  ist  reell,  deren  Bedeutung  für 
das  Denken  durch  keinen  Widerspruch  aufgehoben  wird ;  Locke  hatte 
darunter  zugleich  ihre  empirische  Gültigkeit  verstanden,  so  dass  für  ihn 
der  Widerspruch ,  mit  welchem  eine  phantastische  Vorstellung  behaftet 
ist,  entweder  in  einer  prätendirten,  aber  nicht  nachweisbaren  Beziehung 
auf  die  Wirklichkeit  oder  in  ihrem  eigenen  Inhalt  liegt  (vgl.  oben  S.  1 58). 
In  seinen  Ausdrücken  hat  es  aber  anfangs  den  Anschein,  als  werde  die 
Realität  einer  Vorstellung  abhängig  gemacht  lediglich  von  ihrer  Bezie- 
hung auf  die  empirische  Wirklichkeit,  obwohl  er  später  die  Vorstellungen 
der  Relationen  und  der  gemischten  tnodi  gerade  desshalb  für  reelle  er- 
klärt, weil  sie  keinen  empirischen  Vergleichungspunkt  haben.  Desshalb 
bemerkt  nun  Leibniz,  eine  Vorstellung  könne  in  der  Natur  gegründet, 
also  empirisch  gültig  sein,  ohne  mit  dem;  worin  sie  gegründet  sei,  über- 
einzustimmen ;  den  Namen  der  Realität  oder  Gültigkeit  verdiene  sie  nur 
dann,  wenn  sie  möglich  sei  d.  h.  logische  Gültigkeit  habe,  obgleich  ihr 
nichts  Existierendes  entspreche.373)  Damit  falle  auch  der  Unterschied 
zwischen  Einbildungen  und  gültigen  Vorstellungen ,  den  Locke  rück- 
sichtlich der  Vorstellungen  der  Dinge  einerseits  und  der  tnodi  anderer- 
seits in  ganz  verschiedenem  Sinne  geltend  mache;  beziehe  man  dieRea- 


272)  a.  a.  0.  p.  294  6.  On  confond  ici  Videe  avee  Vimage  u.  s.  w. 

273)  a.  a.  0.  p.  2926.  Lidee  peut  avoir  un  fondement  dans  la  nature,  saus  itre 
con forme  ä  ce  fondement . . .  Une  idee  aussi  sera  reelle  quand  eile  est  possible,  quoiqu' 
auetm  iure  ewistant  riy  reponde.  p.  2936.  Les  relations  . .  et  les  modes  mixte*  . .  seit 
qu'ils  dependent  ou  ne  dependent  point  de  l'esprit,  il  suffit  pour  la  reakte  de  leurs  idees, 
que  ces  modes  soient  possibles  ou,  ce  qui  est  la  mime  chose,  mtelligibles  distinctement. 
Et  pour  est  effet,  il  faut  que  les  ingrddiens  soient  compossibhs,  €est  ä  dire  qu'ils  puissent 
oonsister  ensemble. 


445]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  225 

litat  der  Vorstellungen  auf  die  Wirklichkeit,  so  lasse  sich  nie  ganz  genau 
bestimmen ,  ob  eine  Vorstellung  reell  oder  eingebildet  sei,  denn,  was 
noch  nicht  existiere,  könne  später  zum  Dasein  kommen,  und  vieles  exi- 
stieren, wovon  man  nichts  wisse.274) 

Rücksichtlich  der  Locke'schen  Unterscheidung  adäquater  und  in- 
adäquater Vorstellungen  bemerkt  er,  dass  diese  Unterscheidung  viel- 
mehr eine  Unterabtheilung  der  Deutlichkeit  der  Vorstellungen  sei.975) 
Er  lehnt  desshalb  auch  die  Anwendung  ab ,  welche  Locke  von  diesem 
Unterschiede  gemacht  hatte ;  einfache  Vorstellungen ,  wie  sie  uns  die 
sinnlichen  Empfindungen  darbieten,  sind  niemals  adäquat;876)  Vorstel- 
lungen der  modi  und  Substanzen  dagegen  können  adäquat  sein ,  wenn 
die  den  Begriff  bildenden  Theilvorstellungen  die  Möglichkeit  des  Ge- 
dachten begreiflich  machen ;  in  diesem*  Sinne  haben  die  Substanzen  so 
gut,  als  die  modi  ihr  Maass  an  der  Denkbarkeit  des  Gegenstandes.377) 

Bei  der  Wichtigkeit,  welche  die  Feststellung  des  Beziehungspunk- 
tes und  die  Definition  der  Wahrheil  Air  die  Ansiebt  von  der  mensch- 
lichen Erkenntniss  bat,  weil  alle  Erkenntniss  nach  gar  nichts  Anderem 
strebt  als  nach  Wahrheit,  ist  die  grosse  Kürze  auffeilend,  mit  welcher 


274)  a.  a.  0.  p.  1936.  De  cette  moniere,  prenant  le  tertne  de  reel  et  de  chitnerique 
autrement  par  rapport  aux  idees  des  tnodes,  que  par  rapport  ä  ceües,  qui  farment  wie 
chose  substantielle ,  je  ne  vois  point  quelle  notion  est  commune  d  tun  et  ä  tautre  cos;  . . 
cor  les  modes  vous  soni  reels  quand  ils  sont  possibles,  et  les  choses  substantielles  riont  des 
idees  reelles  chez  vous  que  lorsqu'elles  sont  existantes.  Mais  en  se  voulant  rapporter  ä 
Cexisteiice  on  ne  sauroit  gueres  de'terminefi  si  une  idee  est  chimerujue  ou  non,  parceque 
ce  qui  est  possible  . . .  peut  avoir  existe  autrefois  ou  existera  peut+itre  «n  jour  o.  s.  w, 

275)  a.  a.  0.  p.  294a.  Tai  defini  autrefois  ideam  adaequatam  (une  idee  ac- 
complie)  celle  qu'est  si  distinete  que  tous  les  Ingrediens  sont  distmetes  et  teile  est  d  peu  pres 
tidee  d'un  nombre.  Mais  lorsqu'une  idee  est  distinete  et  conüent  la  deßnition  ou  les  mar- 
ques  reeiproques  de  tobjet,  eile  pourroit  itre  inadaequata  ou  inaecomplie,  savoir  lors- 
que  ees  marques  ou  oes  ingrediens  ne  sont  pas  aussi  toutes  distinetement  eonnues.  . .  Chez 
tnoi  la  dwision  des  idees  en  aeeomplies  ou  inaceompUes  niest  qu'une  sousdivision  des  idees 
distinetes. 

276)  a.  a.  0.  II  ne  me  parait  point ,  que  les  idees  confuses,  comme  celle  que  nous 
avons  de  la  douceur,  meritent  ce  nom;  cor  quoiqu'elles  expriment  la  puissance,  quipro- 
duit  la  Sensation,  eties  ne  t expriment  pas  enUerement  ou  du  moins  nous  ne  pouvons  point 
le  savoir  u.  s.  w. 

277)  a.  a,  0.  p.  2946.  Videe  du  triangle  ou  du  courage  a  ses  archetypes  dans  la 
possibiUte  des  choses  aussi  bien  que  Videe  de  tor.  . . .  Une  idee,  soit  qu'elle  soit  celle  d'un 
mode  ou  celle  dune  chose  substantielle  pourroit  itre  complette  ou  incomplette  sehn  qu*on 
entend  bien  ou  mal  les  idees  partiales  qui  forment  fidde  totale. 

15* 


226  G.  Hartenstein,  [^6 

Leibniz  im  23.  Capitel  des  zweiten  Buchs  die  ziemlich  ausführlichen 
Erörterungen  Locke's  über  den  Unterschied  wahrer  und  falscher 
Vorstellungen  mehr  übergeht,  als  entweder  bestreitet  oder  berichtigt. 
Locke  hatte  wahr  und  falsch  für  Prädicate  nicht  der  Dinge,  sondern  der 
Vorstellungen  erklärt,  und  zwar  nicht  isolirter  Vorstellungen,  sondern 
in  so  fern  sie  in  der  Form  eines  Satzes  oder  eines  Urtheils  rücksichtlich 
ihrer  Einstimmung  mit  etwas  Anderem  gedacht  werden.  Ohne  an  die- 
ser Stelle  eine  positive  Entscheidung  darüber  auszusprechen,  worin  die 
Wahrheit  eines  Urtheils  bestehe,  hatte  er  die  Fälle  angegeben,  in  denen 
man  in  der  Regel  von  Wahrheit  oder  Falschheit  der  Vorstellungen  spre- 
che, indem  man  das  eigene  Urtheil  entweder  mit  den  Vorstellungen 
Anderer,  oder  mit  seinen  eigenen  Vorstellungen,  oder  mit  der  Wirklich- 
keit der  Dinge  vergleiche  (vgl.  oben  S.  160).  Leibniz  fügt,  ohne  auf  die 
Auseinandersetzung  Locke's,  in  wie  fern  in  diesen  Fällen  von  Wahrheit 
gesprochen  werden  könne,  einzugehen,  nur  die  Worte  hinzu  (p.  294fr): 
Je  crois  quon  pourrait  eniendre  ainsi  les  vraies  et  les  fausses  idees;  mais 
comme  ces  differens  sens  ne  conviennent  point  entr'  eux  et  ne  sauroient  etre 
ranges  commodemmt  sous  une  notion  commune ,  j'aime  mieux  appeller  des 
ideqs  vraies  et  fausses  par  rapport  ä  une  autre  affirmation  tadle ,  quelles 
retiferment  toutes9  qui  est  celle  de  la  pössibilite .  Ainsi  les  idees  possibles 
sont  vraies  et  les  idees  impossibles  sont  fausses.  Das  Hauptgewicht 
dieser  Bestimmung  liegt  in  der  bei  Leibniz  immer  wiederkehrenden  Be- 
rufung auf  die  Möglichkeit  als  Kriterium  der  Wahrheit,  und  es  ist  not- 
wendig sogleich  hier  die  Art  zu  berücksichtigen,  wie  er  sich  der  späte- 
ren definitiven  Bestimmung  Locke's  über  den  Begriff,  und  die  Bedingun- 
gen der  Wahrheit  gegenüber  ausspricht.  Für  Locke  gibt  es  keine  Wahr- 
heit der  Dinge ,  sondern  nur  eine  Wahrheit  der  Urtheile  oder  allgemein 
der  Gedanken.  Wahr  ist  ihm  ein  Satz,  wenn  er  eine  den  Verhältnissen 
des  Gedachten  entsprechende  Verknüpfung  und  Trennung  der  Zeichen 
enthält  (vgl.  oben  S.  181).  Darin  liegt,  dass  sich  die  Wahrheit  zunächst 
auf  die  Verhältnisse  der  Begriffe  und  erst  vermittelst  dieser  auf  die 
wirklichen  oder  für  wirklich  gehaltenen  Dinge  bezieht,  und  es  ist  ein 
wesentlicher  Grundzug  seiner  Lehre,  dass  sie  die  Wahrheit  der  Erkennt- 
niss  im  strengen  Sinne  des  Worts  in  das  Gebiet  verlegt,  in  welchem  das 
Denken  mit  seinen  eigenen  Begriffen  beschäftigt  ist,  aber  ihm  die  Mittel 
abspricht,  die  Uebereinstimmung  der  Gedanken  mit  den  Dingen  positiv 
nachzuweisen.  Leibniz,  obgleich  er  mit  den  Ausdrücken  der  Locke'schen 


M7]  Lockk's  Lkiire  von  drr  mensghl.  Erkenntmss  U.S.W.  227 

Definition  eines  wahren  Satzes  nicht  zufrieden  ist,*78)  ist  doch  mit  ihm 
vor  Allem  darüber  einverstanden,  dass  Wahrheit  und  Falschheit  Prädr- 
cale  der  Gedanken  sind;  den  Ausdruck:  metaphysische  Wahrheit  in 
dem  Sinne ,  dass  darin  (etwa  nach  Art  des  Satzes :  omne  ens  est  unum, 
verum,  bonum)  die  Wahrheit  Prädicat  des  Seienden  sei ,  erklärt  er  Air 
einen  unnützen  und  fast  sinnlosen.  Aber  die  Wahrheit  soll  in  einer 
Uebereinstimmung  der  Sätze  mit  den  Dingen,  um  die  es  sich  handelt, 
bestehen,  und  nun  setzt  er  auch  hier  hinzu ,  dass  er  die  Sätze  für  wahr 
erkläre,  welche  die  Möglichkeit  des  Gegenstandes  der  Vorstel- 
lung bejahen.-79)  Man  muss  sich  fragen ,  was  soll  hier  die  Möglichkeit 
bedeuten?  Bedeutet  sie  die  blos  logische  Möglichkeit,  so  verbürgt 
diese  weder  die  Wirklichkeit,  noch  viel  weniger  die  Notwendigkeit  des 
Gedachten,  und  wenn  Leibniz  das  blos  nicht  Undenkbare  im  Ernste  auch 
schön  für  wahr  erklären  will ,  so  begreift  sich  dies  nur  durch  die  Erin- 
nerung daran,  dass  ihm  das  Mögliche  als  möglicherweise  Seiendes 
allerdings  eben  so  wohl  für  ein  Seiendes  galt  als  das  Wirkliche;  begeg- 
net es  ihm  doch ,  dass  er  das  Mögliche  einmal  geradezu  das  Wirkliche 
nennt  (vgl.  unten  Anm.  288).  Dächte  man  aber  bei  dieser  logischen 
Möglichkeit  an  die  aus  hypothetisch  angenommenen  Möglichkeiten  mit 
logischer  Nothwendigkeit  abgeleiteten  Wahrheilen,  wie  die  der  reinen 
Mathematik  durchaus  sind ,  so  liegt  die  Wahrheit  derselben  nicht  in  der 
blossen  Möglichkeit  der  Voraussetzung,  sondern  in  der  Nothwendigkeit 
der  Abfolge.  Für  diese  kommt  der  Begriff  des  Möglichen  nur  in  soweit 
in  Betracht,  als  logische  Nothwendigkeit  Unmöglichkeit  des  Gegentheils 
ist,  und  in  diesem  Sinne  sagt  Leibniz  (p.  309a):  la  connaissance  des  posL 
sibüites  et  des  necessites  (car  necessaire  est ,  dont  l'oppose  liest  point  pos- 
sible)  fait  les  sciences  demonstratives.  Sollte  jedoch  die  Möglichkeit  die 
reale  Möglichkeit  bedeuten ,  so  entbehrte  die  Frage  darnach  bei  wirk- 


278)  a.  a.  0.  p.  355a.  La  convenance  ou  la  disconvenance  riest  pas  proprement  ce 
quon  cxprime  par  la  proposiüon.  Deux  oeufs  ont  de  la  convenance,  et  deux  ennemis  oni 
de  la  disconvenance.  II  s'agit  ici  dune  moniere  de  convenir  ou  de  disconvenir  toute  parti- 
culiere.  Ainsije  crois  que  cette  definiHon  riexplique  point  le  point ,  dont  il  s'agit. 

279)  a.  a.  0.  p.  3556.  La  verite  metaphysique  est  prise  vulgavrement  par  les  meta- 
physieiens  pour  un  attribut  de  l'etre,  mais  c'est  un  attribut  bien  inutile  et  presque  vide  de 
sens.  Contentons  nous  de  chercher  la  verite  dans  la  correspondence  des  propositions ,  qui 
sont  dans  Fesprit,  avec  les  choses,  dont  il  s'agit.  11  est  vrai  que  j'ai  attribue  aussi  la  verite 
aux  idees  en  disant  que  les  idees  sont  vraies  et  fausses;  mais  alors  je  l'entends  en  effet  de 
la  verite  des  propositions ,  qui  affirment  la  possibilite  de  l'objet  de  l'idee. 


228  G.  Habtbnstbik,  [4  48 

liehen  Dingen  jedes  Anknüpfungspunktes ,  bevor  man  ihre  Wirklichkeil 
erfahren  hal,  und  fällt  dann  mit  der  Untersuchung  ihrer  Bedingungen 
und  Ursachen  d.  h.  mit  einem  Denken  über  die  gegebene  Wirklichkeit 
zusammen ,  welches  sich  mit  dem  Versuche,  ein  ihm  von  dieser  Wirk* 
lichkeit  aufgegebenes  Problem  zu  lösen,  an  sich  selbst  gewiesen  findet, 
und  die  Wahrheit  kann  wenn  irgendwo  nur  in  dem  nothwendigen  Zu- 
sammenhang der  Gedankenbestimmungen  liegen,  welche  die  Lösung  des 
Problems  enthalten.  In  beiden  Fallen  ist  also  der  Begriff  der  Wahrheit, 
wie  Locke  es  ausspricht ',  an  die  Verhältnisse  des  Gedachten  gebunden ; 
und  wenn  man  sich  die  Berufuifg  Leibniz's  auf  die  Möglichkeit  als  Kri- 
terium der  Wahrheit  entwickelt,  so  scheint  zwischen  beiden  keine  prin- 
cipielle  Verschiedenheit  in  Beziehung  auf  den  Begriff  der  Wahrheit  ob* 
zuwalten,  zumal  da  der  Gegenstand,  die  Sache,  mit  welcher  die 
Wahrheit  übereinstimmen  soll ,  bei  Leibniz  durchaus  eben  so  den  blos 
gedachten,  als  den  wirklich  gegebenen  Gegenstand  bezeichnet. 


Locke  hatte ,  um  den  Werth  der  in  dem  natürlichen  Vorstellungs- 
kreis vorhandenen  Erkenntnissformen  zu  prüfen,  in  den  ersten  Capiteln 
des  dritten  Buchs  die  Sprache  als  den  Ausdruck  dieses  Vorstellungs- 
kreises einer  Erörterung  unterzogen.  Was  Leibniz  dazu  bemerkt,  hat 
zunächst  durchaus  keinen  polemischen  Charakter,  sondern  er  benutzt 
diese  Gelegenheit,  um  sich  über  diesen  ihm  selbst  wichtigen  und  inter- 
essanten Gegenstand  nicht  ohne  das  Gefühl  einer  gewissen  Ueberlegen- 
heit  über  Locke  zu  verbreiten.  Wenn  er  jedoch  daran  erinnert,  die  Affen 
hatten  wahrscheinlich  dieselben  Sprachorgane  wie  der  Mensch,  ohne 
doch  darum  zu  sprechen,  und  das  zeige,  dass  zur  Entstehung  der  Sprache 

9 

noch  etwas  mehr  gehöre,  als  diese  Organe,  so  bedurfte  Locke  dieser 
Belehrung  nicht.280)  Ebenso,  wenn  Locke  die  Bedeutungen  der  Worte 
für  willkührlich  festgestellte  erklärt  und  Leibniz  in  einer  weitläufigen, 
mit  etymologischer  Liebhaberei  ausgeführten  Nachweisung  auseinander- 
setzt, dass  natürliche  Verhältnisse  und  zufällige  Umstände  den  articulir- 
len  Lauten  ihre  Bedeutung  gegeben  hätten,  und  dabei  auf  eine  lange  Di- 


380)  L.  ÜI,  eh.  I,  §  t;  bei  beiden. 


449]  Lockk's  Lehkk  von  dbr  mbnschl.  ERKENNTNI8S  ö.  s.  w.  229 

gression  über  die  Wichtigkeit  der  Sprachforschung  für  die  Völkerge- 
schichte eingeht,*1)  so  zeigt  sich  darin  zwar  seine  bewunderungswür- 
dige Vielseitigkeit,  aber  das  worauf  es  Locke  ankam ,  dass  die  Sprache 
ein  System  von  Zeichen  für  die  Gedanken  und  ihre  Configoration  ist, 
wird  dadurch  eben  so  wenig  berührt,  als  durch  die  Hervorhebung  des 
für  die  Psychologie  allerdings  sehr  wichtigen,  aber  auch  von  Locke  nicht 
übersehenen  Umstands ,  dass  die  Sprache  nicht  abschliessend  der  Mit- 
theilung, soudern  auch  der  Reproduction  und  Fixirung  der  eigenen  Ge- 
danken dient.282)  Nur  die  Erinnerung  daran ,  dass  die  Entstehung  der 
Sprache  und.  die  im  Verlaufe  ihrer  Ausbildung  stattfindende  Uebertra- 
gung  sinnlicher  Bezeichnungen  auf  unsinnliche  Verhältnisse  nichts  über 
die  Begriffe,  ihren  Inhalt  und  ihre  Verhaltnisse  entscheide,  würde  von 
Wichtigkeit  sein,383)  wenn  nicht  Locke  selbst  hierauf  eben  desshalb  auf- 
merksam gemacht  hatte,  um  zu  zeigen,  wie  vielfach  die  »natürliche  Ord- 
nung« der  Begriffe  durch  diese  Art  ihrer  Bezeichnungen  gestört  und 
verwirrt  wird. 

Gleichwohl  liegt  hierin  die  Vorbereitung  einer  Polemik ,  die  in  den 
folgenden  Capiteln  über  die  allgemeinen  Begriffe  und  den  Erkenntniss- 
werth,  den  diese  oder,  was  für  Locke  dasselbe  ist ,  die  sie  bezeichnen- 
den Worte  in  Anspruch  nehmen  können ,  hervortritt.  Locke's  Ansicht 
von  den  allgemeinen  Begriffen  reduciert  sich  im  Wesentlichen  auf  folgende 
Satze:  1)  allgemeine  Begriffe  sind  lediglich  Producte  der  Reflexion  und 
Abstraction  und  (wenigstens  für  den  gewöhnlichen  Gedankenlauf)  ihrer 
Bedeutung  nach  an  das  Wort  geknüpft;  2)  sie  sind  zum  grossen  Theil 
willktthrlich  gebildete  und  bezeichnete  Vorstellungscomplexe  und  diese 
ihnen  anklebende  Zufälligkeit  erstreckt  sich  über  den  ganzen  Gebrauch, 
der  mittelst  der  Definitionen  und  Classificationen  von  ihnen  gemacht 
wird,  und  eben  desshalb  sind  sie  3)  überall,  wo  es  sich  um  die  Erkennt- 
niss  der  wirklichen  Dinge  handelt,  ungenügend  und  unsicher,  wahrend 
da,  wo  die  Reflexion  durch  gewisse  Allgemeinbegriffe  lediglich  Producte 
des  Denkens  ohne  Beziehung  auf  ein  Wirkliches  bezeichnet,  eine  Incon- 
gruenz  zwischen  dem  Begriffe  und  dein,  was  er  bezeichnen  will ,  nicht 
stattfindet  (vgl.  oben  S.  163fgg.}.   Den  Erörterungen  Locke's  über  die 


281)  a.  a.  0.  p.  899— 30«. 

282)  Vgl.  a.  a.  0.  p.  297a,  §  2  mit  Locke  B.  III,  cb.  IX,  §  2. 

283)  a.  a.  0.  p.  2976,  §  5. 


230  G.  Hartenstein,  [*20 

Entstehung  allgemeiner  Begriffe,  in  sofern  sie  gedacht  werden,  und 
ihre  Unentbehrliehkeit  für  den  Verkehr  durch  die  Sprache  versagt  nun 
Leibniz  seine  Zustimmung  nicht,*84)  und  auf  die  anticipirende  Bemerkung 
Locke's ,  das  ganze  Geheimniss  der  Gattungen  und  Arten ,  von  denen 
man  in  den  Schulen  so  viel  Lärm  gemacht  habe ,  reduciere  sich  zuletzt 
auf.  die  Feststellung  mehr  oder  weniger  abstracter  Begriffe ,  denen  man 
bestimmte  Namen  gebe,  erwidert  Leibniz  abspringend,  dass  die  Classi- 
fication der  Dinge  denn  doch  von  grosser  Bedeutung  sowohl  für  das 
Gedächtniss  als  für  das  Urtbeil  sei.*85)  Denn  nicht  diese  Nützlichkeit  der 
logischen  Classificationen  hatte  Locke  in  Zweifel  gezogen ,.  sondern  ihn 
beschäftigte  die  Frage,  ob  eine  logisch  geordnete  Reihe  von  Begriffen 
das  Wesen  der  Dinge  ausdrücke,  mit  andern  Worten:  ob  den  Gattungen 
und  Arten,  nach  welchen  wir  die  Dinge  classificieren,  reelle  Gattungen 
und  Arten  entsprechen,  so  dass  unsere  Classification  die  objective  Ord- 
nung dessen,  was  die  Dinge  sind,  darstellen.  Die  folgenden  Erörterun- 
gen haben  zu  zeigen,  in  welchem  Sinne  Leibniz  geneigt  ist,  die  Realität 
der  Arten  anzunehmen  und  ihre  Erkenntniss  durch  Begriffe  wenigstens 
annähernd  für  möglich  zu  halten,  während  Locke  die  Berufung  auf  die 
»specifischen  Differenzen«  und  die  damit  prätendirte  Erkenntniss  der  in 
der  Natur  vorausgesetzten  Arten  für  illusorisch  erklärt. 

Sein  Widerspruch  beginnt  bei  dem  Satze  Locke's,  dass  eben  dess- 
halb,  weil  die  Allgemeinheit  des  Begriffs  ein  Product  der  Reflexion  und 
Abstraction  sei ,  der  allgemeine  Begriff  keine  Bürgschaft  dafür  enthalte, 
Ausdruck  *  der  Wirklichkeit  zu  sein ,  wie  sehr  man  auch  das  Wesen 
der  Arten  durch  solche  Allgemeinbegriffe  erkannt  zu  haben  gemeint 
habe.  Leibniz  leugnet  diese  Folgerung;  die  Allgemeinheit  des  Begriffs 
beruhe  eben  auf  der  Aehnlichkeit  der  einzelnen  Dinge  und  diese  Aehn- 
lichkeit  sei  selbst  eine  Realität;  und  indem  der  die  Ansicht  Locke's  ver- 
tretende Unterredner  hinzufügt,  Locke  selbst  bemerke,  dass  die  Art- 
begriffe sich  auf  dergleichen  Aehnlichkeiten  gründen,  erwidert  Leibniz, 
eben  darum  könne  man  wenigstens  versuchen,  das  Wesen  der  Gattungen 
und  Arten  durch  allgemeine  Begriffe  zu  bestimmen.  Selbst  wenn  man 
zugebe,  dass  die  menschliche  Reflexion  Begriffe  und  Benennungen  fest- 


284)  Zu  §  \ — 5  des  3.  Capitels  p.  303a  bemerkt  er:  Ces  remarques  sont  bonnes 
et  il  y  en  a  qui  conviennent  avec  Celles  que  je  viens  de  faire, 

285)  a.  a.  0.  p.  304a,  §  9. 


<84]    .      Locu's  Lehre  von  der  mbnschl.  Erkenntniss  u.  6.  w.  231 

stelle,  die  den  Dingen  nicht  entsprechen ,  so  ändere  das  nichts  an  den 
Dingen  und  ihren  Aehnlichkeiten;286)  aber  während  man  nun  die  Weisung 
erwarten  sollte,  es  komme  darauf  an ,  statt  willktthrlicher  Abstractionen 
solche  Allgemeinbegriffe  zu  bilden ,  die  diesen  Aehnlichkeiten  entspre- 
chen, spricht  Leibniz  zunächst  die  Erklärung  aus,  die  ganze  Frage  nach 
dem  Wesen  und  den  dasselbe  ausdrückenden  Gattungs-  und  Artbegriffen 
beziehe  sich  überhaupt  nicht  auf  das  in  der  Natur  vorliegende  Wirkliche, 
sondern  auf  ein  von  unseren  Gedanken  unabhängiges  Mögliche;  gerade 
desshalb  seien  die  Arten  unvergänglich,  weil  es  sich  hier  nur  um  Mög- 
lichkeiten handle.287) 

Von  diesem  SaUe  aus  verwirft  nun  Leibniz  die  Locke'sche  Unter- 
scheidung zwischen  dem  nominellen  und  reellen  Wesen  (vgl.  oben 
S.  1 65)  als  eine  verwirrende  Neuerung  mit  grossem  Eifer.  Er  übersieht 
dabei,  dass  Locke  sich  dieser  Ausdrücke  nicht  in  dem  Sinne,  als  gebe 
es  zweierlei  Arten  von  Wesen,  sondern  lediglich  desshalb  bedient  hatte, 
um  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  das,  worin  man  den  Ausdruck 
des  Wesens  zu  finden  wähne,  nichts  als  ein  durch  ein  Wort  bezeichne- 
tes Abstractum  sei.  Dennoch  findet  Leibniz  nöthig  zu  bemerken,  es  gebe 
nicht  zweierlei  Wesen,,  sondern  nur  einerlei;  und  das  Wesen  sei  im 
Grunde  nichts  Anderes,  als  die  Möglichkeit  dessen,  was  Gegenstand 
der  Untersuchung  sei.  Dieses  Mögliche  werde  durch  die  Definition  aus- 
gedrückt ;  drücke  die  Definition  es  nicht  aus,  so  sei  sie  eine  blosse  No- 
minaldefinition ;  denn  dann  bleibe  der  Zweifel  übrig,  ob  sie  etwas 
Wirkliches,  das  heisse  etwas  Mögliches,  ausdrücke,  bis  die 
Erfahrung  darüber  entscheide,  während  eine  Real-  oderCausaldefinition 
die  Realität  des  Gegenstandes  begreiflich  machen  würde,  indem  sie  seine 
Ursachen  und  mögliche  Entstehung  vor  Augen  lege.  Die  Dinge  haben 
daher  nur  ein  Wesen,  aber  es  sind  verschiedene  Definitionen  von  ihnen 


286)  a.  a.  0.  p.  305a.  Je  ne  vois  pas  assez  cette  consequence.  Cor  la  generaUle 
consiste  dans  la  ressemblance  des  choses  singuheres  entre  elles  et  cette  ressemblance  est  une 
reaHte.  Ph.  faüais  vous  dire  moi  meme  que  ces  espices  sont  fondees  sur  les  ressemblance*. 
Th.  Pourquoi  donc  riy  point  chercher  aussi  Xessence  des  genres  et  des  especes.  ...  Si  les 
hommes  different  dans  le  nom,  cela  change-t-ü  les  choses  ou  leur  ressemblances? 

287)  a..a.  0.  p.  3056.  Au  reste,  que  les  hommes  joignent  telles  ou  telles  idees  ou 
non  et  meme  que  la  nature  les  joigne  actuellement  ou  non,  cela  ne  fait  rien  pour  les  essen- 
ces ,  genres  ou  especes ,  puisqu'il  ne  s'y  agit  que  des  possibüües  qui  sont  mdependantes  de 
notrepensee.  p.  3066.  Les  especes  sont  perpetueUes,  parcequ'il  ne  s'y  agit  que  du  pos- 
sible.  Vgl.  oben  Anna.  4  46. 


932  6.  Hartenstein,  [IS9 

möglich ; m)  und  selbst  eine  blosse  Nomingldefinition  drücke  immer  noch 
etwas  Reelles  aus,  nicht  an  sich,  sondern  als  Ausdruck  der  Erfahrung, 
die  uns  eine  Verknüpfung  gewisser  Eigenschaften  und  Wirkungen  in  den 
Dingen  zeige,  obwohl  sie  uns  keine  Erklärung  dieser  Verknüpfung  dar- 
biete.289) 

Hiermit  ist  jedoch  die  Streitfrage  schwerlich  entschieden ;  obwohl 
Locke  den  Unterschied  zwischen  Nominal-  und  Realdefinitionen  nirgends 
geltend  macht,  so  besagt  doch  seine  Unterscheidung  zwischen  dem 
nominellen  und  reellen  Wesen  dasselbe,  und  Realdefinitionen  sind  eben 
das,  was  er  vermisst.  Es  ist  daher  nöthig,  der  Art  nachzugehen,  in  wel- 
cher Leibniz  die  Bestimmungen  Locke's  über  den  Erkenntnisswerth  der 
allgemeinen  Begriffe  rücksichtlich  der  einfachen  Vorstellungen,  der  ge- 
mischten modi  und  Relationen,  endlich  der  Substanzen  weiter  verfolgt* 
In  Beziehung  auf  die  einfachen  Vorstellungen  geht  er  auf  die  Behaup- 
tung Locke's,  dass  bei  ihnen  der  Name  auch  die  Sache  bezeichne,  gar 
nicht  ein ;  da  er  mehrmals  hervorgehoben  hatte,  dass  die  sinnlichen  Em- 
pfindungen mit  Unrecht  für  objectiv  einfach  gehalten  werden,  und  wir 
gleichwohl  über  die  Art,  wie  sie  entstehen,  keine  ausreichende  Rechen- 
schaft geben  können,  so  durfte  er  diesen  Punkt  für  erledigt  halten.  Dass 
er  die  von  Locke  geltend  gemachte  Beziehung  auf  äussere  wirkliche 
Dinge  für  nicht  noth wendig  erklärt,  ist  hier  ein  Nebenpunkt;290)  die 
Frage,  in  wie  fern  von  einfachen  Vorstellungen  Definitionen  möglich 
sind ,  beantwortet  er  dahin ,  dass  das  streng  Einfache  allerdings  nicht 


288)  a.  a.  0.  p.  3056.  L'essenee  dans  le  fond  riest  autre  chose  que  la  possibilite  de 
:e  quon  propose.  Ce  qrion  suppose  possible  est  exprime  par  la  definition ;  mais  cette  de- 
finition riest  que  nominale ,  quand  eile  ri exprime  point  en  meme  tems  la  possibilite;  cor 
alors  on  peut  douter,  si  cette  definition  exprime  quelque  chose  de  riet,  c'est  ä  dire 
de  possible,  jusqu'  ä  ce  que  lexperience  vienne  ä  notre  secours  pour  nous  faire  con- 
naüre  cette  reakte  a  posteriori,  lorsque  la  chose  se  trouve  effeetwement  dans  k  monde;  ce 
qui  suffit  au  defaut  de  la  raison ,  qui  feraü  cormaüre  la  reakte  a  priori  en  ewpoeanl  la 
cause  ou  la  gmeration  possible  de  la  chose  definie  ... .  II  riy  a  qriune  essence  de  la  chose, 
mais  il  y  a  plusieurs  definüions  qui  expriment  la  meme  essence. 

289)  a.  a.  0.  p.  306a.  fatmerois  mieuw  de  dire  suivant  i'usage  commun 
recu,  que  l'essenee  de  For  est  ce  qui  le  constitue  et  qui  tui  donne  ces  qualiies  sensibles, 
qui  le  fönt  reeonnaUre  et  qui  fönt  sa  definition  nominale.  . . .  Cependant  la  defimkon  no- 
minale se  trouve  id  reelle  aussi,  non  par  eile  meme  (cor  eile  ne  faü  oonnaitre  la  possibiUie 
ou  la  generaUon  des  corps),  mais  par  fewperience  u.  s.  w. 

290)  a.  a.  0.  p.  307a,  §  2. 


1*3]  Locke's  Lehre  von  dsr  mbnschl.  Erkbnntiuss  ü.  s.  w.         333 

defintert  werden  kann,  dass  aber  bei  dem,  was  für  unsere  Auffassung  als 
einfach  nur  erscheint,  Definitionen  möglich  sein  würden.391) 

Rucksichtlich  der  modi  und  Relationen  hatte  Locke  die  Congruenz 
des  Begriffs  mit  der  Sache  und  somit  ihre  Erkennbarkeit  durch  allge- 
meine Begriffe  behauptet.  Leibniz  ist  natürlich  weit  entfernt,  dies  zu 
bestreiten,  sondern  es  ist  nur  die  von  Locke  behauptete  Beliebigkeit 
dieser  Begriffe,  die  er,  wenn  sie  sich  auch  ausserhalb  des  wissenschaft- 
lichen Denkens  nicht  wegleugnen  lasse,  innerhalb  des  letzteren  zurück- 
weist, indem  es  für  dergleichen  Begriffe  eben  so  gut  objective  Maass- 
stäbe gebe,  als  für  Begriffe,  die  sich  auf  das  Wirkliche  im  gewöhnlichen 
Sinne  beziehen. m) 

Mit  grosser  Sorgfalt  und  Ausführlichkeit  ist  dagegen  Leibniz  bemüht, 
den  Locke'schen  Säte ,  dass  wir  das  Wesen  der  Dinge  (der  Substanzen) 
durch  die  ihre  Arten  bezeichnenden  Begriffe  nicht  erkennen,  zu  ent- 
kräften, und  dennoch  darf  man  bezweifeln,  ob  ihm  dies  durch  ein  ande- 
res Mittel  gelingt,  als  dadurch,  dass  er  von  der  Strenge  der  Forderungen 
Locke's  gerade  das  nachlässt,  worauf  es  diesem  ankam.  Auf  die  Wider- 
legung des  Hauptsatzes ,  dass  wir  kein  anderes  Mittel  zur  Bestimmung 
dessen,  was  die  Dinge  sind,  haben,  als  die  Auffassung  ihrer  erscheinenden 
Merkmale,  und  dass  es  ein  Irrthum  ist,  die  durch  Zusammenfassung 
der  gleichartigen  Merkmale  entstehenden  Begriffe  für  solche  zu  halten, 
welche  dem  Wesen  der  Arten  entsprechen  (vgl.  obenS.  168),  geht  er  gai* 
nicht  ein;  es  stand  für  ihn  fest,  dass  das  Wesen  der  substanziellen  For- 
men oder  Entelechieen  durch  das,  was  sie  wirken,  wenn  auch  nur  un- 
vollkommen erkennbar  ist;  aber  es  ist  fast  eine  Missdeutung,  wenn  er 
Locke  gelegentlich  die  Meinung  unterlegt,  als  hange  das  Wesen  und  die 
Natur  der  Dinge  von  unseren  Vorstellungen  ab.**)  Eben  so  unzweifel- 


194)  a.  a.  0.  p.  308a.  6. 

391)  a.  a.  0.  p.  3096.  La  remarque  est  bonne  quant  o/uao  noms  et  quant  aux  cour 
tumes  des  hommes,  mais  eile  ne  change  rien  dans  les  soienees  et  dans  la  natare  des  ehoses. 
. . .  Dans  la  soience  m4me%  separee  de  son  histoire  ou  existenee,  U  ri empörte  poi$U,  si  les 
peuples  se  sont  confomes  ou  non  ä  ee  que  la  raison  ordonne.  p.  3  4  Oft.  Les  patrons  des 
idees  des  uns  sont  aussi  reels  que  ceuao  des  ictöes  des  autres.  ...  II  est  vrai  qu'on  ne  voü 
pas  la  justice  comme  un  cheval,  mais  on  ne  tentend  pas  moins,  ou  pkttöt  on  tentend 
mieux;  eile  riest  pas  moins  dans  les  actions,  que  la  droiture  et  Fobhquüe  est  dans  les  mov- 
vemens,  soit  qu*on  la  eonsidire  ou  non* 

393)  a.  a.  0.  p.  323a.  Je  ne  sais  pomquoi  on  veut  toujours  che*  vous  faire  de- 
pendre  de  notre  opinion  ou  oonnaissanee  les  vertue,  les  vtrites  ei  les  espiees.   Blies  sont 


234  G.  Hartenstein,  [484 

haft  ist  es  ibcü  auch ,  dass  unsere  Classificationen  der  Natur  der  Dinge 
wirklich  entsprechen,  wenn  wir  sie  nur  mit  der  gehörigen  Vorsicht  aus- 
fuhren.294) Dass  wir  die  Arten  der  Dinge  nicht  vollständig  erschöpfen 
können,  gibt  er  sehr  bereitwillig  zu;295)  aber  die  Unvollkommenheit  und 
Unangemessenheil  unserer  Classificationen  erscheine  minder  gross,  wenn 
man  nur  den  Unterschied  der  Art  im  mathematischen  d.  h.  im  streng 
logischen,  und  im  physischen  Sinne  beachte.  Für  die  Art  im  ersteren 
Sinne  bedingt  jede,  auch  die  geringste  Differenz  eine  Verschiedenheit 
der  Art;  in  diesem  Sinne  gehören  niemals  zwei  Dinge  zu  einer  Art,  ja 
selbst  dasselbe  Ding  gehört  in  der  Reihe  seiner  Veränderungen  zu  ver- 
schiedenen Arten.  Aber  bei  der  Aufstellung  der  physischen  Arten  bin- 
det man  sich  nicht  an  diese  Strenge;  es  hängt  von  uns  selbst  ab,  zu 
sagen ,  dass  ein  Ding  oder  ein  Körper  zu  derselben  Art  gehöre ,  wenn 
man  ihn  nur  wieder  unter  derselben  Gestalt  darstellen  kann;  ein  Ver- 
fahren, welches  man  auch  da  befolgt,  wo  man  bei  lebendigen  Wesen 
die  Arten  nach  der  Fortpflanzungsfähigkeit  bestimmt296)  Obwohl  es  nun 


dans  la  natun,  soit  que  nous  le  sachions  et  approuvions  ou  non.    p.  34  9a.  Vgl.  oben 
Anm.  154. 

294)  a.  a.  0.  p.  320a.  Si  nous  combinons  les  idees  compatibles ,  les  limites  que 
nous  assignons  aux  especes  sont  toujours  exactement  conformes  ä  la  nature;  et  si  nous 
prenons  gar  de  d  combiner  les  idees,  qui  se  trouvent  actuellement  ensemble,  nos  notions 
sont  encore  conformes  ä  Fexperience;  et  si  nous  les  considerons  comme  provisUmelles 
seulement  pour  des  corps  effectifs,  sauf  ä  Fexperience  faxte  ou  d  faire  dy  decouvrir 
davantage,  .  . .  nous  ne  nous  y  tromperons  pas. 

295)  a.  a.  0.  p.  312 a.  favois  dessein  . . .  de  dtre  quelque  chose  dapprochant  de  ce 
que  vous  venez  dexposer,  Monsieur;  mais  je  suis  aise  detre  prevenu  lorsque  je  vois  qu'on 
dit  les  choses  mieux  que  je  n'aurais  esper  e  de  le  faire,  p.  31 9a.  Je  vous  Fat  deja  accordc 
(quon  ne  sauroü  toujours  assigner  des  bornes  fixes  des  especes) ;  car  quand  il  s'agil  des 
fictions  et  de  la  possibilite  des  choses,  les  passag  es  despece  en  espece  peuvent  itre  insen- 
sibles u.  s.  w. 

296)  a.  a.  0.  p.  31 26.  II  y  a  quelque  ambiguite  dans  le  terme  despece  ou  d4tre  de 
differente  espece,  qui  cause  tous  ces  em  bar  ras  .. .  On  peut  prendre  r  espece  mathe- 
matiquement  et  physiquement.  Dans  la  rigueur  mathematique  la  moindre  diffe- 
rence  qui-  fait  que  deux  choses  ne  sont  point  setnblables  en  tout  faxt  qu'eUes  different 
despece.  . . .  De  cette  facon  deux  indwidus  physiques  ne  seront  jamais  parfaüement  sem- 
blables  et  qui  plus  est,  le  meme  individu  passera  despece  en  espece,  car  il  riest  jamais 
semblable  en  tout  en  soi  meme  au  dela  dun  moment.  Mais  les  hommes  etablissant  des 
especes  physiques ,  ne  s'attachent  point  ä  cette  rigueur  et  il  depend  deux  de  dire  quune 
masse  qu'ils  peuvent  faire  retourner  eux  memes  sous  la  premiere  forme,  demeure  dune 
mime  espece  en  gener al.  Ainsi  nous  disons  que  l'eau,  For  ...  le  demeurent,  . . .  mais  dans 
les  corps  organises  . .  *  nous  defmssions  V espece  par  la  gener ation. 


*25]  Locke's  Lehre  von  der  mbnscbl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  235 

in  der  Natur  Aehniichkeiten  and  Unterschiede  gebe  ,  die  uns  unbekannt 
sind,  so  werden  doch  die  mit  Beachtung  der  in  der  Natur  erkennbaren 
Unterschiede  aufgestellten  Artunterschiede  auch  der  Natur  der  Dinge 
entsprechen.  Viele  unserer  Unterscheidungen  mögen  in  dieser  Beziehung 
nur  einen  provisorischen  Werth  haben ;  je  mehr  wir  aber  die  Entstehung 
der  Arten  kennen  lernen,  desto  mehr  dürfen  wir  hoffen,  der  naturlichen 
Ordnung  uns  zu  nähern;297)  jedenfalls  existieren  die  Arten  in  der  N&tur 
ganz  unabhängig  von  unserer  Erkenntniss  derselben.  Locke  würde  das 
Letztere  vielleicht  weder  behauptet  noch  geleugnet  haben ;  aber  er  würde 
haben  fragen  dürfen,  theils,  mit  welchem  Rechte  Leibniz  bei  der  Auf- 
stellung der  Arten  im  physischen  Sinne  etwas  —  unbestimmt  wie  viel 
—  von  der  logischen  Strenge  aufgeopfert  wissen  will,  theils,  ob  die  da- 
durch gewonnenen  Classificationen  den  Erkenntnissinhalt  wirklich  dar- 
bieten, den  Locke  vermisst.  Wenn  Leibniz  sagt,  bei  der  Aufsteilung  der 
physischen  Arten  halte  man  sich  an  die  Erscheinungen,  und  stelle  unter 
Weglassung  der  Accidenzen,  d.h.  der  unwesentlichen  Merkmale  ent- 
weder einen  bestimmten ,  aber  nur  provisorischen  Artbegriff  auf,  oder 
man  nehme,  wo  es  sich  um  die  innere  Wahrheit  handle,  zu  Vermuthtin- 
ged  seine  Zuflucht,  indem  man  für  gewisse  Glassen  der  Dinge  eine  ge- 
meinschaftliche Wesenheit  voraussetze, m)  so  setzt  die  Unterscheidung 


897)  a.  a.  0.  p.  34  3a.  Cependant  quelques  reglemens  que  les  hommes  fassentpour 
leurs  denominations  . . .  pourvu  que  leur  reglement  soü  suivi  ou  He  H  intelligible,  il  sera 
fonde  en  realite  et  il  ne  sauront  se  figurer  des  especes  que  la  nature,  qui  comprend  jusqu* 
aux  possibilites,  riait  failes  et  distinguees  avant  eux.  p.  3 4  36.  Nous  pouvons  dire  que  tout 
ee  que  nous  distinguons  ou  comparons  avec  verite,  la  nature  le  distingue  ou  le  fait  con- 
vetiir  aussi,  quoiqu'  eile  ait  des  disHncHons  et  des  comparaisons  que  nous  ne  savons  point 
et  qui  peuvent  itre  meiUeures  que  les  nötres  . . .  Plus  on  approfondira  la  generation  des 
especes  et  plus  on  suwra  dans  les  arrangemens  les  oondiUons,  qui  y  sont  requises,  plus  on 
approehera  t ordre  naturel.  In  dem  was  vorhergebt  und  folgt,  weist  er  auf  den  Unter- 
schied natürlicher  und  künstlicher  Classificationen  unter  besonderer  Rücksicht  auf  die 
Botanik  mit  einer  für  die  damalige  Zeit  überraschenden  Bestimmtheit  hin.  —  Auf  den 
nur  provisorischen  Werth  der  Bestimmung  der  physischen  Arten  macht  er  wiederholt 
aufmerksam  z.  B.  p.  3U6.  Vgl.  oben  Anm.  *49.  Dass  dergleichen  provisorische  De« 
finitionen  und  Classificationen  selbst  in  der  Geometrie  vorkommen  können,  erläutert 
Leibniz  später  gelegentlich  an  dem  Beispiel  der  Perllinien ,  die  man  nicht  sofort  als 
eine  Art  cubischer  Paralleloiden  erkannt  habe.  Si  oela,  setzt  er  hinzu  (p.  3326),  peut 
arriver  en  geometrie,  s'etonnera-t-on  qu'ü  est  dif fidle  de  determmer  les  especes  de  la  na- 
ture oorporelle,  qui  sont  inoomparablement  plus  compose'es? 

398}  a.  a.  0.  p.  3 1  { a.  Physiquement  parlant  on  ne  s'arr4te  pas  d  toutes  les  variStes 
et  Fon  parle  ou  nettement,  quand  il  ne  s'agit  pas  que  des  apparences9  ou  con- 


836  6.  Hartenstein,  [496 

wesentlicher  und  unwesentlicher  Merkmale  die  Kenntniss  des  Wesens 
schon  voraus  und  gerade  dieses  Wesen  ist  es,  nach  welchem  Locke  ge- 
fragt und  für  dessen  Bestimmung  er  sich  nicht  mit  einer  im  besten  Falle 
immer  wieder  lediglich  auf  die  gegebenen  Erscheinungen  gegründeten 
Voraussetzung  hatte  befriedigen  lassen  wollen.  Wenn  Leibniz  mehr  als 
einmal  wiederholt,  dass  die  natürlichen  Arien  wirklich  existieren,  gleich- 
viel ob  wir  sie  erkennen  oder  nicht  erkennen,299)  so  handelte  es  sich  für 
Locke  eben  um  diese  Erkenntnis«;  wirklich  existierende  Arten,  deren 
specifisohe  Differenzen  unbekannt  sind ,  bieten  ftlr  eine  dem  Wesen 
der  Arten  entsprechende  Classification  ebeif  nicht  den  geringsten  An- 
baltepunkt  dar  (vgl.  oben  S.  1 69).  Und  wenn  Leibniz  diese  natürlichen 
Arten  wohl  auch  lediglich  für  mögliche  Aehnlichkeiten,  oder  für  Mög- 
lichkeiten in  der  Aehnlichkeit  erklärt,  so  würde  Locke  in  Beziehung' auf 
die  vorliegende  Frage  in  der  Berufung  auf  die  Möglichkeit  schwerlich 
auch  nur  den  kleinsten  Aufschluss  über  die  Räthsel  der  Wirklichkeit  ge- 
funden haben. 

Die  Bemerkungen  Leibniz's  zu  den  letzten  drei  Gapiteln  des  dritten 

Buchs  über  die  Un Vollkommenheit  der  Sprache,  den  Missbrauch  dersel- 

• 

jecturalement,  quand  il  sfagit  de  la  verite  interieure  des  choses,  eny  presu- 
tnant  quelque  nature  essentielle  et  immuable,  comme  h  raison  est  dans  F  komme.  On 
presume  donc  que  ce  qui  ne  differe  que  par  des  changemens  accidentels,  .  ..  est  dune 
mime  espece.  II  est  vrai  qu'on  rien  sauroü  juger  preeisement  faule  de  conuaUre  Finterieur 
des  choses.  Maie  . .  Fon  juge  provisumellement  ei  souvent  conjecturettement.  Cependant 
hrsqu'on  ne  veut  parier  que  de  Fexterieur,  de  peur  de  ne  rien  dire  que  de  sur,  üy  a  de 
la  latUude;  et  disputer  ators  si  une  differenee  est  spedfique  ou  nonf  dest  disputer  du  nom. 
ftft9)  Hierher  gehört  auch  die  von  Leibniz  p.  32Bfr  geltend  gemachte  Unterschei- 
dung zwischen  abetraüs  reels  und  abetraüs  hgiques.  Wenn  er  übrigens  p.  £2  2  a  die 
Bestimmung  der  physischen  Arten  mit  grösserer  Strenge  als  in  den  eben  angefahrten 
Stellen  von  der  Kenntniss  des  Wesentlichen  und  Unveränderlichen  abhXqgig  macht, 
die  uns  eben  fehlt  (p.  387a  Fesaence  interieure  est  dons  la  chose,  mais  fon  eontrient, 
qu'elle  ne  sauroü  servvr  de  patron) ,  so  liegt  darin  eine  Annäherung  an  Locke,  die,  den 
Gegenstand  des  Streits  fast  verschwinden  macht.  Entre  tes  differences  specifiques  pure- 
ment  logiques,  setzt  er  hinzu,  ou  la  moindre  Variation  de  defmüHon  assignable  suffit, 
quelqu*  aceidenteüe  qu'elle  soü,  et  entre  les  differenoes  specifiques,  qui  sont  purement  phy- 
siques,  fondees  sur  Vessentiel  ou  immuable,  on  peut  mettre  un  miUeu,  msw 
qu'on  ne  saurait  deterwuner  precisement;  on  s*y  regle  sur  les  apparenees  les  plus  ecnsi- 
derables,  qui  ne  sont  pas  tout  d  faü  unmuabhs,  mais  qui  ne  ehangent  pas  facUement,  tun 
approehant  plus  de  Feeseutiel,  que  lautre;  et  comme  un  connoisseur  ausei  peut  aller  plus 
hm  que  Fautre,  la  chose  paroU  arbitraire  et  a  du.  rapport  aum  hommes  et  il  paroit  eoas- 
tnode  de  rigler  aussi  les  noms  sehn  les  differenoes  prmcipales.  Vgl.  Locke  B.  KI,  eh.  XI, 
§«9.  24.  25. 


497]  .       Locke's  Lehre  von  der  mrnschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.         S37 

ben  und  die  Mittel ,  die  dadurch  bedingten  Verkümmerungen  der  Er- 
kenntniss zu  beseitigen  oder  wenigstens  zu  vermindern,  enthalten,  ab- 
gesehen davon,  dass  er  manche  von  Locke  angeführte  Beispiele,  nament- 
lich solcher  Begriffe,  auf  weiche  sich  die  bisherigen  Discussionen  bezo- 
gen hatten,  ablehnt,  durchaus  keine  Polemik,  sondern  Zustimmung  nnd 
Erläuterung.  Namentlich  insofern  Locke  eines  der  wesentlichsten  Mittel, 
aus  der  Verworrenheit  und  Unbestimmtheit  des  gewöhnlichen  in  der 
Sprache  sieb  ausdrückenden ,  aber  auch  unter  den  in  der  Sprache  lie- 
genden Unbestimmtheiten  leidenden  Gedankenkreises  herauszukommen, 
in  der  Sorgfalt  für  genaue  Begriffsbestimmungen  und  die  damit  zusam- 
menhängende bestimmte  Bedeutung  der  Worte  sucht,  stimmt  ihmLeibniz 
ohne  Rückhalt  zu,  indem  er  (p.  3346)  sagt:  Tout  revient  sans  doute  aux 
definitum,  qui  peüvent  aller  jusqu  aux  idees  primitives. 


«ii 


In  diesem  Satze  ist  nun  zugleich  eine  viel  grössere  Uebereinstim- 
mung  beider  Denker  über  die  Grundlage  und  die  Methode  der  mensch- 
lichen Erkenntniss  angedeutet,  als  man  bei  der  Verschiedenheit  ihrer 
Ansichten  über  metaphysische  Fragen  erwarten  sollte.  Gegen  die  Fun- 
damentalbestimmung, mit  welcher  Locke  das  vierte  Buch  eröffnet,  dass 
alle  Erkenntniss  sich  zunächst  auf  das  Verhältniss  der  Vorstellungen  zu 
einander  beziehe  und  in  der  Entscheidung  über  ihre  Uebereinstimmung 
und  Nichtübereinstimmung  bestehe,  erhebt  Leibniz,  wie  schon  bemerkt, 
keinerlei  die  Sache  selbst  berührende  Einwendung.  Denn  wenn  er  er- 
innert,  man  nehme  den  Begriff  der  Erkenntniss  auch  noch  in  einem 
weiteren  Sinne ,  indem  man  dabei  lediglich  den  grösseren  oder  gerin- 
geren Reichthum  des  Vorstellungskreises  berücksichtige,  ohne  nach  sei- 
ner Wahrheit  zu  fragen  *")  so  legt  er  darauf  selbst  kein  Gewicht  Die 
Locke'sche  Definition  der  wahren  Erkenntniss  erkennt  er  ausdrücklich 
an ;  nur  fügt  er  hinzu,  es  sei  nicht  allgemein  richtig,  dass  diese  Erkennt- 
niss immer  mit  der  inneren  Wahrnehmung,  dem  Bewusstsein  der  Ver- 
baltnisse der  Vorstellungen  verbunden  sei,  wie  z.  B.  bei  allen  empirischen 


300)  a.  a.  0.  p.  336a. 


238  6.  Hartenstein,  [128 

Erkenntnissen;^1)  auch  passe  die  Locke'sche  Definition  nur  auf  Sätze 
von  kategorischer,  nicht  auf  die  von  hypothetischer  Form,90'*)  eine  Bemer- 
kung, die  sich  von  selbst  erledigt,  da  die  hypothetische  Gedankenver- 
knüpfung so  gut,  wie  die  kategorische,  ein  Urtheil  über  das  Verbal tniss 
der  Begriffe  enthält  und  es  Locke  nicht  eingefallen  war,  Wahrheit  jind 


304)  a.  a.  O.  p.  3366.  Prenant  la  connaissance  dans  tm  sens  plus  etroit  comme 
vous  faites  ici,  je  dis  qu'il  est  bien  vrai,  que  la  verite  est  toujours  fondee  dam  la  conve- 
nance  ou  disconvenance  des  idees;  mais  il  n*est  point  vrai  generalemeni ,  que  notre  con- 
naissance de  la  verite  est  une  perceplion  de  cette  convenance  ou  disconvenance.  Cor  lorsque 
nous  ne  savons  la  verite  qu'empiriquement,  pour  tavoir  experimentee,  sans  savoir  la  con- 
nexion  des  choses  et  la  raison,  . . .  nous  riavons  point  de  perceplion  de  cette  convenance 
ou  disconvenance,  si  ce  n'est  qu'on  l'entende  que  nous  la  sentons  confusement  sans  nous  en 
appercevoir.  Locke  halte  wohl  fragen  dürfen,  ob  die  Kenntniss  einer  empirischen  That- 
suche  ohne  jedes  Bewusstsein  über  das  Verhältniss  der  sie  bezeichnenden  Vorstellun- 
gen überhaupt  möglich  sei  oder  wenigstens  eine  Erkenn  tniss  genannt  werden  könne. 
—  Den  für  die  Sache  selbst  sehr  unwichtigen  Unterschied  zwischen  actueller  und 
habitueller  Erkenntniss  (vgl.  oben  Anm.  4  60)  erkennt  Leibniz  ebenfalls  an,  und  ver- 
breitet sich  über  ihn  ziemlich  ausführlich ;  es  geht  aber  dabei  nicht  ohne  ein  starkes 
Missverständniss  ab.  Locke  hatte  gesagt  (B.  IV,  eh.  I,  §  9):  The  immutability'  of  the 
same  relations  between  the  same  immutable  things  is  the  idea  that  shews  htm,  that  if  the 
tree  angles  of  a  triangle  were  once  equal  to  two  right  onest  they  will  always  be  equal  lo 
two  right  ones.  And  hence  he  comes  to  be  certain,  that  what  was  once  true  in  the  case,  is 
always  true;  what  ideas  once  agreed,  will  always  agree  and  consequently  what  he  once 
knew  to  be  true,  he  will  always  know  to  be  true.  Upon  this  ground  it  isf  that  particular 
demonstrations  in  mathematics  afford  general  knowledge.  If  the  perceplion,  that  the  same 
ideas  will  eternally  have  the  same  habitudes  and  relations,  be  not  a  sufficient  ground  of 
knowledge,  there  could  be  no  knowledge  of  general  propositions  in  mathematics.  Darauf 
findet  Leibuiz  (p.  3386)  nöthig  zu  erwidern:  Je  ne  demeure point  daecord  qu'en  mathe- 
matique  les  demonstrations  particulieres  sur  la  figure  qu'on  trace,  fournissent  cette  certi- 
tude  generale,  comme  vous  semblez  le  prendre.  Cor  il  faut  savoir  que  ce  ne  sont  pas  les 
figures,  qui  donnent  la  preuve  che*  les  geometres;  . . .  ce  sont  les  propositions  universelles, 
c'est  ä  dke,  les  axiomes  et  les  theoremes  deja  demontres  qui  fönt  le  raisonnement.  In  der 
That  eine  sehr  unnöthige  Belehrung,  da  die  particular  demonstrations  bei  Locke  auf  den 
beiondern  Fall  geben ,  in  welchem  Jemand  eiuen  mathematischen  Beweis  eingesehen 
hat,  nicht  auf  die  particulare  Gültigkeit  des  Beweises  selbst ,  und  Leibniz  anderwärts 
z.  B.  selbst  darauf  aufmerksam  macht,  dass  die  Veranschaulichung  durch  Figuren  und 
die  Controle  der  Erfahrung  wichtige  Hülfsmittel  des  mathematischen  Denkens  sind. 
Vgl.  p.*343a,  3496. 

302)  a.  a.  0.  p.  3"37a.  Enfinfai  encore  une  remarque  ä  faire  sur  votre  deftnition; 
cest  qu'elle  paroit  seulement  aecommodee  aux  verites  categoriques,  . . .  mais  il  y  a  encore 
une  connaissance  des  verites  hypothe'tiques ;  . .  ainsi  il  peut  y  entrer  plus  que 
deux  idees. 


J29]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  239 

Erkenntniss  auf  das  Verhältniss  von  blos  zwei  Vorstellungen  zu  be- 
schränken. 

Für  die  vier  Classen  von  Fällen ,  in  welchen  das  Denken  über  die 
Uebereinstimmung  und  Nichtübereinstimmung  der  Vorstellungen  eine 
Entscheidung  zu  treffen  Veranlassung  findet,  stellt  Leibniz  eine  bessere 
Anordnung  nach  einem,  jedoch  von  Locke  selbst  angedeuteten  Gesichts- 
punkte (vgl.  oben  Anm.  163)  auf.  Wo  es  sich  um  Uebereinstimmung 
oder  Nichtübereinstimmung  der  Vorstellungen  handle,  sei  der  allge- 
meinste Begriff  der  der  Beziehung  oder  des  Verhältnisses ;  und  das  Ver- 
hältniss  sei  ein  Verhältniss  entweder  der  Vergleichung  oder  der  Ver- 
knüpfung. Der  erstere  Fall  ergebe  Identität  oder  Nichtidentität;  zu  dem 
zweiten  gehöre,  was  Locke  Coexistenz  nenne.  Dazu  gehöre  im  Grunde 
auch  die  Existenz;  denn  wo  man  sage  ein  Ding  existiert,  verknüpfe  sich 
der  Begriff  des  Seins  mit  der  Vorstellung  des  Gegenstandes;  ja  man 
könne  sagen,  dass  die  Existenz  eine  Verknüpfung  des  vorgestellten  Ob- 
jecls  mit  dem  vorstellenden  Subject  bezeichne.  Alle  Verhältnisse  seien 
also  Verhältnisse  entweder  der  Vergleichung  oder  der  Verknüpfung,  von 
denen  aber  die  der  Identität  und  der  Existenz  besonders  hervorgehoben 
zu  werden  verdienen.*08) 

Wichtiger  als  diese  Gorrectur  ist  jedenfalls,  dass  Leibniz  gegen  den 
für  die  verschiedenen  Arten  der  Erkenntniss  wesentlich  maassgebenden 
Unterschied  zwischen  intuitiver  und  demonstrativer  Erkenntniss  nicht 
den  allermindesten  Einwurf  macht,  was  nicht  zu  verwundern  ist,  da  er 
selbst  ganz  unabhängig  von  Locke  die  ganze  Methodik  des  wissenschaft- 
lichen Denkens  gerade  hieran  geknüpft  hatte.  Die  Verschiedenheit  bei- 
der Denker  besteht  lediglich  darin,  dass  Leibniz  auf  die  strenge  Form 
des  logischen  Denkens  einen  viel  grösseren  Werth  legt  als  Locke ,  und 
keineswegs  damit  einverstanden  ist,  dass  identische  Sätze,  allgemeine 


303)  a.  a.  0.  p.  337a.  Je  crois  qu'on  peut  dire,  que  la  liaison  riest  autre  chose 
que  le  rapport  ou  la  relation  prise  generaleinent.  . .  Tout  rapport  est  ou  de  com" 

paraison  ou  de  concours.    Celui  de  comparaison  donne  la  diversite  et  Videntiti 

Le  concours  contient  ce,  que  vous  appellez  coexistence  dest  ä  dire  connexion  cT  existence. 
Mais  lorsqtion  dit,  qu'une  chose  existe,  . .  cette  existence  meme  est  le  predkat,  c'est  ä  dire, 
eile  a  une  notion  Uee  avec  Tidee,  dont  il  s'agit  et  il  y  a  connexion  entre  ces  deux  notions. 
On  peut  aussi  concevoir  t existence  de  Tobjet  dfune  idee,  comme  le  concours  de  Tobjet  avec 
moi.  Ainsi  je  crois  qu'on  peut  dire,  qu'il  n'y  a  que  comparaison  ou  concours ,  mais  que  la 
comparaison,  qui  marque  Tidentiti  ou  diversite  et  le  concours  de  la  chose  avec  moi  sont 
les  rapports,  qui  meritent  Üitre  disHngues  parmi  les  autres. 

Ahlimi.ll.  d.  K.  S.  Ge*.  d. Wi<8.  X.  <  0 


240  G.  Hartenstein,  [430 

lediglich  analytische  Urtheile  und  die  Anwendung  der  Formen  des  Syl- 
logismus für  die  Erkenntniss  so  unfruchtbar  seien,  als  Locke  meint. 

Dies  verräth  sich  sogleich  in  der  Sorgfalt,  mit  welcher  er  den  Be- 
griff und  den  Umfang  der  intuitiven  Erkenntniss  zu  bestimmen  sucht» 
Es  gibt,  sagt  er,  zwei  Arten  primitiver,  unvermittelter  Wahrheiten,  Ver- 
nunftwahrheilen  und  thatsächliche  Wahrheiten ;  jene  sind  noth wendig 
(im  Sinne  des  begriffsmässigen  Denkens),  diese  zufällig.  Die  primitiven 
Vernunftwahrheiten  sind  aber  lediglich  die  identischen  Satze,  und  diese 
sind  entweder  positiv  oder  negativ;  die  logischen  Satze  der  Identität 
und  des  Widerspruchs  nehmen  unter  ihnen  eine  der  wichtigsten  Stellen 
ein.304)  Auf  die  Nachweisung,  dass  alle  demonstrative  Erkenntniss  in 
letzter  Instanz  auf  solche  identische  Satze  zurückgeführt  werden  müsse, 
legt  er  ein  so  grosses  Gewicht ,  dass  er  nicht  nur  eine  grosse  Anzahl 
solcher  Satze  beispielsweise  anführt,  sondern  auch  die  Beziehung  der- 
selben auf  die  Ableitung  der  Schlussfiguren  als  der  formen  des  demon- 
strativen Denkens  ausführlich  darlegt.905)  —  Für  die  primitiven  factischen 
Wahrheiten  erklart  er  die  unmittelbaren  Thalsachen  der  innern  Erfah- 
rung; in  den  Beispielen,  die  er  dafür  anführt,  beschrankt  er  sich  hier 
streng  auf  das,  was  wirklich  Thalsache  der' innern  Erfahrung  ist.  — 
Beide  Classen  primitiver  Wahrheiten  haben  das  mit  einander  gemein, 
dass  man  nicht  im  Stande  ist,  sie  durch  irgend  etwas  zu  beweisen,  was 
gewisser  wäre  als  sie  selbst.306) 

Gründet  sich  alles  demonstrative  Wissen  zuletzt  auf  identische  Satze 
als  den  unmittelbaren  und  unabweisbaien  Ausdruck  des  Verhältnisses 
der  Begriffe  selbst,307)  so  begreift  sich  die  Ausführlichkeit,  mit  wel- 


304)  a.  a.  0.  p.  3386.  Les  verites  primitives  qu'on  satt  par  intuition,  sont  de  deux 
sortes  comtne  les  derivatives.  Elles  sont  du  notnbre  des  verites  de  raison  et  des  verites  de 
fait.  Les  verites  de  raison  sont  necessaires  et  celles  de  fait  sont  contingentes.  Les  verites 
primitives  de  raison  sont  celles ,  que  fappelle  d'un  nom  general  les  identiques,  parce  qu'il 
semble  qu*  elles  ne  fönt  que  repeter  la  mime  chose ,  sans  nous  rien  apprendre.  Elles  sont 
affirmatives  ou  negatives.  Vgl.  p.  360a. 

305)  a.  a.  O.  p.  339.  340. 

306)  a.  a.  O.  p.  3406.  Pour  ce  qui  est  des  verites  primitives  de  fait,  ce  sont  les 
experiences  immediates  internes  dune  immediation  du  sentment.  ...  On  voit  que  toutes 
les  veritis  primitives  de  raison  et  de  fait  ont  cela  de  commun,  qu'on  ne  sauraü  les  prouver 
par  quelque  chose  plus  certaine. 

307)  Dass  es  für  Leihniz  wesentlich  auf  das  VerhSltntss  der  Begriffe,  also  auf  den 
Inhalt  derselben  ankam,  zeigen  u.  A.  Auseinandersetzungen  wie  p.  380a — 382.  Selbst 


434]  Locke's  Lehre  von  der  mbnschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.          241 

eher  Leibniz  die  scientifische  Unentbehrlichkeit  der  Axiome  gegen  die 
Locke'sche  Behauptung  ihrer  Werthlosigkeit  darlegt.  Locke  hatte  zu 
zeigen  gesucht,  dass  die  Entscheidung  über  Identität  und  Nichtidentität 
der  Begriffe  sich  dem  Denken  in  jedem  einzelnen  Falle  unmittelbar  auf- 
dringe und  dass  es  dazu  nicht  erst  der  Subsumtion  unter  ein  in  der 
Form  eines  allgemeinen  Satzes  gedachtes  Axiom  bedürfe.  Diese  That- 
sache  gibt  Leibniz  vorlaufig  zu,  wiewohl  er  durch  Beispiele  aus  der 
Mathematik  darauf  aufmerksam  macht,  wie  leicht  man  rücksichtlich  der 
Nichtidentität  gewisser  Begriffe  Irrthümern  ausgesetzt  sei;906)  aber  er 
leugnet  auf  das  Entschiedenste  die  von  Locke  behauptete  Entbehrlich- 
keit der  Axiome  für  allgemeine  wissenschaftliche  Untersuchungen.  Es 
mag  richtig  sein,  dass  unmittelbare  Uitheile  über  Einzelnes  sich  früher 
aufdringen,  als  allgemeine  Sätze  und  dass  Erfindung  und  Unterricht  an 
ihnen  ihren  Leitfaden  finden ;  es  handelt  sich  aber  hier  nicht  um  die 
Geschichte ,  sondern  um  die  Begründung  des  Wissens,  und  dieses  Wis- 
sen selbst  verliert  ohne  die  Grundlage  allgemeiner,  unmittelbar  gewisser 
Sätze  den  Charakter  der  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit.300)  Er  lässl 
sich  daher  die  Mühe  nicht  verdriessen,  an  der  Auflösung  einer  Gleichung 
und  dein  ausführlichen  Beweise  des  Satzes:  2.2  =  4,  die  Notwendig- 
keit des  Zurückgehens  auf  allgemeine  Axiome  und  den  Unterschied 
einer  nur  particulären  von  einer  allgemeinen  Auflösung  einer  mathema- 
lischen Aufgabe  vor  Augen  zu  legen.310)    Dass  die  Berufung  auf  die 


für  den  Satz:  ich  bin,  ist  er  (p.  3626)  nicht  abgeneigt,  die  Bezeichnung  eines  Axioms 
fallen  zu  lassen,  cor  c'est  une  proposition  de  fait,  fondie  sur  une  experience  iminädiate 
et  ce  riest  pas  une  proposiUon  necessaire,  dont  on  voie-  la  necessite  dans  la  con- 
venance  des  idees.  Vgl.  p.  373a,  §  t. 

308)  a.  a.  0.  p.  3606. 

309)  a.  a.  0.  p.  3626.  II  ne  s'agit  pas  ici  de  l'histoire  de  nos  decouvertes,  qui  est 
differente  en  differens  hommes,  mais  de  la  liaison  et  de  Vordre  naturel  des  verites,  qui  est 
toujours  le  mSme.  p.  364a.  Si  tmventeur  ne  trouve  qu'üne  verite  particuHere,  il  riest 
irwenteur  qriä  demi  u.  s.  w.  p.  389a.  Si  vous  voulez  que  cette  liaison  des  idees  se  voie 
et  s'exprime  distinetement ,  vous  serez  oblige  de  recourir  aux  depmUons  et  aux  aariomes 
identiques ,  comme  je  le  demande,  et  quelquefois  vous  serez  obligS'de  vous  contenter  de 
quelques  axioms  tnoins  primtifs ,  . . .  lorsque  vous  aurez  de  la  peme  d  parvenir  ä  une 
parfaite  analyse. 

340)  a,a. 0.  p. 364.  363.  —  Wie  weit  gleichwohl  Leibniz  von  der  Pedanterei 
entfernt  war,  die  minutiöse  Darlegung  des  logischen  Zusammenhangs  jedes  Theorems 
mit  seinen  Gründen  in  allen  einzelnen  Theilen  zu  verlangen,  zeigen  Auseinander- 
setzungen wie  p.  342,  367,  368a,  396. 

46* 


242  G.  Hartenstein,  [123 

Axiome  nur  bei  der  Widerlegung  falscher  Meinungen  von  Nutzen  sei, 
erklärt  er,  abgesehen  davon,  dass  dies  gar.  nicht  so  unwichtig  sein 
würde,  mit  Berufung  auf  die  Geometrie  einfach  für  falsch.811)  Ueberhaupt 
gibt  der  ironische  Ton,  mit  welchem  Locke  daraufhinweist,  dass  die 
Berufung  auf  solche  Axiome  lediglich  der  unfruchtbaren  Disputirsuchl 
der  Schulen  Nahrung  gegeben  habe,  Leibniz  zu  einer  langen  Reihe  mo- 
dificierender  und  berichtigender  Bemerkungen  Veranlassung,  die  die  Ab- 
sicht haben  zu  zeigen ,  dass  die  Axiome  selbst  an  diesem  Missbrauch 
unschuldig  und  trotzdem  die  unentbehrlichen  Grundlagen  des  erkennen- 
den Denkens  sind.312)  Gilt  dies  selbst  von  identischen  Sätzen,  so  wer- 
den auch  Sätze,  die  ein  bestimmtes  Merkmal  eines  schon  bekannten 
Begriffs  ausdrücklich  hervorheben  und  somit  einen  Theil  des  Inhalts  des 
Begriffs  wiederholen,  nicht  werthlos  sein;  sie  bieten  der  Reflexion 
Haltepunkte  dar,  deren  sie  für  bestimmte  Untersuchungen  nicht  entbeh- 
ren kann.315) 

Mit  derselben  Sorgfalt,  wie  auf  die  Axiome,  geht  Leibniz  auf  Locke's 
Erörterungen  über  die  syllogistischen  Formen  des  Denkens  ein.  Man 
muss  sich  dabei  erinnern ,  dass  Locke  diese  nicht  für  falsch ,  aber  die 
Anwendung  derselben  für  ziemlich  unfruchtbar  erklärt  hatte,  wo  es  sich 
um  eine  Erweiterung  des  Wissens  handle.  Leibniz  ist  damit  ganz  und 
gar  nicht  einverstanden.  Er  beginnt  seine  Erwiderung  mit  dem  Zuge- 
ständniss,  dass  Locke's  Auseinandersetzung  eine  Menge  triftiger  und 
guter  Bemerkungen  enthalte;  gleichwohl  gesteht  er,  dass  er  die  Ent- 
deckung der  syllogistischen  Formen  für  eine  der  schönsten  und  wich- 
tigsten  halte.  Er  erklärt  die  Logik  für  eine  Art  universeller  Mathematik, 
für  eine  Kunst  der  Unfehlbarkeit,  vorausgesetzt,  dass  man  ihre  Weisun- 
gen richtig  anwende.314)  Die  Gesetze  der  Logik  sind  allerdings  nur  die 

34  4)  a.  a.  0.  p.  3706.  Comptez  vous  cela  pour  rien,  et  ne  reconnoissez-vous  pas 
que  reduire  une  proposition  ä  l'absurdite,  c'est  demontrer  sa  contradktoire?  —  p.  3636. 
On  ne  sauroü  se  passer  des  axtomes  identiques  en  geomStrie,  comme  par  exempk  du  prin- 
cipe de  contradiction. 

34  9)  a.  a.  0.  p.  3676,  368a. 

34  3)  a.  a.  0.  p.  374  erläutert  dies  Leibniz  an  mehreren  Beispielen. 

3  4  4)  a.  a.  0.  p.  395a.  Votre  raisonnement  sur  le  peu  d'usage  des  syllogismes  est 
plein  de  quantite  de  remarques  solides  et  belies.  Et  il  faut  avouer  que  la  forme  des  syllo- 
gismes est  peu  etnployee  dam  le  monde  et  qu'elle  seroit  trop  longue  et  etnbrouilleroit  si  on 
la  vouloit  employer  serieusement.  Et  cependant  le  croiriez-vous  ?  je  tiens  que  finvention 
de  la  forme  des  syllogismes  est  une  des  plus  belies  de  l'esprit  humain,  et  meme  des  plus 


133]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntnis  u.  s.  w.  243 

Gesetze  des  gesunden  Menschenverstands  und  unterscheiden  sich  von 
diesen ,  wie  geschriebenes  Recht  vom  Gewohnheitsrecht ;  aber  der  ge- 
sunde Menschenverstand  ohne  Bewusstsein  der  Regel  würde  über  den 
Zusammenhang  und  die  Richtigkeit  der  Folgerungen  oft  im  Unsichern 
bleiben.*16)  Die  ganze  lange  Erörterung  hierüber,  in  welcher  er  sogar 
speziell  auf  die  einzelnen  syllogis tischen  Figuren  eingeht,  beschliessl  er 
mit  der  Erklärung,  dass  die  scholastische  Form  der  Argumentation  oft 
unbequem,  ungenügend,  übelangebracht  gewesen,  dass  aber  gleichwohl 
nichts  wichtiger  sei,  als  die  Kunst,  Folgerungen  nach  den  Gesetzen  der 
Logik  formell  zu  vollziehen,  d.  h.  vollständig  rücksicbtlich  des  Stoffs  und 
deutlich  rücksichtlich  der  Ordnung  und  des  Zusammenhangs.310) 

Findet  zwischen  beiden  Denkern  rücksichtlich  der  intuitiven  und 
der  demonstrativen  Erkenntniss  eine  Meinungsverschiedenheit  nicht  über 
das  Wesen  derselben  statt,  sondern  lediglich  über  die  bewusstvolle  An- 
wendung der  allgemeinen  Gesetze,  nach  welchen  namentlich  die  letztere 
zu  Stande  kommt,  so  ist  Leibniz  endlich  auch  keineswegs  abgeneigt,  die 
sinnliche  Erkenntniss  d.  h.  das  Fürwahrhalten  der  Voraussetzung  der 
Existenz  der  sinnlich  wahrgenommenen  Dinge  unter  die  Arten  der  Er* 
kenntniss  aufzunehmen.  Er  wiederholt  in  seinem  eigenen  Namen,  was 
Locke  gesagt  hatte,  dass  im  strengen  metaphysischen  Sinne  es  nicht 
geradezu  unmöglich  sei ,  dass  die  uns  umgebende  Sinnenwelt  nur  ein 
Traum  sei;  eine  solche  Annahme  sei  aber  gleichwohl  so  unvernünftig, 
als  die ,  dass  der  Text  eiües  Buchs  durch  zufälliges  Schütteln  der  Let- 
tern entstanden  sei;'317)  die  Gewissheit  der  Existenz  der  sinnlichen  Welt 


considerables.  Cest  une  espece  de  mathematique  universelle,  . .  et  ton  peut  dire,  qu'un 
ort  d'infaillibilüe  y  est  contenu,  pourvu  qu'on  sacke  et  qu'on  puisse  s'en  bien  servir. 

34  5)  a.  a.  0.  p.  396a.  Les  loix  de  la  logique  . .  ne  sont  autres  que  Celles  du  bon 
sens,  mises  en  ordre  et  par  ecrit  et  qui  rten  different  pas  davantage  que  la  coutume  dune 
province  differe  de  ee  qu'elle  avoit  ete,  quand  de  non-ecrüe  eüe  est  devenue  ecrite. 

34  6)  a.  a.  0.  p.  397a.  Pour  conclure,  favoue  que  la  forme  d argumenter  scolasti- 
que  est  ordinairement  incommode,  insufßsante,  mal  menagee,  mais  je  dis  en  mime  tems, 
que  rien  ne  seroü  plus  important,  que  Fort  rf argumenter  en  forme  sehn  la  vraie  logique, 
c'est  ä  dire,  pleinement  quant  a  la  matiere,  et  clairement  quant  d  t  ordre  et  ä  la  force  des 
consequences ,  sott  evidentes  par  elles  m4mes%  soit  predemontrees.  —  Mit  der  Bemerkung 
Locke's,  dass  die  hergebrachte  Stellang  der  Prämissen  nicht  die  natürliche  ist,  ist  Leib- 
niz einverstanden  (vgl.  p.  3986);  die  Behauptung,  dass  ein  Syllogismus  concludent  sein 
könne,  ohne  dass  eine  der  beiden  Prämissen  allgemein  sei,  widerlegt  er  p.  398a,  §  8. 

317)  a.  a.  0.  p.  344a.  //  riest  point  impossible,  metaphysiquement  parlant,  qu*H  y 
ait  un  songe  suivi  et  durable  u  s.  w. 


244  6.  Hartenstein,  [434 

beruhe  auf  der  Verknüpfung  der  Ereignisse ,  zu  der  er  auch  ausdrück- 
lich die  übereinstimmende  Erfahrung  verschiedener  Menschen  rech- 
net. m) 

In  der  Beurtheilung  der  Schranken  der  Erkenntniss  ferner,  weiche 
Locke  aas  der  Definition  derselben  abgeleitet  hatte,  ist  die  Bemühung 
Leibniz's  nicht  darauf  gerichtet,  die  allgemeinen  Gesichtspunkte,  nach 
welchen  Locke  jene  Schranken  bestimmt  hat,  als  unpassend  abzulehnen, 
sondern  vielmehr  darauf,  an  einzelnen  Beispielen  darzulhun,  dass  im 
Gebiete  des  Wissens  entweder  schon  mehr  erreicht  sei ,  als  Locke  zu- 
geben wolle,  oder  wenigstens  mehr  erreicht  werden  könne.  Er  bestrei- 
tet nicht  den  Hauptsatz  Locke's,  dass  unsere  Erkenntniss  nicht  nur  an 
den  Umfang  unserer  Vorstellungen,  sondern  auch  an  die  Einsicht  in  die 
Verhältnisse  derselben  gebunden  sei;  aber  er  macht  sehr  ausführlich 
auf  die  Kunstgriffe  des  Denkens  aufmerksam ,  durch  welche  es  der  Ma- 
thematik gelingt,  verwickelte  Probleme  zu  lösen,  und  benutzt  die  skepti- 
schen Erörterungen  Locke's  über  die  Frage,  ob  die  Materie  denken 
könne,  zu  einer  Darlegung  seiher  eigenen  Lehre  vom  Wesen  der  Seele 
und  der  prästabilirten  Harmonie.310) 

Auch  die  Anwendung  dieser  allgemeinen  Grenzbestimmungen  auf 
die  einzelnen  Gebiete  der  Erkenntniss  (vgl.  oben  S.  175)  gibt  ihm  Ver- 
anlassung zu  einer  Reibe  von  Erläuterungen ,  die  sich  den  Resultaten 
Locke's  bei  weitem  mehr  anschliessen ,  als  ihnen  widersprechen.  Dass 
die  Vorstellungen  der  sinnlichen  Qualitäten  verworrene  Vorstellungen 
sind ,  und  dass  diese  Verworrenheit  sich  auch  auf  unsere  Vorstellung 
der  Kräfte  überträgt,  welche  die  sinnlichen  Empfindungen  hervorbrin- 
gen, dass  wir  daher  über  diese  Zusammenhänge  nicht  mehr  wissen,  als 
die  auf  bestimmte  Regriffe  zurückgeführt^  Erfahrung  uns  lehrt,*20)  besagt 


3  t  8)  a.  a.  0.  Je  erois  que  le  vrai  criterion  en  mattere  des  objets  des  sens  est  la 
liaison  des  pkenomenes,  cest  ä  dire  la  connexion  de  ce  qui  se  passe  en  differens  lieux  et 
tems,  et  dans  Yexperienoe  de  differens  kommet,  qui  sont  eux  meines  les  uns  aux  autres 
des  pkenomenes  tres  importans  sur  cet  ar fiele.  —  p.  3786  schlägt  er  vor,  diese  Art  des 
Fürwahrhaltens  durch  das  Wort  Gewissheit  (certitude)  von  der  Evidenz  der  intui- 
tiven und  demonstrativen  Erkenntniss  zu  unterscheiden. 

349)  a.  a.  O.  p.  3456 — 348a. 

320)  a.  a.  0.  p.  3486,  §  8.  Les  idees  des  quaktes  sensibles  sont  confuses,  et  les 
puissanees,  qui  les  doivent  produire,  ne  fournissent  aussi  par  consequent  que  des  idees  ou 
il  entre  du  confus:  ainsi  on  ne  saurait  connaitre  les  liaisons  de  ces  idees  autrement  que 
par  V  experience  qu'autant  qufon  lesreduit  d  des  idees  distinetes,  qui  les  aeeompagnent. 


435]  Lockk's  Lkhrb  von  der  mknschl.  Erkenntniss  c.s.w.  245 

nichts  als  was  Locke  selbst  behauptet,  obgleich  dieser  die  Empfindungen 
als  (subjectiv)  einfache  Erfolge  eines  uns  unbekannten  Causalzusam- 
menhangs  bezeichnet  hatte;  dem  Satze  Locke's,  dass  die  Mathematik 
das  grosse  Gebiet  sei,  in  welchem  sich  ein  strenges  Wissen  immer  mehr 
ausbreiten  könne,  ohne  ausschliessend  auf  Grössen  Verhältnisse  beschränkt 
zu  sein,  zollt  er  eine  stark  accentuirte  Anerkennung,  und  wenn  er  bei 
dieser  Gelegenheit  eine  kurze  Andeutung  seiner  eigenen  metaphysischen 
Lehren  mit  der  Erklärung  hinzufügt,  in  alle  dem  sei  nichts,  was  er  nicht 
für  demonstrirt  oder  demonstrabel  halte,321)  so  ändert  die  Frage,  ob 
Locke  dies  zugegeben  haben  würde,  nichts  an  den  Grundsätzen  und 
Methoden,  an  denen  Leibniz  selbst  die  wahre  Erkenntniss  gemessen 
wissen  wollte.  Obgleich  dieser  seine  Hoffnungen  auf  .die  Fortschritte 
der  Erkenntniss  lebhafter  ausdrückt,  als  Locke,  so  ist  es  doch  bezeich- 
nend, dass  er  in  derselben  Art  wie  Locke  eine  Erweiterung  des  Wissens 
über  die  wirkliche  Welt  lediglich  von  einer  fortschreitenden  Erfahrung, 
die  uns  mehr  als  ausreichende  Data  für  die  Erkenntniss  darzubieten  im 
Stande  sei ,  und  von  der  Anwendung  der  Mathematik  auf  diese  Data 
erwartet.322) 

So  ist  denn  die  Erfahrung  für  Leibniz  so  gut  wie  für  Locke  für  die 
mögliche  Erkenntniss  der  Wirklichkeit  der  unentbehrliche  Anknüpfungs- 
punkt, indem  sie  allein  die  Data  der  Untersuchung  darzubieten  vermag, 
und  für  Locke  gibt  es  so  gut  wie  für  Leibniz  ein  Gebiet  eines  notwen- 
digen und  allgemeingültigen,  von  der  Erfahrung  unabhängigen  Wissens, 
ein  Gebiet  ewiger  Wahrheiten ,  welches  sich  in  den  Verhältnissen  und 
Beziehungen  der  Begriffe  eröffnet  (vgl.  oben  S.  178).  Das,  was  für  beide 
in  letzter  Instanz  über  Wahrheit  und  Irrthum  entscheidet,  ist  der  Inhalt 
des  Gedachten  selbst.  Denn  auch  bei  Leibniz  gibt  es  für  die  Notwen- 
digkeit der  Erkenntniss,  um  deren  willen  er  sich  auf  angeborne  Begriffe 


3JM)   a.  a.  0.  p.  3486,  §  48. 

322)  a.  a.  0.  p.  3506.  —  p.  351a.  Je  crois  bien  que  nous  n'irons  jamais  aussi 
hin,  qtSU  sauraU  ä  souhaiter;  cependant  il  me  semble  qu'on  fera  quelques  progres  con- 
siderables  avec  le  tems  dam  Fexplication  de  quelques  phenomenes ,  parceque  le  grand 
nombre  des  experiences,  que  nous  sommes  d  portee  de  faire,  nous  peut  fournir  des  data 
plus  que  suffisans,  de  sorte  qu'ü  manque  seulement  l'art  de  les  employer,  dont  je  ne  des- 
espere  point  qu'on  poussera  les  peius  commencemens  depuis  que  Vanalyse  infinitesimale 
nous  d  donne  le  moyen  (fallier  la  geometric  ä  la  physique  ei  que  la  dynamique  nous  a 
fourni  les  loix  generales  de  la  nature. 


246  G.  Hartenstein,  [136 

berufen  zu  müssen  glaubt,  zuletzt  keinen  andern  Hallepunkt  als  diesen 
Inhalt  der  Begriffe.  Seine  wiederholte  Berufung  darauf ,  dass  die  Mög- 
lichkeit eines  Begriffs  das  Kriterium  seiner  Wahrheit  sei,  hat  nur  unter 
dieser  Voraussetzung  einen  verstandlichen  Sinn  und  an  der  Stelle,  wo 
Locke  den  Begriff  ewiger  Wahrheiten  einführt  und  bestimmt,  bemerkt 
Leibniz,  dass  diese  im  Grunde  sämmtlich  die  bedingte  Form  haben:  ge- 
setzt, es  sei  A,  so  ist  B,m)  wodurch  jede  Entscheidung  über  dieselben 
auf  das  von  dem  Inhalt  abhängige  Verhältniss  der  Begriffe  zurückge- 
wiesen wird. 

Nun  geht  zwar  Leibniz  hier ,  wie  anderwärts ,  noch  einen  Schritt 
weiter.  Wo  sind  denn ,  könne  man  fragen ,  die  Begriffe,  wenn  kein  sie 
denkender  Geist  existiert  und  wo  ist  ohne  einen  solchen  die  Grundlage 
dieser  Gewissheit  der  ewigen  Wahrheiten?  Die  Antwort  ist,  dies  weise 
zurück  auf  Gott,  dessen  Intelligenz  die  Region  der  nolhweadigen  und 
ewigen  Wahrheiten  sei,  die  vor  der  Existenz  der  zufälligen  Dinge  in  ihr 
als  Gesetze  des  Universums  enthalten  seien.324)  Statt  dessen  ßndet  sich 
bei  Locke  rücksichtlich  der  Hülfsmittel  der  menschlichen  Erkenntnis* 
nur  die  Hinweisung  auf  die  weisen  und  gütigen  Einrichtungen  und  An- 
ordnungen Gottes;  aber  auch  für  Leibniz,  obwohl  er  das  reelle  Urbild 
der  intelligibeln  wie  der  sinnlichen  Welt  in  der  göttlichen  Intelligenz 
voraussetzt,  gibt  es  kein  anderes  Mittel  der  Erkenntniss  der  Wahr- 


323)  a.  a.  0.  p.  3796.  Pour  ce  qui  est  des  verites  eternelles  y  il  faut  observer,  que 
dans  le  fonds  elles  sont  toutes  conditionnelles  et  disetit  en  effet:  teile  chose  posee,  teile  autre 
chose  est.  . . .  Les  scolasliques  ont  fort  dispute  de  constantia  subjecti,  comme  ils  Vappel- 
latent,  c'est  ä  dire,  comment  la  proposition  faxte  sur  un  sujet  peut  avoir  une  verite  reelle, 
si  ce  sujet  riexiste  point.  C'est  que  la  verite  ixest  que  conditionnelle  et  dit,  qu'en  cos  que 
le  sujet  existe  jamais  on  le  trouvera  tel.  Mais  on  demandera  encore,  en  quoi  est  fondee 
cette  connexion,  puisqu' il y  ade  la  realite  lä  dedans  qui  ne  trompe pas ?  La  reponse  sera, 
quelle  est  dans  la  liaison  des  idees.  p.  353a.  Le  fondement  de  notre , certitude  ä  Vegard 
des  verites  universelles  et  eternelles  est  dans  les  idees  memes;  ...  et  le  fondement  de  la 
verite  des  choses  contingentes  et  singulieres  est  dans  le  succes,  qui  fait  que  les  phenomenes 
des  sens  sont  lies  justement,  comme  les  verites  intelligibles  le  demendent. 

324)  a.  a.  0.  p.  3796.  Mais,  on  demandera ,  ou  seroient  ces  idees,  si  aucun  espril 
riexistoit  et  que  deviendroit  alors  le  fondement  reel  de  cette  certitude  des  verites  eternelles  ? 
Cela  nous  mene  enfin  au  dernier  fondement  des  verites,  savoir  d  cet  esprit  supreme  et  um- 
versel  qui  ne  peut  manquer  dexister,  dont  fentendement*  ä  dire  vrai,  est  la  region  des 
verites  universelles.  . .  Et  . .  il  faut  considerer  que  ces  verites  necessaires  contiennent  la 
raison  determinante  et  le  principe  regulatif  des  existences  mimes  et  en  un  mot  les  loix  de 
Vunivers  u.  s.  w. 


437]  Lockk's  Lkhre  von  der  menschl.  Erkenntnis«  u.  s.  w.  247 

heil,  als  die  Sorgfalt ,  Genauigkeit  und  Umsicht  eines  in  den  Inhalt  der 
Begriffe  sich  vertiefenden  und  den  Beziehungen  derselben  nachgehenden 
Denkenß.325)  Mehr  bedeuten  ihm  auch  die  angebornen  Vorstellungen 
nicht  (vgl.  oben  S.  203);  und  die  göttliche  Intelligenz  ist  ihm  nicht  we- 
niger als  die  menschliche  an  den  Inhalt  des  Gedachten  gebunden.3*9) 
Wenn  er  daher  gegenober  den  Bestimmungen  Locke's  über  die  Realität 
der  Erkenntniss  nochmals  auf  den  Satz  zurückkommt,  die  Gewissheit 
unserer  Erkenntniss  würde  sehr  klein  und  vielmehr  gar  keine  sein,  wenn 
sie  keine  andere  Grundlage  hätte,  als  die,  welche  ihr  die  Sinne  darbie- 
ten,3*7) so  war  dies  um  so  weniger  nöthig,  als  Locke  gerade  in  dem  be- 
treffenden Capitel  die  nothwendige  Erkenntniss  in  ein  Gebiet  von  Be- 
griffen verlegt,  welche  sich  auf  die  äussere  Erfahrung  beziehen  mögen, 
aber  nicht  von  ihr  entlehnt  sind.  Den  merkwürdigen  Gedanken  Locke's, 
dass  die  notwendigen  Erkenntnisse  der  Mathematik  desshalb  über  die 
Grössen  Verhältnisse  der  wirklichen  Dinge  entscheiden,  weil  es  sich  dabei 
nicht  um  eine  Uebereinstimmung  unserer  Vorstellungen  mit  den  Dingen, 
sondern  um  die  Uebereinstimmung  der  Dinge  mit  den  Vorstellungen 
handle,  übergeht  Leibniz  mit  Stillschweigen. 

Bei  diesem  Einverständniss  über  die  wichtigsten  Hauptpunkte  dürfte 
die  Gereiztheit,  in  welche  Leibniz  ausnahmsweise  in  seinen  Bemerkun- 
gen über  das  5.  Capitel  des  vierten  Buchs  verfällt,  Wunder  nehmen, 
wenn  es  nicht  deutlich  wäre ,  dass  er  hier  eben  so  in  einem  Missver- 
ständnipse  befangen  ist,  wie  oben  bei  seiner  Polemik  gegen  die  Unter- 
scheidung des  nominellen  und  reellen  Wesens  (vgl.  S.  231).  Dass  Wahr- 
heit ein  Prädicat  der  Urtheile  und  nicht  der  Dinge  sei,  darüber  ist  er 
mit  Locke  einverstanden  (vgl.  oben  Anra.  279) ;  gleichwohl  verwirft  er 
hier  die  Locke'sche  Definition  der  Wahrheit,  dass  sie  eine  den  Verhält- 
nissen der  Sache  d.  h.  des  Gedachten  entsprechende  Verknüpfung  und 
Trennung  der  Zeichen  sei.  Aus  den  etwas  kleinlichen  Ausstellungen,  die 


325)  Es  ist  in  dieser  Beziehung  charakteristisch,  dass  Leibniz  (p.  364a)  der 
Locke'schen  Berufung  auf  die  Wahrhaftigkeit  Gottes  riicksichllich  geoffenbarier  Wahr- 
heilen entgegenhält:  Ce  principe  mime  de  la  veracite  de  dieu,  sur  lequel  vous  recon- 
noissez  que  la  certilude  de  revelation  est  fonde'e,  riest  il  pas  une  maxime  prise  de  la  theo- 
logie  naturelle? 

326)  Vgl.  z.  B.  a.  a.  0.  p.  348a.  355a. 

327)  a.  a.  0.  p.  353a. 


248  G.  Hartenstein,  1438 

er  dagegen  macht,988)  muss  man  schliessen ,  dass  es  zunächst  die  Ver- 
knüpfung oder  Sonderung  in  der  Form  des  Urtheils  ist,  welche  er  in 
der  Definition  vennisst;  Locke  hatte  aber  in  der  Thal  so  oft  und  so  be- 
stimmt ausgesprochen,  dass  alle  Wahrheit  in  Sätzen,  also  in  Urtheilen 
besteht,  dass  er  in  der  betreffenden  Stelle  (s.  oben  Anm.  188)  sich  der 
minutiösen  Sorgfalt  Überheben  durfte,  statt:  tnith  seems  to  meto  signify 
zu  sagen:  a  true  proposition  seems  to  me  to  be  u.  s.  f.,  zumal  er  unmittel- 
bar darauf  selbst  hinzusetzt:  truth  properly  belongs  to  proposition*. 
Ganz  unwillig  aber  wird  Leibniz  über  die  Locke'sche  Unterscheidung 
zwischen  begriffsmassiger  und  sprachlicher  Wahrheit  (veritS  mentale  und 
nominale),  indem  er  Locke'n  die  Ansicht  unterschiebt,  dass  er  der  letz- 
teren denselben  Werth  beilege  wie  der  ersteren,  oder  überhaupt  mehrere 
Sorten  von  Wahrheit  einführen  wolle.  Die  Wahrheit  bestehe  nicht  in 
den  Worten ;  daraus  würde  folgen,  dass  eine  in  lateinischer,  deutscher, 
englischer,  französischer  Sprache  ausgesprochene  Wahrheit  je  nach  den 
verschiedenen  Sprachen  immer  eine  andere  Wahrheit  sei,  und  dass  man 
nicht  nur  eine  veritä  mentale  und  nominale,  sondern  auch  eine  Htterale 
annehmen  könne,  indem  man  die  Wahrheiten  unterscheide,  je  nachdem 
sie  auf  Pergament  oder  Papier  gedruckt,  in  gewöhnlicher  Tinte  oder  mit 
Druckerschwarze  sichtbar  seien.320)  Es  genügt  hier  wohl  die  Erinnerung 
daran,  dass  Locke  die  ganze  Unterscheidung  lediglich  desshalb  einge- 
führt hatte,  um  die  sprachliche  Richtigkeit  eines  Satzes  von  seiner  be- 
griffsmässigen  Gültigkeit  zu  sondern;  eben  weil  er  einen  Hauptgrund 
der  Mangel  clor  Erkenntniss  darin  fand,  dass  das  menschliche  Denken 
sich  von  der  schon  vorhandenen  und  tixirten  Sprache  nur  mit  Mühe  und 
eigentlich  niemals  ganz  vollständig  losmachen  kann ,  ging  seine  Absicht 
dahin  zu  zeigen,  dass  das  an  den  Worten  klebende  Denken  nur  ein  ein- 


328)  a.  a.O.  p.  355a.  Un  epitkete  ne  faxt  pas  une  proposition;  par  exemple 
r komme  sage.  Cependant  il  y  a  une  conjonction  de  deux  termes.  Negation  est  aussi 
autre  chose  que  Separation;  car  disant  V komme,  et  apres  quelque  Intervalle  prononcant 
sage,  ce  n'est  pas  nier.  La  convenance  aussi  ou  la  disconvenance  riest  pas  proprement 
ce  qu'on  exprime  par  la  proposition.  Deux  oeufs  ont  de  la  convenance  et  deux  ennemis 
ont  de  la  disconvenance.  II  s'agit  ici  dune  maniere  de  convenir  et  disconventr  toute  par- 
ticuliere.  Diese  maniere  toute  particuliere  bestimmt  anzugeben  unterlägst  Leibniz. 

329)  a.  a.  0.  Ce  que  je  trouve  le  moins  ä  mon  gre  dans  votre  deftniüon  de  la  verite 
c'est  qu'on  y  ckercke  la  verite  dans  les  mots.  Dann  folgen  die  obigen  Consequenzen  mit 
den  angeführten  Beispielen. 


139]  Locku's  Lehuk  von  der  mbnschl.  Erkbnntniss  ü.  s.  w.          249 

gebildetes  Wissen  enthalte.  Dergleichen  Albernheilen,  wie  ihm  Leibniz 
hier  aufbürdet,  Hess  er  denn  doch  nicht  an  sich  kommen. 

Von  grösserem  Interesse  ist  schliesslich  die  Art,  wie  Leibniz 
Locke'n  gegenüber  den  Begriff  der  Wahrscheinlichkeit  behandelt.  Die 
von  Locke  gezogene  Grenzlinie  zwischen  strengem  Wissen  und  einem 
auf  Wabrscheinlichkeitsgründen  beruhenden  Fürwahrhalten  erkennt  er 
im  allgemeinen  an,  aber  während  Locke  die  Wahrscheinlichkeit  als  auf 
einen  scheinbaren  Zusammenhang  der  Vorstellungen  gegründet  betrach- 
tet, fasst  er,  so  weit  sich  dieselbe  nicht  lediglich  auf  die  Constatirung 
von  Thatsachen  durch  das  Zeugniss  Anderer  bezieht,  ihren  Begriff  schär- 
fer auf;  für  die  Wahrscheinlichkeit  bedarf  es  nicht  scheinbarer,  sondern 
ebenfalls  wirklicher  Gründe,  die  aber  so  beschaffen  sind,  dass  aus  ihnen 
nicht  die  ganze  Wahrheit,  sondern  nur  ein  Theil  der  Wahrheit  folgt; 
das  Wahrscheinliche  ist  eine  unvollständig  bewiesene  Wahrheit.390)  Ne- 
ben einer  ausführlichen  Erörterung  über  die  Bedingungen  und  Grade 
der  historischen  Wahrscheinlichkeit*31)  weist  er  daher  auf  die  Möglich- 
keit hin,  die  Grade  der  Wahrscheinlichkeit  mathematisch  zu  bestimmen; 
in  einer  erschöpfenden  Ausführung  der  Wahrscheinlichkeilsrechnung 
sieht  er  eine  neue  Art  der  Logik,  ein  wichtiges  Hülfsmittel  für  die  Kunst 
der  Erfindung.35*) 

Auf  die  Anwendungen  endlich,  welche  Locke  von  dem  Unter- 
schiede zwischen  strengem  Wissen  und  einem  nicht  streng  begründeten 
Fürwahrhalten  auf  das  Verhältniss  zwischen  Vernunft  und  Offenbarlings- 
glauben  gemacht  hatte,  geht  Leibniz  in  einer  Weise  ein,  die  den  schlich- 
ten Entscheidungen  Locke's  mehr  auszuweichen^  als  sie  zu  widerlegen 
sucht.  Zwar  darin ,  dass  man  in  Sachen  des  Offenbarungsglaubens  auf 
den  Gebrauch  der  Vernunft  nicht  Verzicht  leisten  dürfe,  stimmt  er 
Locke'n  bei ;  er  billigt  es,  dass  der  Glaube  auf  Vernunft  gegründet  wer- 
den soll ;  welchen  Grund  hätten  wir  sonst ,  die  Bibel  dem  Koran  oder 
den  Büchern  der  BramineQ  vorzuziehen?  Verständige  Personen  hätten 
daher  nie  ein  sonderliches  Zutrauen  zu  Leuten  gehabt,  die  behaupten, 


330)  a.  a.  0.  p.  3936.  Ces  Haisons  [des  idees)  sont  m&nes  necessaires  quand  ellcs 
ne  produwent  qu'une  opinion,  lorsqu'  apres  une  exacte  recherche  la  prevalence  de  la  pro- 
babilüe  autant  qu'on peutjuger  peui  4tre  demontree,  de  sorte  qu'il  y  a  demonslration 
alors  non  pas  de  la  verite  de  la  chose,  mais  du  parti. 

334)  a.  a.  0.  p.  389a  —  3916. 

331)  a.  a.  0.  p.  3886. 


260  G.  Hahtbnstkin,  [4*0 

dass  man  in  Glaubenssachen  sich  um  Gründe  nicht  zu  bekümmern 
'brauche;  ein  ohnedies  unmögliches  Ding,  wenn  Glauben  etwas  mehr 
bedeuten  solle,  als  Wiederholen  und  Hersagen.333)  Aber  schon  die  Frage, 
ob,  wo  der  buchstäbliche  Sinn  der  Religionsurkunde  eine  logische  oder 
eine  physikalische  Unmöglichkeit  enthalte,  es  vernünftiger  sei,  den  buch« 
stäblichen  Sinn  oder  das  philosophische  Princip  fallen  zu  lassen ,  ent- 
scheidet er  nur  in  dem  Falle  zu  Gunsten  des  letzteren,  wo  es  keine 
Schwierigkeit  mache,  den  buchstäblichen  Sinn  aufzugeben,  wie  z.  B. 
wenn  Gott  menschliche  Gliedmassen  beigelegt  werden.334)  Auch  mit  der 
Grenzlinie,  welche  Locke  zwischen  dem,  was  gegen  und  was  Über  die 
Vernunft  sei,  gezogen  hatte,  ist  er  nicht  ganz  einverstanden.  Die  De6- 
nilion,  das  übersteige  die  Vernunft,  wovon  die  Wahrheit  oder  Wahr- 
scheinlichkeit nicht  mit  Hülfe  der  Vernunft  aus  den  Principien  der  Er- 
kenn tniss  abgeleitet  werden  könne,  sei  theils  zu  weit,  theils  zu  eng;  sie 
umschliesse  Alles  das ,  was  wir  nach  unserer  gegenwärtigen  Lage  nicht 
wissen  und  nicht  wissen  können,  z.B.  ob  in  einem  bestimmten  Jahre 
ein  Ausbruch  des  Vesuvs  erfolgen  werde;  und  schliesse  das  aus,  was 
zwar  für  uns,  aber  nicht  an  sich  unmöglich  sei,  wie  z.  B.  die  Berechnung 
einer  Sonnenfinsterniss,  ohne  die  Feder  zu  Hülfe  zu  nehmen  und  in  einer 
Zeit,  in  der  man  ein  Vaterunser  betet.335)  Selbst  wenn  man  das  Merkmal 
hinzunehme ,  dass  das ,  was  über  die  Vernunft  sei ,  die  natürliche  Er- 
kenntnissfohigkeit  jedes  geschaffenen  Geistes  überschreite,  so  reiche  dies 
nicht  aus;  denn  Gott  sei  immer  im  Stande,  Mittel  darzubieten,  durch 
Sensation  und  Reflexion  jede  Wahrheit  zugänglich  zu  machen,  wie  denn 
in  der  That  die  grössten  Mysterien  uns  durch  das  Zeugniss  Gottes  be- 
kannt würden,  die  man  kraft  gewisser  von  Sensation  und  Reflexion  ab- 
hängiger Glaubensmotive  anerkenne.™)    Zuletzt  gesteht  er  aber  der 


333)  a.  a.  0  p.  4026.  Je  vous  applaudis  fort,  Monsieur,  lorsque  vous  voukz  que 
la  foi  soü  fondee  en  raison;  sans  cela  pourquoi  preferions-nous  la  bible  d  Falcoran  ou 
aux  anciens  livres  des  Bramines?  p.  403a.  Aussi  les  personnes  sag  es  ont  toujours  tenu 
pour  suspects  ceux  qui  ont  pretendu  qu'il  ne  falloit  point  se  mettre  en  peine  des  raisons 
et  preuves,  quand  ü  s'agit  de  croire ;  chose  impossible  en  effet  d  moins  que  croire  ne  signifie 
que  reciter  ou  repeter  et  laisser  passer  sans  s%en  mettre  en  peine, 

334)  a.  a.  0.  p.  405a.  6. 

335)  a.  a.  O.  p.  402a. 

336)  a.  a.  0.  p.  4026.  Dieu  pourra  toujours  donner  des  moyens  tfapprendre  par 
la  Sensation  et  la  reflexion  quelque  verite  que  ce  sott;  comme  en  effet  les  plus  grands  my- 


4M]  Locke's  Lehre  von  der  menschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  251 

ganzen  Erörterung  über  das  Verhältniss  zwischen  Vernunft  und  Offen- 
barungsglauben nur  unter  der  Bedingung  eine  unwiderlegliche  Berech* 
tigung  zu ,  dass  man  unter  Glauben  eben  ein  auf  Motive  der  Glaublich- 
keit gegründetes  Fürwahrhalten  verstehe,  ohne  dabei  auf  die  innere 
Gnade,  die  den  Geist  unmittelbar  bestimme,  eine  Rücksicht  zu  nehmen. 
Diese  innere  Gnade  ergänze  den  Mangel  der  Glaubensmotive  auf  über- 
natürliche Weise.  Nun  wirke  zwar  Gott  durch  diese  innere  Gnade  immer 
nur  in  den  Fallen,  wo  der  Inhalt  des  Glaubens  auch  auf  die  Vernunft 
gegründet  sei;  ausserdem  würde  er  die  Mittel,  die  Wahrheit  zu  erken- 
nen ,  selbst  zerstören  und  der  Schwärmerei  Thür  und  Thor  eröffnen ; 
andrerseits  sei  es  aber  auch  nicht  nöthig ,  dass  alle  die ,  welche  unter 
dem  Einflüsse  dieser  Gnadenwirkungen  stehen  und  diesen  gottgewirk- 
ten Glauben  haben ,  die  Gründe  dessen ,  was  sie  glauben,  kennen  und 
immer  gegenwärtig  haben/137)  Locke  würde  diesen  Salzen  gegenüber 
vielleicht  gefragt  haben,  woran  man  solche  unmittelbare  Gnadenwir- 
kungen von  jeder  beliebigen  schwärmerischen  Einbildung  unterscheiden 
könne;  soll  die  Wahrheit  des  Glaubens  den  Rückschlags  auf  die  Gna- 
denwirkung bedingen,  so  hatte  er  sich  eben  in  dem  Capilel  über  den 
Enthusiasmus  viele  Mühe  gegeben  zu  zeigen,  dass  die  Entscheidung 
über  die  Wahrheit  oder  Glaublichkeit  der  Glaubenssätze  eben  dem  ver- 
nünftig prüfenden  Denken  anheimfalle.  Dass  Leibniz  zugesteht ,  wenn 
man  von  den  unmittelbaren  Gnadenwirkungen  absehe,  sei  Alles  das, 
was  Locke  sage,  unwiderleglich,  ist  jedenfalls  wichtiger,  als  die  theolo- 
gische Belesenheit,  die  er  bei  dieser  Gelegenheit  ausbreitet.**) 


XIV. 

Die  Gegenüberstellung  der  Erörterungen  beider  Denker  über  die 
Grundlagen  der  menschlichen  Erkenntniss  berechtigt  nicht  nur,  sondern 
nöthigt  zu  dem  Satze,  dass  die  Differenzen  zwischen  beiden  bei  weitem 

stires  nous  deviennent  connus  par  le  temoignage  de  dieu,  qvlon  reconnoü  par  les  motifs 
de  credibilite  . .  Et  ces  motifs  dependent  sans  doute  de  la  Sensation  et  de  la  refleacion. 

337)  a.  a.  0.  p.  4046. 

338)  a.  a.  0.  p.  404a.  6.  Si  vous  prene*  la  foi  pour  et  gui  est  fonde  dans  les 
motifs  de  credibilite'  et  la  detachez  de  la  graee  interne,  qui  y  ddtermine  Tesprit  immediate- 
ment,  tout  ce,  que  vous  dites,  est  incontestable  u.  s.  w. 


£52  6.  Hartenstein,  [<« 

nicht  so  durchgreifend  sind  als  die  Uebereinstimmung,  ja  dass  jene  hin- 
ler diese  rucksichtlich  der  Principien  als  nichts  entscheidend  zurück- 
treten. Den  stärksten  Gegensatz  zwischen  beiden  hat  man  fast  allge- 
mein in  der  Leugnung  oder  Behauptung  angeborner  Begriffe  oder  Er- 
kenntnisse gefunden;  aber  dieser  Gegensatz  ist  nicht  vorhanden,  indem 
Leibniz  angeborne  Erkenntnisse  nicht  in  dem  Sinne  behauptet,  in  wel- 
chem Locke  sie  leugnet.  Das  Motiv  der  Annahme  angeborner  Erkennt- 
nisse  liegt  für  ihn  in  der  Einsicht,  dass  die  Erfahrung  zu  keiner  not- 
wendigen und  streng  allgemeinen Erkenntniss  führe;  das  Angoborensein 
einer  Erkenntniss  bedeutet  ihm  wesentlich  die  Unabweisbarkeit  eines 
Denkens ,  welches  gewissen  Begriffen  und  Begriffs  Verbindungen  unab- 
hängig von  den  Belegen  der  Erfahrung  in  Folge  einer  unmittelbaren 
oder  mittelbaren  Evidenz  Gültigkeit  beizulegen  nicht  umhin  kann.  In 
diesem  Sinne  sagt  er,  dass,  um  angeborne  Erkenntnisse  zu  prüfen,  d.  h. 
um  zu  entscheiden,  welche  Erkenntnisse  angeboren  sind,  weil  sie  den 
Charakter  einer  unabweislichen  von  der  Erfahrung  unabhängigen  Not- 
wendigkeit und  Allgemeingültigkeit  haben,  man  suchen  müsse,  sie  mit- 
telst der  Definitionen  auf  identische  Axiome  zurückzuführen  (vgl.  oben 
Anm.  228.  230);  in  diesem  Sinne  kommt  ihnen  ihre  Gewissheit  ledig- 
lich von  dem ,  was  in  uns  ist ;  und  wenn  er  einzelne  Begriffe  wie  den 
des  Seins,  der  Möglichkeit,  der  Gleichheit  u.  s.  w.  für  angeboren  erklärt, 
so  verliert  diese  Berufung  auf  das  Angeborensein  bestimmter  Begriffe  jede 
sie  vorzugsweise  charakterisierende  Bedeutung  gegenüber  der  Erklärung, 
dass  diese  Begriffe  nur  virtuell  in  uns  sind  und  dass  alle  aus  nothwendigen 
Folgerungen  hervorgehende  Erkenntnisse  ebenfalls  angeboren  genannt 
werden  können.  Nimmt  man  dazu  die  Erklärung,  dass  alle  ewigen  Wahr- 
heiten die  Form  eines  hypothetischen  Unheils  haben,  d.h.  abhängig  sind 
von  dem  Inhalte  und  der  Verknüpfung  der  Begriffe,  um  die  es  sich  han- 
delt (vgl.  oben  Anm.  323),  und  dass  mithin  jede  als  angeboren  auftretende 
Erkenntniss  sich  eine  Kritik  ihrer  Gültigkeit  und  Noth  wendigkeit  gefallen 
lassen  müsse,390)  so  darf  man  sagen,  dass  die  Streitfrage,  ob  und  in  wel- 
chem Sinne  es  angeborne  Begriffe  oder  Erkenntnisse  gebe ,  weder  für 
Locke  noch  für  Leibniz  principiell  entscheidend  ist ;  beide  berufen  sich 


339)  Beispielsweise  mag  noch  angeführt  werden,  dass  Leibniz  den  Cartesiani- 
sohen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  aus  dem  Angeborensein  der  Idee  Gottes  a.  a.  0. 

p.  375a  für  ganz  untriftig  erklärt. 


**3J  Locke's  Lehre  von  ob*  mejnschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.         253 

nicht  auf  die  Naturgeschichte  des  Begriffs,  wo  es  sich  um  die  Notwen- 
digkeit der  Erkenntniss  handelt,  sondern  fUr  beide  ist  diese  Notwendig- 
keit durch  den  Inhalt  der  Begriffe  und  die  davon  abhängige  Verknüpfung 
derselben  bedingt.  Mit  einem  Worte ,  beide  finden  die  Stützpunkte  der 
wahren  Erkenntniss  nicht  in  der  Psychologie,  sondern  in  der  Logik,  und 
zwar  in  der  über  die  Zulässigkeit  oder  Notwendigkeit  der  Gedanken- 
verbindungen nach  dem  Satze  der  Identität  und  des  Widerspruchs  ent- 
scheidenden Logik. 

Es  ist  in  dieser  Beziehung  von  Interesse  zur  Feststellung  der  Leib- 
nizischen  Lehre  den  kleinen  Aufsatz :  meditationes  de  cognitione,  verilaie 
et  ideiß  aus  dem  Jahre  1 684  ins  Auge  zu  fassen ,  auf  welchen  Leibniz 
so  grossen  Werth  legt,  dass  er  in  den  nouveaux  essais  mehrmals  (p.  288, 
307)  auf  ihn  ausdrücklich  verweist.  Die  Veranlassung  dazu  gab  ihm  das 
Cartesianische :  quidquid  clare  et  distincle  de  re  aliqua  percipio,  id  est  verum 
seu  de  ea  enuniiabile;  die  Absicht  desselben  gibt  er  dahin  an,  seine  An- 
sicht über  die  Unterschiede  und  Kriterien  der  Begriffe  und  der  Erkennt- 
nisse auszusprechen.740)  Ohne  die  leiseste  Berührung  der  Frage  nach 
dem  Ursprünge  der  Begriffe  beginnt  er  hier  mit  den  Definitionen  der 
Klarheit  und  Dunkelheit,  der  Deutlichkeit  und  Verworrenheit  eines  Be- 
griffs, in  derselben  Art,  wie  er  diese  Unterschiede  Locke  gegenüber 
bestimmt  (vgl.  oben  Anm.  269).  Zusammengesetzte  Begriffe,  bei  denen 
die  Merkmale  zwar  klar,  aber  nicht  selbst  wieder  deutlich  gedacht  wer- 
den, sind  inadäquat;  wird  die  Analyse  bis  auf  die  einfachen  Begriffe  fort- 
gesetzt, so  ist  der  Begriff  und  die  in  ihm  liegende  Erkenntniss  adäquat ; 
eine  Art  der  Erkenntniss ,  der,  wie  wenig  sie  auch  in  den  meisteu  Fällen 
erreichbar  sein  mag,  die  Arithmetik  sich  in  hohem  Grade  annähert, 
Meistentheils  begnügen  wir  uns  oder  müssen  uns  begnügen  mit  einer 
unvollkommenen  Analyse;  eine  solche  Erkenntniss  ist  die  symbolische; 
intuitiv  dagegen  ist  die  Erkenntniss ,  wo  alle  in  einem  zusammengesetz- 
ten Begriffe  enthaltenen  Vorstellungen  wenigstens  annähernd  deutlich 
gedacht  werden ;  die  Erkenntniss  zusammengesetzter  Begriffe  ist  meist 
nur  symbolisch.841) 


340)  Opp.  p.  79a.  Placet,  quid  mihi  de  discriminibus  et  criterüs  idearum  et  cognt- 
Uonum  stotuendum  videatur,  expiicare. 

34J)  n  «  0.  p.  796.  80a.  Das  Wort  intuitiv  wird  also  hier  in  einem  andern 
Sinne  gebraucht,  als  bei  Locke. 


254  G.  Hartenstein,  H  ** 

Deutliche  Erkenntniss  haben  wir  also  nur  insofern,  als  wir  zugleich 
den  Begriff  in  intuitiver  Weise  denken.  Daher  glauben  wir  oft  lediglich 
desshalb  Begriffe  zu  haben,  weil  wir  ihre  Analyse  nicht  weit  genug 
fortsetzen ;  thäten  wir  dies ,  so  würde  sieb  vielleicht  finden ,  dass  der 
Begriff  einen  Widerspruch  einschliesst.  Zur  Erläuterung  beruft  er  sich 
auf  ein  Beispiel,  auf  welches  er  häufig  mit  Vorliebe  zurückkommt,  näm- 
lich auf  den  .Anseimischen  oder  Cartesianischen  Beweis  für  das  Dasein 
Gottes,  der  erst  dann  concludent  werde,  wenn  man  untersucht  habe, 
ob  der  Begriff  des  vollkommensten  Wesens  möglich  sei  d.  h.  ob  er  nicht 
etwa  einen  versteckten  Widerspruch  enthalte.348)  Die  Realdefinition  ist 
demgemäss  eine  solche,  in  welcher  zugleich  die  Entscheidung  über  die 
Möglichkeit  d.  h.  zunächst  die  Widerspruchslosigkeit  des  Begriffs  Hegt; 
Realdefinitionen  entziehen  sich  daher  der  Willkühr,  weil  nicht  alle  Be- 
griffe  mit  allen  verknüpft  werden  können.  Daraus  erhellt,  welche  Vor- 
stellungen wahr  und  welche  falsch  sind;  wahr  sind  die,  deren  Begriff 
möglich  ist,  falsch,  deren  Begriff  einen  Widerspruch  einschliesst.  Die 
Möglichkeit  oder  Widerspruchslosigkeit  wird  auf  doppeltem  Wege  er- 
kannt, entweder  a priori,  durch  Analyse  der  Begriffe,  wenn  wir  uns 
dadurch  überzeugen ,  dass  der  Begriff  keinen  Widerspruch  einschliesst, 
und  ein  besonderer  Fall  davon  sind  die  Gausaldefinitionen,  die  über  das 
Wie  der  Möglichkeit  Aufschluss  geben;  oder  a  posteriori,  durch  Auf- 
fassung des  erfahrungsmässig  Gegebenen ;  denn  was  wirklich  ist,  muss 
möglich  sein.343)  An  vero  unquam ,  setzt  er  hinzu ,  ab  hominibus  perfecta 
institui  possit  analysis  noHonutn,  sive  an  ad  prima  possibilia  ac  notiones 
irresolubile8  sive  (quod  eodem  redit)  ipsa  absoluta  altributa  dei9 
netnpe  causas  primas  atque  ultimam  verum  rationem  cogilationes  suas  redu- 
cere  possint,  nunc  quidem  definire  non  ausim. 

Die  in  den  letzten  Worten  ausgesprochene  Gleichstellung  der 
schlechthin  einfachen  Begriffe  mit  den  absoluten  Attributen  Gottes  und 
den  ersten  Ursachen  ist  jedenfalls  hier  überraschend ,  aber  sie  ändert 


3 42)  a.  a.  0.  p.  80a.  Ex  hisjampatet,  nos  eorwn  quoque,  quae  distinete  cogno- 
seimus,  ideas  non  pereipere,  nisi  quatenus  cogüatione  intuitiva  utimur.  Et  sane  cohüngit, 
ut  nos  saepe  falso  credamus  habere  in  animo  ideas  rerum,  cum  falso  supponimus,  terminos 
quibus  utimur,  jam  a  nobis  fuisse  explicatos  ....  Quia  hac  cogüatione  caeca  contenti 
sumus  et  resoluüonem  notionum  non  satis  prosequimur,  fit,  ut  lateat  nos  contradictio,  quam 
forte  notio  composita  involvit. 

343)  a.  a.  0.  p.  806. 


4  45]  Locke's  Lehre  von  der  mknschl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  255 

nichts  an  dem  Hauptgedanken,  dass  die  Erkenntniss  vor  allem  Andern 
in  der  möglichsten  Deutlichkeit  dessen  besteht,  was  wir  denken;  und 
in  dem  kurzen,  in  raschen  Gedankenwendungen  fortschreitenden  Dia- 
logtis  de  connexione  inter  res  et  verba  et  veritatis  realitate  aus  dem  Jahre 
4677  hatte  Leibniz  schon  früher  hervorgehoben,  dass  es  eigentlich  V er- 
häitnisse  sind,  deren  Gleichheit  und  Unveränderlichkeit  die  Grundlage 
und,  darf  man  hinzusetzen,  der  Gegenstand  der  Erkenniniss  sind.344) 
Und  die  oft  wiederholte  Hinweisung  darauf,  dass  das  erkennende  Den- 
ken Rechenschaft  über  die  Möglichkeit  der  Begriffe  geben  müsse,  weist, 
abgesehen  von  der  angeblich  reellen  Gültigkeit,  welche  Leibniz  in 
metaphysischer  Beziehung  dem  Möglichen  gibt,  zuletzt  auf  eine  Vertie- 
fung des  Denkens  in  den  Inhalt  der  Begriffe  und  die  durch  diesen  Inhalt 
mitgesetzten  Verhältnisse  derselben  hin ,  die  ihre  Norm  lediglich  in  den 
Gesetzen  der  Logik  ßndet.345)  Desshalb  gibt  es  für  Leibniz  wie  für  Locke 
Gebiete  eines  strengen  demonstrativen  Wissens,  bei  welchen  es  auf  die 
empirische  Wirklichkeit  der  Gegenstande  dieses  Wissens  gar  nicht  an- 
kommt ,  und  desshalb  weist  jener  eben  so  wie  dieser  da ,  wo  es  sich 
um  die  Erkenntniss  der  empirischen  Wirklichkeit  handelt,  auf  die  Er- 
fahrung hin,  welche  allein  die  Data  zu, dieser  Art  von  Erkenntniss  dar- 
zubieten im  Stande  ist.  Obgleich  daher  Leibniz  rücksichtlich  der1  Me- 
thode schärfere  und  strengere  Forderungen  an  das  Denken  stellt  als 
Locke,  der  den  logischen  Formalismus  als  einen  für  den  wirklich  den- 
kenden Menschen  überflüssigen  Ballast  betrachtete,  und  obgleich  Locke 
der  lebhaften  Zuversicht,  mit  welcher  Leibniz  seine  Metaphysik  als  eine 


344)  Opp.  p.  776.  Etsi  characteres  sint  arbitrarii,  eorum  tarnen  usus  et  connexio 
habet  quiddam,  quod  non  est  arbürarium,  scilicet  proportionem  quandam  inter  characteres 
et  res,  diversorum  characterwn,  easdetn  res  exprimentium ,  relationes  inter  se.  Et  haec 
proporiio  swe  relatio  est  fundamentum  veritatis  (vgl.  p.  78a.  6).  Es  ist  vielleicht  nicht 
überflüssig  zu  bemerken ,  dass  das  Wort  res  hier,  wie  in  ähnlichen  Fällen  die  Worte 
objet,  chosen.  s.  w.  sowohl  den  gedachten,  als  den  wirklichen  Gegenstand,  insofern 
er  eben  gedacht  wird,  bedeutet. 

345)  Vgl.  darüber  auch  P.  Einer's  vortreffliche  Abhandlung  »über  Leibnizens 
Universal-Wissenschafl«  (aus  d.  Abhandll  d.  K.  Böhmisch.  Ges.  d.  Wiss.  V.  Folge  3.  Bd. 
Prag  1843).  »Die  Logik«,  sagt  Exner  am  Schluss  derselben  S.  40,  »war  ihm,  was  sie 
wirklich  ist,  die  Wissenschaft,  welche  das  Ideal  aller  Wissenschaften  zeichnet,  dem 
eine  jede  auf  ihre  Weise  sich  zu  nahern  hat.  Und  dieses  Ideal  selbst  ist  nichts  Anderes 
als  vollkommene  Deutlichkeit  aller  Begriffe  und  ihrer  Beziehungen.  Echte  Wissenschaft 
und  Kinigkeit  der  Denker  Messen  allein  aus  der  Klarheit  der  Gedanken. « 

.  Abhandl.  d.  K.  S.  Ges.  d.Wis*.  X.  1  7 


256  6.  Hartenstein,  [146 

die  verschiedenartigsten  speculativen  Gegensätze  glücklich  vermittelnde 
Entdeckung  betrachtete,  die  kühle  Unerschütterlichkeit  eines  kritischen 
non  liquet  entgegengestellt  haben  würde,  so  erkennen  doch  beide  die 
Thalsächlichkeit  des  in  der  innern  und  äussern  Erfahrung  Gegebenen 
und  die  Notwendigkeit  eines  nach  dem  Inhalte  der  Begriffe  sich  rieh- 
tenden  und  den  Beziehungen  derselben  nachspürenden  Denkens  als  das- 
jenige an,  was  in  letzter  Instanz  über  alle  Theorieen,  selbst  die  der  Er- 
kenntniss  nicht  ausgenommen,  zu  entscheiden  hat.346) 

Es  ist  nicht  die  Absicht,  die  Parallele  zwischen  Locke  und  Leibniz 
auf  Kant  auszudehnen;  dass  aber  das  Urtheil,  welches  dieser  über  beide 
ausspricht,  nicht  zutrifft,  muss  die  vorliegende  Darstellung  gezeigt  ha- 
ben. »Leibniz,  sagt  Kant,™7)  intellectuirt  die  Erscheinungen,  sowie 
Locke  die  Verstandesbegriffe  sensificirt,  d.  i.  für  nichts,  als  empiri- 
sche und  abgesonderte  Reflexionsbegriffe  ausgegeben  hatte.  Anstatt  im 
Verstände  und  der  Sinnlichkeit  zwei  ganz  verschiedene  .Quellen  von 
Vorstellungen  zu  suchen,  die  aber  nur  in  Verknüpfung  objeetivgültig  von 
Dingen  urtheilen  können,  hielt  sich  ein  jeder  dieser  grossen  Männer  nur 
an  eine  von  beiden ,  die  sich  ihrer  Meinung  nach  unmittelbar  auf  Dinge 
an  sich  selbst  bezöge,  indessen  die  andere  nichts  thal,  als  die  Vorstel- 
lungen der  ersteren  zu  verwirren  oder  zu  ordnen.«  Vielmehr  müsste 
man,  wenn  man  den  Kantischen  Schematismus  der  Erkenntnissvermögen 
auf  Locke  und  Leibniz  übertragen  will,  sagen,  dass  beide  im  Verstände 
und  in  der  Sinnlichkeit  zwei  verschiedene  Quellen  von  Vorstellungen 
angenommen  haben;  dass  ferner  Leibniz  die  Erscheinungen  eben  so 
wenig  intellectuirt,  da  ihm  alles  sinnlich  Wahrnehmbare  eben  nur  ein 
System  wohlgeordneter  Phänomene  ist,  als  Locke  die  Verstandesbegriffe 
sensificirt,  da  das  Gebiet  der  streng  demonstrativen  Erkenntniss  mit  der 


3  46)  In  dem  oben  Anm.  3  angeführten  Briefe  Leibniz' s  an  Retnond  de  Montroort 
vom  J.I7Ü  sagt  Leibniz :  Mr.  Locke  avait  de  la  subtilite  et  de  ladresse  et  quelque  espiee 
de  metaphysique  superficiale  qu'ü  savoit  relever,  mais  ü  ignoroit  la  methode  des  mathe- 
maticiens.  Auf  dieses  Urtheil  ist  vielleicht  die  geringschätzige  Art  nicht  ohne  Einfluss 
gewesen,  mit  welcher  Locke  Leibniz's  reflewions  sur  Fessai  de  fentendement  humain 
de  Mr.  Locke  in  einem  Briefe  an  Molyneux  mit  den  Worten  abgelehnt  hatte:  des  futiti- 
tes  de  ce  gerne  me  fönt  penser  qu'il  riest  pas  ce  tres  grand  komme  dont  on  nous  a  parte. 
Locke  hat  keine  oberflächliche  Metaphysik ,  sondern  er  leistet  mit  vollem  fiewusstsein 
der  Gründe  auf  Metaphysik  als  Erkenntniss  des  Wesens  der  Dinge  Verzicht;  seine  For- 
derungen sind  in  dieser  Beziehung  strenger  aU  die  Leibniz's. 

347)   Kril    d.  r.  V.  S.  261. 


147]  Locke'*  Lehre  vom  der  menschl.  Erkenntniss  u.  *.  w.  257 

sinnlichen  Erfahrung  bei  ihm  an  sich  gar  nichts  zu  thun  hat  und  in  die- 
ser Beziehung  bei  ihm,  gerade  wie  bei  Kjint,  unsere  Begriffe  nicht  an 
den  Dingen ,  sondern  diese  an  unseren  Begriffen  gemessen  werden  (s. 
oben  Anm.  485)  und  dass  es  wenigstens  Locke,  der  die  Dinge  an  sich, 
ebenfalls  wie  Kant,  für  unbekannt  erklärt,  nicht  beigekommen  ist ,  die 
sinnlichen  Empfindungen  in  einem  andern  Sinne,  als  Kant  selbst,  auf  die 
Dinge  an  sich  zu  beziehen. 

Aber  Kant  halte  für  die  Erkenntniss  in  der  Frage:  wie  sind  synthe- 
tische Urtheile  a  priori  möglich?  einen  Gesichtspunkt  aufgestellt,  der  die 
Untersuchung  über  den  Gesichtskreis  Locke's  sowohl  als  Leiboiz's  hin- 
auszuheben im  Stande  gewesen  wäre;348)  denn  in  dieser  Frage  liegt  die 
unmittelbare  Aufforderung ,  ihre  Beantwortung  in  den  Begriffen  selbst 

und  deren  nicht  blos  analytischen  Verhältnissen,  sondern  synthetischen 

• 

Beziehungen  zu  suchen.  Statt  an  die  Begriffe  selbst  wendet  sich  jedoch 
Kant  an  die  Erkenntnissvermögen;  der  Grund  der  Synthesis  soll  eben 
nicht  in  den  Begriffen,  sondern  in  den  Functionen  der  Sinnlichkeit,  der 
Einbildungskraft  des  Verstandes  liegen.  Desshalb  sind  psychologische 
Voraussetzungen  bei  Kant  von  viel  grösserem  Einflüsse,  als  bei  Locke, 
der  viel  weniger  die  Erkenntnissvermögen,  als  die  menschliche  Erkennt- 
niss zum  Gegenstande  seiner  Kritik  gemacht  hatte."0)  Gleichwohl  lässt 
sich  die  Frage  aufwerfen ,  ob  Kant  seine  Resultate  lediglich  oder  auch 
nur  hauptsächlich  auf  Seinen  psychologischen  Unterbau  gegründet  habe, 
oder  habe  gründen  können. 

Den  Mittelpunkt  seiner  theoretischen  Ansicht  bildet  der  Satz,  dass 
wir  die  Dinge  an  sich  nicht  kennen,  weil  wir  nun  einmal  an  die  reinen 
Formen  der  sinnlichen  Anschauung  und  die  zwölf  Kategorieen  gebunden 
sind  und  diese  factische  Gebundenheit  unseres  Anschauens  und  Denkens 


348)  Der  Begriff  eines  synthetischen  Urlheils  kommt  weder  bei  Locke  noch  bei 
Leibniz  vor.  Wie  nahe  er  gleichwohl  Locke  lag,  darüber  vergl.  oben  S.  4  82.  Ebenso 
findet  sich  bei  Leibniz  nouv.  essais  p.  395a  eine  merkwürdige  Stelle,  wo  er  sagt-:  il 
faut  savoir  qu'il  y  a  des  consequences  asyllogistiques  bonnes  et  qu'on  ne  sauroü  demontrer 
ä  la  rigueur  par  aucun  syllogisme  sans  en  c  hang  er  un  peu  les  termes  et  ce  changement 
mime  des  termes  faxt  la  consequence  asyllogistique.  Die  Beispiele,  die  er  dafür  anführt, 
sind  synthetisch  verbundene  Begriffe. 

349)  Wenn  man  den  Titel  seines  Werks  essay  conceming  human  understanding 
gewöhnlich  übersetzt  Versuch  über  den  menschlichen  Verstand,  so  muss  bemerkt  wer- 
den,  dass  understanding  ebenso  das  Verstand niss  als  den  Verstand,  ebenso  die  Erkennt- 
niss als  das  Erkenntniss  vermögen  bedeutet. 

47* 


858  6.  Hartenstein,  [1 48 

nicht  abstreifen  können ,  dergestalt  dass  wir  gar  nicht  wissen  können, 
ob  nicht  die  Dinge  an  sich  ganz  anders  beschaffen  sind ,  als  wir  sie  an- 
schauen und  denken.  Gesetzt  nun ,  es  läge  wirklich  »im  menschlichen 
Gemüthe«  eine  Summe  oder  ein  System  festbestimmter  und  unüber- 
scbreitbarer  Anschauungsformen  und  Begriffe  »a  priori  bereit«,  durch 
welche  wir  den  gegebenen  Empfindungsstoff  aufzufassen  unabänderlich 
bestimmt  sind,  so  Hesse  sich  gerade  dann  nicht  einsehen,  wie  auch  nur 
der  leiseste  Gedanke  daran  sollte  entstehen  können,  dass  die  Dinge  mög- 
licherweise anders  beschaffen  seien,  als  wir  sie  vorzustellen  genöthigt 
sind;  alles  menschliche  Denken  wäre  an  den  von  der  Natur  vorgezeich- 
neten Vorstellungskreis  gebunden  und  eine  Unterscheidung  zwischen 
Phänomenen  und  Noumenen  wäre  unmöglich.  Wenn  also  eine  Incon- 
gruenz  zwischen  unseren  Vorstellungsarten  und  den  Dingen  behauptet 
oder  nachgewiesen  wird,  so  dürfen  diese  Vorstellungsarten  keine  unab- 
änderlich und  fest  bestimmten  sein,  sondern  der  in  uns  vorhandene, 
gleichviel  wie  entstandene  Gedankenkreis  muss  so  weit  veränderlich 
und  beweglich  sein ,  dass  sich  die  Gedanken  selbst  an  einander  messen 
und  gegenseitig  modificiren  können;  nur  unter  dieser  Voraussetzung  ist 
es  möglich,  dass  sich  in  dem  factisch  vorhandenen  Gedankenkreise 
Lücken  oder  Widersprüche  verrathen,  die  es  verbieten  sich  bei  ihm 
schlechthin  zu  beruhigen.  Alle  Philosophie  ist  ein  Zersetzungsprocess 
des  alten  und  ein  Bildungsprocess  eines  neuen  Gedankenkreises. 

Fragt  man  nun  nach  den  Mitteln,  durch  welche  Kant  die  unbefan- 
gene Voraussetzung  zerstört,  dass  die  Welt  wirklich  so  beschaffen  sei, 
wie  wir  sie  vorstellen ,  so  liegen  diese  nicht  in  seiner  Sonderung  einer 
bestimmten  Anzahl  von  Seelenvermögen  sammt  den  jedem  einzelnen 
derselben  beigelegten  Functionen,  sondern  in  Begriffsbestimmungen, 
die  von  diesem  psychologischen  Apparat  ganz  unabhängig  sind.  Vor 
allem  in  der  Unterscheidung  zwischen  Denken  und  Erkennen.  Zum  Er- 
kennen gehört  zweierlei,  Anschauung  und  Begriff;  wo  ein  gegebener 
Gegenstand  nicht  durch  Begriffe  gedacht,  und  für  einen  gedachten  Be- 
griff kein  Gegenstand  gegeben  werden  kann,  ist  keine  Erkenntniss,  son- 
dern dort  eine  gedankenlose  Thatsache,  hier  ein  leerer  Begriff.  Dieser 
Fundamentalsatz  hängt  in  seiner  Gültigkeit  nicht  davon  ab,  dass  gerade 
nur  die  Sinnlichkeit  die  Gegenstände  gibt  und  der  Verstand  sie  denkt; 
wohl  aber  steht  für  Kant  diese  in  den  Begriff  der  Erkenntniss  aufge- 
nommene Beziehung  der  Gedanken  auf  empirische  Objecte  dergestalt 


U9]  Lockb'8  Lehre  von  der  mbnscbl.  Erkenntniss  u.  s.  w.  859 

• 

fest;  dass  nicht  nur  die  Kategorieen  keine  Erkenotniss  darbieten,  als 
nur  »durch  ihre  mögliche  Anwendung  auf  empirische  Anschauung«,  son- 
dern dass  er  selbst  der  Mathematik  nur  in  so  fern  den  Namen  der  Er* 
kenntniss  zugestehen  will,  als  die  mathematischen  Begriffe  auf  empi- 
rische Anschauungen  angewendet  werden  können.990)  Dieser  Bestim- 
mung des  Begriffs  der  Erkenntniss  im  Gegensatze  zu  dem  blossen  Denken 
liegt  aber  bei  Kant  stillschweigend  noch  ein  anderer,  von  ihm  allerdings 
erst  in  der  Kritik  des  ontologischen  Beweises  für  das  Dasein  Gottes  hervor- 
gehobener Begriff  zu  Grunde,  nämlich  der  des  Seins;  und  erst  durch  die 
in  dem  Begriff  des  Seins  liegende  Unabhängigkeit  des  Seienden  von  dem 
Denken  bekommt  die  Unterscheidung  des  Dings  an  sich  von  der  Vorstel- 
lung ihren  Haltepunkt.  Indem  nun  die  Dinge  an  sich  und  die  in  uns  lie- 
genden Formen  der  Anschauung  und  des  Denkens  einander  gegenüber- 
treten, bewegt  sich  die  Kantische  Kritik  allerdings  vorzugsweise  auf 
dem  auf  der  Seite  des  Subjects  liegenden  Gebiete  und  der  positive  In- 
halt seiner  Analytik  der  Begriffe  und  Grundsatze  des  reinen  Verstandes 
besteht  zum  grossen  Theil  lediglich  in  der  Exposition  der  durch  die 
altere  Schulmetaphysik  formulirten  Vorstellungsarten,  jedoch  unter  der 
fortwährenden  Erinnerung  daran ,  dass  alle  diese  Begriffe  und  Grund- 
satze eine  Bedeutung  nur  durch  ihre  Beziehung  auf  mögliche  Erfahrung 
erhalten  und  dass  wir  die  Dinge  an  sich  dadurch  nicht  kennen  lernen. 
Es  ist  nicht  ohne  Nutzen,  in  dieser  Hinsicht  den  ganzen  Abschnitt: 
»systematische  Vorstellungen  aller  synthetischen  Grundsatze  des  reinen 
Verstandesgebrauchs«  durchzugehen,  vorzüglich  die  auf  die  Begriffe  der 
Substanz  und  der  Gausalitat  sich  beziehenden  Parthieen,  in  denen  er 
auf  jede  Untersuchung  des  Begriffs  entweder  geradezu  Verzicht  leistet 
oder  dessen  Unbegreiflichkeit  einfach  durch  die  Berufung  auf  die  Gewalt 
der  sinnlichen  Anschauung  umgehen  zu  können  glaubt.951) 


350)  Kr.  d.  r.  Yern.  S.  4  38.  139.  Wenn  Kant  erklärt,  dass  die  Möglichkeit  der 
Mathematik  als  Wissenschaft  nur  durch  seine  Lehre  von  Raum  und  Zeit  als  den  reinen 
Formen  der  sinnlichen  Anschauung  begreiflich  werde  (Kr.  d.  r.  V.  S.  46flgg.  65),  so 
ist  es  der  Mühe  werth,  damit  zu  vergleichen  was  Leibniz  nouv.  essais  p.  364  —  363 
über  die  Gründe  der  mathematischen  Erkenntniss  sagt.  Die  Arithmetik  geht  bei  Kant 
ohnedies  ziemlich  leer  aus ;  die  Geometrie  aber  hat  es  überall  lediglich  mil  bestimmten 
räumlichen  Verhältnissen  zu  tbun  und  der  allgemeine  Begriff  des  Raums  ist  für  sie 
sehr  gleichgültig;  in  der  allgemeinen  Form  des  Raums  liegt  aber  nicht  der  geringste 
Entscheidungsgrund  über  irgend  ein  bestimmtes  räumliches  Verhiiltniss. 

351)  Rücksichtlich  des  Begriffs  der  Substanz  vgl.  Kr.  d.  r.  V.  S.  4  90 — 195.  — 


860  G.  Härteste! fr,  [*50 

Wo  jedoch  Kant  die  die  Grenze  der  Erfahrung  überschreitenden 
Behauptungen  einer  dogmatischen  Metaphysik  bestreitet  und  widerlegt, 
zeigt  sich ,  dass  seine  Beweise  der  Unmöglichkeit  einer  dogmatischen 
Beantwortung  der  betreffenden  Fragen  entweder  auf  den  Mangel  aus- 
reichender Data  der  Erfahrung  oder  auf  die  den  dogmatischen  Behauptun- 
gen nach weisbareu  Sprunge  und  Fehlschlüsse  oder  auf  die  Begriffe  selbst 
und  die  in  ihnen  liegenden  unauflöslichen  Schwierigkeiten  sich  stützen. 
Das  erste  tritt  besonders  deutlich  in  der  Kritik  aller  speculativen  Theo- 
logie hervor,  in  welcher  Beziehung  er  selbst  abschliessend  sagt  (S.  488): 
»Wollte  man  lieber  alle  obige  Beweise  der  Analytik  in  Zweifel  ziehen, 
als  sich  die  U eberred ung  von  dem  Gewichte  der  so  lange  gebrauchten 


Rücksichdieb  der  Veränderung  und  der  Causalität  sagt  er  a.  a.  0.  S.  234:  »Um  Ver- 
änderung als  die  dem  Begriffe  der  Causalität  correspondirende  Anschauung  darzustel- 
len, müssen  wir  Bewegung,  als  Veränderung  im  Räume,  zum  Beispiele  nehmen.... 
Veränderung  ist  Verbindung  contradictorisch  einander  entgegengesetzter  Bestimmungen 
im  Dasein  eines  und  desselben  Dings.  Wie  es  nun  möglich  sei,  dass  aus  einem  gege- 
benen Zustande  ein  ihm  entgegengesetzter  desselben  Dinges  folge ,  kann  nicht  allein 
keine  Vernunft  sich  ohne  Beispiel  begreiflich,  sondern  nicht  einmal  ohne  Anschauung 
verständlich  machen  und  diese  Anschauung  ist  die  der  Bewegung  des  Punkts  im  Räume.« 
Also  würde  wirklich  durch  die  Bewegung  des  Punkts  im  Räume  das  Gelbwerden  der 
Blätter  im  Herbste  verständlich  und  durch  ein  solches  Beispiel  die  Veränderung  für  die 
Vernunft  begreiflich?  —  Wie  wenig  die  Frage  nach  einer  berichtigenden  Umbildung 
der  vorhandenen  gleichviel  ob  a  priori  gegebenen  oder  erworbenen  Vorstellungsarten 
in  dem  Gesichtskreis  Kant's.Lag,  zeigen  solche  Stellen,  wo  er  eigentliche  Definitionen 
der  Kategorieen  und  der  davon  abhängigen  Begriffe  für  eine  gar  nicht  so  schwere  Sache 
erklärt.  »Der  Definitionen  der  Kalegorieen  überhebe  ich  mich  in  dieser  Abhandlung 
geflissentlich,  sagt  er  S.  412,  obwohl  ich  im  Besitze  derselben  sein  möchte  ...  Aus 
dem  Wenigen,  was  ich  hievon  angeführt  habe,  leuchtet  deutlich  hervor,  dass  ein  voll- 
ständiges Wörterbuch  mit  allen  dazu  erforderlichen  Erläuterungen  nicht  allein  mög- 
lich, sondern  auch  leicht  sei  zu  Stande  zu  bringen. «  Und  S.  207  sagt  er:  »diese  Cau- 
salität führt  auf  den  Begriff  der  Handlung,  diese  auf  den  der  Kraß,  und  dadurch  auf 
den  Begriff  der  Substanz.  Da  ich  mein  kritisches  Vorhaben  . . .  nicht  mit  Zerglieder- 
ungen bemengen  will,  ...  so  überlasse  ich  die  umständliche  Erörterung  derselben 
einem  künftigen  System  der  reinen  Vernunft ;  wiewohl  man  eine  solche  Analysis  in 
reichem  Maasse  auch  schon  in  den  bisher  bekannten  Lehrbüchern 
dieser  Art  trifft.«  Die  Ausführung  des  »Systems  der  reinen  Vernunfta  scheint  er 
sich  so  gedacht  zu  haben,  dass  es  nicht  nöthig  sein  würde,  an  den  hergebrachten 
metaphysischen  Begriffen  sonderlich  viel  zu  ändern ,  nachdem  einmal  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  das  dogmatische  Vorurtheil  zerstört  habe,  dass  sie  eine  Bedeutung  für 
die  Erkenntniss  der  Dinge  an  sich  haben.  »Die  Fächer  sind  einmal  da,  es  ist  nur  nöthig 
sie  auszufüllen«  S.  H3. 


154]  Locke's  Lehre  von  der  mbnschl.  Erkenntnis  u.  s.  w.  261 

Beweisgründe  rauben  lassen,  so  kann  man  sich  doch  nicht  weigern,  der 
Aufforderung  ein  Genüge  zu  thun,  wenn  ich  verlange,  man  solle  sich 
wenigstens  darüber  rechtfertigen,  wie  und  vermittelst  welcher  Erleuch- 
tung man  sich  denn  getraue,  alle  mögliche  Erfahrung  durch  die  Macht 
blosser  Ideen  zu  überfliegen.  ...  Ich  halte  mich  an  der  einzigen  billigen 
Forderung,  dass  man  sich  allgemein  .aus  der  Natur  des  menschlichen 
Verstandes,  sammt  allen  übrigen  Erkenntnissquellen  darüber  rechtfertige, 
wie  man  es  anfangen  wolle,  sein  Erkenntniss  ganz  und  gar  a  priori  zu 
erweitern,  und  bis  dahin  zu  erstrecken,  wo  keine  mögliche  Erfahrung 
und  mithin  kein  Mittel  hinreicht,  irgend  einem  von  uns  selbst  ausgedach- 
ten Begriffe  seine  objective  Realität  zu  versichern.«  Für  das  zweite  kann 
vornehmlich  die  Darlegung  des  Paralogismus  der  reinen  Vernunft  als  Bei- 
spiel gellen,  die  eben  den  Fehlschluss  von  der  Einheit  des  Selbst be- 
wusstseins  auf  die  Einfachheit  des  Seelenwesens  aufdeckt.  Das  dritte 
endlich  belegt  der  ganze  Abschnitt  von  den  Antinomieen ;  der  dialekti- 
sche Widerstreit  besteht  hier  ganz  und  gar  in  der  Darlegung  der  Con- 
sequenzen,  die  aus  gleich  möglichen  Voraussetzungen  sich  ableiten  las- 
sen. Die  Antinomieen  sind  Schlussreihen,  deren  entgegengesetzte 
Resultate  (vorausgesetzt,  dass  die  Annahmen,  aus  welchen  Kant  argu- 
mentirt,  alle  gleich  möglich  und  die  Argumentationen  fehlerlos  sind,) 
lediglich  darauf  hinweisen,  dass  der  angebliche  Widerstreit  der  Vernunft 
mit  sich  selbst  oder  mit  dem  Verstände  ein  Widerstreit  der  Begriffe  selbst 
sei.  Und  so  verwandelt  sich  unwillkührlich  selbst  für  Kant  die  Kritik, 
der  Erkenntnissvermögen  in*  eine  Kritik  der  Begriffe. 

Alle  Wissenschaft  will  sein  ein  System  notwendiger,  unter  einan- 
der durchgängig  übereinstimmender  Gedanken.  Und  wenn  die  Frage 

j 

nach  derCongruenz  dieser  Gedanken  mit  den  Dingen  immer  wieder  eine 
Frage  an  das  Denken  ist  und  ihre  bejahende  oder  verneinende  Antwort 
nur  durch  das  Denken  und  für  das  Denken  finden  kann,  so  wird  der 
Versuch,  unabhängig  von  den  Objecten  der  denkenden  Untersuchung 
eine  Theorie  der  Erkenntniss  aufzustellen,  unsicher  sein,  so  lange  nicht 
das  System  derjenigen  Gedanken,  durch  welche  die  Phänomene  und 
Thätigkeiten  des  geistigen  Lebens  als  besondere  Fälle  einer  allgemeinen 
Gesetzmässigkeit  begreiflich  werden  sollen,  bis  zu  einer  gewissen  Reife 
und  Sicherheit  gediehen  ist.  Getrieben  von  den  Lücken  und  Wider- 
sprüchen des  eigenen  Gedankenkreises,  gleichviel  ob  er  seine  Quelle  in 
der  Erfahrung  oder  in  einer  von  der  Erfahrung  unabhängigen  Mitgift 


262        G.  Hartenstein,  Locke's  Lehre  v.  d.  menschl.  Erk.  u.  s.  w.        [<  62 

der  Natur  hat,  —  denn  warum  sollte  es  blos  angeborne,  der  Verdunkelung 
ausgesetzte  Wahrheiten  und  nicht  auch  angeborne,  der  Berichtigung  fä- 
hige Irrthümer  geben  können?  —  getrieben  von  diesen  Lücken  und 
Widersprüchen  vertieft  sich  das  Denken  in  die  Gedanken  und  dadurch 
in  die  Dinge,  welche  es  denkt;  so  arbeitet  es  fort,  fortschreitend  von 
Gedanken  zu  Gedanken,  wie  ein  Bergmann  in  einem  dunkeln  Schachte, 
und  von  den  in  den  Begriffen  selbst  und  deren  Verbältnissen  und  Be- 
ziehungen liegenden  Weisungen  hängt  es  ab,  ob  es  auf  diesem  dunkeln 
Wege  die  bunte  und  heilere  Welt  der  objectiven  Realität  verliert  oder 
sie  und  in  ihr  sich  selbst  als  Product  oder  Glied  eines  erkannten 
Systems  in  einander  greifender  Ursachen,  Gesetze  und  Zwecke  wieder- 
findet. 


Verbesserungen. 

S.  417,  Anm.  Z.  9  v.  u.  1.  they  f.  the. 
»  4  4  8,      »      »  4  0  v.  u.  1.  the  f.  tho. 
■  4  A3,  Z.  6  v.  o.  1.  was  von  aussen  ins  Bewusstsein  eintritt  f.  was  im  Bewusstsem 

geschieht. 
»  139,  »  4  9  v.  u.  1.  talke  f.  take. 
9  4  48,  •    5  v.  o.  1.  unsere  Vorstellung   des  Zeillichen  bleibt   f.   unsere  Vorstellung 

bleibt. 
9  4  53,  »    2  v.  u.  streiche  thaU 
9  4  57,  9    5  v.  o.  1.  entspricht  f.  entsprechen. 
9  4  83,  »14  v.  o.  I.  diese  f.  diesen. 


• 


DIE 


DEUTSCHE  NATIONALÖKONOMIK 


AN  DER 


GRÄNZSCHEIDE  DES  SECHZEHNTEN  UND  SIEBZEHNTEN 

JAHRHUNDERTS. 


VON 


WILHELM  RÖSCHER. 


Ablinndl.  d.  K.  S.  Gt§.  d.  Wto.   X.  *  * 


I. 

Der  Verfall  der  Reformationsblüthe. 

Die  vielseitige  and  herrliche  Blttthe ,  welche  das  deutsche  Volks- 
leben in  der  Reformationszeit  getrieben,  war  eine  schnell  vorüberge- 
hende. Man  hat  die  Verkümmerung  ihrer  Früchte  gewöhnlich  dem 
dreißigjährigen  Kriege  zugeschrieben,  doch  mit  Unrecht.  Der 
dreissigjährige  Krieg  ist  das  Strafgericht,  welches  die  Sünden,  eigent- 
lich aller  Glieder,  des  deutschen  Volkes  mit  furchtbarer  Allmälichkeit 
und  desshalb  Unentfliehbarkeit  heraufbeschworen  hatten.  Wer  aber  so- 
viel historisches  Auge  besitzt,  um  die  geistigen  Ursachen  über  die  ma- 
teriellen Wirkungen,  die  Principien  über  die  Massen  zu  stellen,  der  kann 
unmöglich  verkennen,  dass  in  sehr  vielen  Stücken  die  Zeit  unmittelbar 
vor  dem  Kriege  noch  schlimmer  war,  als  die  Zeit  während  des  Krieges 
selbst.  Ich  erinnere  nur  an  das  Fürsten  -  und  Hofleben,  wie  es  in  den 
Tagebüchern  des  Junkers  von  Schweinichen  erscheint,  verglichen  mit 
dem,  zwar  wenig  productiven,  aber  doch  edlern  Aufschwünge,  der  sich 
z.  B.  in  der  Stiftung  und  Ausbreitung  der  fruchtbringenden  Gesellschaft 
(seit  1 61 7),  sowie  in  dem  zwar  geistlosen,  aber  wohlgemeinten  Mäce- 
natenthume  so  vieler  Grossen  während  des  dreissigjährigen  Krieges1 
äussert.  Das  Aufkommen  der  Opitzischen  Poesie  (seit  1617)  hat  man 
von  jeher  für  ein,  wenn  gleich  unvollständiges,  Wiedererwachen  der 
deutschen  Muse  gehalten.  Auch  der  schwere  Druck,  welchen  das  Pfaf- 
fenthum  aller  drei  Confessionen  auf  das  geistige  Leben  ausübte,  ist  ge- 


4)  Die  vielen  damaligen  Gesellschaften  mit  ihrer  gegenseitigen  Lobhudelei,  ihren 
Dedicationen  an  grosse  Herren  etc.  scheinen  doch  zum  Theil  nothwendige  Schutz- 
und  Trutzbündnisse  gegen  das  unmässige  Pasquillwesen  der  Zeit  gewesen  zu  sein, 
worüber  damals  alle  Welt  klagt  (Gervinus,  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  III, 

S.  4  88  ff.). 

48* 


266  Wilhelm  Röscher,  [* 

rade  während  des  Krieges  selbst  gemildert  worden ;  ebenso  der  vorher 
und  nachher  für  alle  Niederen  so  demüthigende  schroffe  Unterschied  der 
Stände 2. 

Betrachten  wir  also  das  Ende  des  16.  Jahrhunderts  als  den 
grellen  Abfall  von  der  Höhe  seines  Anfanges,  so  dürfen  wir 
freilich  nicht  tibersehen,  wie  beinah  Alles,  was  uns  an  den  Epigonen  der 
Reformation  betrübt,  zum  Spotte  reizt  oder  empört,  auch  in  der  besten 
Zeit  des  Jahrhunderts  schon  vorhanden  war.  Nur  immer  in  ganz  an- 
derem Verhältnisse!  Aehnlich,  wie  sich  z.  B.  aus  dem  vortrefflichen, 
echt  populären  Deutsch  und  dem  ebenso  vortrefflichen,  echt  humanisti- 
schen Latein,  welches  die  Luther  und  Hütten  etc.  geschrieben  hatten, 
bald  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  eine  immer  barbarischere  Meng- 
sprache bildete.  Selbst  in  Luthers  Werken  lässt  sich  mancher  Ausbruch 
des  Lehrfanatismus,  des  Hexenwahns,  derCriminalbarbarei,  der  Bauern- 
verachtung und  Ftirstendienerei,  endlich  auch  jenes  Grobianismus  nach- 
weisen, dessen  berühmtester  Typus  —  Dedekinds  Grobianus  —  bereits 
1 549  erschien.  Aber  wie  schrumpft  das  Alles  zu  kleinen  Sonnenflecken 
zusammen,  wenn  man  es  der  menschlichen,  sittlichen,  wissenschaftlichen 
und  christlichen  Grösse  des  ganzen  Mannes  gegenüberstellt!  Aehnlich 
ist  es  mit  seiner  Zeit  im  Allgemeinen. 

Die  ersten,  reinsten  und  schönsten  Jahre  der  Reformation  kenn- 
zeichnen sich  hauptsächlich  durch  ein  harmonisches  Zusammenwirken 
von  drei  verschiedenen  Tendenzen :  Wiederherstellung  des  reinen  Evan- 
geliums, des  klassischen  Alterthums,  des  nationalen  Staates,  und  zwar 
alles  Diess  in  echter  Humanität  auch  für  die  niederen  Klassen  zugäng- 
lich gemacht.  Aber  die  Harmonie  und  Volkstümlichkeit  hört  fast  ur- 
plötzlich auf  mit  dem  Bauernkriege,  dessen  Ausbruch  und  Nieder- 
lage ich  überhaupt  für  den  grossen  Wendepunkt  halte,  der  alles 
Unheil  des  folgenden  Jahrhunderts  veranlasst  hat.  Eine  hoffnungsreiche, 
im  besten  Gange  befindliche  Reformbewegung,  die  bei  ruhiger  Durch- 
führung sicher  bald  eine  ähnliche  Ablösung  der  bäuerlichen  Frohndienste 
und  Naturallieferungen  bewirkt  hätte,  wie  sie  in   der  freien  Schweiz 


2]  Der  prologartige  »Inhalt«  von  Laurembergs  Scherzgedichten,  V.  25  ff.,  be- 
zeugt klar,  dass  gleich  nach  dem  dreissigj  ährigen  Kriege  (und  wohl  durch  denselben) 
die  Standesunterschiede  sehr  verwischt  waren.  Lauremberg  tadelt  diess  als  Verach- 
tung einer  Ordnung  Gottes.  Erst  später  muss  im  längern  Frieden  der  Unterschied 
wieder  verschärft  worden  sein. 


5]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  267 

wirklich  erfolgte3,  wird  in  Ermangelung  des  rechten  Führers  auf  dem 
Throne  durch  Ungeduld  der  Emancipationsbedttrftigen  zur  wilden  Revo- 
lution, woran  sich  die  Besten  des  Volkes  nicht  bet heiligen  konnten. 
Welche  fürchterliche  Reaction  das  Scheitern  des  Aufstandes  nach  sich 
zog,  kann  am  kürzesten  mit  den  Worten  des  grossen  Statistikers  Se- 
bastian Münster  bezeichnet  werden:  nihil  est,  quod  senilis  et  misera 
gern  (die  deutschen  Bauern)  dominis  debere  non  dicatur;  nihil  etiam,  qvod 
jussa  facere  absque  periculo  recusare  audeat4.  Nicht  genug,  dass  alle 
Verbesserungen  des  bäuerlichen  Zustandes,  selbst  die  reifsten  und  not- 
wendigsten, einer  mehr  als  zweihundertjährigen  Vertagung  anheimfie- 
len, so  traten  zugleich  die  positivsten  Verschlechterungen  ein.  Gerade 
der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  gehört  die  Ausbreitung  der  un- 
gemessenen Frohnden,  die  Ueberbürdung  des  Bauernstandes  mit  allen 
neuaufkommenden  Staatslasten,  die  Entstehung  der  neuern  Leibeigen- 
schaft, ja  die  Anfänge  zu  völliger  Legung  der  Bauerdörfer  hauptsächlich 
an 5.   Alles  diess  nur  zu  begreiflich  in  einer  Uebergangszeit,  wo  die  mit- 


3)  Ygl.  meine  Nationalökonomik  des  Ackerbaues,  §.  H7  fg. 

4)  Costnographia,  (1550)  p.  376.  Auch  das  ist  bezeichnend  für  die  Stellung  der 
verschiedenen  Stände  zu  jener  Zeit,  dass  der  Belagerer  Magdeburgs,  Herzog  Georg 
von  Mecklenburg,  die  gefangenen  Bürger  um  Lösegeld  freigab,  die  Soldaten  in  seinen 
eigenen  Dienst  zog,  die  Bauern  aber  niederhauen  liess.  (K.  A.  Menzel,  N.Geschichte 
der  Deutschen  III,  S.  341 .) 

5)  Man  kann  diess  in  den  meisten  deutschen  Territorien  so  lange  beobachten, 
bis  die  immer  mehr  wachsende  landesherrliche  Macht  es  in  ihrem  eigenen  Interesse 
fand,  die  Bauern  zu  schützen.  So  wurde  z.  B.  in  Brandenburg  1541  den  Ständen  er- 
laubt, »nach  ihrer  Gelegenheit  etliche  Bauern  auszukaufen.«  Der  Landtagsabschied 
von  1 550  hebt  die  bisherige  Ordnung  auf,  wonach  das  Kammergericht  den  Bauern 
»gesetzte  Dienste«  gemacht  und  den  Herren  vorgeschrieben  hatte,  sie  während  der 
Frohnde  zu  speisen.  (Mylius  C.  C.  M.  V,  S.90 ;  vgl.  Droysen  Preuss.  Gesch.  11,  2, 
S.  286.  293.)  Die  oppeln-ratiborsche  Landesordnung  von  1562  gestattet  schon  dem 
Herrn,  seine  Bauern  zum  Verkauf  ihres  Hofes  zu  zwingen;  im  Fall  der  Säumniss  darf 
er  den  Hof  nach  der  Taxe  an  sich  nehmen.  In  Pommern  beginnt  die  Einziehung  der 
Höfe  gegen  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts,  und  die  Bauemorduung  von  1616  stellt 
Leibeigenschaft,  ungemessene  Frohnden  und  Nichterblichkeit  der  Höfe  als  Regel  auf. 
In  Mecklenburg  werden  gewöhnlich  die  Reversalien  von  1616  als  Durchbruch  der 
bäuerlichen  Entsetzbarkeit  angesehen;  doch  schildert  bereits  Co ler  (1609)  in  seiner 
Oeconomia  ruraHs  et  domestica  FV,  8  die  dortigen  Bauern  als  Zeitpächter,  deren  ganzes 
Inventar  dem  Junker  gehört,  und  die  oft  davon  laufen,  nachdem  sie  Alles  durchge- 
bracht haben,  lieber  Schleswig- Holstein  ist  die  bekannte  Meinung  Hanssens 
neuerdings  von  K.  W.  Nitzsch  sowohl  bestätigt  als  berichtigt  worden:  S.  H.  L. 
Jahrbücher  V,  S.  97  ff. 


268  Wilhelm  Röscher,  [6 

telalterlichen  Formen  des  Verhältnisses  zwischen  Bauer  und  Gutsherr  etc. 
jedenfalls  umgestaltet  werden  mussten,  wenn  nun  dieser  Process  von 
exclusiv  römischen  Juristen 6  unter  dem  frischen  Eindrucke  einer  nieder- 
getretenen Bauernempörung  vollzogen  wurde.  Aber  das  Unglück  be- 
schränkte sich  nicht  auf  den  Bauernstand.  Die  Bauern  sind  ein  so  gros- 
ser, mehr  noch  ein  so  fundamentaler  Bestandtheil  des  Volkes  im  Gan- 
zen, dass  ihre  wirkliche  Verkümmerung  und  Demoralisirung  unfehlbar 
das  ganze  Volksleben  vergiften  muss.  Diess  der  eigentliche  Kern  der 
Krankheit,  woran  Deutschland  mehr  als  zweihundert  Jahre  lang  so 
schwer  darniedergelegen  hat ,  deren  Heilung  alsdann  vornehmlich  von 
den  grossen  Herrschern,  Denkern  und  Dichtern  des  18.  Jahrhunderts 
eingeleitet  worden  ist. 

Zwar  unterdrückt  wurde  Gottlob  die  evangelische  Idee  nicht. 
Auch  die  beiden  vornehmsten  Brücken,  die  von  ihr  zu  der  Gesammtheit 
der  Nation  führten,  die  lutherische  Bibelübersetzung  und  der  kirchliche 
Gemeindegesang,  bewährten  sich  als  unzerstörbar.  Aber  ihre  Weiter- 
entwickelung war  gehemmt.  Das  eigentliche  Gemeindeleben  verküm- 
merte gegenüber  einem  Pastorenthume,  das  ebenso  hierarchisch  nach  un- 
ten, wie  abhängig  nach  oben  zu  war.  Denn  nach  dem  Bauernkriege 
mussten  die  Reformatoren  zufrieden  sein,  wenn  sie  durch  engsten  An- 
schluss  an  die  fürstlichen  und  aristokratischen  Mächte  wenigstens  den 
Kern  ihres  bisherigen  Strebens  festhalten  konnten.  —  Die  religiöse  Klas- 
sicität,  wenn  ich  den  Ausdruck  gebrauchen  darf,  beruhet  auf  der  Stärke 
und  gleichmässigen  Ausbildung  folgender  vier  Elemente:  des  mystischen, 
ohne  welches  keine  Andacht,  des  pietistischen,  ohne  welches  keine 
Frömmigkeit,  des  orthodoxen,  ohne  welches  keine  Kirche,  und  des  ra- 
tionalen, ohne  welches  keine  Theologie  möglich  ist.  Bei  Luther  die 
höchste  Macht  und  schönste  Harmonie  aller  vier  Elemente,  wogegen 
schon  bei  seinen  nächsten  Epigonen  in  tyrannischer  Einseitigkeit  ein  or- 
thodoxer Rationalismus  vorherrschte.  Es  vollzog  sich  jetzt  in  ebenso 
viel  Jahrzehnten ,  wie  das  Urchristenthum  dazu  Jahrhunderte  gebraucht 
hatte,  das  Herabsinken  von  der  propheten-  und  apostelähnlichen  Glorie 
Luthers  zu  einer  fast  byzantinischen  Hoftheologie,  in  der  z.  B.  ein  Sel- 


6)  Die  also  ihre  Studien  gemacht  hatten  an  einer  klassischen  Zeit  des  Militärdes- 
potismus, der  Latifundienwirthschaft,  der  Sklaverei  oder  doch  eines  halbsklavischen 
Colonats. 


7]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  269 

necker  an  Kurftlrst  August  schrieb,  »er  wolle  gern  auf  allen  Vieren  von 
Wolfenbüttel  nach  Dresden  kriechen,«  um  den  Verdacht  zu  beseitigen, 
worein  er  gebracht  sei7.  Der  Satz:  Cuius  regio  eins  religio,  wurde  so  be- 
thätigt,  dass  z.  B.  in  Thüringen  bei  der  Austreibung  der  Flacianer  (1 573) 
von  533  Geistlichen  überhaupt  111,  darunter  9  Superintendenten,  ab- 
gesetzt wurden.  Aus  der  Pfalz  verjagte  die  Lutheranisirung  von  1 578 
an  1000  Prediger  und  Schullehrer.  Die  Reichsstadt  Oppenheim,  die  an 
den  Pfalzgrafen  verpfändet  war,  hat  von  der  Reformation  bi6  1648 
zehnmal  ihre  Confession  wechseln  müssen8.  Solche  Dinge  verdarben 
natürlich  den  Volkscharakter  um  so  mehr,  je  mehr  damals  noch  alles 
geistige  Leben  überhaupt  kirchlich  und  theologisch  gefärbt  war9. 

Dass  nationalpolitische  Ideale  nicht  auf  der  Grundlage  eines 
zertretenen  Bauernstandes  erreicht  werden  können,  leuchtet  schon  aus 
den  Anfangsgründen  der  politischen  Mechanik  ein.  Bei  der  Stellung  des 
Kaisers  gegen  die  Reformation  musste  die  Schwenkung  zum  Absolutis- 
mus, welche  das  Lutherthum  seit  dem  Bauernkriege  machte,  nur  den 
Landesherren  zu  Gute  kommen.  Diesen  wuchs  aller  Einfluss  zu,  wel- 
chen die  römische  Kirche  verloren  hatte.  Freilich  war  eben  damit  die 
allmäliche  Auseinandersprengung  des  Reiches  in  eine  Menge  von  Parti- 
cularstaaten  vorbereitet,  um  so  gewisser,  als  das  äussere  Wachsthum 
der  deutschen  Reformation  seit  Luthers  Tode  so  gut  wie  stillestand, 
folglich  die  beiden  grossen  Confessionen  schon  früh  in  das  Verhältniss 
eines  ziemlichen  Gleichgewichtes  zu  einander  traten.  Dieses  Gleichge- 
wicht aber  der  Gegensätze  auf  einem  Lebensgebiete,  welches  damals 
selbst  politisch  Air  das  bei  Weitem  bedeutendste  galt,  ist  offenbar  die 
allerungünstigste  Form ,  um  an  Wiederherstellung  der  Reichseinheit  zu 


7)  Planck,  Geschichte  des  protest.  Lehrbegriffes  V,  2,  S.  600  fg.  Nicht  ganz 
so  verletzend  in  der  Form,  aber  sachlich  ein  wahres  Musterstück,  den  Landes- 
herrn  zum  unbeschränkten  Herrn  der  Gewissen  zu  erklären,  ist  Aodreii's  Bericht  an 
Kurf.  August  vom  Febr.  1578,  bei  K.  A.  Menzel,  N.  Geschichte  der  Deutschen  IV, 
S.  513  ff. 

8)  Pfanner,  Eist,  pacis  Westphal.  Vt  42;  vgl.  K.  A.  Menzel  FT,  S.  429.489. 

9)  Für  die  ganze  Literatur  nach  Melanchthons  Abscheiden  ist  es  charakteristisch, 
dass  selbst  ein  Arzt  und  Mathematiker ,  wie  Peucer ,  so  durchaus  in  der  Theologie 
lebte ;  ebenso  aber  auch  für  die  Mässigung  des  damaligen  Wittenberg,  dass  ein  sol- 
cher Laie  so  Ungeheuern  theologischen  Einfluss  haben  konnte.  Man  wird  die  Ver- 
folgung des  Kryptocalvinisnius  in  Sachsen  kaum  halb  verstehen,  wenn  man  nicht  diese 
beiden  Seiten  zusammenfasse 


270  Wilhelm  Röscher,  8] 

denken.  Wir  sehen  desshalb  auch  sehr  bald  schon  jede  Partei  des  zwie- 
trächtigen Deutschlands  ihre  Bundesgenossen  im  Auslande  suchen. 
Wenn  die  Protestanten  diess  scheinbar  zuerst  gethan  haben  (seit  1 552 
mit  Frankreich),  so  darf  man  nicht  vergessen,  wie  Karl  V.  schon  im 
schmalkaldischen  Kriege  vornehmlich  durch  spanische  und  italienische 
Truppen  gesiegt  hatte.  Ohne  den  Bauernkrieg  und  die  von  ihm  her- 
rührende Trennung  der  Huttenschen  Fdeale  von  der  Reformation  wäre 
weder  die  Selbstzerfleischung  Deutschlands  im  dreissigjährigen  Kriege, 
noch  die  Schande  gegenüber  Ludwig  XIV.  möglich  gewesen.  Und 
wenn  in  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  die  vielen  grossen  Per- 
sönlichkeiten unter  den  Landesherren  den  Weg  zum  Absolutismus  ver- 
schönert hatten,  wie  selten  wurden  solche  Persönlichkeiten  gegen 
Schluss  des  Jahrhunderts  l 

Was  endlich  die  humanistische  Seite  der  Reformation  be- 
trifft ,  so  ist  es  eine  bekannte  Thatsache,  dass  bei  allen  neueren  Völ- 
kern die  wirkliche  Blüthe  der  altklassischen  Studien  mit  der  Blüthe  der 
eigenen  Nationalliteratur  als  Ursach  und  Wirkung  im  engsten  Zusam- 
menhange steht.  Hätte  sich  unser  Volk  im  16.  Jahrhundert  normal  ent- 
wickelt, ohne  Revolution  und  Gegenrevolution,  so  würden  Männer  wie 
Sebastian  Brant  und  der  Homer  der  Reineke-Fuchsdichtung,  wie  Hütten, 
Luther  und  Hans  Sachs  rasch  eine  ebenso  herrliche  als  volkstümliche 
Literatur  von  Poesie  und  Kunstprosa  vorbereitet  haben ;  und  auch  die 
Philologie  der  Reuchlin  und  Erasmus,  der  Melanchthon  und  Camera- 
rius  etc.  wäre  entsprechend  fortgeschritten.  So  aber  gerieth  gleich  nach 
Luthers  Tode  die  deutsche  Sprache  selbst,  als  Bauernsprache,  in  Ver- 
achtung, so  dass  es  eine  Art  von  Auferweckung  war,  als  Opitz  die  Dich- 
tung, oder  gar  später  Thomasius  die  Wissenschaft  wieder  in  Anspruch 
für  sie  nahm.  Wie  Flacius  erklärte,  durch  Schriften  in  deutscher  Sprache, 
die  quisvis  vel  minimi  pagi  aedititus  machen  könne,  lasse  sich  kein  Ruhm 
erwerben10,  da  musste  ziemlich  gleichzeitig  auch  der  deutsche  Huma- 
nismus für  lange  verstummen«  K.  A.  Menzel  nennt  die  schöne  Vertei- 
digung Melanchthons,  welche  die  Wittenberger  1569  gegen  die  Flacia- 
ner  ausgehen  Hessen,  den  Schwanengesang  des  deutschen  Humanismus 
im  1 6.  Jahrhundert.  Wenn  Fischart  den  Uebergang  von  der  Volkslite- 
ratur zur  Gelehrtenpoesie  vermittelt,  (gleichsam  die  Mitte  zwischen  Hans 


4  0)  C.  Schluesselburg,  Catalog.  haereticorum  XIII.  p4  824, 


9]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  271 

Sachs  und  Opitz !)  so  meint  Gervinus  ohne  Zweifel  mit  Recht ,  dieser 
Uebergang  sei  nöthig  gewesen,  um  Deutschland  nicht  in  die  roheste  und 
zugleich  armseligste  Pöbelhaftigkeit  versinken  zu  lassen  ". 

Ein  volkswirthschaftliches  Sinken  von  Deutschland  während 
der  zweiten  Hälfte  des  1 6.  Jahrhunderts  möchte  ich  nicht  mit  Zuversicht 
behaupten.  Man  denke  nur  an  Kurfürst  August  von  Sachsen!  Aber  selbst 
aus  der  Fortdauer  eines  ungeschmälerten  Wohlstandes  würde  man  nicht 
gar  zu  viel  schliessen  dürfen,  da  zwar  eine  gewisse  Unterlage  mate- 
rieller Güter  für  die  geistige  Kultur  unentbehrlich  ist,  hingegen  die 
grösste  Fülle  des  Reichthums  sowohl  bei  Völkern  wie  bei  Individuen 
dem  Höhepunkte  des  geistigen  Lebens  zu  folgen  pflegt.    Uebrigens  se- 
hen wir  schon  damals  eine  Menge  wirtschaftlicher  Veränderungen,  die 
ein  völlig  gesundes  Volk  unschädlich  gemacht,  wohl  gar  zu  seinem  Vor- 
tbeil  gewandt  hätte,  die  aber  unter  den  geistig-politischen  Krankheits- 
verhältnissen jener  Zeit  auch  ein  wirtschaftliches  Sinken  vorbereiten 
mussten.  —  Vom  Landbau  wird  kein  Nationalökonom  bezweifeln,  dass 
er  durch  die  Reaction  nach  dem  Bauernkriege  auf  Seiten  der  Bauern 
noch  mehr  verlor,  als  auf  Seiten  der  Gutsherren  gewann ;  obwohl  das 
Hof  leben  noch  am  Schlüsse  des  Jahrhunderts  den  Adel  nicht  abhielt,  eine 
gute  Selbstwirthschaft  für  eine  Ehre  anzusehen 12.    Den  städtischen  Ge- 
werbfleiss  berührte  die  Niederlage  der  Bauern  schon  dadurch  bedeut- 
sam, weil  die  nun  folgende  Reaction  in  den  meisten  Städten  das  Zunft- 
regiment schwächte,  d.  h.  also  die  Herrschaft  des  Handwerkerstandes. 
Trotzdem  war  für  grosse  Fabriken  mit  ihrer  Ueherlegenheit  an  Kapital 
und  Intelligenz  noch  lange  kein  Boden ;  ebenso  wenig  für  Gewerbefrei- 
heit.   Vielmehr  haben  sich  gerade  in  dieser  Zeit  viele  neue  Beschrän- 
kungen vorbereitet,  wie  die  Meisterstücke,  die  Geschlossenheit  der  Mei- 
ster- und  Gesellenzahl,  die  obrigkeitlichen  Taxen  etc.:  Beschränkungen, 
welche  zum  Theil  das  Sinken  des  Absatzes  unschädlich  machen  sollten, 
in  Wahrheit  aber  das  Uebel  verschlimmern  mussten.  Nur  die  Bannmeile 
der  Städte  wurde  jetzt  an  vielen  Orten  weniger  streng  beobachtet,  weil 
die  Fehdeunsicherheit  des  platten  Landes  abnahm,  die  sonst  schon  fac- 
tisch  jeden  Gewerbfleiss  daselbst  verhindert  hatte l3.    Indess  wird  auch 


\  I)  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  III,  S.  124. 
\l)  Vgl.  die  Vorrede  zu  Coleri  Oeconomia  ruralis  et  domestica. 
4  3)  Die  hannoverschen  Städte  klagen  zuerst  4  563  über  Beeinträchtigung  durch 
Landgewerbe.   (Spiltler,  Hannov.  Geschichte  I,  S.  980.)    In  Brandenburg  heftiger 


272  Wilhelm  Roscheb,  10] 

hier,  bei  der  sinkenden  Lebenskraft  des  Ganzen,  die  Aendernng  den  bis- 
her Privilegirten  mehr  geschadet,  als  den  bisher  Nichtprivilegirten  ge- 
nützt haben.  Der  Handel  von  Deutschland  gewann  zwar  in  der  letzten 
Hälfte  des  1 6.  Jahrhunderts  durch  die  grössere  Sicherheit  der  meisten 
Strassen  im  Innern.  Er  verlor  aber  nach  Aussen  hin  durch  drei  grosse 
Veränderungen:  einmal  die  Abnahme  des  italienischen  Welthandels  in 
Folge  der  portugiesischen  Entdeckungen,  der  türkischen  Eroberungen 
und  gewiss  am  meisten  der  spanischen  Herrschaft  Ober  Italien  selbst; 
ferner  den  Fall  Antwerpens  und  die  Sperrung  des  Rheins  durch  den 
spanischen  Krieg  und  die  holländische  Handelspolitik u ;  endlich  das  Sin- 
ken der  Hansa  im  Streite  mit  den  Ostseemächten  und  ganz  besonders 
mit  England.  Der  erste  Vorgang  drückte  schwer  auf  die  oberdeutschen 
Städte,  der  zweite  auf  das  Rheingebiet,  der  dritte  auf  Norddeutschland15. 
Denn  auf  einer  Kulturstufe,  wie  die  unseres  Vaterlandes  im  1 6.  Jahrhun- 
dert, pflegt  der  auswärtige  Handel  noch  wichtiger,  namentlich  zum  wei- 
tern Fortschreiten  noch  unentbehrlicher  zu  sein,  als  der  Binnenhandel. 
Uebrigens  konnte  auch  die  gesteigerte  Abhängigkeit,  in  welche  damals 
so  viele  Städte  gegenüber  den  Landesherren  geriethen,  dem  Handel 
nicht  wohl  günstig  sein.  Die  damaligen  Höfe,  mit  ihren  theils  junker- 
lichen, theils  juristischen,  theils  geistlichen  Behörden  waren  gewiss  noch 
nicht  im  Stande ,  was  sie  am  Handelsinteresse  weniger  hatten ,  als  die 
städtischen  Magistrate,  durch  grössern  Gemeinsinn  und  höhere  Einsicht 
zu  ersetzen. 

Zu  den  merkwürdigsten  Proben  dieser  tiefen  Gesunkenheit  auch  der 
volkswirtschaftlichen  Einsicht  gehört  des  Cyriacus  Spangenberg16 


Kampf  darüber  auf  dem  Landtage  von  4  602,  während  in  Sachsen  bereits  1537  von 
Seiten  des  Landesherrn  eine  Schlichtung  erfolgt  war. 

4  4)  Die  sich  durch  ein  engherziges  Ausbeutungssystem  gegen  ihre  Hinterländer 
sehr  von  den  Freihandelsprincipien  der  bisherigen  flandrisch  -antwerpischen  Politik 
unterschied. 

1 5)  Wenn  Sachsen  unter  Kurfürst  August  in  wirtschaftlicher  Hinsicht  das  erste 
Land  des  Reiches  genannt  werden  kann,  so  hängt  das  zum  grossen  Theil  damit  zu- 
sammen) dass  es  diesen  drei  commerciellen  Schlügen  verhältnissmttssig  ferner  lag. 
Daneben  ist  dann  auch  der  Umstand  wichtig,  dass  Sebast.  Münsters  Satz:  hodie 
revera  inveniunt  Germaniam  prae  ceteris  regionibus  metallis  abundare,  für  Sachsen  be- 
sonders lange  wahr  blieb . 

16)  Der  Verfasser  ist  1528  in  Calenberg  geboren,  studirte  zu  Wittenberg,  war 
Prediger  in  Eisleben,  Mansfeld  etc.,  hatte  als  Flacianer  viele  Kämpfe  zu  bestehen,  oft 


**]  Aelterk  deutsche  Nationalökonomik,  273 

»Nützlicher  Tractat  vom  rechten  Brauch  und  Missbrauch  der  Müntzen.« 
(Hinter  Tilemann  Friesens  Mttntzspiegel,  Frankfurt  a.  M.  1 592,  S.209— 
265.)  Diess  Büchlein,  von  einem  zu  seiner  Zeit  recht  berühmten  Manne 
herrührend,  ist  ein  wahres  Meisterstück  wohlmeinenden,  aber  unwissen- 
den und  anmasslichen  Pastorenthums. 

ifonefo  kommt  her  \on tnonere.  »Das  Geld  soll  eine  Ermahnung  und 
Erinnerung  sein,  nicht  allein  zu  gedenken  dessen,  der  die  Mttntz  ge- 
schlagen, der  Zeit  wann  sie  geschlagen  und  ihres  Wehrts,  sondern  viel 
mehr  der  Gerechtigkeit,  gleich  und  richtig  damit  umzugehen,  und  das 
Geld  zu  geben  und  zu  nemen,  wie  wir  wollten,  das  ein  ander  geben 
oder  von  uns  nemen  solle.«  (S.  209.) 17    Die  Münze  ist  erfunden,  statt 
des  altern  Tauschverkehrs,  damit  man  »in  allerley  Handeln  besser  zu 
und  von  einander  kommen  möchte  «  Den  Vorzug  des  Geldverkehrs  setzt 
Spangenberg  ziemlich  roh  in  den  leichten  Transport  des  Geldes ;  übri- 
gens behauptet  er  einfach,  dass  man  sich  über  Geld  leichter  vergleiche, 
da  sonst  der  Eine  oft  die  Waaren  nicht  bat,  die  der  Andere  braucht. 
(S.  244  fg.)    Wie  ungleich  besser  ist  diese  Frage  von  Mannern  wie 
Agricola  oder  der  albertinische  Mttnzpublicist,  ja  schon  von  dem  alten 
Biel  erörtert  worden !  —  Nun  aber  die  Predigt  des  Gepräges.    Die  älte- 
sten Münzen  sollen  ein  Schiff  und  einen  Januskopf  enthalten  haben,  »un- 
gezweiffelt,«  weil  Noah  damit  ein  ewiges  Gedachtniss  der  Rettung  aus 
der  Sündfluth  stiften  wollte ;  der  Janus  ist  Noah  selbst ,  der  zwei  ver- 
schiedenen Weltaltern  angehörte.  (S.  212.)    Das  Bild  des  Landesberrn 
auf  unseren  jetzigen  Münzen  soll  (nach  Christi  Beispiel  mit  dem  Zins- 
groschen) die  Menseben  taglich  erinnern  »an  die  Wohlthaten  ihrer  Erb- 
herren gegen  Land  und  Leuten«,   damit  sie  fleissig  für  diese  beten, 
auch  »dester  gehorsamer  sich  nach  derselben  Landordnungen  in  allen 
Handeln  richten,  auch  für  Auffruhr  und  anderer  Meuterey  hüten.«  (S.  21 3.) 
Der  Ochse  auf  vielen  Münzen  ist  eine  Mahnung,  »Gelt  und  Kaufhandel 
nicht  so  hoch  zu  lieben,  dass  sie  darumb  den  Ackerbau  wolten  anstehen 
lassen.    Ja  vielmehr  zu  bedencken,  wenn  der  Ackerbau  nicht  thet,  dass 
man  auch  nicht  viel  Gelt  haben  oder  ohne  den  Ackerbau  das  Gelt  wenig 


zu  flüchten  und  starb  1604  zu  Strassburg.  Seine  Schriften  sind  meist  Chroniken 
oder  theologischen  Inhalts ;  die  berühmtesten,  ausser  unserem  Buche,  sein  Jageteuffel 
und  Adelsspiegel. 

47)  Aehnlich  bereits  Thomas  Aquinaa  De  reg.  pr.  //,  13. 


274  Wilhelm  Röscher.  [12 

nütze  sein  würde ;  denn  was  hülffe  es  einen,  wenn  er  gleich  alle  Beutel 
und  Kasten  voll  Geltes  und  doch  kein  Korn  noch  Brot  hette!«  (S.215.)1* 
Das  Schaf  auf  jüdischen  und  arabischen  Münzen  soll  »an  das  einige  wäre 
Schlachtlemlin,  Jesum  Christum,  erinnern«.  (S.  216.)  Die  dünnen  mittel- 
alterlichen Münzen  mit  Bischofs-,  Heiligenbildern  etc.  sind  Gottespfen- 
nige fllr  diejenigen,  welche  zu  einem  Kirchenbau  gesteuert  hatten. 
(S.  220.) 

Als  Pflicht  der  Münzobrigkeit  wird  zwar  ein  richtiges  Schrot  und 
Korn,  richtige  Würderung  auch  der  fremden  guten  Münze  etc.  genannt. 
Doch  soll  in  Nothfällen  eine  Steigerung  oder  Ringerung  erlaubt  sein,  so 
viel  wie  möglich  »ohne  mercklichen  Schaden  des  gemeinen  Nutzens.« 
Als  eine  solche  erlaubte  Massregel  bezeichnet  Spangenberg  ausdrücklich 
das  Verfahren  des  Leukon,  (Polyaen.  Strat.  VJ,  9, 1 )  der  alles  Geld  einrief, 
mit  neuem  Gepräge  versah  und  es  schliesslich  zu  doppeltem  Nennwerthe 
wieder  ausgab  »ohne  einiges  seiner  Unterthanen  Schaden.«  (S.  223.) 
Als  Pflichten  der  Unterthanen  rücksichtlich  der  Münzen  werden  fast  nur 
solche  Pflichten  genannt,  die  auf  Benutzung  des  Reichthums  Bezug  ha- 
ben :  dankbar  gegen  Gott  zu  sein,  sein  Herz  nicht  ans  Geld  zu  hängen, 
vornehmlich  den  Kirchen  etc.  zu  schenken,  auch  den  Armen,  der  Obrig- 
keit zu  steuern ,  die  Seinen  zu  ernähren ,  ehrliche  Hanthierung  zu  trei- 
ben. Namentlich  wird  die  Armenpflege  speciell  geschildert ,  allerdings 
nur  mit  patristischen  etc.  Gemeinplätzen  (S.  233  ff.) 

Als  Missbrauch  der  Münze  wird  zuerst  die  obrigkeitliche  Münzver- 
ringerung getadelt,  freilich  aus  keinem  tiefern  Grunde,  als  weil,  (nach 
Matthesius)  »wenn  Schrott  und  Korn  sich  endert,  so  endern  sich  gemei- 
niglich auch  Schlag  und  Überschrift,  und  gibt  newe  Herrschaft.« 
(S.  239.)  Spangenberg  stellt  hier  nicht  bloss  die  hauptsächlichsten 
Missbräuche  des  Münzregals  zusammen,  sondern  auch  zu  hohe  Steuern, 
Anleihen,  Staatsverschwendung ;  speciell  die  zu  jener  Zeit  üblichen  Re- 
galfinanzquellen :  als  Regierungsmonopole,  übermässige  Frohndienste, 
Geldstrafen,  Begnadigungen  für  Geld  etc.  (S.  242  ff.)  Unter  den  Miss- 
bräuchen auf  Seite  der  Unterthanen  wird  aller  Art  Habgier,  Hartherzig- 
keit, Mammonsdienst,  am  ausführlichsten  wieder  Kirchenraub,  ferner 
Yergrabung  des  Geldes,  Knauserei  gegen  die  eigenen  Kinder  etc.,  Aem- 


18)  Dieselbe  Ansicht  spricht  übrigens  Davanzati  Lezione  sutle  monete  (<588) 
;;.  25  aus. 


13]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  275 

terkauf,  Ablasswesen ;  zuletzt  aber  nur  ganz  in  der  Kürze  das  Kippen, 
Wippen  und  Falschmünzen  erwähnt. 

In  derselben  Weise  ungefähr,  wie  Spangenberg  die  geistliche,  so 
charakterisirt  Waremund  von  Erenbergk  die  juristisch-humanisti- 
sche Volkswirtschaftslehre  des  Zeitalters.  Dieser,  praktisch  wie  theo- 
retisch damals  gleich  sehr  geschätzte,  Mann  hiess  eigentlich  Eberhard 
vonWeyhe.  Geboren  1353  aus  einer  bekannten  niedersächsischen  Adels- 
familie, führte  er,  wie  die  meisten  damaligen  Gelehrten,  ein  stürmisch 
bewegtes  Leben.  Um  1 587  wurde  er  Professor  der  Rechte  zu  Witten- 
berg, kam  auch  bald  mit  dem  kursächsischen  Hofe  zu  Dresden,  damals 
unstreitig  dem  ersten  reichsfürstlichen  Deutschlands,  in  nahe  Verbindung, 
wurde  jedoch  \  593  des  Kryptocalvinismus  verdächtig  und  wegen  ver- 
weigerter Unterschrift  der  Concordienformel  seines  Amtes  entsetzt  und 
Landes  verwiesen.  Im  folgenden  Jahre  treffen  wir  ihn  als  landgräflichen 
Kanzler  zu  Kassel,  welchen  Dienst  er  nachher  mit  dem  Kanzleramte 
zuerst  von  Bückeburg,  dann  von  Braunschweig-Wolfenbüttel  vertauscht 
hat.  Er  starb,  jedenfalls  nach  1 633,  auf  seinen  Gütern  im  Lüneburgi- 
schen. Das  Ansehen,  worin  seine  geistige  Bedeutung  bei  den  Zeitge- 
nossen stand,  erhellt  aus  der  Art  und  Häufigkeit,  wie  seine  Schriften  ci- 
tirt  wurden :  Aulicus-politicus  (1 596)  und  Vetisitnilia  Iheologica,  iuridica 
ac  politica  de  regni  subsxdiis  ac  oneribus  subditorum,  I.  Samuel.  8  traditis, 
perPh.  Melanlhonem,  theologorum  et  politicorum  coriphaeum  proposita,  re- 
pelita  et  defensa  discursim  contra  Bartolum,  Bodinum,  Rossaeum  cett. 
(1606.)19  Nebenher  auch  aus  seiner  Aufnahme  in  die  fruchtbringende 
Gesellschaft.  Um  so  beweisender  zeugt  seine  wissenschaftliche  Art  und 
Kunst  für  die  Niedrigkeit  der  damaligen  Durchschnittsbildung. 

Denn  es  ist  wirklich  ein  recht  unsystematisches,  geistloses,  fast  nur 
registratorisches  Buch,  diese  volkswirtschaftliche  Hauptschrift  des 
Waremund!  Vornehmlich  schöpft  er  aus  der  Bibel  und  dem  Corpus 
Juris  nebst  dessen  Glossatoren.  Was  die  in  der  Bibel  nicht  gefädelten 
Herrscher  thun,  wird  immer  für  rechtmässig,  nicht  tyrannisch  gehalten 
(p.  131*);  ebenso  was  sich  durch  Vorschriften  des  Corpus  Juris  stützen 
lässt.  (p.  134.)20  Bei  allen  Schimpfreden  auf  schlechte  Fürsten  meint  der 
Verfasser  doch,  es  müsse  ihnen  gehorcht,  oder  aber  durch  Auswande- 

4  9)  Ich  citire  nach  der  dritten  Ausgabe  von  4  624,  497  S.  in  klein  Octav. 

# 

SO)  Diese  Ansicht,  die  sich  damals  fast  bei  allen  bedeutenden  Juristen  findet,  ist 
für  die  innere  Geschichte  derReception  des  römischen  Rechts  von  grosser  Wichtigkeit. 


276  Wilhelm  Röscher,  [U 

rung  entgangen  werden;  man  könne  sie  indessen  aoch  »todt  beten.« 
(p.  1 58  ff.)  Zölle  von  solchen  zu  verlangen,  die  vor  Raubern  oder  Fein- 
den flüchten,  sei  tyrannisch,  (p.  1 52.)  Eine  Concessionsgebtthr  von  Bor- 
dellen wird  als  heidnisch  getadelt ;  hingegen  eine  Besteuerung  derselben 
als  Geldstrafe  der  Unzucht  sehr  gerühmt,  (p.  59.)  Den  französischen 
Aemterverkauf  nennt  er  tributum  turpissimum.  (p.  67.)  Das  ist  Alles, 
was  ich  an  irgend  selbständigen,  charakteristischen  Aeusserungen  aus 
dem  »berühmten«  Buche  habe  entnehmen  können ! 

Man  hat  oft  beobachtet,  dass  ein  bescheidenes  Handwerk  zwar 
nie  den  geistigen  Aufschwung  nimmt,  aber  im  ungünstigen  Falle  auch 
nie  verhältnissmässig  so  tief  sinkt,  wie  die  entsprechende,  an  sich  freiere 
und  idealere,  mehr  künstlerische  Richtung.  So  finden  wir  denn  auch 
gegen  Schluss  des  16.  Jahrhunderts  in  der  handwerksmäßigen  Münz- 
meisterliteratur  durchaus  keinen  solchen  Abfall  gegen  die  Zeiten  des 
vortrefflichen  G.  Agricola,  wie  in  den  gleichzeitigen  Schriften  höherer 
Art.  Ein  Beispiel  davon  bietet  der  1 592  von  dem  Göttinger  Bürger- 
meister Tilemann  Friesen  herausgegebene  Müntzspiegel.  Daß  Werk 
hat  vier  Bücher:  Nr.  2  handelt  geschichtlich  von  den  antiken  Münzen, 
Nr.  3  von  den  deutschen,  jedes  Jahrhundert  in  einem  Kapitel,  Nr.  4  von 
den  Münzsorten  seiner  Zeit  bei  den  verschiedenen  Hauptvölkern.  Etwas 
Theorie  findet  sich  nur  im  ersten  Buche.  Die  Erklärung  von  Münze 
(S.  2),  »ein  Stücklein  Geld  etc.  . . .  darzu  erfunden,  andere  Wahre  damit 
zu  kaufen,  dadurch  man  desto  leichter  handeln  könne  etc.,«  giebt  doch 
gar  keinen  Grund  dieses  Vorganges  an.  Indess  meint  Friesen  (S.  1 3) 
gegen  die,  welche  es  für  gleichgültig  erklären,  ob  Geld  von  Blei  oder 
Leder  sei,  wenn  es  nur  gangbar  wäre :  »recht  Gelt  so!  nicht  alleine  die 
eusseriiche  Tugent  und  Krafil  haben,  dass  man  damit  kauffen  könne, 
sondern  auch  die  innerlichen  Tugent,  die  der  Wahre,  dafür  man  solch 
Gelt  giebt,  gleichmessig  sey,  wenn  gleich  die  auffgestempelte  Geprege 
verginge,  dass  denn  die  innerliche  Materi  ebenso  gut  were.«  Freilich  ist 
er  in  dieser  Einsicht  durchaus  nicht  fest.  Die  »fürnehmsten«  Autoren 
lehren,  (gegen  Aristoteles)  das  Gepräge  mache  den  Werth  der  Münze 
aus,  fügen  jedoch  hinzu :  »besonders  wenn  kein  arglist  darunter,  son- 
dern jede  Münze  nach  dem  innerlichen  Korne  valuirt  wird.«  (S.  39.) 
Gewiss  nichts  weniger,  als  ein  Fortschritt  im  Vergleich  mit  Agricola; 
aber  die  volkswirthschaftliche  Theorie  steht  in  diesem  Buche  überhaupt 
sehr  zurück  hinter  der  numismatischen  Technik,  Geschichte  und  Statistik, 


15]  A ELTER E  DEUTSCHE  NATIONALÖKONOMIK.  277 

und  diese  Partien  sind  nicht  übel 21.  —  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem 
Werke  des  cölnischen  Münzdirectors  Renerns  Budelius  von  Ruhr- 
münde: De  monetis  et  re  numaria  Libri  IL  (Cöln  1591.)  Die  erste 
Hälfte  behandelt  die  Technik  des  Münzwesens,  die  zweite  eine  Anzahl 
Rechtsfragen,  die  sich  alle  darum  drehen,  ob  das  Geld  bei  vertragsmas- 
sigen Zahlungen  nach  seinem  obrigkeitlichen  Nennwerthe,  oder  seinem 
Realwerthe  berechnet  werden  soll.  Offenbar  greift  diese  Fragstellung 
tief  in  das  volkswirtschaftliche  Wesen  des  Geldes  ein;  sie  ist  daher 
auch  von  dem  Verfasser  höchst  ungenügend  erörtert  worden ;  verwor- 
ren im  Ausdrucke  und  beim  Hin-  und  Herschwanken  zwischen  ver- 
schiedenen Auctoritäten  reich  an  Widersprüchen.  Der  technische  Theil 
hingegen  verdient  auch  hier  alles  Lob22. 


IL 

Das  Eindringen  des  welschen  Regalismus. 

Georg  Obrecht,  der  Ahnherr  einer  lange  Zeit  berühmten  Gelehr- 
tenfamilie, war  1 547  zu  Strassburg  als  Sohn  des  städtischen  Syndicus 
geboren.    Er  studirte  zuerst  in  Tübingen,  dann  mehrere  Jahre  in  Frank- 


st) Vgl.  z.  B.  die  gute  historische  Uebersicht  des  Preisverhältnisses  zwischen 
Gold  und  Silber :  S.  21. 

22)  Einen  sehr  ahnlichen  Gegensatz  finden  wir  in  der  Landbauliteratur  jener 
Zeit.  Conrad  Heresbach  (Rei  rusücae  Libri  IV,  vor  J674)  steht  noch  ganz  auf 
dem  Boden  der  jüngeren  Reformationsgenossen,  während  Johann  Coler  (Oecono- 
miaruralis  et  domestica,  1609)  ganz  ein  Rind  seiner  Zeit  ist.  Jener  durchaus  klas- 
sisch gebildet,  ein  berühmter  Jurist,  hatte  Strabon,  Thukydides,  Herodot,  die  Psal- 
men etc.  übersetzt,  deprincipum  educaHone  geschrieben  und  sich  zuletzt,  als  Beschäf- 
tigung seiner  Altersmusse,  auf  Theorie  und  Praxis  der  Landwirtschaft  geworfen.  Mit 
ihm  verglichen  ist  Coler  ein  Barbar.  Während  sieb  Heresbach  überall  von  der  edelsten 
Religiosität  durchdrungen  zeigt,  eine  schöne  Ausnahme  von  der  sonst  überall  schon  her- 
einbrechenden Gonfessionswutb,  —  ihm  sind  die  Propheten,  Apostel  und  Kirchenväter  die 
Prediger  seiner  Hausandacht,  quos  cum  majore  fruetu  audire  me  arbitror,  quam  vestros 
aliquot  spermologos  et  plerosque  in  templis  ineptos  concionatores  (p.  f  3)  —  empfiehlt 
Coler  z,  B.  die  Schalzucht  damit,  dass  »nächst  Gott  die  Schafe  am  meisten  zum  Reicb- 
thum  helfen. a  (XII.  I.)  Wo  es  sich  um  ethische  und  unmittelbar  psychologische  Dinge 
handelt,  ist  H.  vortrefflich,  so  z.B.  in  seiner  Lehre  von  den  Pächlerverhältnissen. 
(p.  4  86  ff.)  Dagegen  spricht  er  vom  Dünger  auffällig  kurz :  ne  in  sterquiünüs  diutius 
moremur.  (p.  48.  ioö.)  C.  hingegen,  der  es  für  nöthig  hält,  seiner  wüsten  Recept- 
masse  nicht  bloss  ein  Kochbuch  und  eine  Anweisung  zur  Destillation ,  sondern  sogar 


278  Wilhelm  Röscher,  16] 

reich,  wo  ihn  die  mit  der  Bluthochzeit  verbundenen  Tumulte  in  Lebens- 
gefahr stürzten  und  ihm  den  Verlust  seiner  Bibliothek  zuzogen.  Heim- 
gekehrt, wurde  er  1 575  Professor  der  Rechte  zu  Strassburg,  1 595  Rec- 
tor  der  Universität,  1604  vom  Kaiser  geadelt,  1607  zum  Comes  palaiinus 
ernannt,  und  starb  1612  in  hohem  Ansehen,  wobei  ich  daran  erinnere, 
dass  zu  jener  Zeit  die  Strassburger  Universität  ein  Hauptsammelplatz 
gerade  vornehmer  junger  Leute  aus  allen  Theilen  von  Deutschland  war. 
Obrechts  zahlreiche  Abhandlungen  über  Gegenstände  des  Civilrechts, 
der  römischen  Rechtsgeschichte  und  des  Lehnrechts  werden  von  Savigny, 
soweit  dieser  von  ihnen  Kenntniss  genommen,  in  Bezug  auf  den  Inhalt, 
wie  auf  die  leichte  natürliche  Form  geschätzt1.  Seine  »Erklärungen 
über  das  politische  Bedenken  über  die  Stadteinkünfte  Lübecks«  (1610)  sind 
mir  bis  jetzt  noch  unzugänglich  gewesen 2. 

Die  volkswirtschaftlichen  Hauptarbeiten  von  Obrecht  sind  nach 
des  Verfassers  Tode  mb  secreto  durch  seinen  Sohn,  Johann  Thomas  0., 
gesammelt  herausgegeben  worden 3 :  »Fünff  underschiedliche  Secreta  po- 
litica  von  Anstellung,  Erhaltung  und  Vermehrung  guter  Policey  und  von 
billicher,  rechtmässiger  und  notwendiger  Erhöhung  eines  jeden  Regen- 
ten jährlichen  Gefällen  und  Einkommen.  Allen  hohen  und  niederen 
Obrigkeiten  besonders  dess  Heyligen  Römischen  Reichs  Ständen  in  die- 
sen letzten  und  hochbetrengten  Zeiten  zum  besten  gestellt.«  (Strassburg 
1617.)  Die  Sammlung  besteht  aus  fünf  Schriften,  die  zu  sehr  verschie- 
dener Zeit  verfasst  sind,  aber  in  ihrem  Inhalte  doch  wesentlich  zusam- 
menhängen. Die  Form  ist  so  kirchlich,  wie  man  damals  allgemein  fttr 
nöthig  hielt;  so  beginnt  z.  B.  die  erste  Schrift  mit  der  Formel:  Auspice 
Deo  triuno  optumo  maxumo ;  alle  schliessen  mit  dem  Ausrufe :  Deo  soll 
8tt  law  et  gloria.  Im  eigentlichen  Räsonnement  aber  findet  man  von 
dieser  theologischen  Färbung  keine  Spur;  selbst  aus  der  Bibel  werden 
wohl  Einrichtungen  der  respublica  Judaeorum  als  Beispiele  (S.  291),  aber 


ein  Traumbuch  und  eine  rohabergläubische  Hausmedicin  beizufügen,  hat  seine  grosse 
Stärke  darin,  dass  er  allenthalben  auf  die  wirklichen  Preise  der  Productionseleraente 
und  Producte,  d.  h.  also  die  Unterlagen  des  Reinertrages,  in  echt  praktischer  Weise 
Rücksicht  nimmt. 

4)  Savigny,  Recht  des  Besitzes,  (1822)  S.  XXIII. 

2)  Vgl.  Sinceri  Vitae  Ictorum  I.  p.  92  flf. 

3)  Vorher  soll  der  Herausgeber  sie  für  200Ducaten  an  den  Herzog  von  Pommern 
verkauft  haben. 


47]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomie  279 

nicht  leitende  Ideen  geschöpft.  Viel  mehr  bezieht  sich  der  Verfasser  auf 
das  Corpus  Juris.  Eigentlich  klassische  Anspielungen  kommen  wenig 
vor ;  aber  viele  Citate  aus  Bodinus,  Waremund  von  Ehrenbergk,  Hippo- 
lytus  de  Collums  u.  A.  Die  Sprache  des  Obrecht  ist  der  pedantische 
Gelehrtenjargon  jener  Zeit,  wo  mitten  im  Deutschen  ohne  allen  Grund 
lange  Sätze  lateinisch  werden. 

Die  erste  Schrift:  Discursus  Bellico-politicus,  in  quo,  quomodo  adver- 
sus  Turcicum  tyrannum  bellum  commode  geri  possit,  quam  felicissime  osten- 
ditur,  zum  Theil  auf  Grund  einer  zu  Strassburg  1 590  gehaltenen  akade- 
mischen Disputation,  ist  ein  vom  Kaiser  1 604  verlangtes  Gutachten,  59  S. 
stark.  Hier  wird  dem  Bodinus  nachgeschrieben,  dass  non  capita  s.  per- 
sonae,  sed  bona  subditomm  bei  der  Besteuerung  geschätzt  werden  sollen. 
(p.  1 3.)  Ebenso,  dass  nicht  die  nothwendigen  Lebensbedürfnisse  zu  be- 
steuern sind,  sondern  die  Luxusartikel,  (p.  1 4.) 4  Beides  Grundsätze, 
welche  zur  damaligen  Praxis  der  meisten  Länder  in  grellem  Wider- 
spruch standen!5  Schon  hier  macht  Obrecht  den  Vorschlag,  welcher 
nachmals  zu  seinem  Lieblingsgedanken  wurde,  allen  Hochzeitsluxus  zu 
verbieten  und  statt  dessen  Einlagen  in  ein  aerarium  liberorum  (Kinder- 
versorgungskasse) mit  fiscalischem  Nebenzweck  anzubefehlen,  (p.  1 6  fg.) 
Ferner  empfiehlt  er  Geldstrafen  für  Gotteslästerung6  und  Uebertretung 
von  Aufwandsgesetzen.  Alle  Processführenden  sollen  eine  verhältniss- 
mässige  Geldsumme  niederlegen,  und  derjenige,  welcher  den  Process 
verliert,  sein  Depositum  zu  Gunsten  des  Fiscus  einbüssen.  Der  Verfasser 
hofft  hiervon,  namentlich  bei  den  so  häufigen  Injurienklagen,  einen  be- 
deutenden Ertrag,  (p.  21  fg.)  Ebenso  von  der  fiscalischen  Ausbeutung 
der  Lehnsvacanzen  beim  Tode  jedes  Vasallen,  (p.  43)  und  von  freiwilli- 
gen, aber  doch  halberpressten  Geschenken  der  Unterthanen  nach  Art 


4)  Vgl.  Bodinus  De  rep.  VI,  2.  p.  {034. 

5)  Von  Frankreich  sagt  Bodinus  mit  Recht:  apud  quos  nihil  est  plebe  contem- 
tius.  (De  rep.  VI,  2.)  In  Deutschland  besteuerte  der  gemeine  Pfennig  von  4  495  das 
über  4  000  FI.  steigende  Vermögen  doch  eigentlich  bloss  nach  Belieben  des  Pflichtigen: 
»soviel  sein  Andacht  ist.«  So  zahlten  selbst  in  Sachsen  bei  der  Türkensteuer  von 
4  552  Geistliche  nur  2  Pfennige  pro  Schock,  Bürger,  Bauer,  Dienstboten  3  Pfennige. 
Ueberhaupt  aber  war  dies  die  Zeit,  worin  die  früher  wohlbegründeten  Steuerfreihei- 
ten durch  das  Abkommen  der  dafür  'äquivalenten  Dienste  etc.  grundlos  wurden,  und 
gleichwohl  noch  immer  fortdauerten. 

6)  In  jener  klassischen  Zeit  der  Intoleranz  und  confession eilen  Streitsucht  wäre 
das  ein  ergiebiges  Feld  gewesen ! 

Abhandl.  d.  K.  8.  Ge».  d.  Wim.  X.  4  9 


280  Wilhelm  Röscher,  M8 

der  englischen  Benevolenzen  unter  Eduard  IV.  und  Heinrich  VII.  (p.  46.) 
Das  Finanzmittel  der  Münzverringerung,  wie  zu  Rom  während  der  pu- 
tschen Kriege,  sollen  die  viri  politici  wenigstens  in  Erwägung  ziehen, 
(p.  47.)  Von  Verleihung  des  Adels  für  Geld,  sowie  von  Aemterverköu- 
fen  erwartet  Obrecht  viel.  (p.  47  fg.)  —  Dabei  ist  er  kein  »Mercantilist.« 
Er  rühmt  mit  Stobaus :  agriculturam  aliarum  verum  parentem  et  nutricem, 
qua  bene  haben te  etiam  cetera  vakant,  cett.  In  gleicher  Linie  werden 
artißcia  et  nundinae  genannt :  mercatores  non  solum  res  utiles  et  necessa- 
rias  proprio  sumpiu  et  periculo  convehunt,  sed  etiam  alia,  quibus  regna  et 

provinciae  abundant,  in  alias  regiones  deferunt ut  ademta  mercandi  facul- 

täte  provinciales  continuo  ad  inopiam  redigantur.  (p.  50  ff.)  Also  eine  verstän- 
dige Mitte  zwischen  der  Ansicht  der  Reformationszeit,  wo  z.B.  Luther  den 
Ackerbau  hoch  über  das  Handwerk  gestellt,  die  vornehmsten  Handelszweige 
aber  Tür  unsittlich  oder  doch  gemeinschädlich  erklärt  hatte7,  und  andererseits 
dem  sog.  Mercantilsysteme.  Daneben  hält  Obrecht  von  der  Macht  der  je- 
weiligen Staatsregierung  so  viel,  dass  ein  »ernstliches  Edict«  des  Kaisers, 
den  Ackerbau  gut  zu  treiben,  nach  seiner  Meinung  das  Land  in  Ueber- 
fluss  versetzen  und  dem  Fiscus  grosse  Einkünfte  bringen  würde,  (p.  51 .) 
Die  zweite  Schrift  (S.  1—135)  führt  den  Titel:  »Ein  Politisch  Be- 
dencken  und  Discurs  Von  Verbesserung  Land  und  Leut,  Anrichtung  gu- 
ter Policey  und  fürnemblich  von  nützlicher  Erledigung  grosser  Aussga- 
ben und  billicher  Vermehrung  eines  jeden  Regenten  und  Oberhern  Jähr- 
lichen Gefällen  und  Einkommen.«  Beendigt  1609.  —  In  der  respublica, 
als  corpus  dvile,  sind  Geld  und  Gut  die  Nerven,  die  Obrigkeit  das  Hirn, 
welches  »Alles  vollkömmlich  zu  regieren  und  dahin  Alles  zu  dirigiren 
hat,  das  an  notwendiger  Underhaltung  nimmer  kein  Mangel  erscheinen 
möge.«  (S.  6.)  Die  Staatseinnahme  kann  entweder  mit,  oder  ohne  Be- 
schwer der  Unterthanen  erhöht  werden.  Jenes  geschieht :  A.  durch  Er- 
höhung der  Steuern.  Der  Verfasser  warnt  hier  vor  Uebermass,  wie 
z.  B.  Albas  zehntem  Pfennig,  der  sich  bei  derselben  Waare,  falls  sie 
mehrmals  verkauft  wurde,  ebenso  oft  wiederholte  (S.  12);  desgleichen 

7)  Vgl.  Luthers  Werke  ed.  Irmischer  XXII,  S.  284.  XXXVI,  S.  *72  ff.  LVH, 
S.  342.  LXI,  S.  352  ff.  Ganz  besonders  die  Schrift  vom  Kaufhandel  und  Wucher. 
Dagegen  hatte  freilich  Calvin  auch  den  Handel  für  nützlich  und  ehrenwerth  aner- 
kannt, so  dass  er  selbst  mehr  einbringen  könne,  als  der  Landbau,  ex  ipsius  mercato- 
ris  diligentia  atque  industria.  (Opp.  ed.  Amstelod.  1664,  IX,  p.  223.)  Vgl.  Wiske- 
mann  Darstellung  der  in  Deutschland  zur  Zeit  der  Reformation  herrschenden  national- 
Ökonom.  Ansichten,  S.  48.  80. 


19]  Aeltebe  deutsche  Nationalökonomik.  281 

wieder  vor  Besteuerung  notwendiger  Lebensbedürfnisse.  (S.  \  4.)  Mit 
Bodinus  empfiehlt  auch  Obrecht,  mehr  die  Fremden,  als  die  Einheimi- 
sehen  zu  besteuern;  geringe  Einfuhr-  und  hohe  Ausfuhrzölle  von  Waa- 
ren,  die  uns  unentbehrlich  sind ;  geringe  Besteuerung  fremder  Rohstoffe, 
ohne  jedoch  an  den  mercantilistischen  Zweck  dieser  Massregeln  viel  zu 
denken.  (S.  15  fg.)  B\  Durch  allerlei  gemeinnützige  Anstalten,  womit 
eine  Abgabe  zu  verbinden  wäre.  So  z.  B.  Verbot  der  kostbaren  Hoch- 
zeiten und  Kindtaufen,  woneben  dann  genaue  Geburts-  und  Sterbe- 
listen etc.  geführt,  und  eine  Steuer  dafür  entrichtet  wird,  Zahlung  von 
Geld  in  eine  Kasse,  um  es  den  Kindern  später,  wenn  sie  erwachsen 
sind,  mit  Zinsen  zurückzugeben,  oder  aber,  wenn  sie  gestorben,  an  den 
Fiscus  fallen  zu  lassen.  Ferner  Stiftung  einer  Assecuranz  von  Dörfer- 
gruppen, mehr  noch  Städten  etc.  gegen  unverschuldete  Unglücksfälle, 
zumal  durch  Raub  und  Diebstahl.  (S.  22.)  C.  Durch  Schätzungen,  wo- 
bei Obrecht  an  die  damals  üblichen  Reichssteuern  denkt.  D.  Durch 
Uebernahme  von  Schulden  durch  die  Landstände.  —  Ohne  Beschwer 
der  Unterthanen:  A.  Durch  gute  Haushaltung,  wobei  der  Verfasser 
ziemlich  unerwartet  auf  Gottes-  und  Nächstenliebe  als  deren  Grund, 
Sparsamkeit  und  Ordnung  als  deren  Aeusserung  kommt.  B.  Güterver- 
kauf, in  der  Regel  sehr  zu  widerrathen a ;  doch  lässt  sich  der  Verkauf 
nur  für  eine  bestimmte  Anzahl  Jahre,  oder  auch  mit  vorbehaltenem  Rttck- 
und  Vorkaufsrechte  eher  empfehlen.  (S.  52  fg.)  C.  Durch  neue  Gefälle, 
die  mit  der  Rechtspflege  zusammenhängen.  Hier  wird  dann  neben  dem 
fiscalischen  noch  ein  juristischer  Zweck  erreicht.  (S.  56.)  Also  Geld- 
bussen für  schlechte  Richter  und  Anwälte,  für  Processparteien,  die  sich 
vergehen,  für  leichtsinnige  Querulanten  und  Appellanten  etc.,  wobei  der 
Verfasser  eine  ziemlich  pedantische  Rechtskunde  auskramt.  Allerlei 
media  extrajudicialia :  so  z.  B.  dass  der  Fiscus  an  die  Stelle  unwürdiger 
Erben  tritt.  (S.  66  ff.)  Bona  damnafarum  et  proscriplorum.  Eine  Menge 
von  Geldbussen  für  Sabbathsfrevler,  Flucher,  Trunkenbolde,  auch  solche, 
die  das  neuaufgekommene  Gesundheitstrinken  üben,  (S.  80)  überhaupt 
für  Luxusgesetzübertreter:  namentlich  soll  Jeder  Strafe  zahlen,  der 
einem  prodigus  ohne  obrigkeitliche  Erlaubniss  etwas  darleihet  oder  ab- 
kauft. (S.  84.)  Aus  derselben  Mischung  polizeilicher  und  fiscalischer 
Zwecke  werden  Arbeitshäuser  für  ungerathene  Kinder  und  Unterthanen 


8)  Aehnlich  Bodinus  De  rep.  VI.  p.  4  000  ff. 

49* 


282  Wilhelm  Röscher,  [20 

empfohlen9.  (S.  85.)  Jede  Bürgschaft  für  grössere  Summen  ohne  obrig- 
keitliche Erlaubniss  soll  bei  Geldstrafe  verboten  sein.  (S.  88.)  Daneben 
wird  zum  Anbau  aller  noch  unkultivirten  Plätze  gerathen ,  wobei  nach 
Catos  Vorgange  agricultura  und  parsimonia  als  die  beiden  provenius  rei 
famüiaris  erscheinen.  Auch  hier  die  Ansicht ,  dass  eine  blosse  Vermah- 
nung des  Fürsten  an  sein  Volk,  den  Acker  gehörig  zu  bauen,  von  gros- 
ser Wirksamkeit  sein  würde.  (S.  97.)  Wenn  Obrecht  dasselbe  in  Bezug 
auf  Mineralien  empfiehlt,  kommt  doch  zwischen  edlen  und  unedlen  Me- 
tallen gar  kein  (mercantilistischer !)  Unterschied  zur  Sprache.  (S.  102.) 
Ausser  dergleichen  tnediis  naturalibus  werden  als  media  civilia  die  her- 
renlosen Güter,  Schätze  etc.  erwähnt.  Hinsichtlich  des  Münzwesens 
eifert  Obrecht  sehr  scharf  gegen  Verringerung  am  Schrot  oder  Korn, 
wie  »etliche  Mammonsbrüder«  sie  vornehmen.  (S.  108.)  Er  hatte  eben 
seit  1 590  durch  die  immer  steigenden  Missbräuche  der  Praxis  gelernt. 
Dagegen  verwirft  er  den  Handelsbetrieb  durch  hohe  Personen  nicht 
(S.  110  ff.);  namentlich  preiset  er  den  Staatskornhandel  aus  guten  Jah- 
ren in  schlimme,  nach  dem  Vorbilde  Josephs  im  A.  T.,  wobei  er  jedoch 
immer  auf  den  so  zu  erzielenden  fiscalischen  Gewinn  blickt.  (S.  1 1 3.) 
Sehr  flach  ist  der  Rath ,  aus  den  Gemeindekassen  etwas  an  den  Fiscus 
steuern  zu  lassen.  (S.  114  ff.)  Endlich  sollen  noch  mancherlei  Abgaben 
von  lachenden  Erben,  sehr  grossen  Erbschaften,  Geschenken  etc.  ver- 
langt werden.  Nur  ganz  beiläufig  erscheint  S.  127  ff.  die  Regel,  das 
baare  Geld  so  viel  wie  möglich  im  Lande  zu  behalten,  indem  man  lieber 
von  Einheimischen,  als  Fremden,  kauft,  borgt  und  Arbeit  verrichten  lässt. 
Die  dritte  Abhandlung  (vom  Jahre  1610),  »Constüutio  von  notwen- 
diger und  nützlicher  Anstellung  eines  Aerarii  Sancth,  schildert  speciell 
den  für  ausserordentliche  Fälle  bestimmten  Staatsschatz  nach  des  Ver- 
fassers Plane.  (S.  137 — 162.)  Er  geht  von  dem  Grundsatze  aus,  dass 
es  viel  besser  ist,  Geld  aus  dem  Schatze  zu  nehmen,  als  zu  borgen : 
(S.  1 60)  bekanntlich  ein  Grundsatz,  der  auf  allen  niederen  und  mittleren 
Kulturstufen  herrscht  und  herrschen  muss.  Diesem  Schatze  werden 
nun  die  meisten  der  obigen,  vom  Verfasser  empfohlenen,  Staatseinkünfte 


9)  Nach  niederländischem  Vorbilde,  wie  denn  von  damaligen  deutseben  Aucto- 
riläten  sowohl  das  Zwangsarbeitshaus  zu  Amsterdam,  als  die  Freiwilligen-Arbeitshäu- 
ser zu  Antwerpen  und  Delft  sehr  häufig  gerühmt  werden:  vgl.  Bornitius  De  rerum 
su ff.,  p.  74.    Besold  Vitae  et  mortis  consideraiio  polit.  (4  641)  je».  4  7. 


24]  AfiLTERE  DEUTSCHS  NATIONALÖKONOMIK.  283 

zugewiesen :  Processstrafen,  unurbare  Ländereien,  bona  vacantia,  Schätze, 
Abgaben  von  Erbschaften  etc.  Ebenso  die  Ueberschttsse  der  von  Ob- 
recht  angerathenen  Feuerversicherung. 

Viel  umfangsreicher  ist  die  vierte  Abhandlung :  »Ein  sondere  Po- 
liceiordnung  und  Constitution,  durch  welche  ein  jeder  Magistratus,  ver- 
mittels besonderen  angestellten  Deputaten,  jederzeit  in  seiner  Regierung 
eine  gewisse  Nachrichtung  haben  mag,  1 )  wie  es  gleichsam  mit  seiner 
gantzen  Policei,  als  eines  Politischen  Leibs,  und  allen  desselben  Glie- 
dern, den  Underthanen,  beschaffen ;  2)  wie  gemelter  Policei,  derselben 
Gliederen  und  Administration  Auff-  und  Zunemmen  zu  befürdern,  Ab- 
und  Undergang  zu  verhüten,  sodann  3)  wie  auch  die  gemeine  Wolfarth, 
so  aus  vorgedachten  dreien  Stücken  herkompt,  zu  vermehren  und  zu  er- 
haltenseyen.«  (S.  1 83 — 296.)  Es  ist  eigentlich  nur  der  Gedanke  einer  sehr 
genauen  und  immer  mit  Abgaben  verbundenen  Bevölkerungsstatistik,  der 
hier  als  Polizeiideal  vorgetragen  wird,  freilich  mit  einer  furchtbar  weit- 
gehenden Inquisition  durch  die  Behörden  und  in  Folge  davon  einem 
sehr  despotischen  Behördeneinflusse 10.  Die  Geburtslisten,  die  auch  den 
Namen  der  Pathen  aufführen  müssen  (S.  1 90),  werden  in  zwei  verschie- 
dene Alba  getrennt :  der  ehelich  und  der  unehelich  Gebornen.  Ebenso 
die  Verzeichnisse  der  unter  Vormundschaft  stehenden  Kinder,  der  Er- 
wachsenen, endlich  auch  die  Trauungs-  und  Sterbelisten.  Von  den  Er- 
wachsenen (zwischen  dem  20.  und  65.  Jahre)  hat  jede  Altersstufe,  von 
3  zu  3  Jahren  gerechnet,  ihr  besonderes  Album,  so  dass  man  z.  B.  mit 
dem  23.,  26.,  29.  etc.  Lebensjahre  aus  dem  bisherigen  in  das  nächst- 
folgende Verzeichniss  übergetragen  wird.  Dabei  soll  die  Behörde  auch 
über  die  Sittlichkeit  des  ganzen  Lebens  von  allen  Eingeschriebenen  ge- 
naue Aufsicht  führen  und  auf  dessen  Besserung  hinwirken.  (S.  202; 
detail lirter  S.  210.  221.)  Es  ist  sehr  charakteristisch,  dass  ein  Mann, 
dem  eine  so  bedenklich  dehnbare  Bestimmung  für  die  Polizei  genügt, 


10)  Etwas  Aehnliches  hatte  schon  Bodintis  [De  rep.  VI,  1)  vorgeschlagen,  frei- 
lich in  ganz  humanistischer  Weise  als  Wiederherstellung  der  alten  Censur :  also  eine 
Vermischung  nichtrichterlicher  Sittenpolizei  und  statistischer  Aufnahme.  Das  Volk  soll 
gezählt,  jedes  Vermögen  katastrirt  werden,  um  die  Steuern  besser  anzulegen,  der  fis- 
calischen  Willkür,  auch  dem  Wucher  etc.  mit  dem  Lichte  der  Oeffentlichkeit  zu  be- 
gegnen, Besitzstreitigkeiten  vorzubeugen  etc.  Bod in us' Plane  sind  geistvoller  und  frei- 
heitlicher, als  die  von  Obrecht ;  aber  die  letzteren  haben  mehr  Zeitcharakter. 


284  Wilhelm  Röscher,  [28 

•  

S.  213 — 244  nöthig  findet,  die  Formulare  sämmtlicher  Scheine,   den 
Preis  derselben  etc.  auf  das  Genaueste  auszuführen. 

Endlich  noch :  »Constitutio  und  Ordnung  von  einem  hochnützlichen 
Aerario  liberorum,  in  welches  von  den  Eltern  allerhand  Summen  Gelts, 
ftlmemblich  ihren  neugebornen  Kindern  und  in  eventum  ihnen  selbs, 
auch  der  Obrigkeit  und  gemeinen  Wolfahrt  zum  Besten  angelegt  wer- 
den, sampt  allerhand  Erklärungen  und  zweyen  Kinderrechnungen. « 
(S.  297 — 351.)  Auch  hier  ein  fiscalischer  Nebenzweck  der  Versiche- 
rungsmassregel. Alle  ehelichen  wie  unehelichen  Aeltern,  soweit  sie 
dazu  im  Stande,  sollen  bei  der  Geburt  der  Ihrigen  eine  Geldsumme  nie- 
derlegen, die  für  Söhne  bis  zum  21.,  für  Töchter  bis  zum  1 7 .  Jahre  mit 
6%  jährlicher  Zinsen  aufbewahrt  und  schliesslich  ausgezahlt  wird.  Ster- 
ben die  Kinder  vor  Ablauf  dieser  Frist,  so  fällt  das  Depositum  in  der  Re- 
gel an  den  Fiscus,  jedoch  mit  theilweiser  Uebertragung  an  schon  vor- 
handene oder  noch  zu  erwartende  Geschwister11.  Uebrigens  ist  der 
ganze  Vorschlag  sofort  als  Gesetzentwurf  gefasst:  man  pflegt  dies 
auf  solchen  Kulturstufen,  wie  die  von  Obrecht  war,  »praktisch«  zu 
nennen ,2. 

Fragen  wir  jetzt  nach  der  wissenschaftlichen  Bedeutung 
dieser  Schriften  Obrechts,  so  lassen  sich  alle  geschichtlich  bedeu- 
tenden Menschen  in  zwei  Gruppen  theilen :  solche,  die  über  das  Niveau 
ihrer  Zeit  hervorragen,  die  also  der  Zukunft  gleichsam  Bahn  brechen, 
sei  es  durch  praktische  Umgestaltungen,  oder  aber  durch  theoretische 
Entdeckungen ;  ferner  solche,  in  denen  nur  eben  die  Eigentümlichkeit 
ihrer  Zeit  besonders  scharf  entwickelt,  gleichsam  personificirt  ist.  Unser 
Obrecht  gehört  durchaus  der  zweiten  Gruppe  an;  seine  geistigen  Kräfte 
sind  für  die  erste  schon  absolut  zu  gering.  Und  es  sind  namentlich  zwei 
Hauptrichtungen  seiner  Zeit,  welche  in  ihm  Gestalt  gewonnen  haben: 
die  Anlehnung  des  westlichen,  zumal  reformirten  Deutschlands  an  Frank- 


U)  Das  Ganze  offenbar  eine  Nachahmung  der  in  Italien  damals  nicht  seltenen 
Anstalten  (so  z.  B.  in  Lucca,  Siena,  Florenz) ,  neugeborenen  Mädchen  eine  im  18.  Jahre 
fällige  Mitgift  zu  versichern,  gewöhnlich  das  Zehnfache  der  Einkaufssumme,  die  jedoch 
im  Fall  ihres  früher  eingetretenen  Todes  verloren  ging.  Vgl.  Bodinus  De  rep.  VI, 
1,  p.  4  040.     Chr.  Besold  Synopsis  doctr.  polit.,  p.  2  45. 

\  1)  Dass  für  jene  Zeit  wirklich  ein  Fortschritt  darin  lag ,  beweisen  z.  B.  die  be- 
rühmten Libri  IV rei  rusticae  von  Conrad  Heresbach,  deren  Formulare  zum  Vieh- 
kauf noch  gänzlich  als  damals  praktisch  aufgeführt  werden,  obschon  sie  lediglich  — 
altrömisch  sind!  (111,  p.  500.  530.  568.) 


23]  Akltere  deutsche  Nationalökonomik.  285 

reich  und  England,  sowie  damit  zusammenhängend  der  Regalismus  und 
Absolutismus  in  der  Staatshaushaltung. 

Ueber  diesen  Regalismus  habe  ich  der  K.  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften bereits  in  einem  frühern  Vortrage  einige  Andeutungen  gemacht13. 
Das  Ueberwiegen  der  Regal wirth seh aft  im  Finanzwesen  pflegt  der  Zeit  nach 
die  Uebergangsstufe  zu  bilden  zwischen  dem  mittelalterlichen  Ueberwie- 
gen der  Domänen wirthschaft  und  dem  Ueberwiegen  des  Steuerwesens  bei 
jedem  hochkultivirten  Volke.  Nicht  mehr  genug  Domanium,  aber  noch 
nicht  genug  Steuern !  Der  Name  »Regalien«  oder  »Finanzregalien«  ist 
ebenso  unbestimmt,  wie  der  Gegenstand  selbst,  der  etwas  auffallend 
Buntes,  scheinbar  Systemloses  und  Chaotisches  w  hat,  den  aber  das  Auge 
des  Historikers  doch  ebenso  einfach  erklären,  wie  ordnen  kann.  Es 
lassen  sich  nämlich  bei  den  wichtigsten  neueren  Völkern  zwei  Hälften 
ihrer  Periode  des  Regalismus  unterscheiden.  Von  diesen  schliesst  sich 
die  erste  ebenso  an  das  sinkende  Domänenthum  an,  wie  die  zweite  das 
herannahende  Vorherrschen  der  Steuern  gleichsam  einleitet.  Was  den 
politischen  Charakter  betrifft,  so  ist  die  erste  Hälfte  ebenso  feudalistisch, 
wie  die  zweite  absolutistisch. 

Je  mehr  gerade  auf  dem  Wege  der  Belehnungen  das  Domanium 
zusammenschmolz,  um  so  eifriger  waren  die  kraftvollen  Herrscher  des 
spätem  Mittelalters  bemühet,  durch  Ausbeutung  der  Lehnsgefälle 
den  Schaden  wieder  einzubringen.  Ich  erinnere  an  die  Abgaben  bei 
Gelegenheit  der  drei  grossen  Lehnscasus,  (Kriegsgefangenschaft  des 
Lehnsherrn,  Ritterschlag  seines  Sohnes,  Aussteuer  seiner  Tochter,)15 
namentlich  an  die  ungeheuere  Bedeutung,  welche  das  Lösegeld  kriegs- 
gefangener  Herrscher  activ  und  passiv  ftlr  die  Finanzen  des  spätem 
Mittelalters  hat16.     In  England,  wo  aller  Grandbesitz  ftlr  Lehen  galt, 


4  3)  Berichte  der  historisch -philologischen  Klasse  vom  4*.  December  1861, 
S.  4  56  fg. 

4  4)  Matthaeus  de  Afflictis  nimmt  4 25  verschiedene  Regalien  an,  C Hassanen*  208, 
ja  Petr.  Anton,  de  Petra  sogar  44  3! 

45)  In  dem  kreozzugseifrigen  Borgund  auch,  wenn  der  Lehnsherr  nach  Jerusalem 
zog;  bei  geistlichen  Fürsten,  wenn  sie  zum  Concile  reisten. 

4  6)  Berühmt  sind  die  Lösegelder  für  Richard  Löwenherz,  den  heiligen  Ludwig, 
die  Könige  von  Schottland  und  Frankreich,  die  Eduard  III.  zu  Gefangenen  machte. 
Der  Aufstand  der  sog.  Jacquerie  war  grossentheils  eine  Folge  der  Lösegelder  des  bei 
Poitiers  gefangenen  französischen  Adels,  die  15,  ja  50  Procent  des  Güterwerthes  be- 
trugen und  nun  von  den  Bauern  erpresst  werden  sollten.  {Sismondi  Hist.  des  Fr.  X, 


286  Wilhelm  Röscher,  [24 

war  jeder  grössere  Landeigentümer  als  Vasall  zu  Kriegsdienst  und  Pa- 
rade verpflichtet,  oder  musste  sich  durch  eine  Geldzahlung,  scutagium, 
davon  loskaufen.  Ebenso  einträglich  waren  die  Abgaben  von  den  Tur- 
nieren, sowie  vom  Ritterschlage,  wozu  jeder  bedeutende  Vasall  genö- 
thigt  werden  konnte.  Beim  Tode  eines  Vasallen  pflegte  der  Nachfolger 
den  einjährigen  Ertrag  seines  Gutes  abgeben  zu  müssen.  Ueber  min- 
derjährige Kinder  eines  verstorbenen  Vasallen  hatte  der  König  die  Vor- 
mundschaft, (tutela  frucluaria,  französisch  guardia,  in  Bretagne  bau,  in 
England  wardship)  so  dass  er  den  Ueberschuss  ihres  Einkommens  über 
ihren  standesmässigen  Unterhalt  für  sich  nehmen,  auch  die  weiblichen 
Mündel  nach  seinem  Belieben  verheirathen  konnte,  was  dann  wieder  zu 
einer  Menge  von  Erpressungen  führte 17.  Die  Erlaubniss,  ein  Lehngut 
zu  veräussern,  musste  theuer  bezahlt  werden  (in  England  mit  3 3 Vi  bis 
1 00  Procent  des  jährlichen  Ertrages,  in  Frankreich  unter  dem  Namen 
quinl  et  requint  meistens  mit  24  Procent  des  Kaufschillings).  Dazu  das 
Heimfallsrecht  beim  Aussterben  der  Vasallenfamilie,  in  Zeiten,  wo  der 
Ritterdienst  noch  eine  Wahrheit,  und  Weiberlehen  schon  desshalb  selten 
waren,  gewiss  eine  bedeutende  Einnahmsquelle 18.  Das  Recht  des  Herr- 
schers, die  für  den  Bedarf  seiner  Hofhaltung  nöthigen  Lebensmittel  auf 
Reisen  und  in  der  Umgegend  seiner  Residenz  entweder  ganz  unentgelt- 
lich oder  für  einen  selbstgesetzten  Preis  zu  requiriren,  (droit  de  prise, 
purveyance  and  preemption)  fand  seine  Stutze  in  dem  Lehnsgedanken, 
wonach  die  meisten  Landgüter  eigentlich  Domanialboden  waren,  der  nur 
unter  Vorbehalt  gewisser  Rechte  ausgethan  worden.  Die  schweren 
Willkürlichkeiten ,  die  sich  der  Ausübung  aller  dieser  Fiscalrechte  bei- 
mischten, erkennt  man  am  besten  aus  den  englischen  Great  Charters  seit 
K.  Johann,  worin  deren  gesetzliche  Beschränkung  eine  Hauptrolle  spielt. 


p.  486.)  Wirklich  schätzt  Leber  die  Kanzion  des  Königs  Johann  auf  247%  Mill. 
Franken  nach  heutigem  Verbällniss.  (Essai  sur  Fappreciation  etc.,  App.) 

47)  In  England  konnte  von  dem  Mündel,  wenn  dieser  ablehnte,  so  viel  gefor- 
dert werden,  wie  irgend  Jemand  bona  fide  bereit  war,  für  die  Heirath  zu  bezahlen. 
(Blackstone  Commentaries  II,  p.  70.)  Auf  die  wardship  wurden  förmlich  Gehalte 
fundirt:  so  bezog  der  Protector  Heinrichs  VI.,  Herzog  von  Gloucester,  jährlich  4000 
Mark  von  den  Lancasterschen  Einkünften,  4700  M.  aus  dem  königlichen  Schatze  und 
2300  M.  von  zwei  minderjährigen  Lords.  Förmlich  verzichtet  hat  die  Krone  auf  dies 
Recht  erst  4  648. 

4  8)  Nach  Latherus  De  censu  (f  4  640)  III,  1  :  perraro  accidere  solet,  ut  non 
intra  eentwn  annorum  curriculum  feuda  ad  dominum  reverlantur. 


25]  Aklterk  deutsche  Nationalökonomik.  287 

Eine  zweite  Gruppe  von  Massregeln,  um  das  geschmälerte  Doma- 
nialeinkommen  zu  ersetzen,  bestand  darin,  dass  alle  herrenlose  Gü- 
ter für  Erongut  erklärt  wurden:  also  im  Kleinen  gleichsam  die 
Wiederholung  des  Actes,  welcher  im  Grossen  früher  auf  erobertem  oder 
neubesiedeltem  Gebiete  das  Domanium  geschaffen  hatte.  Dahin  gehören 
z.  B.  in  Schweden  die  Ansprüche  Gustav  Wasas,  dass  sämmtliche  All- 
menden, früher  Gemeindegut,  jetzt  der  Krone  angehören  sollten ;  alles 
unbebaute  Land,  alle  Wälder,  Flüsse  mit  Fischereien  und  Mühlwerken, 
Seen  etc.  Lauter  Ansprüche,  die  wohl  schon  früher  einmal  anklingen 19, 
aber  doch  nun  erst  recht  deutlich  und  systematisch  ausgeführt  werden. 
Gustav  stellte  sogar  die  Ansicht  auf,  als  wenn  alle  steuerbaren  Höfe 
eigentlich  auf  Kronland  errichtet  wären  und  ihren  Bauern  wegen  schlech- 
ter Wirthschaft  etc.  genommen  werden  könnten.  Welche  Handhabe  für 
Grundsteuern  und  Wirthschaftspolizei !  —  Dahin  gehören  ferner  die  An- 
sprüche des  Staates  auf  die  Erbschaft  ausgestorbener  Familien20:  in  je- 
ner Zeit  der  Fehden  und  Seuchen  finanziell  weit  bedeutsamer,  als  wir 
heutzutage  meinen,  zumal  auch  das  jus  albinagii  den  König  als  Patron 
der  Fremden  zum  Erben  ihres  Nachlasses  machte.  Das  Recht  des  Staa- 
tes auf  gefundene  Sachen,  zu  denen  kein  Eigenthümer  nachweislich  war, 
[droit  d'epaves),  auf  Schätze :  damals  wiederum  finanziell  sehr  bedeutend, 
weil  die  herrschende  Unsicherheit  so  häufig  Schätze  vergraben  liess ;  die 
Regalerklärung  der  bergmännischen  Fossilien ,  der  jagdbaren  Thiere,  in 
Preussen  des  Bernsteins,  in  Brasilien  der  Diamanten,  in  warmen  Län- 
dern auch  wohl  des  Schnees  etc. 21 ;  endlich  noch  das  Strandrecht  und 
der  nicht  selten  auftauchende  Anspruch,  dass  selbst  das  Meer  dem  Kö- 
nige gehöre.  (Mare  clausuni  der  Stuartischen  Zeit !) 

Wie  schon  bei  dieser  zweiten  Gruppe  die  rein  fiscalischen  Zwecke 
wesentlich  controlirt  und  gefördert  wurden  durch  wirthschaftspolizeiliche 
Gedanken,  so  beruhet  eine  dritte  Gruppe  von  Massregeln  darauf,  dass 
sich  die  Regierung  für  ihre  eigentlich  politische  Thätig- 


49)  In  dem  angeblichen  Gesetze  von  Helyandsholm :  4288;  vgl.  Geijer  Scbwed. 
Gesch.  II,  S.  404  ff.  248  ff. 

20)In  Frankreich  droit  de  desherence;  daneben  noch  droit  de  bdtardise,  Recht 
auf  die  Verlassenscbaft  solcher  Bastarde,  die  ohne  eheliche  Nachkommen  starben. 

24)  Von  Sicilien  vgl.  Brydone  Letter  8;  von  Portugal:  Link  Reise  III,  S.  123; 
von  Mexico :  Humboldt  Neuspanien  V,  S.  2  ;  vom  Kalifate :  Stüve  Handelszüge  der 
Araber,  S.  4  64. 


288  Wilhelm  Rösche*,  [26 

keit  von  denjenigen  bezahlen  l&sst,  welche  zunächst  damit  in  Be- 
rührung kommen.  Am  Schlüsse  des  Mittelalters  war  dies  um  so  na- 
türlicher, als  gerade  damals  die  Ansprüche  des  Volkes  an  den  Staat, 
folglich  die  Kostspieligkeit  des  Staatsdienstes  selbst  immerfort  wuchsen. 
Zugleich  aber  leitete  es  die  spätere  Vorherrschaft  der  Besteuerung  im 
Staatshaushalte  um  so  natürlicher  ein,  als  ja  nach  Grundsätzen  des  Mit- 
telalters die  Steuern  regelmässig  eine  Zahlung  waren,  durch  welche  der 
Unterthan  eine  ganz  bestimmte,  äquivalente  Gegenleistung  des  Staates 
erkaufte.  —  Hierher  gehört  nun  zunächst  der  Antheil  des  Herrschers  an 
der  Kriegsbeute,  d.  h.  also  die  fiscalische  Nutzung  der  Kriegshoheit.  So- 
dann der  Verkauf  von  Privilegien,  Titeln  und  Aemtern :  der  erste  sehr 
gewöhnlich  schon  im  Zeitalter  des  blühenden  Lehnstaates B,  der  letztere 
namentlich  im  15.  bis  17.  Jahrhundert  verbreitet,  als  die  gänzlich  ver- 
alteten Lehnsämter  durch  die  Anfänge  des  neuern  Beamtenwesens  er- 
setzt wurden.  In  Frankreich  schätzte  man  den  Gesammtwerth  der  ver- 
kauften Staatsämter  1614auf200Mill.Livres,  1664  auf  beinah  800MH1. 
In  der  Zeit  von  1 691  bis  1709  wurden  aus  Finanzverlegenheit  mehr  als 
40000  neue  Kaufämter  geschaffen ;  und  die  Nationalversammlung  be- 
rechnete bei  Aufhebung  des  ganzen  Instituts  allein  die  gerichtlichen  Stel- 
len zu  800  Mill. M  Wenn  man  zu  Gunsten  dieses  Aemterkaufsystems  sei- 
nerzeit anführen  konnte,  dass  es  die  Unabhängigkeit  der  Beamten  ge- 
genüber dem  sonst  ganz  willkürlichen  Absolutismus  gefördert  hat,  so 
wurde  ihm  dagegen  auf  dem  französischen  Reichstage  von  161 4  haupt- 
sächlich vorgeworfen ,  dass  es  eine  Art  von  Domänenveräusserung  ent- 
halte. —  Hierher  gehörten  ferner  die  Abgaben,  welche  der  Staat  un- 
mittelbar für  den  Schutz  von  Leben  und  Eigenthum  forderte,  nach  Art 
einer  Assecuranzprämie.  So  die  Geleitrechte  zu  Lande  und  zu  Wasser, 
aus  denen  sich  nicht  bloss  unmittelbar  die  Meerengen  -  und  Stromzölle 
als  zeitwidrige  Ueberreste  erhalten  haben,  sondern  auch  mittelbar,  durch 
zeitgemässe  Umformung,  die  neueren  Gränzzollsysteme  hervorgegangen 
sind.    So  die  Marktzölle  für  Handhabung  des  Marktfriedens,  die  Juden- 


22)  Richard  Löwenherz  erklärte  vor  seinem  Kreuzzuge,  das  grosse  Staatssiegel 
sei  verloren  gegangen,  daher  müsse  sich  Jedermann  seine  Privilegien  etc.  für  Geld  neu 
bestätigen  lassen. 

23)  Vgl.  Forbonnais  Reekerches  et  con&iderations  sur  les  finances  de  la  France 
I,  p.  U0  ff.  3S9.  Chaptal  De  Industrie  Fran$oi$e  11,  p.  332.  v.  Sybel  Gesch. 
der  Revolution  I,  S.  198. 


*  7]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  289 

schutzgelder24  für  das  Patronat  dieses  heimathlosen  Volkes  u.  dgl.  m.  — 
Hierher  gehören  endlich  die  zahllosen  Einkünfte  von  der  Gerichtsbarkeit, 
die  zum  Theil  in  Privathände  verönssert  wurden,  aber  doch  regelmassig 
in  der  Hand  des  Staates  blieben.  So  die  Geldstrafen  und  Vermögens- 
confiscationen,  ein  natürlicher  Uebergang  aus  dem  Bussysteme  des 
Mittelalters  in  das  neuere  Strafsystem.  Für  Dänemark  hat  am  Schlüsse 
des  Mittelalters  das  Hecht,  in  einem  gewissen  Sprengel  die  Strafgelder 
einzukassiren ,  das  Hauptmoment  gebildet ,  woran  sich  das  Aufkommen 
der  Aristokratie  und  die  völlige  Unterdrückung  der  freien  Bauern  knüpfte. 
In  Schweden  belief  sich  unter  K.  lohann  das  Staatseinkommen  aus  den 
Geldstrafen  fast  höher,  als  das  aus  den  Steuern25.  In  Böhmen  ist  zu 
Anfang  des  dreissigjährigen  Krieges  der  grösste  Theil  des  Nationaladels 
durch  Güterconfiscationen26  zu  Grunde  gerichtet.  In  England  haben 
während  der  Bürgerkriege  des  1 7.  Jahrhunderts  die  von  beiden  Seiten 
willkürlich  erpressten  Geldstrafen  eine  fast  noch  grössere  Bedeutung27. 
Das  Recht,  welches  Karl  I.  in  Anspruch  nahm,  durch  Proclamation 
eigenmächtig  Verordnungen  erlassen  und  deren  Uebertreter  sodann  ver- 
mittelst seiner  Sternkammer  beliebig  an  Gelde  strafen  zu  können,  wäre 
factisch  einem  ganz  freien  Besteuerungsrechte  gleichgekommen.  In 
Frankreich  haben  vornehmlich  die  Chambres  ardenles  eine  grosse  Rolle 
gespielt,  ausserordentliche  Commissionen,  um  die  Verbrechen  der  Fi- 


24)  Von  der  Bedeutung  dieses  Regals  mag  es  eine  Vorstellung  geben,  dass  in 
England  binnen  7  Jahren  (von  50.  Henry  KL  bis  2.  Edward  I.)  nach  jetzigem  Gelde 
1260000  £.  St.  von  den  Juden  erpresst  sein  sollen.  (Anderson  Origin  of  Commerce, 
a.  1290.)  Hieraus  erklärt  sich  das  £  dictum  Bavillense  von  1392,  dass  Juden,  welche 
sich  taufen  Hessen,  zuvor  ihr  Vermögen  an  den  Staat  abtreten  sollten,  »damit  der 
Teufel  nichts  mehr  an  ihnen  hätte.« 

25)  Geijer  Schwed.  Gesch.  II,  S.  207. 

26)  Insgesammt  meistens  zu  40  Mill.  Fl.  geschätzt. 

27)  Lord  Strafford  beförderte  in  Ireland  die  Confiscationen  besonders  dadurch, 
dass  er  den  Richtern  20  Procent  der  erstjährigen  Einnahme  von  allen  eingezogenen 
Gütern  verbiess,  dagegen  Geschworaen,  die  sich  der  Hülfeleistung  weigerten,  durch 
Einsperrung  zu  Geldbussen  von  bis  4000  £.  St.  zwang,  (v.  Raumer  N.  Geschichte 
V,  S.  29.  53.  126.  450.  244.  320.  336.)  Die  Zeit  von  1640  bis  4659  würde  nach 
früherem  Masstabe  an  Steuern  etwa  4  0  Mill.  £.  St.  gekostet  haben.  In  der  Wirk- 
lichkeit aber  trieb  man  ein:  durch  Geldbussen  der  Royalisten  1305000  £.,  durch 
Gütereinziehungen  6044000,  durch  Vergleich  statt  der  Einziehung  4  277000, 
durch  Verkauf  von  Domänen  und  Kircbengütern  25380000  £  St.  {Ungar d  Eist. 
of  England  XI,  p.  347. 


290  Wilhelm  Röscher,  [?8 

nanzbeamten  zu  untersuchen  und  äusserst  willkürlich  mit  Geldstrafen 
zu  belegen.  Colbert  wusste  auf  diesem  Wege  1662  und  1663  den  sog. 
Partisans  mehr  als  70  Mül.  Livres  abzupressen.  Freilich  meinten  Kenner, 
die  Art  dieses  Verfahrens  gebe  den  Finanzbeamten  fast  ein  Recht  des 
Unterschleifes % ;  so  dass  man  es  mit  dem  türkischen  System  vergleichen 
könnte,  die  Paschas  erst  sich  vollsaugen  zu  lassen  und  dann  in  den 
grossherrlichen  Schatz  auszudrücken!  —  Auch  die  Behördensporteln 
waren  zu  jener  Zeit,  verglichen  mit  den  Kosten  der  Behördenverwal- 
tung, sehr  viel  bedeutender,  als  auf  späterer,  höherer  Kulturstufe.  Ich 
erinnere  nur  an  die  Geringfügigkeit  der  festen  Besoldung  selbst  für  die 
höchsten  Beamten  damals,  so  dass  z.  B.  in  Bacos  Zeit  der  Attorney- 
General  6000  £.  St.  jährlich  einzunehmen  hatte,  wovon  bloss  81 — 6 — 8 
unmittelbar  vom  Staate  kamen;  der  Lordkanzler  10 — 15000  £.  St., 
worunter  gar  keine  feste  Besoldung 29.  Oft  wurden  Staatsleistungen  den 
Unterthanen  förmlich  aufgezwungen,  nur  um  die  Gebühren  dafür  heben 
zu  können30.  Die  Bezahlung  für  Dispensation  von  einem  Gesetze  ist 
insofern  zu  billigen,  als  wirklich  manche  allgemeinen  Gebote  und  Ver- 
bote persönliche  Ausnahmen  zulassen,  und  hier  die  nöthige  causae  cogni- 
tio  Beamtenarbeit  im  Privatinteresse  herbeiführt,  auch  durch  angemes- 
sene Bezahlung  derselben  vom  blossen  Queruliren  abgeschreckt  werden 
mag.  Aber  freilich,  wenn  solche  Dispensgelder  einen  bedeutenden  Po- 
sten der  Staatseinnahme  bilden ,  so  ist  das  immer  ein  Zeichen  entweder 
despotischer  Zuvielgesetze,  oder  anarchischer  Zuweniggesetze.  Man 
kennt  die  unermessliche  Bedeutung,  welche  dieser  Gegenstand  im  1 5. 
und  1 6.  Jahrhundert  für  die  päpstlichen  Finanzen  gehabt  hat,  wo  er  gar 
auf  rein  geistliche  Gesetze  ausgedehnt  wurde  und  durch  solchen  Miss- 
brauch ganz  wesentlich  beigetragen  hat  zum  Ausbruche  der  Refor- 
mation 31. 


38)  Vgl.  das  sog.  Testament  polüique  de  Richelieu  l,  p.  tt%.  II,  p.  U3  ff. 

29)  Die  berüchtigte  Bestechungsgeschichte  Bacos  war  ein  Theil  von  der  Ueber- 
gangskrise  aus  der  Besoldung  der  Richter  m  fees  zu  der  Besoldung  in  salary.  (Athe- 
naeum  28.  Jan.  1860.) 

30)  So  die  droits  de  poids  et  de  easse  zu  Marseille,  indem  eine  von  den  Kaufleu- 
ten freiwillig  errichtete  Wage,  die  Streitigkeiten  entscheiden  sollte,  nachmals  in  die 
Hände  des  Staates  gerieth,  worauf  alsbald  die  Gebühren  verdoppelt  und  ein  allgemei- 
ner Zwang,  alle  Packete  über  3 6 Pfd.  wiegen  zulassen,  eingeführt  wurde.  {Forbon- 
nais  Finances  de  France  /,  p.  359.) 

3 1 )  Vgl.  besonders  H  u  1 1  e  n  s  Vadiscus. 


29]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  291 

Die  vierte  Gruppe  endlich  besteht  aus  den  Gewerbe- und  Han- 
delsgeschäften des  Staates,  welche  gewöhnlich  mit  dem  Vor- 
rechte des  Alleinbetriebes  versehen  waren,  wobei  es  aber  filr  das  fisca- 
lische  Princip  gleichgültig  ist,  ob  sie  unmittelbar  durch  Staatsbehörden, 
oder  im  Namen  des  Staates  durch  concessionirte  Privaten ,  Pächter  etc. 
verwaltet  wurden.  Ihrem  Grundgedanken  nach  beruhet  diese  Gruppe 
auf  einer  Gombination  aller  drei  früher  besprochenen :  abgesehen  davon, 
dass  schon  die  Naturalwirtschaft  der  Domänen,  sowie  die  Naturalerhe- 
bung  der  Steuern  dem  spätem  Mittelalter  manche  Zweige  von  Staats- 
handel sehr  nahelegen  mussten 32.  Ein  Grundherr,  also  auch  das  Doma- 
nium,  wird  leicht  daran  denken,  die  auf  seinem  Boden  zu  treibenden 
Gewerbe  sich  selbst  oder  seinen  Leuten  vorzubehalten.  Wo  der  Satz : 
Nulle  terre  sans  seigneur,  wirklich  ganz  oder  annäherungsweise  durchge- 
führt ist,  wo  mithin  das  vornehmste  Gewerbe  des  Volkes,  die  Landwirt- 
schaft, nur  auf  Grund  einer  Art  von  Staatsconcession  getrieben  werden 
kann :  da  liegt  es  nahe,  dieselbe  Abhängigkeit  auf  die  Industriegewerbe 
zu  übertragen.  Bei  vielen  Gewerben  machte  sich  dies  um  so  leichter, 
als  sie  eben  ganz  neue  Gewerbe  waren,  ihr  Betrieb  folglich  eine  Art 
herrenloses  Gut  und  ihre  Regalisirung  für  kein  vorhandenes  Interesse 
eine  Verletzung  schien.  Dieser  Umstand  hat  noch  im  16.  und  17.  Jahr- 
hundert grossen  Einfluss  gehabt  bei  der  Entstehung  des  Postregals, 
des  Lotterieregals,  des  Regals  der  Zettelbanken,  bei  der  Staatsmonopo- 
lisirung  so  vieler  Handelszweige  mit  neuentdeckten  Ländern,  dem  ita- 
lienischen Regale  des  Kornhandels  im  Grossen  u.  dgl.  m.  *  Die  meisten 
dieser  neuen  Gewerbzweige  empfahlen  sich  jener  Zeit  schon  dadurch 
für  den  Staatsbetrieb,  dass  die  Privatindustrie  noch  zu  unreif  schien,  um 
sie  zu  übernehmen,  und  man  doch  keine  Zeit  hatte,  auf  deren  Reife  zu 
warten34.    Hierzu  kommen  alsdann  polizeiliche  Rücksichten.    Bei  man- 


32)  Auch  das  Droit  de  prise  hat  in  Frankreich  wie  in  England  oft  zum  Verkaufe 
der  im  Uebermasse  requirirten  Waaren  geführt;  vgl.  Sismondi  Hut.  des  Francais 
All,  p.  225.  268.    Bacon  Spech  againt  purveyors :  Works  IV,  p.  305  fg. 

33)  Unter  Clemens  VII.  steigerte  die  Annona  den  Kornpreis  zu  Rom  auf  das  Drei- 
fache. In  Neapel  wurde  dies  Regal  1540  ff.  so  gehandhabt,  dass  man  in  guten  Jah- 
ren schlechteres  Brot  hatte,  als  früher  die  Armen  während  einer  Theuerung.  (Sis- 
mondi Gesch.  d.  ital.  Republiken  XV,  S.  454.  XVI,  S.  4  94.) 

34)  Als  die  Florentiner  ihren  Seehandel  begannen,  vermietbete  die  Regierung  die 
Schiffe  dazu  an  den  Meistbietenden;  erst  seit  4  480  freie  Concurrenz. 


292  Wilhelm  Roschbh,  [30 

chen  Gewerben  scheint  der  Privatbetrieb  noch  jetzt  gemeingefährlich, 
worauf  u.  A.  das  Münzregal  beruhet,  das  freilich  bei  noch  unausgebil- 
deter  volkswirtschaftlicher  Einsicht  nur  zu  leicht  in  ein  beliebiges  Mttnz- 
verringerungsrecht  ausartet.  Das  Tabaksregal  ist  in  vielen  Staaten  un- 
mittelbar aus  den  polizeilichen  Luxusverboten  hervorgegangen35.  Bei 
anderen  Gewerben  war  doch  in  jener  Zeit  das  nöthige  Zutrauen  der 
fernwohnenden  Abnehmer  nur  durch  Aufsicht,  Stempel  etc.,  überhaupt 
Intervention  des  Staates  mit  seiner  publica  fides  zu  erreichen.  Ueberall 
herrschte  bekanntlich  gegen  Schluss  des  Mittelalters  und  im  Anfange  der 
neuern  Zeit  die  Ansicht,  dass  obrigkeitliche  Taxen  nötbig  wären,  um  das 
Publicum  vor  Uebervortheflung  zu  schützen.  Hierzu  kam  noch  die  un- 
unterbrochene Schutzbedürftigkeit  der  Gewerbetreibenden  in  einer  Zeit, 
wo  die  corporative  Selbsthülfe  des  Mittelalters  nicht  mehr  passte,  und 
gleichwohl  die  neuere  Rechtssicherheit  noch  keineswegs  durchgebildet 
war.  Hiermit  hängt  z.  B.  das  vormals  so  häufige  Vorkaufsrecht  des 
Landesherrn  an  allen  eingeführten  Waaren  zusammen 36 ;  ebenso  das  Re- 
gal der  Umwechselung  ausländischer  gegen  inländische  Münzen.  (Jus 
cambii,  recatnbii  et  excambii,) v  Es  ist  ein  Hauptgedanke  des  sog.  Mer- 
cantilsy stems ,  dass  auch  der  Staat  allerlei  Gewerbe  treiben  soll  und 
seine  Industrialbehörden  zugleich  polizeilich  über  den  entsprechenden 
Privatbetrieb  die  Aufsicht  führen.  In  Frankreich  wurde  1 577  aller  Han- 
del für  droit  domanial  erklärt ;  daher  sich  die  Kaufleute  in  Gilden  verei- 
nigen und  für  die  Erlaubniss,  noch  ferner  zu  handeln,  bedeutend  zahlen 
sollten.  Acht  Jahre  später  ward  dieselbe  Massregel  auf  die  Gewerbe 
ausgedehnt.  Gleichzeitig  hielt  sich  die  englische  Elisabeth  befugt,  jeden 
Handelszweig  zum  Staatsmonopole  zu  erklären.  Oft  wurden  alle  bishe- 
rigen Betreiber  dadurch  ruinirt;  oft  auch  hatten  sie  nur  durch  eine  Ab- 
gabe das  Privilegium  des  Fortbetriebes  zu  erkaufen.  Viele  solcher  Mo- 
nopolien  wurden  an  Günstlinge  der  Krone  verschenkt,  und  von  diesen 
hernach  an  Fachleute  verkauft.   Die  Regalisirung  betraf  u.  A.  Korinthen, 


35)  In  Bayern  war  der  Tabak  noch  4  656  wegen  Feuersgefahr  untersagt;  1670 
das  Verbot  aufgehoben;  4  675  der  ganze  Verkehr  mit  Tabak  zum  Rauchen  oder 
Schnupfen,  sowie  mit  Pfeifen  an  Kaufleute  verpachtet.  (Zscbocke  Bayerscbe  Gesch. 
III,  S.  376.) 

36)  So  in  Russland  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts:  Karamsin  Russ.  Gesch. 
VII,  S.  4  64. 

37)  Von  England  unter  Heinrich  VII.  s.  Bymer  Foedera  XIII,  p.  24  6. 


34]  Aeltebe  deutsche  Nationalökonomik.  393 

Salz88,  Eisen,  Pulver,  Karten,  Kalbleder,  Felle,  Segeltuch,  Potasche, 
Weinessig,  Thran,  Steinkohlen,  Stahl,  Branntwein,  Barsten,  Flaschen, 
Töpfe,  Salpeter,  Blei,  Oel,  Galmei,  Spiegel,  Papier,  Stärke,  Zinn,  Schwe- 
fel, Tuch,  Sardellen,  Bier,  Kanonen,  Hörn,  Leder,  spanische  Wolle,  iri- 
sches Garn.  Vermittelst  der  Gontrole  konnten  Privatpersonen  die  ärg- 
sten Eingriffe  ins  Innere  der  Häuser  machen;  so  dass  z.  B.  die  Salpe- 
termonopolisten förmliche  Tribute  erpressten,  falls  man  von  ihren  Stall- 
Visitationen  etc.  verschont  bleiben  wollte 39.  Man  sieht,  eine  solche  Mo- 
nopolisirung  ist  ebenso  wohl  eine  Besteuerung,  wie  die  höchste  Accise, 
und  in  ganz  besonders  lästigen  Formen !  Als  Karl  L  manche  Staatsmo- 
nopolien  wiederherstellte,  ward  ihre  Form  doch  insofern  verbessert,  als 
sie  nicht  mehr  an  einzelne  Günstlinge,  sondern  an  regulated  companies 
vergeben  werden  sollten,  und  dadurch  factisch  einer  Accise,  freilich 
ohne  parlamentarischen  Consens,  näher  kamen 40.  Doch  sollen  alle  diese 
neuen  Monopolien  etc.  200000  £.  St.  roh,  aber  nur  4  500  £.  St.  rein 
ertragen  haben ;  wesshalb  Lord  Clarendon  meint,  der  König  habe  damit 
nur  dem  Yolke  zeigen  wollen,  dass  es  Thorheit  sei,  die  notwendigen 
Steuern  zu  verweigern41. 

Alle  diese  Regalien  stehen  mit  der  gleichzeitigen  absolu- 
ten Monarchie  sowohl  negativ,  als  positiv  im  engsten  Zusam- 
menhange. Wie  ich  oben  von  den  Regalien  sagte,  dass  sie  in  der 
Uebergangszeit  vorherrschen,  wo  es  nicht  mehr  genug  Domänen,  aber 
noch  nicht  genug  Steuern  giebt,  so  lässt  sich  die  negative  Unter- 
lage des  Absolutismus  im  engern  Sinne  dahin  formuliren:  Keine 
mittelalterlich  aristokratischen  Stände  mehr,  aber  auch  noch  keine  mo- 
derne Volksvertretung;  keine  übermächtige  Kirche  mehr,  aber  auch 
noch  keine  starke  öffentliche  Meinung  etc.  Positiv  ist  das  L'&tat  cest 
moi  ganz  übereinstimmend  mit  der  Ansicht  Ludwigs  XIV.,  dass  der 
König  absoluter  Herr  alles  Privateigentums 42,  der  Geistlichen  wie  der 


38)  Der  Salzpreis  stieg  in  Folge  dessen  von  4  6  Pence  pro  Bushel  auf  4  4  bis  4  5 
Schillinge. 

39)  Sir  S.  d'Ewes  Journal  of  both  houses,  (4  683)  p.  644  ff. 

40)  Vgl.  Lingard  Hist.  of  England  IX,  p.  448. 

44)  Zu  den  relativ  grossartigsten  Beispielen  eines  vom  Staate  betriebenen  Han- 
dels gehört  das  Finanzwesen  der  mediceischen  Grossherzoge  von  Toscana. 

42)  Memoire*  kistoriques  de  Louis  XIV.,  II,  p.  4  24.  Derselbe  König  sagt  in 
seiner  Instruction  für  den  Dauphin  :  Les  roi$  sont  seigneurs  absolut  et  ont  naturelkment 


294  Wilhelm  Röscher,  [32 

Weltlichen  sei.  Viele  Staatsmänner  jener  Zeit  hielten  die  Regalien  sogar 
filr  eine  besonders  milde  Form,  die  Staatsbedürfnisse  zu  befriedigen.  Das 
französische  Edict  von  1616,  welches  die  Flusszölle  verdoppelte,  setzt 
in  merkwürdiger  nationalökonomischer  Verblendung  hinzu :  pour  soula- 
ger  le  peuple.  Und  noch  ein  Mann,  wie  Forbonnais,  war  der  Ansicht,  die 
Staatseinnahme  aus  dem  Aemterverkauf  drücke  das  Volk  gar  nicht43. 
Hierin  liegt  wenigstens  die  Wahrheit,  dass  die  Last  der  Regalien  nicht 
so  allgemein  und  gleichmässig  empfunden  wird,  wie  die  eines  guten 
Steuersystems:  freilich  die  schwerste  Verurtheilung  der  ersteren  vom 
Standpunkte  des  wahren  Staatsrechtes  und  Volkswohles,  aber  doch  vor- 
übergehend eine  grosse  Empfehlung  für  den  Absolutismus,  nach  dem 
Grundsatze :  Divide  et  impera.  Auch  die  schrankenlose  Willkürlichkeit 
und  Volksbevormundung,  welche  uns  bei  dem  Regaliensysteme  zunächst 
Anstoss  geben,  waren  im  Zeitalter  des  Absolutismus  für  den  Herrscher 
geradezu  erwünscht,  für  die  Unterthanen  wenigstens  erträglich,  bei  dem 
tiefen  Misstrauen,  welches  damals  alle  Welt  gegen  die  ausgearteten  mit- 
telalterlichen Freiheiten  (Vorrechte)  zu  hegen  begann,  während  die 
moderne  Freiheit  kaum  geahnt  wurde.  Die  vielen  kleinen  Status  in 
Statu  waren  unhaltbar  geworden,  und  der  grosse  Staat  hatte  eben  noch 
keinen  andern  Vertreter,  als  die  Krone.  —  So  finden  wir  denn  bei  dem 
Absolutismus  aller  neueren  Völker  dieselbe  charakteristische  Wichtigkeit 
der  Regalienwirthschaft.  In  Italien  schon  am  Schlüsse  des  1 5.  Jahrhun- 
derts, wovon  z.  B.  die  Zeitgenossen  Commines  (Memoire*  VII,  13)  und 
Machiavelli  (Discorsi  III f  29)  reden44;  ganz  besonders  aber  seit  der  spa- 
nischen Herrschaft.  Ebenso  im  spanischen  Hauptlande,  sowie  in  des- 
sen amerikanischen  Besitzungen45;   in  Russland46;  auch  in  Schweden 


la  disposition  pleine  et  Ubre  de  tous  les  biens,  qui  sont  possedes.  Desgleichen  Louvois 
in  seinem  politischen  Testamente :  Tous  vos  sujets,  quelsqu'ils  soient,  vous  dowent  leur 
personne,  leurs  biens,  leur  sang,  sans  avoir  droit  de  rim  pretendre.  En  vous  sacrifiant 
tout,  ils  ne  vous  donnent  rien,  puisque  tout  est  ä  vous. 

43)  Finanees  de  France  I,  p.!8i.  440  ff.  So  vertheidigte  in  England  Fabian  Philips 
das  Regal  der  purveyance  and  Preemption  vor  seiner  Aufhebung  (1 663)  in  der  Schrift : 
The  antiquity,  legality,  reason,  duty  and  necessity  of  p.  and  p.  for  the  king,  the  smaU 
Charge  and  burthen  thereof  to  the  people  etc. 

44)  Vgl.  Sismondi  Gesch.  der  ital.  Republiken  XI,  S.  523 ff.  354.  XIII,  S. 265. 

45)  Vgl.  Townsend  Journey  through  Späth.  IL  p.  231  ff.  Humboldt  Neu- 
spanien V,  S.  2  ff.  38. 

46)  Vgl.  Karamsin  IX,  S. 284  mit  Herrmann  Russ.  Gesch.  III,  S.  342.  540. 


33]  Aeltebe  deutsche  Nationalökonomie.  295 

während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts,  wo  so  kräftige  und  fast  erfolg- 
reiche Versuche  zur  absoluten  Monarchie  gemacht  wurden47.  Wie  in 
Frankreich  das  Pariser  Parlament  zur  Zeit  der  Fronde  auf  Beseitigung 
dieser  regalistischen  Finanzwirthschaft  drängte,  so  wurden  umgekehrt 
in  England  unter  Elisabeth  und  den  beiden  ersten  Stuarts  eine  Menge 
eingeschlafener  Regalien  wieder  aufgeweckt,  als  die  Krone  bei  ihrem 
Streben  nach  Absolutismus  das  parlamentarische  Steuerrecht  umgehen 
wollte.  —  Ja  selbst  andere  Formen  der  unbeschränkten  Monarchie,  die 
mit  dem  vorzugsweise  sog.  Absolutismus  nur  mehr  oder  minder  Aehn- 
lichkeit  besitzen,  wie  z.  B.  der  orientalische  Sultanismus,  die  abendlän- 
dische Militärdespotie  (Cäsarismus),  welche  der  ausgearteten  Demokratie 
zu  folgen  pflegt,  haben  dieselbe  Vorliebe  für  regale  Finanzquellen.  Wir 
sehen  dies  im  Alterthume  bei  den  griechischen  Tyrannen  der  spätem 
Art48;  mehr  noch  bei  den  römischen  Imperatoren,  wo  es  z.  B.  29  Ver- 
brechen gab,  die  Vermögensconfiscation  nach  sich  zogen,  darunter  das 
unendlich  weite  der  laesa  majestas 49.  Wir  sehen  dasselbe  im  merkwür- 
digsten Grade  bei  Napoleon  I. M 

In  die  deutschen  Finanzen  ist  der  Regalismus  viel  später  und  im 
Ganzen  auch  weniger  tief  eingedrungen,  gerade  wie  der  Absolutismus. 
Dieselbe  Mittelstellung  der  meisten  deutschen  Landesherren  zwischen 
grossen  Reichsunterthanen  und  souveränen  Staatsoberhäuptern,  welche 
die  Macht  ihrer  Landstände  bis  zum  dreissigjährigen  Kriege  und  länger 
lebendig  erhielt,  beugte  der  Verschleuderung  ihres  Domaniums  vor.    In 


724  und  der  Darstellung  aus  Gesandtschaftsberichten  Gustav  Adolfs  bei  G ei j er  Hl, 
S.  99. 

47)  Ueber  Gustav  Adolf  in  dieser  Beziehung  s.  Geijer  Iü,  S.  55  ff. 

48)  Auch  bei  den  früheren,  die  genauer  unserem  Absolutismus  am  Schlüsse  des 
Mittelalters  entsprechen;  vgl.  Aristot.  Oeconom.  //,  passim. 

49)  Vgl.  Naudet  Des  ehangements  dans  l'administration  de  tempire  R.  sous  Dio- 
cletien,  I,  p.  4  95. 

50)  Napoleon  führte  das  droit  daubaine  und  den  Abschoss  wieder  ein.  An  der 
Strafe  der  Vermögensconfiscation  hielt  er  so  fest,  dass  er  sie  auch  in  seinem  Acte  adr- 
düionel  von  4  84  5  nicht  aufgeben  wollte.    Bei  Creirung  des  neuen  Majoratadels  ward 

eine  Gebühr  von  20  Procent  der  einjährigen  Einkünfte  an  den  Siegelrath  gefordert.  | 

Wie  Napoleons  Cautionen  für  aller  Art  Aemter,  selbst  Gewerbe,  deren  Betrag  er  be-  ! 

liebig  erhöhete,  deren  Zinsfuss  er  beliebig  herabsetzte,  dem  alten  Aemterverkaufe  ent- 
sprechen, so  ist  sein  Verfahren  gegen  den  Lieferanten  Ouvrard  (Ouvrard  Memoires 
1,  64  fg.  Bourrienne  Mem.  VII,  6)  gegen  Bourrienne  etc.  [Memoires  de  Lasca- 
s es  II,  34  4)  ganz  ein  Wiederauffrischen  der  alten  Chambres  ardentes.  \ 

Abhandl.  d.  K.  8.  Oet.  d.  WiM.  X.  *0 


296  Wilhelm  Röscher,  [34 

Preussen  z.  B.  hat  erst  der  grosse  Kurfilrst,  unter  heftigem  Widerspruch 
der  Stande,  das  Salzregal  eingeführt,  desgleichen  eine  Art  von  Aemter- 
verkauf;  Friedrich  Wilhelm  I.  beides  wesentlich  verschärft,  Friedrich 
d.  Gr.  endlich  gegen  500  verschiedene  Waaren  zum  Gegenstande  seines 
Staatshandels  gemacht.  Aus  anderen  Ländern  ist  im  1 8.  Jahrhundert 
namentlich  der  Aemter verkauf  des  mecklenburgischen  Karl  Leopold  und 
des  bayerschen  Karl  Theodor  bekannt,  sowie  auch  das  berüchtigte  Fi- 
nanzsystem des  luden  Süss  in  Württemberg  ein  wesentlich  regalistisches 
war51.  Zu  den  schlimmsten  Anwendungen  des  Regalismus  im  18.  Jahr- 
hundert gehört  die  Soldatenvermiethung  an  England  oder  Holland, 
welche  von  Hessen-Kassel  und  Braunschweig  in  einem,  selbst  popula- 
tionistisch,  schwer  begreiflichen  Extreme  geübt  wurde:  dort  bis  zu 
12600,  hier  bis  zu  4300  Mann  auf  einmal!  Oder  auch  die  holländisch- 
französische Zahlung  von  9y2  Millionen  Fl.,  wofür  sich  ein  Herrscher, 
wie  Joseph  IL,  die  Fortdauer  der  Scheidesperrung  gefallen  liess.  Aber 
in  Obrechts  Zeit  waren  es  nur  ganz  wenige  deutsche  Fürsten,  welche 
an  dem  Regalsysteme,  wie  es  damals  in  Frankreich,  England  und  Italien 
blühete,  wirklich  Gefallen  hatten.  Am  meisten  noch  der  Erzbischof  von 
Salzburg  seit  1 587 52 ;  einigermassen  auch  Württemberg,  wo  das  früh- 
zeitige Ausscheiden  des  Adels  aus  dem  Landesverbände  die  Regalisirung 
erleichterte 53. 

Indess,  wie  gesagt,  die  Mehrzahl  der  praktischen  und  theoretischen 
Staatsmänner  im  damaligen  Deutschland  war  nicht  für  den  Regalismus 
eingenommen,  dessen  System  wir  in  Obrechts  Zeit  als  ein  wesentlich 
ausländisches  dem  deutschen  gegenüberstellen  können.  Man  darf  aber 
die  vielseitigen  Verbindungen  des  südwestlichen  Deutsch- 
lands, wo  Obrecht  lebte,  mit  Frankreich,  England  und  Hol- 
land nicht  übersehen.    Schon  damals  konnten  sich  die  Tieferblickenden 


54)  In  Mecklenburg  scherzte  man  seit  4  742,  wo  so  viele  Pfarren  meistbietend 
verkauft  wurden,  dass  die  Prediger  mit  Recht  ihre  Zuhörer  »theuer  erkaufte  Seelen« 
nennen  könnten.  (Boll  Meckl.  Gesch.  II,  S.  4? 5.)  Im  bayerschen  Addresskalender 
von  4799  haben  die  meisten  Beamten  gleich  ihre  Nachfolger  neben  sich  verzeichnet 
stehen,  weil  die  Anwartschaft  darauf  verhandelt  war.  (Perthes  Deutschland  zur 
Zeit  der  französ.  Herrschaft,  S.  441.) 

52)  Vgl.  Ranke  Päpste  II,  S.  133. 

53)  Sogar  allgemeines  Schäfereiregal  in  Württemberg  seit  dem  4  6.  Jahrhundert, 
das  erst  1828  aufgehoben  wurde. 


35]  Abltbre  deutsche  Nationalökonomik.  297 

immer  weniger  täuschen  über  das  Herannahen  der  grossen  Krisis,  die 
im  dreissigjährigen  Kriege  ausgefochten  wurde.  Immer  schwächer  wur- 
den auf  beiden  Seiten  die  vermittelnden  Elemente :  solche  Katholiken, 
wie  Kaiser  Max  IL,  und  solche  Protestanten,  wie  die  Lutheraner  der 
Goncordienformel.  Dagegen  verschärften  sich  auf  beiden  Seiten  die 
Ultras,  und  wie  die  katholischen  immer  enger  an  Papst  und  Spanien 
festhielten,  so  die  calvinischen  an  den  Generalstaaten,  Heinrich  IV.  und 
England.  Eine  welthistorisch  .wichtige  Folge  der  Thatsachen,  dass  Calvin 
kein  Deutscher  gewesen  war,  und  seine  Kirche  damals,  bei  wachsender 
Verknöcherung  der  lutherischen,  alle  treibenden  Kräfte  des  Protestan- 
tismus beinahe  ausschliesslich  und  deshalb  ohne  gehöriges  Gegenge- 
wicht in  sich  vereinigte.  Schon  1 594  hatten  die  zu  Heilbronn  versam- 
melten Bundesgenossen,  Kurpfalz,  Baden,  Württemberg  etc.,  Heinrich  IV. 
Subsidien  bewilligt,  wofür  er  den  brandenburgischen  Bewerber  des 
Bisthums  Strassburg  gegen  den  lothringischen  unterstützen  sollte.  Das 
förmliche  Bündniss  der  Union,  das  1610  mit  Heinrich  IV.  geschlossen 
wurde,  hätte  ohne  dessen  plötzlichen  Tod  für  den  ganzen  Bestand  des 
europäischen  Staatensystems  unberechenbare  Gefahren  heraufbeschwo- 
ren. Noch  im  Mai  1613  schloss  die  Union  ein  15jähriges  Bündniss  mit 
den  Generalstaaten.  Kurfürst  Friedrich  V.  von  der  Pfalz,  dessen  böh- 
mische Thronbesteigung  zum  Ausbruch  des  dreissigjährigen  Krieges 
führte,  war  der  Sohn  einer  Prinzessin  von  Oranien,  der  Schwiegersohn 
des  Königs  von  England.  Dessen  vornehmster  Rathgeber,  Christian  von 
Anhalt,  war  früher  in  französischen  Diensten  gewesen,  und  hat  seine 
Französirung  u.  A.  dadurch  bethätigt,  dass  er  seinen  amtlichen  Bericht 
über  die  verlorene  Schlacht  am  weissen  Berge  in  französischer  Sprache 
schrieb !  —  Von  allen  diesen  Bewegungen  war  nun  Strassburg  mit  sei- 
ner blühenden  Universität,  Obrechts  Wohnsitz,  aufs  Lebhafteste  mit  er- 
griffen :  ich  erinnere  beispielsweise  nur  daran ,  dass  der  vermählte  und 
protestantisch  gewordene  Erzbischof  von  Köln,  Truchsess  von  Waldburg, 
dessen  Vertreibung  lange  Zeit  einen  Hauptstreitpunkt  der  grossen  con- 
fessionellen  Parteien  gebildet  hatte,  und  der  eben  deshalb  mit  Frank- 
reich und  England  im  wichtigsten  Verkehr  gestanden,  zu  Strassburg 
1601  nach  langjährigem  Aufenthalte  als  Domherr  starb. 


Als  eine  in  mancher  Hinsicht  lehrreiche  Folie  von  Obrecht  mag 
Hippolytus  a  Gollibus  dienen.     Geboren  1561  zu  Zürich,  war  er 

20* 


298  Wilhelm  Röscher,  [36 

der  Sohn  eines  italienischen  Edelmannes,  der  um  seines  protestantischen 
Glaubens  willen  auswandern  musste.  In  den  Jahren  1 584  bis  1 591  lebte 
er  als  Professor  der  Rechte  abwechselnd  in  Basel  und  Heidelberg.  Um 
1591  trat  er  als  Kanzler  in  die  Dienste  des  vorerwähnten  Christian  von 
Anhalt,  der  ihn  zu  Gesandtschaftsreisen  nach  England,  sowie  an  viele 
deutsche  Höfe  gebrauchte.  Seit  1 593  aber  finden  wir  ihn  bis  an  sein 
Lebensende  wieder  in  kurpfälzischen  hohen  Aemtern.    Er  starb  1612. 

Hippolytus  schrieb  ausser  mehreren ,  civilistischen  Arbeiten 54  fol- 
gende politische  Werke:  Nobilis  (1 589 ;)  Princeps,  (1592)  dem  »heros« 
Christian  von  Anhalt  gewidmet;  Palatinos  $.  au licus,  (1595)  eine  Schil- 
derung, wie  der  Hofmann  etc.  gebildet  werden,  gesinnt  sein  und  han- 
deln müsse :  lauter  Dinge,  die  in  sehr  gemeinplätzlicher  Weise  aus  dem 
Alterthume  belegt  werden.  Sein  Hauptbuch,  das  zu  damaliger  Zeit 
grossen  Ruhm  erlangte,  Incremenla  urbium  s.  de  causis  magnitudinis  ur- 
bium  (Hanau,  1 600),  erinnert  bloss  durch  den  Titel  und  zu  seinem  eige- 
nen grössten  Schaden  an  das  kurz  vorher  erschienene  Meisterwerk  Bo- 
teros. Kein  Gedanke  an  die  vortreffliche  Handels-  und  Bevölkerungs- 
theorie des  letztern ! M  Nur  ganz  äusserlich  und  mit  allerlei  klassischen 
Reminiscenzen  aufgeputzt,  reden  hier  24  Kapitel  vom  Ursprung  der 
Städte,  von  ihrer  Lage  und  Gesundheit,  von  der  Fruchtbarkeit  des  Bo- 
dens, der  Schönheit  der  Umgebungen,  von  den  Wasserverbindungen, 
der  Befestigung,  der  Bequemlichkeit  und  Pracht,  den  Heerstrassen  und 
Gränzstädten,  den  Badeörtern,  Bergstädten,  Universitätsstädten,  Haupt- 
und Residenzstädten,  Sitzen  des  Adels,  Handelsstädten,  Gewerbestädten; 
vom  Zuwachs  durch  leichte  Ertheilung  des  Bürgerrechts,  durch  Begün- 
stigung der  Ehen,  durch  Asyle,  Schauspiele  etc. ;  zuletzt  noch  de  urbi- 
bus,  quae  aerario  Student,  quae  annonae  prudenler  curam  gerunt,  de  iis  quae 
diversa  oppida  in  unum  contrahunt  vel  vicinas  urbes  diruunt,  de  urbium  le- 
gibus et  politeia,  de  urbibus  nonnullis,  quae  ad  summam  magnitudinem  per- 
venerint.  —  Der  Abschnitt  de  politeia  ist  nur  eine  ganz  oberflächliche 
dem  Aristoteles  nachgehende  Notiz,  wie  man  Demokratien  und  Aristo- 
kratien anders  behandeln  müsse ,  als  Monarchien.    Ebenso  wenig  kann 


54)  Vgl.  Jugler  Beiträge  zur  juristischen  Biographie  III,  S.  495  ff. 

55)  In  seinem  4  7.  Kapitel  (von  der  Ehe)  räth  Hippolytus  ganz  einfach,  dass  der 
Staat  die  Ehen  befördern  soll.  Dass  ein  sehr  frugales  und  wohlfeiles  Leben  zur  Volks- 
vermehrung anreizt,  begreift  er  nur,  sofern  es  sich  um  das  Leben  der  Kinder  handelt. 
(Princeps,  p.  4  60.) 


\ 


37]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  299 

Hippolytus  mit  der  Idee  anfangen,  dass  auch  die  Staaten,  wie  die  Indi- 
viduen, ihre  Kindheit,  Jugend,  ihr  Alter  etc.  haben.  (Princeps,  p.  175.) 
Vor  allen  Wirtschaftszweigen  lobt  er  den  Ackerbau :  nulla  ars  locuple- 
tandae  reipublicae  utilior  et  honeslior.  Deshalb  soll  der  Fürst,  und  zwar 
ganz  allgemein,  durch  Lohn  und  Strafe  zum  Anbau  jedes  Grundstückes 
veranlassen.  (Princeps,  p.  150.)  Uebrigens  versteht  Hippolyt  seine  al- 
ten Klassiker  in  diesem  Punkte  so  wenig,  dass  er  die  bekannten  Abstu- 
fungen des  Cato  hinsichtlich  des  Ertrages  der  verschiedenen  Boden- 
benutzungsarten (vineae,  horlus  irriguus  etc. :  Cato  R.  R.,  c.  1.)  als  Eigen- 
schaften eines  guten  Ackers  deutet.  (Incrementa  urbium,  p.  18.)  Beim 
Gewerbfleisse  warnt  er  vor  monopolia,  factiones  et  conjurationes,  praetextu 
societalum,  empfiehlt  dagegen  Schauanstalten.  (Ibid.  p.  65.)  Zur  Beför- 
derung des  Handels  räth  er  Börsen,  Messprivilegien,  eigene  Handelsge- 
richte, (summarie  et  de  piano  administrari  et  bona  fide  conservari,)  end- 
lieh  Verleihung  einer  gewissen  Beweiskraft  an  ordentlich  geführte  Han- 
delsbücher. (Ibid.  p.  58  ff.)  Man  sieht,  er  ist  damit  seiner  Zeit  zwar 
nicht  voraus,  aber  doch  von  den  besten,  damals  noch  keinesweges  all- 
gemein gewordenen  Neuerungen  wohl  unterrichtet.  Die  Schiffahrt  hält 
er  nicht  bloss  für  nützlich,  sondern  für  nothwendig :  vix  credibile,  quan- 
tum  maritimis  subvectionibus  regna  ditescant.  (Princeps,  p.  1 51 .)  Im  Korn- 
handel strenges  Wucherverbot M  und  grossartig  entwickeltes  Staatsmaga- 
zinwesen, nach  Art  der  venetianischen  Annona.  (Incrementa  urbium,  p. 
88  ff.)  Wo  Hippolytus  das  Geld  mit  den  Nerven  vergleicht,  ist  damit 
doch  nur  eine  humanistisch-bellettristische  Ausdrucksweise  filr  Steuern 
gemeint.  (Ibid.  p.  82  ff.)  Er  warnt  dabei  nur  ganz  gemeinplätzlich  vor 
drückenden  Steuern,  deren  Ertrag  alsdann  vergeudet  wird ;  räth  auch* 
neue  Ansiedler  einstweilen  damit  zu  verschonen.  Ein  sehr  auffallender 
Gegensatz  zu  Obrecht,  mit  dem  er  sonst  beinahe  ganz  auf  demselben 
geistigen  Boden  steht,  ist  seine  Abneigung  gegen  Aemterverkauf : 
nullum  mercaturae  genus  sordidius  et  damnosius,  quam  honorum  magistra- 
tuumque  mercatura.  (Princeps,  p.  174.)57 


56)  Selbst  ein  Volkswirth  wie  Kurfürst  August  von  Sachsen  hatte  1583  alles  Auf- 
kaufen von  Getreide  in  reichen  Jahren  »auf  Theuerung«,  als  der  christlichen  Nächsten« 
liebe  zuwider,  verboten.  (Cod.  August.  I,  S.  144.) 

57)  Dies  erinnert  an  Bodinus'  Wort  über  den  Verkauf  so  vieler  Finanzämter  in 
Frankreich  :  de  rebus  omnibus  absurdissimis  nulla  mihi  absurdior  visa  est.  (De  rep.  VI, 
2,  p.  1018.  1062.) 


300  Wilhelm  Röscher,  [38 


III, 

Die  Anfänge  der  systematischen  Volkswirtschaftslehre. 

Vom  Leben  des  Jacob  Bornitz  kann  ich  ausser  seiner  schrift- 
stellerischen Thätigkeit  nur  anführen,  dass  er,  geboren  zu  Torgau,  spä- 
ter als  Doctor  der  Rechte  und  kaiserlicher  Rath  zu  Schweidnitz  lebte. 
Bei  den  Kaisern  Rudolf  IL  und  Matthias  scheint  er  in  Sachen  der  öko- 
nomisch-juristischen Verwaltung  etwas  gegolten  zu  haben :  wenigstens 
rühmt  er  sich,  ihre  regalia,  feuda,  privilegia  et  reservata  seien  ihm  com* 
missa  et  concredita  gewesen.  Sein  Werk  De  verum  sufßcientia  ist  Kaiser 
Ferdinand  IL  gewidmet1.  Gleichwohl  litt  er,  ohnehin  kränklich,  im 
dreissigjährigen  Kriege  viel  Noth  durch  die  Soldaten,  die  ihm  z.  B.  seine 
Bibliothek  raubten 2.  Sein  Leben  war  übrigens  nicht  lang  genug,  um 
alle  seine  wissenschaftlichen  Pläne  zu  vollenden :  an  mehreren  Stellen 
seiner  Bücher  verweist  er  auf  künftige  Erörterungen,  von  denen  mir 
nichts  weiter  vorliegt. 

Bekanntlich  hat  Schlesien  während  des  17.  Jahrhunderts  relativ 
seine  höchste  Literaturblüthc  gehabt :  die  Mehrzahl  der  in  Deutschland 
jenerzeit  hervorragenden  Dichter  etc.  gehört  der  schlesischen  Schule  an. 
Ich  gedenke  nur  der  Opitz,  Andreas  und  Christian  Gryphius,  Tscherning, 
Scultetus,  Heerman,  Logau,  Hoflmannswaldau,  Lohenstein,  Assmann  von 
Abschatz,  Neukirch,  Schmolke,  Angelus  Silesius  bis  auf  Joh.  Christ.  Gün- 
ther herab.  Die  Uebersiedelung  unseres  Bornitz  von  Sachsen  nach 
Schlesien  kann  auch  als  Beitrag  zu  dieser  Uebertragung  des  geistigen 
Principats  von  einer  Landschaft  auf  die  andere  betrachtet  werden. 

Volkswirtschaftliche  Bücher  hat  Bornitz  drei  verfasst.  Zuerst  De 
nummis  in  republica  percutiendis  et  comervandis,  Libri  //,  ex  systemate  po- 
lilico  deprompti:  nach  II,  9.  am  15.  Julius  1604  vollendet,  aber  erst  1608 
zu  Hanau  erschienen.  Die  Quartausgabe,  die  von  mir  benutzt  worden  ist, 
zählt  1 02  Seiten.  Hierin  wird  die  Lehre  vom  Geld-  und  Münzwesen,  zu- 
gleich aber  auch  die  obersten  Grundsätze  der  Volks  wir  thschafts-  und  Han- 
delspolitik im  Allgemeinen  vorgetragen.  Sodann  seine  Finanz  Wissenschaft : 


\)  Freilich  daneben  auch  allen  den  Königen,  Fürsten,  Herren,  Reichsstädten  etc.. 
welche,  jeder  in  seinem  Gebiete,  rerum  sufficienUae  invigilant. 
2)  Vorrede  des  eben  genannten  Werkes. 


39]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  301 

Aerariwn  s.  tractatus  polüicus  de  aerario  sacro,  civili,  militari,  communi 
et  sacratiori,  ex  reditibus  publicis,  tum  vectigalibus  et  collationibus  singulo- 
rum  ordinariis  et  extraordinariis  conficiendo,  X.  libris  summatim  et  brevi- 
ter  comprehensus.  Zu  Frankfurt  1612  in  94  Quartseiten  erschienen.  Dies 
ist  überwiegend3  nur  eine  Aufzählung  von  Gegenständen,  ein  Fachwerk, 
das  jeder  Leser  durch  Eintragung  seiner  eigenen  Notizen  ausfüllen  soll, 
(Vorrede)  bedeutsam  durch  seine  systematische  Vollständigkeit,  aber 
ohne  viel  Eindringen  in  die  Tiefe.  Ganz  dasselbe  gilt  von  der  dritten 
Schrift:  Tractatus  polüicus  de  rerum  sufficientia  in  republica  et  civitate 
procuranda,  (Frankfurt  1625,  253  Seiten  klein  40.)4  welche  zu  Frankfurt 
a.  0.  1622  im  Laufeines  einzigen  Monates  verfasst  ist.  Der  Autor  hatte, 
wie  er  selbst  sagt,  in  seinen  früheren  Werken  die  sufficientia  rerum  civi- 
lium  behandelt ;  jetzt  will  er  die  sufficientia  rerum  naturalium  hinzufügen, 
nachdem  er  viel  mit  Handwerkern  etc.  verkehrt  und  während  seiner 
Reisen  durch  Holland,  England,  Frankreich,  Italien  und  Deutschland 
immer  vorzugsweise  hierauf  geachtet.  Er  vertheidigt  sich  in  seiner 
zweiten  Vorrede  ausführlich  dagegen,  als  ob  solche  Studien  eines  Juri- 
sten unwürdig  seien,  wobei  er  gegen  die  herkömmliche,  zu  niedrige  Auf- 
fassung des  Begriffes  Polüicus  eifert.  Generalia  suppeditat  politica,  at 
specialia  historia  rerumpublicarum  Hebraeorum,  Graecorum,  Romanorum 
cell,  et  hodie  Romano-Teutonici  Status.  Uebrigens  ist  es  nicht  seine  Ab- 
sicht, die  Gewerbe  des  Ackerbaues,  Bergbaues,  der  Industrie  und  des 
Handels  selbst  zu  beschreiben,  sondern  nur  zu  lehren,  quomodo  hisce 
mediis  bona  naturalia  in  republica  paranda  et  in  usum  communem  dabo- 
randa.  Also  eine  Art  von  Encyklopädie  der  Cameralwissenschaften,  aus 
volkswirtschaftlichem  Gesichtspunkte  entworfen,  deren  Hauptverdienst 
in  ihrer  systematischen  Vollständigkeit  und  Natürlichkeit 5  besteht.  So 
werden  z.  B.  im  zweiten  Abschnitte  (S.  77)  die  opificia  in  solche  einge- 


3)  Obschon  es  in  der  Vorrede  heisst,  der  Verfasser  wolle  die  modos  licitos,  qui- 
bus  luto  utendum,  empfehlen,  die  modos  illicitos  verwerfen. 

4)  Sehr  gerühmt  von  Besold  Synopsis  politica,  p.  251 .  Ein  ähnliches  Buch  von 
Hieron y raus  Marstaller  De  divitiis  erschien  als  Tübinger  Inauguraldissertation  1698« 
wohl  unter  Besolds  Einflüsse. 

5)  Das  Verdienst  solcher  Natürlichkeit  erhellt  am  besten  aus  einer  Vergleichung 
mit  Hippolytus  a  Collibus  Princeps,  p.  4  49,  wo  die  artes  mechanicae,  welche  der 
Fürst  befördern  soll,  eingetheilt  werden  in  solche,  die  mit  der  Erde,  (Landbau,  Jagd,) 
mit  dem  Wasser,  (Schiffahrt,  Fischerei,)  mit  dem  Feuer  (fabricaria)  oder  mit  der  Luft 
(Vogelfang)  zu  thun  haben ! 


302  Wilhelm  Röscher,  [40 

theilt:  4)  quae  vitae  nee  non  victui  et  sanitati  inserviunt;  2)  amictui  et  re- 
liquo  corporis  eultui;  3)  habilationi  et  aedifieiis;  4)  supellectili  et  instru- 
mentis  variis  domesticis;  5)  militiae  togatae,  h.  e.  rei  liierariae;  6)mili- 
tiae  sagatae,  h.  e.  bello  speciatim;  7)  ornatui  et  voluptati ;  8)  lusui.  Der 
ganze  vierte  Abschnitt  handelt  von  den  ministeriis,  welche  die  Neueren 
als  persönliche  Dienste  zusammenzufassen  pflegen.  Ueberall  will  der 
Verfasser  nur  durch  viele  Citate  etc.  zum  Selbstudium  des  Ackerbaues, 
Gewerbfleisses,  Handels  etc.  anleiten,  und  hofft  auf  einen  Nachfolger, 
qui  cyclum  artificiorum  humanorum  tnethodo  s.  ordine  concinno  editurus  sit. 
Er  selbst  macht  das  Einzelne  meist  sehr  obenhin  ab,  nicht  selten  vermit- 
telst einer  blossen  Nomenclatur,  und  die  zwischendurch  eingestreuten 
Verse  sind  oft  geradezu  albern. 

Ueberhaupt  darf  man  sich  die  Bildung  unsers  Bornitz  ja  nicht  zu 
hoch  denken.  In  falsche  Theologie  freilich  geräth  er  nur  selten,  wie 
z.  B.  De  rerum  sufficienlia,  p.  201  bei  Gelegenheit  des  Gartenbaues,  dass 
uns  die  Gärten  an  Adams  Fall  und  Christi  Begräbniss  in  einem  Garten, 
also  an  unsere  Sterblichkeit  und  Auferstehung,  erinnern  sollen.  Desto 
mehr  leidet  er  an  falscher  Jurisprudenz.  Unter  den  zahllosen  unnützen 
Citaten,  lateinischen  Spruch  Wörtern  etc.,  von  denen  seine  Bücher  wim- 
meln, sind  die  meisten  aus  dem  Corpus  Juris.  Die  Aufhebung  einer 
Steuer  im  römischen  Recht  hat  für  ihn  doch  immer  soviel  Gewicht,  dass 
er  ihre  etwanige  Zweckmässigkeit  für  die  neuere  Zeit  dann  mit  ganz  be- 
sonderer Umständlichkeit  nachweiset6.  Seine  Philosophie  ist  eine  über- 
aus pedantische ,  die  mit  der  seines  genialen  Zeitgenossen  und  Lands- 
mannes, Jacob  Böhme,  nur  zu  ihrem  grossen  Nachtheile  verglichen  wer- 
den kann.  So  wird  De  nummis  I,  2  zuerst  von  der  Materie,  dann  von 
der  Form  des  Geldes  gesprochen,  das  letztere  mit  den  Worten  eingelei- 
tet :  causa  altera,  quae  dat  esse,  forma  est.  Das  folgende  Kapitel  handelt 
von  der  constitutio,  conservatio  et  curatio,  audio  und  mutatio  nummorum. 
Da  heisst  es  u.  A. :  Constitutio  deducitur  ex  causis.  qualilatibus,  partibus 
et  speciebus.  Inquirendum  itaque  est  in  causas  nummorum,  si  quidem  rem 
scire  est  rem  per  causas  cognoscere,  quarum  quaedam  essentiam  ingrediun- 
tur  nummi,  (materia  et  forma,)  quaedam  nummos  extrinsecus  efficiunt,  (ef- 
fectrix  et  finis.)  Von  Bornitz'  historischem  Geschmacke  zeugt  u.  A.  die 
Erzählung :  Noa  et  Dionysius-Bacchus,  qui  et  Bacchanalia  instituit,  culto- 


6)  Vgl.  De  aerario  V,  13. 


M]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  303 

res  primi  habentur  vinearum.  (De  rerum  sufficientia,  p.  29.)  So  betrachtet 
seine  Worterklärung  des  Geldes  pecunia,  aes  u.  dgl.  m.,  ohne  irgendwie 
an  den  geschichtlichen  Grund  dieser  Ausdrücke  zu  denken.  Aus  Juve- 
nalsl.  Satire  (1 4  3)  schliesst  er  sogar  auf  das  Vorhandensein  einer  Göttin 
Pecunia  bei  dei  Römern !  (De  nummis  I,  1 .)  Zu  diesem  Allen  noch  eine 
lästige  Menge  von  Gemeinplätzen  und  Wiederholungen ,  sowie  die  ge- 
wöhnliche barbarische  Sprachmengerei  seines  Zeitalters. 

Gleichwohl  nimmt  Bornitz  in  der  Entwicklungsgeschichte  der  Na- 
tionalökonomik ,  nicht  bloss  von  Deutschland,  sondern  überhaupt,  eine 
wichtige  Stelle  ein.  Ohne  hauptsächliche  Entdeckungen  im  Einzelnen, 
hat  er  sich  die  gesammte  volkswirtschaftliche  Erkenntniss  seiner  Zeit 
in  achtungswerthem  Grade  angeeignet,  hat  sie  mit  reicher  Gelehrsam- 
keit (im  damaligen  deutschen  Geschmacke!)7  verarbeitet,  durch  Selbst- 
erfahrung belebt  und  geklärt,  und  zuerst  den  Versuch  gemacht,  sie  in 
systematischer  Vollständigkeit  darzustellen.  Der  gesunde,  praktische, 
jedem  Extrem  abholde  Sinn,  welcher  dazu  erfordert  wird,  ist  ihm  durch- 
aus eigen,  so  dass  er  in  jener  halbbarbarischen  Periode  einen  ähnlichen 
Platz  einnimmt ,  wie  in  unserer  glücklichern  Zeit  der  ehrwürdige  Rau. 
Solche  Männer  sind  auch  für  die  Fortentwickelung  der  Wissenschaft  von 
grossem  Nutzen,  obschon  dies  bei  Bornitz  durch  die  Sündfluth  des 
dreissigjährigen  Krieges  unterbrochen  wurde.  Vergleichen  wir  ihn  mit 
Bodinus,  wohl  dem  grössten  Staatsgelehrten  unter  Bornitz'  älteren 
Zeitgenossen,  so  ist  der  Franzose  dem  Deutschen  unstreitig  überlegen 
an  Weite  des  Gesichtskreises,  —  die  Theilnahme  an  den  Reichstagen 
und  Gesandtschaften  einer  Grossmacht  hatte  ihre  Frucht  getragen! 
Ebenso  an  Feinheit  (und  behaglicher  Breite!)  der  philologischen  Bil- 
dung, wie  sie  bei  dem  Landsmanne  von  Cujacius,  Donellus,  Brissonius, 
Muretus,  Scaliger,  Thuanus,  Casaubonus  zu  erwarten  stand.  Im  Allge- 
meinen jedoch  haben  die  beiden  Männer  an  Persönlichkeit  und  Richtung 
viel  Aehnliches,  nur  dass  man  nach  heutiger  Ausdrucksweise  Bodinus 
mehr  einen  Publicisten,  Bornitz  mehr  einen  Cameralisten  nennen  möchte. 

Gehen  wir  jetzt  zur  Darlegung  seines  Systems  über. 

Wie  im  Körper  eine  perpetua  et  mutua  spirituum  consumtio  et  resti- 
tutio virtute  alimeniorum  et  sanguinis  stattfindet,  so   im  wirthschaftli- 


7)  Sehr  gerne  citirt  Bornitz  die  Ausgabe  der  aristotelischen  Oekonomik  von  Ca- 
merarius. 


304  Wilhelm  Roscheh,  [42 

chen  Leben  durch  die  bona,  gleichsam  ein  alter  sanguis.  (De  verum  suffi- 
cientia,  p.  8.)*  Alle  Güter  werden  in  solche  getheilt,  welche  animum, 
corpus  oder  fortunam  betreffen9.  Die  notwendigen  Lebensbedürfnisse 
(naturalia)  stehen  zwar  den  geistigen  Dingen  an  wahrem  Werthe  nach, 
müssen  jedoch  vor  diesen  erstrebt  werden,  weil  es  zuerst  auf  das  vivere 
et  se  sustentare  ankommt,  dann  auf  das  civiliter  vivere.  (De  nummis,  I,  1 .) 
Die  Vorzüglichkeit  des  Staates  beruhet  hauptsächlich  auf  einer  rechten 
Harmonie  der  ftlr  öffentliche  Zwecke  zurückbehaltenen  Güter  mit  denje- 
nigen, welche  Privatleuten  zugewiesen  sind ;  wobei  der  Verfasser  gegen 
die  Gütergemeinschaft  eines  Piaton,  Th.  Morus  u.  A.  eifert.  (De  nummis 
J,  4.) 10  Gleichwohl  ist  er  von  der  absolutistischen  Strömung  seiner  Zeit 
dermassen  ergriffen,  dass  er  dem  politicus  und  prineeps  doch  eine  fast 
hausvaterliche  Gewalt  zuschreibt,  insbesondere  praescribendo  et  dirigendo, 
quod  unusquisque  in  domo  et  in  urbe  agere,  quod  genus  vitae  sequi,  quibus 
modis  rede  et  rite  bona  acquirere,  acquisita  conservare  et  amtiere  debeal. 
(De  rerum  suff.,  p.  12.)  Dass  obrigkeitliche  Taxen  wünschenswerth  sind, 
versteht  sich  nach  damaligen  Begriffen  eigentlich  von  selbst.  (Ibid. 
p.  246.) 

Den  Ursprung  des  Geldes  erklärt  Bornitz  aus  der  Ungenüglich- 
keit  des  blossen  Tauschverkehrs,  obwohl  er  in  dieser  Hinsicht  keinen 
höhern  Standpunkt  erringt,  als  den  bereits  Gabriel  Biel  und  Georg  Agri- 
cola  eingenommen  hatten.  Aliud  quidpiam  legis  beneficio  et  disposiiione 
politica  adinveniendum  fuit,  quod  rerum  naturalium  viees  aequabili  com- 
mensuratione  subireU  (De  nummis  /,  1.  4.)  Auch  De  rerum  suff.,  p.  10 
betont  die  gleichzeitige  Notwendigkeit  der  bona  cpvosi  (Waaren)  und 
bona  roftm  (Geld) ;  weil  man  doch  Geld  und  Gold  nicht  essen  kann,  aber 
auch  die  Waaren  allein  nicht  genügen,  falls  kein  Geld  vorhanden  ist, 
womit  der  Eine,  was  ihm  fehlt,  zu  seinem  Gebrauche  von  Anderen  er- 
langt. —  Der  Zweck  des  Geldes  ist,  die  übrigen  Yermögensobjecte 
(x(ff/ftara)  zu  messen  und  abzuschätzen,  und  dadurch  im  Allgemeinen 
nützlich  zu  sein.  (De  nummis  I,  4.)  Ebenso  meint  Bornitz,  das  Geld 
diene  nicht  per  se  dem  menschlichen   Bedürfnisse ,   sondern   vno&iatt 


8)  Bornitz  war  ein  warmer  Verehrer  der  »Cbimiatrik«,  (a.  a.  0.  p.  99)  d.  h.  der 
von  Theophrastus  Paracelsus  begründeten  ärztlichen  Schule. 

9)  Also  ganz  wie  bei  Agricola  De pretio  metallorum  et  monetis,  in  der  Dedica- 
tion.    Aehnlich  schon  in  G.  Biel  Collectorium  sententiarum  IV,  \  5,  %. 

10)  Aehnlich  bei  Bodinus  De  rep.  V,  2. 


*3]  Aeltkre  deutsche  Nationalökonoiuk.  305 

tantum  constat,  obwohl  sein  Stoff  von  der  Natur  gegeben  ist.  (/.  c.  /,  1 .) 
Dessen  ungeachtet  hebt  er  energisch  hervor,  dass  jede  Münze  einen 
Stoff  haben  muss,  der  natura  suat  communi  hominum  consensu  volarem  et 
pretium  in  se  continet.     Wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  da  spricht  er  von 
einem  Attentate  gegen  Recht  und  Billigkeit  zum  Schaden  sowohl  der 
Unterthanen,  wie  der  Ausländer.    Gleichwohl  meint  er,  im  Innern  des 
Staates  sei  es  wenigstens  möglich,  das  Gesetz  des  Preises  nach  Belieben 
zu  dictiren.  (/.  c.  I,  5.)    Ueberall  klingt  eine  Ueberschätzung  der  obrig- 
keitlichen Vorschrift  durch:  nummus  non  est,  quod  ex  auro,  argento  et  aere 
est,  sed  quod  hisce  metallis  potestas  nummi  auctoritate  publica  tributa  est 
....  nummus  non  qyuou,  sed  vofim.  (I.  c.  I,  7.)    Edelsteine  passen  nicht 
zu  Geldzwecken,  weil  sie  keine  Formbarkeit  besitzen.  (/.  c.  /,  5.)    Als 
tiefsten  Grund  der  Thatsache,  dass  Gold  von  allen  Metallen  das  wert- 
vollste ist,  betrachtet  Bornitz  die  medicinische  Bedeutung  des  aurum  po* 
labile.  (De  verum  suff.,  p.  42.)    Ebenso  theilt  er  die  seiner  Zeit  so  be- 
liebte Ansicht,  dass  die  verschiedenen  Metalle  nur  verschiedene  Reife- 
grade eines  und  desselben  Körpers  seien,  daher  z.  B.  das  Glück  des 
Bergmanns  darin  besteht,  weder  zu  früh,  noch  zu.  spät  zu  kommen.  (/.  c. 
p.  40.)    Doch  ist  er  mit  den  übrigen  Lehren  der  Goldmacherei  durchaus 
nicht  ganz  einverstanden11.  —  Vortrefflich  erklärt  er  das  Eupfergeld: 
in  citri  tatibus,  quae  auri  et  argenli  copia  destiluuntur,  quarum  fines  non  ja* 
eile  egrediiur,  ex  quo  nummi  minimi  pretii  percutiendi,  egenorum  gratia, 
quum  argenti  etiam  minima  particula  pretiosa  sit.    (De  nummis  /,  *>.) 
Ebenso  unterscheidet  er  ganz  fein,  das  Geld  gehöre  zwar  dem  Jus  Gen- 
tium an,   sei  aber  doch  nicht  so,  wie  dieses,  mit  dem  Menschenge- 
schlechte  selbst  von  gleichem  Alter.    Ratio  naturalis  veluti  lex  quaedam 


\  I )  Wo  er  De  nummis  I,  5  vom  Golde  als  erstem  Metalle  spricht ,  fügt  er  hinzu : 
id  ntmtrtim,  quod  ex  venis  metallicis  natura  et  effossum,  vel  ex  arenulü  fluminum  col- 
lectum.  Ueber  das  aurum  artificiale  s.  chymicum  will  er  nicht  entscheiden.  Aehnlich 
De  aerario  II,  5.  Er  möchte  auch  keinem  Fürsten  rathen,  den  Mangel  der  Natur  durch 
solche  Kunst  ersetzen  zu  wollen.  Res  periculi  plena.  Aliorum  me  vestigia  terrent.  [De 
nummis  II,  6.)  Um  dies  zu  würdigen ,  darf  man  nicht  vergessen ,  dass  selbst  Kur- 
fürst August  von  Sachsen  Adept  zu  sein  glaubte.  Eo  usque  pervenmus,  ut  ex  VJII  ar- 
genti unciis  auri  perfcctissimi  undas  III  singulis  VI  diebus  eomparare  possimus :  mit  die- 
sen Worten  ladet  er  einen  italienischen  Adepten  zu  sich  ein,  falls  dieser  noch  weiter 
gekommen  sei.  (Peiferi  Epist.,  p.til.)  Wie  verbreitet  der  Alchymismus  damals  war, 
siebt  man  u.  A.  aus  dem  Spotte  inRollenhagens  Froschmeuseler  (1595),  sowie 
schon  früher  aus  Joh.  Clajus*  Satire  AltkumisUca  etc.  (1586.) 


306  Wilhelm  Röscher,  [44 

lacita  cum  genere  humano  prodiit,  singula  tarnen  effecia  eodem  tempore  $i- 
mul  non  prodidit.  Gegen  Tadler  des  Geldes  im  Sinne  von  Plinius  d.  AelL, 
Th.  Morus  u.  A.  bemerkt  er  treffend,  Verbrechen  seien  nicht  den  Sachen, 
sondern  der  Bosheit  der  Menschen  zuzurechnen.  (7,  4.) 

Ueber  das  Wesen  des  Kapitals  finden  wir  bei  Bornitz  wenig 
mehr,  als  Ahnungen.  Als  eine  zweite  Brauchbarkeit  des  Geldes  (neben 
dem  ursprünglichen  Nutzen :  dimensio  earum  rerum,  quae  meicis  loco  ha- 
bentur,)  nennt  er  dessen  Fähigkeit,  verliehen  zu  werden.  Diese  beruhe 
auf  seiner  fungibeln  Natur.  Wer  die  Zinsen  abschaffte,  würde  eben  da- 
mit potissimam  partem  negotiationis  abschaffen.  (De  nummis  I,  4.) 12  Er 
ist  auch  dem  Schatzwesen  des  Staates  nicht  günstig,  weil  thesauri  oc- 
culti  nihil  foenoris  parianl.  (De  aerario  X,  6.)  *? 

Ungleich  höher  entwickelt  ist  sein  Verständniss  vom  Mtinzwe- 
sen:  ein  neuer  Beleg  für  die  alte  und  wohlthuende  Erfahrung,  dass  je- 
des Zeitalter  die  für  sein  praktisches  Bedürfniss  unentbehrlichen  Ein- 
sichten früher  zu  gewinnen  pflegt,  als  die  zunächst  minder  unentbehr- 
lichen. Dass  freilich  nur  der  Staat  das  Recht  haben  soll,  Münzen  zu 
prägen,  wird  von  Bornitz  sehr  ungenau  bewiesen,  obschon  er  fast  bei 
jedem  Satze  eine  Stelle  des  Corpus  Juris  citirt.  Si  cuivis  privato  ex  suo 
auro  et  argento  nummos  facere  liceret,  qua  auctoritate  acciperenlur  a  con- 
civibus  et  ex  traneis?  Nulla  sane.  Cum  legis  potestas  tantum  publica  .... 
Legum  potestas  etiam  nummum  complectitur,  quippe  qui  lege  sit  et  exsi- 
statu.  (De  nummis  /,  3.)  Die  Zumischung  eines  unedlen  Metalles  sollte 
stets  mit  Rücksicht  auf  die  communis  lex  gentium  vorgenommen  werden, 
ut  duritiem  tantum  conciliet  et  saltem  expensas  aliquantillum  resarciat,  ut 
fertne  eadem  ratio  sit  metalli  et  pretii  nummi.  (/,  6.)  Auch  über  die  Not- 
wendigkeit des  gleichen  Gewichtes  gleicher  Münzen  durchaus  solide 
Ansichten.  (/,  7.)  Jedenfalls  ist  die  Legirung  ein  Hauptanlass  zur 
Münzfälschung ;  daher  auch  keinem  Goldschmiede  gestattet  sein  sollte, 
für  seine  Producte  ein  anderes  Korn  zu  wählen,  als  das  gesetzliche. 
Ebenso  gehört  ein  festes  und  massiges  Verhältniss  zwischen  Scheide- 

4  2)  Also  ganz  verschieden  von  Bodinus,  (De  rep.  V,  2,  p.  825)  der  selbst  die 
römischen  Zinsen,  die  er  für  %bis  \  Procent  jährlich  hält,  im  Principe  verwerflich  Ondet. 

4  3)  Hierbei  citirt  er  Girol.  Frachetla  De  principe  I.  Camerar.  Medit.  73.  Comi- 
naeus  De  beüo  Neapol.  II  und  Th.  Morus  Utopia. 

\  4)  Neben  manchen  Beispielen,  wo  auch  Prinzen,  Magnaten  etc.  das  Münzrecht 
geübt,  wird  noch  als  singulare  exemplum  erwähnt,  dass  Christus  potentia  divina  im 
Munde  eines  Fisches  gemünzt  habe.  (1.  c.) 


*5]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomtk.  307 

münze  und  grobem  Gelde  zu  den  Hauptmitteln,  der  Münzverschlechte- 
rung vorzubeugen.  (//,  5.) ,5  Bornitz  lobt  deshalb  das  Gesetz  K.  Fer- 
dinands vom  J.  4  559,  dass  Niemand  über  25  Fl.  in  Scheidemünze  an- 
zunehmen brauchte.  (/,  1 1 .)  Die  Prägung  mit  dem  Bilde  des  Fürsten 
erkennt  er  als  Mittel  gegen  Fälschung  an ;  doch  fügt  er  hinzu :  o  magna 
prudentum  inventa,  o  laudabilia  instituta  majorum,  ut  et  imago  principum 
8ubject08  viderelur  pascere  per  commercium,  quorum  consilia  vigilare  non 
desinunt  pro  salule  cunctorum!  (/,  8.)  Die  Stückelung  der  Münzen  soll 
nach  solchem  Verhältniss  geschehen,  dass  möglichst  viele  Theile  noch 
als  ganze  Ziffern  der  kleinsten  Einheit  erscheinen :  wie  z.  B.  der  halbe 
Gulden  30,  der  Viertelgulden  1 5  Xr.  hält.  Wenn  Bornitz  anheimgiebt, 
die  Gold-  und  Silbermünzen  von  gleicher  Grösse  und  Prägung  zu  ma- 
chen, so  dass  sich  der  Werth  jener  zu  diesen  genau  wie  12  zu  1 
verhalte  (/,  1 1 ) 16 :  so  beruhet  das  freilich  auf  einer  grundlosen  Vor- 
aussetzung der  Unwandelbarkeit  des  damaligen  Preisverhältnisses.  Da- 
gegen ist  seine  Erörterung  I,  12,  dass  die  von  Privaten  besessene 
Münze  nicht  mehr  dem  Münzherrn  gehöre ",  dass  sich  also  das  Wort : 
»gebet  dem  Cäsar,  was  des  Cäsars  ist«,  nicht  auf  die  Münze  beziehe, 
sondern  auf  die  Steuer,  durchaus  nicht  so  curios,  wie  es  dem  ersten 
Blick  scheinen  möchte.  Ich  erinnere  nur  an  die  früher  so  beliebten 
willkürlichen  Einziehungen  der  Münzen,  um  sie  verringert  wieder  aus- 
zugeben! Bornitz  missbilligt  alle  solche  Massregeln.    Wie  er  sich  auf 


15)  In  Sachsen  hatte  die  Gesetzgebung  schon  1474  den  Grundsatz  ausgespro- 
chen, »wo  mehr  kleiner  Münze  ist,  denn  man  zur  Entscheidung  der  Oberwehr  bedarf, 
ist  Schadena.    (Erb stein  in  v.  Langenn's  Albrecht  der  Beherzte,  S.  586  ff.) 

16)  Ganz  nach  Bodinus,  dessen  Kapitel  De  re  nummaria  (De  rep.  VI,  3)  Bor- 
nitz überhaupt  sehr  benutzt  hat.  Schon  Bodinus  hatte  die  Legirung  aus  dem  Grunde 
verworfen,  quia  natura  ipsa  ferre  non  potest,  ut  metallum  Simplex  alterius  loco  substi- 
tuatur,  propter  metallorum  naturas  colore,  eonitu,  volumine,  pondere  plurimum  inter  se 
dücrepantes.  Ungleich  feiner  argumentirt  in  dieser  Hinsicht  Scaruffi  Sülle  tnonete, 
(1579),  der  in  Gontracten  gewisse  Quantitäten  reinen  Goldes  etc.  zu  stipuiiren  räth 
(p.  98.  104  Cust.),  obschon  auch  er  das  Preisverhältniss  von  Gold  zu  Silbers  12  :  i 
als  ein  von  Gott  unwandelbar  gegebenes  ansieht  und  sich  dafür  auf  den  göttlichen 
Piaton  beruft,  (p.  84.) 

17)  Wie  noch  Pothier  meint,  dass  der  Fürst  sa  monnaie  unter  die  Privaten  ver- 
theile,  um  ihnen  als  Werthzeichen  zu  dienen,  {Traue  du  prit  de  comomption  I,  3,  No. 
37)  so  kommen  ähnliche  Ansichten  bereits  im  alten  Rom  vor.  (Puchta  Inst.  I,  S.  1 31 .) 
Uebrigens  hat  schon  Nicolaus  Oresmius  De  mutaHonibus  monetarum  gleich  nach 
der  Mitte  des  4  4.  Jahrhunderts  dieselbe  Auslegung  des  Bibelspruches,  wie  Bornitz. 


308  Wilhelm  Röscher,  [46 

das  Stärkste  gegen  die  Kipper  und  Wipper  ausspricht,  (De  rerum  suff., 
p.  11.  121.)  so  widerräth  er  jede  obrigkeitliche  Münzverringerung  mit 
dem  Nachweise,  dass  alle  Waarenpreise  dadurch  erhöhet,  alle  Steuer- 
erträge vermindert  werden.  (De  nummis  II,  1.)  Ebenso  entschieden 
verwirft  er  die  Finanz  massregel,  dieselben  Münzen  bei  der  Staatsein- 
nahme niedrig,  bei  der  Staatsausgabe  hoch  zu  valviren.  (I.  c.  II,  3.) 
Ueberhaupt  missbilligt  er  im  Interesse  der  allgemeinen  Sicherheit  jede 
Münz  Veränderung.  Es  sei  vernunftgemäss,  dass  der  Fürst  eine  solche 
nur  vornehmen  könne,  entweder  causa  gravissima  urgente,  oder  mit 
ausdrücklicher  oder  stillschweigender  Genehmigung  des  Volkes.  (II,  9.) lg 

Ein  verwandter  Gegenstand  sind  die  Quasinummi,  d.  h.  nummi 
materiae  extraordinariae  formaeque  imperfectioris.  Bornitz  denkt  hier- 
bei u.  A.  an  Papiergeld,  Ledergeld  etc.  Wenn  er  dessen  Creditcha- 
rakter  auch  nicht  versteht,  so  betont  er  doch  sehr,  dass  es  nur  in 
Nothföllen  ausgegeben,  und  sofort  nach  Beendigung  der  Noth  mit  gu- 
tem Gelde  wiedereingelöst  werden  soll.  (De  nummis  I,  1 4.) 

Für  die  Entwickelung  des  sog.  Mercantilsystems  haben  die 
Mittel  grosse  Bedeutung,  welche  Bornitz  empfiehlt,  um  der  amissio 
nummorum  vorzubeugen.  Alle  Geldausfuhr  soll  untersagt,  alle  Waa- 
renausfuhr,  damit  sich  kein  Geldschmuggel  dahinter  verstecke,  über- 
wacht werden:  so  lange,  bis  alle  Nachbarvölker  mit  uns  dieselben 
Münzgesetze  haben  und  wirklich  beobachten.  Auch  fremde  Glücks- 
töpfe und  Schauspieler  sind  zu  verhindern,  dass  sie  unser  Geld  weg- 
saugen. Ein  sehr  gutes  Mittel  besteht  darin,  den  ganzen  Handel  mit 
edlem  Metall  dem  Fürsten  als  Regal  vorzubehalten,  wobei  Wechsler 
(wie  in  England,  Italien  etc.,)  den  ausländischen  Verkehr  möglich  ma- 
chen. Zugleich  werden  Luxus  verböte  gegen  kostbares  Silbergeschirr, 
Tressen  etc.  empfohlen,  wobei  der  Verfasser  meint,  dass  die  Frem- 
den, um  recht  viel  Geld  abzuholen,  besonders  merces  speciosas,  vo- 
luptarias  et  arte  elaboratas,  in  quibus  nihil  nisi  manus  opera  et  voluptas 
inest,  einführen,  v.  c.  suffimenta,  gemmas,  perlas,  quarum  rerum  Maxi- 
mum pretium,  sei  usus  frustraneus.  (II,  4.  6.)  Also  ein  Schwanken 
zwischen  der  altern  Ansicht,  die  sich  auf  Münz-  und  Luxuspolizei- 
gründe stützt,   und  dem  neuern  Mercantilismus ! tt   —  Eine   förmliche 

4  8)  Auch  Bodinus  lehrt :   principi  non  magis  licet,  mproba  numismata  cudere, 
quam  occidere,  quam  grassari.  (De  rep.  VI,  3.) 

4  9)  Dagegen  hatte  Bodinus  seine  zumTheil  sehr  ähnlichen Mercantilideen  mehr 


*7]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomie.  309 

Theorie  des  letztern  findet  sich  aber  De  numtnis  II,  8:  de  incremento 
uummorum  in  republica  parando.  Dies  wird  ausdrücklich  von  der  Ver- 
mehrung des  Staatsschatzes  unterschieden:  die  Geldvermehrung  be- 
treffe sowohl  den  öffentlichen,  wie  den  Privatnutzen.  Publice  interest, 
non  tantum  nummos  in  republica  exsistere,  verum  eliam  ad  potentiam 
ejus  stabiHendam  summopere  opus  est ,    eos  maxima  copia  adesse.     Sunt 

enim  nummi  nervi  rerum  Imbellem  dixeris  civitatem,  quae  aliis  bonis 

abundet  nummis  destituta  ...  Ut  duobus  modis  nummi  parantur,  ita  quo- 
que  rempublieam  iisdem  ditari  consequens  est :  nummorum  fabricatiane  et 
illalione  alienarum.  Jener  ersten  dient  der  Bergbau,  welcher  den  Stoff 
liefert.  Daher  muss  der  Forst  eifrig  sein  zur  Bebauung  der  alten  Gru- 
ben, wie  zur  Aufsuchung  neuer.  In  diesem  Punkte  hegt  Bornitz  für 
Deutschland  immer  noch  grosse  Hoffnungen.  Wo  aber  die  Natur  des 
Landes  Gold  und  Silber  verweigert,  da  muss  ars  naturam  imitari.  Vi- 
deat  princeps,  quibus  modis  tnediisque  nummos  exoücos  quasi  aucupari 
possit.  Dies  geschieht  entweder  durch  Handel,  oder  conversatione  po* 
pulorum.  Wer  also  ein  Land  geldreich  machen  will,  der  muss  den 
Handel  befördern  durch  Einrichtung  von  Messen  und  Märkten,  durch 
allerlei  Immunitäten  für  die  Kaufleute,  namentlich  zur  Messzeit.  Ut  00 
casio  praebeatur  in  tua  republica  nummis  inferendis,  operam  adhibe,  ut 
studio  agriculturae  et  opificia  assiduis  laboribus  tractentur  . . .  Tellus  na- 
tura et  foecunditate  sua  variam  materiam  profert  ...  Rudern  indigestam* 
que  et  effbrmem  (informem?)  pkrumque  materiam,  quae  effbrmata  decies 
materiem  manus  pretio  superare 20  solet.  Daher  müssen  collegia  ingenio- 
sissimorum  opißcum  errichtet  werden,   die  nicht  blos6   für  ihr  Land, 


aus  finanziellen  Grundsätzen  entwickelt:  De  rep.  VI,  p.  t02t  ff.  Der  etwas  spätere 
Antonio  Serra  (1613)  dringt  mit  seinem  Merkantilismus  doch  schon  viel  tiefer  in 
die  Natur  der  Gewerbe  ein.  Es  ist  vorteilhafter,  Fabrikate  auszuführen,  als  andere 
überschüssige  Waaren,  weil  jene  sicherer  sind,  nicht  von  der  Witterung  etc.,  son- 
dern nur  von  den  Menschen  selbst  abhängen,  leichter  aufbewahrt  und  transportirt 
werden  können,  ganz  vornehmlich  aber,  weil  ihre  Masse  beliebig  gesteigert  werden 
kann,  und  der  Gewinn  doch  entsprechend  bleibt,  ja  wegen  Verringerung  der  Pro- 
ductionskosten  wohl  gar  noch  grösser  wird,  zum  grossen  Unterschiede  z.  B.  vom 
Saatkorn.  (Sülle  cause,  che  possono  far  abbondare  tw  regno  di  monete  etc.,  /,  3.)  Um 
auch  eines  Spaniers  hier  zu  gedenken,  so  will  Maria  na  die  fremden  Gewerbepro* 
ducte  hoch  besteuert  wissen,  damit  nicht  so  viel  Geld  ausser  Landes  geht,  und  zu- 
gleich die  fremden  Handwerker  durch  Uebersiedeiung  nach  Spanien  dessen  Volkszahl 
vermehren.  (De  rege  et  regis  institutione,  4  598,  ///,  7    10). 

20)  Sehr  ähnlich  Boter o  Delta  ragion  di  stato,  (1594)  p.  92  fg. 


310  Wilhelm  Röscher,  [48 

sondern  auch  fiir  das  Ausland  arbeiten.  Dolendum  est,  populos  quo** 
dam2x  admodum  vecordes  et  caecos  exteris  nationibus  materiam  rudern  ve- 
nalem  exponere,  spe  exigui  lucelli,  quam  indutam  postmodum  vartis  for- 
mte centuplo  revendant  iis,  a  quibus  eam  nacti  fuerint.  Auch  der  tech- 
nologische Abschnitt  des  Buches  De  rerum  sufficientia  betont  es  ener- 
gisch, wie  die  Natur  von  der  Kunst  besiegt  werden  könne,  indem  die 
Arbeit  einen  grössern  Werth  hervorbringt,  als  der  Rohstoff,  (p.  59.) 
Daher  man  Rohstoffe  nicht  aus-,  sondern  einführen  soll,  kein  Geld  ftir 
Luxusartikel  aus  dem  Lande  lassen  etc.  (p.  68.  232.)  Kann  ein  Land 
nicht  mehrere  Gewerbzweige  haben,  so  doch  wenigstens  einen,  worin 
es  hervorragt.  (De  nummis  II,  8.)  Bornitz  scheint  zu  ahnen,  dass  je- 
des Land  in  seiner  ökonomischen  Eigentümlichkeit  etwas  Unnachahm- 
liches besitzt,  (De  rerum  suff.,  p.  231)  obschon  er  andern  Ortes  wie- 
der meint,  von  der  Seidenzucht  sollte  man  sich  ja  nicht  durch  geo- 
graphische Bedenklichkeit  abschrecken  lassen.  (/.  c,  />.  34.)22  —  Unter 
der  conversatio  populorum  versteht  er  die  wirthschaftliche  Anziehung, 
welche  durch  aulae  principum,  summa  tribunalia,  academiae,  ludi  publici, 
urbium  amoenitas,  thermae  etc.  ausgeübt  wird.  (De  nummis  II,  8.  De 
rerum  suff.,  p.  53.) M 

Die  Handwerksverfassung,  welche  Bornitz  empfiehlt,  ist 
ganz  die  zu  seiner  Zeit  praktisch  übliche ;  selbst  Manches  darin,  was 
dem  geschriebenen  Rechte  zuwiderlief.  (De  rerum  suff.,  p.  69  fg.  72.) 
Auch  in  Bezug  auf  die  Bäckerpolizei  trägt  er  wesentlich  das  damals 
praktische  System  vor.  (/.  c,  p.  87.)  Dabei  finden  sich  schöne  An- 
fänge einer  Gewerbestatistik  seiner  Zeit,  indem  wenigstens  von  vie- 
len Zweigen  der  Ort,    wo   sie    am   meisten   blühen,    genannt  wird. 


2 1 )  Wie  kosmopolitisch,  nach  deutscher  Weise  1 

SS)  Wahrscheinlich  dachte  Bornitz  hierbei  an  den  berühmten  Streit  zwischen 
Heinrich  IV.  und  Sully,  wovon  die  Economies  royales,  Livre  XVI  berichten.  Sully  war 
gegen  die  Berufung  von  Seidenarbeitern,  Pflanzung  von  Maulbeerbäumen  etc.  in  Frank- 
reich. Dieser  neue  Gewerbzweig,  während  das  französische  Volk  ohnehin  vollbe- 
schäftigt sei,  erfordere  zu  grosse  Opfer.  Jedes  Land  habe  seine  eigenthümlichen  Vor- 
züge, die  es  kultiviren  müsse ;  für  den  Seidenbau  hingegen  sei  das  französische  Klima 
zu  rauh.  Der  Erfolg  hat  gezeigt,  wer  bei  diesem  Streite  mehr  Einsicht  bewährte,  das 
Genie  des  Königs,  oder  das  Talent  des  Ministers. 

2 3 )  Dies  sind  Gegenstände,  worüber  Hippolytus  a  Collibus  und  sehr  viel 
geistreicher  Botero  gehandelt  hatten. 


49]  Abltbbe  deutsche  Nationalökonomik.  311 

(p.  108  ff.)    Es  hängt  wohl  hiermit  zusammen,  dass  schon  Bornitz  an 
die  Möglichkeit  einer  Gewerbesteuer  denkt.  (De  aerario  V,  8.) 24 

Seine  Finanzwissenschaft  bildet  den  grellsten  Gegensatz  zu 
Obrecht.  Zwar  sagt  auch  Bornitz  in  der  Zueignung  seines  Buches 
De  aerario  an  die  Finanzm&nner,  dass  in  den  nervis  publicis  poientiae, 
dignitalis  et  aulhoritatis,  adeoque  salutis  publicae,  post  religionis  etjustitiae 
fulcra  maxima  vis  continetur.  Das  Bedttrfhiss  des  Staates  an  Natura- 
lien und  Geld  vergleicht  er  mit  dem  Nahrungsbedttrfnisse  der  aus  Leib 
und  Seele  zusammengesetzten  Einzelmenschen.  (De  aerario  I,  1 .)  Da- 
gegen ist  er  ein  entschiedener  Lobredner  der  Domänenwirthschaft  2&9 
ohne  die  weder  einem  Staate,  noch  einer  Schule  etc.  die  gehörige  Si- 
cherheit könne  zugeschrieben  werden.  (/,  3.)  Princeps  omnia  possi- 
det,  haud  tarnen  possidet  dominio,  sed  impeiio.  (VII,  3.)  Beim  Jagd- 
regale ist  von  den  Jagdschaden  keine  Rede;  wohl  aber  halt  es  Bor- 
nitz für  nöthig,  die  Anständigkeit  des  Verkaufes  von  Wildpret  des 
Fürsten  an  Privatpersonen  zu  vertheidigen.  (/,  4.)  Er  ist  in  der  Re- 
gel sehr  gegen  den  Betrieb  von  Gewerben  oder  Handel  durch  den 
Staat,  ausgenommen  die  Falle,  wo  das  Gemeinwohl  es  fordert,  wie 
beim  Münzen;  oder  wo  die  Privatkräfte  für  einen  unentbehrlichen 
Handelszweig  nicht  ausreichen;  oder  endlich,  wo  der  Fiscus  eines 
solchen  Einkommens  gar  nicht  entbehren  kann.  (//,  1.  2.  Aehnlich 
De  rerum  suff.,  jp.  73  fg.)26  Von  Lotterien  sagt  er:  nee  suadeo,  nee 
dmuadeo.  (De  aerario  II,  4.)  Gegen  Aemterverkauf  ist  er  sehr;  höch- 
stens den  Fall  ausgenommen,  wo  derselbe  als  Form  einer  Staatsan- 
leihe gebraucht  wird.   (II,  6.    VII,  1.)     Uebrigens   pflegt  Bornitz  bei 

24)  Wahrend  noch  4  758  v.  Justi  etwas  ganz  Neues  vorzuschlagen  meinte,  in- 
dem er  als  Gegensatz  zu  den  bisherigen  Accisen  eine  Gewerbesteuer  empfahl.  (Staats- 
wirthschafl  II,  S.  373  ff.) 

25)  Auch  Bodinus  zieht  die  Domänen  jeder  andern  Staatseinnahmsquelle  vor. 
Wenn  er  die  Unveräusserlichkeit  und  Unverjährbarkeit  des  Domaniums  so  sehr  be- 
tont, so  z.  B.  jeden  Rathgeber,  der  um  des  grössern  Vortheils  willen  Domänen  zu  ver- 
kaufen räth,  beschuldigt:  tyrannidem  et  reipublicae  perniciem  molitur  (De  rep.  VI,  2), 
so  konnte  dergleichen  freilich  unserem  Bornitz  kaum  einfallen,  da  in  den  deutschen 
Territorien  kein  Praktiker  an  Domänenveräusserung  dachte. 

26)  Botero  hatte  den  Staatshandel  in  folgenden  Fällen  gebilligt:  wenn  das  Ge- 
schäft zu  kostspielig  oder  gefährlich  ist,  als  dass  Privatpersonen  es  treiben  könnten ; 
wenn  die  Privatbetreiber  sich  zu  sehr  bereichern  würden ;  wenn  es  zum  Öffentlichen 
Nutzen  geschieht.  (Ragion  di  Stato,  p.  100.)  Bornitz  steht  in  dieser  Lehre  offenbar 
höher. 

Abhandl.  d.  K.  8.  Oct.  d.  Witt.   X.  2* 


312  Wilhelm  Rosciieb,  [50 

jeder  Polemik  auch  seinem  Gegner  billig  das  Wort  zu  lassen.  Das 
Lehnwesen  halt  er  noch  immer  für  nothwendig.  (7/,  7.)  Gütercon- 
fiscation  als  Strafe  scheint  ihm  sehr  bedenklich27,  (///,  6)  obschon  er 
Geldbussen,  wie  Luxussteuern,  wegen  des  sittlichen  Nutzens  lobt.  (IV,  6.) 
In  Bezug  auf  Steuern  überhaupt  stellt  er  den  Grundsatz  auf:  ut  nemo 
plus  oneris  sustineal,  quam  emnlumenti  et  lucri  ex  rebus  capiat  (V,  2): 
also  Verhältnissmässigkeit  der  Besteuerung  nach  dem  Einkommen. 
Gleichwohl  erklärt  er  es  für  die  grösste  Ungerechtigkeit,  wenn  alle  Un- 
terthanen  besteuert  würden.  Manche  Personen  wie  Sachen  müssen 
einer  Immunität  geniessen,  die  bei  anderen  gehässig  wäre :  so  z.  B.  Ge- 
sandte, Scholaren,  Geistliche,  Edelleute ;  von  Sachen  besonders  alimenta. 
(IV,  2.),2S  Vor  zu  hohen  Steuern  wird  schlechthin  gewarnt:  pluris  ma* 
gistratui  opulentia  subdilorum  esse  debet,  quam  reditus.  (IV,  3.)  Die  Steuer 
von  Auswanderern  sucht  Bornitz  ebenso  naiv  als  absolutistisch  aus  der 
Dankbarkeit  wegen  des  früher  genossenen  patrocinium  zu  erklären,  weil 
die  Obrigkeit  als  Vater  des  Vaterlandes  gelten  müsse.  (IV,  7 ;  besser  V,  9.) 
Von  Staatsanleihen  ist  er  durchaus  kein  Freund;  er  meint,  ein  Fürst 
komme  dadurch  so  leicht  in  übeln  Ruf,  dass  er  sie  lieber  auf  den  Namen 
eines  Unterhändlers  gehen  lassen  sollte.  (VII,  1.)20  In  dem  Kapitel:  de 
vectigalibus  illicitis  eifert  er  mit  grosser  Wärme  gegen  Hurensteuern  etc. 
(VIII,  1.)  Wie  sehr  es  Bornitz  an  Schärfe  mangelt,  sieht  man  u.  A.  im 
X.  Buche,  von  den  Schätzen,  wo  nur  Kap.  6  vom  wirklichen  Staats-  - 
Schatze  handelt,  alles  Uebrige  bloss  von  Kassen,  die  nur  ganz  uneigent- 
lich Schätze  genannt  werden. 

Wir  haben  im  Eingange  dieses  Kapitels  an  Opitz  erinnert,  um  da- 
durch von  einer  gewissen  Seite  her  Bornitz'  Verhältnisse  klarer  zu  ma- 
chen. Dieselbe  Analogie  bewährt  sich  aber  auch  insofern,  als  die  schöne 
Literatur  in  Opitzens  Zeit,  sowie  die  Thätigkeit  der  fruchtbringenden  Ge- 
sellschaft überwiegend  auf  Uebersetzungen  gestellt  war.     Freilich  hat 


27)  Bodinus  billigte  zwar  die  Vermögensconfiscation  im  Allgemeinen  nicht; 
doch  hielt  er  eine  theilweise  Gütereinziehung  (etwa  der  Errungenschaften  des  Verbre- 
chers) für  nothwendig,  schon  weil  ohne  praemia  delatorum  vix  ulla  scelerum  ultio  fu- 
Iura  est.  (De  rep.  V,  3,  p.  842.) 

28)  Diese  damals  beinahe  von  allen  guten  Theoretikern  eingeschärfte  Lehre  trägt 
auch  M  a  r  i  a  n  a  vor :  De  rege  III,  7 . 

29)  Dagegen  hatte  Bodinus,  welcher  Steuern  nur  im  grössten  Nothfalle  billigt, 
Anleihen  für  ein  kleineres  üebel  gehalten:  De  rep.  K/,  2,,/j.  1022. 


51]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  313 

ein  compilatorisch-encyklopädisches  Wirken  auf  dem  Gebiete  der  Poesie 
noch  weniger  Verdienstliches,  als  auf  dem  der  Wissenschaft.  Wie  un- 
ser Bornitz  durch  Reisen  und  Leetüre  von  jedem  Auslande  zu  lernen 
suchte,  ganz  besonders  aber  ein  Bewunderer  Hollands  war 30,  so  erklärte 
Opitz  in  der  ersten  Ausgabe  der  Gedichte,  (S.  11)  dass  die  hollandische 
Poesie  die  Mutter  der  hochdeutschen  sei.  Besonders  verehrte  er  Grotius 
und  Heinsius,  und  in  derselben  Weise  hielt  sich  Andreas  Gryphius  spä- 
ter an  Yondel.  So  hatte  Schuppius  in  seiner  Schrift  von  der  Einbildung 
(Opp.  /,  508)  von  Holland  zu  rühmen,  dass  sich  dort  unter  den  Hand- 
werkern Leute  fänden,  vor  denen  mancher  Studierte  sich  schämen 
müsse31. 


IV. 

Die  Anfänge  der  geschichtlichen  Volkswirtschaftslehre. 

Christoph  Besold  ist  1577  zu  Tübingen  geboren,  hat  ebenda 
4  595  bis  1597  die  Rechte  studiert,  1598  den  Doctortitel  und  1610  die 
Professur  der  Rechte  erlangt.  Wenn  ein  so  glänzendes  akademisches 
Talent  verhältnissmässig  so  spät  dieses  Ziel  erreichte,  so  liegt  das  zum 
grossen  Theil  an  der  Ungeheuern  Vielseitigkeit  seiner  Studien,  die  an 
Hugo  Grotius  erinnert.  Besold  verstand  Griechisch,  Hebräisch,  Chal- 
däisch,  Syrisch,  Arabisch 1  ausser  den  vornehmsten  neueren  Sprachen ; 
neben  der  Staats-  und  Rechtswissenschaft  im  weitesten  Sinne  des  Wor- 
tes, neben  Geschichte  und  Philosophie  trieb  er  die  heilige  Schrift  in  ih- 
ren Ursprachen,  und  eine  ausgedehnte  Leetüre  der  Kirchenväter,  Scho- 
lastiker, Mystiker  etc.  Jugler  hat  in  seinen  Beiträgen  zur  juristischen 
Biographie  I,  S.  82  ff.  ein  Verzeichniss  von  92  Schriften  Besolds  zu- 
sammengestellt, die  1598  bis  (posthum)  1646  erschienen  sind,  zum  Theil 
von  mächtigem  Umfange  und  viele  davon  in  wiederholten  Auflagen.  Un- 
ter diesen  Schriften  sind  Pandektencommentare ,  Werke  über  Theorie 
und  Praxis  des  Processes,  der  grosse  juristische  Thesaurus  practicus2, 


30)  Vgl.  De  rerum  suff.,  p.  38.  <  10.  233. 

31)  Vgl.  Gervinus  Gesch.  der  deutschen  Dichtung  III,  S.  f  82.  420. 

1)  Vgl.  A.  Rath  Luctus  academiae  Ingolstadt,  in  obitum  Chr.  Besoldi,  p.  f  0. 

2)  Nach  einem  oft  bestätigt  gefundenen  Urtheile,  mit  Wehners  ähnlichem  Werke 
verglichen,  uberfate  major,  judicio,  ordine  ac  selectu  minor. 


314  Wilhelm  Rose  heu,  [52 

Werke  über  allgemeines  Staatsrecht,  deutsches  Reichsrecht,  württem- 
bergisches Landesrecht,  über  Völkerrecht  und  Diplomatie,  Politik,  Volks- 
wirtschaft, mehrere  Zweige  der  Specialgeschichte,  allgemeine  Weltge- 
schichte, aber  auch  über  Philosophie  und  Theologie  im  Allgemeinen. 
Der  Verfasser  galt  nicht  allein  für  eine  glänzende  Zierde  seiner  Univer- 
sität, sondern  war  auch  bei  seiner  Regierung  so  angesehen,  dass  er  Aus- 
sicht auf  die  höchsten  Staatsämter  hatte.  Um  so  tiefer  musste  es  seine 
Landsleute  empören,  als  er  nach  der  Nördlinger  Schlacht,  wie  der  Her- 
zog von  Württemberg  floh  und  eine  österreichische  provisorische  Regie- 
rung das  Land  verwaltete,  in  diese  letztere  als  Geheimer  Rath  eintrat, 
öffentlich  katholisch  wurde  und  sogar  in  einer  Reihe  von,  archivalisch 
sehr  wohlbeschlagenen,  Werken  den  Beweis  versuchte,  dass  die  würt- 
tembergischen Klöster  durchaus  vom  Herzoge  unabhängig  seien.  Fast 
ein  Drittel  seines  damaligen  Umfanges  wäre  dem  Lande  hiermit  abge- 
sprochen gewesen !  Kein  Wunder  also,  wenn  ihn  Job.  Peter  von  Lude- 
wig deshalb  arcanorum  istius  prineipatus  malevolum  proditorem  nennt; 
oder  wenn  Spittler  meint,  »sein  frommes,  ruhmvolles  Leben  krönte  end- 
lich die  schändlichste  Apostasie,  den  zwanzigjährigen  treuen  Dienst  für 
Fürst  und  Vaterland  endigte  die  elendeste  Verräthersbosheit !«  Aber 
auch  Oesterreich  scheint  die  Klosterschriften  Besolds  mit  keinem  gün- 
stigen Auge  betrachtet  zu  haben ,  da  es  Württemberg  wohl  schon  ganz 
ftlr  seine  eigene  sichere  Beute  hielt.  Jedenfalls  sehen  wir  Besold  1 637 
als  kurbayerschen  Rath  und  Professor  nach  Ingolstadt  ziehen.  Wie  be- 
rühmt er  war,  zeigte  sich  bald  in  dem  Wetteifer,  mit  welchem  der  Kai- 
ser ihn  für  Wien,  der  Papst  ftlr  Bologna3,  ja  u.  A.  selbst  der  däni- 
sche Hof  in  gewinnen  suchten.  Indessen  starb  er  bereits  am  1  5.  Sep- 
tember 1638  zu  Ingolstadt. 

Spittler  hat  die  Umwandlung  Besolds  geschichtlich  in  ein  milderes 
Licht  zu  stellen  gesucht4.  Er  weiset  nach,  dass  der  förmliche  Ueber- 
trilt  zum  Katholicismus  lange  vor  der  Nördlinger  Schlacht,  am  I .  Au- 
gust 1630,  erfolgt,  alsdann  freilich  vier  Jahre  lang  verheimlicht  worden 
ist.  Auch  vorbereitet  war  er  seit  lange,  zumal  durch  Besolds  patristi- 
sche.  tbeosophische  und  mystische5  Studien.     Schon  1626  hatte  dessen 


3)  Angeblich  mit  dem  für  jene  Zeit  enormen  Gehalte  von  4000  Scudi  jährlich. 

4)  Werke  Xlf,  S.  983  ff. 

5)  Besold  citirt  namentlich  den  Eckard  sehr  gern;  Schriften  von  Tauler,  Staupitz, 
Savonarola  hat  er  herausgegeben. 


53]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  31$ 

Lehrer  und  Freund,  der  grosse  Kepler,  zu  Linz  das  Gerücht  seines  Ab- 
falls vom  Lutherthume  vernommen6.  Den. Ausschlag  seiner  Zweifel  gab 
die  Geburt  einer  Tochter  nach  29jähriger  unfruchtbarer  Ehe ,  die  er  als 
wunderbare  Erhörung  eines  Gelübdes  ansah.  Nach  alle  diesem  zweifelt 
Spittler  nicht  an  seiner  Uneigennützigkeit ,  und  möchte  ihn  mehr  be- 
dauern, als  verdammen. 

Wir  gehen  unbedenklich  noch  weiter.  Kein  Historiker  wird  heut- 
zutage verkennen,  dass  im  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  das  verknö- 
cherte Lutherthum  der  Concordienformel  wenigstens  nicht  mehr  geistige 
Freiheit  gewährte,  als  der  Katholicismus.  Gerade  Keplers  Schicksal  be- 
weiset dies  aufs  Deutlichste,  dessen  Verfolgung  in  Württemberg  durchaus 
nicht  so  aus  Persönlichkeiten  zu  erklären  ist,  wie  die  Galileis  im  Kir- 
chenstaate. Nach  dem  Buchstaben  des  Rechts  waren  die  Ansprüche  der 
katholischen  Partei  damals  in  der  Regel  besser  gegründet,  als  die  prote- 
stantischen. Hierzu  kommt  nun,  dass  unser  Besold  ein  wesentlich 
historischer  Kopf  war,  obschon  keiner  vom  ersten  Range.  Wie  er 
bei  jeder  Gelegenheit  sein  Herz  ausschüttet  über  die  Vergänglichkeit  aller 
Staaten 7,  so  haben  auch  seine  Urtheile  über  das,  was  sein  soll,  durchweg 
etwas  sehr  Relatives.  Keine  Staatsform  hält  er  für  unbedingt  vorzüg- 
licher, als  eine  andere.  (De  rerumpublicarum  inter  se  comparatione,  1 623, 
p.  195.)  Er  nimmt  bei  solchen  Fragen  immer  die  grösste  Rücksicht 
auf  die  Verschiedenheit  der  Volkscharaktere :  dass  z.  B.  die  Franzosen 
keine  Freiheit,  die  Schweizer  keine  Knechtschaft  ertragen.  (Synopsis  po- 
liticae doctrinae,  1623,  p.  90.) 8  Besonders  wichtig  sind  die  methodo- 
logischen Bemerkungen,  welche  die  Vorrede  zu  der  Schrift  Principium 
et  finis  politicae  doctrinae  enthalt.  Non  aliquant  descripsi  civitatis  ideam, 
h.  e.  talem  reipublicae  formam,  qualem  esse  velim  ex  meo  sensu :  id  quod 
Plato,  Morus,  Campanella  aliique  fecerunt.  Sed  de  politiis  jureque  publico 
dissero,  qualia  nunc  sunt»  vel  fuerunt  olim ;  id  quod  proderit  forsan  cum 
ad  kistoricorum,  tum  rerum,  quae  indies  geruntur,  aliqualem  dijudicationem 


6)  Kepleri  Epütolae,  p.  £81.374.  Besold  war  zu  wiederholten  Malen  in  Glau- 
bensuntersuchung gewesen:  I69S  mehr  als  »fanatisch- verdacht  ig,«  I6S6  mehr  als 
»katholisch- verdächtig.«  (Spittler  a.  a.  0.,  S.  300.) 

7)  So  z.  B.  Principium  et  finis  politicae  doctrinae,  (1625)  p.  78  ff. 

8)  Auch  in  der  Form  ist  er  nichts  weniger,  als  apodiktisch ;  indem  er  am  lieb- 
sten jede  Frage  durch  eine  Menge  \on  Citaten  beantwortet,  denen  bloss  im  Eingange 
kurz  beigepflichtet  wird. 


316  Wilhelm  Röscher,  (54 

Ego  omnia  disctUienda  magis  a  lectoribus,  quam  statuta  ac  de  finita 

soleo  semper  proferre.  Qui  quaerunt  cauta  sollicitudine  veritatem,  parati, 
quum  invenerint,  cedere,  haeretici  non  sunt,  ait  D.  Augustinus.  Pulo  haue 
libertatem  multo  minus  in  politico  scripto  mihi  denegatum  tri.  Namque  hie 
cumprimis  praescribo,  imo  adjuro  tibi,  lector,  quisquis  es,  ea,  quae  de  re- 
bus disputo  gravissimis,  non  judicare  me,  sed  disserere ;  haud  decisionis  me 
agere  arbitrum,  sed  quaesitoris  instar  umae  praeesse.  —  Eine  solche  Sin- 
nesart ist  vortrefflich  geeignet  zur  historischen  Forschung,  wofern  sie 
nicht  an  der  Oberfläche  der  menschlichen  Dinge  haften  bleibt,  sondern 
mit  scharfer  Urtheilskraft  in  deren  Inneres  eindringt9.  Aber  sie  ist  auch 
in  Zeiten  grosser  Parteikämpfe  ein  fruchtbarer  Boden  sittlicher  Versu- 
chungen, selbst  für  reine  und  gute  Menschen,  die  nicht  entweder  Selbst- 
kenntniss  und  Vorsicht  genug  besitzen,  um  streng  das :  Bene  vixit,  qui 
bene  latuit,  festzuhalten,  oder  von  einer  ungewöhnlichen  Charakterstärke 
getragen  werden. 

Besolds  politische  Ansichten,  die  natürlich  mit  seiner  Volks- 
wirtschaftslehre auf  das  Engste  zusammenhängen,  erkennt  man  am 
klarsten  in  seiner  Synopsis  politicae  doctrinae,  die  er  zuerst  1 623  als 
Tübinger  Professor  veröffentlichte,  zuletzt  in  vierter,  sehr  bereicherter 
Auflage  1637  von  Ingolstadt  aus10.  Hier  wird  gegen  die  Naturstands- 
lehrer auf  die  natürliche  Geselligkeit  der  Menschen  in  aristotelischer  Weise 
Bezug  genommen,  (p.  1 7.)  Republikanisch  gesinnt  ist  Besold  nicht.  Seine 


9)  Schon  Chr.  Thoinasius  bemerkt  von  Besold,  er  sei  zwar  durchaus  kein  skla- 
vischer Aristolelesjünger  gewesen,  habe  jedoch  neben  multa  diligentia,  magnum  inge- 
nium  nur  exiguum  Judicium  gehabt.  Seine  Schriften  seien  oll  blosse  collectanea,  abs- 
que  iudicio  conscripta,  male  cohaerenlia,  frequentibus  digressionibus  adhuc  magis  con- 
fusa.  (Oratt.  acadd,,  p.  522.)  Nach  einer  nicht  unglaubwürdigen  Notiz  bei  Arnd. 
Bibliotkeca politico- heraldica  p.  246  halte  Besold  ungeheuer  viel  gelesen,  seine  Ex- 
cerpte  aber  grösstenteils  durch  Candidaten,  welche  er  in  seinem  Hause  hielt,  regi- 
striren  lassen.  Die  vielen  Ungenauigkeiten  seiner  Bücher  seien  namentlich  dadurch 
entstanden,  dass  seine  Gehülfen  die  Excerpte  falsch  aufgefasst  oder  in  falsche  Rubri- 
ken eingetragen,  er  selbst  aber  den  Fehler  nachher  zu  berichtigen  versäumt.  Uebri- 
gens  giebt  er,  auch  hiervon  abgesehen,  nur  zu  häufig  statt  wirklicher  Theorie  oder 
Geschichte  eine  blosse  Nomenclatur  mit  angefügter  Rechtscasuistik :  vgl.  z.  B.  die 
Stelle  von  den  servis  modernis,  d  h.  Bauern  etc.,  in  der  Schrift:  De  tribus  domesticae 
societatis  speciebus,  (4  626)  p.  27. 

10)  Ein  Auszug  aus  der  Sammlung  von  Abhandlungen,  die  schon.  161 4  unter 
dem  Titel:  Collegium  politicum,  ( 6 1 8  vermehrt  als  Po  lilicorum  libri  //.  erschienen  sind. 
Die  Synopsis  erlebte  noch  drei  Auflagen  nach  des  Verfassers  Tode. 


55]  Aeltebe  deutsche  Nationalökonomik.  317 

klassischen  Erinnerungen  bewirken  nur  die  Anerkenntniss,  dass  die  Re- 
publik eigentlich  die  beste,  Gott  wohlgefälligste  Staatsform  sei,  aber  wie 
ein  Instrument,  das  am  schwersten  gelernt  und  am  leichtesten  verstimmt 
werde.  (Vorrede.)   In  der  Wirklichkeit  sei  es  jedoch  immer  noch  besser, 
einen  schlechten  Herrscher  zu  haben,  als  gar  keinen,  (p.  25.)    Auf  der 
andern  Seite  will  Besold  aber  auch  kein  monarchischer  Absolutist  sein. 
Wenn  er  selbst  dem  englischen  Parlamente  nicht  das  Recht  zugesteht, 
praefracte  regt  contradicendi,  sed  tantummodo  dissuadendi  (p.  97) ;  wenn 
er  sogar  solche  morts  d'etat,  wie  bei  Guise,  Marschall  d'Ancre  etc.  für 
diejenigen  Falle  gelten  lässt,  wo  kein  ordentlicher  Process  gegen  einen 
Staatsverbrecher  möglich,  (p.  74):  so  verwirft  er  doch  entschieden  die 
Staatsvergötterung  des  Machiavellismus  (p.  20)  und  eifert  gegen  alle 
Theorien,  welche  dem  Fürsten,  statt  des  Imperium  omnium,  das  dominium 
omnium  zuschreiben,   (p.  28.)     Alle  von  Deutschen  gegründeten  Reiche 
detestantur  absolutem  dominationem,  et  saltem  ralione  gubernationis  ad  an- 
slocraticam  rationem  declinanl.  (p.  240.)    Dabei  hebt  doch  Besold  ener- 
gisch hervor,  dass  allein  der  Kaiser  das  Prädicat  »Majestät«  habe,  alle 
übrigen  Herrscher  nur  »königliche  Würden«,  (p,  36.)    Wie  z.  B.  Wal- 
lenstein selbst  in  seiner  Glanzperiode  keine  majestas  hatte,  (p.  46)  so 
verleihen  auch  die  Kurfürsten  nicht  eigentlich  dem  Wahlkaiser   seine 
Macht,  sondern  bezeichnen  bloss  die  Person,  welche  die  von  Gott  un- 
mittelbar stammende  Kaisermacht  ausüben  soll.  (p.  40.)    Die  Beschrän- 
kung der  Krone,  die  Besold  wünscht,  soll  hauptsächlich  von  der  römi- 
schen Kirche  ausgehen.     Zwar  die  Tendenzen  eines  Rossäus  und  ähn- 
licher Monarchomachen  erklärt  er  für  Missverständnisse,  die  vom  Papste 
selber  verdammt  seien,  (p.  21.)    Aber  er  meint  doch,  si  nou  omnia  ad 
catholicae  religionis  cultum  tendunt,  ut  illa  vel  promovealur,  vel  non  impe* 
diatur,  atheismo  prona  sternüur  via,  quae  ad  interitum,  si  non  temporalem, 
at  certe  aeternum  ducit.  (Vorrede.)    Dass  der  Papst  als  paslor  communis* 
soweit  es  zum  Seelenheil  nothwendig  ist,  eine  potestas  directiva  besitzen 
muss;  dass  er  z.  B.  Unterthanen  ihres  Eides  entbinden  kann,  wenn  ein 
katholischer  Fürst  elhnicus,  s.  infidelis,    alhcus  celt.   würde:   hierüber 
stimmt  Besold  mit  Bellarmin  völlig  zusammen,  (p.   43.)    Den  landes- 
herrlichen Novalzehnten  erklärt  er  für  omnino  absurdum,  weil  die  sämmt- 
lichen  Zehnten  ipso  jure  der  Kirche  gehörten,  (p.  79.)    Ebenso  absurd 
scheint  ihm  der  landesherrliche  Kirchensupremat,  (p.  60.)  Ueber  das  Recht, 
die  Ketzer  zu  verfolgen,  denkt  er  ziemlich  unklar;  selbst  manche  Kalho- 


318  Wilhelm  Röscher,  [56 

liken  billigen  es  nicht,  wenn  die  Ketzer  nicht  zugleich  Rebellen  sind; 
doch  verfolgen  auch  die  Protestanten  ihre  Gegner,  wenn  sie  nur  kön- 
nen. Es  ist  auch  zwischen  pertinacibus  dolosis,  zelosis  et  dubilantibus  zu 
unterscheiden,  (p.  63  fg.)  Dringend  räth  Besold,  allen  Deutschen  das 
Studieren  im  Auslande  zu  verbieten,  vornehmlich  in  Genf  und  Leyden, 
wo  sie  nur  Hass  gegen  die  Katholischen,  gegen  das  Haus  Oesterreich 
und  das  ganze  Reich  einsaugen,  (p.  206.) 

Sehr  vorzüglich  ist  Besold  in  der  Theorie  der  Statistik:  wie  er 
denn  auch  nicht  zugeben  will,  dass  die  bekannte  Pest  der  Davidischen 
Zeit  eine  Strafe  Gottes  für  die  Volkszählung  an  sich  gewesen.  (De  aera- 
rio,  p.  176.) !i  Von  einem  fürstlichen  Rathe  verlangt  er  folgende  Kennt- 
nisse :  Principem  et  aulam  ex  omni  parte  indagabit,  ut  et  caeterorum  ad" 
ministronim  et  eonsiliariorum  naturam  et  mores.  Quae  quantaqüe  sit  omni* 
ditio  principis ;  quae  provinciae,  civitales,  oppida,  loca  Uli  ditioni  subjeeia 
sint  ?  Provinciae  quot  millia  passuum  habeant  in  longituditie,  quot  in  cir- 
cuitu?  Locorum  ambitum,  situm.  Vtrum  montibus,  man,  flumine,  valb, 
fossa,  lacu  tnunita  sint?  Quae  eornm  opportunitates ;  an  commeatu  prohi- 
beri  possint;  an  sit  überlas  vel  inopia  rei  frwneniariae?  Quae  commoda  et 
incommoda  habeat  respublica  ?  Quidnam  in  principatu  controversum  et  cum 
quibus  ac  quibus  de  causis;  quae  ratio  provinciae  administrandae,  quae  le* 
ges  fundamentales  9  quaejura,  leg  es,  libertates?  Quo  more  utantur,  quake 
disciplina,  usu  et  consuetudine  regantur,  quibus  rebus  delectentur  cives,  qw* 
bus  se  sustentent9  quomodo  erga  principem  sint  affectiv  Quodnam  vectigal 
eorum,  quae  invehuntur  vel  evehuntur,  ex  pascuis  agrorum  publicorum,  ex 
sale9  vino,  oleo,  frumento,  ex  mercatura,  ex  subditorum  tributist  Quodnam 
aerarium:  an  subditi  nimiis  tributis,  vectigalibus,  aliisve  oneribus  preman- 
tut?  An  mercaturae  studio  teneantur,  an  opibus  abundent?  Quantus  iro- 
litum  numerus  in  qualibet  provincia  conscribi  possit?  Quaenam  principis 
familiae  origo ;  quae  conjunctiones,  afßnitates  et  amicitiae,  quae  foedera  et 
quae  ex  Hs  speranda?  Quorumnam  partes  princeps  defendendas  suscepe- 
ritn.  (De  aerario  p.  172  fg.)   Alles  dies  soll  nicht  bloss  auf  seiner,  durch 


II)  Die  4  620  erschienene  Ausgabe  dieses  Buches  soll  bereits  die  zweite  sein. 
Ich  citire  nach  der  von  4  639. 

**)  Vergleichen  wir  dies  Ideal  mit  dem  von  Heinrich  IV.  projectirten  Staatscabi- 
net,  wie  es  Sully  im  XXVI.  Buche  seiner  Memoiren  schildert,  so  ist  das  letztere  viel 
mehr  geschäftsmassig  praktisch,  das  erstere  dagegen  viel  mehr  wissenschaftlich  voll- 
ständig.    Besold  steht  damit  zwischen  Sully  und  dem  vortrefflichen   Sir  William 


57]  Akltkre  dbutscrk  Nationalökonomie  .  349 

Reisen  zu  erweiternden  Privaterfahrung  beruhen,  sondern  auch  histo- 
risch auf  demjenigen,  was  Andere  gefunden  haben,  auf  der  Yergleichung 
mit  anderen  Staaten  etc.  Zugleich  wird  dem  Forsten  ein  Personalver- 
zeichniss  empfohlen,  das  alle  ausgezeichneten  Männer  jeder  Provinz, 
jedes  Faches  etc.  enthalt :  nicht  bloss  zu  seiner  Belehrung,  sondern  auch 
um  den  Ehrgeiz  der  Unterthanen  dadurch,  nach  Art  eines  Ordens,  an- 
zufeuern. (Ibid.) 

Wenn  Besold  meint,  die  Oekonomik  gehe  der  Politik  voran,  (Prin- 
cip.  et  finis  potiticae  doctrinae,  p.  35  ff.)  so  denkt  er  dabei  nur  an  die 
Privatökonomik.  Seine  volkswirtschaftliche  Lehre  ist  doch 
vielfach  mehr  ethisch,  als  ökonomisch  gehalten.  So  z.  B.  De  aerario 
publico,  p.  15  die  entschiedene  Betonung:  partrimonia  summum  est  vectu 
gal.  Ebenda,  p.  33  sehr  unmalthusische ,3  Grundsätze  der  Armenpflege, 
wobei  die  ausTacitus  (Ann.  lh  38). bekannte  Warnung  des  Tiberius  vor 
unbesonnenem  Almosengeben  schlechtweg  impia  objectio  heisst.  Sehr 
interessant  ist  in  dieser  Hinsicht  Besolds Lehre  vom  Eigenthum.  Gott 
habe  dem  Menschengeschlechte  ursprünglich  alle  Dinge  als  Gemeingut 
verliehen,  jedoch  ohne  damit  ihre  Theilung  zu  verbieten,  die  vielmehr  im 
Interesse  des  Friedens  und  der  bessern  Verwaltung  durchaus  notwen- 
dig war.  Sonach  ist  das  Privateigentum  zwar  menschlichen  Ursprungs, 
aber  in  der  heiligen  Schrift  gebilligt.  Auch  wird  man  alle,  mit  demsel- 
ben verbundenen  Uebelstände  nicht  durch  Wiederherstellung  der  Güter- 
gemeinschaft, sondern  durch  verbesserte  Gesinnung  der  Eigenthümer 
heben  können :  qui  kommet  aequare  mit,  non  opes  subtrahere  debet,  sed 
arrogantiam,  ut  Uli  potentes  atque  elati,  pares  se  esse  apud  Deum  mendi- 
cissimis  suis,  8  ex  an  t.  {De  jure  et  divisione  rerum,  1624,  p.  24  fg.) 

Am  hervorragendsten  zeigt  sich  Besolds  volkswirtschaftliche  Ein- 
sicht in  seiner  Beurtheilung  der  Kapitalzinsen,  die  er  bereits  in  sei- 
ner Doctordissertation,  Quaestiones  aliquot  de  uswis,  4  598  vortrug,  um 
sie  dann  später,  multifarie  nuetam  et  interpolatam,  in  der  Schrift  Vitae  et 
mortis  consideralio  polilica  (1623)  als  Kapitel  5  des  ersten  Buches  wieder 


Petty  {Political  anatomy  of  Ireland,  1691,)  nngeffihr  m  der  Mitte.    Vgl.  meine  Ge- 
schichte der  altern  englischen  Volkswirtschaftslehre,  S.  68  ff. 

4  3)  Obwohl  schon  Botero  die  Hauptpunkte  des  sog.  malthusischen  Gesetzes 
vortrefflich  erörtert  hatte,  also  ein  übrigens  von  Besold  gar  nicht  selten  benutzter 
Schriftsteller:  Ragion  di  stato,  1592,  VIII,  p.  93  ff.  Dells  cause  della  grandezza  deUe 
ciitä,  1598,  Libro  III. 


320  Wilhelm  Röscher,  [58 

abdrucken  zu  lassen14.  Hier  wird  die  Unfruchtbarkeit  des  Geldes  im 
Verkehr  geleugnet.  Jedermann  darf  sich  einen  Yortheil  sichern ,  wenn 
er  Anderen  dadurch  keinen  Nachtheil  zufügt ;  und  selbst  beim  zinsbaren 
Darlehen  streitet  die  Yermuthung  dafür,  dass  es  dem  Borgenden  nütz- 
lich gewesen,  (p.  27.)  Besold  stellt  es  daher  mit  der  locatio-conducüo 
zusammen  (p.  28) :  offenbar  ein  wichtiger  Schritt,  um  den  Unterschied 
zwischen  Kapital  und  Geld,  sowie  den  Kapitalkern  der  Gelddarlehen  zu 
begreifen.  Die  bekannten  Einwände  der  Theologen  wider  alles  Zins- 
nehmen hebt  er  damit,  dass  theologia  animum  informal,  politica  extemam 
conversationetn  et  socielatem  conservat.  So  muss  denn  auch  das  Darlehen 
nicht  avare,  neglecta  caritate  zurückgefordert  werden.  Zinsen  dürfen 
wir  nur  verlangen,  wenn  wir  gewiss  sind,  unser  Geld  habe  dem  Schuld- 
ner Yortheil  gebracht,  oder  uns  selbst  dessen  Ermangelung  geschadet, 
(p.  33.)  Das  mosaische  Yerbot  erklärt  Besold  aus  dem  Charakter  des 
jüdischen  Yolkes,  ita  durae  cervicis,  ut  se  gerer e  circa  usuras  tum  laesa  ca- 
ritate vix  potuisset.  (p.  35.)  Auch  gilt  das  Yerbot  nur  Air  den  Verkehr 
mit  Armen ;  vielleicht  sei  es  bei  den  Juden  nicht  üblich  gewesen,  mit 
geliehenem  Gelde  Handel  zu  treiben,  Güter  zu  kaufen  etc.  (p.  35.) 
Uebrigens  wünscht  Besold,  weil  der  Zins  nicht  natura,  sondern  jure  ist, 
eine  obrigkeitliche  Festsetzung  seiner  Höhe  (p.  28),  zumal  wegen  der 
Schwierigkeit,  im  einzelnen  Falle  die  Höhe  des  Interesse  zu  constatiren. 
(p.  36.)  Sonst  ist  gegen  wirkliche  Wucherer  das  beste  Mittel  ein  öffent- 
liches Leihhaus,  (p.  8.)" 


14)  Ich  kenne  bloss  diese  zweite  Ausgabe,  in  einem  neuen  Abdrucke  von  4  641. 

15)  Halten  wir  diese  Ansichten  mit  den  zum  Theil  40  Jahre  später  geäusserten 
des  Salmasius  zusammen,  der  insgemein  für  den  ersten  wissenschaftlichen  Vert hei- 
diger der  Zinsen  gilt,  so  nehmen  wir,  verglichen  mit  dem  Standpunkte  Besolds,  kaum 
einen  Fortschritt  wahr.  Auch  Salmasius  spricht  immer  von  der  compensativen  Bedeu- 
tung des  Zinses,  wegen  lucrum  cessans,  damnutn  emergens  und  perieuhm  (De  usuris,  p. 
176  IT.);  auch  er  stellt  das  foenus  mit  der  localio  zusammen.  (j>.  193  ff.)  Wenn  er 
sagt:  non  pro  sorte  usura  exigitur,  sed  pro  usu  sortis  [p.  195);  wenn  er  die  Un- 
fruchtbarkeit des  Geldes  leugnet ,  ausser  wo  der  Besitzer  es  absichtlich  unfruchtbar 
lässt  (p.  198):  so  führen  diese  Gedanken  doch  nicht  tiefer  in  das  Wesen  der  Kapital- 
nutzung ein,  da  er  unmittelbar  nachher  (p.  199)  auch  die  Fruchtbarkeit  der  Krank- 
heiten (für  die  Aerzte,)  der  Todesfälle  (für  die  Leicheubesorger,)  der  Prostitutiou 
(für  die  Dirnen  selbst)  behauptet.  Eigentlich  nur  durch  seine,  aus  reicher  holländi- 
scher Beobachtung  geschöpfte,  sehr  viel  tiefere  und  klarere  Geldtheorie  steht  Salmasius 
der  vollen  Einsicht  in  die  Productivilät  des  Kapitals  näher,  als  Besold.  —  Ein  grosser 
älterer  Zeitgenosse,  Bacon,  war  von  den  altherkömmlichen  Vorurtheilen  gegen  das 


59]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  321 

Der  Mercantilismus  von  Besold  ist  weniger  ausgebildet,  als 
der  von  Bornitz.  Unser  Verfasser  steht  in  dieser  Hinsicht  ziemlich  in 
der  Mitte  zwischen  Bornitz  und  Sully,  dessen  Verbote  der  Geldausfuhr 
und  Waareneinfuhr  hauptsachlich  auf  seiner  Abneigung  gegen  Luxus  be- 
ruheten ".  Besold  ist  der  Ansicht,  dass  zum  Reicbthum  eines  Landes  die 
Industrie  seiner  Bewohner  viel  mehr  beiträgt,  als  die  Fruchtbarkeit  des 
Bodens  oder  Edelminen.  (De  aerario,  p.  70.)  Er  empfiehlt  Luxusge- 
setze, um  die  Unterthanen  reich  zu  erhalten ;  et  omnibus,  quibuscunque 
fieri  pstest,  rationibus  efficiatur,  ne  pecunia  ad  exteros  pervenire  possil9 
(p.  71)  wofür  namentlich  auch  Luther  citirt  wird.  Summa  studio  studere 
debet  princeps,  ut  non  solum  eas  dornt  habeat  merces,  quibus  ad  se  extero* 
rum  monetam  aUrahat,  sed  et  imprimis  ne  praetextu  mercium  exolicarum 
pecunia  ad  gentes  exteros  deferatur.  (p.  72.)  In  Bezug  auf  Münzverrin- 
gerungen, die  Sully  zur  Verhinderung  der  Geldausfuhr  empfohlen,  (Me- 
moires,  Livre  XIII,)  ist  Besold  freilich  ganz  abweichender  Ansicht :  nur 
ein  massiger  Schlagschatz  soll  erhoben  werden ;  vielleicht  wäre  es  so- 
gar besser,  auch  diesen  fallen  zu  lassen,  (p.  151  ff.)  Ebenso  deutet 
seine  hübsche  Erörterung  über  die  allgemeine  Caritas  sine  inopia  in  Folge 
der  Geldvermehrung  (Vitae  et  mortis  consideraHo,  p.  13  fg.)  aufrichtige 
Ansichten  vom  Wesen  des  Geldes. 

Auf  ag rarpolitischem  Gebiete  zeigt  Besold  an  der  Hand  der 
Geschichte  die  Verderblichkeit  des  Zusammenhaufens  grosser  Ländereien 
in  Einem  Besitze,  was  neuerdings  viel  zu  wenig  beachtet  werde.  Hier- 
mit bringt  er  das  Jubeljahr  der  Israeliten,  die  Unveräusserlichkeit  der 
neueren  Familiengüter  etc.  in  Zusammenhang.  (Vitae  et  mortis  consid., 
p.  22  ff.)      Er   scheint  in  dieser   Hinsicht  zu  den  Ersten  zu  gehö- 


Zinsnebmen  immer  noch  stark  influirt.  Nur  wegen  der  menschlichen  Herzenshar- 
tigkeii  will  er  den  Zins  dulden,  weil  Darlehen  schlechterdings  nothwendig,  ohne  Zins 
aber  ganz  unwahrscheinlich  seien.  Eine  Ahnung  der  Wahrheit  geht  ihm  erst  da  auf, 
wo  er  den  Kaufleuten  gegenüber  ein  höheres  gesetzliches  Zinsenmaximum  vorschlugt, 
als  für  das  übrige  Volk :  nicht  allein  weil  der  Handel  für  einen  niedrigen  Zinsfuss  zu 
gefährlich  sei,  sondern  auch  weil  der  Kaufmann  seines  eigenen  höbern  Gewinnes  hal- 
ber einen  höhern  Zinsfuss  ertragen  könne.  (Sermones  fideies,  Gap.  39.)  Selbst  Hugo 
Grotius  steht  in  diesem  Punkte  hinter  Besold  zurück  {Jus  belli  et  paeis  II,  4  2,  20); 
er  hat  dem  seinerzeit  bewundernswürdigen  Fortschritte  Calvins  (Epistolae  et  re- 
sponsa,  iVo.  383)  das  Geld  sei  nicht  unfruchtbar,  weil  man  dafür  etwas  kaufen  kann, 
das  wieder  Geld  hervorbringt,  kaum  etwas  hinzuzufügen. 

4  6)  Vgl.  Memoire*,  I.  XI,  XII,  XIIIt  und  besonders  XVI. 


322  WttoBUi  Röscher,  [60 

reu17,  welche  die  damals  immer  mehr  üblichen  Familien/ideicommisse 
und  Landesgesetzgebungen  zur  Erhaltung  der  Bauergüter  in  weltge- 
schichtlichem Zusammenhange  theoretisch  begründeten.  —  In  Bezug  auf 
den  Kornhandel  freilich  theilt  er  noch  das  ganze  Vorurtheil  seines 
Zeitalters,  weiss  aber  als  guter  Jurist  seine  Wucherfurcht  wenigstens  in 
präcisere  Worte  zu  fassen,  als  damals  gewöhnlich.  li  soUtm  vendant, 
quorum  opera  terrae  frttclus  producti  fuerunt.  (Synopsis  politicae  doctr.,  p. 
253.)  Also  gar  kein  eigentlicher  Handel  (Kauf  zum  Wiederverkauf)  mit 
Korn!  In  tbeuerer  Zeit  soll  die  Ausfuhr  untersagt  werden.  Ferner 
Zwang  des  Staates  gegen  alle  Kornbesitzer,  ihre  Vorräthe  zu  verkaufen, 
selbst  zu  niedrigen  Preisen.  (Vilae  et  mortis  consid.,  p.  10  ff.) 18 

Von  der  Gewerbepolitik  im  engern  Sinne  des  Wortes  handelt 
Besold  eigentlich  nur  mit  Rücksicht  auf  die  Zünfte.  Hier  tragt  er  die 
Meinung  seines  Zeitalters  vor,  aber  in  ihrer  gelagertsten  Form.  Auto- 
nomie der  Zünfte  über  alle  ihre  Angelegenheiten :  nur  muss  deren  An- 
wendung eine  rahonabilis  sein  und  weder  den  Staatsgesetzen,  noch  den 
guten  Sitten  zuwiderlaufen.  Keine  Abreden  zur  Monopolisirung  der 
Waaren,  zur  Festhaltung  hoher  Preise  etc.,  zur  Beschränkung  des  Pu- 
blicums  in  der  freien  Wahl  unter  den  Zunftmeistern.  Kein  Vertrinken 
der  Geldstrafen,  die  vielmehr  der  Armenkasse  zufallen  müssen.  Die 
Fernhaltung  der  Bader,  Müller,  Hirtenkinder  etc.  von  der  Zunftfähigkeit 
verwirft  Besold  mit  den  Reichsgesetzen  seiner  Zeit;  die  der  unehelich 
Geborenen  nennt  er  eine  proba  conmetudo.  (Dissertationes  de  iure  rerum, 
familiarum  etc.,  1624,  p.  47 ff.)  Das  meisterhafte  Gemälde  der  spanisch- 
portugiesischen Trägheit  und  Ueberschätzung  persönlicher  Dienste,  (Vitae 


17)  Auch  B  od  in  us  war  für  ein  massiges  Vorrecht  der  Erstgeborenen,  (keine 
spanischen  Fideicommisse!)  ein  geringeres  Erbrecht  der  Töchter,  sowie  einige  Be- 
schränkungen der  Testamentsfreiheit  vornehmlich  deshalb,  damit  allzu  grosse  Reich- 
Ihümer  in  Einer  Hand  verhület  würden.  (De  rep.  V,  2,  p.  823  ff.) 

18)  Selbst  in  Holland  gehört  zu  den  frühesten  Vertheidigern  des  freien  Kornhan- 
dels D.  Graswinkel  Aawnerkingen  oude  Bewachungen  etc.,  4  651.  Je  mehr  Koni- 
Wucherer  im  Lande,  um  so  weniger  Monopol.  Man  soll  in  der  Theuerung  die  Last 
nicht  allein  auf  die  Kornbesitzer  legen,  sondern  (mittelst  Armensteuer  elc.)  gleich- 
massig auf  alle  Wohlhabenden.  Aehnlich  de  la  Court  Polit.  Discoureen  (4662) 
/,  4.  Und  doch  hatte  bereits  in  Luthers  Zeit  Sebasl.  Frank  die  Ahnung  ausge- 
sprochen, dass  die  Bosheit  der  Korn  Wucherer  von  Gott  für  Nothzeiten  gebraucht 
werde!  (Sprüchwörter  gemeyner  tütscher  Nation;  vgl.  auch  Seb.  Franks  Wellbuch 
fol.  63'.) 


61]  Aeltebk  deutsche  Nahonaiökonomik.  388 

et  mortis  consid.,  p.  19,)  ist  zwar  von  Besold  nur  aus  Clenard  entlehnt; 
doch  spricht  diese  Herübernahme  nicht  bloss  für  seine  eigene  richtige 
Ansicht  von  solchen  Dingen,  sondern  namentlich  auch  dafür,  dass  er 
sich  durch  seine  politisch-religiöse  Parteistellung  nicht  ganz  über  Spa- 
nien verblenden  Hess. 

Besolds  Regaltheorie  ist  eine  sehr  gemässigte.  Im  Allgemeinen 
lehrt  er:  nova  regalia  non  sub  praelexlu  absolutae  potestalis  esse  inslu 
tuen  da.  (De  iuribus  maiestatis,  1625,  p.  144  ff.)  Wiederholentlich  äus- 
sert er  seinen  Abscheu  gegen  die  novi  poliHci  ex  Italia  redeuntes,  qui 
quavis  fraude  principibus  a  subdilis  pecuniam  exlorquere  fas  licitumque  esse 
pulant,  Machiavelli  plerumque  praeceptis  et  exemplis  principum,  quorum 
rationes  non  capiunl,  ad  id  abutentes.  (De  aerario,  p.  59.  165.)  Wider 
Geldbussen  ist  er  nicht  unbedingt ;  er  warnt  aber  strenge,  ja  nicht  den 
Rechtszweck  derselben  hinter  den  Finanzzweck  zurücktreten  zu  las- 
sen. (De  aerario,  p.  41.)  Vermögenseinziehung  missbilligt  er  schlecht- 
hin. (Synopsis  doctr.  polit.,  p.  243.)  Dagegen  empfiehlt  er,  nach  Ana- 
logie der  Sklaverei,  die  Verbrecher,  statt  der  Verbannung,  Geisselungetc, 
durch  Strafarbeiten  nützlich  zu  machen,  sofern  dies  ohne  Verletzung 
göttlicher  Vorschriften  geschehen  kann.  (De  aerario,  p.  50.)  Aemterver- 
käufe  nur  im  dringendsten  Nothfalle  gestattet.  (Ibid.,  p.  161.)  Staats- 
monopolien  sollen  bloss  caute  et  nonnisi  ab  antiquo  ita  fuerit  observatum 
fortdauern:  nicht  allein,  um  den  Erwerb  der  Unterthanen  nicht  zu  schmä- 
lern, sondern  auch,  quia  in  negotiationibus  major  industria  et  sollicitudo 
requiri  videtur,  quam  quae  in  officiales  publice  conductos  cadat.  (Synopsis 
doctr.  polit. ,  ;;.  243  ff.)  Aeusserst  wichtig!  Deshalb  ist  aller  Staats- 
handel nur  unter  drei  Voraussetzungen  zu  empfehlen  :  dass  der  Verkehr 
dadurch  nicht  erschwert,  sondern  gefördert,  namentlich  von  Betrug 
freier  wird;  dass  der  Staat  nicht  inländischen,  sondern  ausländischen 
Kaufleuten  Concurrenz  macht ;  dass  der  betreffende  Handelszweig  für 
Privatleute  unmöglich  ist.  (De  aerario,  p.  44.)  Das  Lotterieregal  verwirft 
Besold  schlechthin,  quum  non  tantum  finis,  sed  et  media  debeant  esse  ho- 
nesta.  (Ibid.  p.  47.) 

In  Bezug  auf  die  Steuern  hält  er  das  Bewilligungsrecht  der  Land- 
stände mit  voller  Entschiedenheit  fest,  wobei  er  ein  Wort  Kaiser  Maxi- 
milians I.  anführt,  der  deutsche  Kaiser  sei  re  dei  re,  der  König  von  Spa- 
nien re  degli  uomini,  der  König  von  Frankreich  re  degli  asini.  (De  aerario, 


324  Wilhelm  Röscher,  [62 

p.  63  fg.)19  Von  Eduard  III.  erzählt  er  ganz  ernsthaft,  dass  er  einst- 
mals um  einen  Haufen  erpressten  Steuergeldes  den  leibhaftigen  Teufel 
spielen  gesehen,  (p.  40.)  Er  empfiehlt  auch  eine  strenge  Controle  der 
Stände  über  die  Verwendung  der  bewilligten  Steuern,  was  für  die  Herr- 
scher nichts  weniger  als  ehrenrührig  sei.  (p.  67.)  Hört  der  Grund  der 
Bewilligung  auf,  so  muss  auch  die  Steuer  aufhören,  (p.  69.)  Alle  fürst- 
lichen Räthe  müssen  sich  ins  Herz  schreiben,  consulenles  principi,  ut  nova 
imponat  tributa  et  vectigalia  sine  magna  causa,  esse  in  inferno  poems  tarla- 
reis  cruciandos  perpetuo.  (p.  1 67.)  Besold  erinnert  daran,  dass  harter 
Steuerdruck  nach  Salvian  den  Barbaren  die  Strasse  zur  Eroberung  des 
römischen  Reiches  gebahnt  hat.  (p.  82.)  Von  den  einzelnen  Steuerarten 
ist  er  mehr  fllr  indirecte  Steuern,  (vectigalia  von  vectura,)  als  für  directe, 
(tributa,)  weil  man  verhältnissmässig  leichter  etwas  abgiebt,  wenn  man 
selbst  eben  gewonnen  hat.  Ebenso  lobt  er  Ausfuhrzölle  mehr,  als  Ein- 
fuhrzölle *  namentlich  wenn  sie  den  Fremden  vor  den  Einheimischen 
treffen,  (p.  77.)  Seine  Abneigung  wider  Steuern  auf  nothwendige  Le- 
bensmittel, sowie  gegen  Albas  zehnten  Pfennig  (hoc  onus  Belgium  Hi- 
spano  ademisse  videturf)  war  damals  keine  persönliche  Eigentümlich- 
keit, (p.  79  ff.)  Bei  directen  Steuern  ist  er  sehr  für  die  aliquote  Form: 
humanuni  magis  est,  imponere  cerlam  frugum  partem,  »denn  wan  man 
jährlich  etwas  Gewisses  für  Hagel  und  Wind  reichen  thut«.  (p.  87.) 
Die  Steuerfreiheiten  verwirft  er  entschieden.  Wenn  bisher  für  die  Frei- 
heit der  Ritter  genügende  militärische  Gründe  sprechen,  so  haben  diese 
doch  jetzt  sämmtlich  aufgehört,  (p.  91  fg.)21 

Besolds  Aeusserungen  über  Staatsschulden  sind  ebenso  cha- 
rakteristisch für  den  Uebergang  aus  der  rein  privatrechtlichen  Auffassung 
des  Staates  in  die  staatsrechtliche,  wie  für  das  gänzliche  Fehlen  der 
neueren  Creditideen.  Sind  die  Unterthanen  verpflichtet,  ihres  Fürsten 
Schuld  zu  bezahlen?  Nein,  falls  die  Schuld  aus  Gründen  des  Luxus  etc 


4  9)  Wenn  die  zu  wünschende  Freiwilligkeit  der  Steuerzahlung  u.  A.  auf  das  eng- 
lische Institut  der  Benevolenzen  gestützt  wird,  (p.  1 54)  so  ist  das  freilich  eine  grosse 
Verkennung  dieses  letztern. 

SO)  In  der  Wirklichkeit  sind  bei  den  meisten  Völkern  Ausfuhrzölle  früher  üblich 
geworden,  als  Einfuhrzölle :  in  Frankreich  z.  B.  jene  für  eine  Menge  wichtiger  Han- 
delsgegenstände schon  4  304,  diese  erst  1549. 

21)  Von  S.  94 — 4  50  enthält  das  Buch  De  aerario  eine  sehr  weitläufige  Abhand- 
lung von  Fragen  aus  dem  Steuerrechte. 


63]  Aeltebe  deutsche  Nationalökonomie.  325 

entstanden  ist ;  ja,  wenn  sie  aus  einer  notwendigen  Ursache  herrührt ! 
Auch  kann  das  Volk  nicht  glücklich  sein ,  wenn  sein  Land  nicht  von 
jedem  Pfandnexus  frei  ist.  Daher  werden  sich  kluge  Stände  nicht  im- 
mer gegen  Debernahme  einer  Steuer  zur  Schuldtilgung  sträuben,  und 
nur  desto  sorgfältiger  die  Wiederkehr  des  Uebels  zu  verhüten  suchen. 
(De  aerario,  p.  55.)  Uebrigens  stimmt  Besold  ganz  mit  Bodinus  über- 
ein, dass  jede  Staatsanleihe  ausser  im  dringendsten  Nothfalle,  aerarii  ac 
civitatis  moliri  eversionem.  Namentlich  sei  nichts  verderblicher  und  thö- 
richter,  als  einen  Krieg  von  vorne  herein  auf  Anleihen  zu  stützen. 
(p.  155.) 

Ein  in  vieler  Hinsicht  interessantes  Gegenstück  zu  Besold  bildet  der 
so  oft  von  ihm  citirte  AdamContzen22,  ein  angesehenes  Mitglied  des 
Jesuitenordens,  Beichtvater  bei  den  Fürstbischöfen  von  Bamberg  und 
Würzburg,  eine  Zeitlang  sogar  am  Hofe  Maximilians  von  Bayern,  dann 
Professor  zu  Mainz.  Sein  Hauptwerk:  Politicorum  libri  X  (1629)  ist 
»dem  unbesiegten«  Kaiser  Ferdinand  II.  gewidmet.  Er  steht  recht  im 
Mittelpunkte  der  damaligen  katholischen  Reaction,  obwohl  seine  Ansich- 
ten für  diesen  Standpunkt  verhältnissmässig  moderirte  heissen  können. 
Aber  wie  viel  geringer  ist  er  in  wissenschaftlicher  Hinsicht,  als  Besold ! 
Von  Geschichte  redet  er  zwar  genug :  seine  furchtbare  Weitschweifig- 
keit  besteht  zum  grössten  Theile  in  übel  gewählten ,  pedantisch  breiten 
und  doch  im  Einzelnen  oft  sehr  ungenauen  Geschichtsbeispielen.  Aber 
höchst  selten  findet  sich  eine  Spur  von  geschichtlichem  Geiste23.  Ueberall 
nur  der  jesuitische  Doctrinär,  der  nach  dem  Grundgedanken  seines  Or- 
dens einen  wesentlich  mittelalterlichen  Zustand  von  Staat  und  Gesell- 
schaft durch  geschickte  Benutzung  einiger  modernen  Kunstgriffe  wieder- 
herstellen, ja  verschärfen  will. 

Seine  volkswirtschaftlichen  Ideen  sind  im  VIII.  Buche :  De  poten- 
tia  reipublicae,  enthalten.  Hier  äussert  er  sich  über  die  Notwendig- 
keit des  Reichthums  mit  einem  Enthusiasmus,  der  im  Munde  eines  Geist- 
lichen, ja  Mönches  doch  etwas  geradezu  Verletzendes  hat.  (Cap.  5.) 
Daneben  die  strengste  Wuchertheorie  des  kanonischen  Rechts:   Zins- 


tt)  Gestorben  1 635  in  einem  Alter  von  mehr  als  60  Jahren. 
23)  Wie  z.  B.  p.  662,  wo  er  den  Luxus  roher  Völker  dahin  Charakteristik :  quo 
quaeque  getis  magis  barbara  est,  eo  pluribus  imperitare  domi  gaudet. 


3S6  Wilhelm  Roscra,  [64 

glaubiger  sollen  wie  Diebe  peinlich  gestraft,  alle  Joden  als  venenalae  be- 
stiae  mit  Verlust  ihres  Vermögens  zum  Lande  hinaus  gejagt  werden. 
Contzen  erinnert  an  die  glorreichen  Herrscher,    welche  dies  wirklich 
gethan ;  er  zeigt ,  wie  es  den  Juden  selbst  zum  Heil  gereichen  müsse. 
(Cap.  17.)     Ausserdem  sollen   montes  pietatis  dem  Wucher  steuern. 
(Cap.  18.)  —  Er  lobt  die  Gewerbe  und  empfiehlt  deren  Beförderung, 
freilich  in  unpraktischer  Allgemeinheit,  als  im  eigenen  Interesse  des  Staa- 
tes liegend.  (Cap.  1 5.)  Gelegentlich  denkt  er  auch  an  ein  Verbot,  inferri 
merces,  quibus  patria  et  nativa  viliora  fitmt.    Dem  Handel  rühmt  er  nach, 
dass  die  Waaren  durch  seine  Transportarbeit  verbessert  (d.  h.  brauchbarer 
gemacht)  würden,  selbst  wenn  einige  physische  Verschlechterung  damit 
verbunden  wäre.  (Cap.  10.)    Gewiss  ein  nicht  unbedeutender  Fortschritt 
gegen  die  Ansicht  von  Montaigne:  Le  proufict  de  Vun  est  le  dommage  de 
Faultre,  und  von  Bacoo:   Quidquid  alieubi  adiicitur,  alibi  detrahiluru. 
Auch  das  Lob.  welches  der  Rechtspflege  durch  sachverständige  Berufs- 
genossen ertheiR  wird,   ist  eine  geistvolle  Zukunftsahnung;   (Cap.  11) 
wenn  es  schon  vielleicht  gemeint  war  als  Reminiseenz  aus  dem  Mittel- 
alter.   Um  so  schroffer  sticht  dagegen  ab  die  ganz  rohe  Lobrede  auf  die 
Sklaverei,  die  sowohl  aus  Gründen  der  Wohlfeilheit,  als  der  Arbeitswirk- 
samkeit empfohlen  wird,  selbst  für  die  Staatsfinanzen  Ä.  (Cap.  1 5.)  — 
So  missbilligt  er  die  meisten  Regaltyranneien  seiner  Zeit  (Cap.  1 9) ;  des- 
gleichen die  meisten  jener  Plusmachereien,  welche  im  zweiten  Buche 
der  aristotelischen  Oekonomik  aufgezählt  sind.  (Cap.  16.)    Daneben  räth 
er  jedoch,  wie  sein  Orden  mit  so  grossem  Erfolge  praktisch  gethan,  statt 
der  Besteuerung  des  Volkes  Regierungshandel  zu  treiben.    (Cap.  10.) 
Einen  fast  noch  grellern  Gegensatz  bildet  sein  Eifer  gegep  Steuerfrei- 
heiten, sowie  die  Forderung,  dass  jede  Steuer,  um  gut  zu  sein,  potesta- 
tem,  causam  und  proporlionem  voraussetze  und  eessante  causa  aufhören 
müsse,  (Cap.  7)  zu  dem  höhnischen  Worte,  (Cap.  6)  die  Niederländer 
seien  von  Spanien  abgefallen,  um  nicht  den  zehnten  Pfennig  zahlen  zu 
müssen,  und  jetzt  würden  sie  froh  sein,  wenn  sie  den  zehnten  Pfennig 


24)  Montaigne  Essais  /,  21.    Baco  Sermones  fideles,  Cap.  45. 

25)  Contzen  denkt  hier  freilich  nur  an  eine  milde  Sklaverei,  will  sie  auch  vor- 
zugsweise für  gefangene  Türken  oder  solche  Inländer  bestimmt  wissen ,  die  aus  Na- 
turfehler, schlechter  Erziehung,  Verführung  etc.  ihre  Freiheit  nicht  wohl  ertragen 
können. 


65]  Aeltehe  deutsche  Nationalökonomik.  327 

behielten.  Echt  mittelalterlich  ist  die  mehrfach  geäusserte  Vorliebe 
Contzens  für  Natural-  und  Arbeitsstenern,  (Cap.7)  namentlich  für  leichte 
Staatsfrohnden,  welche  nach  eigener  Wahl  der  Pflichtigen  entweder  in 
Natura  oder  in  Gelde  abgemacht  werden  können  (Cap.  8.) 


V. 

Die  Kipper-  und  Wipperliteratur. 

Bei  der  grossen  Bedeutung,  welche  das  Mttuzwesen  ftlr  die  ganze 
Volkswirtschaft,  und  das  Münzregal  insbesondere  für  die  Staatsgewalt 
hat1,  ist  es  kein  Wunder,  wenn  sich  in  der  Münzgeschichte  wie  in 
einem  engen  Rahmen  die  ganze  Geschichte  des  Volkes  und  Staa- 
tes abspiegelt.  So  verbanden  z.  B.  die  altfränkischen  Könige  bis  auf 
Karl  d.  Gr.  mit  ihrer  verhältnissmassig  starken  und  concentrirten  Staats- 
gewalt auch  das  ausschliessliche  Münzrecht :  beides  zum  grossen  Theil 
auf  Anknüpfungen  an  das  römische  Staatswesen  beruhend.  Wie  nach- 
mals die  Staatsverfassung  durch  das  Aufkommen  der  Landeshoheit  zu 
einer  wesentlich  aristokratischen  wurde,  erfolgten  gleichzeitig  die  zahl- 
losen Verleihungen  des  Münzrechtes  an  grosse  Unterthanen;  und  zwar 
machten  sich  in  beiden  Fällen  ziemlich  parallel  erst  die  geistlichen,  dann 
die  weltlichen  Herren,  hierauf  die  Reichsstädte,  zuletzt  sogar,  wenig- 
stens factisch,  viele  Landstädte  von  der  frühern  Abhängigkeit  los.  Wenn 
es  in  Deutschland  auf  der  Höhe  des  Mittelalters  gegen  600  verschiedene 
Münzstätten  gab 2 ;  wenn  jeder  Münzherr  in  seinem  Gebiete  den  Umlauf 
anderer  deutschen  Münzen  verbieten,  die  fremden  Kaufleute  zwingen 
konnte,  ihr  Geld  mit  seiner  Landesmünze  zu  verwechseln ;  wenn  es  eine 
der  beliebtesten  Finanzspeculationen  war,  alle  umlaufenden  Münzen  ein- 
zurufen und  nach  Abzug  eines  hohen  Schlagschatzes  umgeprägt  wieder- 


4 )  Letzteres  nicht  bloss  wegen  des  Schlagschatzes  und  der  Handelspolizei,  son- 
dern auch  aus  allgemeineren  Gründen,  welche  die  tiefsten  Wurzeln  des  Verhältnisses 
zwischen  Volk  und  Herrscher  berühren.  Noch  heutzutage  ist  im  Orient  das  Prägen 
von  Münzen  das  anerkannteste  Zeichen  der  Souveränetät;  und  von  den  Ursachen, 
welche  den  schlafenden  Bonapartismus  während  der  Restauration  und  Juliusmonarchie 
lebendig  erhielten,  ist  es  keine  der  geringsten,  dass  die  übliche  Goldmünze  im  Volks- 
munde immerfort  den  Namen  Napoleons  führte. 

2)  Vgl.  Heineccius  De  nummia  Goslar.,  p.  4. 

Abhandl.  d.  K.  8.  Oet.  d.  Witt.  X.  22 


328  Wilhelm  Rose  heb,  [66 

auszugeben3:  so  ist  das  eine  Periode  im  Mttnzwesen,  die  sich  wohl  ver- 
gleichen lässt  mit  dem  politischen  Interregnum  und  Faustrecht  des  1 3. 
Jahrhunderts.  Nicht  viel  geringer 4  war  die  Münzanarchie  in  Frankreich 
während  der  aristokratisch-territorialen  Zeit ;  sie  wurde  hier  aber  durch 
eine  schrittweise  Rückkehr  zum  Mtlnzregale  in  derselben  Zeit  gehoben, 
wo  auch  politisch  durch  Unterwerfung  der  Grossen  die  spätere  absolute 
Monarchie  sich  vorbereitete.  In  Deutschland  war  dieser  Weg  nicht 
möglich.    Doch  entsprechen  den  vielen  Bündnissen,  welche  im  1 4.  und 

1 5.  Jahrhundert  zwischen  Fürsten,  Rittern  und  Städten  geschlossen  wur- 
den, zum  Ersätze  dessen,  was  Kaiser  und  Reich  versäumt,  die  vielen 
Münzverträge  derselben  Zeit.    Das  Ende  des  1  B.  und  der  Anfang  des 

1 6.  Jahrhunderts  sind  in  politischer  Hinsicht  ausgezeichnet  durch  eine 
Menge  wohlgemeinter,  zum  Theil  grossartig  angelegter  Versuche  zur 
Concentrirung  und  Organisirung  des  Reichs :  ich  gedenke  nur  der  Reichs- 
gerichte, der  Kreistheilung,  der  Reichspolizeiordnungen,  der  peinlichen 
Gerichtsordnung  etc.  Leider  waren  die  wirklichen  Ergebnisse  von 
alle  Dem  sehr  gering.  Und  gerade  so  ging  es  mit  den  drei-  Reichsmünz- 
ordnungen derselben  Zeit.  Vielmehr  wie  am  Ende,  trotz  jener  politi- 
schen Einigungsversuche,  der  dreissigjährige  Krieg  die  Anarchie  des 
Reiches  vollendete,  so  im  Münzwesen  trotz  jener  Reichsmünzordnungen 
die  Kipper-  und  Wipperzeit. 

Wollte  man  diese  Kipper-  und  Wipperzeit  von  einem  ganz 
bestimmten  Zeitpunkte  an  datiren,  so  würde  man  in  Verlegenheit  kom- 
men. Denn  die  wetteifernde  Ausprägung  einer  immer  geringern  Scheide- 
münze, weit  über  den  Scheidebedarf  hinaus,  wodurch  allmälich  die  gu- 
ten groben  Sorten  verdrängt  und  die  gesammte  Circulationsmasse  ent- 
werthet  wurde,  geht  durch  mehr  als  ein  Menschenalter.  Auf  dem  Reichs- 


3)  Hier  und  da  sogar  zweimal  in  einem  Jahre!  (Glosse  zum  Sachs.  Landrecht 
II,  86.) 

4)  Ganz  so  schlimm,  wie  in  Deutschland,  wohl  nicht,  obschon  zu  Philipps  IV. 
Zeit  300  geistliche  und  weltliche  Vasallen  das  Münzrecht  aasübten.  Aber  auch  nach 
Thomas  Aquinas  De  reg.  prineiputn  II,  13  muss  Deutschland  besonders  schwer  an 
kranken  Münzsystemen  gelitten  haben.  In  England  hat  sich  das  Münzregal  viel  unge- 
störter behauptet,  gerade  so,  wie  auch  die  Staatsgewalt  im  englischen  Mittelalter  keine 
solche  aristokratische  und  provinziale  Zersplitterung  erfuhr,  wie  in  Deutschland  und 
Prankreich.  Der  Einfluss  dieser  Thatsache  auf  das  Münzwesen  lässt  sich  danach  mes- 
sen, wie  sehr  viel  weniger  die  englischen  Pfunde  Sterling,  Schillinge  etc.  gegen  frü- 
her an  Silberwerth  verloren  haben,  im  Vergleich  mit  den  französischen  oder  deutschen. 


67]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  329 

tage  von  1566  wurde  bestimmt,  dass  68  Kreuzer  gleich  einem  Thaler 
gelten  sollten5;  indess  fuhren  gleich  damals  einzelne  bedeutende  Terri- 
torien mit  ihrer  bisherigen  Prägung  von  72  Kr.  =  1  Thaler  ruhig  fort. 
Um  1 585  nahmen  die  Kaufleute  der  Frankfurter  Messe  den  Thaler  zu 
74  Kr.  an.  Im  December  1 596  ward  er  von  kaiserlichen  Gommissarien 
zu  Strassburg  auf  84  Kr.  »erhöhet«.  Ganz  besonders  aber  nimmt  die 
Mttnznoth  in  den  ersten  Jahren  des  dreissigjährigen  Krieges  zu ,  wo  ein 
förmliches  bellum  omnium  contra  omnes  unter  den  Münzstätten  geführt 
wurde.  Nach  der  Au  ff-  und  Absteigungstafel  in  David.  Thoman.  ab 
Hayelslein  Acta  publica  monelaria  l,p.  54  ward  der  Reichsthaler  an  mass- 
gebenden Stellen  amtlich  gewttrdert : 

1616  und  1617  zu    90  Kreuzern 

1618  »92  » 

1619  »    108—124  » 

1620  »    124—140  » 

1621  »    140—270  » 

1 622  (Februar  und  März)  bis  zu  600  » 

Und  zwar  hatte  namentlich  das  Jahr  1 62 1  jeden  Monat  eine  andere  Val- 
vation, oft  sogar  mehrere  in  demselben  Monate.  Selbst  in  Kursachsen 
wurde  z.  B.  dem  Münzpächter  zu  Hayn  am  12.  Mai  1621  gestattet,  die 
feine  Mark  in  Groschen  und  Schreckenbergern  zu  6272  Gulden  auszu- 
bringen, wofür  er  dem  Kurfürsten  wöchentlich  300  Gulden  Schlagschatz 
entrichten  sollte ö.  Unter  den  Heilversuchen,  die  auf  der  Höhe  des  Ue- 
bels  gemacht  wurden,  ist  ausser  den  zahlreichen  Verboten  der  Waren- 
ausfuhr sowie  der  Ausfuhr  guten  Geldes  am  auffälligsten  die  grosse 
Menge  obrigkeitlicher  Zwangstaxen  für  alle  wichtigeren  Lebensbedürf- 
nisse, die  namentlich  1 623  erlassen  wurden,  als  man  sich  ernstlich  ver- 
abredet hatte,  wieder  zum  Mttnzfusse  von  1617  (90  Kreuzer  auf  den 
Thaler)  zurückzukehren.  Wissenschaftlich  viel  interessanter  sind  die 
Girobanken  zu  Hamburg  (seit  1619)  und  Nürnberg  (seit  1621),  die  in- 
mitten der  allgemeinen  Sttndfluth  auf  halbprivatem  Wege  doch  wenig- 
stens zwei  sichere  Inseln  bildeten. 

Die  Literatur  dieser  trostlosen  Epoche  können  wir  am 
besten  in  zwei  Gruppen  theilen :  populäre  Schriften,  die  namentlich  in 


5)  Hirsch  Münzarchiv  II,  S.  13. 

6)  Vgl.  Klotz  seh  Chursächsische  Münzgeschichte  II,  S.  463  ff. 

22* 


330  Wilhelm  Roschei,  [68 

bellettristischem  Gewände  gegen  das  Kipper-  und  Wipperthura  ankämpfen ; 
sodann  wissenschaftliche  Erörterungen.  Sind  die  letzteren  bezeichnen- 
der fUr  den  Zustand  der  Doctrin,  so  die  ersteren  für  den  Grad  der  Volks- 
bildung, zumal  Geschmacksbildung  ihrer  Zeit. 

Wie  man  die  damals  so  beliebte  Form  der  Allegorie7  auf  das 
vorliegende  Gebiet  anwandte,  davon  mögen  folgende  Auszüge  ein  Bild 
geben. 

»Discurss  etzlicher  Personen  von  dem  itzigen  Zustande  der  Kipper 
und  Wipper :  wie  nehmlich  ein  Messpfaffe  so  viel  Goldt  und  Geldt  bey- 
sammen  hat,  dass  er  nicht  gewusst,  wo  er  damit  hin  soll.  Endlich  gibt 
sich  ein  einfeUiger  Wipper  an,  und  weil  auch  ein  Landtjuncker  in  einer 
Stadt  ein  Wagen  voll  Schaffs-Käse  feil  hat,  da  seynd  mehr  als  in  die  zwei- 
hundert Wipper,  die  drungen  sich  auff  den  Wagen,  dass  kein  arm  Mensche 
dazu  kommen  kundte ;  zuletzt,  als  der  letzte  Wipper  vom  Wagen  herun- 
ter steigt,  so  hat  er  fast  ein  Centner  Geldt  am  Halse  und  tritt  dem  Edel- 
mann die  eine  Ax  am  Wagen  entzwey.  Item,  was  es  auch  endlich  mit 
diesen  Personen  fllr  einen  Aussgang  gewinnt.  Gedruckt  zur  schweren 
Müntze  bei  Wippershausen,  Anno  1621.«  —  Ein  überaus  lederner,  mit 
Schimpfworten  angefüllter  Dialog,  worin  Pfaff,  Narr,  Handwerker,  Jun- 
ker, Wipper,  Bauer,  Bettler,  Landsknecht,  Tagelöhner  und  Tagelöhnerin 
vorkommen. 

»Der  Wartzken-Mann  von  Kippern  und  Wippern,  Bericht  gebendt, 
wo  die  K.  hergekommen,  wo  Müntz  ihre  Roth  genommen.  Etwa  auff- 
gefilhrt,  in  Reim  torquirt,  mit  Wahr  geziert  und  erudiert  durch  den  Jun- 
gen Caspar  Kinkeln  von  Klosterlitzsche.  Im  Jahr:  Herr  Wipper  soL 
aVffs  hohe  RaDt,  Dann  ers  ganz  LanD  beraVbet  hat.«  (1 621.)  —  Einem 


7)  Sehr  charakteristisch  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Siegesmünze,  welche  Kurfürst 
August  von  Sachsen  auf  den  Sturz  der  Melanchthonianer  prägen  liess.  Er  selbst  im 
Harnisch,  mit  der  einen  Hand  das  Kurschwert,  mit  der  andern  die  Wage  haltend,  , 

steht  auf  dem  Schlosse  Harten fels,  wo  der  entscheidende  Landtag  gehalten  war.    Ue-  i 

her  der  Wage  schwebt  die  Dreieinigkeit.  In  der  sinkenden  Schale  sitzt  das  Christ- 
kind mit  der  Umschrift:  »die  AlmachU;  in  der  steigenden  sitzen  die  vier  Wittenberger 
Theologen,  über  ihnen  der  Teufel,  die  sich  vergeblich  anstrengen,  ihre  Schale,  deren 
Umschrift:  »die  Vernunft«  lautet,   herabzudrücken.    (Tenzel   Saxonia  nutnismatica,  i 

Albertin.  Linie,  S.  4  37  ff.)  Seit  dem  niederländischen  Aufstande  war  die,  den  Jesui- 
ten sehr  empfindliche,  Literatur  der  satirischen  Flugschriften  mit  Holzschnitten  be- 
deutend geworden,  in  der  z.  B.  Fischarts  Gemälpoesien  hervorragen.  , 


69]  Aeltkre  deutsche  Nationalökonowk.  33| 

Arzeneihändler  in  den  Mund  gelegt.  Die  Kipper  sind  aus  dem  Samen 
einer  Blume,  die  aus  dem  Blute  hingerichteter  Verbrecher  entsprossen. 
Weil  sie  Kipper  heissen,  darum  »kuppern  Geldt,«  und  ähnliche  Witze. 
Besser  ist  die  aus  dem  Leben  gegriffene  Erörterung,  wie  alle  Uebrigen 
ihre  Waarenpreise  steigern,  bloss  die  Beamten,  Pfarrer,  Schulmeister, 
Studenten,  Regenten  nicht,  überhaupt  der  nicht,  »der  sein  gewisse  Sol- 
dung hebt.« 

»Jedermannes  Jammerklage  von  der  falschen  Wipper  Wage.«  Ohne 
Druckort,  1621.  —  Nach  einander  klagen  hier  in  Knittelversen  Bettler, 
Tagelöhner,  Gesinde,  Boten,  Spielleute,  Bergleute,  Handwerksmann, 
Bauer,  Kaufmann,  Student,  Theolog,  Medicus,  Jurist,  Hoffrath,  Edelmann, 
Prälat,  Graff,  Fürst,  Hertzog,  König,  Kayser,  Gott.  Hierauf  klagen  alle 
Münzsorten  einzeln,  vom  Heller  bis  zum  Ducaten;  dann  Silber,  Gold, 
Kupfer.  Zum  Schluss  die  Grabschrift  eines  Kippers  in  Form  eines  Ge- 
sprächs.   Alles  in  hohem  Grade  langweilig  und  geistlos. 

»Wachtelgesang,  d.  i.  warhafftige,  gründliche  und  eigentliche  Nah- 
mens-Abbildung,  wie  man  nemlich  jetziger  Zeit  das  schändliche  heillose 
Gesindlein  der  guten  Müntz-Ausspäher  und  Verfälscher,  welche  der  Teuf- 
fei als  ein  Meister  alles  Betruges  in  diesen  letzten  Häfen  der  Welt  auss- 
gebrütet  hat,  in  dem  Wachtelschlag  oder  Gesang  so  artig  und  deutlich 
mit  ihrem  rechten  Nahmen  genennet  und  nahmhaQl  gemacht  worden. 
Darbei  dann  Augenscheinlich  zu  sehen,  was  vor  unaussprechlicher  Schaden 
das  Teuffelische  Geldverfälschen  unserm  lieben  Vaterland  Deutscher  Na- 
tion zugefilget  wird,  wie  auch  aller  Stände,  sonderlich  aber  des  lieben 
Armuts  eusserstes  verderben  muthwilliger  weise  dardurch  verursacht 
und  mit  Fleiss  gesucht  wird.  Gestellet  von  Crescentio  Steigern,  Valde- 
Joachimico.  Gedrucket  zu  Kipswald,  am  kleinen  Schreckenberg 8  gele- 
gen. Im  Jahr  Dar  Innen  GoLD  VnD  SILber  rein  In  KVpffer  Ist  Verkehrt. 
0  Pein!«  (1621.)  —  In  Knittelversen.  Der  Witz  drehet  sich  um  den 
Wachtelruf:  Kippdiwipp.    Von  der  Poesie  genügt  folgende  Probe. 

»Dass  solche  loss  verfluchte  Leut 

In  Rürtzen  es  dahin  gebracht, 

Welchs  kein  Mensch  auff  der  Welt  gedacht, 

Dass  ein  Reichst  haier  in  der  Summen 

Sobald  sollt  auf  5  Gulden  kummen. 


8)  Man  erkennt  die  witzlosen  Anspielungen  auf  die  JoachimsthaJer,  die  Schrecken- 
berger  Münzen  etc. 


332  Wilhelm  Röscher,  [70 

Welches  mein  Nachbarn  wird  missfallen, 

Der  jetzund  sol  sein  Hauss  bezahln 

Andre  wercjen  dess  auch  nicht  froh, 
Die  Species  in  deposito 
Genommen  haben  vor  vier  Jahren, 
Müssens  mit  Schaden  jetzt  erfahrn  etc.« 

»Historische  Relatio,  dass  jüngst  1 .  und  2.  Nov.  Allerheiligen  dieses 
1 621 .  Jahres  in  Parnasso  unter  den  Göttern  über  jetzigen  in  Teutschland 
wesendem  Kriegs  -  und  Müntzwesen  gehaltenen  Rathschlag.  Wie  der- 
selbige  observiret  und  aufgenommen  durch  Chrislodorum  Pistopatriotam 
Vargium.«  (Ohne  Druckort.)  —  Mit  sehr  viel  eingemengtem  Latein,  über- 
haupt sehr  zopfig,  aber  nicht  ohne  Geist,  grobianischen  Geist9.  Mars  mit 
seinen  Genossen  und  Mercur  mit  den  seinigen  wird  bestraft.  Den  Krieg 
giebt  der  Verfasser  hauptsächlich  den  Essuiten  oder  Jesuwiddern  Schuld, 
wobei  u.  A.  selbst  die  engen  Hosen  der  Ordensbrüder  vorkommen.  (»Da- 
mit, wenn  sie  bei  jungen  Weibern  liegen,  nicht  allzeit  die  Hosen  auff- 
binden,  oder  durch  dicke  Kleyder  gehindert,  jnen  der  Pinsel  zu  kurz 
werde.«)  Schliesslich  wird  den  Kippern  und  Wippern  aus  dem  Corpus 
Juris  nachgewiesen,  dass  sie  sacrilegium,  crimen  laesae  majestalis  began- 
gen, die  lex  Julia  de  vi  publica,  lex  Cornelia  de  sicariis,  lex  Julia  de  an- 
nona  übertreten  haben,  crimen  falsi,  Injurien,  Diebstahl  üben,  usurarii 
sind  u.  dgl.  m. 

»Mysterium  mysteriorum  mundanorum,  d.  i.  ein  Welt-  und  Geldge- 
heimniss,  oder  kurze  Satyra  und  freyer  Discurs,  darinnen  öffentlich  recht 
und  respective  theologico-politice  von  dem  grossen  Mangel,  so  bey  Reichen 
und  Armen  mit  grossem  klagen  und  seufltzen  in  der  gantzen  Christen- 
heit im  schwang  gehet,  tractirt  und  die  Welt  proponirt  wird:  1)  der 
hochschädliche  Weltschad  der  Geld  Aufschlag ;  2)  der  schändliche  un- 
leidliche unerträgliche  und  unverantwortliche  Wucher  dess  interesse  per- 
cento;  3)  der  schändliche  und  unleidliche  auffkauff  der  Victualien  und 
Wucher  zu  wohlfeilen  Zeiten  auf  künftige  Thewrung,  Auffschlag  und 
Unglück.«  Von  MM.  C.  (Ohne  Druckort,  1 620.)  —  Eine  sehr  geschmack- 
lose Erfindung.  Dem  Verfasser  träumt 10  von  einer  unermesslichen  Volks- 


9)  Wer  diese  Schrift  mit  dem  Hans  Sachsischen  Götterrathe  über  Deutschland 
(1544)  vergleicht,  der  wird  freilich  einen  merkwürdigen  Abstand  zu  Ungunsten  jener 
finden.    Näher  liegt  die  Vergleichung  mit  Fischart. 

10)  Gerade,  wie  im  letzten  Viertel  des  16.  Jahrhunderts  die  Pritschmeislergc- 


?*]  Aeltebe  deutsche  Nationalökonomik.  333 

Versammlung,  die  über  die  schweren  Zeiten  betrübt  ist,  und  von  wel- 
cher er  nun  aufgefordert  wird,  seine  Vorschlage  zur  Abhülfe  der  Noth 
zu  machen.  Dieser  Eingang  ist  9  Seiten  lahg,  die  eigentliche  Rede  1 4V2 
Seiten.  Wenn  S.  26  über  den  Zinsfuss  von  7 — 20  Procent  geklagt 
wird,  so  ist  das  in  jener  Zeit  des  Krieges  und  der  Münzfälschung  nicht 
unbegreiflich. 

Auf  einer  Mittelstufe  zwischen  der  bellettristisch -populären  und 
wissenschaftlichen  Behandlung  der  grossen  Zeitfrage  steht:  »Vindicatio 
et  excusatio  publicanorum  germanicorum  propria,  d.  i.  Eigene  Ehrenret- 
tung und  Entschuldigung  der  jetzigen  Deutschen  Zöllner,  Wipper,  Kip- 
per, newer  Müntzer,  Land-  und  Leut-Betrieger  etc.  Auch  derselben 
überaus  grosser  Nutz,  empfindliches  Heil  und  erspriessliche  Wolfahrt, 
die  sie  unserm  lieben  Vaterlande  (wie  sie  gentzlich  darfür  halten)  sollen 
und  wollen  gestiftet  haben  etc.  Durch  Fochum  Neunmann  Ramburgen- 
sem, Theol.  Stud.«  1622.  (Ohne  Druckort.)  —  In  sehr  schlechten  Ygr- 
sen  wird  hier  die  Selbstverteidigung  der  Kipper  und  Wipper  ausge- 
führt und  widerlegt.  Namentlich,  dass  ihr  Verfahren  sie  bereichere, 
ohne  doch  jemand  Anders  zu  schaden ;  (die  Theuerung  schadet  Allen, 
auch  den  Kippern  selbst,  oder  doch  ihren  Kindern  mit.)  Dass  ihre  Theue- 
rung in  der  Bibel  geweissagt  sei ;  ja,  aber  mit  Ungeziefer,  Heuschrecken 
etc.  zusammen,  und  denen  gleichen  die  Kipper  wirklich.)  Endlich, 
dass  es  doch  eben  ihr  Handwerk  sei,  dem  auch  der  göttliche  Segen 
nicht  fehle ;  (der  Verfasser  stellt  es  mit  dem  Diebstahle  zusammen.)  Die 
Theuerung  der  Waaren  erklärt  unser  Buch  nur  daher,  dass  die  Kipper  und 
Wipper  ihr  ttbersilbertes  Kupfer  auszugeben  suchten,  bevor  es  roth  wurde, 
auch  sonst  wegen  ihres  leichten  Erwerbes  furchtbar  verschwendeten. 

Eine  sehr  eigentümliche  Ausartung  der  damals  allmälich  abster- 
benden Gewohnheit,  alles  geistige  Leben  theologisch  zu  färben,  sind  die 
zahlreichen  Parodien  geistlicher  Themata  zu  weltlichen  Zwecken.  So 
z.  B.  »Ein  newe  Litaney,  Beedes  für  die  arme  nohtleydende  Christen 
unnd  für  die  reichen  unbarmherzigen  Juden.  Gestellt  durch  Lazarum 
Patientem  von  Armutheya.  Gedruckt  zu  Pressburg  im  Hungerland,  1624, 
Im  Monat :  Wenn  man  singt  von  dem  heyligen  Geist,  da  das  Korn  gilt 
am  allermeyst.«  —  Nach  unserem  Gefühle   durchaus  blasphemistisch. 


dichte  gern  mit  einem  Traume  eingeleitet  werden:  vgl.  Gervinus  Gesch.  der  deut- 
schen Nationalliteratur  HF,  S.  4  44. 


0 


334  Wilhelm  Roscheb,  [72 

Links  steht  das  Christliche,  rechts  das  angeblich  Jüdische.  »Kyrie  Eley- 
son.  (Gieb  mir  meh  Geld  z'Iösen.)  Ghriste  Errhöre  uns.  (Kiste  Bereiche 
uns.)  Herr  Gott  Vater  im  Himmel.  (Herr  Mammon  unser  Vater.)  Herr 
Gott  Sohn  der  Welt  Heiland.  (Herr  Gold  unser  Heiland.)  Herr  Gott  hei- 
liger Geist.  (Herr  Geld  heilloser  Geist.)«  U.  s.  w.  —  So  ist  das  »Evange- 
lium zu  lesen  von  dem  hochstraffbarlichen  Unwesen  der  Kipper  und 
Wipper«  (Ohne  Druckort,  \  622.)  eine  sehr  frivole  wörtliche  Parodie  von 
Matth.  11,  2  ff.  Ganz  nach  Art  eines  geistlichen  Liedes  geht  die  Schrift : 
»Der  Armen  Seufftzen  über  der  Ungerechtigkeit,  so  überhand  nimpt  diese 
zeit,  durch  übermacbtes  Müntzn  und  Wippen,  die  d'  Armen  ins  Verder- 
ben kippn.  Gestellt  zu  Nutz  dem  Vaterland  durch  einen  der  Gregor 
Ritzsch  genandt.  Leipzig :  im  Jahr,  da  gute  Müntz  verschwandt,  Kipper 
VerDerben  eVr  LeVt  VnD  LanD.«  (1621.) 

Unter  den  zahllosen  Predigten,  welche  gegen  die  Kipp  wipperei 
./  gehalten  und  zum  Theil  auch  gedruckt  sind,  hebe  ich  nur  eine  hervor 
^  ^  von  Joh.  (fepfelbach,  Pfarrer  zuLössnigk:  »Wippergewinnst,  d.  i.  christ- 

liche und  wohlmeinende  Erinnerung  an  die  unchristlichen  Geldhändler, 
so  den  zuvor  unerhörten  Namen  K.  und  W.  führen,  durch  welche  aller- 
ley  Landsbeschwerung  eingeflihret  und  verursacht  worden,  da  sie  zwar 
Geld  und  Gut  gewinnen,  doch  hingegen  Gottes  ernste  und  unausblei- 
bende  Straffe  verdienen.  Ob  doch  etliche  etlicher  Massen  in  sich  gehen, 
und  ihrem  eigenen  Verderben,  danach  sie  gehen,  entgehen  möchten.« 
(Leipzig,  1621.)  —  Eine  nicht  üble  Predigt  in  Versen.  Gleich  Anfangs 
wird  der  Krieg  mit  Recht  als  eine  günstige  Gelegenheit  für  die  Wipper 
bezeichnet.  Ebenso  treffend  geschildert,  wie  diese  letzteren  alles  gute 
Geld  zurückhalten,  mit  dem  schlechten  Immobilien  kaufen  etc.  Die 
Gründe,  womit  sie  ihr  Thun  zu  vertheidigen  pflegten,  waren  vornehm- 
lich folgende :  Kaufleute  müssen  von  ihrem  Handel  leben ;  Geldhandel 
ist  ebenso  erlaubt,  wie  Handel  mit  Waaren ;  thue  ich's  nicht,  so  thun  es 
andere  Leute ;  man  muss  sich  nach  der  Zeit  richten ;  viele  Dinge  wer- 
den jetzt  üblich,  die  es  früher  nicht  waren ;  u.  dgl.  m. 

Als  wissenschaftliche  Bekämpfer  des  Münzunwesens 
gelten  in  dieser  Zeit  besonders  Geitzkofler,  Henckel,  de  Spaignart  und 
Lampe,  die  nicht  bloss  von  den  Zeitgenossen  als  Auctoritäten  citirt  wer- 
den, sondern  zum  Theil  noch  lange  nach  ihrem  Tode11. 

4  4)  So  ist  z.  B.  während  einer  spätem  Münzverwirrung,  gleichseitig  mit  den 
Raubkriegen  Ludwigs  XIV.,   zu  Frankfurt  und  Leipzig  4  690   eine  anonyme  Schrift 


73]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomie.  335 

ZachariasGeitzkoflerzu  Gaylenbach,  Ritter  und  kaiserlicher 
vornehmer  Rath,  gehörte  unter  K.  Matthias  und  Kiesel  zu  den  Gemäs- 
sigten, welche  vor  den  Heisspornen  der  katholischen  und  absolutisti- 
schen Partei,  wie  z.  B.  der  nachmalige  K.  Ferdinand  IL,  zu  warnen 
pflegten 12.  Seine  Schrift :  »Ausführliches  in  den  Reichs  Constitulionibus 
und  sonsten  in  der  Experienlz  wolgegrttndetes  Fundamental  Bedencken 
über  das  eingerissne  höchstsch&dliche  Mttntz  Unwesen  und  stäygerung 
der  groben  Geltsorten  von  Golt  und  Silber,«  ist  ein  dem  Kaiser  gegebe- 
nes Gutachten,  welches  nach  dem  Tode  seines  Verfassers  von  einem 
»Liebhaber  der  Gerechtigkeit  der  teutschen  Nation  zum  Besten«  1622 
zum  Druck  befördert  wurde.  —  Er  bemerkt  hierin  treffend,  dass  »zwi- 
schen Gold  und  Silber  per  naturam  rerum  im  Werck  nimmermehr  keine 
gewisse  Vergleichung  zu  finden,«  obschon  das  Reichsmttnzedict  eine  ge- 
wisse Proportion  festsetze.  (S.  28.)  »Der  wesentliche  Reichthum  besteht 
in  der  Substanz  des  Goldes  und  Silbers.«  (S.  31«)  Dieser  münzpolitisch 
ganz  richtige  Gedanke  wird  dann  freilich  zur  Unterlage  eines  Mercantil- 
systems  gemissbraucht.  Es  sei  wfinschenswerth,  Gold  und  Silber  mög- 
lichst im  Reiche  festzuhalten.  Deutschland  werde  alljährlich  ärmer,  weil 
die  ausgehenden  Waaren  viel  weniger  Werth  haben,  als  die  eingehen- 
den, zumal  solche  unnützen  Scheinwaaren,  als  Borten,  Seiden,  Sam- 
met  etc.  Daher  sollte  man  streng  auf  die  Luxusverbote  der  Reichspoli- 
zeiordnungen halten,  die  Ausfuhr  ungemttnzten  Goldes  und  Silbers  ver- 
bieten, die  des  gemünzten  an  jeweilige  obrigkeitliche  Erlaubniss  bin- 
den etc.  (S.  48  fg.) 13 


erschienen:  »Das  bey  dieser  Zeit  landverderbliche  Müntzwesen,  worinnen  vornemblich 
dieser  Hauptpunkt  und  Frage  mit  vielen' Beweissgründen  examiniret  und  ausführlich 
erörtert  wird :  Ob  eine  hohe  Christliche  Obrigkeit,  umb  ihres  eigenen  Nutzens  willen, 
die  Müntze  von  Zeit  zu  Zeiten  umbzumüntzen,  schlechtere  und  geringere  daraus  zu 
machen,  mit  gutem  Gewissen  zulassen  und  billigen  könte,  u.  s.  w.c  —  Fast  ganz  der 
wiederaufgewärmte  Spaignart,  doch  ohne  dessen  Namen  zu  nennen  1 

4  2)  Vgl.  sein  merkwürdiges  Schreiben  bei  Londorp  Acta  publica  /,  S.  4  84  fg., 
worin  er  sich  auf  Thuanus  beruft  und  den  Gang  des  spätem  dreissigjährigen  Krieges 
ziemlich  voraussagt. 

4  3)  Geistig  verwandt  mit  Geitzkofier  ist  eine  Reihe  mehr  oder  minder  lehrrei- 
cher Münzbedenken  der  Reichskreise,  die,  zwischen  4  603  und  4  607  ergan- 
gen, alle  schon  über  grossen  Verfall  des  Münzwesens  klagen.  Das  fränkische  Beden- 
ken trägt  besonders  auf  Luxusverbote  an,  um  die  Geldausfuhr  zu  hindern ;  das  bayer- 
sche  unmittelbar  auf  Verbot  der  Geldausfuhr,  daneben  freilich  auch  auf  Verbote  der 
Einfuhr   schlechter  Münzen,   des   unmässigen   Scheidemünzen*,    des   Umwechseins 


336  Wilhelm  Röscher,  P* 

Wesentlich  anders  lauten  die  Systeme  der  Geistlichen,  von  denen 
zu  jener  Zeit  die  protestantischen  an  wissenschaftlicher  Bildung  den  ka- 
tholischen nichts  weniger  als  überlegen  waren.  Tobias  Henckel, 
Pastor  zu  Halberstadt,  ist  der  Verfasser  von  drei  hierher  gehörigen 
Schriften.  1)  »Gewissenstritt  aller  sicheren  Leugenhöltzer,  Geldhändler 
und  Müntzer.  Darum  erörtert  wird  die  dreyfache  Frage :  ob  jemand  mit 
gutem  Gewissen  könne  seinen  Beruff  verlassen,  ein  Geldhändler  werden 
und  sich  zum  heutigen  Mttntzwesen  begeben.  Anfangs  gepredigt  bey 
Anlass  des  Evangeliums  auf  den  V.  Trinitatis  «  (Halberstadt,  1621.)  — 
Hier  wird  gezeigt,  dass  die  Ausschiessung  und  Wegsendung  der  guten 
Münzen  dolus  malus,  stelliotialus  (»Finanzerei«)  und  Wucher  sei  (S.  1 3  ff.) : 
Alles  ohne  im  Mindesten  auf  das  Wesen  der  Sache  einzugehen,  aber  mit 
sehr  weitschweifiger  Berechnung,  wieviel  Procent  ein  Kipper  bei  ra- 
schem Umsatz  jährlich  gewinnen  könne.  Dagegen  lauter  moralische  und 
juristische  Trümpfe.  »Betrachte,  was  das  Dir  Leute  seyn,  die  da  wehrt, 
dass  sie  unredlich  gemacht,  das  Entwendete  mit  Hohn  oder  Spott  wie- 
dergeben, auss  ehrlichen  Emptern  und  Zünfften  gesetzt,  den  Dieben 
gleich  geachtet  und  an  Leib  und  Leben  gestrafft  werden  sollen.«  (S.  1 3.) 
—  2)  »Gewissensspiegel  aller  eigennützigen  Käuffer  und  Verkäuffer.« 
(Halberstadt  1621.)  Später,  als  die  vorige  Schrift.  Beantwortet  die  Fra- 
gen, ob  der  heutige  Aus-  und  Vorkauf  einem  Christen  anstehe,  und  ob 
eine  gewissenhafte  Obrigkeit  ihn  zulassen  dürfe.  Von  der  grossen  Waa- 
rentbeuerung  wird  »nächst  unserer  Sünde«  als  Hauptursache  die  Münz  Ver- 
ringerung bezeichnet,  namentlich  da  die  Geldhändler,  »weil  sie  des  Dreckes 
ohne  sonderliche  Mühe  viel  haben,  es  aufs  Tollste  ausgeben.«  Dazu  aber 
noch  die  Bosheit  der  Verkäufer,  welche  die  Waaren  zurückhalten  oder 
exportiren.  Die  volkswirtschaftlichen  Ansichten  des  Herrn  Pfarrers 
sind  naiv  antimercantilistisch.  So  z.  B.  dass  man  billigerweise  haupt- 
sächlich mit  den  Landsleuten  verkehren  soll,  der  Handel  »zum  Nutz  des 
ganzen  Regiments,  d.  h.  aller  und  jeder  Einwohner,«  dienen  muss  (S.7); 
dass  es  »in  nützlichen  Kaufmannschaften  erfordert  wird,«  für  unsere 
Waaren  andere  nöthige  Waaren  wiederzuerhalten,  da  sonst  Mangel  und 
schwere  Theuerung  entstehen  muss.  (S.  9.)  —  3)  »Extract  funfzehner 


schlechter  gegen  gute  Münze,  (ausser  von  Staats  wegen,  um  die  schlechte  einzuzie- 
hen.) Im  oberrheinischen  Bedenken  wird  als  gültige  Entschuldigung  vieler  Münzver- 
ringerungen die  Erschöpfung  der  Bergwerke  angeführt,  deren  Baukosten  doch  immer 
noch  gewachsen  seien. 


7S]  AELTERE  DEUTSCHS  NATIONALÖKONOMIK«  337 

Trostreden  wider  die  neulich  erregte  and  noch  nicht  ganz  beigelegte 
Thewerung  und  Verwirrung,  wie  auch  in  eventum  noch  ktinfftige,  wohl 
grössere.  Neben  angehengte  Tröstungen  fUr  bussfertige  Kipper  und 
Mttntzere.«  (Magdeburg,  1 622.)  Hier  wird  vornehmlich  eingeschärft,  in 
der  Mttnznoth  Gottes  Strafe  zu  erblicken,  die  wir  überreichlich  verdient 
haben,  die  auch  immer  noch  milder  ist,  als  Krieg,  Feuer,  Peslilenz  und 
ahnliche  Heimsuchungen.  Sie  kann  auch  durch  Menschenkunst  geheilt 
werden,  indem  man  das  Münzrecht  wieder  unmittelbar  an  den  Staat 
zieht,  die  Münzgesetze  streng  befolgt,  Taxen  festsetzt,  die  Waarenein- 
sperrung  verbietet  etc.  Auch  bei  diesem  Uebel  ist  Ungeduld  und  Ver- 
stockung  das  Schlimmste.  —  Man  sieht,  eine  Menge  von  Wahrheiten, 
mehr  aus  Systemlosigkeit,  als  aus  richtigem  System,  eben  darum  von 
dem  Verfasser  selbst  in  ihrer  Tragweite  gänzlich  verkannt  und  durch 
beigefügte  Irrthttmer  geradezu  paralysirt. 

Andreas  Lampius,  Pfarrer  zu  Hall  in  Sachsen,  schrieb  ver- 
muthlich  im  Jahr  1 622 :  »De  ultimo  diaboli  foetu,  d.  i.  von  der  letzten 
Bruth  und  Frucht  des  TeufFels,  den  K.  und  W.,  wie  man  sie  nennt, 
welche  einen  newen  Ranck  erdacht,  reich  zu  werden,  und  für  niemand, 
als  für  sich  und  die  ihrigen  gross  Gelt  und  gut  zusammenkratzen,  wie- 
wol  mit  eusserstem  Verderb  der  gantzen  deutschen  Nation,  vom  höch- 
sten bis  auff  den  Nidrigsten  Grad,  der  Landesftirsten,  sowol,  als  der  al- 
lergeringsten Bettelleute  in  der  Christenheit,  was  von  denselben,  und 
ihren  Helffershelffern,  etlichen  Mttntzern,  Juden  und  Jüdengenossen  zu 
halten,  den  Elenden  armen  Kippherrn,  wie  reich  sie  auch  sonsten  sein, 
zur  Nachrichtung  Buss  und  Bekehrung  geschrieben.«  Hier  wird  fol.  17  ff. 
in  grosser  Breite  gezeigt,  dass  die  Kipp  wipperei  jedes  der  Zehngebote 
verletze 14.  —  Ungleich  wichtiger  ist  eine  scheinbare  Gegenschrift :  »Ex- 
purgatio  oder  Ehrenrettung  der  armen  K.  undW.,  so  mit  grosser  Leibes- 
und Lebensgefahr  jetziger  Zeit  ihre  Nahrung  mit  dem  Wechsel  suchen. 
Gestellet  durch  Cniphardum  Wipperium  Kiphusanum,  jetzo  bestellten 
speäal-Vf  echssler  in  The  wringen.«  (1 622.)  Mit  dem  Motto :  Dat  veniam 
corvis,  vexat  cenmra  columbas,  wird  die  sehr  richtige  nnd  in  damaliger 
Zeit  fast  unerhörte  Betrachtung  eingeleitet,  dass  man  doch  nicht  bloss 


1 4)  Dass  Lampius  in  Folge  dessen  mit  einer  Injurienklage  heimgesucht  worden, 
behauptet  die  Schrift :  »Das  bey  dieser  Zeit  landverderbliche  Müntzwesen«,  (Frankf . 
und  Lpzg.  1690)  S.  38. 


338  WauELM  Roschkb,  [76 

die  K.  und  W.  selbst,  sondern  zugleich  deren  hohe  Beschützer  angreifen 
sollte.  »Die  kleinen  Diebe  hengt  man,  die  mittelmessigen  lest  man  lauf- 
fen,  vor  den  grossen  helt  man  den  Hut  in  der  Handt  und  setzet  sie  an 
Fürstliche  Taffein.« 

Ueberaus  charakteristisch  für  seine  Zeit  ist  Christian  Gilbert 
de  Spaignart,  Pfarrer  zu  Magdeburg15:  »Theologische  Müntzfrage, 
ob  christlich-evangelische  Obrigkeiten  umb  ihres  eigenen  Nutzes  willen 
die  Müntz  von  Zeit  zu  Zeiten  mit  gutem  Gewissen  schlechter  und  gerin- 
ger können  machen  lassen  ?  Kürtzlich  und  einföltiglich  nach  Inhalt  dess 
heiligen  ewigwehrenden  Wortes  Gottes  erörtert  und  beantwortet.«  (Mag- 
deburg, 1621.)  Nach  vielen  captationes  benevolentiae  an  die  Magdebur- 
ger Behörden,  welchen  das  Buch  gewidmet  ist,  unterscheidet  der  Ver- 
fasser vier  Arten  von  Recht :  Exempelrecht,  das  er  missbilligt,  nur  in 
Nolhföllen  zulässt;  Juristenrecht,  das  gegen  die  obrigkeitlichen  Falsch- 
münzer streitet;  Kirchenrecht,  wobei  er  mehrere  Stellen  des  A.  T.  an- 
führt ;  Gewissensrecht.  Hiernächst  werden  alle  die  Sittenregeln  herge- 
zählt, welchen  das  Kipper-  und  Wipperthum  widerspreche.  Verbot  des 
Geizes,  des  Druckes  gegen  die  Kirche,  die  Prediger  nicht  zu  bösen  Hän- 
deln zu  reizen,  ihnen  das  Strafamt  nicht  zu  legen,  die  Schulen  nicht  zu 
zerstören16,  den  Armen  ihr  Almosen  nicht  zu  schmälern,  die  Waisen  nicht 
zu  berauben ,  den  Fremdlingen  nicht  wehzuthun ,  die  Kranken  nicht  zu 
betrüben,  kein  Aergerniss  zu  geben,  der  Obrigkeit  nicht  zu  widerstre- 
ben, frommer  Vorfahren  Gedächtniss  nicht  auszulöschen17,  die  Obrigkeit 
nicht  zu  verachten18,  anderen  Obrigkeiten  ihr  Einkommen  nicht  zu  schmä- 
lern, keine  neuen  Steuern  aufzulegen  19t  die  Leute  nicht  arm  zu  machen. 


\  5)  Er  hatte  sich  schon  früher  als  rechtgläubiger  Kämpfer  gegen  die  Fama  fra- 
temitatis  R.  C,  (der  Rosenkreuzer)  16t 4,  hervorgethan. 

\  6)  Weil  jetzt  die  Studenten  wegen  der  Theuerung  nicht  mehr  auszukommen 
wissen. 

47)  Durch  Umprägung  des  Bildes  auf  alten  Münzen,  obschon  Christus  selbst  des 
heidnischen  Kaisers  Bild  und  Umschrift  so  hoch  gewürdigt,  dass  er  sie  in  seine  heili- 
gen Hände  genommen. 

\  8)  Wenn  sie  durch  Kipp  wipperei  sich  selbst  verächtlich  macht,  so  entspricht 
das  jenem  Verbote  ebenso,  wie  der  Selbstmord  dem  Verbote  der  Tödtung. 

4  9)  Nach  Rehabeams  Art,  sobald  die  Preise  ihr  Maximum  erreicht  haben  werden, 
die  Obrigkeit  also  viel  Geld  braucht,  und  man  doch  mit  der  Münzverringerung  nicht 
weiter  gehen  kann. 


77]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  339 

keine  Ursache  zum  Kriege  zu  geben20,  die  Soldaten  nicht  zum  Raube  zu 
verführen,  nicht  zur »Vertühlichkeit«  zu  locken21,  die  adeligen  Geschlech- 
ter nicht  zu  unterdrücken,  die  Gewerbe  nicht  zu  vertreiben,  den  Bücher- 
kauf nicht  zu  hindern 22,  die  Handwerker  nicht  um  ihren  Beruf  zu  brin- 
gen, jungen  Ehepaaren  nicht  ihr  Hochzeitsgeschenk,  Täuflingen  ihr  Pa- 
thengeld  zu  mindern,  Testamente  nicht  umzustossen,  den  Feinden  keine 
Ursache  zur  Lästerung  zu  geben,  Jähzornige  nicht  zum  Blutvergiessen 
zu  reizen23,  die  Jugend  nicht  von  ihrem  Berufe  abzubringen,  nicht  zum 
Lügen  und  Stehlen  zu  verfuhren,  nicht  Ursache  zur  Unordnung,  Unge- 
rechtigkeit, Landplagen  zu  geben,  die  Zehngebote  nicht  aufzuheben, 
den  Ackerbau  nicht  zu  hindern  2\  um  Christi  Willen  sich  böser  Münzen 
zu  enthalten25,  der  Frommen  Gebet  nicht  von  sich  zu  wenden,  keinen 
Fluch  auf  sich  zu  laden  etc.  Ben  Beweis  der  Regel  führt  Spaignart  mei- 
stens ganz  durch  Bibelstellen,  vornehmlich  aus  dem  A.  T.,  Sirach  etc. 
Sein  Geschmack  für  die  Form  zeigt  sich  u.  A.  im  Folgenden :  Solte  ein 
Maler  den  Geitz  malen,  so  müsse  er  ihm  ein  umb  sich  fressendes  Lö- 
wenmaul machen,  einen  unersätigen  Wolffsmagen,  einen  schmeichleri- 
schen Crocodillkopff,  durchstankernde  Katzenfüsse,  ein  bahr  Greiffsklawen 
und  darinnen  einen  diebischen  Judasspiess«.  (S.  47.)  * 

Von  demselben  Spaignart  rührt  noch  her :  »Die  ander  theologische 
Müntzfrage,  was  evangelische  christfromme  Obrigkeiten  bey  jetzigem 
entstandenem  bösen  Müntzen  in  acht  nehmen  sollen,  damit  sie,  soviel 
möglich,  ihres  Gewissens  pflegen  können.«   (Magdeburg,   1621.) w  — 


20)  Weil  jetzt  mit  einem  Thaler  so  viel  gemacht  werden  kanfi,  wie  früher  mit 
fünf.  (!!) 

2 1 )  Weil  Niemand  das  schlechte  Geld  lange  festhalten  mag. 

22)  Die  Landprediger  können  jetzt  nicht  einmal  die  Biblia  regia  oder  glossata 
mehr  kaufen. 

23)  Wenn  sie  von  den  Münzern  betrogen  sind. 

24)  Durch  den  hohen  Preis  der  Werkzeuge  etc.,  wobei  also  an  die  gleichzeitige 
Preissteigerung  der  Ackerbauproducte  gar  nicht  gedacht  wird. 

25)  Weil  nämlich  Christus  von  Paulus  einigemal  (Rom.  U,  29.  Kol.  4,15)  mit 
Münzen  verglichen  wird. 

26)  Ebenso  barbarisch  ist  die  Gelehrsamkeit,  die  S.  75  auf  Anlass  der  Hoch- 
zeitegeschenke ausgekramt  wird,  wo  z.  B.  ausführlich  die  Rede  ist  von  den  Hochzei- 
ten Peleus-Thetis,  Kadmos-Harmonia,  Alexander  d.  Gr.-Statira,  der  Hochzeit  zu 
Rana  etc. 

27)  Den  Hamburger  Behörden  gewidmet,  die  auch  im  Münzwesen  ehrlich  und 
mit  des  Verfassers  Wohnorte  im  engsten  Handelsverkehr  stünden. 


340  Wilhelm  Röscher,  [78 

Hier  wird  zuerst  nach  Anleitung  des  salomonischen  Thrones  die  Pflicht 
jeder  Obrigkeit  im  Allgemeinen  erörtert.  Die  sechs  Stufen  des  gedach- 
ten Thrones  entsprechen  der  pietas,  eruditio,  experienlia,  prudentia,  boni 
publici  observatio  und  assiduiias  in  officio ;  so  haben  auch  die  zwei  Löwen 
auf  jeder  Stufe  ihre  allegorische  Bedeutung,  und  alles  Uebrige  bis  zur 
Krone  hinauf.  Nachher  wird  gezeigt,  wie  die  Mttnznoth  eine  grössere 
Landplage  ist,  als  Pestilenz w,  wilde  Thiere  und  Ungeziefer,  Misswachs, 
Feuers*  und  Wassersnoth,  zumal  wegen  der  grössern  Allgemeinheit. 
Selbst  dem  Kriegselende  ist  die  Münznoth  gleichzustellen.  Gegen  die- 
jenigen, welche  von  der  Theuerung  damaliger  Zeit  auch  den  Krieg,  Miss- 
wachs etc.  als  Mitursachen  geltend  machten,  bemerkt  Spaignart,  dass 
umgekehrt  alle  diese  Uebel  nur  Strafen  Gottes  wegen  der  Münz  Verrin- 
gerung seien;  er  findet  hierzu  Analogien  im  Anfange  des  Jesaias.  (S.35fg.) 
Zu  den  schlimmsten  Freveln  der  Kippwipperei  zählt  er  die  Beraubung 
des  Altars,  welche  daraus  hervorgehe,  indem  jetzt  so  viele  kleinere 
Städte  den  theuern  Abendmahlwein  nicht  mehr  erschwingen  können. 
(S.  57.)  Unter  seinen  wirthschaftspolitischen  Vorschlägen  sind  die  wich- 
tigsten folgende.  Keine  Obrigkeit  soll  gestatten,  dass  Korn,  Vieh,  Waa- 
ren,  Arbeit  und  ähnlicher  Gottessegen  mehr  ausgeführt  werden,  bevor 
nicht  das  Land  selbst  durch  und  durch  zur  Genüge  damit  versehen  ist. 
(S.  69.)  Ebenso,  dass  nöthige  Bedürfnisse  »verhalten,«  d.  h.  aufgespei- 
chert werden.  (S.  74  ff.)  Ausserdem  fordert  er  ein  allgemeines  System 
obrigkeitlicher  Zwangstaxen,  (S.  78  ff.)  ferner  strenge  Aufwandsordnun- 
gen, weil  sonst  »Geldmangel  und  Theuerung«  (!)  entstehen  mttssten. 
Uebrigens  hat  Spaignart  alle  seine  Ermahnungen  bloss  für  lutherische 
Obrigkeiten,  um  diese  zu  bessern,  geschrieben;  allen  anderen  ruft  er 
mit  orthodoxer  Gemttthsruhe  einfach  ein  Wehe  zu.  (S.  \  02  fg.) 

Aus  den  zahlreichen  Facultätsgutachten  über  die  Münzver- 
wirrung hebe  ich  das  der  Jenaer  Theologen  vom  September  1 691  her- 
vor :  »Von  dem  hochsträfflichen  Müntzunwesen ,  so  jetzt  eine  zeithero 
hin  und  wieder  verübet  worden  ist,  rahtsames,  schrifilmässiges,  auss- 
fUhrliches  Bedencken.«  (Halberstadt,  1 622.)  —  Im  Eingange  wird  ge- 
zeigt, dass  ein  Theolog  zwar  nicht  im  einzelnen  Fall  sagen  könne,  wie- 
viel und  wann  die  Obrigkeit  Steuern  erheben  soll,  aber  doch  im  Allge- 


28)  Das  Verderben  ist  bei  der  Münznoth  viel  allgemeiner,  die  Nolh  verstärkt  sich 
selbst  wieder,  überlebt  die  etwa  sterbenden  Urheber  des  Unglücks  etc. 


79]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  341 

meinen  vor  zu  hohem  Steuerdrucke  warnen  rauss.  Ebenso  wird  auf 
Christi  Verfahren  gegen  die  Wechsler  im  Tempel  gedeutet,  um  das  Be- 
gutachtungsrecht der  Facultät  zu  beweisen.  Hiemächst  belegen  die  Ver- 
fasser sehr  weitschweifig  aus  der  Bibel,  dass  der  Christ  neben  dem  Glau- 
ben auch  nach  einem  guten  Gewissen  trachten  muss ;  dass  unrechtmäs- 
sige Erwerbung  zeitlicher  Güter  dem  Gewissen  widerstrebt;  endlich, 
dass  die  jetzige  Mttnzwirthschaft  in  vieler  Hinsicht  unrecht  ist,  sowohl 
ratione  causae  principialis,  (da  sie  nicht  von  Gott  herrührt,)  als  ratione 
causae  impulsivae,  (da  sie  der  Habgier  entspringt,)  und  causae  Instrumen- 
talis, (wobei  die  Verfasser  den  Juden  alle  möglichen  Lästerungen  Christi, 
Schlachten  christlicher  Kinder  etc.  vorwerfen:  S.  28  ff.)  Weil  das  Geld 
communis  rerum  mensura  ist,  so  muss  eine  Münzverringerung  alle  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  zerrütten.  (S.  42  ff.)  Sie  schadet  sämmtlichen 
drei  Ständen :  den  orantes,  (wobei  wegen  der  Prediger,  Studenten  etc. 
sehr  lange  verweilt  wird,)  den  defensores  und  dem  Hausstande.  Bei  dem 
letzten  freilich  übersieht  das  Gutachten  ganz,  dass  die  Bürger  und  Bauern 
doch  nicht  bloss  theuer  kaufen,  sondern  auch  theuer  verkaufen ;  ebenso 
dass  die  Schuldner  gewinnen,  was  ihre  Gläubiger  durch  die  Münz  Verrin- 
gerung einbüssen.  Alles  immer  vom  Standpunkte  des  einzelnen,  philiströ- 
sen Professors  betrachtet!  So  wird  z.  B.  S.  50  das  Steigen  des  Gesin- 
delohns daraus  erklärt,  dass  Jedermann  bei  den  Münzern  Dienst  nehme. 
Am  meisten  verlieren  die  Armen,  »weil  keine  kleinen  Münzsorten  mehr 
vorhanden.'«  Sehr  mangelhaft  wird  der  Beweis  geführt,  dass  die  Kipp- 
wipperei  dem  Staate  selbst  schädlich.  Da  heisst  es  u.  A. :  jetzt  schickten 
alle  Wohlhabenden  ihr  Silberzeug  auf  die  Münze ;  wenn  nun  das  Land 
einmal  in  Noth  geräth,  so  sind  alle  Nothpfennige  verschwunden,  »weil 
der  wesentliche  zeitliche  Reichthum,  so  in  der  Substantz  des  Goldes  und 
Silbers  besteht,  mehrentheils  hinweg,  und  das  leichte  Geld  sich  mit  der 
Zeit  auch  verloren.«  (S.  54.)  Die  Kippwipperei  sündigt  wider  Gott,  den 
Nächsten  und  sich  selbst :  was  Alles  mit  sehr  äusserlicher  Benutzung  von 
Bibelstellen  und  in  gewaltigen  Tautologien  M  erörtert  wird.  Als  Mittel 
gegen  die  Münznoth  wurden  zu  jener  Zeit  folgende  empfohlen,  aber  von 
dem  Gutachten  (S.  74  ff.)  verworfen:  Erwartung  des  nahen  tausendjäh- 


29)  So  z.  B.  (sub  4b),  weil  Gott  verboten  hat,  den  Nächsten  um  Hab  und  Gut 
zu  bringen,  (1d)  weil  Gott  will,  dass  man  sich  der  Gerechtigkeit  befleissige,  (3b)  weil 
die  Kippwipperei  Gottes  Wort  zuwiderläuft,  (3f)  weil  sie  auf  den  Sünder  selbst  und 
dessen  Nachkommen  Gottes  Zorn  ladet. 


342  Wilhelm  Röscher,  [80 

rigen  Reiches,  Gütergemeinschaft,  Murren  gegen  die  Obrigkeit,  ja  sogar 
Aufruhr  gegen  die  Juden  etc.  *°  Wahre  Mittel  hingegen  sind  folgende : 
vera  conversio,  wobei  wir  die  Münznoth  als  Strafe  unserer  Sünde  erken- 
nen, uns  selbst  als  den  verlorenen  Groschen  im  Evangelium,  und  uns 
würdig  machen,  als  Münze  mit  dem  Gepräge  von  Gottes  Ebenbild  in  die 
himmlische  Schatzkammer  gelegt  zu  werden ;  ferner  seria  oratio,  eincera 
emendalio,  disciplinae  ecclesiaslicae  instauratio,  indem  zu  kräftiger  Ver- 
weigerung der  Pathenschaft,  Absolution,  Communion  und  kirchlichen  Be- 
stattung gegen  die  Uebelthäter  gemahnt  wird. 

Einen  erfreulichen  Gegensatz  bildet  es  zu  diesen  Salbadereien,  wenn 
die  Juristenfacultäten  zu  Leipzig  (4  622)  und  Wittenberg  (1623)  sich  in 
Gutachten  dahin  aussprechen,  dass  bei  Schuldverhaltnissen  immer  auf 
den  valor  intrimecus  der  Münzen  gesehen  werden  soll 3i.  Es  war  dies 
gerade  in  Sachsen  durchaus  nicht  so  selbstverständlich,  wie  es  scheint, 
da  1609  das  kurfürstliche  Decret  der  Appellation-Rhäte  verordnet  hatte, 
mehr  auf  die  bonitas  extrinseca,  als  intrinseca  zu  achten. 

Wir  beschliessen  diese  Auszüge  mit  einer  Schrift,  welche  selbst  eine 
Art  von  Encyklopädie  der  ganzen  hierher  gehörigen  Literatur  sein  will. 
»Speculum  Kipperorum,  d.  i.  Kipper-  und  Schacherspiegel,  darin  zu  sehen, 
wer  sie  seyn,  was  von  ihnen  zu  halten,  wie  sie  zu  respectiren,  wiederumb 
was  sie  angerichtet  und  übels  gestiftet,  auch  desswegen  verdienet.  Dess- 
gleichen  was  von  den  Auff-  und  Ausskäufeln  zu  halten,  ob  sie  es  mit 
gutem  Gewissen  thun,  und  eine  christliche  Obrigkeit  gestatten  könne 
oder  solle?    Allen  frommen  ehrliebenden  Christen,  die  sich  dess  Kippen 


30)  In  dieser  Hinsicht  schliesst  sich  dem  Gutachten  folgende  Schrift  an :    »Wohl 

meinende  Warnung  vor  Tumult  und  Auffruhr,  dar  innen erwiesen  wird ,  dass 

der  gemeine  Pöbel,  als  privat  Personen,  nicht  recht  und  fug  haben,  derer  Öffentlichen 
Wipper,  Kipper,  Juden,  Juden  genossen,  falschen  Müntzer,  Vor-  undAuffkSuffer,  Auff- 
wechsler  und  dgl.  Betrüger  Hauser  zu  stürmen ,  und  also  hierdurch  die  gegen- 
wertige grosse  Thewrung  abzuschaffen.  Durch  Johannem  Weinreicher,  Isenacensem.* 
(Erfurt,  1622.)  —  Einen  merkwürdigen  Contrast  bilden  hier,  wie  in  den  meisten 
'ahnlichen  Schriften,  die  vielen  lateinischen  etc.  Citate  und  die  Beweisführung,  welche 
gegen  die  allerdümmsten  Vonirtheile  gerichtet  ist:  so  z.  B.  gegen  die,  welche  Selbst- 
hülfe des  Pöbels  mit  den  Steinigungen  des  A.  T.  rechtfertigen.  (S.  37  ff.)  Der  Ver- 
fasser meint  aber  mit  Recht,  irgendwie  seien  fast  alle  Menschen  mitschuldig  an  der 
Rippwipperei ;  hier  also  die  Selbsthülfe  zu  gestatten,  hiesse  einen  Krieg  Jedes  wider 
seinen  Nächsten  heraufbeschwören.  (S.  53.) 

34)  Aehnlich  die  zu  Augsburg  16 23  bei  Sebast.  Müller  herausgekommenen  Tria 
responsa  juris. 


84]  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  343 

enthalten,  zum  Trost;  den  verdampten  Gottesvergessenen  Land-  und 
Leuteverderbten,  hochmütigen,  stoltzen  ärgerlichen  Schacherern  und 
Geitzhalsen  aber  zur  Nachricht,  auch  Hohn  und  Spott  im  Druck  verfer- 
tigt durch  Johann  Winterfeld  Haygnensem,  Juris  divini  et  humani  culto* 
rem.it  (Hagenauw  im  Jahr  VLtor  MqVItatVM  glaDIVs  est.)  (1624.)  — 
Das  Verfahren  der  Kipper,  die  kleinen  Münzsorten  zu  fälschen,  die  gro- 
ben im  Preise  zu  steigern,  erklärt  das  Buch  als  gegen  die  Natur  der  Münze 
streitend :  denn  nummus  est  res  sterilis  et  ideo  inventus,  ut  esset  instrumen* 
tum  contractu»  legitimi,  non  ut  esset  merx,  quae  venderetur,  quaeque  suo 
usu  ingentem  pareret  fructum.  (S.  6.)  Mit  komischer  juristisch-theologi- 
scher Gelehrsamkeit  wird  den  Kippern  zwanzigerlei  schuldgegeben: 
u.  A.  dass  sie  den  Armen  das  Almosen  geschmälert  uüd  dadurch  Mörder 
geworden  seien ;  auch  sonst  zu  Morden  Ursach  gegeben,  zu  militärischer 
Plünderung,  Diebstahl  etc.  gereizt  haben,  (weil  die  Menschen  mit  ihrer 
bisherigen  Einnahme  nicht  mehr  auszukommen  vermögen.)  Sie  haben 
gegen  alle  fünf  Hauptstücke  des  Katechismus  gesündigt32,  ebenso  gegen 
die  drei  juristischen  Grundregeln,  (Neminem  laede  etc.)  haben  ein  sacri- 
legium  begangen,  (weil  man  nun  nicht  mehr  so  viel  in  den  Gotteskasten 
legt,)  Kinder  im  Mutterleibe  durch  Hunger  umgebracht,  (also  die  Ldx 
Cornelia  de  sicariis  übertreten,)  Fürstengepräge  zerbrochen  und  in  den 
Tiegel  geworfen,  (also  ein  furtum  cum  atroci  injuria!)  alle  Waaren  gestei- 
gert, (also  Verletzung  der  Lex  Julia  de  annona !)  »Aller  Ehr  und  dignitet 
seid  ihr  unfähig  und  unwürdig.  Non  digni  etiam  communione  s.  sacra 
coena  nee  sepultura,  dass  man  euch  zum  Nachtmahl  gehen,  zu  Gevatter 
stehen,  für  Zeugen  passiren,  endlich  auch  begraben  soll.  . . .  Euer  ge- 
raubtes Gut  gehört  der  hohen  Obrigkeit  als  fisco,  und  ist  solches  eueren 
Kindern  zu  extorquiren,  ne  alieno  scelere  ditescant.  Und  ihr  als  Dieb, 
Mörder  und  Geldverfölscher  gehöret  an  den  Galgen,  auff  das  Rad  und 
in  das  Fewer,  wie  die  beschriebenen  Rechte  . . .  (mehrere  Citate)  euch 
Kippern  solche  poenam  dictiren.  . . .  Welches  ihr  Geldmauscher  euch  nicht 
wollet  verschmähen  lassen  und  für  ein  calumniam  anziehen ;  dann  die- 
weil  ihr  nach  aussweisung   der  Kayserlichen  Recht  nicht  aHein  Leibs 


32)  Eine  Redeform,  die  bis  ins  18.  Jahrhundert  sehr  beliebt  war,  so  dass  z.  B. 
der  Hamburger  Neameister  noch  4720  nachwies,  die  Union  der  Lutheraner  und  Re- 
formirten  Verstösse  gegen  alle  Zehngebote,  alle  sieben  Bitten  des  Vaterunsers,  alle 
drei  Glaubensartikel,  sowie  die  Artikel  von  der  Taufe,  vom  Amte  der  Schlüssel  und 
Abendmahl. 

Abhandl.  d.  K.  S.  Oe«.  d.  Wiu.   X.  S8 


344  Wilh.  Ros€hbr,  Aeltere  deutsche  Nationalökonomik.  [82 

und  Lebens,  sondern  auch  aller  Ehr  verfallen,  so  kan  keine  calumnia 
oder  Ehrenrührige  schmach  wieder  euch  geredt  werden.  Ich  bin  gar 
gelind  mit  euch  umbgangen.«  Nun  folgen  allerlei  Kraftstellen  wider  Gei- 
zige, Wucherer  etc.  von  Augustin,  Basilius,  Ambrosius,  Luther  und  an- 
deren Theologen.    So  z.  B. :  »alle  Dieb,  so  in  hundert  Jahren  gehenckt 

worden,  so  viel  nicht  gestolen  haben,  als  die  Kipper Die  Schweden 

haben  solche  Gesellen  zum  teil  in  zerschmoltzener  Mttntz  gebrüet,  theils 
in  heissen  Wasser  ersäuft,  theils  an  hohe  Baume  gehencket.  0  dass 
doch  solche  scharffe  Exemtion  wider  etliche  solche  Grundschelme  anheut 
vollzogen  würde !  Sed  nondutn  otnnium  dierum  sol  occidit,  es  kann  die 
Straff  noch  hernach  kommen.«  —  Dieser  scharfrichterliche  Beigeschmack 
war  damals  nicht  bloss  in  der  juristischen,  sondern  auch  in  der  theolo- 
gischen Polemik  zu  beliebt,  als  dass  man  hier,  in  dieser  halbjuristischen, 
halbtheologischen  Abhandlung,  sich  darüber  wundern  sollte.  Merkwür- 
dig ist  hier  nur,  dass  nationalökonomische  Gründe  eigentlich  gar  keinen 
Platz  daneben  gefunden  haben.  In  vielen  damals  geachteten  Schriften 
gegen  die  Kippwipperei  werden  die  Gründe  sogar  durch  blosse  Schimpf- 
reden ersetzt.  So  heissen  die  Kipper  z.  B.  in  Georg  Zeaemann  Wucher- 
ArmSe,  S.  498:  »schädliche  gemeine  Landräuber,  Schelme,  die  ärger 
als  gemeine  Dieb,  Arger  als  Unkraut,  Meyneidige,  Eyd-  und  Pflichtver- 
gessene Leut,  Verächter  Gottes  Wort,  und  der  hochwürdigen  Sacrament» 
Epikurer«  etc.  Göldelius  in  seiner  Predigt :  Aetatis  ulcerosae  fomes  et  fu- 
mos  nennt  sie :  »Höllstinckende  Wucherer,  eingeteuffelte  und  durchteuf- 
feite  Geitzhälss,  abgefaumte,  abgeriebene  und  durchtriebene  Ertzkipper, 
leichtsinnige  Schandfunken,  Ertzdieb,  Grundschelmen«  u.  dgl.  m. 

Man  sieht  aus  diesem  ganzen  Kapitel,  wie  sehr  die  Obrecht,  Bor- 
nitz  und  Besold  über  dem  Durchschnitte  ihrer  Zeitgenossen  hervorrag- 
ten, wie  lange  folglich  das  im  ersten  Kapitel  aus  Männern  wie  Spangen- 
berg und  Erenberg  entlehnte  Bild  seine  Gültigkeit  bewahrte. 


&*  ■ 


H 


© 

DIE 


SCHLACHT  VON  WARSCHAU. 


1656. 


VON 


JOH.  GUST.  DROYSEN 


AbhandT.  d.  K.  8.  Oe».  d.  Wim.   X. 


•t 


Die  Schlacht  von  Warschau. 

1656. 


Die  grosse  dreitägige  Schlacht,  die  in  den  letzten  Julitagen  .4656 
bei  Warschau  geschlagen  worden,  ist  mililairisch  wie  politisch  von  her- 
vorragendem Interesse. 

Es  ist  die  erste  grosse  Feldschlacht,  von  der  man  nachweisen  kann, 
dass  sie  nicht  bloss  im  Handgemenge,  sondern  durch  eine  Reihe  com- 
binirter  Bewegungen  entschieden  ist,  Sie  zeigt  in  einem  besonders  spre- 
chenden Beispiel  das  Uebergewicht  der  Disciplin  und  der  tactischen 
Ausbildung  über  eine  Kampfweise ,  welche  die  Eigentümlichkeiten  der 
mittelalterlichen  Militairverfassung  fast  noch  vollständig  enthält. 

Es  ist  die  erste  Schlacht  der  preussischen  Armee.  In  ihr  hat  das 
Haus  Brandenburg  recht  eigentlich  seine  Souverainetät  begründet.  Mit 
ihr  tritt  der  werdende  Staat  in  die  Reihe  der  Mächte  der  baltischen 
Politik. 

Nicht  diese  Gesichtspunkte  sind  es,  welche  im  Folgenden  entwickelt 
werden  sollen ;  sie  durften  angedeutet  werden ,  um  in  der  Bedeutung 
des  Ereignisses,  von  dem  ich  handeln  will,  eine  Rechtfertigung  dafür  zu 
finden,  dass  ich  es  einer  kritischen  Erörterung  unterziehe.  Meine  Auf- 
gabe beschränkt  sich  darauf,  das  Material  namentlich  für  die  militairische 
Beurtheilung  dieser  tactisch  und  strategisch  gleich  anziehenden  Vorgänge 
zu  sichten  und  zurecht  zu  legen. 

Ich  werde  zuerst  von  den  Quellen  sprechen,  aus  denen  die  Schlacht 
kennen  zu  lernen  ist»  dann  den  Verlauf  derselben  nach  ihren  einzelnen 
Momenten  festzustellen  suchen.,  endlich  die  politisch-militairischen  Fä- 
den, die  sich  zu  diesem  Knoten  verschürzt  haben,  verfolgen. 


34 


348  Jon.  Gist.  Droysen,  [4 


I.  Die  Quellen. 

Bekanntlich  hat  Samuel  von  Pufendorff  in  seinem  1 695  veröffent- 
lichten Werk  de  rebus  gestis  Friderici  Wilhelmi  Magni  Electoris  die  Acten 
des  Berliner  Staatsarchive  in  völliger  Freiheit  benutzen  können  und  in 
wahrhaft  bewundernswerter  Weise  benutzt.  Es  schien  nach  ihm  nicht 
nöthig  zu  sein  von  Neuem  die  urkundlichen  Materialien  jener  Geschichte 
des  grossen  Churfllrsten  zu  durcharbeiten ;  das  was  Pufendorff  gab,  galt 
dafür  richtig  und  erschöpfend  zu  sein. 

Auch  in  Betreff  der  Warschauer  Schlacht ,  deren  Verlauf  er  aus- 
führlich darstellt  (VI.  3G — 40)  blieb  in  der  preussischen  Militairliteratur 
bis  in  die  neueste  Zeit  seine  Darstellung  maassgebend.  Und  die  allge- 
meine Kriegsgeschichte  nahm  wenig  Notiz  von  dieser  Schlacht  wie  über- 
haupt von  den  Kriegen  Karl  Gustavs  von  Schweden,  da  in  dieser  Disci- 
plin  Frankreich  seit  Turennes  Kriegen  und  Feuquteres  Memoiren  das 
allgemeine  Urtheil  bestimmte. 

Erst  Professor  S  t  u  h  r  t  der  sich  mit  Vorliebe  dem  Studium  der  Mi- 
litairgeschichte  Preussens  zuwandte,  versuchte  einen  Schritt  weiter  zu 
gehen.  In  einem  Aufsatz  vom  Jahr  1830  (in  v.  Ledeburs  Archiv  ///. 
p.  1  ff.)  »die  Schlacht  von  Warschau  aus  grösstentheils  bisher  unbenutz- 
ten Quellen«  benutzte  er  auch  Pufendorffs  Werk  de  rebus  a  Carolo  Gu- 
slavo  gestis,  das  1 696  erschienen  ist,  auch  einen  Schlachtbericht,  den 
der  Bitter  von  Terlon  in  seinen  Mcmoires  IL  p.  536  mitgetheilt  hat;  es 
scheint  ihm  nicht  aufgefallen  zu  sein,  dass  diese  beiden  Darstellungen 
weder  untereinander  noch  von  der  in  Pufendorffs  F.  W.  irgend  erheb- 
liche Abweichungen  boten ;  um  so  zuverlässiger  mochte  ihm  jeder  dieser 
drei  Berichte  erscheinen.  Auch  das  Theatrum  Europäerin  citirt  er ,  das 
(VII.  p.  963)  einen  ziemlich  sporadischen  Bericht  über  die  Schlacht 
bietet. 

Bald  darauf  (1836)  veröffentlichte  Herr  v.  Orlich  seine  Schrift 
»Friedrich  Wilhelm  der  grosse  Churftirst«  in  der  eine  neue  Darstellung 
der  Schlacht  versucht  ist  und  zwar  auf  Grund  eines  allerdings  in  vor- 
züglichem Maass  lehrreichen  Actenstttckes.  Es  ist  der  eigenhändige 
Bericht  des  Churftlrsten  über  die  Schlacht,  rasch  geschrieben  und  mit 
mancherlei  während  des  Schreibens  entstandenen  Correcturen  die  Ori- 


5]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  349 

ginalität  bekundend.  Es  stammt  aus  dem  Berliner  Staatsarchiv  und  ist 
von  dort  wie  andere  Archivalien  durch  den  Sammler  Konig,  der  lange 
Jahre  im  Archiv  gearbeitet  hat,  in  seine  eigenen  Sammlungen  hinüber 
genommen  worden ;  Königs  gesammter  Nachlass  kam  dann  an  die  Kö- 
nigliche Bibliothek  zu  Berlin ,  die  jenen  Schlachtbericht  als  ein  beson- 
ders kostbares  Autographon  aufbewahrt  (Ms.  Bor.  foL  356).  Herr 
v.  Orlich  hat  diess  Schriftstück  (Beilage  p.  1 39)  leidlich  genau  abdrucken 
lassen. 

Er  hat  noch  auf  einen  zweiten  merkwürdigen  Umstand  aufmerksam 
gemacht ;  die  Gebrüder  Merian,  sagt  er,  hotten  sich,  da  sie  das  Thealr. 
Europ.  herausgaben,  an  den  Churfürsten  mit  der  Bitte  uro  einen  Bericht 
von  brandenburgischer  Seite  gewandt ,  mit  dem  Vorgeben ,  dass  ihnen 
nur  solche  von  schwedischer  Seite  zugekommen  seien;  der  Churfttrst 
habe  seinem  Geheimenrath  v.  Jena  befohlen  einen  solchen  anzufertigen, 
weil  er  dabei  gewesen ,  doch  habe  sich  dieser  ansser  Stand  erklärt  es 
genügend  zu  thun,  worauf  ein  anderer  damit  beauftragt  worden.  Herr 
v.  Orlich  führt  eine  Stelle  des  Briefes  an ,  mit  dem  der  Bericht  an  die 
Herausgeber  des  Th.  Eur.  gesandt  worden  und  aus  dem  hervorgehe, 
dass  der  Churfbrst  den  Bericht  sich  habe  vorlesen  und  in  demselben 
einige  allzu  lobende  Stellen  streichen  lassen. 

Herr  v.  Orlich  hat  dann  1 838  in  seinem  grösseren  Werk  (Geschichte 
des  Preussischen  Staates  im  siebzehnten  Jahrhundert  mit  besonderer 
Beziehung  auf  das  Leben  Friedrich  Wilhelms  des  grossen  Churfilrsten 
/.  p.  127 — 137)  seine  frühere  Darstellung  der  Schlacht  mit  einigen  Er- 
weiterungen wiederholt,  auch  einen  Plan  der  Schlacht  beigefügt. 

Seitdem  ist  die  Schlacht  eingehender  und  nach  selbstständiger 
Forschung  so  viel  mir  bekannt  nur  von  Herrn  Carlson  (Geschichte 
Schwedens  IV.  p.  146 — 152  in  der  Uebersetzung  von  Petersen)  dar- 
gestellt worden.  Herr  Carlson  bemerkt,  dass  er  »hauptsachlich  nach 
E.  Dahlbergs  im  Reichsarchiv  aufbewahrtem  Bericht«  gearbeitet  habe. 

Wie  kam  der  Churftlrst  dazu  jenen  Schlachtbericht  zu  schreiben? 
wann  schrieb  er  ihn?  wie  verhalt  sich  dieser  Bericht  zu  dem,  der  dem 
Theatrum  Europaeum  zugesandt  wurde?  Herr  v.  Orlich  hat  es  unterlas- 
sen sich  diese  Fragen  aufzuwerfen. 

Als  ich  in  den  Vorarbeiten  zu  meiner  Geschichte  der  preussischen 
Politik  an  den  Feldzug  von  1656  kam,  fiel  mir  zunächst  die  Ueberein- 
stimmung  der  Berichte  bei  Terlon  und  in  Pufendorffs  beiden  Geschichte- 


350  Joh.  Gusr.  Droyser,  [6 

werken  auf1.  Ter  Ion  kam  im  Februar  1657  als  französischer  Gesandter 
in  Karl  Gustavs  Lager,  seine  Memoiren  sind  1684  publicirt;  der  Zeit 
nach  wttre  es  möglich,  dass  Pufendorff  sie  benutzt  hätte,  wie  er  wohl 
hie  und  da  ausser  den  Archivalien  auch  Geschichtswerke  seiner  Zeit 
z.  B.  Aitzema  benutzt  hat2.  Dass  es  in  Betreff  Terlons  nicht  geschehen 
ist,  zeigte  sich  bei  genauerer  Yergleichung  sofort;  und  unter  andern 
darin ,  dass  Kleinigkeiten ,  die  Pufendorff  hat ,  bei  Terlon  fehlen '.  Sie 
mttssten  beide  aus  denselben  Quellen  geschöpft  haben. 

Wer  einiger  Maassen  mit  dem  Quellenstudium  der  Geschichte  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  vertraut  ist ,  wird  voraus  setzen ,  dass  ein  so 
denkwürdiges  Ereigniss  wie  jene  Schlacht,  sogleich  in  allerlei  Zeitungen, 
Brochttren ,  fliegenden  Blättern  behandelt  sein  wird.  Er  wird  weiter 
vermutben,  dass  der  Sieger  den  Sieg  möglichst  gross,  die  Besiegten  die 
Niederlage  möglichst  klein  darzustellen  versucht  haben  werden,  dass 
namentlich  Danzig,  wo  man  so  gut  polnisch  gesinnt  war,  seine  grossen 
Verbindungen  benutzt  haben  wird,  die  öffentliche  Meinung  gegen  die 
Sieger  zu  stimmen ,  dass  es  im  Haag,  damals  einer  Gentralstelle  ftlr  die 
politischen  Neuigkeiten4,  mit  seinen  antischwedischen  »Zeitungen«  will- 
kommen gewesen  sein  wird.  Erzählt  doch  das  Tkeat.  Europ.  p.  965 
man  habe  einen  Cornet,  der  die  falsche  Nachricht  von  der  Gefangen- 


1 )  Nur  als  Beispiel  folgende  Stellen  gleich  im  Eingang  der  Darstellung  (§  2  der 
gleich  zu  besprechenden  gemeinsamen  Quelle). 

Terlon:    Mais  ces  deux  ponts  n'estoient        Pufendorff:    Sed  cum  uterque  pons 
pas  encore  achevez  lorsque  les  eauoo  prope  absolutus  esset,  aqua  uti  eo  tem- 

s'enflerent  comrne  elles  fönt   tous   les  pore  omni  suevü,  ita  intumuerai,  ut  ab 

ans  dans  la  mesme  saison  et  il  fallut  opere  tantisper  desistendum  esset  quo- 

attendre  qü 'elles  fussent  ecoulees  pour  ad  ista  Herum  subsedisset. 

les  mettre  en  estat  de  s*en  servir. 

2)  Die  Benutzung  Aitzemas  zeigt  sich  u.  a.  bei  Pufendorff  F.  W.  IV.  33  ober  die 
Vorgänge  am  Hofe  zu  Düsseldorf  in  der  Nacht  vor  der  Zusammenkunft  in  Angerort 
(21.  Aug.  1651 );  die  da  erwähnten  sacerdotes  eoncursantes ,  von  denen  sich  in  den 
Archivalien  in  Berlin  nichts  findet,  stammen  aus  Aitzema  VII.  ed.i0  p.  4  77:  »man 
seyde  dat  seife  eenige  Geestelijcke  liepen  dien  morgen  met  hopen«;  und  ähnliches  mehr 
in  diesen  Capileln  33.  34  bei  Pufendorff. 

3)  So  die  Ankunft  des  Trompeters  bei  den  Verbündeten  am  28.  ioli  (§40  der 
gemeinsamen  Quelle),  so  der  Name  Heinrich  Horns  als  Commandireoden  des  dritten 
Treffens  dqr  Schweden  (§  4  2), 

4)  So  schreibt  jemand  aus  Amsterdam  an  Wicqüefort :  Jam  Haga  te  habet  rerum 
quae  Ate  et  alibi  geruntur  proma  conda. 


7]  Die  Schlacht  von  Warschau,  1656.  351 

schaft  des  Polenlrttaögg  nach  Thorn  brachte,  »auf  den  Esel  gesetfct,«  mit 
dem  Zettel  auf  der  Brust,  darauf  »neue  Zeitung«  staid,  man  habe  erst 
schreiben  wollen  »Ranziger  Zeitung,«  wäre  aber  von  einem  gute*  Gönnet 
der  Stadt  Ranzig  davon  abgebalten  worden.  Es  ist  dieselbe  Geschichte, 
die  Scheffer  in  seinen  Memoräbilia  Sucticae  gtnlis  XI.  9  genauer  erzählt. 

In  der  That  findet  sich  die  Bestätigung  solcher  Annahmen  bereite 
in  den  gleichzeitigen  Schriftstellern.  Thuldenius,  auf  de*  wir  später  zu** 
rttckkommen  werden,  sagt  VI.  p.  282:  his  proeliis  eo  triduo  vel  quatri- 
duo  eonserüs  mendaciorutn  ingens  farrago  de  victoria  Suedi  et  Brandenburg 
e  Prussis  in  Germaniam  ällata  est,  ut  non  modo  fugatus  Poloni  regte  exer- 
citus  verum  etiam  Gonsiaevum  Lühuaniae  quaestorem  interfectum  regem* 
que  Casirnirtm  capttm  esse  phirimormn  literis  in  vulgus  spargeretur.  Und 
auf  diese  Aeusserung  antwortet  Loocenius  in  der  Vorrede  zur  zweiten 
Ausgabe  seiner  hisloria  rerim  Suecicarum  1662  p.  36:  quae  mendacia 
de  Su&is  Dototisd  et  m  Belgio  saepe  Manie  hello  Sueco^Polanico  spare* 
sint,  ut  satis  nctum  hie  non  repsiam. 

Noch  eine  weitere  Voraussetzung  wird  man  machen  dürfen,  wenn 
man  die  Lage  der  Verhältnisse  genauer  erwägt. 

Die  Verbindung  des  Churfürsten  mit  Schweden  wird  wohl  so  dar- 
gestellt, als  wenn  er  schlau  nach  beiden  Seiten  hin  politisirend  den  Mo- 
ment erpasst  hatte  die  Sache  Polens  zu  verlassen  und  seinen  Gewinn 
bei  Schweden  zu  suchen ,  um  demnächst  eben  so  Karl  Gustavs  Sache 
aufzugeben  und  von  Polen  noch  grösseren  Gewinn  zu  erhalten.  Wer 
seinen  Pufendorff  mit  einigem  Verstand  gelesen  hat  muss  erkennen,  dass 
die  Sache  sich  sehr  anders  verhielt. 

Nicht  erst  in  den  spateren  Jahren  hat  der  Churfiirsi  in  den  Schwe- 
den seine  nächsten  und  gefährlichsten  Feinde  erkannt ;  schon  die  Ver- 
handlungen in  Osnabrück,  mehr  noch  die  über  die  Abgrenzung  des  an 
Schweden  zu  überlassenden  Theiles  von  Pommern  hatten  ihm  gezeigt, 
was  er  von  ihnen  zu  gewärtigen  habe:  »ihr  Muth,«  schreibt  der  brau- 
denburgische  Agent  in  Stockholm  1651  ,  »ist  so  hoch  gewachsen,  dass 
man  keines.  Nachbarn  er  sei  wer  er  wolle  aohtet  noch,  von  demselben 
schimpflich  zu  reden  sich  enthält,«  Auf  das  Peinlichste  empfand  Hkan  am 
Hofe  zu  Berlin. die  Drohungen  und  Insolenzen  der  schwedischen  Ueber- 
macht;  nur  noch  bedrohlicher  wurde  4ie,  als  der  kühne  Pfalzgraf  Karl 
Gustav  den  Thron  Christinens  bestieg ;  sofort  begannen  Vorbereitungen, 
welche  zeigten,  dass  »vastissima  consilia«  gefasst  seien.    Schon  war  das 


352  Jon.  Gust.  Däoysen,  [8 

schwedische  Heer  in  Vorpommern  versammelt,  als  man  mit  dem  Chur- 
fürsten  zu  verhandeln  begann ;  man  forderte  von  ihm  unerhörte  Dinge : 
Abtretung  von  Memel  und  Pillau ,  Aufhebung  jeder  andern  Allianz,  wie 
der  Churftlrst  am  24  Juli  an  seine  Gesandten  in  Stettin  schreibt:  »dass 
wir  aller  Hülfe  und  Freundschaft  in  der  Welt  beraubt  sein  und  von  S. 
Maj.  allein  dependiren  sollen«  (Berl.  Arch.).    Karl  Gustav  begann  seinen 
Feldzug  gegen  Polen  mit  einem  Act  rücksichtslosesten  Uebermuthes  ge- 
gen den  Churfürsten,  mit  dem  Durchmarsch  durch  sein  Gebiet,  als  ob 
es  ihm  »jure  gentium*  offen  stehe.  Es  folgte  jener  glanzende  Eroberung^ 
zug  durch  Polen,  bis  Krakau  hinauf,  die  Flucht  des  Polenkönigs,  die  frei- 
willige Unterwerfung  der  polnischen  Truppen,  der  Magnaten,  der  Woy- 
woden,  der  ganzen  Republik.  Nur  das  Herzogthum  Preussen  stand  noch 
neutral  zur  Seite ;  Karl  Gustav  eilte  mit  dem  Schluss  des  Jahres  dort- 
hin, drängte  des  Churfürsten  Truppen  auf  Königsberg  zurück,  schtoss 
ihn  dort  ein,   zwang  ihm  den  Unterwerfungsvertrag  von  Welau  auf 
(17.  Jan.  1 656),  mit  dem  das  Herzogthum  ein  Lehen  der  Krone  Schwe- 
den wurde.  Aber  schon  begann  der  Abfall  Polens ,  der  geflüchtete  Kö- 
nig kehrte  zurück,  stellte  sich  an  die  Spitze  der  Bewegung,  die  lawi- 
nenhaft  wachsend  die  Weichsel  hinabwärts  auf  Warschau  hindrängte. 
Die  Schweden  begannen  inne  zu  werden,  dass  sie  in  Gefahr  seien,  dass 
sie  dringend  der  fremden  Hülfe  bedürften.    Ihre  Regimenter  waren  sehr 
zusammengeschmolzen ;  die  Besatzungen  von  Krakau,  Warschau,  Posen, 
andern  Festungen  hatten  die  Starke  der  verfügbaren  Truppen  auf  etwa 
42000  Mann  sinken  lassen;  von  diesen  standen  einige  tausend  Mann 
vor  Danzig,  mit  ihnen  die  1 500  Mann  die  der  Churftlrst  nach  dem  We- 
lauer  Vertrage  hatte  stellen  müssen.    Schon  war  Krakau  hart  bedrängt ; 
jetzt  wurde  auch  Warschau  eingeschlossen,  Karl  Gustav  War  nicht  mehr 
stark  genug  die  tapfere  Besatzung  zu  entsetzen ,  am  1 .  Juli  musste  sie 
capituliren.    Er  hatte  sein  Heer  hinter  den  Bug  zurückgezogen,  er  war 
in  Gefahr  von  den  mehr  als  hunderttausend  Mann,  mit  denen  Johann 
Casimir  ihm  gegenüberstand  erdrückt  zu  werden.    Er  musste  um  jeden 
Preis  seine  Heeresmacht  verstärken ;  es  gab  für  ihn  keine  andere  Ret- 
tung als  die  Armee  des  Churflirsten  zu  gewinnen,  die  wenigstens  4  8000 
Mann  stark  und  völlig  kriegsbereit  im  Herzogthum  stand;   er  musste 
ihn  bewegen  mit  seiner  ganzen  Kriegsmacht  für  Schweden  einzutreten. 
Darüber  wurde  seit  Anfang  Mai  in  Frauenberg  unterhandelt ;   begreif- 
lich dass  der  Churftlrst  sehr  wenig  entgegenkommend  war,  dass  ihn 


9]  Die  Schlacht  von  Warschau.  4  656.  853 

selbst  die  Aassicht,  vier  Woywodenschaften  im  westlichen  Polen  zu 
gewinnen ,  nicht  bestach ;  am  wenigsten  war  er  gemeint  seine  Armee 
aus  der  Hand  zu  geben,  sie  anter  schwedisches  »Kriegsdirectorium«  zu 
stellen.  Mit  Indignation  sahen  die  Oxenstjierna,  de  la  Gardie,  Hörn,  dass 
der  Churftrst  jetzt  die  Entscheidung  in  der  Hand  habe.  Er  verstand 
sich  zu  der  ersehnten  »conjunctio  armorum*  endlich  nur  unter  der  Be- 
dingung, dass  die  brandenburgische  Armee  selbstständig  an  der  Seite 
der  schwedischen  operirte ;  er  Hess  dem  Könige  die  oberste  Kriegslei- 
tung nur  in  der  Weise ,  dass  ihm  selbst  die  Zustimmung  zu  jedem  ein- 
zelnen Act  der  gemeinsamen  Kriegführung  vorbehalten  blieb1.  Die 
schwedischen  Herren  waren  auf  das  Aeusserste  verstimmt,  dass  der 
König  so  viel  habe  nachgeben  müssen ;  sie  beobachteten  den  Churftlr- 
sten,  seine  Generale  und  Räthe  mit  doppeltem  Mistrauen,  mit  wachsen* 
der  Eifersucht ;  es  begann  eine  Rivalität,  die  schwedischer  SeHs  in  dem 
Maasse  bitterer  und  insolenter  wurde,  als  die  brandenburgische  Armee 
und  ihre  Führung  sich  über  ihre  Erwartung  tüchtig  zeigte. 

Schon  wahrend  des  grossen  deutschen  Krieges  haben  die  Schwe- 
den es  wohl  verstanden  die  militairischen  Leistungen  der  deutschen  Re- 
gimenter, ihrer  deutschen  Kampfgenossen  in  den  Schatten  zu  stellen; 
man  kann  es  in  einzelnen  Fallen  noch  nachweisen ,  wie  sie  mit  Zeitun- 
gen und  Flugblättern  die  öffentliche  Meinung  zu  leiten  und  zu  machen 
verstanden  haben.  Soll  man  annehmen,  dass  sie  es  jetzt  in  Betreff  der 
Warschauer  Schlacht  anders  gemacht  haben  ?  darf  man  nicht  vielmehr 
vermuthen ,  dass  sie  dafür  gesorgt  haben  werden  den  Ruhm  der  glor- 
reichen drei  Tage  so  viel  wie  möglich  für  sich  allein  zu  behalten  ? 

Eine  zufällige  Entdeckung  setzt  mich  in  den  Stand,  nachzuweisen, 
dass  diess  allerdings  der  Fall  war. 

In  dem  Düsseldorfer  Archiv  wird  aus  dem  Nachlass  des  clevischen 
Kanzlers  Weymann  eine  Reihe  von  Foliobanden  aufbewahrt ,  die  für  die 
politischen  Verhältnisse  von  1655  — 1660  vom  höchsten  Interesse  sind. 
Dr.  Daniel  Weymann  war  ein  Jahrzehent  hindurch  als  churbrandenburgi- 


i)  In  dem  Marienburger  Vertrag  vom^--j — r  4  656  betest  es  Art.  VII:  es  sollen 

Conferenzen  zwischen  beiden  Fürsten  gehalten  werden  «I  certus  conjuncUonis  seopus 
proponatur  et  canstituatur ;  sodann:  conjunctione  facta  quamvis  praesente  S.  S.  E* 
suprema  directio  belli  competat  S.  Ä.  MH;  ea  autetn  quae  cofsiUo  pritu  commtmicoto 
cum  S.  S.  £li  tüfofiimt  consensu  decreia  f nennt,  S.  S.  E**  facienda  generaHbus  suis  in- 
smuet  et  iis  convenienter  cum  exercitu  suo  tiberrime  disponat. 


354  Job.  Gusr.  Dhoysen,  [*o 

scher  Bevollmächtigter  namentlich  in  Sachen  der  Vormundschaft  für 
Prinz  Wilhelm  HI.  von  Orauien  im  Haag  beglaubigt;  auch  persönlich 
stand  er  der  Princessin  Hoheit,  der  Grossmatter  Wilhelms  III«  und  Mut- 
ter der  Churfärstin ,  nahe ;  er  theilte  ihre  Anschauungen  in  Betreff  der 
schwedischen  Allianz,  welche  die  Beziehungen  Brandenburgs  zu  den 
Staaten  und  zu  Oestreich  auf  das  Aeusserste  gefährdete;  er  bemühte  sich 
mit  ihr,  dem  Churftlrsten  den  Rücktritt  aus  derselben  zu  ermöglichen. 
Er  galt  ftir  einen  besonders  thätigen  und  scharfsichtigen  Diplomaten  und 
namentlich  die  Gegner  der  schwedischen  Allianz  in  des  Churftlrsten 
Umgebung,  Schwerin,  Hoverbeck,  Somnitz  standen  mit  ihm  in  sehr  leb- 
haftem Briefwechsel ;  durch  seine  Hand  gingen  die  vertrautesten  Ver- 
handlungen mit  dem  Rathspensionair,  mit  Brüssel,  Paris  u.  s.  w.  Nach 
einer  schon  damals  bei  Diplomaten:  üblichen  Geschäftsweise  führte  Wey- 
mann  sein  Journal  in  der  Weise,  daes  er  alle  Briefe,  die  er  empßng  und 
die  er  schrieb,  alle  Instructionen,  die  an  ihn  kamen,  die  Verhandlungen, 
die  er  mündlich  fUbrte,  die  wichtigeren  Neuigkeiten,  die  er  erfuhr,  Tag  für 
Tag  eigenhändig  eintrug.  So  entstand  diese  Sammlung,  die  mit  dem 
4.  Jan.  1655  beginnt;  sie  ist  nicht  mehr  vollständig;  es  fehlt  wahr- 
scheinlich der  II.  und  III.  Band;  erst  vom  Sept.  4  656  an  ist  die  Reihe 
lückenlos.  Der  letzte  Band ,  jetzt  der  zehnte ,  enthält  eine  Sammlung 
von  Concepten ,  Originalbriefen ,  Berichten  u.  s.  w.  aus  verschiedenen 
Jahren. 

In  dem  jetzt  zweiten  Bande  des  Journals,  der  vom  8.  Sept.  bis 
17.  Oct.  1656  reicht,  befindet  sich  ein  Schreiben  des  Herrn  Martiz,  der 
so  scheint  es  von  Seiten  der  Princessin  Hoheit  beim  Churftlrsten  beglau- 
bigt war1.  Der  Brief  ist  aus  Königsberg  8.  Oct.  1656  und  lautet: 

Puis  quon  nous  envoye  de  tous  costes  de  differentes  et  (res  extravagan- 
tes rehtions  de  la  bataille  que  nous  avons  gagnee  a  Warsou,  Sa  Serenite 
Electorale  a  trouvee  a  propos  den  faire  imprimer  une  qui  fut  tont  a  faä 
exacte.  Pour  cet  effect  eile  a  ebauche  eelle  que  je  vous  envoye  ici  de  sa  pro* 
pre  main  et  ne  l'ayant  donie  a  copier  Elle  iria  comnumdi  de  Vous  lern* 
voyer  et  de  vous  prier  que  vous  la  fassiez  imprimer  chez  vous  au  plüstot  et 


I )  Diese  gehl  aus  einzelnen  Andeutungen  in  den  Acten  der  Oranischen  Tutel 
hervor.  Es  ist  derselbe  Ifartitias,  der  später  als  Secrelair  des  Churfürsten  am  Hole  zu 
Berlin  blieb ,  der  sieh  dann  auf  einem  Platz ,  den  ihm  der  ChurfÜrst  schenkte ,  ein 
sehr  prächtiges  Haus  baute,  das  später  in  den  Besitz  der  Krone  überging  und  jetzt  des 
Kronprinzen  Palais  ist. 


44]  Die  Schlacht  von  Wabschail  4656.  355 

que  vous  nous  en  euveyassiez  quelques  exemplaires.  Je  fais  cela  taut  en- 
semble  vous  laissant  la  liberte  si  vous  la  voulez  corriger  am  peu ,  ee  que  je 
riay  pu  faire  a  cause  de  la  haste ,  et  si  vous  la  voulez  faire  imprimer  dans 
la  mesme  langue  dans  la  quelle  vous  la  voyez  ou  si  vous  la  voulez  faire  tra- 
duire,  il  sera  tout  un,  pourvu  que  vous  fassiez  mettre  quelque  commence- 
ment  devant$  du  eontenu  erwiron  que  puisqu'on  avoit  decouvert  que  eeux  du 
party  contraire  avoyent  faU  imprimer  de  si  extravagantes  relations  9  qtion 
avoit  jugi  a  propos  d'en  faire  imprimer  une  et  Ires  veritable,  esctite  dun 
amy  a  Fautre,  qui  a  este  le  spectateur  aussi  bien  que  le  combattant.  Failes 
en,  Monsieur,  ce  que  bon  vous  semblera  et  pardonnez  a  la  haste. 

Hierauf  folgt  in  dem  Journal  das  »Concept  einer  Relation  von  der 
Warschauwischen  Bataille,  welches  seine  Churf.  Durch),  mit  eigner  Hand 
aufgesetzt.«  Es  ist  eine  Wiederholung  des  oben  erwähnten  Aufsatzes 
von  des  Churfbrsten  eigner  Hand  in  der  Berliner  Bibliothek '. 

Aus  jenem  Schreiben  des  Martiz  ergiebt  sich,  dass  der  CHurftlrst  defc 
Bericht  wenige  Wochen  nach  der  Schlacht  aufgesetzt  hat,  dass  er  ihn 
geschrieben  hat  als  Berichtigung  der  über  die  Sehlacht  verbreiteten  ex- 
travaganten Relationen.  Also  es  gab  deren ,  und  zwar  zahlreiche ,  die 
»von  allen  Seiten«  dem  churfürstlichen  Hofe  zukamen ,  solche  die  eeux 
du  party  contraire  haben  drucken  lassen.  Gewiss  meinte  Martiz  mit  party 
contraire  nicht  bloss  die  Polen,  die  Danziger;  für  ihn  und  für  Weymann 
waren  eben  so  und  noch  mehr  die  Schweden  und  die  schwedisch  Ge- 
sinnten am  churfürstlichen  Hofe  die  party  contraire,  und  deren  zu  Gun- 
sten Schwedens  und  zum  Nachtheile  der  brandenburgischen  Waffen 
übertreibende  Relationen  verdienten  mehr  als  die  der  gemeinsamen 
Feinde  eine  Berücksichtigung« 

Also  es  gab  bereits  im  August  und  September  1 656  eine  Menge 
gedruckter  Berichte  über  die  Schlacht ,  die  im  schwedischen  Interesse 
verfasst  waren. 

Gewiss  hat  Weymann  den  ihm  zugesandten  churfürstlichen  Bericht 
drucken  lassen,  mit  oder  ohne  jene  Einleitung,  die  ihm  Martiz  zu  verfas- 
sen überliess ;  gewiss  hat  er  Abzüge  davon  an  den  churftlrstlichen  Hof 
gesandt.  Es  ist  mir  bis  jetzt  nicht  gelungen  ein  Exemplar  dieses  Druckes 
aufzutreiben.   Ich  gebe  diesen  eigenhändigen  Bericht  des  Churfürsten  in 


I)  Aus  Weymanns  Journal  bat  Wortniann  den  Beriebt  in  seiner  noch  ungedruck- 
ten i> historischen  Beschreibung*  Um.  ///.angenommen.  (Berl.  THisseld.  Archiv-.)* 


356  Joh.  Gust.  Droyseh,  [12 

Beilage  1 .  nach  der  Abschrift  in  Weynianns  Journal  mit  den  Varianten 
des  Autographons. 


Auf  eine  zweite  Reibe  von  Erörterungen  führt  uns  das  Theatrutn 
Europaeum.  Der  siebente  Theil  desselben  der  die  Jahre  1651 — 1657 
umfasst,  bearbeitet  von  Joh.  Georg  Schieder  aus  Regensburg,  wurde 
1663  publicirt.  Er  brachte  von  der  grossen  dreitägigen  Schlacht  einen 
auffallend  kurzen  Bericht  (p.  963 — 965),  in  dem  von  den  Brandenbur- 
gern so  gut  wie  gar  nicht  gesprochen  war.  Entweder  hatte  man  in 
Frankfurt  jene  Weymannsche  Publication  nicht  erhalten  oder  Schieder 
hielt  es  für  angemessen  dieselbe  nicht  zu  beachten. 

Indess  wuchs  der  Name  Brandenburg.  Der  Churflirst  hatte  in  dem 
Fortgang  jenes  nordischen  Krieges  eine  hervorragende  Rolle  gespielt, 
er  hatte  die  Souverainetat  Preussens  gewonnen ;  in  den  hochbewegten 
sechziger  Jahren  war  er  überall  in  der  Reihe  der  Machte  die  die  euro- 
paische Politik  machten;  als  Frankreich  1 673  mit  dem  Angriff  auf  Holland 
jenen  schweren  Krieg  begann ,  dem  sich  so  bald  ein  schwedischer  an- 
schliessen  sollte ,  war  er  mit  seiner  Kriegsmacht  der  erste  auf  dem  Plan 
und  bemüht  Kaiser  und  Reich  gegen  Frankreich  in's  Feld  zu  bringen. 

Er  stand  im  Spatherbst  1672  mit  seinem  Heere  am  untern  Main. 
Dort  im  Lager  zu  Risselheim  kam  der  Mahler  Matthaus  Merian,  der 
Sohn  des  Kupferstechers  Matthaus  Merian ,  der  das  Theatr.  Europ.  be- 
gründet hatte ,  zu  ihm  ins  Hauptquartier ,  trug  ihm  vor ,  dass  »wegen 
Mangels  genügsamen  Berichtes  von  der  Polenschlacht  bei  Warschau  des 
Churfürsten  unförmlich  gedacht  worden  sei,  so  dass  er  Sinnes  sei  in 
einer  neuen  Ausgabe  desselben  eine  ausführliche  Relation  nebst  Kupfer 
zu  bringen.« 

In  Anlass  dieser  Bitte  erwuchs  ein  Actenstttck  das  hn  Geh.  Staats- 
archiv zu  Berlin  (A.  9.  Nr.  5.  E.  e.  1)  aufbewahrt  wird. 

Der  Churfürst  versprach  die  Bitte  zu  erfüllen.  Er  erliess  an  seinen 
Ingnieur  Memmert  den  Befehl  (29.  Nov.  St.  V)  »ein  Kupfer  oder  Abriss 
der  erwähnten  Schlacht  mit  dem  Förderlichsten«  zu  übersenden.  Unter 
demselben  Datum  erging  ein  Befehl  an  den  Geheimrath  Jena ,  eine  Be- 
schreibung der  Schlacht  anzufertigen :  »weil  ihr  jene  Zeit  mit  dabei  und 
an  dem  Orte  gewesen ,  wo  sich  dieselbe  zugetragen ,  so  habt  ihr  nach 


13]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  357 

der  euch  davon  beiwohnenden  Wissenschaft  eine  ausführliche  Relation 
dessfalls  aufzusetzen  und  dieselbe  zu  überschicken  und  weil  sich  auch 
zweifeis  frei  noch  einige  Nachricht  darüber  in  unsenn  Archive  finden 
wird,  könnt  ihr  euch  auch  dessen  dabei  bedienen.« 

Aus  einem  zwölf  Jahre  später  geschriebenen  Briefe  Merians  ergiebt 
sich,  dass  ihm  noch  in  Risselheim  4  672  »die  drei  gezeichneten  Bataillen« 
übergeben  worden  sindt,  »welche  ich  auf  das  schönste  in  Kupfer  stechen 
lasse.«  Die  drei  sehr  instructiven  Abbildungen  von  der  Schlacht,  die  sich 
in  der  zweiten  Ausgabe  des  Th.  Eur.  VII.  von  4  685  finden,  sind  also  nach 
den  Zeichnungen  des  brandenburgischen  Ingenieur  Memmert  gestochen 
und  haben  den  Werth  von  originalen  Quellen. 

In  Betreff  des  geforderten  Schlachtberichtes  antwortet  Jena  in  einem 
ausführlichen  Schreiben  d.  d.Cöln  a.d.  Sp.  48.  Decb.  4672  (Beilage  9): 
er  sei  zwar  zugegen  gewesen ,  aber  er  vermöge  weder  über  die  Ein- 
zelnheiten hinreichend  Nachricht  zu  geben ,  noch  finde  sieh  in  dem  Ar- 
chiv das  Allergeringste ,  auch  müsse  der,  welcher  solchen  Aufsatz  ver- 
fassen solle  »die  Kriegsactionen  und  die  rechten  terminos«  wissen,  woran 
es  ihm  mangele.  Der  Secretair  Hartmann  habe  ihm  eine  gedruckte  Re- 
lation zugestellt,  welche  jedoch  in  einer  Reihe  von  Einzelnheiten,  die 
er  dann  ausführt ,  dem  was  er  selbst  gesehen  habe,  nicht. entsprechend 
sei.  »Wenn  nun  E.Cf.D.  gnädigst  gefallen  möchte  durch  einen  kriegser- 
fahrenen und  welcher  bei  der  Action  gewesen  und  alles,  was  soldatisch, 
verstünde,  durchsehen  und  an  allen  Orten  zu  recht  einrichten  zu  lassen, 
welches  doch ,  wenn  die  bataüie  in  Kupfer  gebracht  werden  soll ,  ohne 
dem  nöthig,  so  würde  diese  beikommende  Relation  wohl  zu  gebrauchen 
sein.  Es  ist  ja  gesetzet,  als  wenn  der  König  alles  gethan,  gerathen,  ver- 
richtet etc.  Sonst,  gnädigster  Churfürst  und  Herr,  muss  ich  unterthünigst 
berichten ,  dass  so  lange  ich  die  Gnade  gehabt  in  E.  Cf.  D.  Diensten  z» 
sein,  alles  was  Merian  in  seinem  Theal.  Europ.  und  sonst  von  E.  Cf.  D. 
und  dero  acliones  drucken  lassen ,  durchaus  parteiisch  und  alles ,  was 
er  E.  Cf.  D.  oder  deroselben  Soldateska  beilegen  sollen,  deroselbigen 
entgegen  oder  doch  alles  corrumpiret.«  Man  wird  wohl  thun  sich  diese 
Aeusserung  Jenas  für  die  Benutzung  des  Theatr.  Eur.  in  der  Kriegsge- 
schichte des  grossen  Churfürsten  zu  merken. 

Es  ist  aus  den  uns  vorliegenden  Acten  nicht  zu  erkennen ,  ob  die 
Bearbeitung  der  gedruckten  Relation  in  dem  von  Jena  angegebenen 
Sinne  sofort  vorgenommen  worden  ist. 


358  Jon.  Gcst.  Dboysbn,  [U 

In  demselben  Actenstück  findet  afch  ein  Schreiben  des  Matthäus 
Merian  an  den  Cbnrftkrsten  d.  d.  Frankfurt  a.  M.  19.  Aug.  1684,  in  dem 
es  beisst:  er  woUe  den  siebenten  Theil  des  Theat.  Ew.  neu  drucken 
lassen;  der  in  der  ersten  Ausgabe  abgedruckte  Bericht  sei  ihm  «von 
dem  Könige  Karl  Gustav  aus  Polen,  damals  communicirt  worden« ;  er 
legt  die  Copie  dieser  Zusendung  bei ,  die  er  Wort  für  Wort  habe  ab- 
drucken lassen;  Es  sei  in  dieser  Erzählung  des  Churfilrsten  »gar  wenig 
gedacht  worden,«  und  der  Reichsfeldherr  Wrangei,  »dem  er  1664  in  Wol- 
gast  aufgewartet«  habe  ihm  erzählt,  »dass  diese  herrliche  Victoria  dem 
Churfilrsten  durch  Dero  hohe  conduile  allein  zuzuschreiben  wäre«,  weil 
der  ChurfUrst  »mit  seinen  Völkern  die  Tartaren  anfänglich  angegriffen, 
geschlagen  und  verfolgt  habe,  dadurch  die  ganze  polnische  Armee  in  die 
Flucht  gebracht  worden  sei,«  Wrangel  selbst  sei  dem  Churfilrsten  mit 
wenigen  Truppen  vom  Könige  zugegeben  gewesen.  Wrangel  habe  ihm 
noeh  weitere  Einzelheiten  erzählt/  die  ihm  aber  entfallen  seien.  Er  bittet 
den  Churfilrsten  ihm  »diese  action  aufnotiren  zu  lassen«. . .  »Denn  gleich- 
wie E.  Cf.  D.  aimo  4672  in  Rissdheim  mir  die  drei  gezeichneten  bair 
taglien  gnädigst  Überreichen  lassen ,  welche  ich  jetzt  auf  das  schönste 
in  Kupfer  stechen  lasse,  also  will  ich  mich  versehen,  dass  ich  auch  mit 
einer  exacten  Beschreibung  derer  Actione»  werde  begnadigt  werden, 
damit  der  posterität  eine  wahrhafte  hUtorutm  zu  £.  Cf.  D.  immerwähren- 
der gloria  hinterlassen  möge.« 

Durch  diese  Veranlassung  scheint  die  früher  angeregte  Abfassung 
des  Berichtes  wieder  aufgenommen  zu  sein.  Es  findet  sich  in  dem  be- 
zeichneten Actenheft  ein  Zettel ,  ohne  Datirung.  Dieser  lautet :  »Wenn 
einige  wahre  und  gewisse  particularien  vom  polnischen  Feldzug  und 
der  Schlacht  von  Warschau  sich  finden  möchten,  haben  S.  Cf.  D.  befoh- 
len Herrn  Merian  solche  zu  communiciren ,  und  es  erinnert  sich  sonst 
S.  Cf.  D,  dass  Herr  Martitius  hie  von  vor  diesem  einen  Aufsatz  gemachet.« 
Der  Churfilrst  wird  weiter  befohlen  haben ,  dass  ihm  der  für  das 
Theat.  Ew.  bestimmte  Bericht  erst  vorgelesen  werde,  bevor  er  abgehe. 
Das  ist  dann  geschehen.  Ein  zweiter  gleichfalls  undatirter  Zettel  in  den 
Acten  lautet. 

»Mittatur  dem  Herrn  Merian  nach  Frankfurt.  Endlich  hat  sich  die 
»Stunde  gefunden  die  Warschawische  bataille  fttrzulesen,  Und  habe 
»ich  darin  ausstreichen  und  corrigiren  müssen,  wie  daraus  zu  ersehen 
»seyn  wird.     S.  Cf.  D.  modestia  hat  nicht  das  darin  zugelegte  Lob 


*&]  Die  Schlacbt  von  Warschau;  1656.  350 

»ertraget*  können*    Und  sagt  Sie  das  Sie  lieber  4u  wenig. als  zu  viel 
»rühme  dabey  haben  wollte.« 

Leider  ist  nicht  ihit  Sicherheit  zu  constatired,  von  wessen  Hand 
dieser  Zettel  geschrieben  ist.  Nach  dem  Wortlaut  des  Zettels  muss  maä 
annehmen,  dasb  nicht  eine  Abschrift  des  oorrigirten  Exemplars  son- 
dern das  Exemph?  mit  den  Cornecturfen  selbst  nach  EVankfurt  geschickt 
wordöh.     : 

Von  diesem  fttr  Merian  btotimmteii  Bericht  defr  weä  den  Worten  be* 
ginht  »Wo  rinnen  resolvirt  worden,*  sind  viei4  Abschriften  in  jenem 
Actebheft;  die  eine  (No.  \ }  ist  sichtlich  die  dem  Churftkrsten  vorgele- 
sene; m  mehreren  durch strichenen  Stellen,  die  des  Churftirsten  Lob  ent- 
halten, zeigt  sich  wie  er  die  Sache  veröffentlicht  haben  Wollte.  Sie  und 
zwei  von  ihr  genommene  Copieü  (No,  %  8)  beginnen  mit  den  Worten 

bjio&tverba:  die  gefangenen  waren  bei  5&0..*in  Preufr- 
sen  auch  gehauset  hatten,« 
da  al&  seil  der  Bericht  eingeschaltet  werden.  Diese  Worte  stehen  im 
Theat.  Eur.  ei.  \  so  wie  ed.  Ä  p.  9&5  und  da  folgt  in  der  ed.  ST  von 
16B$in  der  That  der  neue  Bericht;  ungeschickt  g&rag,  da  sich  dort  der 
Satz  mit  »worinnen  resolvirt  worden*  gar  nicht  anscMiesst.  Wie  diese 
Verkehrtheil;  entstanden  ist  zeigt  sichtlich  die  Abschrift  No.  4>  die  der 
Zeit  nach  die  früheste  ist  und  in  No.  i  abgeschrieben  wurde,  um  dem 
Churftirsten  vorgölegt  zu  werden :  sie  beginnt 

»Indem  Theat.Eur,  ad  ann.  i656j*. 936 circa  ftnemposl  verba 
hielten  doch  diesen  Tag  mit  dem  Churftirsten  von 
Brandenburg  und  der  Generalität  Kriegsrath  könnte 
contmuirt  wenden  Worinnen  resolvirt  worden 
folgt  hernach  der  ganze  Aufsatz,  und  am  Schluss  desselben  steht :  i 

quibu*  insertie  omitlanktr  ämnia  wqu*  ad  p.  985  §  mittler- 
>  weile,  womit  weiter  fortgefahren  wenden  kann, 

das  mittlerweile  steht  p.  988  ed.  %  und  bfa  dahin  reicht  jetzt  der 
abgedruckte  bratndeftburgische  Bericht. 

Das  Thiülrum  Ewtopaeum  fand  ft*r  gut  den  Aufeaftz  ohne  Beachtung 

der  vom  Churftirsten  befohlenen  Veränderungen  abzudrucken;  es/wird  der 

Mühe  werth  sein  in  der  Beilage  die  betreffenden  Satze  zu  bezeichnen. 

Ist  nun  dieser  Bericht  im  Theai.  Ew.  ein  originaler? 

Herr  von  Orlich  hat  von  diesem  Bericht  nicht  Notiz  genommen ; 

wahrscheinlich  war  ihm  nicht  bekannt ,  dass  eine  zweite  Ausgabe  des 


360  Job.  Gust.  Dboysin,  [16 

Theat.  Eur.  tom.  VII.  existirt.  Er  führt  zwar  jenen  Brief  Jenas,  der  die 
Abfassung  des  Berichtes  ablehnt  an ;  er  hat  also  das  vielerwähnte  Acten- 
heft  in  Händen  gehabt;  aber  wenn  er  hinzufügt:  »hierauf  wurde  ein 
Anderer  dazu  beordert,«  und  in  Parenthese  Kannenberg  mit  einem  Fra- 
gezeichen hinzufügt,  so  ist  in  den  Acten  dafür  keinerlei  Anhalt. 

Wer  immer  diesen  für  das  Theat.  Eur.  bestimmten  Bericht  verfasst 
haben  mag ,  er  hat  sich  seine  Arbeit  möglichst  leicht  gemacht.  Er  hat 
den  von  Jena  gemachten  Vorschlag  befolgt  die  gedruckte  Relation  zu 
Grunde  zu  legen,  er  hat  diese  an  ein  Paar  Stellen  corrigirt,  Einiges,  be- 
sonders sehr  compacte  Lobeserhebungen  für  den  Churfürsten  eingelegt, 
im  Uebrigen  aber  stehen  lassen ,  was  er  in  dem  Druck  fand,  so  wenn 
der  Druck,  ein  Bericht  vom  4.  Aug.,  an  einer  Stelle  sagt«  am  \  8/28  pas- 
*afo,«  so  ist  dies  unverändert  stehen  geblieben  (p.  988  Zeile  1),  ohschon 
die  Erzählung  im  Theat.  Eur.  natürlich  nicht  mehr  vom  4.  Aug.  i  656 
datirt  ist. 

Die  mehr  erwähnte  Relation  (Rel.  I.),  deren  Titel  beginnt  »Letzte 
aus  Warschau  eingelangete  gründliche  und  ausführliche  Relation . . .«  ist 
ein  Bericht  aus  Warschau  vom  4.  Aug.  St.  n.  4656 ;  sie  bezeichnet  sich 
in  dem  Titel  als  »ergangen  der  Wahrheit  begierigen  Welt,  zur  sichern  un- 
partheyischen  gerechten  und  bestandigen  Nachricht  wider  einige  erdich- 
tete unverschämte  Lttgenzeitungen.«  Sie  trägt  als  Vignette  einen  hübschen 
Holzschnitt  eine  Berg-  und  Waldgegend  darstellend.  Dass  sie  von 
schwedischer  Seite  ausgegangen,  ist  völlig  klar  und  Jena  hat  Recht 
wenn  er  von  ihr  sagt :  »es  ist  ja  gesetzet  als  ob  der  König  alles  gethan, 
gerathen ,  verrichtet.«  Von  einem  Kundigen  wird  mir  gesagt,  dass  die 
Vignette,  der  Druck,  das  Papier  dieser  Brochüre  auf  einen  holländischen 
Druckort  schliessen  lasse. 

Es  giebt  noch  einen  zweiten  Druck  (Rel.  II.)  der  mit  diesem  im 
Wesentlichen  wörtlich  übereinstimmt,  nur  einige  Satze  austasst  und  den 
Schluss  verkürzt.  Der  Titel  beginnt:  »Letzte  noch  gründlichere,  ausführ- 
lichere aus  dem  Königl.  Schwedischen  Feldlager  bei  Praga  vom  5.  Au- 
gusti  eingelangte  Relation,«  und  schliesst,  »der  wahren  Wahrheits~be- 
gierigen  Welt  zum  sicheren  beständigen  Nachricht  wider  einige  gedruckte, 
erdichtete,  unverschämbte  Lttgenzeitungen.«  Am  Schluss  bat  dieser  Drude 
»Datum  im  Felde  bei  Praaga  gegen  Warschau  gelegen  den  24.  Julii  Styl, 
vet.  4656.«  Diess  ist  der  3.  Aug.  während  im  Titel  der  5.  Aug.  ange- 
geben ist.  Die  Form  des  Titels  lässt  keinen  Zweifel,  dass  diese  Relation 


*7]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  361 

nach  dem  vorher  angeführten  Druck  veröffentlicht  ist ;  dass  sie  früher, 
am  3.  August  geschrieben  und  der  5.  Aug.  auf  dem  Titel  unrichtig  ist, 
ergiebt  sich  aus  dem  Umstände ,  dass  der  Schluss  des  anderen  Druckes, 
der  hier  fehlt,  noch  Vorgänge  vom  4.  Aug.  er\yähnt. 

Ich  gebe  in  der  2.  Beilage  die  Relation  I.  mit  den  Varianten  aus 
Relation  IL;  es  genügt  die  abweichenden  Stellen  der  brandenburgischen 
Bearbeitung  und  des  vom  Churfürsten  corrigirten  Exemplars  derselben 
unter  dem  Text  beizufügen. 

Früher  ist  erwähnt  worden,  dass  die  Darstellung  bei  Pufendorff  Fr. 
W.  VI.  36  mit  dem  Bericht  in  den  Mem.  du  chevalier  de  Terlon  p.  536 l 
auffallend  übereinstimme.  Natürlich,  denn  beide  folgen  fast  Wort  für 
Wort  der  eben  besprochenen  Relation  vom  4.  August,  Terlon  hie  und  da 
ein.  Paar  Worte  auslassend ,  Pufendorff  mit  einigen  sachlich  anziehenden 
Zusätzen,  von  denen  der  wichtigste  wahrscheinlich  aus  mündlicher 
Ueberlieferung  stammt. 

Noch  einmal  erzählt  Pufendorff  dieselbe  Schlacht  in  seinem  Karl 
Gustav  (III .  24)  und  auf  den  ersten  Blick  erscheint  diese  Darstellung 
anderer  Art ;  aber  eine  genauere  Betrachtung  zeigt ,  dass  er  —  abge- 
sehen von  der  Einleitung  bis  gegen  Ende  des  cap.  24  —  doch  nur  das 
Material  jener  Relation  wenn  auch  in  etwas  freierer  Weise  bear- 
beitet hat. 

Schon  vorher  hat  Johann  Lock  aus  Itzehoe  (Loccenius),  der  Pro- 
fessor in  Upsala  war ,  in  der  zweiten  Edition  der  historia  herum  Sueci- 
carum  1 662  die  Schlacht  von  Warschau  durchaus  nach  dieser  Relation  er- 
zählt, und  nur  die  Verhandlungen  am  28.  Juli  berichtet  er  ausführlicher. 

Endlich  habe  ich  noch  des  »Europäischen  Newen  Teutschen  F 1  o  r  u  s« 
(Frankfurt  bey  Georg  Fickwirtten  1659)  zu  erwähnen.  Derselbe  hat 
p.  89  ein  Stück:  »Relation  der  Hauptschlacht  dess  Königs  in  Schweden 
bei  Praga  und  Warschau  gegen  die  Pohlen;«  es  ist  ein  Abdruck  der 
Relation  IL  (vom  24.  Juli)  von  §  32—60. 


Ich  gehe  zu  einer  dritten  Reihe  von  Nachrichten  über.   Es  ist  oben 
erwähnt,  dass  Carlson  in  seiner  Schwedischen  Geschichte  IV.  p.  152 


4 )   Voicy  la  Relation  de  cette  grande  Bataille  que  je  mets  icy  pour  la  satisfaction 
des  curieux. 

Abhandl.  d.  K.  8.  Oe».  d.  Wias.   X.  2V 


362  Joh.  Gust.  Droysen,  [»« 

dem  im  schwedischen  Reichsarchiv  aufbewahrten  Berichte  Dahlbergs 
folgt.  Dieser  Bericht  liegt  mir  nicht  vor ;  aus  Carlsons  Darstellung  er- 
hellt, dass  er  viel  Eigentümliches  enthalten  muss. 

Graf  Erich  Dahlberg,  der  spätere  Feldmarschall,  hat,  als  junger 
Mann  schon  General -Wachtmeister,  Karl  Gustavs  Kriege  mitgemacht; 
er  war  ein  überaus  geschickter  Zeichner  »outre  un  nombre  infini  de  des- 
Beins  de  bataüle  etc.,  de  plans  de  forteresses,  de  chateaux  etc.,  notis  devons 
d  ce  meme  comte  l'ouvrage  intitule  Suevia  antiqua  et  hodierna  representant 
les  idifices  les  plus  remarquables  de  la  Suede  sott  dorn  les  villes ,  soit  ä  la 
campagne  avec  les  paysoges  qui  les  entourent:  auvrage  magnifique  qui  ne 
prouve  pas  moins  le  talent  et  le  goüt  de  l'auteur  que  son  activilS  infatigable« 
(Skjöldebrand,  hist.  mil.  et  pol.  des  Rois  de  Suede  I.  p.  5). 

Das  eben  citirte  Werk  wurde  auf  Befehl  Gustav  IV.  unternommen ; 
es  enthält  in  dem  allein  erschienenen  ersten  Theil  die  Geschichte  Karl 
Gustavs  bis  zum  Rothschilder  Frieden  mit  Abbildungen  der  wichtigsten 
Actionen  »d' apres  les  tableatuc  de  Lemke  et  les  desseins  pris  sur  les  lieux  par 
Dahlberg.« 

Skjöldebrand  spricht  sich  nicht  über  das  Verhältniss  zwischen  den 
Zeichnungen  Dahlbergs  und  den  Gemälden,  die  der  Maler  Lembke  in 
Karl  Gustavs  Schloss  Drottningholm  im  Auftrag  der  Königin  Wittwe  an- 
fertigte, aus.  Es  scheint  ihm  unbekannt  geblieben  zu  sein,  dass  es  be- 
reits eine  Prachtausgabe  der  Dahlbergischen  Zeichnungen  gab. 

Denn  so  wird  man  die  deutsche  Ausgabe  von  Pufendorffs  Karl 
Gustav,  die  1 697  in  Nürnberg  erschien,  wohl  nennen  dürfen.  Nicht  alle 
die  Hunderte  von  Radirungen  und  Kupferstichen ,  die  da  beigefügt  sind, 
sind  nach  Zeichnungen  von  Dahlberg ;  aber  die  nach  seinen  Zeichnungen 
gemachten  zeichnen  sich  durch  künstlerische  Auffassung  und  militairische 
Correctheit  namentlich  im  Terrain  vor  den  andern  aus.  Wenn  man  die 
drei  Bilder  der  Warschauer  Schlacht  im  Pufendorff  mit  denen  des  Skjöl- 
debrand vergleicht,  so  erkennt  man  sofort,  dass  Lembke  seine  Gemälde 
nach  Dahlbergs  Zeichnungen  entworfen  hat;  man  sieht  es  theils  an  der 
grössern  Bestimmtheit  des  Terrains  in  den  Radirungen,  welches  das  Ge- 
mälde mehr  verwischt  und  verallgemeinert  hat,  theils  darin,  dass  die 
grossen  Abschnitte  des  Bildraumes,  den  Dahlberg  für  seine  Erklärungen 
mit  hübsch  ornamentirten  Umrahmungen  aussonderte ,  in  den  Gemälden 
mit  einer  willkürlichen  Fortsetzung  des  Bildes  ausgefüllt  sind. 

Zweien  von  diesen  drei  Bildern  der  Schlacht  (41.  42)  hat  Dahlberg 


*9j  Die  Schlacht  von  W  ab  schal.  1656.  363 

»ein  ad  vivim  dtlineavit  beigefügt.  Der  Ausdruck  ist  in  seinem  vollen 
Umfeng  für  richtig  zu  nehmen;  wenigstens  in  Betreff  des  Terrains  zeigen 
sie  sich  so  vollkommen  genau,  dass  jeder  Hügel,  jeder  Morast,  die 
Lage  der  einzelnen  Dörfer  und  Weiler ,  wie  sie  die  Zeichnung  giebt ,  in 
der  detaillirten  Generalstabskarte  von  der  Umgegend  von  Warschan, 
die  mir  vorliegt,  wieder  zu  finden  und  als  richtig  zu  erkennen  ist. 

So  werden  diese  drei  Blatter  im  deutschen  Pufendorff  mit  den  auf 
ihnen  befindlichen  Erklärungen  als  eine  besonders  wichtige  Quelle ,  als 

« 

Darstellungen  eines  im  vorzüglichen  Maasse  kundigen  Augenzeugen  2u 
bezeichnen  sein1. 

Bei  weitem  geringern  Werthes  sowohl  in  militairischer  als  artisti- 
scher Beziehung  sind  die  oben  besprochenen  Zeichnungen  des  branden- 
burgischen Ingenieurs;  sie  geben  die  charakteristischen  Punkte  des 
Terrains  und  der  Truppenbewegung ,  aber  sie  sind  nicht  ad  vivum  ge- 
zeichnet ;  sie  geben  ein  so  zu  sagen  Schematisches  Bild,  wie  man  es  aus 
der  Erinnerung  zeichnen  kann. 


Noch  bleibt  mir  eine  Hatiptquelle  für  die  Warschauer  Schlacht  zu 
besprechen. 

Lieirwe  van  Aitzema  hat  in  dein  8.  Theil  seiner  Historie  ofVerhael 
van  Sahen  van  Staet  en  Oorlogh,  der  1 663  erschien,  in  der  Quartausgabe 
p.  553 — 560  einen  ausführlichen  Bericht  von  der  Schlacht,  den  er  einführt 
mit  den  Worten :  »De  heeren  Brandeburghsche  hebben  daer  van  gesonden 
het  volgende  verbael.«  Am  Schluss  desselben  steht :  »Datum  Warschau 
desen  vierden  Augusti  4656.« 

Der  letzte  Satz  dieses  Berichtes  sagt :  »ende  det  is  het,  wat  van  die 
tijdt  af  dat  ick  11  Ed.  niet  hebbe  können  schryven ,  is  gepasseert ;«  eine 
Anrede ,  die  wenigstens  so  viel  erkennen  lässt,  dass  das  Schreiben  nicht 
an  die  Ho.  Mog. ,  die  Generalstaaten ,  noch  an  die  Ed.  Groot  Mog. ,  die 
Staaten  von  Holland ,  noch  an  die  Princessin  Hoheit  gerichtet  war.  Die 
Bemerkung  bei  dem  Obersten  Syburg,  dass  er  ein  Glevischer  Edelmann 


i)  Di*  Abweichungen  in  Cartoons  Erzählung  —  namentlich  die  des  driften 
Schlachtlages  stimmt  durchaus  nicht  mit  Dahlbergs  Erklärungen  seines  vortrefflichen 
Bildes  BI.  42  —  zeigen,  dass  der  Dahlbergische  Bericht  im  schwedischen  Archiv  nicht 
identisch  ist  mit  diesen  Erklärungen  zu  den  Bildern,  obschon  sie  recht  eigentlich  einen 
Berieht  der  Schlacht  nach* ihren  wesentlichen  Momenten  geben. 

2a* 


364  Joh.  GrST.  Dboysen,  [** 

sei ,  lässt  vermuthen ,  dass  der  Empfänger  des  Briefes  ein  näheres  Inter- 
esse für  Cleve  hatte;  man  könnte  an  Weymann,  der  aus  Duysburg  war, 
an  Matthias  Doge,  den  auch  als  Schriftsteller  bekannten  Artilleristen, 
der  in  dieser  Zeit  des  Churfürsten  Agent  in  Amsterdam  war,  denken. 
Dass  der  Schreiber  des  Briefes  ein  brandenburgischer  Officier  (»onsen 
Chur-Vorst«  heisst  es  gegen  Ende)  und  zwar  aus  der  nächsten  Umgebung 
des  Churfiirsten  war,  spricht  sich  deutlich  genug  aus !. 

Der  Bericht  ist  durchaus  original.  Dennoch  stimmt  er  in  vielen 
Sätzen  wörtlich  mit  einer  Relation  (Relation  III.)  überein ,  die  in  zwei 
Drucken  vorliegt,  einmal  als  Brochure  (4  Blätter  4°.  *.  /.),  sodann  als 
No.  IL  der  »Einkommenden  Ordinari-  und  Postzeitungen,«  einer  Art 
Kriegszeitung,  von  der  mir  auch  noch  spätere  Nummern  bekannt  gewor- 
den sind ,  und  die  mit  der  Bezeichnung  »XXXII  Woche«  die  Zeit  ihres 
Erscheinens  (6 — 12.  Aug.  4656)  bestimmt. 
Der  Titel  dieses  Berichts  ist  : 

»Relation  oder  wahrhaftiger  Bericht  wie  es  bey  der  von  Seiten  S. 

Churfl.  Durchl.  zu  Brandenburg  etc.  wider  die  Polen  und  Tartaren 

bei  Warschaw  erhaltenen  Victoria  daher  gegangen,    de  dato  31.  Juli 

1656;  aus  dem  Churfl.  Hauptquartier  Prag  vor  Warschaw.« 

Die  Uebereinstimmung  dieses  Berichtes  mit  dem  bei  Aitzema  ist  von  der 

Art ,  dass  man  annehmen  muss ,  jener  habe  bei  der  Abfassung  dieses 

späteren  und  ausführlicheren  unmittelbar  vorgelegen.     Ja  eine  Stelle  in 

Aitzema  stimmt  fast  wörtlich  mit  der  früher  erwähnten  Rel.  I.  überein2. 


\)  Wahrscheinlich  ist  dann  der  Bericht  in  Holland  gedruckt  und  rerbreitet  wor- 
den. Aitzema  stand  im  Herbst  1656  in  geschäftlicher  Beziehung  zu  Brandenburg; 
er  war  der  Agent  der  Glevischen  Stände  im  Haag ,  wo  die  Parthei  de  Wittes ,  höchst 
unzufrieden  mit  der  schwedischen  Alliance  des  Churfürsten,  ihm  Schwierigkeiten 
durch  die  Stünde  in  Cleve  zu  bereiten  bemüht  war.  Aitzema  äusserte  sich  gegen 
Weymann:  »Holland  gehe  weiter  als  sie  begehrten,  es  helfe  den  Ständen  an  einer 
Seite  so  stark  auf  das  Pferd,  dass  sie  an  der  andern  wieder  herunterfielen.«  Wey- 
manns  Schreiben  vom  7.  Oct.  4  656.    (Düsseid.  Arch.) 

2)   Rel.  I.  §  40:  Aitzema  VIII.  p.  554. 

»in  massen  dann  anfangs  ein  Polnischer  dan  op  halve  wegh  rescontreerden  sy 
Trompeter  kommen,  welcher  an  Sr.  eerstelijck  een  Trompetter  (die  een  brief 
Churf.  Durchl.  ein  Schreiben  voll  harter  van  deKoningh  van  Poolen  brachte  aen 
und  schmählicher  Bedrohungen  gehabt,  den  Chur-Vorst  vol  van  betterheyt  ende 
worinnen  Sr.  Churf.  Durchl.  so  treue  d rey gerne n ten ,  waer  by  sijn  Majesteyt 
Vermittelung  von  Polnischer  Seiten  nogmaels  de  mediatie  van  sijne  Cbur- 
g'.inlzlich  verworflen  worden,  und  dar-         Vorstel.  Door.  verwierp  ende  daer  na 


24]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  365 

eine  Uebereinstimmung ,  die  sich  doch  vielleicht  aus  der  Art ,  wie  man 
in  beiden  Hauptquartieren  die  Vorgänge  der  letzten  Tage  sofort  sich  mit- 
getheilt  und  besprochen  haben  wird,  hinreichend  erklärt. 

Die  Relation  III.  mit  einem  Theil  der  Abweichungen  des  Berichts 
bei  Aitzema  ist  in  der  3.  Beilage  gedruckt. 


Wir  haben  hiermit  die  wichtigsten  Quellen  für  die  Geschichte  der 
Warschauer  Schlacht  besprochen.    Es  sind  folgende : 

1.  a.  Der  eigenhändige  Bericht  des  Churftirsten  und 
b.  dessen  Abschrift  in  Weymanns  Journal  (Beilage  4). 

2.  a.  Die  im  Wesentlichen  übereinstimmenden   schwedischen  Be- 

richte, Relation  I.  vom  4.  Aug.  und 

b.  Relation  II.  vom  3.  August  (Beilage  2). 
Diesen  schliessen  sich  an  die  Darstellungen 

c.  im  Theat.  Eur.  nach  brandenburgischer  Bearbeitung,  so  wie 

d.  das  vom  Churftirsten . corrigirte  Original  dazu; 

e.  die  in  Pufendorff  Fr.  Wilh.  VI.  36  mit  zwei  oder  drei  Zu- 

sätzen, 

f.  die  in  Pufendorff  Karl  Gmt.  III.  24  mit  freier  Bearbeitung  der 

Quelle, 

g.  die  in  Terlons  Memoiren, 

h.  die  in  Loccenius  hist.  Rer.  Suec, 
i.  die  im  teutschen  Florw. 

3.  Die  von  Erich  Dahlberg  stammenden  Nachrichten, 

a.  und  zwar  sein  Bericht,  den  Carlson  in  seiner  schwedischen 

Geschichte  benutzt  hat, 

b.  sodann  seine  drei  Blätter  von  der  Warschauischen  Schlacht 

in  dem  deutschen  Pufendorff, 

c.  die  danach  von  Lembke  gemachten ,  von  Skjöldebrand  publi- 

cirten  und  erläuterten  Gemälde. 


auf  der   französische  Ambassadeur  de  Monsieur  de   Lumbres,    Ambassadeur 

Lombres  gekommen van  Vranckrijck 

§  II:    weswegen  dan  alsofort  resolviret  hier  op  wierde  gberesolveert  den  Trom- 

worden  gedachten  Trompeter  bey  sich  petter   sonder  antwoordt   by    sich    te 

zu  behalten houden 


366  Joh.  Gust.  Dboysbn,  t— 

4.  Die  drei  Blätter  von  der  Warschauer  Schlacht  im  Theat.  Eur. 
von  dem  brandenburgischen  Ingenieur  M  e  ni  m  e  r  t. 

5.  Die  brandenburgische  Relation  aus  der  Ordinari-  und  Post- 
zeitung Relation  III.  (Beilage  3.) 

6.  Der  brandenburgische  Bericht  bei  Aitzema  vom  4.  Aug. 

Es  bleiben  uns  noch  ein  Paar  andere  Stücke  zu  besprechen,  von 
denen  wenigstens  eins  von  besonderem  Interesse  ist. 

7.  Es  ist  oben  des  zweiten  Stückes  der  »Ordinari-  und  Postzeitung« 
erwähnt  worden.  Auch  ein  erstes  Stück  hat  mir  vorgelegen,  ebenfalls 
aus  der  XXXII.  Woche  (6 — 12.  Aug.),  enthaltend  zuerst  ein  »Extract 
Schreibens  aus  der  Vorstadt  Warschau  d.  31.  Juli.«  Es  ist  besonders 
durch  die  erregte  Stimmung,  in  der  es  geschrieben  ist,  von  Interesse. 
Wir  bezeichnen  diess  Stück  als  Relation  IV.  (Beilage  4.)  Mit  dieser 
Relation  stimmt  in  mehreren  Steilen  der  schwedische  Bericht  in  der 
ersten  Ausgabe  des  Theat.  Eur.  pt  963  überein,  namentlich  die 
§§  5.  6.  1 0 ;  in  anderen  Stellen  geht  der  Bericht  des  TkmU  Eur.  seines 
eigenen  Weges;  man  möchte  vermuthen.  dass  beide  von  demselben  Ver- 
fasser sind. 

8.  In  demselben  ersten  Stück  der  Postzeitung  folgt  der  unter  No.  7 
erwähnten  Relation  ein  kurzes  »Extract  Schreibens  aus  der  Vorstadt 
Warschaw,  die  Praga  genannt,  aus  des  Unterkanzlers  Radziewsky  Haus 
vom  vorigen«  (31.  Juli).  Wir  bezeichnen  es  als  Relation  V.  (Beilage  5.) 
Da  in  dieser  Relation  erwähnt  wird ,  dass  »der  lithausche  Schatzmeister 
Gonsewsky«  unter  den  Todten  gefunden  sei,  so  ist  sie  eine  von  denen, 
an  welchen  sich  Thuldenius  geärgert  hat. 

9.  Es  hat  mir  ein  Doppelblatt  4Q.  »Particularzeitung  No.  32  anno 
1656«  vorgelegen,  auf  dem  nach  einer  Relation  ausCracau  einschreiben 
aus  Sacrozin  vom  1.  Aug.  folgt,  das  um  so  lehrreicher  ist,  da  es  von 
polnischer  Seite  kommt,  wenn  auch  aus  der  Feder  eines  Mis vergnügten. 
Diese  Relation  VI.  enthält  wenig  über  den  Verlauf  der  Schlacht,  aber 
Wichtiges  über  die  Dinge  kurz  vorher  und  kürz  nachher  (Beilage  6). 

10.  Von  besonderem  Interesse  ist  einschreiben  von  deLumbres 
dem  französischen  Gesandten  am  polnischen  Hofe,  Varsovie  9»  Aug.  4656. 
Ich  habe  eine  Abschrift  desselben  durch  die  Güte  des  Herrn  Dr.  Sim- 
son,  der  sich  zur  Zeit  in  Paris  befindet  mit  dem  Auftrag,  die  dort  vorhan- 
denen Materialien  zur  Geschichte  des  grossen  Churfiirsten  zu  sammeln. 

1 1 .  Einon  kurzen  aber  lehrreichen  Bericht  über  die  Schlacht  giebt 


23]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  367 

ein  Schreiben  des  General-Kriegs-Commissarius  v.  Plathe  an  den  Statt-' 
balter  in  Berlin  Grafen  Wittgenstein  d.  d.  Warschau  21/31.  Juli  1656, 
das  sich  in  mehreren  Abschriften  im  Berl.  Archiv  befindet.  (Relation 
VII.  in  Beilage  7.) 

1 2.  Endlich  befindet  sich  in  dem  mehrfach  erwähnten  Actenstttck 
des  Berl.  Archives  eine  Aufzeichnung ,  die  sich  in  ähnlicher  Weise  als 
Einlage  in  eine  schon  vorhandene  Darstellung  wie  jene  für  das  Theat. 
Eur.  bestimmte  bezeichnet.  (Beil.  8.)    Es  fängt  an: 

»pp.  als  perduellem  tractiret  und  ausgeschrieben.  Der 
polnische  General  Zamecki«  u.  s.  w.;  folgen  dann  ibehrere  Blätter,  in 
denen  die  Schlacht  beschrieben  wird  bis  zur  Rückreise  des  Churfilrsten ; 
endlich  die  Worte:  »und  langeten  den  19.  Aug.  zu  Soldau,  den  23. 
desselben  aber  wiederumb  in  der  Residenz  zu  Königsberg  an.  Hierauf 
nun  ward  Polen  des  Kriegess  et  sequentia.« 

Es  kam  darauf  an  herauszubringen,  wo  diese  Darstellung  hatte  ein- 
geschaltet werden  sollen.  Ich  erinnerte  mich  die  Stichworte,  namentlich 
die  ersten  irgendwo  gelesen  zu  haben.  Durch  einen  Zufall  fand  ich  sie 
wieder. 

In  der  Berliner  Bibliothek  befindet  sich  unter  der  Bezeichnung 
Manuscr.  Bor.  Fol.  No.  50  ein  handschriftliches  Werk  des  Titels :  »Ent- 
wurf etlicher  denkwürdiger  Actionen  so  von  dem  Durchlauchtigsten 
Grossmächtigsten  Fürsten  und  Herrn,  Herrn  Friedrich  Wilhelm  dem 
Grossen  Markgrafen  und  Churfilrsten  zu  Brandenburg  sein  verrichtet 
worden.«  Es  enthält  einige  Actionen  des  Churfilrsten  bis  zum  Jahr  1G64, 
unter  diesen  auch  die  Schlacht  von  Warschau ;  und  da  fanden  sich  die 
bezeichnenden  Stichworte.  Es  ist  diese  Darstellung  der  Schlacht  nichts 
als  eine  Reinschrift  des  in  den  Blättern  des  Actenheftes  vorliegenden 
Conceptes. 

Ueber  den  Verfasser  des  »Entwurfs«  ist  nichts  ausfindig  zu 
machen  gewesen;  das  Goncept  zeigt  eine  auch  in  den  Acten  jener 
Zeit  hie  und  da  vorkommende  Handschrift,  aber  wessen  Hand  es 
ist,  kann  nicht  festgestellt  werden.  Das  Manuscript  des  »Entwurfs«  bil- 
det einen  sehr  stattlichen  Band ,  der  erst  zur  Hälfte  vollgeschrieben  ist ; 
der  Einband  zeigt,  dass  es  einst  zur  churftlrstlicben  Bibliothek  ge- 
hört hat. 

Die  Erzählung  von  der  Schlacht  folgt  in  mehreren  Stellen  wörtlich 
der  Relat.  I. ,  an  einzelnen  corrigirten  Stellen  des  Goncepts  sieht  man, 


370  Ion.  Gi st.  Droysen,  [26 

ont  Heu  en  Pologne  u.  s.  w.  veröffentlicht  hat ;  es  bietet  in  Betreff  der 
Schlacht  von  Warschau  nichts  als  eine  oberflächliche  Reprodaction  der 
Erzählung  im  Pufendorffschen  Karl  Gustav. 

Endlich  muss  ich  noch  einer  wunderlichen  Schrift  erwähnen;  sie 
führt  den  Titel  Casimir  Roy  de  Pologne,  ä  Paris  chez  Jean  Ribou  au 
Palais  dam  la  solle  Royale  ä  P  Image  Saint  Louis  1679,  2  Theile.  Es  ist 
keineswegs  ein  historischer  Roman,  wenn  schon  Liebesgeschichten, 
Portraitschilderungen ,  Beschreibungen  von  Jagdscenen,  Brautzügen, 
Geremonien  des  Brautbades  u.  s.  w.  mit  den  politischen  und  militairi- 
sehen  Vorgängen  um  die  Wette  dargestellt  und  oft  mit  Anmuth  erzählt 
werden.  Dass  die  Liebesgeschichten  und  die  Beichtväter  und  die  In- 
triguen  der  Damen  in  der  Politik  Johann  Casimirs,  der  selbst  Cardinal  ge- 
wesen ,  eine  nicht  minder  grosse  Rolle  spielten  als  demnächst  am  Hofe 
Ludwig  XIV. ,  ist  vollkommen  richtig ;  ebenso  richtig ,  dass  die  Königin 
gerade  in  dieser  Zeit  der  Warschauer  Schlacht  sehr  lebhaft  beschäftigt 
war  den  Obermundschenken  Johann  Zamoysky  —  denselben,  qui  se  fii  re~ 
marquer  comme  danseur  au  Palais  Royal ,  wie  die  Königin  einer  Freundin 
in  Paris  schreibt  —  für  eine  ihrer  französischen  Hofdamen  zu  interes- 
siren ,  für  das  Fräulein  Marie  d'Arquien ,  die  Tochter  des  Marquis  und 
späteren  Cardinais  de  la  Grange  d'Arquien,  dieselbe,  die  als  seine 
Wittwe  1665  sich  mit  Johann  Sobiesky  vermählte;  an  sie  sind  die  zärt- 
lichen Briefe  des  Helden  von  Wien  aus  dem  Jahre  4  683  gerichtet,  die 
Graf  Plater  übersetzt  und  Salvandy  \  827  herausgegeben  bat.  Ob  die 
Königin,  wie  unsre  Schrift  berichtet,  diese  Vermählung  wünschte,  damit 
Zamoysky  nicht  das  Fräulein  von  Schönfeld  heirathe,  die  des  Königs 
Herz  gefesselt  hielt  und  ob  der  östreichisebe  Gesandte  Graf  Isola ,  der 
jetzt  an  den  Hof  kam,  diese  Beziehungen  seiner  Landsmännin,  wie  diese 
Schrift  ausführlich  erzählt,  benutzte,  um  den  östreichischen  Einfluss 
desto  sicherer  zu  gründen,  das  mögen  andere  bestimmen.  Als  Verfasser 
der  Schrift  wird  in  Barbiers  Dkiionavre  des  Anonymes  Rousseau  de  la 
Valette  genannt.  Mir  hat  nur  der  zweite  Theil  vorgelegen;  vielleicht 
hat  der  Verfasser  ähnlich  wie  in  einer  andern  Schrift,  die  er  verfasst  hat, 
»Le  eomte  d  Ulfeid  grand  maitre  de  Danemarck,  nouvelle  historique.  Paris 
1678,«  und  welche  dem  Herzog  von  Montausier  dedicirt  ist,  sich  be- 
gnügt mit  seinem  Namen  die  Dedication  zu  unterzeichnen ,  vielleicht  hat 
er  in  der  Vorrede  zum  Casimir  Roy  de  Pologne  ähnlich  wie  im  Le  Comte 
<f Ulfeid  sich  über  die  Glaubwürdigkeit  seiner  Nachrichten  geäussert; 


271  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  371 

denn  hier  schreibt  er :  quoique  le  lecteur  trouve  des  choses  fort  surjnrenan* 
tes  en  eette  histoire,  je  puis  fasteurer  que  tout  y  est  tres  veritable  et  que  je 
nay  rien  escrit  que  sur  des  memoire*  qui  nCen  ont  ete  donnts  par  des  gens 
dupat/8  habiles  et  des-interessis  u.  s.  w.  Genug,  in  dem  zweiten  Theil 
dieser  Schrift  »Casimir  Roy  de  Pologne«  wird  auch  die  Schlacht  von 
Warschau  ausführlich  erzahlt  (p.  48 — 66)  und  zwar  in  einer  Weise,  die 
sehr  sonderbar  ist. 

Am  auffallendsten  war  mir,  dass  da  aus  der  dreitägigen  Schlacht 
eine  viertägige  gemacht  wird,  indem  der  Verfasser  von  einem  neuen 
Kampf  am  31.  Juli,  von  einem  Angriff  der  Polen  gegen  die  durch  den 
dreitägigen  Kampf  völlig  erschöpften  Sieger  meldet.  Gerade  diese  An* 
gäbe ,  für  die  in  den  bisher  angeführten  Berichten  auch  nicht  der  ge- 
ringste Anhalt  zu  finden  ist,  giebt  uns  die  Möglichkeit  die  Kritik  der 
Quellen  noch  einen  Schritt  weiter  zu  führen. 

Ich  habe  von  einem  Geschichtswerk  zu  sprechen,  das  seiner  Zeit  in 
mehreren  Ausgaben  und  Uebersetzungen  verbreitet  war  und  namentlich 
im  katholischen  Deutschland  unbedingt  dafür  galt  für  die  Zeit  von  1618 
bis  1674  die  rechte  Geschichtsquelle  zu  sein.  Es  ist  die  von  Adolph 
Brächet  begonnene,  von  Christian  Adolph  Thulden  und  spater  von  Hein- 
rich Brewer  fortgesetzte  historia  nostri  lemporis.  Alle  drei  waren  köl- 
nische Priester  und  das  Werk  erschien  in  dem  seit  1648  begründeten 
Verlag  des  jüngeren  Kinches  (Johann  Anton):  es  ist  in  derjenigen 
Richtung  begonnen  und  fortgeführt,  für  welche  in  Cöln  allein  mehr 
buchhändlerische  Firmen  thätig  waren  als  im  ganzen  übrigen  Deutsch- 
land zusammengenommen.  Cöln  war  der  literarische  Mittelpunkt  des 
katholischen  Deutschlands,  dort  ging  die  Speculation  der  Buchhändler 
und  der  Betrieb  der  Autoren  Hand  in  Hand ;  wie  denn  der  Name  des 
Begründers  der  historia  nostri  lemporis  vermuthen  lässt,  dass  er  zu 
der  buchhändlerischen  Familie  der  Brächet  gehört ,  deren  Firma  (Peter 
v.  Brachel)  wenigstens  seit  1 602  in  Cöln  nachzuweisen  ist.  Es  würde 
mich  zu  weit  führen ,  wenn  ich  den  Kampf  der  von  Cöln  aus  gegen  die 
protestantische  Historiographie  und  deren  peinlichst  empfundenes  Ueber- 
gewicht  geführt  worden  ist,  verfolgen,  die  bistoriographische  Eigenthttm- 
lichkeit  dieser  clericalen  Forscher  erörtern  wollte. 

Uns  geht  hier  der  vierte  Theil  des  Werkes  an,  der  die  Jahre  4  655 
und  1656  umfasst.  Er  ist  von  Thulden  verfasst,  der  nach  Bracheis  Tod 
die  von  diesem  in  9  Bänden  bis  4652  fortgeführte  Erzählung  in  einer 


372  Joh.  Gust.  Droysen,  [28 

neuen  Ausgabe  (1656)  mit  einem  dritten  Theil  bis  4654  fortsetzte,  dann 
1657  jenen  vierten  Theil  folgen  liess.  Mir  hat  eine  spätere  Ausgabe  vor- 
gelegen, welche  den  Titel  führt :  Christiani  Adolf  hi  Thuldeni  historianim 
Europitarwn  Enneadis  primae  libri  IV.  V.  VI.  sive  pars  IL  annis  4655  et 
1656  gesta  explicans.  accedunt  seorsus  ad  annos  praedictos  perünentes 
tractatus  et  codiciüi  publici,  quibus  recessus  Imperii  ultimus,  causarum  belli 
suecici  excussio,  literae  universales,  manifesla  aliaque  ad  hos  annos  perti- 
nentia  includuntur.  Coloniae  Ubiorum  apud  Joannem  Antonium  Klinckium. 
anno  1665.  cum  Privilegio  S.  C.  M.   8  Bande  12°. 

Thulden  stellt  jenen  schwedisch-polnischen  Krieg  mit  sehr  lebhafter 
Theilnahme  für  Polen  dar,  er  beschreibt  mit  grosser  Ausführlichkeit  und 
als  einen  sichtlichen  Triumph  der  guten  Sache  jene  Erhebung  Polens,  in 
der  die  Mutter  Gottes  von  Czenstochau  und  ihr  wirksamer  Beistand  in 
der  Rettung  ihres  Heiligthums  eine  gebührende  Stelle  findet.  Dann  folgt 
p.  280  die  Darstellung  der  Warschauer  Schlacht;  nach  der  Flucht  der 
Polen  am  dritten  Tage  —  hanc  Polonorum  fugam  Suedus  et  Brandenbur- 
gs victoriam  suam  arbitrati  in  castris  prope  triumphum  adornant  —  sam- 
meln sich  über  Nacht  die  Lithauer  und  die  Tartaren  9  greifen  am  andern 
Morgen  ubi  jam  depugnatum  esse  Suethici  putabant  von  Neuem  an ,  forte 
et  fortunatum  adversus  Suedos  proelium  committunt. 

Dass  Thulden  sich  diese  Dinge  nicht  ausgedacht  hat,  versteht  sich 
von  selbst.  Er  hat ,  wie  seine  vier  Bände  Beilagen  zeigen,  aus  Zeitun- 
gen ,  Brochüren ,  fliegenden  Blättern  u.  s.  w.  gearbeitet,  und  dass  Cöln 
für  »neueste  Nachrichten«  neben  Amsterdam,  Frankfurt.  Danzig  und  Brüs- 
sel ein  Hauptplatz  war,  zeigen  die  unzähligen  brieflichen  Nachrichten 
aus  Cöln,  die  man  aus  jener  Zeit  in  so  vielen  Archiven  findet.  Auch 
seine  Warschauer  Schlacht  wird  Thulden  aus  gedruckten  Nachrichten 
entnommen  haben;  natürlich  nicht  aus  denen,  die  wir  bisher  kennen 
gelernt  haben.  Die  richtige  Spur  zeigt  uns  die  schon  oben  angeführte 
Aeusserung  Löcks :  quae  mendacia  de  Suecis  Dantisci  et  in  Belgo  sparsa 
sint,  ut  satis  notum  hie  non  repetam. 

Es  ist  mir  bisher  nicht  gelungen  Danziger  Drucke  über  die  War- 
schauer Schlacht  zu  finden.  Aber  auch  aus  Des  Noyers  Briefen  ist  der 
überaus  thätige  und  gut  polnisch  gesinnte  Buchhändler  Georg  Förster 
bekannt ,  aus  dessen  Verlag  u.  a.  die  prunkvollste  Darstellung  der  wun- 
derreichen Rettung  von  Czenstochau  hervorgegangen  ist.  Um  die  Zeit 
der  Warschauer  Schlacht  oder  gleich  nachher  kam  die  holländische  Flotte 


29]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  373 

auf  die  Danziger  Rhede,  um  die  Stadt  in  ihrem  Widerstände  gegen  Schwe- 
den zu  unterstützen.  In  Danzig  wie  im  Haag  war  man  beflissen  den  Aus- 
gang der  Schlacht  so  günstig  als  möglich  zu  deuten ,  und  man  fand  in 
einem  Vorgang,  der  unmittelbar  nach  der  Entscheidung  eingetreten  war, 
den  Anlass  von  einer  Wiederaufnahme  des  Gefechtes  am  vierten  Tage 
und  deren  günstigem  Erfolg  der  zeitungsgläubigen  Welt  Nachricht  zu 
geben.  Auf  solche  Danziger  oder  Hollander  Nachrichten  hatte  dann  Thul- 
den  seine  Darstellung  gegründet,  nicht  ohne  eine  scharfe  Kritik  der  geg- 
nerischen Nachrichten  beizufügen:  his  proeliis  eo  iriduo  aut  quatriduo 
conserüs  mendaciorum  ingens  farrago  de  victoria  Suedi  et  Brandenburgi  e 
Prussia  in  Germaniam  allata  est  u.  s.  w. 

Die  sehr  lehrreichen  Berichte  des  Danziger  Agenten  am  polnischen 
Hofe,  des  Stadtschreibers  Gregor  Barckmann,  theile  ich  auszugsweise 
in  Beilage  1 1  mit. 

II.  Feststellung  des  Thatbestandes. 

Nach  der  Natur  der  vorliegenden  Materialien  wird  man  nicht  den 
Anspruch  machen  dürfen  den  Verlauf  der  Schlacht  so  bis  ins  Einzelne 
genau  feststellen  zu  können ,  wie  die  militairische  Literatur  die  Schlach- 
ten neuerer  Zeit  darzustellen  sich  gewöhnt  hat.  Es  bleiben  mehrere 
Punkte  unklar  und  man  muss  sich  begnügen  den  Gang  der  Gefechte  in 
den  wesentlichen  Momenten  feststellen  zu  können. 

Das  Schlachtfeld. 

Ich  lege  der  Terrainbeschreibung  die  früher  erwähnte  russische 
Generalstabskarte  zum  Grunde  die  vor  etwa  20  Jahren  zum  Be- 
huf eines  Manövers  in  der  Umgegend  von  Warschau  lithographirt  und 
den  anwesenden  fremden  Officieren  gegeben  worden  ist.  Ausserdem 
benutze  ich  eine  in  grossem  Maassstabe  und  mit  vorzüglichem  Fleiss  ge- 
stochene Ingenieurkarte  von  Warschau,  die  auch  einen  Theil  des 
Schlachtfeldes  uinfasst.  Herr  Dr.  Krasnosielski  hat  die  grosse  Güte  ge- 
habt Durchzeichnungen  beider  Karten  an  Ort  und  Steile  zu  controliren 
und  einzelne  zweifelhafte  Punkte  festzustellen. 

Das  Schlachtfeld  liegt  Warschau  gegenüber ,  bei  Praga.  Südwttrus 
ist  es  durch  einen  todten  Weichselarm  abgeschlossen ,  der  sich  in  einem 
sumpfigen  Grunde  in  der  Richtung  von  Grochow  fortsetzt.  Etwa  500 
Schritt  nördlich  von  diesem  Weichselarm  beginnt  eine  Dünenreihe,  die 


374  Joh.  Gcst.  Droysen,  [30 

bald  zu  einer  Kette  von  Hügeln  an  einander  gereibt,  sich  parallel  mit  der 
Weichsel  und  etwa  3000  Schritt  von  ihr  entfernt  eine  halbe  Meile  weit 
hinzieht.  Zwischen  den  Dünen  und  der  Weichsel  ist  ein  welliges  Ter* 
rain,  dessen  Senkungen  mit  Sumpfwiesen  gefüllt  sind;  namentlich  nach 
Norden  hin  zwischen  dem  Ende  der  Dünen  und  dem  Strom  erhebt  es 
sich  in  drei  Schwellungen,  die  von  sumpfigen  Gründen  getrennt  sind 

Es  bildet  sich  so  ein  eigentümlich  geschlossener  und  zur  Vertei- 
digung wohl  geeigneter  Raum  um  Praga,  ein  Oblongum  von  reichlich 
V2  Meile  Länge,  J/4  Meile  Breite,  dessen  West-  und  Südseite  durch  die 
Weichsel  und  den  todten  Weichselarm ,  dessen  Ostseite  durch  die  Du* 
nenreihe  gedeckt  ist.  Die  Nordseite  ist  offener;  aber  theils  beherrschen 
die  Schwellungen  des  Bodens  das  tiefere  Terrain ,  das  nordwärts  davor 
liegt,  theils  macht  der  Sumpfgrund  zwischen  den  Dünen  und  der  näch- 
sten Schwellung,  der  sich  weiter  nach  Norden  fortsetzt,  den  Zugang 
schwierig ;  endlich  springt  in  der  Fortsetzung  der  Dünenreihe  und  von 
ihr  durch  einen  breiten  Hohlweg  getrennt,  eine  einzelne  Düne  hervor, 
welche  das  Flachland  im  Norden  und  Osten  beherrscht. 

Diese  Terrainbildung  ist  wie  ein  natürlicher  Brückenkopf  fllr  War- 
schau, und  als  solcher  ist  er,  wie  die  drei  Dahlbergischen  Zeichnungen 
zeigen,  von  der  polnischen  Armee  benutzt  und  durch  Erdwerke  ver- 
stärkt worden. 

Sie  hatten  auf  der  zuletzt  erwähnten  nordwärts  vorspringenden 
Düne  eine  geschlossene  Schanze  aufgeworfen  (den  Schanzhügel);  sie 
hatten  die  Schwellungen  zwischen  hier  und  der  Weichsel  mit  Retranche- 
ments  versehen,  deren  Kanonen  das  nordwärts  vorliegende  tiefere  Land 
beherrschten  (die  Schanze  Zamoyskys  auf  der  westlichen  Schwellung, 
dann  die  Czarneckys,  nach  Barckmann,  der  fllr  die  dritte,  östliche  Schwel- 
lung  kein  Schanzwerk  erwähnt).  Sie  hatten  den  südlichsten  Theil  der 
Dünenreihe,  die  mit  Wald  bestanden  war  (das  Holz  von  Praga)  mit  Erd- 
werken gesichert,  so  dass  es  der  Feind  der  in  das  Defite  beim  todten 
Weichselarm  eindringen  wollte,  unter  den  Kanonen  dieser  Werke  pasaren 
musste.  Hinter  dem  Holz  von  Praga  waren  noch  weitere  Verschanzungen. 

Mit  besonderer  Vorsicht  war  der  Uebergang  über  die  Weichsel  ge- 
deckt. Die  Schiffbrücke,  die  herüber  führte  —  nach  Dahlbergs  Zeich- 
nung ist  ihre  Lage  genau  zu  bestimmen,  —  war  diesseits  und  jenseits 
durch  ein  besonderes  Schanzwerk  gedeckt.  Und  wie  weiter  diesseits  die 
Retranchenients  sie  schützten,  so  war  jenseits  auf  der  Uferhöhe  bei  Pulko 


34]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  375 

eine  Schanze  aufgeworfen  (Des  Noyers  p.  214)  für  den  Fall,  dass  der 
Feind  auf  dem  linken  Ufer  herankam  *. 

Die  beiden  neueren  Specialkarten,  die  mir  vorgelegen,  zeigen 
Reste  von  Schanzwerken  vor  dem  Holz  von  Praga ,  hinter  demselben, 
dann  auf  zwei  von  den  drei  Schwellungen ,  wo  die  nördlichen  Retran- 
chements  gelegen  haben  müssen.  Sollten  diese  Reste  aus  einer  andern 
Zeit  herstammen  als  aus  der  unsrer  Schlacht ,  so  würden  sie  wenigstens 
die  militairische  Bedeutung  der  gewählten  Stellen  bezeichnen2.  Zur  Zeit 
der  Schlacht  füllte  Praga  noch  nicht  den  ganzen  Raum  aus,  den  es  jetzt 
umfasst.  Die  Karte  von  Memmert  nennt  neben  Praga  und  südlich  davon 
ein  zweites  Dorf  Skarizowo ,  und  beide  führt  Des  Noyers  mit  der  Be- 
zeichnung ces  deux  grands  villages  vis-ä-vis  de  Varsovie  an.  Bei  beiden 
lagen  mehrere  Landhäuser,  deren  einige  die  Zeichnung  Üahlbergs  nennt. 

In  diesem  Bereich  bewegt  sich  die  Schlacht  des  dritten  Tages,  die 
des  zweiten  im  Osten  der  Dünenreihe,  die  des  ersten  im  Norden  der 
Retranchements. 

Im  Osten  der  Dünenreihe  liegt  ein  weites  Flachland,  zum  Theil  von 
Brüchern  und  Wiesen  durchzogen,  die  ihren  Abfluss  nordwärts  zum 
Zonzabach  und  durch  ihn  in  den  Bug  haben.  Diess  Flachland  erstreckt 
sich  etwa  1  Vi  Meilen  weit  ostwärts ,  wo  der  weite  Wald  von  Grochow 
den  Horizont  schliesst.  In  dieser  Fläche  liegen  mehrere  Dörfer,  zunächst 
Kamin  zwischen  dem  todten  Weichseiann  und  dem  Holz  von  Praga, 
dann  Targoweck  dem  Nordende  des  Holzes  von  Praga  gegenüber, 
etwa  2000  Schritt  ostwärts,  am  Saum  sumpfiger  Wiesen,  die  sich  von 
hier  gerade  nordwärts  ziehen;  dann  weiter  am  Rande  derselben  das 
Dorf  Brudno,  jenem  Schanzhügel  gegenüber  und  etwa  4000  Schritt 
von  demselben;  endlich  eben  so  am  Rande  des  Bruches  Bialalenka 
mit  einem  »königlichen  Hause.« 

Dann  das  Terrain  im  Norden,  das  des  ersten  Schlachttages.  Zwi- 
schen Bialalenka  und  der  Weichsel  liegt  ein  Wald,  der  sich  nach  Norden 
dem  Fluss  parallel  fortsetzt,  durchzogen  von  einer  Dünenkette,  die  in  der 


♦ )  ou  etoit  un  fort  pour  la  garde  de  notre  pont  de  ce  cöti-ei.  Nach  der  Zeichnung 
von  Memmert  war  es  nicht  eine  einzelne  Schanze,  sondern  eine  Linie  von  Retranche- 
ments wie  auf  der  rechten  Seite  des  Stromes«    Genaueres  in  Beilage  f  1 . 

2)  Nach  Herrn  Dr.  Krasnosielski's  Angabe  sind  diese  und  die  bei  dem  Holz  von 
Praga  angezeigten  Schanzwerke  noch  jetzt  wohl  erkennbar  und  gelten  dafür  aus  der 
Schwedenzeit  zu  sein. 


376  Joh.  GrsT.  Droysen,  [32 

Richtung  der  von  Praga  nordostwBrts  streicht.  Der  Wald  hat  bald  Sumpf- 
bald  Sandgrund.  Die  Dünenkette  begleitet  an  ihrer  Westseite  ein  Sand- 
weg, der  dem  Schanzhügel  gegenüber,  etwa  1 000  Schritt  von  ihm  ent- 
fernt ins  Freie  mündet;  andre  Wege  durchschneiden  ihn  von  West  nach 
Ost,,  in  der  Richtung  nach  Bialalenka. 

Zwischen  dem  Wald  und  der  Weichsel  führt  die  Strasse  von  No- 
wod wor  nach  Praga  und  Warschau ;  es  ist  die  auf  der  das  schwedisch- 
brandenburgische  Heer  heranzieht.  Der  Weg  geht  über  die  Dörfer  Tar- 
chemin,  Smidry,  dann  Zyran,  das  3A  Meile  .von  Praga  entfernt  ist.  Hier 
nähert  sich  der  Wald  in  einem  Bogen  der  Weichsel,  von  der  ein  schma- 
ler Arm  so  einspringt,  dass  endlich  nur  ein  Defilö  von  etwa  7  OD  Schritt 
bleibt.  Dann  wendet  sich  der  Saum  des  Waldes  ostwärts,  doch  nicht  in 
grader  Linie  abgeschnitten ,  sondern  so  dass  der  Schwedenkönig,  als  er 
durch  diess  Defilö  vorrückte,  zu  seiner  Linken  wieder  den  Wald  sah  (Reh 
1. 1 7).  Es  ist  die  Einbiegung  auf  der  Südseite  des  Waldes,  die  sowohl  Dahl- 
bergs  Zeichnung  Bl.  40  als  auch  die  Generalstabskarte  deutlich  bezeichnet. 

Ein  zweites  Defilä  ist  zwischen  dem  Walde  und  dem  Schanzhügel, 
von  etwa  1000  Schritt  Breite,  verengt  durch  die  zum  Theil  sumpfige 
Wiese,  die  hier  aus  den  Dünen  hervortretend  an  der  Westseile  des 
Schanzhügels  sich  nordwärts  in  den  Wald  hinein  fortzieht.  Vor  diesem 
Pass,  »allernächst  beim  Walde,«  liegt  »eine  kleine  Colline«  (Rel.L),  welche 
diesen  Pass  von  Osten  her  beherrscht ;  sie  ist  so  gelegen ,  dass  die  Al- 
liirten  mit  der  Besetzung  derselben  »gänzlich  um  den  Wald  herumkamen« 
(Bericht  No.  1).  Also  ist  es  nicht  die  kleine  Höhe,  die  in  der  Richtung  der 
Dünenreihe  dicht  an  dem  Austritt  des  Sandweges  aus  dem  Walde  liegt. 

Diese  kleine  Colline  ist  der  filr  den  Verlauf  der  Schlacht  entschei- 
dende Punkt.  Memmert  hat  in  dem  Gefühl  ihrer  Wichtigkeit  sie  unver- 
hältnissmflssig  vergrössert,  er  so  wie  Dahlberg  zeichnet  sie  ziemlich  dicht 
an  der  Südostecke  des  Waldes ,  doch  so  dass  zwischen  ihr  und  dem 
Wald  Raum  zur  Aufstellung  von  drei  Treffen  bleibt,  während  des  Chur- 
ftlrsten  eigenhändiger  Bericht  angiebt ,  dass  »das  erste  Treffen  für  dem 
Holz,  die  beiden  andern  in  dem  Holz  aufgestellt  wurden.«  Auf  der  rus- 
sischen Generalstabskarte  ist  sie  nicht  bezeichnet,  aber  in  der  Inge- 
nieurkarte erkennt  man  sie  in  der  Höhe,  die  sich  an  dem  Walde  hin- 
zieht, ein  Wenig  über  sein  Südende  hinausragend '. 

t )  Herr  Dr.  Krasnosielski  schreibt  über  diese  Colline :  vor  einigen  Jahren  war 
an  der  nach  Süden  vorspringenden  Stelle  dieses  Höhenzugs  ein  nicht  unbedeutender 


33]  Dm  Schlacht  von  Warschau.  1656.  377 

Es  ist  der  Mühe  werth  die  kurze  Beschreibung  des  Terrains  hinzu- 
zufügen die  Kochowsky  giebt :  Situs  loci  ad  Pragam  in  protensam  plani- 
tiem  vergit,  Vistula  dextro  laiere  praelabente.  ab  laeva  hinc  inde  coenosi 
trajectu8  ex  intervenienlibus  rim,  etiam  arenarum  cumulis  assurgenlibus. 
adhaerebat  planitiei  rarior  quidem  pinea  sylva,  sed  quae  humilibus  arbustis 
impedita  tegendis  insidiis  plane  commoda  esset. 

Die  Starke  der  Armeen. 

Der  schnellen  Unterwerfung  Polens  durch  die  Schweden  war  ein 
mächtiger  Rückschlag  in  der  Stimmung  des  polnischen  Volkes  gefolgt ; 
mit  der  Rückkehr  des  geflüchteten  Königs,  mit  jener  merkwürdigen  Feier- 
lichkeit ,  in  der  er  Polen  der  Jungfrau  Maria  weihte ,  mit  den  Erfolgen 
des  Frühlings  1 656  verbreitete  sich  die  Begeisterung  gegen  die  tiber- 
müthigen  Fremdlinge ;  im  Anfang  Juli  war  das  ganze  Land  in  Waffen. 

Die  Stärke  der  polnischen  Macht  rechnet  Des  Noyers  am  20.  Juli 
nach  gehaltener  Revue  auf  50,000  M.,  die  der  lithauischen  auf  10,000 
bei  Praga  und  20,000  die  über  den  Bug  detachirt  sind.  Dazu  die  Tarta- 
ren, 35,000  Herren  und  50,000  Diener  qui  combattent  comme  les  mattres, 
am  27sten  sagt  er  sie  stehn  nur  noch  drei  Lieues  von  Warschau ;  dass  sie 
beim  Beginn  der  Schlacht  nichts  weniger  als  bei  einander  waren,  sagt 
sein  Schreiben  vom  1 1 .  Aug.  Ungefähr  eben  so  hoch  ist  das  polnische 
Heer  nach  dem  Schreiben  aus  Sacrozin  Rel.  VI.  »In  unsers  Königs  La- 
ger hinter  Warschau  waren  60,000  M.  pospolite  Ruszenie,  in  Prag  gegen 
Warschau  über  waren  über  20,000  M.  lithauische  Völker;  die  Quartia- 
ner  und  Husaren  waren  auf  20,000  und  die  Tartaren  auf  40,000.«  Dass 
die  Polen  selbst  sich  auf  100,000  M.  geschätzt,  sagt  Rel.  I.  §  57;  »über 
100,000  M.«  Rel.  II.;  «by  twee  hondert  Duysenh  Aitzema.  Die  brandenb. 
Darstellung  No.  1 2  sagt  »eine  Macht  welche  anfangs  120,000  M.  letzt  aber 
dero  eigenem  Geständniss  nach  84,000  Gombattanten  stark  gewesen;« 
eben  so  der  vom  Churftlrsten  corrigirte  Bericht  (No.  2  d).   Ganz  anders 


Hügel,  heute  ist  er  verschwunden,  weil  an  dieser  Stelle  eine  Colonie  gegründet  wor- 
den ist.  Mit  Geschützen  kann  man  heute  das  Defite  am  Waldsaume  entlang  nichl  be- 
streichen ,  weil  da  wo  der  Waldweg  heraustritt,  der  bewegliche  Flugsand  eine  Erhö- 
hung gebildet  hat ;  die  Leute  in  der  Colonie  geben  an ,  dass  vor  i  2  Jahren  an  der 
Stelle  noch  Sumpf  gewesen  sei.« 

Abhgndl.  d.  K.  8.  Qet.  d.  Wim.  £.  26 


378  Job.  Gust.  Droysen,  [34 

sind  die  Zahlen  in  Rel.  I.  IL  §  57:  8000  Quartianer,  16,000  pospolite 
Ruszenie,  5000  Lithauer,  6000  Tartaren,  4000  zu  Fuss  *;  schon  die 
brandenburgische  Bearbeitung  verändert  diese  Zahlen,  die  vielleicht  nur 
die  wirklich  ins  Gefecht  gebrachten  festen  Truppenkörper  umfassen. 

Wie  immer  die  Zahlen  schwanken  mögen ,  in  allen  spricht  sich  der 
Eindruck  aus,  dass  man  gegen  eine  ungeheure  Uebermacht  »gegen  einen 
fünfmal  stärkeren  Feind«  gekämpft  habe.  On  peut  maintenant,  schreibt 
Des  Noyers  27.  Juli,  comparer  les  forces  de  la  Pologne  ä  un  gros  taureau  et 
eelle  de  Suede  ä  un  renard ;  l'un  est  un  gros  animal  sans  conduite  que  tautre 
combat  seulement  per  ses  ruses.  »Wir  hatten  ein  Mitleid,«  sagt  der  Corre- 
spondent  aus  Sacrozin ,  der  die  Alliirten  über  den  Bug  marschiren  ge- 
sehen ,  »dass  diese  Völker  gleichsam  auf  die  Schlachtbank  geführt  wer- 
den müssten.« 

Aber  unter  den  Völkern  auf  polnischer  Seite  waren  offenbar  nur 
wenige  Schaaren  eigentlicher  Soldaten;  der  bei  Weitem  grösste  Theil 
bestand  aus  »irregulären  Truppen.«  Als  solche  wird  man  zunächst  die 
Tartaren  bezeichnen  müssen,  die  mit  Pfeilen  schössen  (Aitzema).  Auch 
die  pospolite  Ruszenie,  die  »Insurrection  des  gemeinen  Adels«  gehört  hier- 
her, die  auf  16,000,  auch  60,000  angegeben  werden;  gewiss  gilt  .von 
ihnen,  was  um  dieselbe  Zeit  der  Graf  von  Coligny  -  Saligny  (Mem.p.  23) 
in  Betreff  der  Kämpfe  der  Fronde  beobachtet :  »j'ai  souvent  raisonne  sur 
ce  que  cest  de  gern  disciplines  au  prix  de  ceux  qui  ne  le  sont  pas;  toute 


ooo 


I )  Die  verschiedenen  Angaben  übersehen  sich  am  besten  in  folgender  Zusam- 
menstellung. 

Rel.  I.  II.     Bericht  aus  Sacrozin.    Theat.  Bur.  ed.  2.    Des  Noyers. 

Quart.  8000  20.000  80,000  | 

Husaren  —  —  —  Uo,000 

Posp.Rusc.  16,000  —  60,000  J 

_  f35, 000 Herren    l 

Tart.  6000  40,000  36,000  {50,000  Knechte  J40'1 

Lith.  5000  20,000  20,000  30,000  — 

Fussvolk  4000  —  4000  6000  4000 

Hailoten  —  —  —  *  5,000  — 

Chrzanowsky  hat  die  Zahlen  der  Rel.  I.  II.  aus  Pufendorff.  Er  fügt  hinzu,  le  bruü  qui 
courut  alors  que  Varmee  e'tait  composee  de  4  00,000  kommet  avec  80,000  Tartares  elait 
apparement  repandu  dans  le  but  de  relever  le  moral  des  siens  et  de  contenir  les  Suedois. 
Des  Noyers  schreibt  am  27.  Juli:  notre  armie  a  ele  plus  de  80,000  kommes,  eile  est 
encore  presentemeni  de  plus  de  50,000  hommes  sans  celle  de  Lükuanie  de  10,000  kom- 
mes, qui  fait  un  camp  ä  part;  die  detachirten  20,000  Lithauer  und  die  Tartaren  rech- 
net er  nicht  mit.    Andere  Angaben  aus  Barckmanns  Berichten  folgen  in  Beil.  <  \ . 


35]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  379 

cetle  noblesse  estoit  composee  (Thomtnes  fort  braves  en  particulier,  cepen- 
dant  en  gros  ils  nesUrient  bon  ä  rien  et  faisoient  mesme  assez  mechante 
conlenance.«  Nicht  eben  andrer  Art  dürften  die  Hasaren  gewesen  sein ; 
schwergepanzerte ,  mit  Lanze  (copie) ,  Pallasch ,  Hammer ,  Pistolen  be- 
waffnete Ritter,  deren  jeder  —  nach  Art  der  alten  Gleven  —  zwei  bis 
vier  leicht  Bewaffnete  zu  Pferde  hinter  sich  hatte;  auch  die  Löwen- 
und  Tigerfelle*  die  sie  trugen ,  zeigten ,  dass  sie  die  reicheren  Edelleute 
des  Landes  seien.  Nur  die  Quartianer  waren  Reiter  im  regelmässigen 
Sold.  Ueber  die  Lithauer  liegen  keine  besonderen  Nachrichten  vor. 
Wenn  das  Fussvolk  auf  4000  oder  6000  Mann  angegeben  wird,  so 
scheinen  damit  die  »einigen  Regimenter  deutscher  Kriegsknechte«  im 
polnischen  Heer  gemeint  zu  sein ,  deren  ein  Schreiben  Karl  Gustavs  an 
E.  Oxenstjerna  vom  31.  Juli  erwähnt  (Carlson  p.  152).  Denn  die  12 — 
1 5,000  valets  de  l'armde,  qui  est  devanl  Varsovie,  die  sich  nach  Des  Noyers 
22.  Juni  zur  Erstürmung  Warschaus  erboten  haben ,  sind  eben  kein  or- 
dentliches Fussvolk,  sondern  das  was  Rel.  L  §  15  Halloten  nennt,  »Ge- 
sinde, welche  nicht  mit  Obergewehr,  sondern  nur  Säbeln,  Sensen,  Prü- 
geln und  dergleichen  Instrumenten  versehen.« 

Dieser  ungeheuren  Uebermacht  der  Zahl  nach  hatten  die  Gegner 
eine  kleinere  aber  aus  Soldaten,  aus  disciplinirten  und  tactisch  geschlos- 
senen Schaaren  bestehende  Armee  entgegenzustellen. 

Ueber  die  Zahlenverhältnisse  der  »conjungirten  Armee«  sind  wir 
leidlich  genau  unterrichtet.  Jn  de  Lumbres  Schreiben  vom  9.  Aug.  heisst 
es :  Celle  de  Su&de  est  forte  d'environ  dix  milk  hommes,  celle  de  M.  PEle- 
cteur  est  presque  de  pareil  nombre ,  plus  forte  d  Infanterie  mais  plus  foibk 
en  cavallerie.  Diese  Angabe  wird  im  Wesentlichen  durch  die  Berichte 
die  von  der  andern  Seite  her  stammen ,  bestätigt.  Am  speciellsten  und 
wohl  auch  zuverlässigsten  ist  die  Angabe  der  brandenburgischen  Dar- 
stellung in  Beilage  8:  »Die  königliche  Armee  war  in  9000,  die  churflirst- 
liche  aber  in  8490  Mann  bestanden.«  Und  in  der  dem  Churfllrsten  vorge- 
lesenen Darstellung  (No.  2  d)  wird  die  Stärke  von  »16  bis  17,000  Mann« 
angegeben.  Carlson  (also  nach  Dahlberg)  hat  beim  Uebergang  über  den 
Bug  22,000  M.,  am  ersten  Schlachttag  18,000  M.,  Aitzemap.  559  20— 
25,000  M.,  gewiss  zu  gross. 

Auffallender  als  diese  Verschiedenheit  in  den  Zahlenangaben  ist, 
dass  die  Aufzählung  der  einzelnen  Truppenabtheilungeh  in  Rel.  I.  II.  und 
den  davon  abgeleiteten  Berichten  weder  mit  der  genauen  Zeichnung 

*6» 


380  Joh.  Gust.  Droysbn,  [36 

Dahlbergs  noch  mit  der  Mermnerts  stimmt.    Die  Relationen  I.  II.  (§  56. 
57)  geben  an,  dass  das  vereinigte  Heer  gehabt  habe 

60  Escadronen  zu  Pferde, 
4  Regimenter  Dragoner, 
1 2  Brigaden  zu  Fuss, 
sie  fügen  hinzu  (§15),  dass  um  beide  Flügel  gleich  zu  machen  5  schwe- 
dische Schwadronen  dem  linken  Flügel  dem  des  Churfttrsten  überwiesen 
seien.  Danach  also  waren  im  Heer  35  schwedische,  25  brandenburgische 
Escadronen.  Die  ordre  de  bataille  die  Dahlberg  auf  Blatt  41  giebt,  hat 
33  schwedische  Schwadronen  (davon  5  auf  des  Churftlrsten  Flügel)  und 
23  brandenburgische  (davon  2  auf  des  Königs  Flügel),  ohne  Bemerkung 
darüber,  ob  2  schwedische  und  2  brandenburgische  abcommandirt  seien. 
Das  früher  erwähnte  Schreiben  Jenas  erwähnt  das  (schwedische)  Regi- 
ment Anhalt ,  das  er  selbst  in  Action  gesehen ;  aber  es  fehlt  bei  Dahl- 
berg K  —  Die  4  Dragoner-Regimenter  finden  sich  in  der  ordre  de  bataille, 
und  zwar  ein  schwedisches  von  1  Schwadron  (Pfalz  Sulzbach)  auf  dem 
Flügel  des  Königs,  drei  brandenburgische  auf  dem  des  Churfbrsten,  näm- 
lich die  Regimenter  Waldeck  zu  2,  Canitz  zu  2  und  Kalkstein  zu  1  Schwa- 
dron. Dass  das  Fassvolk  in  12  Brigaden  getheilt  war,  und  dass  davon 
3  schwedische ,  9  brandenburgische  waren ,  sagt  Aitzema  und  Rel.  III. 
ausdrücklich  und  lassen  auch  die  Rell.  I.  II.  §  15  u.  16  erkennen.  Eben 
so  giebt  Hemmerts  Ordre  de  bataille  am  zweiten  Tage  12  Brigaden, 
von  denen  3  (schwedische)  auf  dem  äussersten  Flügel  des  Königs,  3 
brandenburgische  auf  dem  äussersten  Flügel  des  Churfbrsten ,  6  bran- 
denburgische im  Centrum  der  Schlachtlinie  stehen.  Sehr  auffallend  ist, 
dass  Dahlbergs  Zeichnung  dem  schwedischen  Fussvolk  eine  viel  grössere 
Bedeutung  zu  geben  sucht ;  sie  führt  überhaupt  nur  1 1  Brigaden  auf, 
von  diesen  sind  6  schwedische  und  nur  5  brandenburgische  *. 

Diese  verschiedenen  Angaben  fordern  noch  einige  Erläuterungen. 
Es  wird  von  Militairschriftstellern  wohl  der  Fehler  gemacht,  dass  sie 

t)  Sehr  abweichend  isl  Carlsons  Angabe:  nach  ihm  hatte  des  Königs  Flügel 
4  schwedische  Regimenter,  Upland,  Smiland,  Ostgöta,  Pinnen  und  21  Escadrons  ge- 
worbene deutsche  Reiter  und  der  Flügel  des  Churfürsten  32  Escadrons  Brandenbur- 
ger. Das  widerspricht  allen  andern  Nachrichten  und  den  Zeichnungen  Dahlbergs. 

2)  Er  nennt  die  schwedischen:  Westrogothen ,  SmÜland,  Upland,  Helsing  und 
ObristNarn;  dass  letzterer  schwedisches  Volk  bedeutet,  ist  sicher.  Carlson  nennt 
fünf  schwedische  Brigaden  (die  obigen  ohne  Narn)  aber  daneben  zehn  brandenbur- 
gische. 


37]  Die  Schlacht  von  Warschau    1656.  381 

Ausdrücke  wie  Escadronen ,  Regimenter ,  Bataillone  so  verstehen ,  als 
wenn  sie  stets  die  gleiche  Bedeutung  gehabt  hatten.  Wenn  man  die  tech- 
nischen Ausdrücke  wie  sie  sich  im  dreissigjtthrigen  Kriege  namentlich  auf 
schwedischer  Seite  entwickelt  haben,  genauer  studirt,  so  zeigt  sich,  dass 
Escadronen  (Vierecke)  für  die  Reiter  die  kleinsten  tactischen  Körper  be- 
zeichnen, die  in  der  Regel  aus  mehreren  Compagnien  gebildet  wurden  \ 
dass  für  das  Fussvolk  theils  derselbe  Ausdruck ,  theils ,  wie  in  diesem 
Kriege,  daneben  auch  der  Ausdruck  Brigaden  im  Gebrauch  war. 

Gewiss  waren  des  Churfürsten  Compagnien  zu  Fuss  und  zu  Ross, 
da  er  eben  jetzt  erst  ins  Feld  rückte,  verhültnissmttssig  vollzählig,  wah- 
rend die  der  Schweden,  die  schon  seit  einem  Jahre  im  Felde  lägen 
und  eine  Wintercampagne  gemacht  hatten,  sehr  zusammengeschmolzen 
sein  mochten 2. 

So  konnte  es  geschehen ,  dass  die  brandenburgischen  Reiterregi- 
menter Kannenberg ,  Fr.  Waldeck,  Leibgarde  3,  4,  5  Escadronen  bilde* 
ten,  wahrend  auf  schwedischer  Seite  nur  die  Reiter  Königsmarks  und 
Sadowskys  zu  3,  ein  Paar  andre  zn  2  Escadronen  stark  genug  waren 3. 
Aehnlich  beim  Fussvolk ;  in  der  That  hatte  der  C hurfürst  nur  die  Regi- 
menter Leibgarde,  Sparr,  Syburg ,  Goltz  und  Josias  Waldeck ;  aber  die 
Compagnien  dieser  Regimenter  waren  zahlreich  und  vollzählig  genug, 
dass  die  Regimenter  Goltz ,  Sparr ,  Syburg  und  Waldeck  je  2  Brigaden 
herstellen  konnten  ;  nur  die  Leibgarde  bildete  eine  Brigade.  Immerhin 
mögen  auf  schwedischer  Seite  6  Regimenter  Fussvolk  wie  Dahlberg 
angiebt ,  gewesen  6ein ;  aber  es  ist  wohl  erklärlich  dass  sie  nur  noch 
Mannschaft  genug  zu  drei  Vierecken  hatten.  Diese  Auffassung  wird  be- 
stätigt, wenn  man  die  schwedischen  Truppentheile ,  die  Dahlberg  im 
Lager  von  Nowodwor  aufführt,  mit  denen,  die  sein  Schlachtplan  giebt, 
vergleicht,  worauf  ich  nicht  naher  eingehen  will. 


\ )  So  schreibt  Graf  Fritz  Waldeck  dem  Churfürsten  nach  dem  unglücklichen  Ge- 
fecht von  Johannfsburg  8.  Ocl.  4  656,  »ich  habe  noch  wenig  von  den  Ausreissern, 
doch  6  Schwadronen  kann  ich  machen.«  (Berl.  Arcb.) 

2)  Des  Noyers  schreibt  22.  Juni,  bei  Nowodwor  seien  26  Regimenter,  darunter 
3  zu  Fuss  chaque  regiment  riest  que  de  4  compagnies,  dan*  la  pluspart  desquelles  Ü  riy 
a  que  4  5,  20  au  30  hommes  au  plus. 

3)  In  dem  eben  erwähnten  Gefecht  hatte  Radzivil  als  schwedischer  General,  wie 
Waldeck  an  Weymann  20.  Oct.  schreibt  sim  regiment*  qui  faüoient  six  cents  komme* 
de  cheval.   (Düsseid.  Arch.) 


382  Joh.  Gcst.  Droysen,  [38 

Eine  andere  grössere  Schwierigkeit  ergiebt  das  Zahlenverhältniss 
zwischen  den  brandenburgischen  und  schwedischen  Völkern. 

Die  schwedischen  Berichte  (Rel.  I.  II.  u.  s.w.)  vermeiden  die  Stärke 
beider  Armeen  nach  der  Kopfzahl  anzugeben ;  sie  führen  nur  die  Zahl 
der  Brigaden  und  Escadronen  an;  sie  sagen  §  57,  dass  auf  jedem  Flügel 
30  Escadronen  gestanden,  nachdem  sie  §  15  angeführt,  dass  um  beide 
Flügel  gleich  zu  machen,  5  schwedische  dem  des  Ghurfürsten  zugelegt 
seien.  Der  Ghurfürst  hat  §  57  statt  der  Zahl  der  Escadronen  corrigirt, 
dass  die  conjungirte  Armee  16 — 17000  Mann  stark  gewesen;  und  da- 
mit ist  der  Bericht  No.  12,  der  ja  auch  in  Berlin  entstand,  dass  9000 
Schweden  und  8490  Brandenburger  zur  Stelle  waren,  bestätigt. 

Die  Schwierigkeit  ist  nun,  festzustellen,  wie  diese  Zahlen  sich  auf 
die  Brigaden  und  Escadronen  der  beiden  Armeen  vertheilen.  Denn  wenn 
sich  die  Stärke  der  beiderseitigen  Fussvölker  wie  9 : 3  verhält,  so  ist  das 
Verhältniss  der  Cavallerie  25:35  dem  nicht  entsprechend,  wenn  man 
nicht  den  4  Regimentern  Dragoner  (nach  Dahlberg  1  Esc.  Schweden  und 
5  Esc.  Brandenburger)  eine  unverhältnissmässige  Stärke  zuschreiben  will. 

Man  sieht  es  ist  die  Frage  nach  der  Grösse  der  Brigaden  und  Es- 
cadroneü,  der  kleinsten  tactischen  Körper. 

Als  der  Churfürst  1646  seine  Leibgarde  zu  Fuss  errichtete,  be- 
stimmte er,  dass  sie  »eine  Escadron  von  500  Mousquetiren«  in  4  Com- 
pagnien  bilden  sollte  (s.  den  Bestallungsbrief  bei  v.  Gansauge  das  brand. 
preuss.  Heer  p.  11 8)  K  Und  in  den  Zeichnungen  von  Memmert  und 
Dahlberg  bildet  des  Ghurfürsten  Garde  zu  Fuss  eine  Brigade.  Wir  dür- 
fen annehmen ,  dass  jede  der  9  brand.  Brigaden  ungefähr  von  gleicher 
Stärke  war. 

Von  dem  brandenb.  Heer  zu 8490  M. 

enthalten  die  9  Brigaden 4500  — 

bleiben  für  Dragoner  und  Reiter   ....     3990  M. 
Dürfte  man  annehmen,  dass  die  Escadronen  der  Reiter  und  Drago- 
ner gleich  stark  waren ,  so  würde  sich  für  jede  derselben  ergeben  eine 
Stärke  von 133  M. 


4)  Zur  Vergleichung  führe  ich  an,  dass  ein  churfiirstlicher  Beslallongsbrief  vom 
9.  Mai  4  658  für  den  Oberstleutnant  de  Lardeau  »die  Rüstung  einer  Escadron  zu 
Fuss«  befiehlt,  welche  aus  vier  Compagnien  zu  4  00  »gemeinen  Knechten«  bestehen 
soll  ausser  der  oberen  und  unteren  prima  plana. 


39]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  383 

Diese  Zahlen,  auf  die  schwedische  Armee  angewandt,  ergeben 
ganz  verkehrte  Resultate.  Nimmt  man  an,  dass  die  schwedischen  Reiter 
und  Escadronen  gleichfalls  4  33  M.  stark  waren,  so  waren  unter 

9000  M. 
36  Escadronen 4788  — 

es  bleiben  filr  das  Fussvolk 4212  M. 

was  für  jede  der  3  Brigaden  über  1 400  Mann  ergeben  würde.  Und 
wieder  nimmt  man  an,  dass  diese  Brigaden  gleiche  Stärke  mit  den  bran- 
denburgischen hatten,  so  waren  unter 9000  M. 

die  3  Brigaden  Fussvolk 1 500  — 

und  es  bleiben  für  Reiter  und  Dragoner  ....  7500  M. 
wonach  jede  Escadron  208  M.  stark  gewesen  wäre ,  also  um  2/s  stärker 
als  die  brandenburgischen.  Sollte  also  doch  die  Ausgleichung  in  den 
Dragonern  zu  suchen  sein?  Dragoner  werden  als  leichte  Infanterie  ver- 
wendet ;  sie  rücken,  wie  Memmerts  Zeichnungen  erläuternd  bemerken, 
»in  kleinen  Parthien  zwischen  die  Reiter  vertheilt«  an;  es  muss  immer 
wenn  vorgerückt  wird,  ein  Theil  der  Leute  ausser  Gefecht  bleiben,  um 
die  Pferde  der  absitzenden  zu  halten ;  um  so  viel  grösser  an  Kopfzahl 
scheint  ihr  kleinster  tactischer  Körper  sein  zu  müssen. 

In  einem  Gefecht  bei  Dirschau  23.  Aug.  1657  theilt  Josias  von 
Waldeck  sein  Reiterregiment,  das  er  auf  »beinahe  500  Pferde«  angiebt, 
wie  es  zum  Angriff  geht  in  4  Escadronen ;  er  fügt  gelegentlich  in  sei- 
nem Bericht  an  den  Churftlrsten  (Stolpe  7.  Sept.)  hinzu,  dass  jede  seiner 
Escadronen  nur  2  Compagnien  stark  gewesen  sei.  Seine  500  Reiter 
bildeten  also  8  Compagnien  zu  etwa  62  Pferden;  er  machte  zum  Ge- 
fecht Escadronen  von  125  Mann.  Nehmen  wir  an,  dass  auch  bei  War- 
schau die  brandenburgischen  Reiterschwadronen  125  Mann  stark  waren, 

so  befanden  sich  in  der  Gesammtstärke  des  Churfürsten  von 

8490  M. 

Fussvolk  in  9  Brigaden 7500  — 

Reiter  in  25  Escadronen 3125  — 

bleiben  für  die  Dragoner 865  M. 

so  dass  die  Escadron  Dragoner  173  M.  gewesen  wäre.  Aber  man 
sieht,  dass  auch  damit  das  Misverhältniss  zwischen  der  schwedischen 
und  brandenburgischen  Formation  nicht  beseitigt  ist. 

Es  versteht  sich  von  selbst ,  dass  die  Zahlen  in  Wirklichkeit  nicht 


384  Joh.  Glst.  Droysen,  [40 

so  schematisch  waren,  dass  einzelne  Schwadronen  auch  bei  den  Schwe- 
den am  etwas  kleiner,  bei  den  Brandenburgern  um  etwas  grösser  sein 
konnten.  Nur  dass  die  Frage  damit  um  nichts  weiter  kommt. 

Das  Resultat  ist,  dass  die  Schweden  entweder  ihre  Brigaden  oder 
ihre  Escadrons  oder  beide  stärker  ins  Gefecht  führten  als  die  Branden- 
burger. 

So  bestimmt  die  Angabe  der  Rel.  I.  IL  u.  s.  w.  ist,  dass  um  beide 
Flügel  gleich  zu  machen  und  jeden  auf  30  Escadronen  zu  bringen, 
5  schwedische  an  den  Flügel  des  Churfllrsten  abgegeben  seien ,  so  we- 
nig stimmt  damit  die  detaillirte  Zeichnung  und  Erklärung  bei  Dahl- 
berg  und  Memmert.  In  Beilage  10  ist  die  specieilere  Zusammenstel- 
lung versucht. 

Ueber  die  Zahl  der  Geschütze  hat  nur  Des  Noyers  die  Angabe,  dass 
die  Schweden  und  Brandenburger  zusammen  50  —  60  Stücke  gehabt 
hatten ;  wie  viele  davon  grobe ,  wie  viele  Regimentsgeschütze  waren, 
ist  nicht  zu  erkennen.  Dass  auf  Seiten  der  Polen  nur  etwa  40  Stücke 
waren  und  von  diesen  kaum  die  Hälfte  in  der  Schlacht  verwendet  wurde, 
wird  sich  später  ergeben. 

Die  Einleitung. 

Der  Ausgangspunkt  der  Operationen  ist  auf  Seiten  der  Alliirten 
»das  Lager  bei  Nowodwor,«  wie  es  in  vielen  Briefen  Karl  Gustavs  seit 
dem  28.  Juni,  die  mir  vorgelegen,  genannt  wird.  Es  lag  auf  dem  rechten 
Ufer  des  Bug ,  hart  an  seiner  Einmündung  in  die  Weichsel ;  gegenüber 
auf  dem  linken  Ufer  des  Bug  das  Dorf  Nowodwor,  wo  noch  bis  heut 
der  Name  »schwedische  Kempe«  in  Uebung  ist.  Eine  Brücke  war  hier 
über  den  Bug,  eine  zweite  über  die  Weichsel  bei  Sacrozin  Vi  Meile  nord- 
wärts vom  Lager  geschlagen. 

Am  1 4.  Juli  N.  St.  hatte  der  Churfhrst  mit  seinem  Heere  die  pol- 
nische Grenze  überschritten  und  bei  Schrinsk,  7  Meilen  vom  Lager 
Halt  gemacht  (Bericht  Beil.  8) ;  am  27sten  folgte  die  Vereinigung  beider 
Armeen  bei  Sacrozin  (Rel.  I.  IL) ,  noch  am  Nachmittag  desselben  Tages 
begann  der  Uebergang  der  Truppen  über  den  Bug  (Ghurf.  Bericht  Bei- 
lage 1);  die  Artillerie  ging  zuerst  hinüber,  dann  sollte  die  Cavallerie, 
endlich  das  Fussvolk  folgen.  Die  Dunkelheit  der  Nacht  und  das  Einbre- 
chen eines  schweren  Geschützes  verzögerte  den  Marsch ,  so  dass  erst 
am  28.  Juli  Mittags  (»nicht  eher  als  gegen  den  Mittag ,«  Ghurf.  Bericht 


44]  Die  Schlacht  von  Warschau.  4656.  385 

Beil.  1)  der  Uebergang  bewerkstelligt  war.  Nach  Des  Noyers  blieben 
2000  Mann  zur  Deckung  des  Lagers  zurück;  welche  Truppen,  wird 
nicht  ausdrücklich  angegeben ,  lässt  sich  aber  aus  dem  Vergleich  der 
Dahlbergschen  Zeichnung  No.  38  mit  den  Schlachtplänen  ziemlich  sicher 
feststellen. 

Man  hatte  einen  Marsch  von  4  Meilen  bis  Praga  (Churf.  Bericht). 
Auf  dem  Marsch  trifft  zuerst  ein  Trompeter  mit  Briefen  des  Königs  von 
Polen  an  den  Churfilrsten  ein ,  dann  »auf  halbem  Wege«  (d  my*chemin) 
als  das  Heer  einen  kurzen  Halt  gemacht ,  der  französische  Gesandte  de 
Lumbres.  Wenn  Pufendorff  F.  W.  den  Trompeter  erst  nach  dem  Gesandten 
ankommen  Ittsst,  so  liegt  in  dem  mir  bekannten  Material  kein  Grund  dazu 
vor,  und  es  kann  nur  als  eine  Ungenauigkeit  bezeichnet  werden. 

Pufendorff  (F.  W.  VI.  33)  theilt  ein  Schreiben  des  Polenkönigs  an 
den  Churfilrsten  mit,  das  nach  seiner  Angabe  vom  1 5.  Juli  datirt  ist.  Ich 
habe  das  Original  des  Schreibens  nicht  gesehen,  aber  dass  das  Datum  von 
Pufendorff  auf  den  alten  Styl  transponirt  ist,  ergiebt  sich  aus  dem  Vor- 
wurf den  der  König  dem  Churfilrsten  macht :  coerceri  debwsse  intra  Bo~ 
russiae  fines  exercitum;  erst  am  14.  Juli  hatte  der  Churfilrst  die  Grenze 
überschritten  l.  Wahrscheinlich  war  diess  das  Schreiben,  in  Folge  dessen 
der  Churfilrst  sich  mit  der  schwedischen  Armee  conjungirte;  und  das 
Schreiben,  das  der  Trompeter  am  2$sten  überbrachte,  war  ein  anderes,  dro- 
henderes. Inzwischen  bemühten  sich  die  beiden  französischen  Gesandten 
Avaugour  im  schwedischen  und  de  Lumbres  im  polnischen  Lager  zu  ver- 
mitteln. In  Warschau  hatte  de  Lumbres  »nach  viertägiger  Bemühung« 
am  26.  Juli  eine  wie  ihm  schien  verwendbare  Erklärung  erhalten ;  aber 
es  war  ihm  unmöglich  gemacht  sofort  wie  er  wollte  nach  Nowodwor  zu 
eilen.  »Je  proposai  de  partir  le  lendemain  pour  aller  porter  cette  rdponse 
au  Roy  de  Suede;  mais  la  ceremonie  de  famvie  du  General  des  Tartares, 
qui  vint  ce  jour  saluer  le  Roy ,  rriayant  empeschi  d'avoir  un  Trompette  je 
ne  pus  partir  que  le  jour  suivant,  qui  estoit  le  28.«  Man  sandte  polnischer 
Seits  den  Trompeter  mit  einem  »impertinenten  und  unzeitigen«  Schrei- 


4)  Den  Text  desselben  Schreibens  hat  Rudawsky  mit  dem  Datum  53.  Juli  und 
ein  entsprechendes  Schreiben  des  polnischen  Senates  vom  24.  Juli.  Der  polnische 
Florus  giebt  des  Königs  Brief  mit  dem  Datum  25.  Jul.  Nach  Thulden  p.  279  ist  des 
Königs  Schreiben  vom  25.  Juli:  pridie  ejus  diei,  quo  hanc  epistolam  suo  nomine  sub- 
scriptam  Rex  CaHmirus  Varsoviae  obsignavü,  similis  argumenta  codicillos  Gnesnensis  Ar- 
ohiepiscopm  ...  scripsit . . .  senatus  Polonm  nomine. 


386  Job.  Gust.  Dhoyseh.  [*2 

ben  des  Königs  unzweifelhaft  in  der  Absicht  voraas ,  die  Bemühungen 
de  Lumbres  vergeblich  zu  machen.  Des  Noyers  erwähnt  die  Abschickung 
dieses  Trompeters  am  27sten  mit  einem  Briefe,  in  dem  der  König  dem 
Churforsten  befehle ,  de  poser  les  armes  et  quitter  le  parli  des  Suedtris,  ä 
faute  de  quoi  il  lux  declare  quil  confisque  son  fief  de  Pruste  et  lui  declare 
la  guerre  dans  tous  ses  autres  pays. 

Nach  den  Mittheilungen  de  Lumbres  beschlossen  die  beiden  Für- 
sten ohne  Rücksendung  des  Trompeters  vorzugehn.  Der  Bericht  bei 
Aitzema ,  der  in  den  Zeitangaben  sehr  speciell  ist ,  giebt  an,  dass  man 
mit  6 — 7  Stunden  angestrengten  Marsches  Abends  7 — 8  Uhr  vor  den 
Retrancbements  der  Polen  angekommen  sei.  Die  Spitze  der  Marschco- 
lonne  wird  sich  also  gegen  2  Uhr  in  Bewegung  gesetzt  haben. 

Natürlich  geschah  diess  nach  der  ordre  de  bataille,  wie  sie  Rel.  I.  II. 
§  12 — 16  u.  s.  w.  sehr  deutlich  erkennen  lassen.  Voran 

der  rechte  Flügel  unter  Befehl  des  Königs  und  seines  Bruders  des 

Prinzen  Adolph  Johann  (»des  Herrn  Generalissimus«  Rel.  I.), 
die  Reiterei  unter  Feldmarschall  Leutnant  Douglas  in  drei  Treffen  und 
zwar 

erstes  Treffen  (12  Esc.  und  1  Esc.  Dragoner)  unter  dem  Pfalzgra- 
fen von  Sulzbach,  Generalleutnant  der  Cavallerie, 
zweites  Treffen  (9  Esc.)  unter  dem  Markgrafen  von  Baden ,  Gen.- 

Major  der  Cavallerie, 
drittes  Treffen  (1 0  Esc.)  unter  General-Major  der  Cavallerie  Hein- 
rich Hörn, 
das  Fussvolk  (3  Brigaden)  unter  Gen.-Major  Bülow, 
die  Artillerie  unter  Gustav  Oxenstjerna. 

Der  Bericht  Beil.  8  giebt  an ,  dass  »der  Churftlrst  und  seine  Gene- 
ralität das  corps  de  bataillc  und  den  linken  Flügel  comroandirt  habe,«  wäh- 
rend an  den  mehr  schwedisch  gefärbten  Berichten  der  Führer  des  »corps 
de  bataille,«  der  7  Brigaden  Fussvolk  nicht  erwähnt  wird.  Ob  in  der 
Marschcolonne  diess  corps  de  bataille  die  Mitte  gehabt ,  oder  der  linke 
Flügel  voran  marschirt  sei ,  wird  nicht  angegeben.  Ich  nenne  hier  in 
der  Aufzählung  zuerst  den  linken  Flügel.  Die  schwedischen  Berichte 
sagen :  der  Churftlrst  habe  ihn  commandirt  »und  unter  dessen  conduicte 
der  Feldmarschall  Herr  Carl  Gustav  Wrangel.«  In  der  brandenburgischen 
Redaction  (Theat.  Eur.  ed.  IL)  sind  diese  bezeichnenden  Worte  gestrichen, 
und  in  dem  vom  Churftirsten  selbst  revidirten  Exemplar  wird  Wrangel 


43]  Dm  Schlacht  von  Warschau.  1656.  387 

neben  Span-,  Josias  Waldeck  und  Goltz  als  Führer  der  7  Brigaden  des 
corps  de  bataille  genannt1.  Eine  ähnliche  Differenz  ergiebt  sich  in  Be- 
treff der  drei  Treffen  des  linken  Flügels;  die  schwedischen  Berichte 
nennen  als  Commandirende  der  Cavallerie  dieses  Flügels  die  drei  Gene- 
ral-Majors Kannenberg,  Graf  Tott ,  Botticher,  beide  letzteren  Schweden, 
während  die  brandenburgische  Bearbeitung  sagt :  »drei  General-Majors, 
worunter  der  von  Kannenberg  sich  befunden  « 

Hiernach   würde   sich   als   wahrscheinliche  Ordnung  des   linken 
Flügels  und  des  corps  de  balaitte  folgendes  ergeben : 

Der  linke  Flügel  unter  Befehl  des  Churfilrsten,  in  demselben 
die  Reiterei  unter  Generalleutnant  der  Cavallerie  Graf  Friedrich 
Waldeck  und  zwar 

das  erste  Treffen  (1 3  Esc.)  unter  Gen. -Major  Kannenberg, 
das  zweite  Treffen  (5  Esc.  und  4  Esc.  Dragoner)  unter  Gen.- 

Major  Graf  Tott, 
das  dritte  Treffen  (9.  Esc.  und  1 .  Esc.  Dragoner)  unter  Gen.- 
Major  Bötticher  (?), 
das  Fussvolk  (2  Brigaden)  unter  .  .  .  . , 
die  Artillerie  unter  Gen.-Feldzeugmeister  Sparr. 
Das  corps  de  bataille  (7  Brigaden)  und  zwar 

das  erste  Treffen  (3  Brigaden)  unter  Gen.-Feldzeugmeister  Sparr  (?), 
das  zweite  Treffen  (2  Brigaden)  unter  Gen.-Maj.  Graf  Josias 

Waldeck, 
das  dritte  Treffen  (2  Brigaden)  unter  Gen.-Major  Goltz. 
Die  uns  vorliegenden  Berichte  sind  nicht  genau  genug ,  um  erken- 
nen zu  lassen ,  ob  man  den  Marsch  durch  Seitenpatrouillen  zu  sichern 
verstand.     Wenigstens  streiften  die  Tartaren  am  28.  Juli  bis  vor  das 
Lager  von  Nowodwor  und  nahmen  da  ein  Convoy. 

Auf  polnischer  Seite  soll  man  Vormittags  1 0  Uhr  gewusst  haben, 


\ )  In  der  unter  No.  K  4  genannten  Brochure  »Kurtzer  Entwurf  der  rechtmässigen 
Waffena  heisst  es  p.  4  2  von  den  Vorgängen  nach  der  Schlacht :  »Aber  der  König  ver- 
warft allen  guten  Rath,  hielt  des  Churfürsten  hohe  Person  und  Helden-massige  Thaten 
für  gar  geringe ,  setzte  allerley  Mißtrauen ,  ja  selbst  vor  Warschau ,  in  Ihm :  Wie  man 
denn  saget,  er  habe  die  Churfurstliche  Armee  mit  seinen  Völckern  zu  umbgeben  ge- 
suchet, und  da  ihm  solches  nicht  angehen  wollen,  den  damahJigen  General  Wrangel 
mit  etwa  400  Mann  zu  Ihm  gesandt,  zwar  unter  dem  Praetext,  als  ob  er  disgustiret 
wäre,  und  dero wegen  Sr.  Churfl.  Durchl.  lieber  dienen  wolle,  in  der  Thal  aber  auff 
seine  Actionen  Achtung  zu  geben. a 


388  Joh.  Gcst.  Droysen,  [44 

dass  der  Feind  im  Anmarsch  sei  (Chrzanowsky).  Die  polnische  Armee 
hatte  bereits  begonnen  über  die  Schiffbrücke  zu  gehen,  um  sich  mit 
der  lithauischen  zum  Marsch  nach  dem  Bug  zu  vereinigen.  Der  König 
setzte  sich  sofort  zu  Pferde  und  begab  sich  zur  Armee. 

Kochowsky  giebt  ihre  Aufstellung  an,  freilich  in  einer  mehr  homeri- 
schen als  militairischen  Weise :  das  Heer  im  ersten  Treffen  führten  Stanis- 
laus  Potocky  als  General,  Landskoronsky  Feldmarschall  (?)  unter  Leitung 
des  überall  gegenwärtigen  Königs;  in  der  Mitte  mit  den  Quartianern 
Gzarnecky,  Johann  Sobiesky,  Johann  Sapieha,  Martin  Zamoysky  aliique 
multiplici  linea  alanm  ductores ;  auf  dem  linken  Flügel  die  Lithauer  ge- 
führt von  Gonsiewsky,  unter  ihm  Hilarius  Polubinsky  und  Michael  Pac ; 
der  eigentliche  Führer  Paul  Sapieha  war  am  Morgen  mit  dem  Pferde  ge- 
stürzt und  hatte  das  Bein  gebrochen.  Genaueres  ergeben  Barckmanns 
Berichte,  Beil.  1 1 .  Nach  der  Schrift  Casimir  Roy  de  Pologne  führte  Czar- 
necky  den  rechten,  Sapieha  den  linken  Flügel ;  auöh  Thulden  nennt  Cae- 
sarneckius  und  Sapieha  als  die  Commandirenden. 

Wenigstens  über  einen  Punkt  scheint  die  Aufzahlung  dieser  Na- 
men zu  entscheiden.  Gonsiewsky  ist  mit  seinen  Lithauern  bei  Praga, 
aber  Lubomirsky  der  Kronmarschall  wird  nicht  genannt  —  und  er  war 
nach  DesNoyers  Brief  vom  20.  Juli  mit  20,000  Mann  abwesend;  die 
höchst  schwierige  Verpflegung  machte  es  unmöglich,  so  viele  Pferde  und 
Menschen  dauernd  bei  einander  zu  halten.  Ob  Lubomirsky  nahe  genug 
stand,  um  noch  zum  zweiten  und  dritten  Schlachttage  heranzukommen, 
muss  dahin  gestellt  bleiben;  dass  er  nicht  kam,  würde  sich  aus  DesNoyers 
Ausdruck  in  seinem  Brief  vom  1 8.  Aug.  Vwrmee  de  Lithuanie  est  encore 
en  son  entier  ergeben ,  wenn  nicht  dabei  stünde  aussi  bien  que  le  petit 
carps  que  commandoit  le  grand  Iresorier  de  Lithuanie  (Gonsiewcky). 

Dass  die  Tartaren  nichts  weniger  als  gesammelt  waren,  zeigen  Des 
Noyers  Briefe ;  ein  Theil  derselben  schweifte  am  28sten  bis  Nowodwor, 
andere  waren  bei  Czersko ,  ein  Paar  Meilen  oberhalb  Warschaus.  Um 
die  zerstreuten  Schwärme  zu  sammeln,  steckte  ihr  Aga  ein  Dorf  an,  c'est 
le  signal  qu'ils  donnent  ä  leurs  gern  parce  que  la  futnee  s'en  voit  de  hin; 
diess  scheint  bereits  am  Freitag  den  28.  Juli  geschehen  zu  sein. 

In  der  Darstellung  der  Gefechte,  auf  die  ich  nun  übergehe,  sind  die 
polnischen  Quellen  nicht  von  der  Art ,  dass  man  ein  deutliches  Bild  der 
Bewegungen  ihrer  Armee  gewinnen  kann ;  ich  werde  sie  daher  nur  ge- 
legentlich und  in  Einzelnheiten  auf  sie  beziehen  können. 


45]  Dm  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  389 


Das  erste  Zusammentreffen. 

Nur  aus  des  Churftlrsten  eigenhändigem  Bericht  erfahren  wir,  dass 
»Vortruppen«  vorausgesandt  waren,  den  Feind  zu  recognosciren.  »Gegen 
Abend,«  sagt  er,  »kamen  wir  an  ein  Dorf,  wo  unsre  gecommandirten 
Vortruppen  Bericht  brachten ,  dass  der  Feind  hinter  dem  Holz  stünde ; 
darauf  filirte  der  König  durch  das  Holz.«  »Nach  erlangter  Kundschaft,« 
sagen  auch  Rel.  I.  IL,  »habe  der  König  bei  einem  Dorfe  3A  Meilen  von 
Warschau  seinen  Flügel  in  balaiüe  gestellt.«  Also  bei  dem  Dorfe  Syran, 
wo  zwischen  Wald  und  Weichsel  ein  freies  Feld  ist ,  das  sich  mehr  und 
mehr  verengt,  bis  zu  jenem  Defilä  am  Strom. 

Des  Churftlrsten  Darstellung  giebt  die  Gefechtsmomente  des  Abends 
einfach  so  an :  »darauf  filirte  der  König  mit  seinem  rechten  Flügel  durch 
das  Holz,  da  dann  die  Vortruppen  mit  des  Feindes  Vortruppen  scharmu- 
zierten ;  worauf  etliche  Escadronen  auf  den  Feind  losgingen  und  ihn  bis 
in  sein  Retranchement  zurück  poussirten ;  der  Feind  gab  wacker  Feuer 
mit  Stücken  auf  uns;  hierüber  fiel  die  Nacht  ein  und  zogen  wir  uns 
etwas  zurück.« 

Mit  besonderer  Sorgfalt  sucht  Dahlberg  in  den  Erklärungen  seiner 
Zeichnungen  die  einzelnen  Momente  des  Gefechts  zu  bezeichnen.  Er 
lässt  zuerst  Graf  Tott  mit  schwedischen  und  brandenburgischen  Reitern 
die  polnischen  Vortruppen  (cohortes  aliquot)  zwischen  Sumpf  und  Weich- 
sel bis  an  die  Verschanzungen  verfolgen ,  wo  er  mit  Geschossen  und 
Granaten  belästigt  wird.  Darauf  rückt  das  erste  Treffen  unter  dem 
Pfalzgraf  von  Sulzbach  vor,  wird  aber  durch  das  Feuer  aus  den  Ver- 
schanzungen des  Feindes  am  weiteren  Vordringen  gehindert ;  bis  in  die 
tiefe  Nacht  (in  seram  usque  noctem)  wird  das  Feuer  auf  ihn  fortgesetzt. 
Dann  brechen  polnische  Geschwader  (turmae)  von  den  Dünen  (ab  locis 
editioribus)  in  das  Defil£  zwischen  dem  Wald  und  Schanzhttgel  vor,  um 
den  vorausgegangenen  Schwadronen  (Totts)  den  Rückzug  (zu  Sulzbach) 
abzuschneiden.  Der  König  wirft  ihnen  die  Escadronen  (legiones,  die 
Zeichnung  ergiebt,  dass  es  Reiter  sind)  Waldeck,  Canitz  (Dragoner), 
Taube  entgegen  und  deckt  so  seine  Vortruppen.  Nun  rücken  die  Bri- 
gaden (peditat.  Suec.  et  Brand.)  allmählig  durch  das  Defilä  und  stellen 
sich  hinter  dem  ersten  Treffen  des  rechten  Flügels  auf,  vor  beiden  die 
schwedische  Artillerie,  die  den  zum  Angriff  vorgehenden  Feind  in 
Schranken  halt ,  quibus  hoslium  adventantium  impelus  retundebanlur.    Die 


390  Jon.  Güst.  Droysen,  [46 

nächste  Angabe  bei  Dahlberg  bezeichnet  die  Stellung,  in  der  sich  das 
Heer  während  der  Nacht  befindet;  es  ist  hinter  dem  Defite  an  der 
Weichsel,  hinter  dem  Walde  zurückgezogen. 

Sehr  bedeutend  sind  die  Abweichungen  in  den  Relat.  I.  II.  und  den 
ihnen  folgenden  Darstellungen.  Danach  lässt  der  König,  wahrend  er  in 
aller  Eile  von  Syran  anrückt.  Wrangel  mit  600  commandirten  Reitern 
und  einigen  Dragonern  vorausgehn ,  sich  der  Passage  durch  den  Wald 
zu  versichern  und  das  Feld  zu  recognosciren  (§  16).  Des  Churfürsten 
Correctur  sagt,  es  sei  diess  geschehen  »durch  einige  Vortruppen  unter 
Commando  des  O.-L.  Canitz,«  der  zu  des  Churfürsten  Flügel  gehorte. 
Dann,  fährt  Rel.  I.  IL  fort,  sei  der  König  in  aller  Eil  gefolgt  und  habe 
aus  dem  Walde  herauskommend  gesehen,  dass  er  zur  Rechten  die 
Weichsel  gehabt,  zur  Linken  wieder  den  Wald,  der  sich  bis  an  des  Fein- 
des Verschanzungen  hinziehe;  er  habe  zwischen  Wald  und  Weichsel 
nicht  Platz  gehabt,  mit  seinem  Flügel  in  einer  Fronte  vorzugehen  und 
deshalb  die  Regimenter  nach  einander  heranrücken  lassen.  Der  Feind 
habe  sich  vor  seinen  Retranchements  und  zwischen  Wald  und  Weichsel 
gezeigt,  gegen  diesen  habe  der  König  Wrangel  (einige  brandenb.  Es- 
cadronen,  sagt  die  Bearbeitung  für  das  Theat.  Eur.;  »jene  Vortruppen« 
des  Churfürsten  Correctur)  vorgehen  lassen ,  ihn  bis  in  seine  Retranche- 
ments zurückgetrieben  (§  19).  Die  Richtigkeit  dieser  Relationen  wird 
von  Jena  anerkannt;  die  Dinge  seien  so  verlaufen  bis  zu  dem  Moment, 
»wo  die  Kanonen  durch  den  Bruch  kamen.«  Nach  seiner  Auffassung  hat 
also  das  Eintreffen  der  Artillerie  eine  Bedeutung ,  wie  sie  in  diesen  Re- 
lationen nicht  zu  erkennen  ist.  Wahrscheinlich  folgte  dann  erst,  als  das 
Feuer  der  Artillerie  dem  Vorbrechen  der  Polen  aus  den  Retranchements 
Halt  gebot,  der  Angriff  aus  dem  Defil£  zur  Linken  der  Verbündeten. 

Dahlberg  stellt  diesen  Angriff  als  einen  plötzlichen  und  unerwarte- 
ten dar.  Die  Relation  I.  IL  u.  s.  w.  sagen:  da  sich  die  so  Voraus- 
gesandten zu  weit  von  den  Regimentern  entfernt,  habe  man  vermuthen 
müssen ,  dass  »ein  Theil  von  des  Feindes  Gross«  beim  Ende  vom  Walde 
hinter  demselben  stehn  und  vorbrechen  werde,  jene  abzuschneiden; 
daher  der  König  4  Escadronen,  die  nächst  dem  Walde  gestanden,  unter 
Douglas  »in  vollem  Gallopa  vorgehen  lassen,  die  auch  glücklich  den 
Feind  geworfen  und  bis  an  »seine  Retranchements  und  Musquetiere«  ge- 
trieben habe.  Die  Correctur  des  Churfürsten  sagt,  dass  der  König  selbst 
diesen  Chock  geführt  habe,  aber  sie  streicht  die  Worte,  die  den  Angriff, 


47]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  391 

dem  er  begegnet,  als  ein  neues  Moment,  als  eine  Bewegung  des  Feindes 
aus  dem  Defilä  am  Walde  erscheinen  lassen ;  »da  sich  die  Vorausgesandten 
etwas  zu  weit  von  den  Regimentern  entfernt,  haben  S.  K.  M.  selber  mit 
einigen  Escadronen  secundirt«  und  den  Feind  glücklich  zurückgetrieben. 

Die  Relat.  I.  II.  lassen  diesem  Angriff  den  Schluss  des  Gefechtes 
folgen.  Da  man  wegen  einbrechender  Nacht  und  grossen  Staubes  nichts 
weiter  habe  vornehmen  können ,  sei ,  damit  die  Infanterie  herankommen 
könne,  der  rechte  und  linke  Flügel  vor  des  Feindes  Retranchement 
stehen  geblieben ,  den  Wald  im  Rücken ;  »und  ist  in  währender  Action 
mit  Feuern  (der  Churftlrst  fiJgt  hinzu  »vom  Feinde«)  nicht  gefeieil  wor- 
den« (§  22) ,  und  indem  damit  eine  ziemliche  Zeit  verflossen ,  ist  indess 
die  sinkende  Nacht  eingefallen.  Man  hat  nicht  rathsam  gefunden  unter 
des  Feindes  Stücken  stehn  zu  bleiben,  hat  sich  zurück  gezogen,  um  zwi- 
schen Wald  und  Weichsel  die  Nacht  zuzubringen,  der  rechte  Flügel  längs 
der  Weichsel ,  der  des  Cburfürsten  längs  dem  Walde ,  die  Infanterie  in 
der  Mitte,  nur  1 2  Escadronen  und  2  Brigaden  in  der  Front.  Von  einer 
Deckung  auf  dem  linken  Flügel,  von  Besetzung  des  Waldes  und  seiner 
Ausgänge  ist  keine  Rede. 

Endlich  bringt  noch  der  Bericht  bei  Aitzema  und  der  damit  meist 
zusammenstimmende  in  Rel.  III.  einige  Abweichungen;  sie  sind  von 
brandenburgischer  Seite.  Danach  ist  man  »mit  ankommender  Nacht« 
also  nach  acht  Uhr  »vor  des  Feindes  Retranchement  angekommen.«  Der 
König,  der  Churftlrst,  Graf  Fr.  Waldeck,  Wrangel,  Pfalz  Sulzbach, 
Douglas  und  andere  »Generalspersonen«  gehn  mit  der  Reiterei  voran, 
»und  nachdem  sie  etliche  von  des  Feindes  Truppen  getroffen,  werden 
sie  sofort  chargirt ,  geschlagen  und  bis  vor  das  Retranchement  verfolgt.« 
Darauf  befiehlt  der  König ,  dass  Sparr  mit  dem  Fussvolk  avancire ;  9 
brandenburgische,  3  schwedische  Brigaden  stark  rücken  sie  heran ;  drauf 
avancirt  alles  und  stellt  sich  »einen  Musketschuss  vom  polnischen  Lager« 
in  Schlachtordnung ,  das  Fussvolk  in  der  Mitte ,  die  Reiterei  auf  beiden 
Flügeln.  Wie  das  der  Feind  sieht,  beginnt  er  »gewaltig  mit  Kanonen 
unter  unsre  Infanterie  und  Gavallerie  zu  spielen,«  das  währt  zwei  Stun- 
den, »dass  viele  von  uns  blieben,«  (tagt  der  Bericht  bei  Aitzema  hinzu; 
er  nennt  den  »schottischen«  Obersten  Sengler  (Sinckler  Dahlb.)  und  einen 
brandenburgischen  Major,  »und  wir  hatten  keine  Zeit  noch  Macht  unsre 
Kanonen  dagegen  aufzupflanzen ;  nichts  desto  weniger  sind  wir  keinen 
Fuss  breit  gewichen ,  sondern  haben  gegen  die  immerwährenden  Aus- 


392  Joh.  Güst.  Droyskn,  [*8 

fälle  durch  die  Avantgarde  mit  unglaublicher  Courage  gefochten,  so  dass 
die  Polen  in  ihren  Vortheil  retiriren  mussten ;«  erst  als  es  ganz  finster  ge- 
worden ,  haben  die  Polen  aufgehört  zu  schiessen.  »Da  haben  wir  uns 
ein  wenig  auseinander  gezogen  und  die  Soldaten  ein  wenig  ruhen 
lassen.«  Die  Relat.  IV.  sagt:  »das  Gefecht  währte  bis  ungefähr  um 
Mitternacht.« 

Die  Nacht  vom  28.  nun  28.  Juli. 

Die  Gefechte  des  Abends  zeigten ,  dass  der  Feind  in  dem  vollen 
Gefühl  seiner  Uebermacht  und  seiner  günstigen  Stellung  mit  sehr  anderer 
Haltung  als  man  bisher  von  ihm  gewohnt  war,  die  Entscheidung  er- 
warte, ja  suche. 

Auf  dem  kleinen  Schlachtfeld ,  in  dem  man  sich  den  Abend  bewegt 
hatte,  war  aller  Vortheil  auf  Seiten  der  Polen.  Sie  übersahen  von  ihrer 
sicheren  Stellung  aus  die  Aufstellung  der  Gegner,  während  die  Verbün- 
deten vor  ihrer  Front  und  ihrem  linken  Flügel  nur  die  Hohen  sahen ,  die 
von  der  Weichsel  bis  an  den  Sumpf  hinauf  mit  Verschanzungen  gedeckt 
waren,  dann  auf  der  andern  Seite  des  Sumpfes  auf  einer  etwas  vor- 
springenden Höhe  ein  geschlossenes  Schanzwerk,  das  den  Pass  zwischen 
da  und  dem  Wald  beherrschte ;  endlich  ausserhalb  dieses  Passes  und 
quer  vor  demselben  »eine  kleine  Colli ne,«  auch  sie  mit  Geschützen  be- 
setzt, »welche  die  Avenue  commandirten«  (Aitzema). 

Der  Staub  und  die  einbrechende  Dunkelheit  hatte  natürlich  unmög- 
lich gemacht  eine  sichere  Ueberschau  auch  nur  bis  zu  den  feindlichen 
Retran ehernen ts  zu  gewinnen,  und  die  Abweisung  des  Feindes  auf  dem 
linken  Flügel  hatte  schwerlich  ein  Verfolgen  über  den  Pass  hinaus  zur 
Folge  gehabt.  Nur  vom  rechten  Flügel  aus  wird  man  die  Weichsel 
hinauf  bis  zur  Schiffbrücke  haben  sehen  und  da  das  unaufhörliche 
Hinübermarschiren  von  Reitern  und  Fussvolk  beobachten  können. 

Von  Gefangenen  mochte  man  Einiges  erkunden;  so  dass  die 
Königin  an  der  Brücke  die  Völker  an  sich  vorüberziehen  lasse  und  sie 
mit  feurigen  Ansprachen  ermunternd  unter  andern  gesagt  habe:  »sie 
sollten  die  Feinde  mit  der  Peitsche  auseinander  jagen«  (Aitzema) ,  oder 
auch ,  dass  die  Antwort  der  Polen  auf  ihre  Anrede  gewesen :  »sie  seien 
so  stark ,  dass  sie  den  Feind  mit  der  Peitsche  wegjagen  würden«  (Rel. 
I.  II.  54). 

In  der  Nacht  wurde  nach  Carlson  p.  148  Kriegsrath  gehalten;  es 


*9]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1 656.  393 

riethen  »Viele  unter  den  Grossen  und  wie  es  scheint  auch  der  Churßlrst« 
die  Schlacht  nicht  zu  wagen;  der  König  aber  habe  lächelnd  geantwortet: 
»nachdem  ihr  zweifelt,  dass  wir  beim  Zusammentreffen  mit  diesem 
starken  Feinde  mit  dem  Leben  davon  kommen  werden ,  so  will  ich  euch 
lehren  nächst  Gott,  das  Feld  und  den  Sieg  von  ihm  zu  erobern.«1 

Äitzemas  Bericht  giebt  an,  wie  man  sich  zum  neuen  Kampf  vorbe- 
reitet, die  Armee  rangirt,  die  Kanonen  »geplant«  habe.  Er  und  Rel.  III. 
bemerken ,  dass  die  Armee  »in  vier  Theilen  hinter  einander«  wieder  in 
Bataille  gestellt  sei,  der  rechte  Flügel  unter  dem  Churfilrsten  an  der 
Weichsel,  der  linke  unter  dem  Könige  an  dem  Wald  und  Morast,  die  In- 
fanterie und  Artillerie  in  Front  zwischen  beiden.  Diese  Angabe  muss  in 
Betreff  der  Führung  der  beiden  Flügel  irrig  sein,  wie  der  Gang  der  folgen- 
den Bewegungen  deutlich  zeigt.  Wenn  eben  da  angegeben  wird,  dass  alle 
brandenburgische  Reiterei  auf  des  ChurfUrsten  Flügel  gestellt  worden, 
mit  Ausnahme  einiger  weniger,  die  der  König  bei  der  Artillerie  und 
Reserve  behalten  habe,  so  ist  diess  in  sofern  richtig,  als  zwei  Escadronen 
Waldeck  in  der  Dahlbergischen  ordre  de  bataille  des  29.  Juli  im  ersten 
Treffen  des  schwedischen  Flügels  erscheinen. 

Die  Gefechte  am  29.  Juli  Vormittag. 

Früh  Morgens  »bei  anbrechendem  Tage«  (Rel.  I.  II.  u.  s.  w.) ,  also 
wohl  vor  dem  dichten  Nebel,  den  Des  Noyers  erwähnt,  reitet  der  König, 
der  Churftlrst  und  die  Generalität  zum  Recognosciren  aus ;  man  findet, 
dass  es  unthunlich  ist  den  Feind  »zwischen  seinen  rechten  Werken  und 
retranchement  anzugreifen,«  ein  unklarer  Ausdruck,  der  entweder  be- 
zeichnet ,  dass  man  ihn  nicht  innerhalb  seiner  Werke  oder  nicht  in  jener 
Lücke  zwischen  den  Retranchements  und  dem  Schanzhügel,  die  mit 
Sumpf  gefüllt  war,  angreifen  könne.  Man  kommt  zu  dem  Beschluss  sich 
jener  kleinen  Colline  zu  bemächtigen  »und  von  dannen  das  Feld  besser 


4 )  Die  Angabe  Carlsons  erregt  einiges  Bedenken.  Loccenius  und  Scheffer  erzählen 
von  einer  ausführlichen  Berathung,  ob  man  schlagen  solle,  aber  in  Folge  derMiltheilungen 
des  französischen  Gesandten ;  sie  geben  mehrere  charakteristische  Aeusserungen  des 
Königs  an,  mit  denen  er  die  Bedenklichen  zurückweist  und  sich  für  diejenigen  entschei- 
det ,  die  schlagen  wollen ;  hanc  sententiam  Hex  cum  Electore  amplexus  sagt  Loccenius 
p.  734.  Von  dieser  Berathung ,  die  den  Zeitgenossen  so  bedeutsam  erschien,  sagt 
Carlson  nichts;  und  die  in  der  Nacht,  die  er  hervorhebt,  erwähnt  von  den  mir  be- 
kannten Quellen  keine. 

Abh&ndl.  d.  K.  8.  Ges.  d.  Win.  X.  27 


394  Jon.  GrßT.  Dboysen,  [50 

zu  wählen  und  zu  suchen«  (§  25).  War  diess  der  Beschluß«  am  frühen 
Morgen,  so  hatte  das  Gefecht  auf  dem  rechten  Flügel,  bis  der  Hügel  ge- 
nommen und  damit  der  Stützpunkt  für  eine  neue  Aufstellung  gewonnen 
war,  nur  die  Bedeutung,  den  Feind  in  der  Nähe  der  Weichsel  festzu- 
halten und  hinzuhalten. 

Die  brandenburgischen  Berichte,  Ael.  III.,  Aitzema,  auch  die  eigen- 
händige Aufzeichnung  des  Churfilrsten  bestätigen  diess  keineswegs.  Sie 
geben  an ,  erst  nachdem  dieser  Hügel  genommen  war,  und  der  König 
sich  tiberzeugt  hatte,  »dat  het  onmogelijck  was  den  Vyandt  ....  voor 
sijne  .  etrenchementen  te  slaen ,  so  wierde  in  der  baest  van  de  eerste 
ordre  verändert«  u.  s.  w. 

Es  währte  bis  Nachmittag ,  bevor  diese  entscheidende  Position  ge- 
nommen und  gesichert  war,  wie  nicht  bloss  Rel.  IV.,  sondern  auch  der 
schwedische  Bericht  im  Theat.  Eur.  ed.  1  angiebt.  Beide  stimmen  darin 
überein,  dass  es  Vormittags  »auf  unsrer  Seiten  sehr  zweifelbaftig  gestan- 
den ;«  es  meinten  die  Polen  gewiss  »sie  würden  unsrer  Meister  werden, 
weil  sie  von  drei  erhabenen  Orten«  (doch  wohl  den  Retranchements,  dem 
Schanzhügel,  der  kleinen  Colline)  »auf  uns  canoniren  konnten,  während 
wir  in  der  Niederung  ihnen,  die  hinter  den  Retranchements  standen, 
wenig  Schaden  thun  konnten ;  Nachmittag  hingegen  gewannen  wir  ihnen 
eine  advatitage  ab,  nemlich  einen  Pass,  durch  welchen  wir  mit  der  ganzen 
Armee  filirten.« 

Die  Bedeutung  dieser  Position  und  ihrer  Besetzung  ist  in  der  Dahl- 
bergischen  Darstellung  und  in  den  Relat.  I.  II.  u.  s.  w.  in  sehr  auffallen- 
der Weise  in  den  Hintergrund  gedringt.  Aliendings  entschied  sie  an  sich 
noch  keineswegs  den  Ausgang  der  Schlacht;  aber  sie  und  nur  sie  gab 
die  Möglichkeit,  die  Disposition  auf  entscheidende  Weise  zu  ändern. 

Die  Gefechtsmomente  vom  frühen  Morgen  bis  zu  dieser  Entschei- 
dung sind  in  den  vorliegenden  Berichten  nichts  weniger  als  überein- 
stimmend angegeben  und  mehr  als  einmal  wird  es  unmöglich  sein  zu 
bestimmten  Ergebnissen  zu  kommen.  Da  man  voraussetzen  darf,  dass 
jeder  der  Berichterstatter  das ,  was  gerade  er  gesehen  hatte ,  anführte, 
so  darf  man  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Einzelnheiten  mit  einander 
combiniren  und  gegenseitig  ergänzen;  es  ist  als  wenn  man  aus  ver- 
schiedenen perspcctivischen  Zeichnungen  desselben  Gegenstandes  seinen 
Grundriss  zu  reconstruiren  versucht. 

Nachdem  Seitens  der  Verbündeten  der  Signalschuss  gelöst,   von 


51]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  395 

polnischer  Seite  erwiedert  ist  (Aitzema) ,  und  nachdem  sich  die  Alliirten 
in  Schlachtordnung  aufgestellt  (Rel.  III. ,  Aitzema) ,  beginnen  die  Polen 
»gewaltig  mit  Stücken  auf  sie  zu  spielen«  und  wird  ihnen  »hinwieder 
tapfer  geantwortet.«  In  dieser  Zeit  wird  dem  Grafen  Fr.  Waldeck  ein 
Pferd  unterm  Leibe  erschossen,  dem  jungen  Pfalzgrafen  von  Sim- 
mern zwei. 

Dass  die  von  Aitzema  und  Rel.  III.  angegebene  Schlachtordnung 
nicht  richtig  sein  kann,  haben  wir  früher  angegeben.  Dahlberg  giebt 
eine  sehr  andere  Vorstellung  von  dem  Aufmarsch.  Nach  seiner  Zeich- 
nung tritt  da,  wo  der  Weg,  der  den  Wald  der  Länge  nach  durch- 
schneidet, aus  demselben  herauskommt  und  sich  mit  dem  von  Bialalenka 
nach  Praga  vereint ,  der  Sumpf  aus  den  Dünen  näher  gegen  den  Wald 
heran  und  theilt  das  Defilö  längs  dem  Walde  gleichsam  in  zwei  Hälften. 
Der  Churfitrst  rückt  durch  die  westliche  Waldecke  in  diesen  Pass  ein 
und  stellt  sich  mit  dem  Rücken  gegen  den  Waldsaum,  mit  der  Front 
gegen  den  Sumpf  und  den  Schanzhügel  in  Schlachtordnung  auf;  an  sie 
schliesst  sich  rechts  das  schwedische  Fussvolk  und  vor  diesem  drei  Es- 
cadronen  des  ersten  Treffens,  während  andere  weiter  hinab  stehende 
Escadronen  das  Gefecht  gegen  die  in  den  Retranchements  stehenden 
Polen  unterhalten .  Diess  sind  die  ersten  Momente ,  die  Dahlberg  zeich- 
net; dann  lässt  er  den  ersten  Angriff  der  Tartaren  durch  den  Wald 
(gegenüber  von  Bialalenka)  folgen ;  die  Besetzung  der  Colline  wird  von 
Dahlberg  gar  nicht  besonders  bezeichnet. 

Des  Churfürsten  eigenhändiger  Bericht  sagt :  nach  dem  Beschluss 
den  kleinen  Hügel  zu  nehmen  sei  der  Churfürst  mit  dem  linken  Flügel 
und  bei  sich  habenden  Dragonern  avancirt,  der  Feind  habe  den  Berg 
ohne  einige  Gegenwehr  verlassen.  Dann  werden  einige  Stücke  drauf 
gepflanzt  und  spielen  in  des  Feindes  Lager;  »darauf  zogen  wir  aus  auf 
die  linke  Hand  mit  dem  linken  Flügel  neben  dem  Holz ,  also  dass  das 
erste  Treffen  für  dem  Holz  (d.  h.  Front  gegen  Bialalenka) ,  die  anderen 
zwei  aber  in  dem  Holz  zu  stehen  kamen,  hinter  dem  Berge  aber  stunden 
Brigaden  (es  soll  wohl  heissen  zwei  Brigaden)  zu  Fuss ;  auf  dem  linken 
Flügel  von  unsrer  Gavallerie  stunden  zwei  Brigaden  nebst  den  Dra- 
gonern. Inmittelst  gingen  2000  Tartaren  von  Weitem  um  den  Busch 
herum«  u.  s.  w.  Stand  der  Churfürst  Front  gegen  Bialalenka,  so  waren 
die  zwei  Brigaden ,  die  rechts  vom  Hügel  Front  gegen  den  feindlichen 
Schanzhügel  standen,   allerdings  hinter  ihm.     Sein  rechter  und  linker 

27* 


39G  Joh.  Gust.  Dhoysen,  [52 

Flügel   bildeten   einen    rechten   Winkel,    dessen    Spitze   der  besetzte 
Hügel  war. 

Jene  erste  Aufstellung  des  Churfürsten  stellt  Memmerls  zweites 
Blatt  dar  (»Aufstellung  am  Vormittag,«  wie  er  sie  nennt),  leider  nicht 
ohne  eine  kleine  Ungenauigkeit  in  den  Buchstaben,  mit  denen  er  die  ein- 
zelnen Brigaden  bezeichnet.  Von  der  Weichsel  an,  dem  Walde  zu  stehen 
erst  die  drei  schwedischen  Brigaden ,  dann  folgen  bis  zur  Westecke  des 
Waldes  zwei  Brigaden  Sparr  (1 .  2) ,  dann  etwas  vorgerückt  zwischen 
Wald  und  Sumpf  von  rechts  nach  links  die  Brigaden  Waldeck  1 ,  Goltz  i 
Dragoner,  eine  dritte  Brigade  Sparr,  Leibgarde;  diese  ist  die  nächste 
am  Hügel ;  dann  im  rechten  Winkel ,  so  dass  der  Hügel  dessen  Spitze 
bildet,  am  Ostsaum  des  Waldes  die  Brigade  Waldeck  2,  Syburg,  dann 
7  Escadronen,  endlich  auf  dem  äussersten  linken  Flügel  die  Brigade 
Goltz  2 ;  hinter  diesen  Brigaden  die  übrigen  Escadronen  im  zweiten  und 
dritten  Treffen.  Der  Fehler  Memmerts  ist,  dass  er  drei  Brigaden  Sparr 
und  nur  eine  Syburg  angiebt,  während  die  Regimenter  Sparr  wie  Sy- 
burg je  zwei  bildeten.  Auch  so  stimmt  er  nicht  mit  dem  Bericht  des 
Churfürsten :  er  giebt  auf  dem  äussersten  linken  Flügel  nur  eine  Brigade, 
der  Churfürst  zwei  nebst  den  Dragonern. 

Jena  schreibt  in  dem  früher  erwähnten  Brief:  »als  Ew.  Cf.  D.  am 
Sonntag«  (soll  heissen  Sonnabend)  »die  Polen  von  dem  Hügel  jagten ,  da 
habe  ich,  weil  ich  dabei  war,  gesehen,  dass  Ew.  Gf.  D.  auch  Stücke  be- 
kamen ,  davon  steht  in  der  Relation  (No.  I.)  nichts ;«  diess  bestätigt  die 
brandenb.  Bearbeitung  dieser  Relation  §  25  (Theat.  Eur.  ed.  2).  Also 
besetzt  und  mit  Kanonen  besetzt  war  der  Hügel.  Des  Churfürsten  An- 
gabe wird  darin  unrichtig  sein,  dass  er  bereits  vor  dem  Angriff  der  Tar- 
taren seine  Stücke  auf  den  Hügel  gebracht  habe ;  die  schwedischen  Be- 
richte (Rel.  I.  II.)  so  gut  wie  andre  brandenburgische  (Aitzema  und  Rel. 
III.)  sagen  sehr  bestimmt,  dass  sich  diess  Heranbringen  der  Artillerie  sehr 
über  den  Angriff  der  Tartaren  hinaus  verzögerte,  dass  eben  dadurch  die 
Behauptung  der  so  wichtigen  Position  so  äusserst  schwierig  wurde. 

Der  Churfürst,  sagt  Rel.  I.  II.  §  26,  habe  des  Hügels  sich  glücklich 
bemächtigt,  wiewohl  es  grosse  Mühe  gekostet  die  Artillerie  sogleich  fort 
zu  bringen  wegen  der  kurzen  Sträuche  und  morastigen  Wege,  wodurch 
man  hat  marschiren  müssen.  Von  dem  Hügel  aus  habe  man  des  Feindes 
Haltung  und  das  Terrain  übersehen  können,  der  Churfürst  habe  »sich 
mit  dero  Flügel  längs  dem  Walde  bedeckt  von  (sie)  dero  zwei  Brigaden 


i 


53]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1 656.  397 

zu  Fuss  und  Dragonern,  nebst  den  Stücken ,  und  sich  in  solche  Positur 
gesetzt,  dass  denselben  nichts  in  den  Rücken  gehen  können.«  Aus- 
drücke, die  nichts  weniger  als  deutlich  sind,  auch  nicht  deutlicher  durch 
die  brandenburgische  Bearbeitung  werden,  welche  schreibt  » .  .  .  .  längs 
dem  Walde  bedecket  und  sich  in  solche  Positur  gesetzet  .  .  .  .«  Aber 
es  sind  deutlich  die  zwei  Brigaden  nebst  den  Dragonern  wieder  zu  er- 
kennen ,  welche  des  Churftirsten  eigenhändiger  Bericht  auf  dem  linken 
Flügel  nannte.  Es  wird  hinzugefügt :  man  sei  von  dieser  Höhe  aus  gänz- 
lich um  den  Wald  gekommen,  habe  gesehen,  »dass  lauter  flach  Land  bis 
an  den  Stand  des  Feindes  sei  und  merken  können ,  dass  der  Feind  seine 
Force  auf  die  rechte  Hand  gezogen  habe ,  sowohl  dem  Churftirsten  in 
die  Flanque ,  als  auch  hinten  durch  den  Wald  mit  etlichen  tausend  Pfer- 
den besonders  Tartaren  dem  königl.  Flügel  in  den  Rücken  zu  gehen.« 
Also  der  Feind  stand  nicht  mehr  bloss  innerhalb  seiner  Verschanzungen, 
er  hatte  seine  Schlachtlinie  über  das  Flachland  bis  Brodno  und  Biala- 
lenka  hin  ausgedehnt. 

Noch  enger  zusammengedrängt  erscheinen  die  beiden  Momente  des 
Tartarenangriffs  und  der  Einnahme  des  Hügels  in  dem  Bericht  bei 
Aitzema  und  Relat.  III.  Aitzema,  der  diesen  Hügel  als  mit  einer  Schanze 
versehen  bezeichnet,  sagt:  der  C hurfürst,  't  selve  over  sich  genomen 
hebbende,  sei  mit  einigen  Stücken  nebst  G.-M.  Goltz  und  drei  Escadronen 
zu  Fuss  gegen  die  Schanze  anmarschirt,  als  Nachricht  kam,  dass  die 
Tartaren  sich  um  den  Wald  zögen.  Und  Rel.  III.  »Goltz  war  kaum  von 
uns  abmarschirt,  so  kam  Bericht  dass  etliche  tausend  Tartaren«  u.  s.  w. 

Dass  noch  nicht  um  die  Zeit .  da  dieser  Tartarenangriff  statt  fand, 
die  Aufstellung,  die  Memmert  zeichnet,  genommen  war,  ergiebt  der 
weitere  Verlauf  der  Berichte. 

Die  Tartaren  drangen  auf  dem  Wege  von  Bialalenka  durch  den 
Wald  und  auf  das  offene  Feld  zwischen  Wald  und  Weichsel,  und  trabten 
gegen  den  Rücken  des  schwedischen  Flügels  an;  sie  wurden  von  dem 
Könige  »mit  Umschwingung  von  6  Escadronen  des  dritten  Treffens«  (un- 
ter Gen.-M.  Hörn)  zurückgejagt;  »Hals  über  Kopf«  sagt  Aitzema/  muss- 
ten  sie  zurück;  es  können  also  nur  einzelne  gewesen  sein,  die,  wie 
Memmerts  Zeichnung  angiebt ,  durch  die  Schlachtlinie  der  Alliirten  hin- 
durch an  dem  Sumpf  unter  den  polnischen  Retranchements  angelangt  sind. 

Die  so  zurückgeworfenen  Tartaren,  sagt  Rel.  I.,  »haben  sich  darnach 
vor  der  churflirstlichen  Armee  auf  dem  Felde  präsentirt.«    Was  aus 


398  Joh.  Güst.  Droysbn,  [54 

diesen  geworden,  sagtAitzema  und  Rel.  III.:  »Gen.-Leut.  F.  Waldeck  hat 
sie  hart  mitgenommen ,  hat  sie  niedergehauen  und  den  Rest  derselben 
in  einen  Morast  gejagt.«  Diesen  Vorgang  zeigt  Dahlbergs  Zeichnung  in 
einem  heftigen  Gemetzel ,  das  ein  wenig  nordwärts  von  Bialalenka  vor 
sich  geht.  Wenn  er  hinzufügte  »incensa  sylva  per  paludes  dilabuntur,«  so 
kann  damit  nicht  der  oft  erwähnte  Wald  gemeint  sein ,  es  muss  an  dem 
Sumpf  bei  Bialalenka  ein  Stück  Wald  gewesen  sein,  wie  denn  auch  Dahl- 
bergs und  Memmerts  Zeichnungen  dort  zeigen. 

Also  G.-L.  Waldeck  stand  bereits,  als  die  Tartaren  zurückkamen, 
am  Ostsaum  des  Waldes,  und  Waldeck  commandirte  die  churfilrstl. 
heiterei.  Dass  neben  diesen  die  Brigaden  Fussvolk  um  diese  Zeit  noch 
nicht  eingerückt  waren,  wird  sich  in  folgender  Weise  ergeben. 

Rel.  I.  sagt  gleich  nachdem  sie  den  Angriff  der  Tartaren  angeführt 
(§  28) :  »inzwischen  habe  der  König  zwischen  Wald  und  Weichsel  mit 
der  Artillerie,  Infanterie  und  Gavallerie  vor  dem  Retranchement  sub- 
sistirt  und  damit  nicht  der  ganze  Schwärm  den  Ghurfbrstlichen  auf 
den  Hals  kommen  möchte ,  seien  noch  zwei  Brigaden  den  ChurfUrsten 
zu  sustiniren  beordert.  Dieser  Stand  habe  so  lange  gewahrt ,  bis  die 
churfilrstl.  Stücke ,  welche  auf  die  Höhe  gebracht  werden  sollten ,  durch 
den  Morast  geschleppt  seien.« 

Eben  diese  Zusendung  von  einigen  Brigaden  ist  es,  welche  die 
brandenburgischen  Berichte  bei  Aitzema  und  Rel.  III.  genauer  be- 
sprechen. »Kurz  nach  der  Vernichtung  der  Tartaren,  sagen  sie,  befahl 
der  König  dem  Gen.-M.  Josias  Waldeck  mit  drei  Escadronen  zu  Fuss 
und  etlichen  groben  und  Regimentsstücken  durch  den  Wald  zu  S.  Cf.  D. 
zu  gehen.«  Der  Befehl  zeigt,  wie  gefährdet,  wie  schwer  zu  behaupten 
dem  Könige  jene  entscheidende  Position  erschien. 

Wenn  diese  drei  Brigaden  Waldecks  durch  den  Wald  abmarscbir- 
ten,  so  können  sie  nicht,  wie  Memmerts  Zeichnung  angiebt,  in  Schlacht- 
ordnung und  zwar  in  erster  Reihe  gleich  hinter  den  Geschützen  gestan- 
den haben ;  man  hätte  hier  der  Uebermacht  des  Feindes  gegenüber  nicht 
ungestraft  solche  Lücken  in  der  Linie  gemacht.  Diese  drei  Brigaden  und 
gewiss  noch  andere  standen  noch  zurück  und  in  Reserve;  sonst  hätte 
auch  nicht  der  König  über  sie  verfügen  und  sie  dem  ChurfUrsten  nach- 
senden können  l. 


t)  An  einem  späteren  Rtomente  lftsst  der  König  nach  des  ChurfUrsten  eigen- 


55]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  399 

Josias  Waldeck  fand ,  dass  der  Wald  zu  morastig  sei ,  um  durchzu- 
kommen, d.  b.  doch  wohl  in  der  Richtung  zur  Colline  und  genauer  auf 
die  rechte  Flanke  des  Churfilrsten ;  auch  beordert  Wrangel  und  Douglas 
ihn  wieder  zurückzugehen ,  »andeutend  dass  der  Churftlrst  seiner  nicht 
henöthigt«  oder ,  wie  der  Bericht  bei  Aitzema  sagt :  der  Churftlrst  liess 
ausserdem  (daer-en-boven)  melden,  dass  er  noch  keinen  Succurs  von 
Nöthen  hätte,  da  er  sich  nicht  allein  bereits  des  Hügels  bemächtigt,  son- 
dern auch  4 — 6000  Polen,  die  ihn  von  vorn  angegriffen,  glücklich  zu- 
rückgeworfen habe. 

Schon  bis  zu  diesem  Moment  des  Gefechtes  sind  mehrere  Dinge 
nicht  mehr  aufzuklären.  Waren  andere  Geschütze ,  als  die  mit  Waldeck 
vorzudringen  suchten,  endlich  auf  den  Hügel  gebracht?  war  die  ganze 
churfUrstliche  Artillerie  bereits  auf  dessen  Flügel?  war  endlich  durch  sie 
der  Sumpfweg,  den  schon  so  viele  Escadronen  durchgetreten  hatten,  so 
unpassirbar  geworden,  dass  Waldecks  Brigaden  und  Geschütze  nicht 
mehr  durchkommen  konnten?  kam  jener  Angriff  von  4 — 6000  Polen, 
»die  von  vorn  mit  einem  schrecklichen  Geschrei  einen  sehr  furieusen 
Angriff  gemacht  und  in  ihren  Vortheil  wieder  zurückgejagt  wurden,« 
aus  der  Stellung  in  den  Dünen  (dem  »Lager«),  oder  vom  Flachland  her? 

.Noch  eines  Umstandes  muss  ich  erwähnen,  der  auffallender  Weise 
von  den  schwedischen  und  brandenburgischen  Berichten  fast  völlig 
ausser  Acht  gelassen  wird  —  nur  Dahlberg  bemerkt  ihn.  Er  zeichnet 
auf  dem  jenseitigen  Weichselufer  bei  dem  Dorf  Pulko  den  Dampf  von 
Kanonen  und  bemerkt  in  den  Erklärungen:  Regina  Poloniae  ex  altera 
Yistulae  ripa  duobm  iormentu  Sueäcum  ajuiiatum  mpetene.  Polnischer 
Seits  hat  man  dieser  Position  eine  grosse  Wichtigkeit  beigelegt ;  nicht 
bloss  der  Verf.  von  Casimir  Roy  de  Pologne  spricht  von  den  grossen 
Wirkungen  dieser  Geschütze  der  Königin ,  sondern  auch  Des  Noyers 
(p.  214).  Die  Königin,  sagt  er,  »begab  sioh  auf  eine  Höhe  unterhalb 
Warschau  am  Ufer,  wo  eine  Schanze  errichtet  war,  da  der  rechte  Flügel 
der  Verbündeten  drüben  ettvas  weiter  stromabwärts  stand  und  die 
Kanonen  der  Schanze,  da  der  Fluss  sehr  breit  war,  wenig  wirkten,  liess 
die  Königin  die  Pferde  von  ihrer  Kutsche  spannen  und  die  zwei  schwer- 
sten Stücke  auf  eine  Landspitze  am  Fluss  gegenüber  dem  Feinde,  die 


händigest  Bericht  tden  rechten  Flügel  nebet  der  Infenterfe  und  Artillerie«  durch  den 
Wald  gehen. 


400  Jon.  Gust.  Droysen,  [56 

mit  Weiden  bewachsen  war,  führen.«  Er  fügt  hinzu,  dass  diese  Geschütze 
gute  Wirkung  thaten ,  dass  etwa  40  Reiter  vom  Grafen  Waldeck  (?)  ge- 
tödtet  wurden ,  dass  namentlich  diess  schlimme  Flankenfeuer  den  Feind 
nöthigte  ä  quitter  le  poste  et  rentrer  dans  le  bois ,  dass  Johann  Casimir 
seiner  Gemahlin  für  die  vortreffliche  Wirkung  der  Geschütze  seinen  Dank 
zusandte.  Wenn  die  Stelle,  wohin  die  Königin  die  Geschütze  brachte, 
der  mit  Weiden  bewachsene  Werder  gewesen  sein  sollte,  den  unsre 
Karte  zeigt  \  so  war  die  Entfernung  des  rechten  Flügels  der  Alliirten 
etwa  1500  Schritt  und  die  Wirkung  des  Feuers  konnte  schlimm 
genug  sein.    Die  Angaben  Barckmanns  (Beil.  11)  sind  zu  übergehen. 

Der  Abmanch  durch  den  Wald. 

Dass  Josias  Waldeck  nicht  hindurch  konnte  zum  Flügel  des  Chur- 
fürsten ,  lässt  einen  Umstand  erkennen ,  der  für  die  Verbündeten  höchst 
gefährlich  zu  werden  drohte.  Es  folgen  die  heissesten  Stunden  des 
Tages,  der  Feind  geht  auf  allen  Punkten  »gegen  alle  unsre  Regimenter,« 
sagt  Rel.  IV.,  zum  Angriff  vor.  Erst  durch  die  Abweisung  dieser  »starken 
und  furieusen«  Angriffe  gewinnt  die  Armee  der  Verbündeten  das  freie 
Feld  und  kann  —  gegen  drei  Uhr  —  ihrerseits  zum  Angriff  übergehen. 

Am  deutlichsten  ergiebt  sich  die  Reihenfolge  der  Momente  atis  des 
Churfürsten  eigenhändigem  Bericht.  Zuerst:  der  Feind  macht  einen 
Ausfall  aus  dem  Lager  und  attakirt  des  Churfürsten  Infanterie,  wird  aber 
zurückgeworfen  und  von  der  Reiterei  bis  in  sein  Lager  verfolgt.  In  der 
Handschrift  des  Churfürsten  war  geschrieben:  »der  Feind  fiel  ausser 
seinen  retran — «,  denn  ehe  das  Wort  zu  Ende  geschrieben,  durchstrich 
es  der  Churfürst  und  schrieb  Lager;  den  Retranchements  stand  der 
Flügel  des  Königs  gegenüber.  Es  wird  mit  diesem  Angriff  der  der 
4 — 6000  Polen  gemeint  sein,  den  der  Churfürst  abgewiesen  hatte,  als 
Josias  Waldeck  auf  dem  Wege  zu  ihm  war. 

2.  Der  König  kommt  in  Person  auf  den  linken  Flügel  und  »findet 
gut,«  dass  sein  rechter  Flügel  nebst  der  Infanterie  und  Artillerie  durch 
den  Wald  gehe ,  reitet  zurück  die  Ausführung  anzuordnen.  Also  diess 
ist  der  Moment,  wo  die  Veränderung  des  Schlachtplans  beschlos- 
sen wird. 


I)  Im  Casimir  Ray  de  Pologne  p.  59  heisst  es  von  der  Königin :  eile  passa  dans 
une  petite  Ue  qui  est  au  milieu  de  la  Vistule. 

4 


M]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1 656.  401 

3.  Kaum  dass  der  König  durch  den  Wald  zurück  ist,  so  kommt  ein 
zweiter  schwererer  Tartarenangriff.  Die  Tartaren  kommen  »in  die  Flanke 
unsers  linken  Flügels  wie  auch  in  den  Rücken  der  Reserve  bis  auf  unsre 
Musquetiere.«  Gleichzeitig  machen  die  Quartianer,  »die  in  unsrer  Front 
standen,«  einen  Angriff  und  werden  zurückgeworfen.  »In  wahrender 
Attaque«  fällt  der  Feind  »aus  seinem  Lager«  auf  die  Infanterie  und  wird 
von  dem  Könige  mit  seiner  Cavallerie  in  die  Retranchements  zurück- 
getrieben. 

4.  Dann  beginnt  der  König  durch  den  Wald  zu  filiren;  es  folgt  ein 
neuer  Ausfall  des  Feindes ,  er  kommt  bis  an  die  schwedischen  Kanonen, 
wird  aber  von  denen  so  empfangen ,  dass  er  zurück  muss.  Nun  endlich 
kann  der  König  seine  neue  Aufstellung  nehmen. 

Die  Relationen  I.  II.  u.  s.  w.  stimmen  mit  dieser  Reihenfolge  gut 
zusammen.  Nach  ihrem  oben  ausgeführten  Ausdruck:  »dieser  Stand  hat 
so  lange  gewährt,  bis  die  churfürstlichen  Stücke  auf  den  Hügel  gebracht 
sind,«  (Uhren  sie  an  (§29),  dass  der  König  »aus  des  Feindes  Anschickung 
und  andern  Umstanden  rathsam  befunden«  die  »polnische  Aufstellung« 
auf  ihrer  rechten  Hand  zu  umgehen,  aber  den  Weg  zu  nehmen,  den  des 
Churfürsten  Flügel  passirt,  sei  wegen  Enge  des  Weges  und  durchgetre- 
tenen Morastes  nicht  ausführbar  gewesen  und  dafür  der  Weg ,  den  die 
Tartaren  genommen  (der  Waldweg  nach  Bialalenka) ,  gewählt  worden. 
Natürlich  habe  man  sich  dabei  »nach  des  Feindes  contenance  regulieren« 
müssen ;  man  habe  also,  da  der  Feind  »zu  unterschiedlichen  Malen  Miene 
gemacht«  beide  Flügel  zugleich  anzugreifen,  noch  länger  in  dem  vorigen 
Stande,  wo  »Sr.  M.  bei  der  Weichsel  und  S.  Cf.  D.  jenseits  des  Morastes 
waren,«  verweilen  müssen. 

Folgt  dann  jener  zweite  Tartarenangriff  (§  32) ,  »der  Feind  sei  mit 
allen  seinen  Tartaren  den  Churfürstlichen  in  Flanke ,  Rücken  und  Front 
zugleich  eingebrochen,  aber  zurückgewiesen.«  Die  Beifügung,  dass  die, 
welche  den  Brandenburgern  in  den  Rücken  gehen  wollen,  von  dem 
dritten  schwedischen  Treffen  zurückgeschlagen,  streicht  die  branden- 
burgische Bearbeitung.  Wir  erinnern  uns,  was  Wrangel  gegen  Merian 
1661  inWolgast  geäussert  hat;  es  ist  die  siegreiche  Zurückweisung  eben 
dieses  furchtbaren  Tartarenangriffes,  um  desswillen  Wrangel  dem  Chur- 
fürsten allein  »die  herrliche  Victoria«  bei  Warschau  zuschreibt.  Es  dient 
zur  Charakteristik  der  Dahlbergischen  Zeichnung ,  dass  sie  diesen  Vor- 
gang nicht  darstellt,  auch  in  den  Erklärungen  seiner  nicht  erwähnt. 


402  Joh.  Gust.  Droysen,  [58 

Die  Rel.  I.  u.  II.  fahren  (§  33)  fort ;  in  demselben  Moment  mit  diesem 
Tartarenangriff  habe  der  Feind  gesucht  gegen  des  Königs  Flügel  »mit 
seiner  grössten  Force  nebst  Infanterie«  zu  avanciren,  sei  aber  »von  den 
Stücken  und  Kartätschen«  so  empfangen  worden ,  dass  er  nach  wieder- 
holtem Angriff  endlich  in  die  Retranchements  zurückgewichen  sei  und 
dann  zugleich  versucht  habe  nach  seiner  rechten  Hand  mit  aller  Force 
auf  den  Churftlrsten  loszugehen.  Man  wird  hier  aus  Rel.  IV.  einfügen 
dürfen,  dass  der  Feind  auch  seine  Stücke  aus  den  Retranchements  gezo- 
gen und  nach  dem  rechten  Flügel  gebracht  habe.  Dadurch  »gewinnt  der 
König  Zeit«  sich  durch  den  Wald  zu  ziehen  (§  34). 

Die  Erklärung  zu  Dahlbergs  Zeichnung  sagt :  gegen  Mittag  stellt 
sich  ein  Theil  der  polnischen  Armee,  in  der  Absicht  den  Churftlrsten  an- 
zugreifen, in  Schlachtordnung  auf;  die  Zeichnung  zeigt  die  Aufstellung 
in  zwei  Treffen,  die  hinter  dem  Schanzhügel  genommen  ist,  acht  Haufen 
in  zwei  Treffen  rechts  bis  ins  Flachland,  links  bis  an  den  Sumpf,  jenseits 
desselben  vor  den  Retranchements  noch  vier  Haufen  wieder  in  zwei 
Treffen  stehend.  Wahrend  dessen,  sagt  die  Erklärung,  führt  der  König 
seine  Truppen  schnell  durch  den  Wald ,  die  Cavaüerie  auf  dem  Wald- 
wege (nach  Bialalenka) ,  das  Fussvolk  mehr  rechts  dem  Gefecht  näher. 
Der  König  rückt  dann  dem  brandenburgischen  Unken  Flügel  sich  an- 
schliessend an  dem  Ostrande  des  Waldes  auf.  Er  lässt  Bülow  mit  den 
3  schwedischen  Brigaden  jenseits  des  Waldes  Front  gegen  die  Weichsel 
zurück  um  Pfalz  Sulzbach  (das  erste  Treffen  des  schwedischen  Flügels) 
aufzunehmen,  der  den  Abmarsch  zu  decken  vor  den  Retranchements 
stehen  geblieben  ist. 

Der  Wortlaut  dieser  Erklärungen  Dahlbergs  enthält  manches  Son- 
derbare. Pars  exercitui  Polonici  circa  meridiem  exercitum  Brandenburg- 
cum  aggredi  instituem  aciem  formal  (NB.  hinter  dem  Schanzhügel).  Cm 
Reg.  Maj.  Suec.  peditatu  ad  N  et  equitatu  ad  0  (0  ist  der  Weg  nach  Bia- 
lalenka, N  ein  andrer  Weg  durch  den  Wald,  zwischen  0  und  dem  Süd- 
rande desselben) ,  per  sylvam  Biallalenkensem  promotis  aciem  ad  P.  (am 
Ostsaum  des  Waldes)  celeriter  opposuit,  dextra  Electori  relicta  et  prae- 
fecto  Bulow  duabue  legumibus  ad  Q  (wo  der  Weg  von  Bialalenka  aus  dem 
Westsaum  des  Waldes  hinaustritt)  consistere  jm$o  ut  hostem  obsetvareh 
donec  princeps  Pal.  Sulz,  mbaidia  adduceret. 

Sollte  Bülows  Aufgabe  sein  ut  hoetem  obtervaret,  so  durfte  er  nicht 
stehen  bleiben,  wo  die  Cavallerie  in  den  Wald  gezogen  war;  und  wenn 


SO]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1 656.  403 

er  hier  halten  sollte ,  bis  der  Pfalzgraf  subsidia  ferret,  so  musste ,  wenn 
die  Hälfe  nöthig  wurde ,  bereits  zwischen  dem  Pfalzgrafen  und  Bttlow 
der  Feind  eingedrungen ,  der  Pfalzgraf  in  seiner  linken  Flanke  umgan- 
gen sein. 

Nicht  minder  auffallend  ist  der  Ausdruck :  cid  Reg.  Maj.  . . .  aciem 
ad  P.  celeriler  opposuü;  denn  diejenige  Schlachtlinie,  der  sich  der  König 
so  entgegengestellt  haben  soll,  steht  unter  dem  Schanzhttgel  Front  gegen 
die  Südseite  des  Waldes,  gegen  den  rechten  Flügel  des  ChurfUrsten, 
während  der  König  den  linken  Flügel  der  Brandenburger  verlängernd 
an  dem  Ostsaum  des  Waldes  Front  gegen  Bialalenka  sich  aufstellt. 

Wir  haben  also  folgende  Reihenfolge  von  Vorgängen.  1 .  Der  An- 
griff der  4 — 6000  Polen  gegen  die  kleine  Colline;  2.  des  Königs  Be- 
sprechung mit  dem  ChurfUrsten ;  es  folgt  3.  der  schwere  dreifache  An- 
griff der  Tartaren,  der  Quartianer  und  aus  den  Retranchements ;  4.  wie 
dieser  zurückgeschlagen  ist ,  nimmt  der  Feind  circa  meridiem  seine  neue 
Aufstellung  hinter  dem  Schanzhttgel,  um  5.  einen  zweiten  schweren  Stoss 
gegen  den  Churfürsten  zu  führen. 

Noch  bleibt  in  dieser  Reihenfolge  von  Gefechten  ein  Vorgang  ein- 
zuschalten, der,  wenn  es  gelingt  ihn  genau  zu  bestimmen,  Klarheit  über 
das  Vorher  und  Nachher  bringt. 

Josias  Waldeck  hatte  mit  seinen  3  Brigaden  und  Geschütz ,  weil  er 
nicht  durch  den  Morast  kommen  konnte ,  wieder  zurückgehen  müssen, 
die  Rel.  III.  sagt :  »er  stellte  sich  sobald  mit  den  drei  Squadronen  auf 
der  Seite  des  Waldes  und  Hess  die  Stücken  vor  den  Squadronen  stel- 
len ,  welches  als  es  kaum  geschehen ,  rückten  etliche  Fahnen  Quartia- 
ner hervor  und  gingen  mit  guter  Resolution  auf  die  Garde  an  in  Mei- 
nung zwischen  solchen  und  einen  Berg  durchzukommen  und  etliche 
Stücke  so  wir  auf  dem  Berg  hätten  wegzunehmen,  aber  sie  wurden  von 
der  Garde  und  einer  Squadron  so  empfangen ,  dass  sie  die  Stücke  ver- 
gassen ;  im  Zurückgehn  gab  ihnen  Obrist  Syburg  wie  auch  die  Stücke 
so  Gen.  Waldeck  bei  sich  hatte,  eine  Salve  in  die  Seite,  durch  welches 
ihnen  ziemlicher  Schade  geschehen.  Ungefähr  eine  halbe  Stunde  darauf 
pr&sentirteo  sich  viel  Stück  Esquadronen  vom  Feind  gegen  unsre  Armee, 
auf  welche  F.  Z.  M.  Sparr  wie  auch  der  schwedische  G.-M.  Bttlow  so 
gewaltig  mit  Stücken  Feuer  geben  lassen,  dass  der  Feind  endlich  gezwun- 
gen ward  sich  wieder  in  sein  Lager  zu  ziehen.  Wenig  hernach  mar- 
schierte I.  Kön.  M.  mit  der  Reiterei  und  Fussvolk  ab  und  zogen  sich  durch 


404  Joh.  Güst.  Droysbn,  [60 

den  Wald«  u.  s.  w.  Im  Wesentlichen  wenn  auch  mit  zum  Theil  andern 
Worten  erzählt  der  Bericht  bei  Aitzema  eben  so;  nur  dass  er  nicht 
das  Lager  sondern  die  Retranchements  nennt,  in  die  schliesslich  der 
Feind  zurückgejagt  sei. 

Man  wird  in  dem  ersten  Angriff,  dem  der  Quartianer  auf  die  Garde 
wohl  einen  Theil  des  oben  unter  3  berichteten  dreifachen  Angriffs  wieder- 
erkennen. Aber  wo  stand  da  Jösias  Waldeck?  Wenn  gesagt  ist:  er 
stellte  sich  an  die  Seite  des  Waldes ,  so  ist  vollkommen  klar ,  dass  nicht 
der  Waldsaum  gegen  Bialalenka  gemeint  sein  kann ;  er  war  ja  eben  nicht 

* 

hindurchgekommen,  nicht  einmal  bis  zum  rechten  Flügel  des  Chur- 
fürsten.  Wo  war  der  Wald  so  »morastig«  dass  er  nicht  hatte  durch- 
kommen können? 

Nach  Dahlbergs  Zeichnung  erstreckt  sich  der  Sumpf  der  den 
Schanzhügel  von  den  Retranchements  trennt,  gegen  den  Südsaum  des 
Waldes  hin  bis  auf  geringe  Entfernung  von  demselben,  und  endet  da, 
wo  der  Längenweg  aus  dem  Walde  heraustritt,  in  zwei  Ausbuchtungen. 
Die  beiden  neueren  Karten  zeigen,  dass  der  Sumpfgrund  sich  noch  wei- 
ter nordwestwärts  in  den  Wald  herein  erstreckt ;  der  Weg ,  der  jetzt  an 
der  südlichen  Lisiere  des  Waldes  entlang  zieht  ist  etwa  400  Schritte 
westlich  von  dem  Längenwege  überbrückt ;  der  Sumpfgrund  selbst  hat 
eine  Breite  von  3  —  400  Schritt,  weiter  waldeinwärts  wird  er  noch 
breiter.  Diess  muss  der  Sumpf  gewesen  sein,  den  man  nicht  oder  nicht 
mehr  passiren  konnte.  Denn  allerdings  lässt  Dahlbergs  Zeichnung  am 
Morgen  eben  hier  »durch  den  Wald«  des  Churfürsten  Flügel  anmarschi- 
ren ;  hier  muss  das  mit  niedrigem  Gebüsch  bewachsene  Terrain  gewesen 
sein ,  welches  das  Durchkommen  der  brandenburgischen  Geschütze  so 
erschwerte ;  durch  diese  Geschütze  war  hier  der  Grund  so  tief  aufge- 
fahren. 

Der  Angriff  der  Quartianer  richtete  sich  gegen  die  Garde,  d.  h.  die 
brandenburgische  Leibgarde  zu  Fuss,  die  nach  Memmerts  Zeichnung  zu- 
nächst rechts  von  der  kleinen  Colline  stand.  Die  neueren  Karten  zeigen 
unmittelbar  da,  wo  der  Längenweg  aus  dem  Walde  tritt,  nach  der  Seite 
der  kleinen  Colline  hin,  eine  Erhebung,  die  wohl  »een  kleyn  ghebergkte« 
(Aitzema)  genannt  werden  kann;  das  wird  die  Höhe- sein,  auf  der  etliche 
(drei,  Aitz.)  Geschütze  standen;  zwischen  diesem  Berg  und  der  Garde 
suchen  die  Quartianer  einzubrechen,  um  die  Geschütze  zu  nehmen.  Sie 
werden  von  der  Garde  und  einer  andern  Escadron  zurückgeschlagen. 


61]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  405 

Also  dieser  Stoss  kam  den  Quartianern  von  rechts  und  sie  gehen  natür- 
lich in  der  Richtung  des  Stosses  zurück.  Nur  so  zwischen  Wald  und 
Sumpf  zurückgebend  können  sie  »een  seer  furieuse  salve«  von  Waldecks 
Musquetiren  und  Geschützen  in  die  Flanke  bekommen. 

Wenn  das  richtig  ist,  und  ich  denke  es  kann  nicht  anders  gewesen 
sein,  so  war  das  Defite  vom  Waldweg  westlich  noch  zum  Theil  passir- 
bar ,  aber  der  passirbare  Theil  desselben ,  durch  welchen  am  Morgen 
der  Churftlrst  aufmarschirt  war ,  war  nicht  mehr  von  den  Alliirten  be- 
herrscht, sonst  hätte  Waldeck  bis  zu  demselben  vorgehen  und  sich  dann 
links  wendend  die  Garde  auf  dem  rechten  Flügel  der  churfürstlichen 
Aufstellung  erreichen,  sich  ihr  anschliessen  können.  Waldeck  hatte  sich 
nicht  so  aufstellen  können,  dass  er  den  weichenden  Quartianern  das 
Defil6  sperrte;  er  musste  sich  mit  einer  furieusen  Salve  begnügen;  er 
stand  weiter  rückwärts .  den  Sumpf  vor  sich ,  als  die  Quartianer  vor- 
überjagten. 

Also  die  nächste  Verbindung  zwischen  dem  rechten  und  linken 
Flügel  der  Alliirten ,  die  durch  das  Defite,  war  unterbrochen,  sie  hatten 
nur  noch  auf  weitem  Umwege  »durch  den  Wald«  ihre  Verbindung.  Der 
Stoss  der  Quartianer  war  sehr  richtig  gegen  die  Mündung  des  Längen- 
weges durch  den  Wald  gerichtet ;  gewannen  sie  diesen  Weg,  so  waren 
die  beiden  Flügel  auseinandergesprengt.  Und  mit  diesem  Angriff  war 
die  zweite  Umgehung  der  Tartaren,  der  Ausfall  aus  den  Retranchements 
combinirt  gewesen ;  in  Wahrheit,  das  Schicksal  der  Schlacht  hatte  auf 
des  Messers  Spitze  gestanden.  Es  war  hohe  Zeit  die  getrennten  Flügel 
zusammenzuschliessen ,  ehe  der  Feind  einen  ähnlichen  Angriff  wieder- 
holte. Und  die  Bewegungen,  die  man  zu  dem  Zweck  der  schon  einge- 
leiteten Vereinigung  zu  machen  hatte,  waren  zugleich  das  Mittel,  den 
am  meisten  gefährdeten  Punkt  zu  verstärken ;  die  durch  den  Wald  ge- 
henden zwei  Colonnen  waren  gleichsam  Reserven  für  den  Posten  am 
Ausgang  des  Waldweges  in  das  Defite.  In  solchem  Zusammenhang  hat 
Dahlbergs  Ausdruck :  cid  aciem  ....  oppomit  nicht  ganz  Unrecht. 

Allerdings  wiederholte  der  Feind  den  Stoss  gegen  die  Mündung 
des  Waldweges;  es  ist  der  Angriff,  den  Rel.  III.  mit  den  Worten  ein- 
führt :  »eine  halbe  Stunde  später «  und  dessen  Zusammenhang  Rel.  I. 

II.  u.  s.  w.  §33  wenigstens  andeuten,  indem  sie  sagen:  nach  wieder- 
holtem vergeblichem  Vorgehen  aus  den  Retranchements  habe  der  Feind 
versucht  mit  aller  Force  auf  den  Churfürsten  loszugehen.   Dieser  Angriff 


406  Joh.  Gust.  Droysen,  [62 

ist  es,  zu  dem  der  Feind  circa  meridiem  in  die  von  Dabiberg  angegebene 
Stellung  hinter  dem  Schanzhügel  einrückt;  jene  zwölf  Schlacbtbaufen 
rechts  und  links  vom  Sumpf  durften  wohl  von  Rel.  III.  als  »viele  Stück 
Escadronen«  bezeichnet  werden.  Die  Bewegung,  die  sie  zu  machen 
hatten,  war  durch  den  Sumpf,  zu  dessen  beiden  Seiten  sie  standen,  vor- 
gezeichnet ;  die  8  Escadronen ,  die  zunächst  hinter  dem  Schanzhügel 
standen,  mussten  vorgehend  den  rechten  Flügel  des  Churfürsten  be- 
schäftigen ,  bis  die  4  andern  Escadronen  um  den  Sumpf  in  das  Defil6 
kamen  und  dann  beide  Massen  zugleich  den  entscheidenden  Stoss  gegen 
die  Mündung  des  Waldwegs  führen. 

Wie  weit  sich  diess  Gefecht  entwickelt  hat ,  wird  nicht  angegeben. 
Wir  erfahren  nur  aus  Rel.  III.  und  Aitzema,  dass  diese  Trappen  mit 
grosser  Heftigkeit  anrückten,  aber  dass  GFeldzeugmeister  Sparr  nnd 
Gen.M.  Bülow  »so  gewaltig«  mit  Stücken  auf  sie  feuern  lassen,  dass  sie 
gezwungen  wurden  sich  wieder  in  ihr  Lager  oder  wie  Aitzema  sagt 
»mit  den  andern  sich  wieder  in  die  Betranchements«  zurückzuziehen. 

Sparr  commandirte  die  brandenburgische  Artillerie;  dass  sie  den 
rechten  Flügel  dieser  Angriffslinie,  die  8  Schwadronen,  beschoss. 
kann  nicht  zweifelhaft  sein.  Wie  kommt  es,  dass  nicht  neben  Sparr 
Oxenstjerna  genannt  wird,  der  die  schwedische  Artillerie  befehligte, 
sondern  Bülow  ?  Bülow  kann  nur  die  Regimentsgeschütze  seiner  Bri- 
gaden zur  Verfügung  gehabt  haben;  entweder  stand  die  schwedische 
Artillerie  weiter  abwärts  nach  der  Weichsel  zu  noch  in  Linie ,  oder  sie 
war,  was  wahrscheinlicher,  bereits  abgerückt  und  die  Escadronen  von 
Pfalz  Sulzbach  maskirten  ihren  Abzug.  Der  König  hatte  seinen  Abmarsch 
durch  den  Wald  begonnen,  als  der  Feind  in  jene  Schlachtlinie  circa  me- 
ridiem einrückte ;  er  konnte  noch  nicht  weit  sein ,  noch  nicht  so  weit, 
dass  auch  die  Brigaden  Bülows  schon  ihre  Stellung  verlassen  mussten, 
um  den  Posten  am  Eingang  des  Querweges  nach  Bialalenka  zu  be- 
setzen; Bülow  stand  mit  seinen  Brigaden  noch  vor  der  Südwestecke 
des  Waldes;  er  konnte  von  dort  aus  die  auf  etwa  1200  Schritt  vorüber- 
trabenden Züge  des  Feindes  sehr  gründlich  bestreichen.  Aber  warum 
that  Waldeck  jetzt  nicht  dasselbe  wie  vorher  bei  dem  Rückzog  der 
Quartianer?  Er  wird  nicht  mehr  an  derselben  Stelle  gewesen  sein ;  der 
König  hatte  den  Abmarsch  durch  den  Wald  begonnen ,  und  Waidecks 
Brigaden  waren  wohl  die  ersten  in  der  Marschcolonne  des  Fussvolks. 

Diess  ganze  Gebäude  von  Gombinationen  scheint  der  eigenhändige 


63]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  4656.  407 

Bericht  des  Churfilrsten  über  den  Haufen  zu  werfen ,  der  hier  wörtlich 
so  lautet :  »I.  Kön.  M.  marschierten  ab  und  filirten  durch  das  Holz,  der 
Feind  aber  fiel  wieder  aus  und  kam  bis  an  I.  Kön.  M.  Stücke,  welche  ihnen 
sehr  grossen  Schaden  zufügten,  darüber  sie  sich  wieder  retirierten.«  Hält 
etwa  Sparrs  heftiges  Feuer  die  8  polnischen  Escadronen  in  respectvol- 
ler  Entfernung?  zögerten  sie  vorzugehen,  weil  sie  sahen,  dass  die 
4  Escadronen  statt  an  das  Defite  zu  eilen ,  sich  bei  den  schwedischen 
Geschützen  aufhielten? 

Es  ist  unmöglich  hier  zu  irgend  sichern  Ergebnissen  zu  gelangen. 
Genug,  die  Intentionen  der  polnischen  Aufstellung  circa  meridiem  mislan- 
gen  völlig.  Der  vollständige  Abmarsch  des  Königlichen  Flügels  und 
dessen  Durchziehen  durch  den  Wald  war  sicher  gestellt.  Die  eingeleitete 
Umformung  der  Frontstellung  konnte  bewerkstelligt,  der  bisherige  rechte 
Flügel  zum  linken  Flügel  gemacht  werden. 

Jena  in  dem  mehrerwähnten  Schreiben  tadelt  auch  an  diesem  Punkt 
die  Rel.  I.:  »so  wird  auch  nicht  gemeldet,  dass  als  am  Sonnabend 
nach  Mittag  die  Bataglie  zu  ändern  (beschlossen  worden) ,  dass  diesel- 
bige  Aenderung  vom  Hr.  Feldzeugmeister  Sparr  dergestalt  gemachet,  dass 
ich  selbst  von  theüs  hohen  schwedischen  Befehlshabern  mit  dem  gross- 
ten  Ruhme  davon  sprechen  hören.«  Des  Churfilrsten  Leibgarde  zu  Fuss 
und  eine  Brigade  Sparr  waren  am  Morgen  die  Spitze  des  linken  Flügels 
gewesen ;  sie  werden  in  der  neuen  Schlachtordnung  die  Spitze  des  rech- 
ten Flügels,  jede  Brigade  und  Escadron  des  Churfilrsten  zieht  sich  hin- 
ter ihnen  durch  in  die  neue  Stellung  ein  und  endlich  steht  die  Reihe  der 
Schlachthaufen  in  umgekehrter  Folge  wie  am  Morgen  gegen  den  Feind. 

So  Angesichts  des  Feindes ,  unter  währendem  Kampf  die  ordre  de 
bataüle  umformen,  die  neue  Aufstellung  nehmen  und  auf  einem  neuen 
Schlachtfelde  die  Offensive  ergreifen ,  das  war  —  und  wäre  vielleicht 
auch  noch  jetzt  —  ein  tactisches  Meisterstück ,  das  man  nur  mit  völlig 
festen  und  geschlossenen  Truppen  ausfuhren  konnte.  Diese  grosse  Wen- 
dung der  Schlacht  war  nur  dadurch  möglich,  dass  der  Churfilrst  sich 
Standen  lang  gegen  immer  neue  mörderische  Angriffe  behauptete ;  die 
von  ihm  besetzte  Höhe  war  gleichsam  der  Angelpunkt,  um  den  sich  die 
Schwenkung  der  conjungirten  Armeen  drehte. 


408  Joh.  Gust.  Droysen,  l6* 

Die  neue  Schlachtlinie  am  Nachmittag  des  29.  Juli. 

Die  Rel.  IV.  giebt  in  allerdings  summarischer  Darstellung  der  Be- 
wegungen ein  Bild  des  Ganzen  in  dem  Moment  des  Wechsels,  wenn  ich 
so  sagen  darf  den  Gesammteindruck  der  Situation.  Sie  sagt :  »Nachmit- 
tag gewannen  wir  dem  Feind  eine  Advantage  ab ,  nemlich  einen  Pass, 
durch  welchen  wir  mit  der  ganzen  Armee  filirten«  (diess  ist  incorrect). 
»Als  die  Polen  solches  vermerketen ,  verliessen  sie  ihre  Retranchements 
von  vorne  und  stellten  ihr  Geschütz  von  hinten  recta  auf  uns  an  und 
gingen  darauf  mit  ihren  ganzen  Armeen  ins  offne  Feld.  Gewiss  ist  es 
dass  es  damals  mit  uns  etwas  hart  hielte ,  angesehen  auf  unsrer  Seiten 
so  wohl  als  hinter  uns  nichts  anders  als  lauter  Morast  und  ganz  keine 
Retraite  war,  .musste  also  ehrlich  gefochten  sein,  wer  nicht  schändlich 
sterben  wollte.  Und  in  Wahrheit  es  bezeigeten  unsre  Soldaten  vom 
grössten  bis  zum  kleinsten  hierin  eine  so  treffliche  courage ,  dass  sie  das 
Gefecht  mit  allen  Freuden  angingen ,  unangesehen  der  überaus  grossen 
Menge,  mit  welcher  sie  angehen  sollten.  Dieses  muss  ich  bekennen,  dir 
Polen  thäten  einen  so  starken  und  furieusen  Angriff,  dass  sie  zugleich 
auf  alle  unsre  Regimenter  ansetzten.  Als  es  aber  zum  Generaltreffen 
kam,  welches  ungefähr  um  drei  Uhr  Nachmittag  anfing,  hat  der  höchste 
Gott  verliehen  dass  wir  nach  fünfstündigem  Gefecht«  u.  s.  w. 

Also  die  Polen  hatten  ihre  Geschütze  auf  die  Dünenreihe  gebracht, 
die  sich  vom  Schanzhügel  nach  Süden  zieht  und  deren  südlichen  Theil 
das  Holz  von  Praga  bedeckt.  Sie  hatten  sich  in  Schlachtlinie  über  das 
Flachland  bis  Bialalenka  hin  aufgestellt,  »in  einer  Fronte  bis  an  ein  Kö- 
nigliches Haus«  sagt  der  Bericht  des  Churftbrsten.  Noch  genauer  geben 
Rel.  I.  II.  u.  s.  w.  an :  der  Feind  habe  seine  grösste  Force  und  alle  seine 
Husaren  auf  seine  rechte  Hand  gesetzt  und  sei  in  guter  Ordnung  über 
das  Feld  anmarschirt  gekommen. 

Das  nächste  Interesse  des  Königs  war  »Feld  zu  gewinnen  um  den 
Feind  in  der  Ebene  ins  Gesiebt  gehen  zu  können«  (Rel.  I.  §  35).  Er 
fand  »een  schon  groen  pleyn«  vor  sich ,  die  in  einer  Breite  von  y4  Meile 
sich  südwärts  zog,  begränzt  von  den  buschigen  Sumpfwiesen  hinter 
Bialalenka ;  diese  boten  ihm  wenn  er  vorging  eine  Deckung  für  seine 
linke  Flanke. 

Von  den  Bewegungen ,  die  dem  »Generaltreffen«  unmittelbar  vor- 
ausgehn,  berichten  Rel.  I.  II.  u.  s.  w.  eingehend.  Der  König  streckt,  wie 


65]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  409 

er  die  feindliche  Schlachtlinie  vor  sich  sieht,  sich  nach  links  hin,  um  die 
Breite  der  Fläche  bis  an  die  Sumpfwiesen  zu  gewinnen ,  er  nimmt  auf 
seinen  linken  Flügel  etliche  commandirte  Stücke  und  3  Escadronen  zu 
Fuss  (also  die  3  schwedischen  Brigaden) ,  ihnen  folgt  die  Cavallerie  sei- 
nes Flügels  in  3  Treffen.  Wie  er  vorrückt,  steckt  der  Feind  das  Dorf 
Bialalenka  an,  um  während  der  König  vor  dem  Dorfe  vorüberzieht,  hin- 
ter demselben  ihm  mit  Cavallerie  in  den  Rücken  zu  gehen.  Der  König 
lässt  sein  drittes  Treffen  unter  Gen.  Hörn  hinler  das  Dorf  gehn  und  avan- 
ciren,  worauf  sich  der  Feind  auf  Brudno  zurückzieht.  Brudno,  ein  lan- 
ges Dorf,  das  sich  nah  an  den  Sumpfwiesen  hinzieht,  wird  gleichfalls  in 
Brand  gesteckt,  und  hinter  dem  Dorf  setzt  sich  der  Feind. 

Die  Bewegung  der  Polen  ist  klar ;  ihre  Front  hatte  schräg  über  die 
Ebene  etwa  vom  Schanzhügel  bis  Bialalenka  gestanden,  sie  ziehen  ihre 
Aufstellung  bis  zu  der  Linie  zwischen  dem  Schanzhügel  und  Brudno 
zurück,  sie  locken  den  Gegner  immer  weiter  hinaus  ins  Flachland,  um 
ihn  endlich  in  seiner  linken  Flanke  zu  tourniren. 

Der  König  folgt,  avancirt  »mit  den  Knechten«  gegen  Brudno  (§38); 
da  er  das  brennende  Dorf  wegen  des  Morastes  (?)  nicht  umgehen  kann, 
lässt  er  »die  Infanterie  vor(?)  den  3  Escadronen  zu  Fuss«(?)  beim  Dorf 
und  Morast  stehen ,  und  zieht  mit  den  beiden  ersten  Treffen  Cavallerie 
am  Dorf  vorüber,  das  dritte  Treffen  hält  beim  Fussvolk,  »um  es  zu  suste- 
niren.«  Schon  stehn  die  beiden  ersten  Treffen  Front  gegen  die  Sanddtt*- 
nen ;  während  einer  lebhaften  Canonade  von  beiden  Seiten  rücken  die 
3  Brigaden  am  Dorfe  vorüber  nach  und  stellen  sich  hinter  dem  zweiten 
Treffen  im  Haken,  der  Front  links  gewandt  auf,  so  dass  sie  das  Dorf  im 
Rücken  haben;  »beim  Kreutz»  sagt  die  Relation,  und  die  Dahlbergische 
Zeichnung  giebt  genau  das  Crucifix  an,  das  gleich  südwärts  von  Brudno 
am  Wege  steht  (§  40). 

Diese  Aufstellung  im  Haken  ist  nothwendig,  da  bereits  Tartaren  und 
Husaren  im  Anzüge  sind,  die  linke  Flanke  der  Schweden  zu  umge- 
hen ;  der  König  lässt  Halt  machen,  damit  auch  das  dritte  Treffen  heran- 
komme. 

Diese  Darstellung  in  Rel.  I.  II.  §  35 — 42,  die  in  der  brandenburgi- 
schen Bearbeitung  fortgelassen  ist,  hat  zwei  unklare  Stellen.  Die  eine 
betrifft  die  Umgehung  des  Dorfes  Brudno :  dass  der  König  es  wegen  des 
Morastes  zu  umgehen  nicht  für  rathsam  hält,  sondern  zur  Linken  zu 
gehen.    Allerdings  zeigt  die  Generalstabskarte  auch  rechts  von  Brudno 

Abbandl.  d.  K.  8.  Om.  d.  Witt.  X.  28 


410  Jon.  Gust.  Droysen,  [66 

eine  Sumpfwiese,  die  mit  Gräben  durchzogen  ist,  vor  dieser  müsste  das 
Fussvolk  Halt  gemacht  haben,  während  die  Cavallerie  links  und  hinter 
dem  Dorfe  vorgegangen  wäre.  Aber  links  vom  Dorfe  ist  nicht  minder 
Sumpfwiese  von  Gräben  durchschnitten ,  und  Dahlbergs  genaue  Zeich- 
nungen geben  keinerlei  Andeutung  von  Sümpfen  rechts  vom  Dorf;  wie 
ja  auch  die  polnische  Schlachtlinie  von  Bialalenka  auf  Brudno  zurückge- 
hen konnte. 

Diese  Schwierigkeit  wird  noch  vergrössert  durch  die  zweite  Un- 
klarheit die  oben  bemerkt  ist,  die  in  dem  Ausdruck  »der  Infanterie  vor 
den  dreyen  Esquadronen  zu  Fuss.«  In  dem  Abdruck  des  Florus  p.  91 
steht  »die  Infanterie  von  den  dreyen  Es.  zu  Fuss.«  Pufendorff  F.  W. 
VI.  38  sagt:  tegendo  lateri  tres  pedilum  phalanges  apud  vicum  et  paludem 
consistere  jussit ;  und  etwas  kürzer  im  Carol.  Gust.:  tres  peditum  phalanges 
apud  vicum  et  paludem  consistere  jussit. 

Allerdings  könnte  man  sich  einen  Verlauf  der  Bewegungen  denken, 
in  dem  die  übrigen  Brigaden  der  Infanterie  vor  die  drei  schwedischen 
(dem  Feinde  zu)  einrücken ,  während  das  erste  und  zweite  Treffen  der 
schwedischen  Cavallerie  das  Dorf  zur  Linken  d.  h.  hinten  und  vom 
Feinde  abwärts  umgehen.  Aber  diess  Manöver  wäre  ein  so  überktinst- 
liches,  der  Aufmarsch  der  Cavallerie ,  nachdem  sie  das  Dorf  zur  Linken 
umgangen,  ein  so  exponirter,  dass  man  es  aufgeben  muss  die  Rel.  I.  IL 
mit  ihrem  Wortlaut  für  correct  zu  halten.  So  wie,  wohl  irrig,  zur  Lin- 
ken geschrieben  war,  wo  es  heissen  sollte  zur  Rechten,  so  mag  in  der 
Handschrift  der  Relationen  nach  damals  nicht  eben  seltener  Ausdrucks- 
weise gestanden  haben,«  die  Infanterie  vdl.  (videlicet)  die  3  Escadronen  zu 
Fuss,«  was  der  unkundige  Setzer  dann  in  »vor  den  dreyen«  veränderte. 

Allerdings  geben  wir  damit  die  einzige  Andeutung  auf,  die  die  Rel. 
I.  IL  möglicher  Weise  über  die  übrigen  Brigaden  der  Infanterie  bieten 
könnten.  Ergänzend  tritt  da  die  brandenb.  Rel.  III.  ein,  indem  sie  die 
Vorgänge  vom  Durchmarsch  durch  den  Wald  an  kurz  zusammenfasse 
Ehe  die  Infanterie  ankam ,  sagt  sie ,  sah  der  König  den  Feind  in  voller 
Bataille  anrücken;  er  nahm  seine  schwedische  Cavallerie  und  etliche 
Escadronen  von  uns  (2  Esc.  Waldeck) ,  stellte  solche  auf  den  linken  Flü- 
gel in  Bataille ,  Hess  den  Oxenstjerna  mit  der  Artillerie  avanciren  und 
marschirte  sacht  auf  den  Feind ,  liess  bisweilen  auf  dem  Marsch  etliche 
Stücke  umkehren  und  Feuer  geben.  Indessen  kam  unsre  Artillerie  und 
Infanterie  auch  an,  und  wurde  gleicbmässig  neben  dem  linken  Flügel  in 


67]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  4H 

2  Treffen  in  Bataille  gestellt,  der  Churftirst  blieb  mit  dem  rechten  Flügel 
»in  den  3  Escadronen  zu  Fuss  *  so  G.-M.  Goltz  bei  sich  hatte«  am  Walde 
stehen. 

Dieser  Bericht  sagt  nicht  ausdrücklich,  dass  sich  die  Cavallerie  des 
Churfürsten  auch  aufstellt;  aber  er  lässt  die  neue  Schlachtlinie  recht  gut 
erkennen :  der  Churftirst  hat  3  Brigaden  auf  seinem  rechten  Flügel  wie 
der  König  deren  3  im  Haken  auf  seinem  linken  Flügel  hat ;  das  Gentrum 
bilden  die  übrigen  6  Brigaden ,  rechts  und  links  vom  Gentrum  die  Ca- 
vallerie der  beiden  Flügel  in  drei  Treffen.  Genau  so  zeichnet  Memmert 
die  Schlachtordnung  des  Nachmittags,  nur  dass  er  die  6  Brigaden  im 
Centrum  nicht  in  zwei  Treffen  hat ,  sondern  3,  2,  4  Brigade  hinter  ein- 
ander stellt :  auf  dem  äussersten  rechten  Flügel  hat  er  4  Brigade  Goltz, 
4  Brigade  Sparr,  die  Leibgarde. 

Allerdings  weicht  die  Zeichnung  Dahlbergs  sehr  davon  ab.  Da 
stehen  keine  Brigaden  auf  den  äussersten  Flügeln,  sondern  ihrer  zehn  in 
drei  Treffen  im  Cenlrum,  die  zwei  noch  fehlenden  sind  nirgends  ver- 
zeichnet. Die  Schwenkung  der  Schlachtlinie  der  AUiirten  beschreibt  die 
beigefügte  Erklärung  mit  den  Worten  exercitm  collocatis  in  fronte  for- 
mentis,  sese  movens  ea  ratione  ut  dextra  ala  procedentem  sinislram  tormen- 
torum  explonione  tutaretur ,  idemque  ageret  dextra  dum  sinisira  procederet, 
tandemque  coeuntes  lunalam  aciem  componerent.  Die  Zeichnung  zeigt 
diese  mondförmige  Schlachtlinie,  deren  rechter  Flügel  vor  der  Colline  an 
die  Waldecke  gelehnt  ist,  der  linke  Flügel  links  über  das  brennende 
Brudno  hinausreicht. 

Es  ist  bereits  erwähnt ,  dass  sich  der  Bericht  von  Aitzema  in  die- 
sem Theile  der  Darstellung  von  der  Rel.  III.  trennt ;  er  ist  mehr  schil- 
dernd als  genau ;  er  verwechselt  früheres  und  späteres.  Aber  er  hebt 
dasjenige  hervor,  was  hier  wie  in  der  ganzen  Schlacht  das  Entscheidende 
ist.  Wie  sich  der  König  auf  den  linken  Flügel  gesetzt  hat,  fbrmirt  er  seine 
Schlachtordnung  auf  einer  schönen  grünen  Ebene  und  avancirt  gegen 
das  polnische  Lager  in  guter  Ordnung ;  er  aber  sieht  den  Feind  so  vor- 
teilhaft postirt  (fehlerhaft  ist  gedruckt  »so  avantageus  gepasseert  te  zijn«), 
dass  er  gerathen  findet  Halt  zu  machen  »ende  de  aveneus  van  allen  kan- 
ten wel  te  recognosceren.«  Da  lässt  der  Feind  zuerst  die  Tartaren  aus- 
gehen ,  um  zur  Seite  und  von  hinten  anzufallen ,  es  geschahen  »noch 


4)  Der  andre  Adbruck  hat  »in  der  3ten  Escadron  zu  Fuss.« 

28* 


41 2  Jon.  Gust.  Droysen,  [68 

viele  andre  Attaken«  aber  es  war  »von  unsera  Officieren  an  allen  Enden« 
so  gnte  Ordnung,  dass  der  Feind  nichts  als  Schläge  erbeutete.  Als  dann 
die  Armee  in  vollkommener  Schlachtordnung  stand  —  der  König  links, 
der  Churftirst  rechts  nach  dem  Walde  zu,  die  Infanterie  in  der  Mitte  — 
so  fing  man  um  4  oder  ö  Uhr  Nachmittag  an  recht  gegen  den  Feind  zu 
marschiren,  um  denselben  zum  Haupttreffen  zu  zwingen.  Die  Tartaren 
werden  von  hinten  durch  Gen.  Hörn  »tapfer  abgewehrt.«  Die  Polen 
weichen  »von  vorn,  von  einem  Platz  zum  andern,«  »wir  folgen  Schritt 
vor  Schritt  tödtend  was  nicht  entlaufen  kann«  und  kommen  so  »geschlos- 
sen bleibend«  endlich  vor  das  »letzte  Dorf  nach  Warschau,«  wo  sich  die 
Polen  endlich  entschliessen  aus  ihrem  Vortheil  zu  kommen. 

Also  um  4  bis  5  Uhr  beginnt  die  Hauptaction  nach  diesem  Bericht ; 
nach  Ret.  IV.  und  dem  schwedischen  Bericht  im  Theat.  Eur.  ed.  1  um 
3  Uhr. 

Die  Generalaction  am  Nachmittag  des  29.  Juli. 

Mit  der  schwedisch -brandenburgischen  Armee  zugleich  hat  die 
polnische  ihre  Aufstellung  vollendet.  Sie  hat  sich  ganz  nach  der  Dünen- 
reihe  gezogen ,  diese  mit  Kanonen  besetzt.  Der  südliche  Theil  dieses 
Höhenzuges,  das  Holz  von  Praga  ist  an  seinem  Fuss  mit  Retranchements 
gedeckt.  Auf  den  Höhen  und  hinter  denselben  steht  das  Fussvolk,  we- 
nige Escadronen  bleiben  bei  ihnen ,  der  bei  weitem  grösste  Theil  Husa- 
ren, Quartianer,  Pospolite  Rusczenie,  Tartaren  schicken  sich  zu  einem 
gleichzeitigen  Angriff  gegen  alle  Punkte  der  feindlichen  Linie  an ,  wäh- 
rend die  Alliirten  im  Avanciren  sind ,  der  König  »bis  an  ein  Wäldchen« 
in  der  Richtung  auf  das  Holz  von  Praga  gekommen  ist. 

»Sie  stürzten  sich,  sagt  der  Bericht  bei  Aitzema,  aus  ihren  Vortei- 
len auf  das  Blutfeld ,  und  zwar  mit  so  erschrecklich  grosser  Fronte  und 
so  barbarischem  Geschrei ,  dass  es  grauenhaft  war  zu  sehen  und  zu  hö- 
ren; wir  sahen  uns  von  so  entsetzlichen  Massen  von  allen  Seiten  auf 
einmal  umzingelt,  dass  es  unmöglich  schien  einen  guten  Erfolg  für  uns 
zu  hoffen.« 

Unsre  Quellen  zählen  folgende  gleichzeitige  Angriffe  auf: 

1)  Den  der  Husaren  »nebst  5000  Pferden«  sagt  Rel.  I.  §  41,  »der 
Husaren  welche  noch  drei  Treffen  hinter  sich  hatten ,«  des  Churftirsten 
eigenhändiger  Bericht ;  sie  stürzen  sich  »mit  ihren  Gopien«  auf  des  Kö- 
nigs Flügel ;  sie  stossen  nach  Dahlbergs  Zeichnung  auf  die  Escadronen 


69]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1 656.  44  3 

Upland  und  Smaland  und  durchbrechen  sie :  »sie  sind  aber  von  dem  an- 
dern Treffen  und  von  den  Seiten  dergestalt  empfangen  worden,  dass 
ihrer  wenige  durchgekommen,  die  aber  welche  ihnen  gefolgt,  zurückge- 
worfen sind.«  Denselben  Angriff  berichtet  Aitzema :  er  sei  auf  des  Kö- 
nigs Regiment  Garde  zu  Fuss  gerichtet  gewesen,  das  vier  Stücke,  die 
mit  Musketkugeln  gefeuert,  wie  eine  Brustwehr  vor  sich  gehabt  habe. 
Nach  Bericht  III.  war  es  das  Feuer  der  königlichen  Leibgarde  zu  Fuss, 
das  den  Feind  zum  Weichen  zwang.  Es  war  keine  Garde  des  Königs  zu 
Fuss  in  der  Schlachtlinie ,  aber  des  Königs  und  der  Königin  Garde  zu 
Pferde  stand  nach  Dahlbergs  Zeichnung  zunächst  links  neben  den  wei- 
chenden Escadronen.  Aitzema  fügt  hinzu ,  dass  bei  diesem  Gefecht  der 
König  mit  einer  Lanze  unter  dem  linken  Arm  durch  die  Kleidung  gesto- 
chen sei. 

Dahlberg  bemerkt  in  den  Erläuterungen,  der  Feind  habe  sich  in  der 
Meinung,  dass  der  Churfürst  den  linken  Flügel  habe,  diesen  zum  Angriff 
ersehen.  Auch  die  Rel.  I.  II.  geben  an,  dass  es  nur  ein  Theil  der  hier 
Zurückgeworfenen  gewesen  sei,  der  sich  dann  gegen  den  churftlrstlichen 
Flügel  gewandt  habe  und  dann  auch  dort  abgewiesen  sei. 

2)  Des  C  hur  forsten  eigener  Bericht  sagt:  »die  Quartianer  trafen 
(»stracks  darauf,«  fügt  er  am  Rande  bei)  auch  auf  den  rechten  Flügel,  thä- 
ten  aber  schlechten  Effekt,  indem  sie  auf  30  Schritt  ihr  Gewehr  lösten 
und  dann  zurückgingen.«  Nach  dem  Bericht  bei  Aitzema  waren  es  Tar- 
taren, Quartianer  und  Adel  (Pospolite  Rusczenie),  die  hier  angriffen,  aber 
dann ,  nachdem  gegenseitig  »pesle  mesle  met  een  groote  opiniastreteyt« 
gefochten  war,  von  dem  Chorfürsten,  Wrangel,  Frd.  Waldeck  und  Kan- 
nenberg zurückgeworfen  wurden ;  »bei  dieser  Gelegenheit  war  des  Chur- 
fürsten  Person  in  grosser  Gefahr.« 

3)  Ein  andrer  Angriff  traf  das  Centrum  der  Schlachtlinie,  die  In- 
fanterie ;  von  Sparr,  Bülow  und  Jonas  Waldeck  wurden  die  Polen  mit 
Kanonen  so  empfangen,  »dass  sie  auch  das  Basenpanier  aufwarfen» 
(Rel.  HL). 

Aitzema  nennt  hier  im  Gentrum  auch  G.-M.  Goltz,  der  nach  Mem- 
merts  Zeichnung  auf  dem  äussersten  rechten  Flügel  mit  3  Brigaden 
stand.  Sollte  Goltz  mit  seinen  3  Brigaden  nach  dem  Gentram  abmar- 
schirt  sein ,  um  den  Flügel  für  alle  Fälle  beweglicher  und  die  Mitte  desto 
stärker  zu  machen  ?  Jena  schreibt :  »ich  habe  am  Sonnabend  gesehen, 
dass  als  die  Husaren  auf  das  anhaltische  Regiment  treffen  wollten ,  sie 


444  Jon.  Gust.  Droysen,  [70 

vorher  von  E.  Chi.  D.  Garde  zu  Fuss  mit  einer  stattlichen  Musquetade  em- 
pfangen worden,  davon  schweigt  die  Relation  (I.)  auch.«  Allerdings  gab 
es  in  der  schwedischen  Armee  ein  Reiterregiment  des  Fürsten  Johann 
Georg  von  Anhalt ;  Dahlberg  verzeichnet  es  unter  der  Besatzung  des 
Lagers  von  Nowodwor;  aber  weder  den  Fürsten  führt  er  in  den  na- 
mentlich aufgeführten  Personen  der  königlichen  Suite  (Blatt  40),  noch 
sein  Regiment  in  der  Schlachtordnung  (Blatt  41)  auf.  Man  wird  doch 
wohl  annehmen  dürfen,  dass  das,  was  Jena  sah,  in  seiner  Nähe  vor  sich 
ging,  und  dass  er  als  Nichtcombattant  sich  da  aufhielt,  wo  der  Churfürst 
sein  Gefolge  von  Räthen,  Eriegscommissarien  u.  s.  w.  halten  liess,  d.  h. 
hinter  dem  für  jetzt  am  wenigsten  exponirten  rechten  Flügel.  Also  da 
in  der  Nähe  wird  die  Leibgarde  gestanden  haben,  und  ihm  mag  eine  der 
schwedischen  Escadronen  auf  des  Churfürsten  Flügel  als  das  Regiment 
Anhalt  erschienen,  es  mag  allenfalls  mit  dem  Regiment  Westgothen,  das 
2  Escadronen  bildete,  combinirt  gewesen  sein. 

4)  Einen  vierten  gleichzeitigen  Angriff  machen  die  Tartaren,  indem 
sie  das  Dorf  (Brudno)  umgehen;  sie  kommen  bis  an  die  Bagage  (Rel.  III.) f 
der  König  lässt  4  Schwadronen  unter  Führung  seines  Bruders  gegen  sie 
gehn,  der  sie,  wie  Rel.  I.  II.  sagen,  in  den  Morast  jagt.  Die  brandenbur- 
gische Bearbeitung  oder  vielmehr  des  Churfürsten  Aendrung  in  dersel- 
ben schreibt  dafür:  »welche  Acht  auf  sie  geben  müssen,  damit  sie  nicht 
von  hinten  einfielen.« 

Mit  einiger  Ausführlichkeit  behandelt  diesen  Angriff  der  Tartaren 
die  Dahlbergische  Erläuterung:  6000  Tartaren,  sagt  er,  brechen  aus 
dem  Walde  (?)  hervor,  versuchen  die  Hinterhuth  (subsidiariutn  miliiem) 
zu  werfen,  da  geht  der  König  bei  dem  Dorfe  Brudno  auf  sie  los  mit  den 
Escadronen  (legionibus)  Leibgarde,  Meklenburg,  Sadowsky  und  der  bran- 
denburgischen Garde  zu  Fuss ;  dann  rem  gessit  ut  multi  cader ent,  mulli 
in  paludes  se  conjicerent,  pauci  vero  saht  redirent.  Bei  diesem  Anlass  hat 
der  König  persönlich  gegen  sieben  Tartaren,  die  mit  eingelegter  Lanze 
auf  ihn  einstürmten ,  gekämpft ,  zwei  erschossen,  des  dritten  Lanze  mit 
dem  Säbel  parirt,  während  Trauenfeld  und  andere  herzueilend  die  an- 
dern vier  niederwarfen.« 

Also  auch  nach  dieser  Angabe  ist  die  churfürstliche  Leibgarde  dem 
Könige  nahe  genug,  um  von  ihm  mit  gegen  Brudno  geführt  zu  werden, 
d  h.  doch  wohl  im  Centrum.  Vielleicht  war  also  der  oben  erwähnte 
Vorfall,  von  dem  Jena  berichtet,  eben  dieser? 


74]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  415 

Dahlbergs  Angabe  erscheint  doch  in  mehr  als  einem  Punkt  bedenk- 
lich. Er  selbst  hat  in  seiner  Aufzählung  der  schwedischen  Escadronen 
die  des  Herzogs  von  Meklenburg  nicht,  die  im  Lager  bei  Nowodwor  von 
ihm  genannt  ist.  In  seiner  Ordre  de  bataille  ist  die  Leibgarde  des  Königs 
im  ersten  Treffen  noch  an  der  Spitze  des  linken  Flügels,  die  3  Escadro- 
nen Sadowsky  stehn  im  dritten  Treffen  ganz  rechts  neben  dem  Centrum ; 
allerdings  nennt  er  unter  den  1 0  Brigaden  des  Centrums  die  churfürst- 
liehe  Garde  zu  Fuss,  aber  sie  steht  nach  ihm  da  im  zweiten  Treffen. 
Wie  hätte  die  Schlachtlinie  in  Auflösung  sein  müssen ,  wenn  der  König 
diese  weit  auseinander  stehenden  Truppentheile  gegen  den  Feind  im 
Rücken  hatte  führen  können.  Endlich  scheint  die  ganze  Geschichte  von 
dem  persönlichen  Kampf  des  Königs  an  dieser  Stelle  mehr  als  zweifel- 
haft, wennschon  in  Drottningholm  ein  stattliches  Gemälde  eben  diesen 
Moment  darstellt.  Allerdings  sagt  Rel.  IV.  »Ich  habe  es  gesehen ,  dass 
S.  Maj.  unter  den  Tartaren  schon  vermischt  war,  so  stunden  auch  S. 
Cf.  D.  einmal  sehr  gefährlich  darunter,«  aber  sie  sagt  nicht,  dass  es 
in  diesem  Moment  der  Schlacht  war.  Die  durchaus  schwedisch  ge- 
haltene Rel.  I.  IL  sagt  (§  58),  »während  der  dreitägigen  Schlacht  sei  so- 
wohl der  König  als  der  ChurfUrst  in  grosser  Gefahr  gewesen,  denn  sie 
in  eigner  Person  sehr  grossmüthig  gefochten,  so  dass  S.  Cf.  D.  einmal 
gar  von  den  Tartaren  umringt  gewesen,  dass  man  eine  gute  Weile  nicht 
gewusst,  wo  sie  hingekommen.«  Also  vom  Churftirsten,  nicht  vom  Kö- 
nige wird  da  gesagt,  dass  er  in  Mitten  der  Tartaren  gewesen  sei.  Die- 
selbe schwedische  Relation  I.  II.  giebt  an,  dass  der  König  nicht  selbst 
gegen  die  Tartaren  in  seinem  Rücken  gegangen  sei,  sondern  seinen  Bru- 
der gesandt  habe ;  der  König  hatte  vollauf  zu  thun,  den  durchbrechen- 
den Husaren  zu  begegnen.  Kurz  diese  ganze  Scene  dürfte  sich  als  eine 
nachträgliche  Ausschmückung  erweisen,  und  dass  auch  Pufendorff  C.  G. 
III.  §  26  sie  erzählt,  würde  nichts  dagegen  beweisen.  Weder  Scheffer 
noch  Loccenius  haben  diese  Tartarengeschichte. 

Aber  Scheffer  erzählt  eine  andere  Geschichte  (XV.  4) ,  die  den  er- 
wähnten Lanzenstich  des  Husaren,  der  dem  Könige  unter  dem  linken 
Arm  durchging ,  weiter  ausmahlt ;  es  hätten  sich  drei  edle  Polen  ver- 
schworen ,  den  König  in  der  Schlacht  zu  tödten ,  so  sei  nun  der  eine 
in  voller  Heftigkeit  auf  ihn  losgestürmt  u.  s.  w.  Ungefähr  dieselbe  Ge- 
schichte erzählt  Kochowsky  p.  453,  er  nennt  den  tapferen  Husaren 
Jacob   Kowalowsky.     Der  König  selbst  habe  über  den  jungen  Hei- 


416  Joh.  Gust.  Droysen,  [72 

den ,  den  er  auf  den  Tod  getroffen ,  Worte  höchster  Bewunderung  ge- 
sprochen. 

Doch  zurück  zu  dem  Verlauf  der  Schlacht. 

Dahlberg  erwähnt  noch  eines  zweiten  späteren  Tartarenangrifis ; 
10,000  Tartaren  nicht  weit  vom  Wald  von  Praga  hervorbrechend  stür- 
zen sich  auf  den  Flügel  des  Königs ,  der  mit  einigen  Escadronen  (cum 
cohortibus  quibusdam)  sie  empfängt  und  mit  grossem  Verlust  zurück- 
weist. Mag  jener  erste  Angriff,  der  nach  Brudno  kam,  durch  eine  Um- 
gehung eingeleitet  sein,  die  von  den  3  schwedischen  Brigaden  des  lin- 
ken Flügels  zu  fern  war ,  um  von  ihnen  abgewehrt  zu  werden ,  dieser 
zweite  Angriff  gegen  den  Flügel  des  Königs  selbst  musste  diese,  welche 
Front  nach  links  standen,  treffen.  Wenigstens  braucht  Dahlberg  den 
Ausdruck  cohortes  bisweilen  auch  vom  Fussvolk  (hostium  peditatus  in 
cohortes  divisus). 

Mit  dem  anbrechenden  Abend  (Aitzema)  sind  diese  Angriffe  alle 
abgeschlagen.  Der  König,  sagt  Rel.  I.  II.,  findet  es  nöthig  die  Regimen- 
ter »in  vorige  Ordre  und  Platz  wieder  zu  bringen«  um  den  Sturm  auf 
den  Wald  von  Praga  zu  unternehmen.  »So  hat  man  avancirt,  aber  zu 
dem  Berge  nicht  mehr  gelangen  können,  bis  es  ganz  finster  geworden.« 

Die  Itycht  vom  29.  auf  den  30.  Juli. 

»Unsre  hohen  Häupter  beschlossen  Nachts  auf  dem  Felde  zu  blei- 
ben bis  an  die  Morgenstunde ,  obschon  unter  des  Feindes  Kanonen,  um 
ihn  dann  in  seinem  Lager  zu  forciren.«  Einige  brandenburgische  Schwa- 
dronen, die  zu  weit  vorgegangen,  wurden  zurückgezogen ,  bei  dieser 
rückgängigen  Bewegung  der  G.-M.  Kannenberg  durch  einen  Falconet- 
schuss  verwundet  (Aitzema). 

In  den  Dispositionen  für  die  Nacht  ist  ein  Wäldchen  von  Bedeu- 
tung, das  sich  links  vom  Flügel  des  Königs  befand.  In  des  Churfürsten 
eigenhändigem  Bericht  ist  es  schon  früher  erwähnt ;  jetzt  sagt  er  »es  ward 
vom  Könige  mit  etlichen  hundert  Musketiren  besetzt,  welche  sich  darin 
verhauen  sollten.«  Der  König,  sagen  Rel.  I.  IL,  hat  sich,  da  es  ganz  finster 
war,  zurückgezogen,  seine  Cavallerie  bei  einem  Walde  zur  Seite  des 
Dorfes  gesetzt,  nebst  den  3  Escadronen  zu  Fuss,  die  Infanterie  aber  ist 
vor  dem  Dorf  —  »vor  einem  Dorf  welches  man  zur  Linken  gehabt,«  sagt 
die  brandenb.  Bearbeitung  —  die  churfUrstl.  Armee  auf  dem  Platz  stille 
stehend  geblieben.« 


73]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  417 

Auf  den  neueren  Karten  ist  dieser  Wald  nicht  mehr  zu  finden.  Ver- 
suchen wir  seine  Lage  zu  bestimmen. 

Die  Bewegung  des  Königs  war  gegen  das  Holz  von  Praga  d.  h.  von 
Brudno  an  halblinks  gerichtet,  Rel.  I.  44;  vor  diesem  also  muss  »das 
Wäldchen«  liegen.  Auf  Dahlbergs  Zeichnung  ist  es  wohl  zu  erkennen ; 
sie  giebt  den  Namen  des  Porfes  Targoweck  nicht ,  sie  zeigt  nur  weiter 
südwärts  in  dem  Defilä  zwischen  dem  Holz  von  Praga  und  dem  todten 
Weichselarm  das  Dorf  Kamin,  das  nicht  mehr  existirt.  Aber  sie  zeichnet 
ein  Paar  Häuser  nahe  an  einem  Wege,  der  von  Brudno  in  das  Holz  von 
Praga  hinaufführt ;  in  einiger  Entfernung  von  diesen  Häusern,  dem  Holz 
zu,  kommt  ein  zweiter  Weg  von  links  her  und  vereinigt  sich  mit  jenem 
noch  vor  dem  Holz ;  in  dem  Abschnitt  zwischen  beiden  Wegen,  links  bei 
den  Häusern  liegt  das  Wäldchen '. 

Also  diess  Wäldchen  wurde  besetzt  und  mit  Verhauen  gesichert ; 
es  war  der  Stutzpunkt  der  linken  Flanke,  die  allerdings  dem  Feinde  am 
nächsten  war,  kaum  500  Schritt  von  den  Kanonen  des  Prager  Holzes. 
Die  Brigaden  des  Gentrums  lagerten  so,  dass  ihnen  das  Dorf  links  blieb. 

Dahlberg  giebt  an,  dass  das  ganze  Heer  in  einem  Dreieck  gelagert 
habe;  er  zeichnet  es  so,  dass  dessen  breite  Seite  von  Brudno  südwärts 
sich  hinzieht  (also  wohl  an  den  Sumpfwiesen  entlang,  die  einige  Deckung 
boten",  während  die  linke  Seite  des  Dreiecks  gegen  das  Wäldchen,  die 
rechte  gegen  den  schon  entfernten  Schanzhttgel  gerichtet  ist. 

Des  Churfilrsten  eigenhändiger  Bericht  sagt :  »wir  blieben  in  einem 
Dorf,  das  die  Tartaren  in  Brand  gesteckt  hatten,  die  Nacht  über  stehen,« 
also  wohl  in  Brudno.  Er  fügt  hinzu ,  dass  »über  Nacht  unterschiedliche 
Allarmen  vom  Feind  gemacht  wurden« 2. 

Der  Feind  muss  sehr  entmuthigt  gewesen  sein,  dass  er  diese  mehr 
als  tollkühne  Aufstellung  nicht  zu  einem  ernstlichen  Ueberfall  benutzte. 
Im  Lauf  des  letzten  Tages  hatte  er  sich  schon  einmal  —  wohl  als  die 
Husaren  den  schwedischen  Flügel  durchbrachen  —  des  Sieges  so  gewiss 
geglaubt,  dass  der  König  seiner  Gemahlin  Botschaft  sandte,  die  Schlacht 
sei  gewonnen  (Aitzema).    Dass  nach  dem  Scheitern  dieses  grossen  An- 


4)  Herr  Dr.  Krasnosielski  hat  in  Targoweck  erfahren,  dass  an  der  bezeichneten 
Stelie  früher  ein  Gehölz  gestanden  habe. 

2)  Thulden  p.  280  sagt,  neutris  adhuc  victoriam  Mars  annuebat:  nisi  quod  per 
noctem  Tartari  tumultuosius  pro  Sarmatis  agerent  et  Suedorum  stationibus  haud  parum 
incommodarent 


418  Joh.  Gust.  Dboysen,  [74 

griffe  die  Entmuthigung  um  so  grösser  war,  sagt  Rudausky  ausdrück- 
lich. Jetzt  zur  Nacht  hatten  sie  sich  hinter  die  Dünen  und  das  Holz 
von  Praga  zurückgezogen ,  indem  sie  diese  nur  mit  ihrer  Vorijuth  be- 
setzt hielten. 

Die  Entscheidung  am  Sonntag  80.  Juli. 

Die  Gefechte  des  dritten  Tages  werden  fast  mehr  noch  als  die  der 
beiden  früheren  von  den  verschiedenen  Berichten  verschieden  darge- 
stellt, je  nachdem  der  Berichterstatter  dem  oder  jenem  Flügel  naher  ge- 
standen. 

Am  weitesten  von  der  Wahrheit  dürfte  sich  die  Zeichnung  Mem- 
merts  entfernen,  der  auf  seinem  dritten  Blatt  ein  völlig  unmögliches  Bild 
der  Aufstellung  giebt. 

Aber  auch  Dahlbergs  vortreffliche  Zeichnung  giebt  sehr  unglaubliche 
Dinge.  Er  lässt,  während  das  Heer  sich  zu  neuem  Kampf  ordnet,  schwe- 
dische Escadronen  sub  castris  et  munilionibus  hostium  scharmuziren,  und 
zwar  gegen  den  Schanzhügel  und  die  nächsten  Dünenhöhen,  also  ganz 
auf  dem  linken  Flügel  des  Feindes,  dem  unfehlbar  die  brandenburgische 
Reiterei  naher  war.  Mehr  noch  tritt  im  Weiteren  sein  Bemühen  hervor, 
die  Ehre  des  Tages  den  schwedischen  Waffen  allein  zuzuwenden. 

Die  Aufstellung  am  frühen  Morgen  ist  im  Wesentlichen  die  des  vo- 
rigen Tages  —  nisi  quod  nonnihil  peditum  in  ulroque  cornu  disponeretur 
sagt  Dahlberg,  nachdem  er  irrig  am  Tage  vorher  alle  Infanterie  im  Cen- 
trum vereinigt  gezeichnet  hat. 

Die  entscheidende  Position  ist  das  Holz  von  Praga  mit  seinen  Re- 
tranchements.  Sowohl  die  Rel.  I.  II.  u.  s.  w.  wie  namentlich  der  Be- 
rieht  bei  Aitzema  hebt  dessen  Bedeutung  völlig  sachgemäss  hervor. 

Dieser  Bericht  charakterisirt  die  Aufstellung  des  Feindes  so :  »die 
Tartaren  und  ein  Theil  der  Polen  standen  in  dem  Feld,  das  von  dem 
Holz  von  Praga  rechts  ablief  —  also  sie  hatten  das  Defite  von  Kamin 
besetzt ;  ein  zweiter  Theil  der  Polen  stand  in  dem  Holz  selbst,  wohl 
verschanzt;  der  dritte  Theil  besonders  die  Infanterie  hinter  dem  Holz 
auf  Höhen  (op  een  gheberghte)  in  einigen  Forts,  die  mit  Kanonen  wohl 
versehen  waren.«  Nach  diesen  drei  Positionen  des  Feindes  stellt  der 
Bericht  die  drei  Momente  der  Schlacht  dar,  zuerst  des  Königs  »furieusen 
Anfall«  gegen  die  Tartaren,  die  sofort  Reissaus  nehmen,  dann  Sparrs 
Erstürmung  des  Holzes,    endlich  des  ChurfUrsten  Vorgehen  über  die 


7&]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  419 

Dünen  gegen  die  Schanzen  hinter  dem  Holz.  Der  sonst  sehr  vortreffliche 
Bericht  hat  einem  gewissen  Schematismus  zu  Liebe  die  Beziehung  der 
einzelnen  Momente  zu  einander  verabsäumt. 

Sachlich  stimmt  mit  demselben  auch  hier  Rel.  III.,  aber  sie  ist  min- 
der schematisch  und  im  Einzelnen  genauer.  Sie  beschreibt  die  Haupt- 
stellung des  Feindes  genau :  er  sei  in  jenem  Holz  von  Praga  verschanzt 
gewesen,  es  habe  ein  Regiment  zu  Fuss,  etliche  hundert  Dragoner,  auch 
einige  Reiterei  darin  gelegen,  seine  meiste  Cavallerie  und  6  Regimenter 
Infanterie  hätten  hinter  dem  Wald  auf  einem  Berg  gestanden,  auf  dem 
auch  Kanonen  aufgepflanzt  gewesen  seien,  die  Tartaren  aber  und  einige 
Polen  hätten  auf  einem  Felde,  das  neben  dem  Holze  lag,  in  Bataille  ge- 
standen. Diess  habe  den  König  veranlasst  mit  dem  meisten  Theil  seiner 
Cavallerie  und  Infanterie  auf  die  Tartaren  loszugehen ,  indessen  Sparr 
auf  das  Holz  avancirt  sei. 

Nach  Rel.  I.  II.  u.  s.  w.  beschliesst  der  König  zwischen  dem  Wäld- 
chen und  dem  Holz  von  Praga  zu  avanciren,  die  Infanterie  in  die  Avant- 
garde zu  nehmen,  um  mit  ihr,  der  Artillerie  und  5  schwedischen  Esca- 
dronen  zu  Pferd  das  Holz  zu  stürmen.  Während  Sparr,  der  damit  be- 
auftragt wird,  seinen  Angriff  auf  das  Holz  mit  einer  Kanonade  eröffnet, 
zieht  der  Feind  seine  ganze  Infanterie  nach  dem  Wald  (in  der  brand. 
Bearbeitung  steht  »aus  dem  Wald«)  und  geht  mit  seiner  ganzen  Caval- 
lerie vor,  sowohl  dem  Könige  wie  dem  Churfürsten  in  die  Flanke  zu 
kommen,  »derowegen  S.  K.  M.  so  wohl  als  S.  Cf.  D.  Cavallerie  unter- 
schiedliche Fronten  nach  Situation  des  Ortes ,  um  des  Feindes  Einbre- 
chen zu  hindern,  formiret,  dass  also  an  allen  vier  Ecken  Fronte  ist  for- 
mirt  worden«  (§  47). 

Also  keineswegs  stürmt  der  König,  wie  der  Bericht  bei  Aitzema 
sagt ,  sofort  auf  die  Tartaren  los,  sondern  alles  wird  vorerst  darauf  ge- 
wandt, dass  der  Angriff  gegen  das  Holz  sicher  von  Statten  gehen  kann. 

Auch  der  schwedische  Bericht  (Rel.  I.  II.)  sagt,  dass  der  Feldzeug- 
meister Sparr  den  Auftrag  »mit  sonderbarer  Dexterität  und  guter  dispo- 
sition  verrichtet  habe.«  »Nachdem  Sparr  den  Wald  eine  Weile  canonirt,« 
fährt  er  fort,  »ist  er  mit  der  Infanterie  und  500  commandirten  Musketie- 
ren in  den  Wald  hinein  avancirt  neben  den  5  Schwadronen  Reiter,«  den 
schwedischen.  Dass  diese  Angaben  irrig  sind  bemerkt  der  mehr  erwähnte 
Brief  Jenas :  Sparr  habe  nur  brandenburgisohes  Fussvolk,  brandenbur- 


420  Jon.  Gist.  Droysbn,  [76 

gische  Artillerie  bei  sich  gehabt,  und  sein  eignes  Regiment  unter  Oberstl. 
Moll  habe  den  ersten  Angriff  gemacht. 

Noch  eingehender  berichtet  Aitzema  und  Rel.  III. :  »Sparr  liess  mit 
den  schwedischen  und  unsern  Stücken  mit  grosser  Furie  in  den  Wald 
spielen,  der  Feind  schoss  mit  Stücken  und  Musqueten  wieder  tapfer 
heraus;  diess  wahrte  etwa  eine  Stunde,« bis  endlich  G.-Bf.  Josias  Waldeck 
beauftragt  wird,  500  Commandirte  unter  Oberst  Syburg  in  den  Wald 
zu  schicken,  den  Feind  zu  attaquiren;  so  wie  dieser  im  Wald  ist  (too 
haest  de  selve  den  vyandt  soude  hebben  geengageert  tot  vechten),  rückt 
Waldeck  mit  einer  andern  Escadron  hinein  an  einen  Ort  des  Waldes,  wo 
der  Feind  zwei  Stücke  stehn  hat;  der  Feind  thut  zwar  zwei  Salven,  aber 
ohne  Erfolg ;  dann  weicht  er  aus  seiner  Position ;  auch  die  Reiterei ,  auf 
die  man  trifft,  macht  Kehrt. 

Der  Berichterstatter  der  Rel.  III.  scheint  sich  bei  diesen  Truppen 
befunden  zu  haben ,  wenigstens  berichtet  er  so  weiter ,  als  ob  mit  der 
Fortsetzung  dieses  Angriffes  alles  zu  Ende  gebracht  sei.  »Wir  verfolgten 
(jene  Reiter)  bis  auf  den  Berg,  wo  G.-M.  Waldeck  2000  M.  zuFuss  nebst 
einiger  Cavallerie  und  Kanonen  fand,  wovon  derselbe  den  G.  Sparr  aver- 
tirte ,  der  sofort  mit  etlichen  Esquadronen  zu  Fuss  und  etlichen  Stücken 
zu  ihm  kam  und  den  Feind  sobald  in  die  Flucht  brachte ,  auch  sie  her- 
nach nur  mit  500  Commandirten  und  200  Reitern  bis  in  die  Schanze 
vor  Warschau  verfolget«  u.  s.  w. 

Der  eigenhändige  Bericht  des  Churfürsten  giebt  einige  lehrreiche 
Bemerkungen  mehr.  Wie  Sparr  den  Befehl  erhält  das  Holz  zu  nehmen, 
geht  er  mit  1000  commandirten  Musketieren  und  den  Stücken  auf  den 
Feind,  lässt  die  übrige  Infanterie  folgen ;  aber  er  muss  den  Feinden  die 
Seite  geben ,  »und  geht  um  sie  herum,«  wobei  er  dann  Feuer  von  Mus- 
keten und  Stücken  erhält.  Es  ist  nicht  gesagt,  ob  er  dem  Feind  die 
rechte  oder  linke  Seite  geben  muss ;  nach  Dahlbergs  Zeichnung  mttsste 
man  glauben,  dass  sich  Sparr  die  Höhe  hinauf,  rechts  gezogen,  dem 
Feind  die  linke  Seite  geboten  habe ;  aber  ist  das  denkbar ,  da  in  diesem 
Moment  noch  der  Feind  unversehrt  hinter  den  Höhen  stand ,  Sparr  also 
den  Feind  vor  sich  und  in  der  Seite  gehabt  hätte?  konnte  Sparr  anders 
als  links  hin  an  der  langen  Seite  des  Holzes  marschiren ,  wo  er  in  dem 
vorgeschobenen  königlichen  Flügel  Deckung  gegen  einen  Angriff  von 
vorn  hatte? 

Der  Hauptstoss  Sparrs,  den  Waldeck  führte,  ging,  nachdem  er  sich 


77]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  421 

längs  dem  Holz  hingezogen ,  in  der  Richtung  auf  Warschau ;  verfolgend 
kommt  Waldeck  gegen  eine  Höhe ,  auf  der  auch  Kanonen  stehen ,  wohl 
eines  der  Forts,  von  denen  Aitzema  berichtet.  Die  neueren  Karten  zeigen 
auf  diesem  hinteren  Höhenzug  Reste  eines  Schanzwerks,  die,  wenn  es 
auch  aus  neuerer  Zeit  stammen  sollte,  doch  die  Stelle  bezeichnen,  die 
militairisch  wichtig  ist. 

Mit  der  Erstürmung  des  Holzes  von  Praga  ist  die  Kraft  des  Feindes 
gebrochen1.  Sofort  gehen  die  beiden  Flügel  vor,  die  Niederlage  zu 
vollenden. 

Begleiten  wir  zunächst  den  Flügel  des  Churfilrsten.  In  Relat.  I.  IL 
heisst  es :  wie  die  feindlichen  Musketiere  den  Wald  verlassen ,  sei  der 
Churfilrst  in  eigner  Person  mit  sechs  Escadronen  auf  den  Berg  avancirt, 
oder  wie  die  brandenburgische  Bearbeitung  sagt :  »sofort  auf  der  rechten 
Seite  auf  dem  Fuss  gefolgt  und  auf  den  Berg  zu  avancirt.«  Genauer 
noch  sagt  des  Churfilrsten  eigener  Bericht :  er  sei  auf  den  hohen  Sand- 
berg hinaufgegangen. 

An  der  weiteren  Darstellung  der  Relat.  I.  II.  findet  die  branden- 
burgische Bearbeitung  vieles  zu  bessern.  Die  Relat.  I.  II.  sagen,  der 
Churfilrst  habe  die  auf  dem  Berg  befindliche  Reiterei  hinunter  gejagt, 
diese  sei  dann  links  hin  nach  dem  Morast  geflüchtet ,  wo  vorigen  Tages 
die  Tartaren  sich  hinbegeben  (also  wohl  nach  Bialalenka),  aber  von 
Wrangel  und  Friedrich  Waldeck  verfolgt  und  in  den  Morast  gejagt  wor- 
den, wo  sie  meist  elend  umgekommen.  Diess  alles  streicht  die  branden- 
burgische Bearbeitung,  obschon  auch  Memmerts  Zeichnung  diese  Flucht 
in  der  angegebenen  Richtung  darzustellen  versucht. 

Noch  weniger  billigt  die  Bearbeitung  die  weiteren  Angaben  der 
Rel.  I.  IL,  dass  der  Churfilrst  sich  resolvirt  habe,  nachdem  die  feindliche 
Infanterie  ihre  Stücke  verlassen,  auf  sie  loszugeben ;  weil  sie  aber  gleich 
zu  accordiren  begehrt,  habe  der  Churfilrst  sie  nicht  water  verfolgt,  aber 
wahrend  des  Unterhandelns  habe  sich  die  Infanterie  nach  der  Schiff- 
brücke retirirt,  und  sie  hinter  sich  ruinirt. 

Jena  hat  in  dem  mehrerwähnten  Briefe  auch  auf  diese  Stelle  auf- 
merksam gemacht;  »ich  habe  dazumal  gehört,  was  zwischen  E.  Cf.  D. 


I)  Auch  der  polnische  Florus  p.  602  schreibt,  Sparr  habe  mit  der  Erstürmung 
des  Holzes  von  Praga  »  in  Summa  bei  dieser  Action  fast  das  rechte  Hauptstuck  der 
Victoria  verrichtet.« 


422  Job.  Gust.  Droysek,  [78 

und  des  Königs  Bruder  (dem  Generalissimus)  geredet  ward  und  dass, 
wenn  es  von  diesem  nicht  divertirt  worden  wäre  ,  das  Fussvolk  wohl 
E.  Cf.  D.  gewesen  wäre  und  nicht  über  die  Brücke  hätte  kommen  kön- 
nen.« So  corrigirt  denn  auch  die  brandenburgische  Bearbeitung,  »der 
ChurfUrst  habe  resolvirt  auf  das  Fussvolk  loszugehen,«  wie  auch  wohl 
geschehen  und  vielleicht  nicht  das  geringste  von  demselben  entkommen 
wäre,  es  sind  aber  S.  Gf.  D.  durch  des  Königs  Bruder  davon  divertirt 
worden ,  so  dass  die  Infanterie  dadurch  Zeit  gewonnen ,  mit  den  Feld- 
stücken sich  davon  zu  machen  und  über  eine  Brücke,  die  sie  daselbst 
gefunden  und  welche  sie  hinter  sich  ruinirt,  sich  zum  Theil  zu  salviren. 
Den  Schluss  corrigirt  der  ChurfUrst  selbst  so :  »Zeit  gewonnen ,  über 
einen  Morast ,  da  sie  nicht  wohl  verfolgt  werden  können ,  sich  zu  sal- 
viren, bei  welcher  reürade  ihrer  eine  grosse  Menge  geblieben  und  sammt 
den  Pferden  im  Morast  umgekommen.« 

Nur  im  Detail  ist  des  ChurfUrsten  eigenhändige  Darstellung  ab- 
weichend. Er  sagt :  wie  er  auf  den  Sandberg  hinaufgekommen ,  habe 
eine  grosse  Menge  Volks  dahinter  gestanden ;  wie  diese  gesehen ,  dass 
Reiterei  und  Stücke,  auch  Fussvolk  auf  den  von  ihnen  verlassenen 
Bergen  gestanden ,  habe  die  Reiterei  Reissaus  genommen ,  das  Fussvolk 
aber  begonnen  in  einen  Ring  durch  einander  zu  gehen ;  es  sei  mit  den 
Stücken  auf  sie  gespielt ,  gegen  sie  avancirt  worden ,  aber  eine  hohe 
Generalsperson  sei  gekommen,  habe  zu  zweien  Malen  für  gewiss  be- 
richtet ,  dass  die  Infanterie  die  Hüthe  aufgesteckt  und  um  Quartier  ge- 
beten habe ;  man  möge  sie  nicht  zur  desperation  treiben.  Indessen  hätte 
sich  diess  Volk  über  einen  Morast  gezogen ,  sei  von  da  der  Brücke  zu- 
geeilt  und  über  dieselbe  gegangen. 

Der  ChurfUrst  schliesst :  »Sparr  verfolgte  sie ,  nahm  dem  Feind  die 
vor  der  Brücke  gemachte  Schanze ,  während  drüben  von  Warschau  und 
von  einer  Schanze  jenseits  der  Brücke  aus  canonirt  wurde.«  Dem  ent- 
spricht Relat.  III.,  wo  hinzugefügt,  dass  der  Feind  die  Brücke  in  Brand 
gesteckt  habe.  Also  während  der  ChurfUrst  vor  dem  Sumpf,  der  hinter 
der  Dünenreihe  liegt,  aufgehalten  wurde,  hatte  Sparr  das  höhere  Terrain, 
das  vor  dem  Südende  des  Sumpfes  liegt,  vor  sich  und  konnte  ungehin- 
dert bis  an  die  Brückenschanze  nachfolgen. 

Die  Vorgänge  auf  dem  linken  Flügel ,  dem  des  Königs ,  bezeichnet 
der  eigenhändige  Bericht  des  ChurfUrsten  in  folgender  Weise:  »Der 
König  setzte  die  ganze  Reiterei  in  zwei  Treffen ,  das  erste  blieb  wie  es 


79]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1 656.  423 

gestanden,  das  andere  wandte  sich  mit  der  Fronte  um  gegen  die  lithaui- 
sehe  und  tartarische  Armee,  welche  dem  Bericht  nach  uns  in  den  Rücken 
gehen  wollten.«  Das  bezeichnet  doch  wohl  die  Aufstellung  während  des 
Angriffes  auf  das  Holz  von  Praga;  »nach  erhaltener  Victoria  ist  der 
König  dem  Feind  auf  eine  Meile  weit  von  der  Wahlstatt  nachgefolgt.« 

Nicht  viel  bedeutender  erscheint  die  Action  des  Königs  nach  der 
Relat.  I.  II.  »Nachdem  des  Feindes  linker  Flügel  und  Infanterie  sich 
retirirt  hat,«  ist  auch  der  rechte  Flügel  schon  zur  Flucht  bereit  und  macht 
sich  frühzeitig,  grösstenteils  zwischen  Praga  und  dem  nicht  weit  davon 
liegenden  Wald  \  in  voller  Gonfusion  davon.  Zwar  hat  der  polnische 
König  die  Hailotten  mit  Gold  und  Worten  animirt,  sowohl  die  Quartianer 
als  auch  die  Pospolite  Rusczenie  vom  Ausreissen  abzuhalten ,  sie  haben 
es  auch  anfänglich  mit  vielem  Geschrei  zu  thun  versucht,  sind  aber  end- 
lich alle  miteinander  ausgerissen.  Der  König  hat  sie  zwar  verfolgt,  aber 
die  Pferde  und  Menschen ,  »welche  in  der  dreitägigen  Action  nichts  ge- 
gessen haben,«  sind  zu  ermattet  gewesen,  um  noch  weit  nachzusetzen. 

Von  dem  dargestellten  Verlauf  des  Kampfes  am  Sonntag,  der  in  sich 
völlig  klar  und  einfach  ist,  weichen  die  Angaben,  die  Dahlberg  in  den 
Erklärungen  seiner  Zeichnung  giebt,  in  auffallender  Weise  ab. 

Die  Scharmützel  am  frühen  Morgen,  die  von  schwedischen  Schwa- 
dronen gemacht  sein  sollen,  sind  schon  erwähnt. 

Dann  folgt  bei  Dahlberg  richtig  der  Angriff  auf  das  Holz  von  Praga, 
aber  er  sagt ,  Sparr  und  Graf  Jacob  de  la  Gardie  seien  mit  demselben 
beauftragt  worden.  Graf  Jacob  stand  in  dem  Corps ,  das  Steenbock  an 
der  unteren  Weichsel  commandirte:  von  seiner  Anwesenheit  in  der 
Schlacht  von  Warschau  ist  sonst  keine  Spur :  Dahlberg  führt  ihn  nicht 
unter  der  Generalität  auf,  deren  Verzeichniss  er  Blatt  40  giebt.  Er  sagt 
ferner,  der  Angriff  sei  mit  4200  Commandirten  zu  Fuss,  zwei  Brigaden 
Infanterie  und  300  Reitern  sub  Gollo  tribuno  unternommen  worden. 
Unter  den  zahlreichen  finnländischen  Regimentern  giebt  es  eins  unter 
Obrist  Galle,  in  der  Ordre  de  bataille  nennt  Dahlberg  nur  Behrends  Finn- 
länder in  zwei  Schwadronen. 

Darauf  bezeichnet  Dahlberg  das  Vorgehen  gegen  die  Sandberge 


I )  Inier  Pragam  et  Sylvam  ei  Vietnam  Puf.  F.  W. ,  dagegen  tnter  Pragam  et  non 
longe  inde  süam  villam  in  Puf.  C.  G.  wohl  eine  blosse  Veränderung  des  Setzers ;  ihr 
ist  Stuhr  gefolgt. 


424  Jom.  Gi st.  Droysen,  [80 

rechts  vom  Holz  von  Praga :  der  König  habe  den  Obersten  Taube  cum 
cohorte  praetoria  et  aliis  formt*  vorgehen  lassen ,  der  den  Feind  bis  an 
die  Weichsel  zurückgetrieben  habe.  Dass  der  Ghurfürst  in  Person  diesen 
Angriff  führte,  ist  durch  alle  andern  Zeugnisse  bestätigt. 

Dahlberg  lässt  dann  den  König  mit  seinem  Bruder  an  der  Spitze 
des  ersten  Treffens  vom  schwedischen  Flügel  über  eben  diese  Höhen 
folgen  und  sich  auf  das  feindliche  Heer  werfen ,  das  in  drei  Treffen  von 
der  Gegend  der  Brücke  bis  über  Praga  hinauf  aufgestellt  ist.  Von  diesem 
Angriff  zersprengt  habe  sich  die  feindliche  Linie  in  zwei  Theile  getheilt 
und  seien  die  einen  dahin ,  die  andern  dorthin  gewichen  reliciis  multis 
caesis  captivisque  cum  signis  et  tympanis;  während  dessen  habe  dasFuss* 
volk  Zeit  gewonnen  sich  über  die  Brücke  zurückzuziehen.  Wenigstens 
dass  Prinz  Adolph  Johann  sich  hier  eingefunden,  wird  bestätigt  durch 
die  Angabe  Jenas  und  die  brandenburgischen  Berichte ,  der  Prinz  den 
Churfürsten  habe  abgehalten  die  polnische  Infanterie  zu  vernichten. 

Dann,  so  fährt  Dahlberg  fort  bei  lit.  H.,  versucht  der  polnische 
General  Pulobinsky  *  mit  7000  Reitern  nach  dem  Wald  von  Bialalenka 
zu  entkommen.  Ihm  schickt  der  König  den  Churfürsten  und  Wrangel 
mit  dem  ersten  und  zweiten  Treffen  des  rechten  Flügels  nach ,  die  ihrer 
die  meisten  niederhauen  oder  in  den  Sumpf  jagen,  —  und  die  Zeichnung 
zeigt  bei  H.  diesen  Vorgang  zwischen  dem  Schanzhügel  und  dem  Sumpf 
dort ,  innerhalb  der  Retranchements  —  indessen  das  dritte  Treffen  des 
rechten  Flügels  bei  Brudno  steht,  den  Rücken  zu  sichern. 

In  derselben  Zeit,  heisst  es  bei  lit.  I.,  brechen  1 5,000  Tartaren  mit 
grossem  Ungestüm  vor,  apud  vicum  Brudnam  per  angustias  viae  crasmi 
(lies  evasuri) ,  gegen  sie  sendet  der  König  den  Pfalzgrafen  von  Sulzbach 
mit  dem  zweiten  und  einem  Theil  des  dritten  Treffens  seines  Flügels, 
der  sie  schlägt  und  viele  Tausende  von  ihnen  tödtet.  Die  Zeichnung 
selbst  zeigt,  dass  diess  Vorbrechen  nicht  bei  Brudno  stattfindet,  sondern 
zwischen  dem  Holz  von  Praga  und  dem  Wäldchen ;  eine  Bewegung,  die 
nichts  weniger  als  die  Absicht  der  Flucht  bezeichnen  würde ;  fliehend 
hätten  sich  die  Tartaren  auf  die  Strasse  von  Grochow  gewandt;  es  ist 
vielmehr  ein  sehr  sachgemässer  Angriff  auf  den  linken  Flügel  der  alliirten 
Armee,  um  den  verhängnissvollen  Gang  der  Schlacht  im  Centrum  und  hinter 


1 )  Hilarius  Polubinsky  campestris  Lith.  notarius ,  aus  dessen  regia  cohon  hatten 
torum  der  früher  erwähnte  Kowalowsky  ist.    Kochowsky  j>.  4  5*. 


8J]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  425 

den  Sandbergen  noch  zu  brechen.  Ferner :  der  Pfalzgraf  von  Salzbach 
ist  Gen.-Major  und  führt  das  erste  treffen  des  schwedischen  Flügels; 
Markgraf  Carl  Magnus  von  Baden,  der  das  zweite  Treffen  führt,  ist 
»Generalleutnant  über  die  Cavallerie«  (Rel.  I.  §  12);  soll  man  glauben, 
dass  Pfalz  Sulzbach  nicht  mitgegangen  ist,  wenn  das  von  ihm  comman- 
dirte  erste  Treffen  dem  Könige  und  seinem  Bruder  folgt?  soll  man 
glauben,  dass  der  König  ihm,  dem  Gen.-Major,  den  Gen. -Leutnant  der 
Cavallerie  unterordnet? 

Den  Rest  des  dritten  Treffens  vom  königlichen  Flügel  lässt  Dahl- 
berg  unter  Gen.-M.  Hörn,  dem  auch  ein  Theil  der  Infanterie  untergeben 
wird,  den  Sandberg  zunächst  am  Holz  von  Praga  besetzen,  legende*  regis 
tergo.  Carlson  (p.  151),  der  »Dahlbergs  im  Reichsarchiv  aufbewahrtem 
Bericht«  folgt ,  giebt  an ,  dass  »als  Sparr  gegen  das  Holz  von  Praga  vor- 
ging,« ihm  Hörn  und  Bülow  mit  zwei  Brigaden  zu  Fuss  und  einigen 
Reiterregimentern  gefolgt  seien.  Also  damals  standen  die  schwedischen 
Brigaden  unter  Bülow  und  das  dritte  Treffen  unter  Hörn  Front  gegen 
das  Holz ,  während  das  erste  und  zweite  Treffen  (Sulzbach  und  Baden) 
Front  gegen  Süden  standen.  Welche  confusen  Bewegungen  müsste  man 
Angesichts  der  südwärts  stehenden  feindlichen  Massen  gemacht  haben, 
um  das  erste  Treffen  rechts  nach  den  Sandbergen  hin  durchzuziehen? 
und  was  bedurfte  es  einer  Reserve  auf  den  Höhen ,  während  die  den 
Pass  zwischen  dem  Holz  von  Praga  und  dem  Wäldchen  haltenden  Trup- 
pen den  Rücken  der  über  die  Sandberge  vorgehenden  Truppen  deckten? 

Der  Schluss  der  Dahlbergischen  Schlachtschilderung  ist  merkwür- 
diger als  alles  bisherige.  Der  Rest  des  polnischen  Heeres  hat  sich  zwi- 
schen dem  Holz  von  Praga  und  dem  todten  Weichselarme  von  Neuem 
in  drei  Treffen  aufgestellt,  Front  gegen  Warschau !  Der  König ,  der  von 
den  Sanddünen  herab  gegen  die  Weichsel  vorgedrungen  war,  bat  zu  den 
Schwadronen  des  ersten  Treffens  einen  Theil  derer  vom  dritten  Treffen 
(Horbs,  der  in  Reserve  auf  der  Düne  stand)  herangeholt,  und  geht  mit 
einer  Linksschwenkung  gegen  die  polnische  Schlachtlinie;  es  wird  auf 
sie  losgestürmt,  sie  weicht  in  wilder  Flucht,  relictis  penes  Regem  gloria, 
vicloria,  machinis,  impedimentis,  signis  et  multis  servitiorum  mülibus. 

Auch  nicht  eine  von  den  übrigen  Schlachtdarstellungen  hat  eine 
Spur  von  dieser  höchst  seltsamen  Auffassung,  als  habe  der  König,  nach- 
dem er  die  Mitte  der  feindlichen  Linie  durchbrochen,  rechts  und  links 
schwenkend  ihre  Flügel  vernichtet ;  denn  auf  diess  Schema  scheint  Dahl- 

Abhandl.  d.  K.  S.  G<*.  d.  Wtat.   X.  20 


426  Joh.  Gust.  Droysen,  [82 

bergs  Anschauung  hinaus  zu  wollen.  Er  fasste  die  Dinge  so  auf,  um 
den  König  an  die  Spitze  des  eindringenden  Keiles  stellen ,  um  ihm  die 
Entscheidung  zuschreiben  zu  können. 

Der  Ausgang. 

»Sonntag  gegen  Mittag  sind  die  Polen  in  die  Flucht  gebracht  wor- 
den,« sagt  Relat.  V.,  und  Relat.  IV.  sagt:  »die  Schlacht  hat  fünf  Stunden 
gewährt.« 

Der  Verlust  auf  Seiten  der  Verbündeten  wird  auf  drei  bis  vier  hun- 
dert, »die  gequetscht  oder  geblieben  sind,«  angegeben;  Relat.  IV.  sagt: 
»in  allem  sind  nicht  über  300  und  selbige  mehrentheils  unter  dem  Gestttck 
geblieben.«  Von  todten  Körpern  der  Feinde,  sagt  Rel.  I.  IL,  hat  man 
im  Feld  und  im  Morast  ungefähr  3-  bis  4000  —  nach  der  brandenburgi- 
schen Bearbeitung  5- bis  6000  —  gefunden. 

In  einzelnen  Momenten  der  dreitägigen  Schlacht  zeigt  sich,  dass  es 
den  polnischen  Truppen  weder  an  Muth,  noch  ihrer  Führung  an  richtigen 
Intentionen  gefehlt  hat.  Aber  eben  so  deutlich  tritt  es  hervor,  worin  der 
Gegner  ihnen  überlegen  war.  # 

Der  Bericht  aus  Sacrozin  vom  1 .  Aug.  (Rel.  VI.)  hebt  besonders  »das 
unaufhörliche  Schiessen  und  Feuereinwerfen,  welches  die  Unsrigen  zu 
erdulden  nicht  gewohnt,«  hervor,  und  Plathens  Bericht  an  Wittgenstein 
sagt:  »die  Canonaden  haben  das  Beste  gethan.«  Das  polnische  Heer 
war  offenbar  an  Artillerie  unverh&ltnissmassig  schwach ,  wie  denn  nach 
des  Churfürsten  eigenhändiger  Angabe  dem  Feinde  nur  42  Geschütze 
und  1  Mortier  abgenommen ,  in  Warschau  dann  noch  27  Stück  und  1 
Mortier  erbeutet  sind ;  denn  dass  nicht  viel  über  die  Brücke  zurückge- 
flüchtet sein  kann,  versteht  sich  von  selbst.  Nach  schwedischer  Angabe 
sind  »die  eroberten  Canonen  in  etwa  50  Stücken  bestanden.« 1 

Wahrhaft  staunenerregend  sind  die  Leistungen  der  etwa  17,000 
Mann  der  conjungirten  Armee.  Erst  am  28.  Juli  ein  Marsch  von  vier 
Meilen,  dann  ein  noch  mehrstündiger  Kampf  bis  Mitternacht ;  am  folgen- 
den Tage  von  Sonnenaufgang  bis  in  die  sinkende  Nacht  unausgesetzt 
Kampf;  dann  die  Nachtruhe  von  mehrfachen  »Allarmen«  unterbrochen 


« 


)  Thulden  sagt  von  den  Verbündeten :  campestrium  machinarum  multitudine  et 
apparatu  iis  infarciendo  abundabant;  von  den  Polen  :  mUitaria  tormenta  majora  quae 
Samoscia  ad  numerum  triginta  advexerant. 


83]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1 656.  427 

und  vom  frühen  Morgen  an  wieder  Kampf.  Man  begreift ,  dass  endlich 
die  Verfolgung  »wegen  abgematteter  iPferde  und  da  in  dieser  dreitägigen 
Action  die  schwedischen  und  brandenburgischen  Völker  bei  einer  sehr 
grossen  Hitze  fast  nichts  genossen  hatten«  (Bericht  No.  8) ,  nicht  sehr 
energisch  war.  Mochte  man  auch  des  Himmels  besondere  Huld  darin 
erkennen ,  dass  der  Wind  sich  immer  mit  den  Bewegungen  der  Verbün- 
deten änderte  und  den  Feinden  den  Staub  und  Pulverdampf  ins  Gesicht 
trieb  (Rel.  I.  §  4),  das  Entscheidende  war  die  tactische  Ueberlegenheit  auf 
Seiten  der  Verbündeten,  ihre  Disciplin ;  an  ihren  geschlossenen  Vierecken, 
diesen  »wandelnden  Festungen,«  brachen  sich  die  lockeren  Haufen  der 
Gegner. 

Ueber  die  Vorgänge  unmittelbar  nach  der  Schlacht  ist  der  eigen- 
händige Bericht  des  Churfürsten  am  vollständigsten.  Während  der  König 
die  Tartaren  eine  Meile  weit  —  also  nach  den  Wäldern  von  Grochow 
hin  —  verfolgt ,  geht  der  Churfürst  und  Wrangel  wieder  zurück  »nach 
Praga ,«  um  zu  sehen  ob  man  die  Brücke  noch  gebrauchen  könne  oder 
ob  es  eine  Fürth  durch  die  Weichsel  gebe ;  das  Wasser  aber  ist  zu  hoch, 
man  muss  die  Brücke  ausbessern ;  »unsre  Völker  sind  in  voller  Arbeit,« 
schreibt  Rel.  IV.  am  31.  Juli  aus  Praga,  »die  Brücke,  so  die  flüchtigen 
Polen  hinter  sich  abbrannten ,  zu  repariren ,  und  hoffen  wir  noch  diesen 
Abend  darüber  in  die  Stadt  zu  gehen.« 

Schon  am  Sonntag  Morgen  ist  der  König  und  die  Königin  aus 
Warschau  geflüchtet,  »in  solcher  Confusion ,  dass  sie  den  kriegsgefange- 
nen  Grafen  Benedix  Oxenstjerna  mitzunehmen  vergessen  haben.«  So 
der  Bericht  bei  Aitzema,  er  fügt  hinzu :  um  Mitternacht  sei  ein  Trompeter 
vom  Graf  B.  Oxenstjerna  an  des  Churfllrsten  Garosse  gekommen,  mit 
der  Meldung ,  dass  der  Magistrat  von  Warschau  bereit  sei  die  Stadt  zu 
öffnen;  am  Morgen  des  31sten  habe  man  dann  die  Leibgarde  des  Königs 
und  die  des  Churfürsten  übergesetzt  die  Stadt  in  Besitz  zu  nehmen. 
Aehnlich  der  Bericht  aus  Sacrozin  (Rel.  VI.) :  »die  churfürstlichen  Völker 
haben  sich  in  Weichselkähnen  und  Skuten  nach  der  Stadt  übersetzen 
lassen,  woselbst  sie  zwar  die  Stadt  geschlossen  und  alle  Passwege  mit 
Stücken  aber  mit  keinem  Volk  besetzt  gefunden ,  daher  auch  der  Rath 
und  die  Bürger,  um  sich  vor  gänzlichem  Ruin  zu  erhalten ,  die  Schlüssel 
der  Stadt  dem  Churfürsten  übergeben  und  dessen  Besatzung  ange- 
nommen.« 

Etwas  abweichend  der  Bericht  des  französischen  Gesandten;  Lc 

29» 


428  Joh.  Gust.  Droysen,  [84 

Roy  de  Pologne  se  trouva  des  premiers  aux  ocasions  et  des  demiers  ä  la 
relraicte;  apres  avoir  fait  rompre  wie  partie  dupont,  il  laissa  trois  ou  quatre 
regiments  d'infanterie  pour  la  garde  de  place,  mais  depuis  ayant  considere  la 
foiblesse  de  cette  ville  il  en  retira  la  gamison ,  cequi  obligea  les  bourgeois  ä 
aller  offrir  leurs  clefs  au  Roy  de  Suede,  qui  y  est  entre  quelques  jours  apres. 

Nachdem  die  Brücke  hergestellt  ist  (Montag  Abend  den  3 1 .  Juli), 
beginnen  die  Regimenter  hinüberzugehen.  Es  kommt  Nachricht,  dass 
sich  40 — «50,000  Polen  bei  Gzersko  fünf  Meilen  oberhalb  Warschaus  ge- 
setzt haben;  Karl  Gustav  gehl  noch  am  1.  Aug.  ihnen  nach,  kehrt  aber 
folgenden  Tages  zurück,  ohne  sie  dort  gefunden  zu  haben.  Am  5.  Aug. 
ist  der  Uebergang  des  Heeres  auf  die  Ostseite  der  Weichsel  vollendet.  Der 
französische  Gesandte  deLumbres  wird  ersucht,  sich  zum  König  von  Polen 
zu  begeben  und  von  Neuem  Unterhandlungen  anzubieten  (Aitzema). 

Die  polnischen  Angaben. 

Dass  sich  in  den  Augen  der  Polen  der  Verlauf  der  Schlacht  sehr 
anders  darstellte,  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Die  Berichte,  die  uns 
vorliegen,  sind  leider  so  wenig  militairischer  Natur,  dass  wenig  aus  ihnen 
zu  lernen  ist.  Auch  der  Barckmanns  (Beil.  11)  erläutert  nur  den  Anfang 
des  Kampfes. 

Nur  Des  Noyers  giebt  einige  Punkte,  die  wenigstens  erkennen 
lassen ,  wie  man  sich  in  der  Umgebung  der  Königin  den  Verlust  der 
Schlacht  erklärte.  Wir  müssen  ihn  bis  zum  Mittag  des  29.  Juli  zurück- 
begleiten. 

Zweimal,  sagt  er,  hatten  die  Polen  den  Feind  geworfen ;  und  wären 
sie  hinreichend  von  den  Escadronen  unterstützt  worden ,  die  es  hätten 
thun  sollen,  so  würden  sie  zum  Handgemenge  gekommen  sein,  und  das 
war  alles  was  sie  wünschten.  Aber  gerade  das  wollten  die  Schweden 
vermeiden  und  zogen  sich  in  den  Wald  zurück,  wo  sie  durch  die  Ueber- 
legenheit  ihrer  Artillerie  und  Infanterie  geschützt  waren.  Des  Noyers 
schliesst  unmittelbar  hieran,  ohne  vorher  oder  nachher  die  Gefechte  vom 
29sten  Nachmittags  zu  erwähnen,  eine  sehr  merkwürdige  Angabe  in  Be- 
treff der  Tartaren.  Ihrer  sind  nur  5000  bei  der  Schlacht  gewesen,  indem 
die  andern  theils  bei  Czersko  mehrere  Meilen  oberhalb  Warschau ,  theils 
bei  Nowodwor  standen.  Der  Aga  rieth  dem  Könige,  es  nicht  zu  einer 
Generalaction  kommen  zu  lassen :  der  Feind  habe  nur  auf  drei  Tage 
Proviant  bei  sich,  leide  an  Wasser  Mangel ;  gegeq^eine  festgeschlossenen 


85]  Die  Schlaft  von  Warschau.  165(5.  429 

Vierecke ,  chateaus  marchanls  nennt  er  sie ,  müsse  man  nur  mit  Reiterei 
agiren ;  der  König  möge  seine  Infanterie  und  Artillerie  zurückziehen,  die 
Tartaren  und  die  Cavallerie  den  Feind  umschwärmen  lassen,  ihn  ein- 
wickeln, ihn  aushungern.  Diesem  heilvollen  Plan  gab  der  König  seine 
Zustimmung ,  mais  le  destin  de  la  Pologne  ne  le  permit  pas ,  und  der  Adel 
Polens,  der  glaubte,  dass  man  aus  Feigheit  diesen  Entschluss  fasste,  be- 
gann mit  der  Nacht  von  dannen  zu  gehen. 

Das  ist  also  die  Nacht  vom  Sonnabend  zum  Sonntag.  Am  Morgen 
des  Sonntags ,  als  sich  der  Nebel  gesenkt ,  will  man  gegen  5  Uhr  den 
Kampf  beginnen ,  mais  dejä  ä  la  faveur  des  brouillards  tonte  la  noblesse 
polonaise  s'enfuyait.  Vergebens  stellt  der  König  selbst  mit  dem  Degen 
in  der  Hand  die  Reihen  auf,  vergebens  bittet  und  beschwört  er  die  ein- 
zelnen ,  vergebens  setzt  er  sich  selbst  dem  heftigsten  Feuer  aus.  Wie 
der  Kampf  beginnt,  macht  der  ganze  Rest  dieses  Adels  Kehrt  und  bringt 
mit  seiner  Flucht  den  Rest  der  Armee  in  Unordnung.  Die  Schweden 
gehen  trotzdem  nur  langsam  vor,  sie  lassen  die  Flüchtigen  an  sich 
vorübereilen  ohne  sie  zu  verfolgen  oder  auch  nur  eine  Pistole  auf  sie 
abzuschiessen.  Johann  Casimir ,  voyant  le  desordre  si  grand  taut  pour  la 
petitissc  de  Heu ,  tant  pour  la  terreur  oii  itait  touie  cette  noblesse ,  lässt  die 
Infanterie  und  die  Quartianer  sich  zurückziehen,  theils  über  die  Weichsel- 
brücke,  theils  mit  den  Tartaren.  Dass  die  Schweden  in  so  fester  Ord- 
nung blieben  ohne  zu  verfolgen,  davon  war  der  Grund,  dass  sie  die  Tar- 
taren hinter  sich  hatten,  die  sie  fürchteten. 

Des  Noyers  führt  später  noch  an :  dass  die  Tartaren  während  des 
Gefechtes ,  als  sie  die  Polen  fliehen  sahen ,  die  beiden  Dörfer  Praga  und 
Skariczowo  anzündeten ,  damit  die  Schweden  sich  ihrer  nicht  bemäch- 
tigten ,  dass  man  eben  so  die  Brücke  angezündet  habe ,  damit  sich  der 
Feind  nicht  der  Schiffe  bemächtige  und  eine  neue  Brücke  mache. 

Im  Casimir  Roy  de  Pologne  p.  62  ff.  stehen  ähnliche  Dinge  zu  lesen, 
aber  verbunden  mit  dem  höchsten  Preise  der  polnischen  Tapferkeit.  Auch 
da  zieht  sich  (also  Sonnabend  Mittag)  der  Schwedenkönig  dans  un  bois  pour 
se  mellre  ä  couvert  du  canon,  auch  da  der  Wassermangel,  aber  erst  am 
Sonntag  Morgen  wird  er  erwähnt.  Hätte  man,  sagt  der  Verf.,  diesen  Um- 
stand benutzen  wollen,  sich  verschanzt  und  in  der  Defensive  gehalten,  so 
würde  man  den  Feind  ohne  alle  Mühe  haben  vernichten  können ;  mais 
la  fierte  naturelle  de  cette  nation  leur  fit  m&priser  un  avantage  si  conside- 
rable  ne  voulant  devoir  la  victoire  qua  leur  courage.     Der  Grosskanzler 


430  Job.  Gust.  Dioysen,  [86 

von  Polen  habe  dem  Könige  gerathen,  die  Bagage  nach  Warschau 
zurückzuschicken,  afin  de  mieux  combatire;  aber  diese  Vorsicht  er- 
schreckte die  Truppen ,  so  dass  sie  nicht  mehr  mit  dem  früheren  Muth 
kämpften.  Vergebens  gab  der  König  das  Beispiel  bewunderungs- 
würdiger Tapferkeit,  die  Flucht  riss  unaufhaltsam  alles  hinweg  u.  s.  w. 
Zum  Schluss  folgt  dann  die  merkwürdige  Geschichte  vom  Kampf  am 
vierten  Tage :  Charnezki  avec  les  Tarlares  et  ce  quil  avoit  pü  ramasser 
des  Fuyards ,  le  batit  le  quatrieme  jour  et  an  peut  dire  que  la  perle  fut 
presque  egale  et  que  le  Roy  de  Suede  eut  seulement  l'honneur  du  champ  de 
bataille  qui  luy  demeura. 

Dass  Tiiulden  mit  dem  Verf.  des  Casimir  Roy  de  Pologne  in  Betreff 
dieses  Gefechtes  am  vierten  Tage  zusammenstimmt,  ist  früher  erwähnt; 
aber  Thulden  nennt  Sapieha,  nicht  »Caesarneckius,«  als  denjenigen, 
der  den  Angriff  veranlasst  habe.  In  der  Nacht  vom  Sonntag  zum 
Montag,  sagt  er,  habe  Sapieha  mit  den  Scythen  sich  verabredet, 
zuerst  seien  die  Scythen  vorgegangen,  hätten  das  Dorf  Praga  an 
drei  Stellen  in  Brand  gesteckt,  dann  seien  sie  und  Sapiehas  Lithauer 
in  geordneten  Reihen  (rectis  ordinibus)  gegen  den  Feind  vorgerückt 
und  hätten  stark  und  glücklich  gegen  ihn  gekämpft,  auch  einen 
Theil  der  Geschütze,  die  von  dem  Feind  in  den  Schanzen  genommen 
worden  seien ,  wieder  gewonnen :  cominus  pugnabatur  tanta  conteniione 
ut  non  modo  Lilhuani  tormenta  ea  quae  amiserant  recipercnt ,  verum  etiam 
Suedo  sua  e  manu  extorquerent  secumque  abducerent. 

Man  wird  wohl  annehmen  dürfen .  dass  der  von  Des  Noyers  er- 
wähnte Brand  der  beiden  grossen  Dörfer  Praga  und  Skariczowo  der 
Kern  zu  dieser  Geschichte  vom  Gefecht  des  vierten  Tages  gewesen  ist ; 
und  wenn  unsre  Vermuthung  richtig  ist ,  dass  eine  Danziger  Zeitung  die 
Quelle  war,  aus  der  Thulden  geschöpft  hat,  so  ist  sehr  leicht  zu  sehen, 
wie  aus  den  ersten  nach  Danzig  gelangten  Gerüchten  vom  Brand  Pragas 
nach  der  Schlacht  jene  Geschichte  combinirt  werden  konnte. 

Von  Thuldens  Angabe  über  die  Gefechte  der  ersten  Tage  ist  es  nicht  der 
Mühe  werth eingehend  zu  handeln;  sie  lassen  kaum  ungefähr  den  entschei- 
denden Moment  erkennen,  und  geben  auch  nicht  ein  neues  Moment,  man 
müsste  denn  dafür  die  Angabe  nehmen  wollen,  dass  die  Polen  am  zweiten 
Schlachttage  sich  ganz  iv  der  Defensive  hätten  halten  wollen:  castris 
se  teuere  neque  in  hostes  eruptionem  faeere  sed  vim  tanlum  a  se  defendere 
oplimum  ducebant;  wir  wissen,  dass  diess  entschieden  nicht  der  Fall  war. 


87]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  431 


III.  Die  mil  itairisch-politischen  Zusammenhänge  des 

Feldzugs  von  1656. 

Die  Schlacht  von  Warschau  ist  nach  ihrer  Dauer  und  nach  der 
Masse  der  Streitkräfte ,  die  auf  dem  Kampfplatz  waren,  eine  der  bedeu- 
tendsten jener  Decennien ,  die  des  grossen  deutschen  Krieges  mit  ein- 
geschlossen. Um  so  auffallender  ist  die  geringe  politische  Wirkung,  die 
sie  nach  dem  Urtheil  der  Zeitgenossen  hat.  Minor  ejusdem  fructus  quam 
pro  gloria  fuil,  sagt  Pufendorff  C.  G.  ///.  28  und  DesNoyers  schreibt  am 
5.  Sept. :  *La  derniere  victoire  du  Roi  de  Suede  lui  sera  bien  plus  domma- 
geable  qu? utile.«  Selbst  im  Casimir  Roy  de  Pologne  heisst  es  p.  65  quoy- 
que  cette  perle  fut  assez  considerable  Charles  rien  tira  pourtant  pas  bcau- 
coup  d'avantage. 

Allerdings  ist  die  Wirkung  der  Schlacht  gering,  wenn  man  nur 
Polen  und  Schweden  ins  Auge  fasst.  Aber  ihre  Bedeutung  liegt  nicht  in 
der  Alternative:  entweder  Schweden  oder  Polen;  man  könnte  sagen 
ihre  Entscheidung  laute :  weder  Schweden  noch  Polen. 

Unzweifelhaft  war  Karl  Gustav  unter  den  Feldherren ,  die  aus  der 
blutigen  Schule  des  dreissigjährigen  Kriegs  hervorgegangen  waren,  einer 
der  grössten ;  man  wird  keinen  zweiten  finden,  in  dem  sich  mit  gleicher 
Leichtigkeit  und  Unerschöpflichkeit  militairischer  Conceptionen,  mit  glei- 
cher Genialität  der  Heeresführung  so  wilde  Gewalt  des  Wollens,  solche 
Leidenschaft  und  »Thürstigkeit«  des  herrischen  Geistes,  solcher  Cynismus 
der  Waffengewalt  verband.  Unter  seiner  Führung  war  der  Soldat  gewiss 
zu  siegen;  seinen  Gewaltstössen  widerstand  auch  doppelte  und  drei- 
fache Uebermacht  nicht.  Mehr  als  einmal  wagte  er  Unglaubliches,  und 
das  Unglaublichste  gelang  ihm  nur  um  so  sicherer.  Des  Noyers  charak- 
terisirt  ihn  vortrefflich,  indem  er  sagt:  l'action  la  plus  imprudente  de 
loute  sa  vie  est  sa  venue  ä  Varsovie  —  il  eioit  impossible  qu'il  echappait,  et 
sa  folle  l&miritb  Va  fait  triompher. 

Aber  sein  militärisch  staunenswürdiger  Krieg  in  Polen  zeigt,  dass 
er  in  der  Politik  ein  Epigone  war. 

Verfolgt  man  die  verschiedenen  Projecte ,  die  ihn  in  Betreff  Polens 
beschäftigt  haben ,  so  erkennt  man ,  wie  er  umhertappt ;  er  kämpft  und 
erobert  ohne  ein  bestimmtes  politisches  Ziel ,  ohne  einen  schöpferischen 
Gedanken :  er  will  nur  schlagen  und  immer  nur  schlagen.    Der  Krieg  ist 


432  Jon.  Gust.  Deoyskn,  [88 

ihm  nicht  Mittel ,  sondern  Zweck ;  er  kennt  ihn  und  versteht  ihn  nicht 
anders  als  wie  die  Krone  Schweden  so  bald  nach  Gustav  Adolphs  Tod 
sich  gewöhnt  hat  ihn  in  Deutschland  zu  führen,  als  ein  Mittel  den  Kriegs- 
staat zu  ernähren  und  fort  und  fort  zu  mehren,  mag  aus  dem  fremden 
Land  und  Volk  darüber  werden  was  da  will.  Der  Krieg  ist  ihm  nicht 
der  Weg,  eine  neue  dauernde  sich  in  sich  selbst  tragende  Zuständlich- 
keit  zu  schaffen,  sondern  der  eigentliche  Zustand,  der  Beruf,  die  dau- 
ernde Beschäftigung,  die  er  für  sein  Volk  sucht.  Vielleicht  erkannte  oder 
glaubte  Karl  Gustav  so  und  nur  so  der  mächtigen  Spannungen  im  In- 
nern seines  Staates  Meister  bleiben  zu  können ;  nur  dass  diese  selbst  in 
dem  Maasse  wuchsen  als  man  Adel  und  Volk  durch  den  Ruhm,  die 
Beute,  die  Demoralisation  soldatischen  Herrenthums  überreizte. 

So  gewiss  die  Zustände  des  alten  Europa,  die  im  dreissigjährigen 
Kriege  zusammenbrachen,  unhaltbar  geworden  waren,  gleich  denen  des 
achtzehnten  Jahrhunderts,  denen  die  französische  Revolution  ein  Ende 
gemacht  hat,  eben  so  gewiss  ist,  dass  dort  so  wenig  der  Krieg  wie  hier 
die  Revolution  das  neue  Princip  war,  dessen  die  Welt  bedurfte,  nach 
dem  sie  suchte  und  rang. 

Der  grosse  deutsche  Krieg  hatte  die  alte  Staatsweise  der  ständi- 
schen Libertät  gerichtet.  Noch  stand  sie  in  Polen  in  breitester  Wucher- 
ftille  da ;  der  schwedische  Krieg  kam  über  die  Republik,  das  gleiche  Ge- 
richt zu  vollziehen;  bei  dem  ersten  Ansturz  Karl  Gustavs  brach  sie  zu- 
sammen. Aber  eine  neue  lebensvolle  Form  verstand  weder  er  ihr  zu 
geben,  noch  sie  selbst,  indem  sie  sich  erhob,  sich  zu  schaffen ;  sie  wusste 
und  wollte  nichts  als  die  Rückkehr  zur  alten  Libertät. 

So  war  es  möglich  und  an  der  Zeit,  dass  sich  zwischen  beiden 
und  auf  Kosten  beider  eine  neue  Machtbildung  erhob,  eine  Monarchie, 
welche  die  Libertät  eben  so  wie  den  Kriegsstaat  überholte  und  in  ge- 
bührende Schranken  wies,  welche  nicht  bloss  herrschte  sondern  regierte. 

Auch  Russland,  auch  Dänemark  erhoben  sich ;  aber  während  in  Dä- 
nemark mit  der  Gründung  der  lex  Regia  von  1 660  nur  der  »Lakayismus« 
an  die  Stelle  der  Libertät  trat,  und  in  Russland  die  nur  nach  Aussen  ge- 
wandte Macht  das  innere  Leben  lähmte  und  erschöpfte,  wuchs  der  Staat 
des  grossen  ChurfUrsten  gleichen  Schrittes  an  Kraft  im  Innern  und  Macht 
nach  Aussen.  Auf  ihn  gravilirte  fortan  die  baltische  Politik ;  er  fand  den 
Weg ,  auf  dem  er  für  Deutschland  und  für  Europa  wichtig  und  unent- 
behrlich wurde;   er  fand  seine  Aufgabe.     Denn  da,  in  der  baltischen 


89]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  433 

Frage,  an  den  Küsten  der  Ost-  und  Westsee  liegt  die  Lösung  der  deut- 
schen Frage,  nicht  in  Frankfurt,  in  der  Mainlinie,  im  deutschen  Parla- 
ment oder  ähnlichen  Palliativen.  Und  mit  tiefstem  Verstündniss  dessen, 
was  die  Zukunft  bestimmen  werde,  hat  Friedrich  der  Grosse  in  seinem 
iestament  politique  von  1752  gesagt,  wenn  Preussen  Danzig  besitze,  dann 
müsse  es  sich  eine  Flotte  bauen. 

So  viel  zur  aUgemeinen  Orientirung. 

Die  Erhebung  Polens. 

Wir  sahen,  wie  rasch  Karl  Gustav  im  Feldzug  von  1 655  Polen  er- 
obert hatte.  Wahrend  Johann  Casimir  nach  Schlesien  flüchtete ,  hatten 
sich  die  Bischöfe,  die  Magnaten,  der  Adel,  die  Quartianer  unter  Potocky, 
Koniecpolzky ,  anderen  Generalen  freiwillig  unterworfen  und  gehuldigt ; 
nur  der  tapfere  Czarnecky  hielt  noch  die  Sache  seines  Königs.  Karl  Gu- 
stav durfte  sich  als  Herrn  der  Republik  ansehen ;  er  liess  Münzen  prä- 
gen auf  denen  er  sich  protector  Potaniae  nannte  (Des  Noyers  12.  Dec. 
1655).  Mit  dem  Ausgang  des  Jahres  eilte  er  nach  Preussen,  um  den 
letzten  Magnaten  der  Republik ,  den  Churftlrsten ,  im  Welauer  Vertrage 
zur  Unterwerfung  zu  zwingen. 

Aber  eben  da  begann  die  Wendung  der  Dinge ;  rasch  folgte  der 
Abfall  des  Adels  und  Volkes,  des  Heeres,  die  Rückkehr  Jobann  Casimirs 
aus  Schlesien.  Karl  Gustav  brach  im  Winter  aus  Preussen  auf,  eilte  die 
Weichsel  aufwärts  bis  Sendomir  und  Jaroslaw,  die  überall  sich  bildende 
Insurrection  zu  erdrücken,  die  Vereinigung  des  Aufstandes  im  Süden, 
Westen  und  Osten  der  oberen  Weichsel  zu  hindern ;  es  gelang  ihm  nicht 
mehr.  Die  lithauischen  Quartianer  unter  Sapieha,  die  wieder  abgefalle- 
nen Grosspolen  unter  Potocky,  die  Heerhaufen  Czarneckys  vereinigten 
sich;  auch  Lubomirsky  dachte  jetzt  nicht  mehr  daran  das  Königthum  in 
Polen  abzuschaffen  und  ein  Regiment  der  Magnaten  zu  gründen,  er  eilte 
mit  seinem  Anhang  zu  Johann  Casimirs  Fahnen ;  der  lilbauiscbe  Unter- 
Schatzmeister Gonsiewsky,  der  mit  Radzivil  übergetreten  war  und  sich 
in  Königsberg  aufhielt ,  verliess  verkleidet  die  Stadt  und  eilte  zur  polni- 
schen Armee.  Nach  dem  Verlust  Sendomirs  musste  Karl  Gustav  wei- 
chen und  Krakau  dem  Muth  seines  Generals  Wirth  überlassen.  Er  ging 
auf  Warschau  zurück ;  auch  da  war  es  unmöglich  Halt  zu  machen ;  er 
überliess  die  Verteidigung  der  Stadt,  die  erst  befestigt  werden  musste, 


434  Joh.  Gdst.  Droysen,  [90 

dem  General  Wittenberg  9  Hess  einen  Theil  seines  Heeres  in  der  Stellung 
bei  Nowodwor  unter  seinem  Bruder,  mit  der  Weisung  sich  dort  zu  ver- 
schanzen und  Ober  Bug  und  Weichsel  Brücken  zu  schlagen.  Er  selbst 
ging  nach  Preussen,  um  die  Weichsellinie,  Thorn,  Marienburg,  Elbing  zu 
sichern. 

Mit  dem  Ausgang  April  halten  die  Schweden  im  eigentlichen  Polen 
nur  noch  die  Städte  Krakau,  Warschau,  Posen,  ein  Paar  Festen  zwi- 
schen Krakau  und  Warschau ;  alles  Land  umher  war  in  der  Gewalt  des 
Polenkönigs  oder  in  Waffen  gegen  Schweden,  voll  Hass  und  Wuth  gegen 
den ,  dem  man  sich  vor  Kurzem  unterworfen  hatte.  Schon  stand  auch 
Lithauen  auf.  Gzarnecky  drang  gegen  Posen  und  Gnesen  vor,  sandte 
Zamecky  weiter,  Pomerellen  zu  occupiren  und  die  Verbindung  Schwe- 
dens mit  Stettin  und  den  Odermündungen  zu  zerreissen.  Die  Lithauer 
unter  Sapieha,  dem  Palalin  von  Witepsk,  belagerten  Warschau  und  mit 
erdrückender  Uebermacht  zog  Johann  Casimir  heran,  seine  Residenz 
wieder  zu  nehmen.  Schon  war  ein  Tartarenheer  auf  dem  Wege  ihn  zu 
unterstützen  und  fluthete  bis  an  die  preussischen  Grenzen  schweifend 
auf  Warschau  heran.  Der  Adel  in  Masuren  und  Podlachien ,  zwischen 
der  preussischen  Grenze  und  dem  Bug,  erhob  sich,  zunächst  Tycozin  zu 
belagern,  die  Feste  des  Fürsten  Boleslav  Radzivil,  der  auf  schwedischer 
Seile  geblieben  war;  mit  derlnsurreclion  hier  war  die  nächste  Verbindung 
mit  Lithauen  geöffnet.  Dort  war  bereits  der  Grossfürst  von  Moskau,  jetzt 
ein  Verbündeter  Polens ,  eingerückt ,  dessen  Heere  zugleich  Ingerman- 
land,  Liefland  überschwemmt,  Dorpal,  Dünaburg  eingenommen  hat- 
ten, sich  an  der  Düna  abwärts  nach  Riga  wälzten. 

Mit  jedem  Tage  wurde  die  Schwedenmacht  enger  umschnürt,  ihre 
Verbindung  mit  der  See  schwerer  bedroht.  Noch  stand  das  mächtige 
Danzig  ungebeugt ;  es  nahte  eine  holländische  Flotte  die  Stadt  zu  sichern 
und  dem  schwedischen  Dominium  maris  Baitici  fllr  immer  ein  Ende  zu 
machen. 

Für  Schweden  erhob  sich  niemand ;  der  Protector  von  England  gab 
schöne  Worte,  aber  leistete  nichts ;  und  Frankreich,  nur  gegen  das  Haus 
Habsburg  in  Spanien  und  im  Reich  gewandt,  wollte  weder  Polen  sinken 
noch  Schweden  zu  mächtig  werden  lassen ;  es  mühte  sich  ab  hinzuhal- 
ten und  zu  vermitteln.  Es  gab  nur  einen  Fürsten ,  der  nahe  genug  und 
militärisch  stark  genug  war  helfen  zu  können,  den  von  Brandenburg. 

Wir  haben  die  Frauenburger  Verhandlungen  schon  oben   bespro- 


9*]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  435 

chen.  Der  Churftirst  hatte  durchaus  nicht  das  Interesse  den  Abschluss  zu 
beeilen ,  auf  den  Karl  Gustav  brannte ;  er  suchte  zwischen  den  beiden 
Kronen  zu  vermitteln.  Von  ihm  ging  der  Vorschlag  aus ,  zu  dem  sich 
auch  Karl  Gustav  bereit  erklären  musste,  den  de  Lumbres  an  Johann 
Casimir  überbrachte :  de  faire  changer  son  royaume  en  monarchie  höredi- 
laire  avec  pouvoir  d'en  disposer  pour  qui  bon  luy  sembleroit  s'il  se  vouloit 
joindre  avec  eux. 

Die  kluge  und  stolze  Königin  trug  sich  wohl  mit  ähnlichen  Gedan- 
ken; aber  um  keinen  Preis  meinte  sie  dem  »Usurpator«  der  schwedi- 
schen Krone  das  Geringste  nachgeben,  dem  abtrünnigen  Vasallen  im 
Herzogthum  Preussen  irgend  etwas  danken  zu  dürfen.  Der  Enthusias- 
mus ,  mit  dem  sich  Polen  erhob ,  gab  ihr  die  Zuversicht  grössler  Erfolge 
und  ersehnter  Rache. 

Nicht  die  Versprechungen  des  Schwedenkönigs ,  sondern  die  Dro- 
hungen der  Polen  bestimmten  den  Churfürsten  die  Waffen  zu  ergreifen. 

Er  hatte  gleich  beim  Beginn  des  Krieges  dem  Polenkönige  sich  zu 
jeder  Hülfe  bereit  erklart,  namentlich  mit  den  Ständen  im  königlichen 
Preussen  gemeinsam  den  Schutz  des  Landes  zu  übernehmen  sich  ver- 
pflichtet ;  er  war  mit  Heeresmacht  an  der  untern  Weichsel,  als  Karl  Gu- 
stav über  Posen  nach  Warschau  vordrang ;  er  forderte  Johann  Casimir 
auf,  das  Kriegsaufgebot  im  polnischen  Preussen  mit  der  brandenburgi- 
schen Armee  sich  vereinigen  zu  lassen.  Aber  die  Stände  in  Preussen 
waren  und  blieben  »ohne  Rath  und  in  Confusion ,  in  zerschnittener  Mei- 
nung ;«  und  vom  Könige  und  etlichen  Senatoren  kamen  Schreiben  an  die 
Städte  und  Woywoden  des  Weichsellandes ,  dem  Churfürsten  nicht  zu 
trauen,  nirgends  seine  Truppen  in  die  Städte  zu  lassen1.  Dann  als 
Johann  Casimir  bereits  landflüchtig  und  sein  Reich  in  des  Schweden  Ge- 
walt war ,  hatte  er  dem  Churfürsten  die  Souveränetät  des  Herzogthums 
Preussen  angeboten ,  wenn  er  gegen  Schweden  eintreten  wolle.  Sollte 
der  Churftirst  sich  und  seinen  »Staat«  in  die  schlechte  Concursmasse  der 
Republik  werfen  ?  sie  war  nichts  mehr ,  der  Abfall  des  polnischen  Hee- 
res und  Adels  verdoppelte  Karl  Gustavs  Heer ;  mehrere  tausend  Quar- 
tianer  zogen  mit  nach  Preussen ,  den  Churfürsten  zur  Unterwerfung  zu 


\ )  Aus  der  sehr  merkwürdigen  Brochure :  Eines  getreuen  preussischen  Patrioten 
eylferlige  Interimsbeantwortung  derer  dreizehn  Motiven ,  welche  im  vergangenen  Mo« 
nat  alihie  in  Danzig  bey  Philipp  Christian  Rhat  gedruckt  worden  «657. 


436  Ion.  Gust.  Droysen,  [9« 

zwingen.  Als  diese  Uebermacht  das  Herzogthum  überschwemmte,  als 
sie  endlich  vor  den  Wällen  von  Königsberg  stand,  da  konnte  der  Chur- 
fllrst  nicht  anders  als  den  Vertrag  von  Welau  annehmen. 

Dass  diess  geschehen,  dass  der  Churfilrst  1 500  Mann  dem  neuen 
Lehnsherrn  nach  dem  Vertrage  stellte ,  darüber  war  in  Polen  sofort  die 
grösste  Erbitterung ;  sie  wuchs  in  dem  Maasse  als  die  Erhebung  weiter 
schwoll  und  Zuversicht  gewann.  Warum  auch  that  der  Churfilrst  nicht 
gleich  den  Potockys  und  Koniecpolskys,  die  ja  auch  ein  Treueid  an  Karl 
Gustav  band,  nicht  gleich  dem  lithauischen  Unterschatzmeister,  der  ihm 
so  dringend  zum  Welauer  Vertrage  gerathen  hatte  {vehementer  suaserat 
Puf.  VI.  30)  und  nun  einen  Theil  der  lithauischen  Armee  commandirte? 
Man  sprach  am  Hofe  und  im  Heer  Johann  Casimirs  vom  Churfürsten  als 
von  einem  Abtrünnigen ,  dem  man  den  Process  machen  müsse ;  Jobann 
Casimir  forderte  drohend  in  einer  Frist  von  drei  Tagen  seine  Rückkehr 
zum  Gehorsam  (pro  imperio  exigebat  ut  sub  perduellionis  poena  intra  tri- 
duum  relictis  Suecis  Polonico  exercitui  sese  jung  er  et). 

Vergeblich  waren  die  Vorschläge  die  der  Churfilrst  machen  liess, 
die  Mahnungen  des  französischen  Gesandten;  ce  Roy  riy  a  pas  voulu 
prexter  Vor  eilte.  Es  wurde  der  polnische  Oberjägermeister  Georg  Mai- 
dell nach  Königsberg  gesandt ,  die  früheren  Forderungen  zu  wiederho- 
len (satis  imperiose  postulabat.  Puf.),  zugleich  Mandate  an  die  Stände  des 
Herzogthums  Preussen  zu  überbringen,  die  sie  verpflichteten  dem  Chur- 
ftlrsten  allen  ferneren  Gehorsam  zu  versagen.  Schon  vorher  waren 
Briefe  aufgefangen ,  die  dem  Gen.  Zamecky  befahlen  »des  ChurfUrsten 
deutsche  Lande  mit  Feuer  und  Schwert  zu  verwüsten« x.  Und  in  den 
ersten  Junitagen  brachen  Zameckys  Schaaren  in  die  Neumark  und  Hin- 
terpommern ein  (Puf.).  Zugleich  wurden  Tartarenschwärme  »von  Polen 
geführt,«  in  das  Herzogthum  Preussen  geworfen,  »wo  von  ihnen  viele 
Ackerleute  gefesselt  und  in  Dienstbarkeit  abgeführt  worden  sind«  (Bei- 
lage 8). 


4 )  So  der  Anfang  des  in  Beilage  8  abgedruckten  Berichtes.  Das  Schreiben  des 
Churfürsten  an  den  Polenkönig,  das  Puf.  VI.  33  hat,  muss  damals,  wohl  von  branden- 
burgischer Seite  als  Rechtfertigung,  veröffentlicht  worden  sein,  denn  Thulden  p.  278 
führt  daraus  die  Worte  an :  pari  $e  semper  studuisse  ....  jetzt  sei  er  gezwungen  sich 
mit  den  Schweden  zu  verbinden  cum  non  modo  constans  rumor  afferat  Caesarnerium  in 
Prussiam  hostilia  moliri,  verum  etiam  in  mandatis  eum  ab  Reg.  Mte  accepme  ut  id  fariat 
interceptae  a  suis  literae  testentur.  Der  Brief  ist  vom  t/1  \ .  Juli. 


03]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  437 

»Was  konnte  S.  Cf.  D.  nun  anders  thun  als  um  sich  und  dero 
von  Gott  anvertraute  Lande  wie  auch  mithin  das  Römische  Reich  von 
Gefahr  und  Desolation  zu  befreien,  diejenigen  Mittel,  so  noch  übrig,  zur 
Hand  zu  nehmen«  (Beilage  8).  Wahrend  in  Marienburg  der  Vertrag 
zwischen  Schweden  und  Brandenburg  sehr  rasch  zu  Ende  verhandelt 
wurde,  hatten  beide  Fürsten  eine  persönliche  Zusammenkunft  in  Preus- 
sisch  Holland  (17/27.  Juni),  das  gemeinsame  weitere  Verfahren  gegen 
Polen  festzustellen. 

Aber  gleich  darauf  (21 .  Juni  —  1 .  Juli)  hatte  Graf  Wittenberg  in  War- 
schau capituliren  müssen;  der  Besatzung  ward  freier  Abzug  gewährt, 
aber  ihn  selbst  und  andere  hohe  Officiere  führten  die  Polen  gefangen 
nach  Zamosc ;  nur  Benedict  Oxenstjerna  liess  man ,  da  er  schwer  er- 
krankt war,  in  Warschau  zurück. 


Der  Anfang  des  brandenburgischen  Kriegs1. 

Nach  dem  Fall  Warschaus  hatten  die  Polen  vordringen,  sich  na- 
mentlich auf  das  Lager  von  Nowodwor  werfen  müssen2,  bevor  die 
schwedische  und  brandenburgische  Armee  sich  vereinten  und  dem  Prin- 
zen Adolph  Johann  einen  Rückhalt  boten.  Der  Prinz  selbst  fürchtete, 
dass  der  Feind  ihn  überfallen  und  erdrücken  werde ;  er  fragte  bei  sei- 
nem königlichen  Bruder  an ,  ob  er  nicht  die  Position  aufgeben  und  nach 
Thorn  zurückgehen  solle ;  er  erhielt  den  Befehl  zu  bleiben.  Der  Ver- 
such, den  die  Polen  machten,  vom  linken  Weichsel  ufer  her  die  Brücke, 
die  zum  Lager  führte,  zu  nehmen,  wurde  mit  zu  schwachen  Mitteln  un- 
ternommen und  mit  schwerem  Verlust  zurückgeschlagen. 

Am  8.  Juli  N.  St.  kam  Karl  Gustav  mit  ein  Paar  tausend  Mann  von 
der  untern  Weichsel  herauf  nach  Nowodwor.  Sofort  schrieb  er  dem 
Churfürsten  (Berl.  Arch.) :  er  möge  eilen  ut  nostras  quoque  utrinque  vires 
quantocyus  congregemus  et  armi$  et  coimliis  conjunctis  non  vero  separalim 
agamus.  Er  meldet  ihm  die  Stellung  des  Feindes :  der  grösste  Theil  der 
polnischen  Streitkräfte  sei  bei  Warschau  vereinigt ,  das  lithauische  Heer 
unter  dem  Palatin  Sapieha  stehe  bei  Praga ;  Czarnecky  sei,  sobald  er  er- 


\)  Diesen  Ausdruck  »brandenburgischer  Kriege  braucht  Rudausky,  er  scheint 
der  in  Polen  damals  übliche  gewesen  zu  sein. 

2)  So  Passes  Denkwürdigkeiten  p.  8;  dass  es  nicht  geschehen,  nennt  er  »eine 
unkluge  Anordnung. « 


438  Job.  Gust.  Dboysen,  [9* 

fahren,  dass  bei  Sacrozio  eine  Brücke  über  die  Weichsel  gelegt  sei,  auf 
die  linke  Seite  des  Stromes  gegangen  und  stehe  bei  Warschau ;  so  seien 
die  beiden  Theile  des  feindlichen  Heeres  getrennt ;  er  gedenke  gegen  die 
Lithauer  und  die  von  den  Polen  bei  Praga  geschlagene  Brücke  einen 
Handstreich  zu  versuchen  (aliquid  tentare). 

Folgenden  Tages  schreibt  der  König  (Bert.  Arch.).  dass  er  im  Be- 
griff sei  »über  die  Weichsel«  zu  gehen.  Also  sein  Plan  ist  geändert,  er 
will  jetzt  nicht  auf  die  Lithauer ,  sondern  auf  Czarnecky  seinen  Angriff 
richten.  Sollte  das  geschehen ,  so  war  vor  Allem  wichtig,  dass  die  Na- 
rewlinie  gesichert  werde ,  damit  der  Feind  nicht  in  nostri  exercitus  ab- 
sentia  gegen  das  Herzogthum  vordringe.  Am  Narew  »18  Meilen«  auf- 
wärts von  Nowodwor  liegt  Tycozin,  eine  Festung  des  Fürsten  Bogislaw 
Radzivil ;  sie  war  jetzt  von  dem  Adel  Masoviens  und  Podlachiens  bela- 
gert. Der  König  besorgte ,  dass  die  Feinde  den  Narew  bei  Ostrolenka 
oder  Pultusk  überschreiten  könnten ;  da  Gefahr  im  Verzuge  sei  und  der 
Churfllrst  vielleicht  noch  Hindrung  habe ,  so  habe  er  vorgezogen  einige 
Regimenter  (unter  Radzivil  und  Douglas)  nach  Tycozin  zu  schicken,  zu* 
gleich  auf  dem  Marsch  alle  Brücken  und  Schiffe  zu  zerstören;  er  fordert 
den  Churfllrsten  auf  mit  seinen  Truppen,  die  unter  Oberst  Wallenrodt  (bei 
Johannisburg)  lägen,  Douglas  in  itu  et  reditu  zu  decken,  800  bis  1000 
Dragoner  nach  Ostrolenka  zu  senden. 

In  der  That  versuchten  die  Polen  dort  durchzubrechen.  Mit  jedem 
Tage  wuchs  in  Warschau  die  Zuversicht  und  die  Wulh  gegen  den  Chur- 
fllrsten. König  und  Königin ,  imaginaria  foriuna  elati,  wie  Karl  Gustav 
schreibt  (13.  Juli),  wiesen  alle  Erbietungen,  die  der  französische  Ge- 
sandte machte ,  zurück ;  sie  weigerten  sich  namentlich  den  Churfllrsten 
mit  in  die  Verhandlungen  über  ein  accorntnodement  aufzunehmen,  ä  cause 
qu'il  est  leur  vasal  (de  Lumbres  Schreiben  vom  9.  Aug.). 

Am  1 3.  Juli  meldet  der  König ,  es  sei  Nachricht  gekommen,  dass 
der  Feind  (unter  dem  Grossmarschall  Lubomiersky,  unter  dem  Gon- 
siewsky  stand)  vorgehe,  zwischen  Pultusk  und  Ostrolenka  in  nosiros 
eruplionem  facere ;  er  bittet  dringend  Wallenrodt  »oder  wen  sonst«  zur 
Deckung  vorgehen  zu  lassen,  vor  Allem  aber  selbst  recht  bald  heranzu- 
kommen :  quamdiu  nostras  utrinque  vires  separatim  stare  et  in  unum  non 
coivisse  senserint,  haud  dubie  nihil  de  illo  animi  tumore  remittent. 

Man  war  schwedischer  Seits  sehr  entfernt,  dem  Churfllrsten  zu 
trauen ;  man  glaubte,  dass  er  immer  noch  mit  Johann  Casimir  verhandle. 


95]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  439 

In  einem  viel  spatern  Schreiben  (6.  Decb.  1 657)  sagt  der  König :  quod 
plane  eos  latere  non  potuit  qui  videbant  quae  subinde  miscebantur  per  Ge- 
orgium  Maydel  et  cum  proteclo  iunc  etiam  Gomievio  ogebantur.  Also  auch 
jetzt  noch,  so  glaubte  man,  Heimlichkeit  mit  Gonsiewsky,  der  gegen  den 
Narew  vorrückte. 

Man  wird  sehr  beruhigt  gewesen  sein,  dass  der  Churfürst  endlich 
heranzog ,  am  1 1 .  Juli  jenes  Schreiben  an  den  Polenkönig  erliess ,  das 
seine  Conjunction  mit  den  Schweden  aussprach ,  den  1 4.  Juli  die  pol* 
nische  Grenze  überschritt ;  er  stand  nun  bei  Schrinsky,  nur  einen  Marsch 
von  Nowodwor  entfernt. 

Der  König  brannte  darauf  die  Offensive  zu  ergreifen.  Die  Brücke 
bei  Warschau,  schreibt  er  16.  Juli  dem  Churfürsten  eigenhändig  und 
deutsch,  ist  bei  dem  hohen  Wasser  gebrochen,  eine  neue  Brücke  »unter- 
halb der  Stadt«  erst  angefangen  und  nicht  sobald  fertig.  Die  lithauische 
Armee  steht  getrennt  von  der  übrigen ,  »welcher  ich  gewiss  vermeine 
man  etwas  könne  beibringen,  dieweil  man  den  Bug  oberhalb  bleiben 
kann ,  wenn  man  den  Narew  erst  passirt.«  Also  die  lithauische  Armee 
stand  zwischen  Bug  und  Narew ;  wir  entnehmen  aus  Des  Noyers  Brief 
vom  20.  Juli,  dass  nur  10,000  M.  bei  Praga  (unter  Paul  Sapieha)  geblie- 
ben; die  übrigen  20,000  M.(?)  unter  Lubomiersky  standen  am  rechten  Ufer 
des  Bug.  Dort  also  wollte  sie  Karl  Gustav,  den  Narew  oberhalb  seiner 
Einmündung  in  den  Bug  überschreitend ,  getrennt  von  dem  Hauptheer 
überfallen. 

Noch  war  Douglas  von  Tycozin  nicht  zurück ;  war  die  lithauische 
Armee  ausgesandt  ihn  abzuschneiden  ?  Des  Noyers  sagt :  Gonsiewsky  sei 
mit  2000  M.  abgesandt  worden  pour  empecher  le  secours  de  Tycozin,  que 
Douglas  conduisait;  aber,  fügt  er  hinzu,  il  arriva  irop  tard.  Der  König 
meldet  am  1 8ten,  dass  Douglas  Tycozin  glücklich  entsetzt  habe,  dass  er 
auf  dem  Rückmarsch  sei  und  folgenden  Tages  eintreffen  werde.  Er  kam 
unversehrt  an. 

Gonsiewsky  rückte  vor ,  als  Douglas  vorüber  war ;  am  23sten  ist 
im  schwedischen  Lager  die  Nachricht,  dass  er  Ostrolenka  besetzt  habe, 
Pultusk  einschliesse.  Sofort  eilt  der  König  (24.  Juli)  in  eigner  Person 
»mit  einer  starken  Parthie«  Schweden  und  Brandenburgern  den  Narew 
aufwärts.  Gonsiewsky  zieht  sich  bei  seinem  Herannahen  schleunigst  von 
Pultusk  und  »über  den  Bug  auf  Warschau«  zurück.  Am  27.  Juli  ist  der 
König  wieder  im  Lager. 


440  Job.  Gust.  Däoysen,  [96 

Bis  zu  diesem  Tage  hatte  der  Churßtrst  noch  gezögert  den  letzten 
Schritt  zu  thun,  den,  sich  mit  dem  Könige  vollständig  zu  conjungiren 
d.  h.  die  entscheidende  Offensive  möglich  zu  machen.  Er  hatte  gehofft, 
dass  man  in  Warschau  endlich  zur  Besinnung  kommen,  »sich  endlich 
zum  Frieden  bewegen  lassen  werdea  (Rel.  I.  §  5).  Das  Schreiben  des 
Polenkönigs  vom  25sten,  das  des  Gnesner  Erzbischofs  vom  24.  Juli 
konnten  ihm  zeigen,  dass  es  eines  schärferen  Druckes  bedürfe,  den 
Uebermuth  der  Polen  zu  brechen.  Am  27.  Juli  erfolgte  die  »Conjunction.« 

Halten  wir  einen  Augenblick  inne.  Die  militairischen  Bewegungen 
in  den  vier  Wochen ,  die  seit  dem  Fall  von  Warschau  verflossen  waren, 
zeigen  auf  das  deutlichste  die  geistige  Ueberlegenbeit  Karl  Gustavs,  die 
Schwäche  der  polnischen  Uebermacht.  Acht  Tage  lang  steht  das  Häuf- 
lein Schweden  in  Nowodwor,  so  schwach,  dass  der  Generalissimus  selbst 
verzweifelt  sich  halten  zu  können,  nach  Thorn  zurtickgehn  will ;  aber  die 
Polen  lassen  ihn  ungestört.  So  wie  Karl  Gustav  angekommen ,  beginnt 
er  rechts  und  links  hinaus  zu  schlagen ;  am  1 1 .  Juli  streift  Bttlow  bis 
Blonie ,  südwestlich  von  Warschau,  den  Polen  den  Marsch  nach  Thorn 
zu  verlegen ;  zugleich  eilt  Douglas  und  Radzivil  Tycozin  zu  entsetzen ; 
dann  folgt  des  Königs  Zug  den  Strom  hinauf,  den  Feinden  das  Durch- 
brechen nach  Preussen  zu  hindern.  Karl  Gustav  versteht  es  die  unschlüs- 
sigen Gegner  bald  da  bald  dort  zu  Überraschen;  er  weiss  sie  hinzu- 
halten, bis  die  Conjunction  ihn  in  den  Stand  setzt  den  entscheidenden 
Stoss  zu  flihren. 

Auf  polnischer  Seite  scheint  man  sich  immer  noch  nicht  stark  genug 
su  fühlen ;  man  wartet  noch  auf  die  Ankunft  der  Tartaren.  Johann  Casi- 
mir wirft  wohl  auf  die  Nachricht  von  Bulows  Zug  nach  Blonie  ein  Corps 
dorthin ;  aber  wie  es  ankommt,  sind  die  Schweden  schon  hinweg ;  man 
folgt  bis  an  die  Brücke  von  Sacrozin ,  da  aber  erlahmt  der  Stoss  (Puf. 
C.  G.  III.  24).  Es  wird  jener  Versuch  gemacht  den  Uebergang  über  den 
Narew  zu  gewinnen,  aber  die  Lilhauer  weichen  vor  dem  Anmarsch  des 
Königs  zurück.  Was  hilft  die  Uebermacht,  die  Johann  Casimir  hat,  il  y  a 
vingt  sept  jours,  schreibt  Des  Noyers  am  27.  Juli ,  que  tout  cela  est  ici  a 
faire  bonne  chere  ei  hisse  le  Roy  de  Suade  camper  six  lieues  (Tivi ,  lequel 
depuis  qu'il  y  est  ria  pas  eu  plus  de  10,000  komme*  effectifs  et  13,000  de 
FElecteur ;  fai  honte  de  le  dire. 


97]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  441 

Die  Einleitung  zur  Schlacht. 

Es  ist  nicht  meine  Aufgabe,  aus  allgemeinen  strategischen  Gesichts- 
punkten die  Schlacht  von  Warschau  zu  entwickeln;  auch  militairisch 
von  grösserem  Interesse  ist  es  festzustellen,  wie  und  aus  welchen  An- 
lassen man  von  der  einen  und  andern  Seite  zur  Schlacht  kam. 

De  Lumbres  nennt  in  seinem  Bericht  an  Mazarin  die  Schlacht  une 
rencanlre  inopintie  de  deux  armees  qvi  se  cherchaient  Pune  et  lautre ,  sans 
avoir  aucun  advis  de  la  marche  ny  du  dessein  de  Vune  Fautre.  Ist  diese 
Bezeichnung  richtig? 

Pufendorff  berichtet  (F.  W.  VI,  36) ,  der  Polenkönig  habe  de  Lum- 
bres Antrftge  (vordem  27. Juli)  mit  den  Worten  abgelehnt:  »er  habe  das 
schwedische  Heer  den  Tartaren  zum  Frühstück  geschenkt,  den  Churfiir- 
sten  wolle  er  in  ein  Verwahrsam  bringen,  wohin  weder  Sonne  noch 
Mond  scheine.«  Also  man  wollte  den  Feind  schlagen  und  vernichten ; 
und  wo  er  zu  finden  sei ,  wusste  man  sehr  wohl ;  man  brauchte  ihn 
nicht  erst  zu  suchen. 

Und  bedarf  es  noch  eines  Beweises,  dass  Karl  Gustav  die  Schlacht 
suchte?  Als  de  Lumbres  ihn  bei  jenem  Zusammentreffen  am  28.  Juli 
Mittags  zurückzuhalten  suchte,  ihm  die  Uebermacht  des  Feindes  dar- 
legte ,  ihn  vor  der  fast  unvermeidlichen  Niederlage  nach  so  vielen  ruhm- 
vollen Erfolgen  warnte,  antwortete  der  König  nach  Locceniusp.  734 
und  Scheffer  XVII.  8 :  »wenn  nur  alle  meine  Feinde  hier  auf  Einem 
Felde  mir  gegenüber  ständen,  dass  ich  sie  mit  einem  Male  niederwerfen 
könnte.« 

Und  doch  ist  in  dem  Ausdruck  une  rencanlre  inopinde  etwas 
Richtiges. 

Die  Verbündeten  hatten  ihren  Plan  darauf  gestellt ,  dass  die  neue 
Brücke  bei  Warschau  noch  nicht  fertig ,  die  Verbindung  zwischen  der 
lithauischen  und  polnischen  Armee  noch  nicht  hergestellt  sei;  ob  sie 
wussten ,  dass  von  der  lithauischen  Armee  die  grössere  Hälfte  noch  am 
Bug  stehe ,  nur  1 0,000  Mann  unter  Paul  Sapieha  und  das  am  Narew 
zurückgewiesene  Corps  von  Gonsiewsky  bei  Praga  stehe,  ist  nicht  zu 
ersehen. 

In  der  Rel.  I.  II.  u.  s.  w.  wird  der  Plan  der  Verbündeten  mit  fol- 
genden Worten  angegeben  (§  8) :  »dass  man  der  lithauischen  Armee  so 
bei  Praga  eine  Weile  gestanden,  eines  beizubringen,  oder  da  solche  sich 

Abhtndl.  d.  K.  8.  Gc«.  d.  Wist.   X.  30 


442  Job.  Gcst.  Droysen,  [98 

retiriren  thäte ,  vorerst  die  Brücke  bei  Warschau  gänzlich  zu  ruiniren 
und  alsdann  wieder  den  Bug  bei  Nowodwor  zu  repassiren  und  nachdem 
man  über  die  bei  Zacrozin  verfertigte  Brücke  gekommen ,  jenseits  der 
Weichsel  bei  Warschau  mit  dem  Feind  zu  einer  Hauptaction  zu  gelangen 
suchen  wolle.«  Auch  in  den  brandenburgischen  Bearbeitungen  der  Re- 
lation I.  ist  diese  »Intention«  unverändert  gelassen '.  Und  de  Lumbres 
berichtet,  dass  die  Verbündeten,  als  er  sie  auf  dem  Anmarsch  traf  ihm 
gesagt  haben:  que  leur  dessein  estoit,  (faller  attaquer  Varmee  de  Lituanie 
separee  de  celle  de  Pologne  par  la  riviere  de  Vislule  et  puis  les  forte  de 
terre  qui  sont  fort  proches  du  pont,  et  enstäle  brusler  une  partie  du 
wesme  pont. 

Also  die  Absicht  beim  Aufbruch  am  28.  Juli  ist  nicht  die  ganze 
feindliche  Armee  zu  treffen.  Die  Eile  des  Aufbruches  und  des  Marsches 
zeigt,  dass  man  einen  Ueberfall  zu  machen  gedenkt,  ehe  die  Verbindung 
beider  polnischer  Heeres t  heile  ermöglicht  ist,  dass  man  den  rechten  Flü- 
gel der  feindlichen  Armee  zu  sprengen  und  dann  in  raschem  Rückmarsch 
den  linken  Flügel  zu  erreichen  und  zu  vernichten  hofft.  Man  nimmt  nur 
Proviant  auf  drei  Tage  mit. 

lieber  den  Plan  der  Polen  geben  Rel.  I.  II.  u.  s.  w.  folgendes :  »Es 
hat  sich  zugetragen,  dass  der  Feind  gleich  selbiges  Tages  (28.  Juli)  suchte 
mit  seiner  um  Warschau  bei  sich  gehabten  Force  über  seine  Brücke  zu 
Warschau  zu  gehen  und  nach  beschehener  Conjunction  mit  der  lilhaui- 
schen  Armee  und  den  angekommenen  Tarlaren  vor  dem  schwedischen 
Lager  bei  Nowodwor  sich  zu  setzen  und  mit  den  Partheien  die  schwe- 
dischen und  brandenburgischen  Fouragiers  zu  incommodiren.a 

Diesen  Krieg  gegen  die  Fouragiere  wird  man  wohl  auf  sich  beru- 
hen zu  lassen  haben.  Kochowsky  führt  p.  1 7  8  an :  »nach  der  Nachricht 
von  der  Ankunft  des  ChurfUrsten  in  Plonsk  sei  in  Warschau  Kriegsrath 
gehalten  worden,  ob  man  am  Stromufer  entlang,  das  keinen  Unterhak 
mehr  biete,  vorgehen  und  den  vorstürmenden  Feind  aufhalten  solle, 
oder  ob  es  nicht  besser  sei  ihn  innerhalb  der  Verschanzungen  zu  erwar- 


1 )  In  dem  Beilage  8  angeführten  Bericht  heissl  es :  » in  der  Intention  sich  zu  be- 
mühen ob  der  ohnweit  daselbst  (bei  Praga)  stehenden  lilbauischen  Armee  eins  beige- 
bracht oder  da  (solches  nicht  möglich)  dieselbe  sich  retiriren  (dürfte)  sollte,  ob  die 
Bracke  bei  Warschau  ruinirt  und  wenn  man  über  den  Bug  zurück  gegangen ,  ob  man 
bei  Sacrozin  über  die  Weichselbrücke  kommen  und  dann  füglich  mit  dem  Feinde  an- 
binden konnte.«   Die  eingeklammerten  Worte  sind  im  Concept  gestrichen. 


99]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  443 

ten ,  um  nicht  die  zusammengebrachten  Magazine  unvorsichtig  aufzuge- 
ben; werde  man  im  freien  Feld(?)  geschlagen,  so  bleibe  immer  noch  ein 
sichrer  Rückzug  hinter  die  Yerscbanzungen.ee  Quod  po litis  visum  fügt 
er  hinzu. 

Man  kann  mit  Bestimmtheit  sagen,  dass  diese  Angabe  Kochowskys 
unrichtig,  nicht  bloss  unlogisch  ist.  Am  27.  Juli  bereits  schreibt  Des 
Noyers :  cependant  notre  armie  passe  la  Vistule  sur  notre  pont  de  batteaux, 
pour  ensuiie  aller  passer  le  Bug  pour  trouver  l'ennemi,  qui  ne  sorl  point  de 
ses  retranchements;  les  Tartares  doivent  Vinvestir  par  derriere,  et  sil  se 
laisse  enfermer,  il  est  per  du  assurement,  mais  je  crois  quil  se  reürera  en 
Prusse  aussitot  qu'il  sauta  quon  ira  ä  lui.  Daher  sagt  de  Lumbres  am 
2 8s ten  den  Verbündeten,  als  er  sie  auf  dem  Anmarsch  trifft:  quils  ne 
trouveroieni  pas  les  trouppes  de  Lituanie,  parce  qu'elles  marchaient  pour 
gagner  la  riviere  de  Bouc  ...et  que  Celles  de  Pologne  commengoient  ä  filer 
en  degä  du  pont  pour  se  joindre  aux  Tartares  et  suivre  celles  de  Lituanie. 

Also  der  Plan  der  Polen  war  den  Feind  in  Nowodwor  einzuschlies- 
sen;  man  wollte  zu  dem  Ende  Ober  den  Bug  gehen,  natürlich  nicht  un- 
ter den  Augen  des  Feindes,  sondern  weiter  stromaufwärts,  so  dass  man 
ihm  den  Rückzug  nach  Preussen  sperrte.  Aber  musste  dazu  die  ganze 
Armee  nach  dem  Bug  gehen?  musste  nicht  zugleich  das  linke  Weichsel- 
ufer bei  Sacrozin  gedeckt,  die  Brücke  dort  zerstört  werden?  Unsre 
Quellen  geben  keine  Antwort  auf  diese  Fragen.  Inzwischen  plante  man 
schon  ins  Weite  hinaus;  das  Herzogthum  Preussen  sollte  als  ein  verfal- 
lenes Lehn  angesehen  und  mit  der  Krone  vereinigt  werden ;  eben  des- 
halb wollte  man  es  nicht  heimsuchen  (il  ne  faul  pas  ruiner  cette  province, 
Des  Noyers  am  27.  Juli)  wohl  aber  die  Tartaren  nach  der  Mark  und 
Pommern  werfen  u.  s.  w. 

Man  sieht,  in  welchem  Sinn  de  Lumbres  Bezeichnung  der  Schlacht 
als  une  rencontre  inopinie  richtig  ist.  Weder  die  Polen  hatten  den  An- 
marsch des  Feindes,  von  dem  ihnen  am  Morgen  des  28.  Juli  Nachricht 
kam ,  vorausgesehen ,  noch  waren  die  Alliirten  darauf  gefasst  auf  die 
ganze  feindliche  Armee  bei  Praga  zu  stossen.  Darauf  gründete  dann 
de  Lumbres  den  Versuch  noch  jetzt  den  Zusammenstoss  zu  hindern 
[cette  rencontre  inopxnie  . . .  pouvait  faire  prendre  de  nouveaux  conseils,) ; 
er  meint,  es  wäre  möglich  gewesen,  si  Xarmie  de  Suede  et  de  Branden- 
bourg  tCen  eussent  esti  trop  avancies  pour  rebrousser  chemin. 

Schwerlich  war  das  der  Grund.    Vielmehr  de  Lumbres  weitere 


441  Job.  Gcst.  Diotskh,  [100 


Angabe,  que  Celles  de  Pologne  commencoient  dejä  ä  filer  au  deca  de  pont 
pour  se  joindre  aux  Tarlares,  zeigte ,  dass  man  eilen  müsse  heranzukom- 
men ,  um  wo  möglich  die  Brücke  zu  zerstören  bevor  noch  mehr  Yolk 
herüberkomme.  Namentlich  der  Churfürst  hatte  allen  Anlass  zum  Vor- 
gehn  zu  mahnen ;  für  ihn  stand  jetzt  noch  mehr  anf  dem  Spiel  als  ftr 
die  Schweden. 

Die  Schlacht. 

Es  darf  wohl  auffallen ,  dass  die  Verbündeten  auch  da  noch  ihren 
ursprünglichen  Plan  festhielten,  als  sie  schon  erkennen  mussten,  dass 
die  Bedingungen,  auf  die  derselbe  berechnet  war,  sich  verändert  hatten. 

Aber  wenn  sie  nach  einem  schweren  Marsch  in  der  Hitze  und  dem 
Staub  eines  Julitages ,  noch  bei  Sonnenuntergang  den  Angriff  gegen  die 
verschanzte  Stellung  des  Feindes  versuchten,  so  mussten  sie  hoffen  noch 
überraschen  und  durch  Ueberraschung  etwas  erreichen  zu  können.  Die 
Richtung  des  Stosses,  den  sie  führten,  ist  auf  den  linken  Flügel  des 
Feindes  gerichtet;  sie  wollen  zur  Brücke  durchbrechen  und  sie  zer- 
stören. 

Nicht  bloss  diess  mislingt,  man  bekommt  zugleich  einen  harten  Chock 
von  der  linken  Flanke  her,  der  sehr  deutlich  zeigt,  dass  der  Feind  voll 
Kampflust  und  Zuversicht  ist. 

Ob  es  richtig  ist ,  dass  in  dem  Kriegsrath  der  Alliirten  nach  diesem 
Abendgefecht  der  Vorschlag  gemacht  worden  zurückzugehen ,  muss  da- 
hingestellt bleiben.  Vielleicht  war  der  Rückzug  unter  den  Augen  eines 
an  Reiterei  überlegenen  Feindes  noch  bedenklicher  als  eine  Schlacht. 

Dass  man  so  nahe  den  Verschanzungen  des  Feindes,  einen  langge- 
streckten Wald  zur  Seite,  ohne  Verhau  und  sonstige  Deckung  lagerte, 
war  nicht  viel  mehr  als  eine  Bravade.  Warum  strafte  der  Feind  sie  nicht 
mit  einem  nächtlichen  Ueberfall?  Noch  war  nicht  seine  ganze  Armee 
diesseits  der  Weichsel ;  die  ganze  Nacht  durch  währte  das  Herttberziehn 
der  Colonnen.  Er  hatte  eine  Stellung,  in  der  er  des  Erfolges  in  jedem 
Fall  sicher  zu  sein  glauben  durfte.  Sie  beherrschte  die  der  Verbündeten 
vollständig. 

Dass  jenseits  der  Weichsel  bei  Pulko  schwere  Stücke  postirt  wur- 
den, die  rechte  Flanke  der  Alliirten  zu  bestreichen,  scheint  zu  beweisen, 
dass  man  darauf  rechnete,  die  Gegner  vor  den  Retranchements  zwischen 
Wald  und  Weichsel  festzuhalten.     Auch  die  kleine  Colline  neben  dem 


*<M]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  445 

Wald  war  mit  Stücken  besetzt,  um  dem  Feind  das  Debouchiren  nach 
links  in  das  offene  Feld  unmöglich  zu  machen ,  ihn  in  der  Sackgasse ,  in 
die. er  gerannt  war,  schliesslich  zusammenzuquetschen. 

Die  Lage  der  Verbündeten  war  arg  genug.  Vor  sich  verschanzte 
Höhen ,  das  Feuer  des  Feindes  von  dort ,  von  der  rechten  und  linken 
Flanke,  einer  vier-  bis  fünfmal  stärkeren  Truppenzahl  gegenüber,  so  be- 
gannen sie  die  Schlacht  am  29sten  früh. 

Wir  haben  in  der  Besprechung  der  einzelnen  Gefechtsmomente  dar- 
auf hingewiesen,  dass  der  Schlachtplan  der  Verbündeten  am  Sonnabend 
früh  nicht  deutlich  zu  erkennen ,  dass  namentlich  durch  die  Quellenan- 
gaben nicht  festzustellen  ist,  ob  von  früh  an  die  Absicht  darauf  gerichtet 
war,  die  Schlacht  ins  freie  Feld  zur  Linken  zu  verlegen  und  zu  diesem 
Zweck  die  Colline  zu  nehmen,  oder  ob  man  diese  nur  zu  nehmen  be- 
schloss,  um  das  Feuer  des  Feindes  gegen  die  linke  Flanke  zu  beseitigen 
und  einen  Stützpunkt  für  diese  zu  gewinnen. 

Es  mochte  im  Hauptquartier  einer  und  der  andere  sein  —  Radzivil, 
Fr.  Waldeck,  der  Churfürst  selbst  —  der  aus  früherer  Anwesenheit  ii> 
Warschau  eine  ungefähre  Kenntniss  von  dem  Terrain  um  Praga  hatte ; 
es  mochte  durch  die  Recognoscirungen  am  vorigen  Tage  ermittelt  sein, 
dass  der  Wald  von  Bialalenka  nicht  breit,  dass  auf  dessen  Ostseiie  freies 
Feld  sei.  Wollte  man  da  hinaus,  so  wäre  unzweifelhaft  die  nächste 
Maassregel  am  Morgen  des  29sten  gewesen,  sich  seiner  Ostausgänge  zu 
versichern,  um  von  dort  aus  debouchiren  zu  können.  Der  Gang  des 
Gefechtes  am  29sten  Vormittags  zeigt,  dass  der  Wald  nicht  besetzt 
worden  war;  die  Tartaren  konnten  auf  dem  Wege  von  Bialalenka  her 
durch  den  Wald  kommen,  ohne  bemerkt  zu  werden. 

Was  also  war  beim  Beginn  des  Gefechts  am  29sten  die  Absicht  der 
Alliirten,  die  ja  angreifen  wollten  und  die  Entscheidung  forciren  muss- 
ten?  Es  konnte  keine  andre  sein  als  angelehnt  an  die  Weichsel  und  an 
die  Colline  irgend  wo  die  feste  Stellung  des  Feindes  zu  durchbrechen, 
wie  sie  schon  Abends  vorher  versucht  hatten ;  also  kein  neuer  Plan,  ob1 
schon  die  Verhältnisse  nicht  mehr  dieselben  waren ,  auf  die  der  frühere 
gegründet  war. 

Vielleicht  fässt  sich  hieraus  eine  zweite  Folgerung  entwickeln.  War 
die  Absicht  die  Retranchements  zu  durchbrechen ,  so  erscheint  die  Be- 
sitznahme der  Colline  nur  als  eine  defemsive  Maassregel,  und  diese  wies 


446  Joh.  Gust.  Droysen,  [JOS 

der  König  dem  brandenburgischen  Flügel  zu,  während  er  seinen  Schwe- 
den die  active  Rolle,  den  Ruhm  des  Tages  bestimmte. 

Erst  jener  Tartarenangriff  und  der  »furieuse«  Anprall  der  4 — 6000 
Polen,  den  der  Churfiirst  auszuhalten  hatte,  bevor  die  Colline  mit  Stücken 
besetzt  war,  zeigte,  dass  der  Schwerpunkt  des  Kampfes  entschieden 
nach  der  Linken  hin  gehe,  dass  man,  ohne  Aussicht  auf  entscheidenden 
Erfolg  auf  dem  rechten  Flügel,  bei  längerem  Festhalten  des  früheren  Pla- 
nes in  Gefahr  sei,  völlig  in  die  Defensive  gedrängt  zu  werden.  Erst  jetzt, 
nachdem  Karl  Gustav  selbst  von  der  Colline  aus  das  Terrain  zur  Linken 
übersehen,  wird  die  völlige  Veränderung  der  Disposition  beschlossen. 

Ehe  ihre  Ausführung  beginnt,  ergreifen  die  Polen  an  allen  Punkten 
zugleich  die  Offensive ;  sie  ihrerseits  suchen  die  Linie  der  Alliirten,  deren 
beide  Flügel  schon  nicht  mehr  in  unmittelbarer  Verbindung  stehen ,  zu- 
gleich von  den  Retranchements  aus  zu  durchbrechen  und  von  Bialalenka 
aus  zu  umgehen.  Sichtlich  nicht  ohne  Mühe  gelingt  es  den  Alliirten  sich 
gegen  diesen  schweren  Anprall  zu  behaupten. 

Der  polnische  Angriff  mislingt,  weil  man  es  versäumt  hat  auf  Einen 
Punkt  den  entscheidenden  Stoss  zu  richten.  Man  eilt  diesen  Fehler  gut 
zu  machen;  man  sammelt  die  besten  Truppen  zu  beiden  Seiten  des 
Schanzhügels,  dem  brandenburgischen  Flügel  gegenüber,  um  gegen  die 
schwächste  Stelle  der  feindlichen  Linie  vorzudringen  und  da  durchbre- 
chend den  Eingang  in  den  Wald  zu  gewinnen,  damit  die  beiden  Flügel 
des  Feindes  völlig  auseinander  zu  reissen. 

Auch  dieser  Angriff  mislingt;  er  scheitert  an  der  Festigkeit  der 
brandenburgischen  Vierecke ;  und  Karl  Gustav  gewinnt  Zeit,  seine  Trup- 
pen in  den  Wald  und  durch  denselben  zu  ziehen. 

Der  Wald  von  Bialalenka  ist  in  diesem  Moment  der  Schlacht  gleich- 
sam die  Festung ,  in  der  sich  die  Armee  der  Alliirten  sammelt  um  sich 
zum  Ausfall  nach  links  hin  zu  rangiren.  Man  darf  wohl  fragen,  ob  die 
Alliirten  nicht  gleich  am  Morgen  damit  hätten  beginnen  können  den  Wald 
so  zu  benutzen ,  ob  sie  nicht  durch  Besetzung  des  Waldes  in  der  Nacht 
die  feste  Stellung  des  Feindes,  die  man  am  Abend  schon  hatte  kennen 
lernen,  zu  tiberhohlen,  von  ihm  aus  die  Colline,  deren  Besetzung  so  viele 
Mühe  kostete,  um  so  leichter  zu  nehmen. 

Mit  dem  Abzug  des  schwedischen  Flügels  in  den  Wald  waren  die 
Retranchements  des  Feindes  gleichsam  todt  gelegt ;  die  Geschütze  wur- 
den abgefahren,  auf  die  Dünen  und  nach  dem  Holz  von  Praga  gebracht. 


103]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  447 

Von  den  Polen  scheint  auch  nicht  ein  Versuch  gemacht  zu  sein,  den  ab- 
ziehenden schwedischen  Flügel  festzuhalten;  ihre  ganze  Streitmacht 
drängt  sich  nach  den  Dünen  und  macht  Front  gegen  Osten. 

Die  neue  Aufstellung,  die -die  Polen  am  Nachmittag  des  29.  Juli 
nahmen  bis  Bialalenka  hin ,  das  allmählige  Zurücknehmen  ihres  rechten 
Flügels  bis  hinter  Brudno,  dann,  als  die  feindliche  Schlachtlinie  der  Du- 
nenreihe ziemlich  parallel  steht,  der  plötzliche  Ansturz  gegen  deren  Front 
und  zugleich  gegen  ihre  linke  Flanke ,  scheint  zu  zeigen,  dass  eine  ge- 
schickte Hand  die  Leitung  hat;  nach  Rudausky  darf  man  schliessen, 
dass  Czarnecky  diese  Bewegungen  leitete.  In  der  That  schien  sich  der 
Erfolg  auf  die  Seite  der  Polen  zu  neigen,  als  hier  die  Husaren  das  erste 
schwedische  Treffen  durchbrachen ;  Kochowsky  erzählt ,  dass  Karl  Gu- 
stav an  dem  Ausgang  des  Tages  verzweifelnd  einen  Trompeter  abge- 
schickt habe  Waffenstillstand  anzubieten ;  id  verumne  an  pro  um  prae- 
scnti  vulgatum  haud  affirmo,  fügt  er  hinzu.  Aber  die  brandenburgischen 
Brigaden  im  Centrum,  die  Escadronen  auf  dem  brandenburgischen  Flügel 
standen  unerschüttert;  und  der  schwedische  Flügel  gewann  schnell  seine 
Haltung  wieder ;  der  Feind  wurde  überall  zurückgeworfen. 

Karl  Gustavs  Absicht,  als  er  am  Rand  des  Waldes  den  linken  Flü- 
gel genommen  hatte  and  auf  den  rechten  pivotirend  über  Bialalenka,  über 
Brudno  vorging,  war,  so  scheint  es,  den  Feind  zu  tourniren.  Darum  schob 
er  sich  immer  weiter  nach  links ,  nahm  mehr  und  mehr  seinen  Flügel 
vor,  indem  er  den  des  Churfürsten  von  seinem  früheren  Stützpunkt, 
der  kleinen  Colline,  entfernte  und  gegen  Brudno  hin  nach  sich  zog.  Der 
Abend  brach  ein ,  ehe  er  seinen  Zweck  erreicht  hatte ;  er  musste  sich 
begnügen  den  Feind  mürbe  gemacht  zu  haben. 

Die  Gefechte  am  Sonntag  zeigen,  dass  diess  keinesweges  in  dem 
Maasse  der  Fall  war ,  wie  Des  Noyers  in  seinem  Unmuth  angiebt :  les 
nötres  senfuirent  sans  combattre.  Auch  war  die  Disposition  der  Alliirten 
nichts  weniger  als  darauf  berechnet ,  einem  völlig  entmuthigten  Feinde 
nur  noch  den  letzten  Stoss  zu  geben.  Vielmehr  gab  Karl  Gustav  den 
Plan  auf,  den  Feind  in  seinem  rechten  Flügel  zu  umfassen,  ihn  aus  sei- 
ner festen  Stellung  heraus  zu  manövriren;  es  wurde  jene  Sturmcolonne 
brandenburgisches  Fussvolk  formirl,  die  das  verschanzte  Holz  von  Praga 
nehmen  und  damit  das  Centrum  der  feindlichen  Linie  durchbrechen 
musste ;  mit  der  Einnahme  des  Holzes  war  die  Schlacht  entschieden. 

Die  Uebergabe  Warschaus  war  die  nächste  Folge  des  Sieges. 


448  Joh.  Gust.  Dboysen,  [104 

Nach  der  Schlacht. 

»Die  Schlacht,  schreibt  d'Avaugour  an  seinen  Hof  (bei  Carlson  p.  1  52), 
ist  mehr  eine  Zerstreuung  des  Feindes  «als  eine  Niederlage  gewesen.« 

Der  König  floh  nach  Lublin,  die  Königin  nach  Landshut  in  Galizien ; 
aber  die  zersprengten  Schaaren  sammelten  sich  in  den  nächstfolgenden 
Tagen;  schon  am  1 1 .  Aug.  waren  deren  bei  50,000  um  den  König. 

Nach  Karl  Gustavs  Sinn  wäre  es  gewesen,  den  Feind  nicht  mehr 
zu  Athem  kommen  zu  lassen,  dem  Könige  auf  dem  Wege  nach  Zamosc 
zuvorzukommen,  ihn  zu  einer  zweiten  Schlacht  zu  zwingen,  ihm  den 
Frieden  zu  dictiren. 

Mochte  das  seinen  Interessen  entsprechen,  die  des  Churfiirsten 
waren  anderer  Art. 

Und  schon  zeigte  sich  deutlich  genug,  dass  es  keineswegs  die  Mei- 
nung der  europäischen  Politik  sei,  Polen  dem  wilden  Ungestüm  der 
Schwedenmacht  zur  Beute  zu  lassen.  Schon  lag  eine  mächtige  staatische 
Flotte  auf  der  Rhede  von  Danzig  (de  Lombres  Schreiben  vom  1 1 .  Aug.); 
der  Wiener  Hof  schickte  sich  an  ernstlich  einzuschreiten ,  Isola  erhielt 
den  Auftrag  zu  melden,  dass  ein  kaiserliches  Heer  mit  60  Geschützen 
nach  Pommern  vorgehe,  dass  mit  dem  Moscowiter  ein  Schutz-  und 
Trutzbündniss  eingeleitet  werde  (Des  Noyers  26.  Aug.).  Schon  drangen 
die  Moscowiten  auf  Riga  ein ;  demnächst  kam  ein  moscowitischer  Bot- 
schafter an  den  Churfiirsten ,  von  ihm  zu  fordern ,  dass  er  sein  Herzog- 
thum  Preussen  von  dem  Grossfllrsten  zu  Lehen  nehme  »und  zwar  iisdem 
condilionibus  wie  es  bei  Polen  gewesen;«  er  fügte  hinzu,  »sein  Zaar  sei 
ein  so  grosser  Herr,  dass  er  den  Churfiirsten  wohl  schützen  könne,  habe 
Geldes  genug,  ihm  fehle  nur  ein  Hafen,  so  wolle  er  Schiffe  genug  bauen 
lassen  und  sollten  andre  Schiffe  dann  wohl  wegbleiben.«  (Schwerin  an 
Weymann  11.  Sept.  1656.    Düsseid.  Arch.) 

Der  Churftlrst  drängte  zum  Frieden,  aber  zu  einem  solchen  Frieden, 
den  Johann  Casimir  sofort  annehmen  könne.  Was  sollte  aus  seinen 
Landen  werden,  wenn  der  Kaiser,  der  Zaar,  die  Staaten  thaten,  was  sie 
zu  thun  drohten  ?  Karl  Gustav  konnte,  wenn  die  Fiuthen,  die  von  allen 
Seiten  heranschwollen,  zusammenschlugen,  sich  in  sein  Nordland  zurück- 
ziehen; aber  das  Haus  Brandenburg  lag  wie  zwischen  Hammer  und 
Amboss. 

Es  ist  vollkommen  richtig,  dass  der  Churftlrst  Schuld  daran  war 


405]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  449 

»  • 
dass  der  gewonnene  Sieg  nicht  weiter  ausgebeutet  wurde '.    Was  sollte 

ihm  das  Erbieten  des  Königs ,  ihn  als  Generalissimus  an  die  Spitze  der 
Armee  zu  stellen  —  so  wird  man  Des  Noyers  Nachricht  vom  27.  Aug. 
zu  verstehen  haben.  Wie  peinlich  es  den  Schweden  sein  mochte,  die 
Warschauer  Schlacht  hatte  dem  Brandenburger  tbatsächlich  eine  eben- 
bürtige Stellung  neben  der  schwedischen  Macht  gegeben ;  fortan  konnte 
man  nicht  mehr  unternehmen,  als  er  geschehen  zu  lassen  für  gut  fand. 
Und  dass  er  forderte  in  die  Defensive  zurückzugehen ,  um  Preussen  und 
Kaiisch-Posen  zu  decken,  zeigen  die  Bewegungen  der  nächsten  drei 
Wochen. 

Dass  Karl  Gustav  sehr  bald  die  Unvermeidlichkeit  dieses  Zurück- 
gehens erkannte,  sieht  man  aus  dem  Befehl,  den  er  bereits  am  1 1 .  Aug. 
an  Bülow,  der  in  Warschau  blieb ,  erliess ,  die  Festungswerke  zu  schlei- 
fen, die  Marmorsäulen  der  Schlösser,  die  Gemälde,  die  sonstigen  Kost« 
barkeiten ,  die  irgend  fortgeschafft  werden  könnten ,  mit  Schiffen  strom- 
abwärts zu  schicken.  Des  Noyers  berichtet,  dass  von  den  Schweden 
selbst  die  Gräber  aufgewühlt,  die  Leichen  umhergeworfen  seien ;  er  fügt 
hinzu:  les  gern  de  Brandenbourg  ont  empörte  les  festes  de  pavis  et  des 
marbres  que  les  Suedois  avoient  laissds.  II  est  vrai  que  ce  na  6ti  qu  apres 
le  depart  de  FElecteur  et  que  tont  quil  y  a  ite  on  riy  a  point  fait  de 
dtsordre2. 

Wir  erfahren  aus  Des  Noyers  (26.  Aug.)  von  Karl  Gustavs  Frie- 
denserbietungen :  il  menace  de  tont  brüler ,  si  nous  refusons  la  paix. 
Seine  Bewegungen,  nachdem  der  Uebergang  bei  Warschau  ausge- 
führt war  (4.  Aug.),  konnten  den  Feind  glauben  machen,  dass  er 
mit  Energie  verfolgt  werde;  vielleicht  dass  die  Furcht  ihn  zu  einer 
Uebereilung  brachte.  Karl  Gustav  war  am  1 1 .  Aug.  in  Radom,  der  Chur- 
fürst  folgte  bis  Novomiasto  an  der  Pilica  (nicht  an  der  Warte ,  wie  Puf. 
C.  G.  III.  28  sagt).  Aber  der  Zweck  dieser  Bewegung  war  nur,  die 
schwedischen  Besatzungen  aus  den  Festen  Ilza ,  Janowicz ,  Chrzistopor 
und  andern  im  südlichen  Polen  an  sich  zu  ziehen ;  nur  in  dem  grossen 


1)  Fuf.  C.  G.  ///.  39:  ita  Brandmburgici  fructum  victoriae,  cui  parandae  ipsi 
plurimum  contulerant  t  magnam  partem  corruperunt  hosüque  ut  retpiraret  viresque  rt- 
pararet  spatium  dederunt. 

%)  ObPöllnitz  mit  seiner  Erzählung  von  den  Marmorsäulen  imSchloss  zu  Oranien- 
burg Recht  hat  (Mem.  /.  p.  76),  bleibt  dahingestellt.  Rudatisky  p.  270  weiss  nur  von 
Plünderungen  des  Chutförsten. 


4o0  Jon.  Gi st.  Diotsen,  [106 

Waffen  platz  Krakau  blieb  die  schwedische  Besatzung,  wahrscheinlich 
schon  in  Hinblick  auf  Fürst  Rakoczy  von  Siebenbürgen ,  mit  dem  wenig 
später  ein  Schutz-  und  Trutzbttndniss  geschlossen,  der  neue  Feldzug 
verabredet  wurde.     ' 

Der  König  blieb  bis  zum  16.  August  in  Radom;  dann  zog  er  sich 
nach  Lowicz  (23.  Aug.)  in  die  neue  Stellung  zurück,  die  sich  von  Lowicz 
über  Ploczk  bis  Pultusk  ausdehnte.  Diese  Aufstellung  schien  ihm  zu  ge- 
nügen die  Polen  in  Schach  zu  halten,  während  er  selbst  mit  einigen 
Regimentern  die  Weichsel  hinab  in  Steenbocks  Lager  eilte,  um  Danzig 
endlich  niederzuwerfen. 

Für  Schweden  war  die  Warschauer  Schlacht  politisch  ohne  alle 
Frucht;  ja  sie  diente  nur  dazu,  die  Mächte,  die  bisher  die  Sache  Polens 
lau  betrieben  hatten,  Dänemark,  Oestreich,  die  Staaten,  in  Eifer  zu 
bringen  und  die  verhängnissvolle  Allianz  Polens  mit  Russland  fester  zu 
schnüren.  Mit  jedem  Tage  trat  es  deutlicher  hervor ,  dass  »die  Balance 
von  Europa«,  wie  man  damals  sagte,  sich  gegen  die  »vasta  consilia ,«  die 
»wilden  Pläne«  Schwedens  kehren  müsse. 

Aller  Gewinn  der  Warschauer  Schlacht  fiel  auf  Brandenburg.  Das 
Verdienst  der  brandenburgischen  Politik  war ,  dass  sie  als  ihre  Aufgabe 
erkannte,  »eine  richtige  balance  zwischen  Polen  und  Schweden  zum 
Besten  aller  Interessirten  herzustellen ;«  so  der  Ausdruck  Wevmanns  in 
einer  Conferenz  mit  den  staatischen  Commissarien  (Journal  30.  Sept. 
1656.  Düsseid.  Arch.).  Und  die  Warschauer  Schlacht  gab  dem  Chur- 
fllrsten  die  militairische  Bedeutung ,  deren  er  zur  Durchführung  solcher 
Politik  bedurfte. 

Aber,  so  fügt  Weymann  hinzu,  »dass  jetzt  der  Moscowiter  mit  dazu 
komme,  mit  Schweden  breche,  Lief  land  nehme,  Preussen  zum  Lehn,  und 
dass  S.  Cf.  D.  von  Schweden  abtrete  und  sich  mit  ihm  conjungire,  mit 
einer  unerhörten  Obstination  und  Arroganz  begehre,  damit  wird  die 
balance  völlig  zerstört.«  Man  ist  sich  in  der  Umgebung  des  Churflirsten 
der  Gefahr  völlig  bewusst ,  welche  »die  grossen  desseinen  der  Barbaren« 
in  sich  tragen ;  »wenn  Brandenburg  nicht  freie  Hand  bekommt,  die  Sache 
im  aequilibrio  zu  halten,  wenn  Schweden  unterkommt  und  die  Mosco- 
witen  mit  Riga  einen  Hafen  an  der  Ostsee  bekommen,  so  ist  die  aller- 
höchste Gefahr  da  und  S.  Cf.  D.  wird  dann  erst  nicht  vor  der  Hölle 
wohnen.«   (Schwerin  an  Weymann  13.  Oct.  1656.   Düsseid.  Arch.) 

Der  Churfürst  hatte  Preussen  als  Lehn  von  Polen  gehabt  und  Johann 


107]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  451 

Casimir  hatte  ihm  nach  seinen  ersten  Niederlagen  die  Souveränität  an- 
geboten ,  wenn  er  sich  für  die  Republik  in  die  Schanze  schlagen  wolle. 
Er  hatte  sich,  völlig  von  Polen  im  Stich  gelassen ,  zu  dem  Welauer  Ver^- 
trage  verstehen,  in  demselben  Preussen  als  Lehen  von  der  Krone 
Schweden  nehmen  müssen ;  für  sein  Eintreten  gegen  Polen,  für  das  Ein- 
treten mit  seiner  ganzen  Macht  hatte  ihm  der  Schwedenkönig  den 
souverainen  Besitz  von  vier  Palatinaten ,  Posen ,  Kaiisch ,  Siradien  und 
Lancicz  zugestanden.  Jetzt  bot  er  ihm  die  Souverainetät  auch  Preussens, 
wenn  er  zur  Unterwerfung  Danzigs  die  Hand  bieten  wolle.  »Ich  würde,« 
schreibt  Schwerin,  »den  für  einen  Verräther  halten,  der  S.  Cf.  D.  riethe 
sich  gegen  Danzig  feindlich  zu  erweisen.«  Schon  hatte  auch  der  Mosco- 
witer  gefordert,  das  Herzogthum  in  ein  russisches  Lehn  zu  verwandeln ; 
er  drohte  mit  Feuer  und  Schwert,  wenn  der  Churfürst  sich  dem  versage. 
Weder  Polen  noch  Schweden  hätte  Preussen  schützen  können  und  wol- 
len ;  der  Churfürst  musste  sich  und  sein  Land  selber  zu  schützen  wissen. 
»S.  Cf.  D.  haben  sich  resolvirt,  schreibt  Schwerin  am  1 1 .  Sept.  an  Wey- 
mann ,  dieses  Land  hin  führ o  von  niemanden'  zu  recognosciren ;«  er  fügt 
hinzu :  »ich  sehe  nicht  was  daran  fehlen  sollte ,  dass  S.  Cf.  D.  sich  jetzt 
in  pristinam  hujus  regionis  libertatem  wieder  setzen  sollte.« 

Vor  der  Schlacht  hat  es  ein  Moment  gegeben,  wo,  wie  de  Lumbres 
schreibt,  der  Kaiserhof  ein  Heer  in  Schlesien  zusammenziehen  wollte,  das 
in  den  Dienst  des  Erzherzog  Leopold  übergehen  sollte  qui  prelend  avoir 
droit  sur  la  Prusse  comme  grand-maistre  de  l' ordre  Teutonique.  Und  die  be- 
geisterte Erhebung  Polens  hatte  des  Polenkönigs  Schwager ,  den  Pfalz- 
grafen von  Neuburg  entzündet;  er  rüstete,  nicht  ohne  Gutheissung  Frank- 
reichs, nicht  ohne  Hoffnung  auf  die  Hülfe  der  »Cabale«  im  Haag,  und  des 
rechtgläubigen  Eifers  in  der  Hofburg  zu  Wien,  Rache  zu  nehmen  für  die 
Vorgänge  von  1651  und  dem  verhassten  Ketzer  von  Brandenburg  seinen 
Theil  der  Jttlichschen  Erbschaft  Cleve,  Mark  und  Ravensberg  zu  ent- 
reissen.  Mit  der  Schlacht  von  Warschau  erkannte  man ,  dass  der  Chur- 
fürst von  Brandenburg  eine  Armee  habe  und  sich  ihrer  zu  bedienen 
wisse.  Der  französische  Gesandte  meldet  jetzt  nach  der  Schlacht  seinem 
Hofe :  von  Pfalz  Neuburgs  Rüstungen  spreche  der  Churfürst  nicht  mehr : 
il  affecte  en  ses  discours  de  paroistre,  qu'il  ne  craint  rien  de  ce  cosle  /d,  riy 
mesme  de  celuy  de  FEmpereur ,  qu'il  dit  l *  avoir  fait  asseurer ,  qu'il  ne  se 
meslera  pas  des  affaires  de  Pologne.  De  Lumbres  bemerkt  mit  auf- 
richtigem Bedauern,  wie  wenig  der  Churfürst   auf  diejenigen   höre, 


452  Joh.  Gust.  Dkoysen,  [< 08 

die  ihn  warnen ;  er  beklagt  die  passion  qu'ü  a  paur  la  souveraineie  de 
Prusse! 

Es  ist  der  Mühe  werth  zu  beachten ,  dass  am  brandenburgischen 
Hofe  nicht  erst  die  Wechselfelle  des  schwedisch -polnischen  Krieges 
gleichsam  gelegentlich  die  Pläne  hervorriefen ,  deren  Erfüllung  dann  der 
Friede  von  Oli va  bringen  sollte ,  dass  man  nicht  Politik  aus  dem  Steg- 
reif machte ,  sondern  ein  bestimmtes  System  verfolgte ,  einen  festen  Ge- 
danken durchführte.  Man  war  sich  in  den  leitenden  Kreisen  völlig  be- 
wusst,  was  die  Politik  des  werdenden  Staates  fordere.  »In  unserer 
Mark,«  schreibt  Matthias  Doge  schon  1 653,  »ist  zwar  der  Sitz  und  Glanz 
des  Churhauses  von  Brandenburg,  in  Preussen  aber  und  Cleve  ist  des 
selben  Hauses  Kraft  und  Stärke  ....  Diese  beiden  Länder  bei  dem 
churfilrstlichen  estat  erhalten,  können  alle  übrigen  Länder  und  Völker 
wohl  erhalten  werden;  diese  verloren,  weiss  nicht  ob  das  Römische 
Reich  mächtig  genug  sein  würde  dieselben  für  ans  wieder  zu  gewinnen, 
wie  wohl  Pommern  kann  zum  Beispiel  dienen.«  Nicht  das  Reich  kann 
und  will  »des  churfilrstlichen  Estats  zwei  Flügel«  schlitzen ;  und  der  öst- 
liche ist  in  immer  neuer  Gefahr,  so  lange  die  Rivalität  zwischen  Polen 
und  Schweden  währt ;  zwischen  ihnen  bedarf  es  einer  Mittelmacht ,  die 
sie  auseinander  hält  und  der  baltischen  Welt  den  Frieden  sichert ;  es  be- 
darf, da  die  Republik  Polen  nicht  mehr  die  Kraft  hat  ein  Wall  zu  sein 
gegen  die  Moscowiter,  Tartaren ,  Kosacken  u.  s.  w. ,  einer  neuen  Macht, 
Europa  vor  den  »Barbaren  im  Osten«  zu  schätzen ;  die  alte  Bedeutung 
der  Marken  muss  jenseits  der  Weichsel  erneut  werden. 

So  viel ,  um  die  politische  Bedeutung  der  Warschauer  Schlacht  an- 
zudeuten. Wie  der  Churftlrst  sie  ansah  oder  angesehen  wissen  wollte, 
lehrt  die  Denkmünze ,  die  er  auf  dieselbe  prägen  liess.  Das  Gepräge 
zeigt  über  einer  Landschaft  mit  brennenden  Ortschaften  zu  beiden  Seiten 
eines  breiten  Stroms  drei  Adler  in  den  Lüften ,  zwei  kämpfende ,  über 
denen  ein  dritter ,  der  ein  Schwert  trägt ,  wie  zur  Entscheidung  daher 
fliegt :  opus  hie  erat  arbilro,  sagt  die  eine  Umschrift ;  die  andere :  mos 
mox  resiingui  juvat. 


Beilage  1. 
Eigenhändiger  Bericht  des  Churfürsten;  aus  Weymanns  Journal.1 

Nachdem  die  Churf.  Brandenburgische  armee  von  Zidno*  unfern  biss  Sa- 
crotzinb  gekommen,  haben  sie  sich  in  balaille  gestellet,  alda  der  König  aus  sei- 
nem Lager6  gekommen  und  selbiges*  besichtigt  Worauff  dreymahl  salue  von  der 
ganzen  armee  gegeben  worden,  und  seind  nochmahlen  Seine  Ktinigl.  Majestät 
nebst  Seiner  Cburf.  durchl.*  ins  Swedische  Lager  geritten,  die  Ghurbranden- 
burgiscbef  armee  aber  ist  auf  Sac rotzin8  gegangen,  undh  allda  über  nacht  cam- 
pieret.  Inmittelst  ist  von  beiden  theilen  gut  gefunden  worden ,  dass  die  artille- 
rie'  nach  dem  mittage*  über  die  Brücke1  gehen,  die  Reuterey  und  Infanterie  folgen 
sollte.  Weilen"1  aber  ess  sich  wegen  der  nacht  mit  dem  übergeben  verzogen, 
auch  eines  von  den  schweren  stUcken  eingeprochen ,  ist  man  nicht  ehe  alss  ge- 
gen den  mittag  übergekommen ,  da  dann  resolvieret  worden, n  auf  den  feind 
zu  geben,  und  ihn  in  seinem  Vortheil  anzugreiffen,  und  seind  wir  darauf  in  Got- 
tes nahmen  auff  Warschau,  welches  vier  meilen  von  dannen  wahr  avancieret; 
unterwegen  aber  an  einem  holze  eine  halte  gemacht.  Da  dann  M.  de  Lum- 
bres°  (welcher  zum  Könige  von  Pohlen  geschicket  wahr,  umb  zu  sehen,  ob 
noch  einige  hofnungp  zu  einem  gewündschten  frieden  q  zu  gelangen  sein  mochte) 
wieder  kam,  welcher  dan  von  der  uberauss  grossen  macht  und  hochmuth  dess 
feindes  bericht  thate,  und  dass  er  willens  wehre  uns  anzugreiffen.  Darauf  seind 
wir  fortr  marschieret,  da  dan  der  König  den  rechten  und  der  ChurfUrst  den  linken 
flügel  geftlhret.  Gegen  abend  am  28  July'  kamen  wir  in  ein  Dorff,1  allda  unsere 
gekommandierete  vortruppen  bericht  brachten ,  dass  der  feind  hinter  dem  holze 
stünde.  Darauf  filierete  der  König  mit  seinem  rechten  flügel  durch  das  holz,  da 
dann  die  Vortruppen  mit  dess  Feindes  Vortruppen  scharmuziereten.  Worauff  et- 
liche Esquadronena  auf  den  feind  lossgi engen,  und  ihn  biss  in  seine  retranche- 
ment  poussiereten. T    Der  feind  gab  darauf  wacker  fewer  mit  Stücken  auf  uns. 

a)  Zietno  b)  Zacrotiin  e)  leger  d)  selbige  e)  nehbenst  den  ChurfB  raten  f)  Brandenborgsche 
g)  Zacrotiin  h)  und  f  e  b  1 1  1)  Artellerie  k)  noch  den  nachmittag  I)  Brücken  m)  weill  n)  h  i  n- 
ter  worden  folgt  ein  durchstricheues  den  Feind  o)  Mona.  Davos  p)  oder  Mittel  sein  mochte 
ist  durchstrichen  q)  zu  erhalten  könnte  ist  durchstrichen  r)  wir  wieder  fort  s)  am 
28.  July  fehl  t.     I)  an  einem  dorne      u>  Schwadronen      v)  zunicke  pussirlen. 


4)  Den  Abdruck  der  autographischen  Aufzeichnung  hat  v.  Orlich  »Friedrich  Wilhelm  der 
grosse  ChurfursU  \  886.  Beil.  A.  Diess  Original  ist  von  Neuem  verglichen  und  das  irgend  Be- 
deutende als  Variante  in  den  folgenden  Noten  angemerkt. 


454  Joh.  Gust.  Dboysen,  [HO 

Hierüber  ßel  die  nacht  ein,  und  zogen  wir  uns  etwas  zunicke  und  plieben  unter 
dess  feindes*  Canon  stehen.  Den  Sonnabend  morgens  ritten  Ihre  Majest.  das 
feld  zu  recognosscieren  mit  dem  Churfttrsten/alwo  man  gewahr  wurde,  dass  der 
feind  eine  höhe  an  unsers  linken  flügels  seithe  besezb  hatte.  Desswegen  der 
König  gutbefunden,8  dieselbige*  ihnen  zu  nehmen.  Worauff  der  Churfürst  mit 
dem  linken  Flügel  und  bey  sich  habenden  Dragoneren  avancierete,  welchen  berg 
aber  alsobald0  ohne  einige  gegen  wehr  verliess.  Darauf'  wurden  also  pald  einigere 
Stücke  darauf  gepflanzt,  und  spieleten  in  dess  feindes  Leger.1  Darnach11  zogen 
wir  auf1  die  lincke  band  mit  dem  lincken  flügel  neben  dem  holze,  also  dass  das 
erste  treffen  für  dem  holze,  die  anderen  zwey  aber  in  dem  holze  zu  stehen  kamen, 
hinter  dem  Berge  aber  stunden  brigaden  zu  fusse.  Auf  dem  lincken  flügel  von 
unserer  Gavallerie  stunden  2  Brigaden  k  nebest  den  Dragonern.  Inmittelst  gien- 
gen  2000  Tartaren1  von  weitem  umb  den  Busch  herumb,  welches  dem  Könige 
also  pald  berichtet  wurd,  welcher  dann  etliche  Schwadrons  ■  von  seiner  reserve 
nahm,  und  auff  obgemelte  Tartaren, n  so  auss  dem  Busch  hauffig  kahmen,  gieng 
und  sie  wieder  repoussierete.  °  Inmitlelst  fiel  der  feind  aus  seinem  leger, p  und 
attaquierete  unsere  infanterie,  wurde  aber  so  begegent,  und  von  der  reuterey 
wider  biss  in  sein  lager  gelrieben.  Hierauf  kam  der  König  auf  unseren  lincken 
flügel  geritten,  und  fandq  gut,  dass  sier  mit  dem  rechten  flügel  nebest  der"  infan- 
terie durch  den  Wald  giengen. '  Ritten  also  wieder  durch  den  Wald,  da  sie  dann 
kaum  durch  wahren ,  kamen  die  Tartaren  in  die  flancken  von  unserem  lincken 
flügel,  wie  auch  in  den  rücken  der  reserve  biss  auf  unsere  mousquetierer. *  Die 
Quartianer  aber,  so  gegen  unsere  fronte  stunden,  griffen  uns  zugleich  an,  welche 
aber  so  empfangen  wurden,  dass  sie  mit  Verlust  vieler  Pferden  und  Toden  wei- 
chen mussten.  In  wehrender  attaque  fiel  der  feind  wieder  auss  seinem  leger  auf 
die  infanterie,  welche  aber  vom  Konige  mit  seiner  Gavallerie  mit  zimblichen 
vertust  biss  in  ihr  retranchement  getrieben  wurden.  Hierauf T  marschieret  Ihre 
Königl.  Majest.  und  filiereten  durch  das  holz,  der  feind  aber  fiel  wieder  auss,  und 
kam  biss  an  Ihre  Majest.  Stücke,  welche  ihnen  sehr  grossen  schaden  zufügeten, 
darüber  sie  sich  wieder  retiriereten.  Seine  Majest.  Hessen  so  pald  sie  durch  den 
wald  kamen,  Seiner  Ghurf.  Durchl. w  den  rechten  flügel,  und  avancierten  also 
in  voller  bataille  auf  denx  feind,  welcher  sich  auss  seinem  Lager  in  einer  Fronte 
zöge  biss  an  ein  Königliches  hauss,  welches  die  Tartaren  y  angezündet.  Da  aber 
Ihre  Maj.  avancierten  und  mit  ihre  Stück"  auf  den  feind  spieleten,  zöge  der- 
selbe sich  almählig  wieder  zurücke  nach  seinem  leger.  Hierauf  avancierten  Ihre 
Majest.  biss  Wäldechen/*  woselbst  siebb  von  den  Hussaren  angegriffen  wurden, 
welche"  drey  treffen  noch  hinder  sich  hatten,  wurden  aber  so dd  empfangen, 

a)  unter  danon  des  feinde«  b)  besetxt  c)  gutt  befand  d)  selbige  e)  aber  der  feindt  alsobald  f)  wor- 
auff also  uordt  unsere  Stücke  gepflanzett  und  auf  des  g)  Lager  spielten  h)  undt  i)  wir  uns  auff 
k)  zwei  Brigaden  1)  Tartteren  m)  Schwadronen  n)  Tarieren  o)  repnsirte  p)  aussen  seinem 
retran  leger;  retran  ist  durchstrichen  q)  fand  r)  er  durchstrichen  Sie  sieh  s)  Infanterie 
undt  Artellerie  t)  hinter  Waldt  ist  naeh  einander  durchstrichen  filierten,  sogen,  tu 
ziehen,  undt  also  den  linken  flögdl  bekam,  Sich  auf  des  Churfflrslen  lincken  u)  t  o  n  wie  auch  b  i  s  »us- 
ketier  is  t  an  den  Rand  ge  schrieben  v)  Ihr  auff  w)  dem  Churf.  x)  auffen  y)  Tarteren  i)  mit 
dero  stScken  aa)  an  ein  Weltgen  bb)  von  feinden  ist  durchstrichen  cc)  in  rier  treffen  einan- 
der folgten  istdurchstrichen      dd)  aber  dab  so;  dab  ist  durchstrichen. 


<H]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  455 

dass  zwischen*  200  und*  300  auf  dem  plaz  pliehen.  Die  Quartianer  treffen 
stracks  darauf"  auch  auf  den  rechten  flügel ,  lhaten  aber  schlechten  effect,  denn 
sie  auf  30  schritt  ihr  gewehr  löseten,d  und  damit  sich  wieder  in  ihr  lager  be- 
gaben. Hierauf  ward  vom  Könige  ein  klein  Wäldchen9  mit  etlichen  hundert 
mussquetieren  besezet,  welche  sich  darin  verhauwen  solten,  und  überfiel  uns 
die  nacht,  dass  wir  also  in  einem  Dorffe,  welches  die  Tartaren  in  brand  ge- 
steckt hatten f  die  nacht  über8  stehen  pliehen,  da  unterscheidliche  alarmen 
vomb  feind  gemacht  wurden.1  Den  Sontag  morgens  mit  dem  tage  stelletenk 
wir  uns  wieder  in  bataille,  wie  wir  den  vorigen  tag  gestanden  hatten,  und  zogen 
uns  nach  ein  holz,  welches  hart  am  berge,  wo  der  feind  stunde  und1  sich  ver- 
hawen  hatte.  Da  dann  der  Feidzeugmeister  Sparre™  mit  tausend  commandiere- 
ten  mussquetieren  und  den  Stücken  auf  sie  zugieng,"  welchen  unsere  übrige  in- 
fantarie  folgete,0  muste  aber  den  feind  die  seithe  geben,  und  gieng  umb  sie  her- 
umb,  da  er  dann  etliche  Salven  so  wohl  von  Stücken  bekam  alss  von  mussquet- 
ten,  und  jagte p  den  feind  aus  dem  holz.  Hierauf  avanciereten  Seine  Churf. 
Durch!.  *  mit  6  Esquadronen*  den  hohen  Sandberg  hierauf,1  alwo  eine  grosse 
mennigte1  volcks  hinten  stunde,  das  dann,  da  sie  sahen,  dass  die  reuterey  und 
Stücke,  wie  auch  theil"  fussvolcks  auf  ihre  verlassene  Berge  stunden,  das  reiss- 
aus mit  ihrer  reuterey v  gaben. w  Das  Fussvolk  aber  begunt  in  einem  Krinck 
durch  einander  zu  gehen.  Worauff  der  Ghurfürst  mit  theils  Stücken  spielen 
liess,  auch  auf  sie  avancierete.  Es  kam  aber  eine  hohe  generalspersohn,  welche 
für  gewiss  zu  zweyenmahlen  berichtete,2  dass  die  Infanterie  die  hütte  aufgesto- 
chen und  umb  quartier  gepeten  hette.  Begeh rete*  derowegen  man  mögte*  nicht 
mehr  mit  Stücken  spielen,  und  nicht  weiter"  avancieren,  den  das  fussvolck 
möchte  sonsten  zur  desperation  schreiten.  Inmittelst  zogen  sie  sich  über  einen 
morast,  alda  sie  nach  der  Brücken  zu  eileten  und  über  dieselbe bb  giengen. 
Spar"  aber  verfolgete  sie,  und  nahm  dem  feinde  die  für  der  Brücken dd  ge- 
machete  schanze  hinweg,  da  dann  der  feind  auss  Warschau  und  von  einer  schan- 
zen, welche  er  über  der  Brücken  hatte,  mit  Stücken  spielete.  Inmittelst  sazte 
der  König  die  ganze  Reuterey  in  zwey  treffen.  Das  erste  treffen  plieb  wie  es  erst 
gestanden,  das  andere  aber  wante  sich  mit  der  Fronte  umb  gegen  die  Littauische 
und  Tartarische  armee,  welche  dem  bericht  nach  uns  in  den  rücken  gehen  woll- 
ten. eo  Nach  erhaltener  Victorie  seind  Seine  Majest.  dem  feinde  auf  eine  meile 
wegesff  von  der  Wahlstette"  nachgefolget.  Der  Ghurfürst  nebest  dem,  feldmar- 
schall  Wrangelhh  giengen  wieder  zurück  nach  Präge,  umb  zu  sehen,  ob  man  die 
brücke  geprauchen  konnte,  oder  ob  möglich  wehre  durch  die  Weissei  einen 
pass"  zu  finden.  Es  wahre  aber  wegen  des  hoben**  wassers  unmöglich.  Die 
nacht  aber  schickete  derGraflf  Oxenstirn  und  berichtete,  dass  der  feind  die  Statt 

a)  über  durchstrichen  b)  oder  c)  stracks  darauf  steht  am  Rande  d)  losseien  e)  weltgen. 
f)  in  Brand  gesterket  g)  die  nacht  Über  st^ht  im  Rind  b)  uns  vom  i)  welche  aber  nicht  gcacht 
worden  k)  stallen  1)  selbiges  besetzet  undt  sich  darin  verhauen  m)  Spahr  n)  auf  so  ging 
o)  welche  bis  folgte  steht  am  Rand  p)jng  q)  der  Churfurst  r)  Schwadronen  s)  hinaulT 
t)  menge  u)  theils  v)  mit  ihrer  reuterey  steht  am  Rand  -  w)  nahm  durchstrichen;  gaben 
x)  berichte  y)  begertte  z)  mochte  aa)  weilters  bb)  die  selbige  cc)  Spahr  verfolgte  dd)  für  der 
Schanlzen  ee)  ahn  Stücken  wurden  dem  Feinde  12  vnd  ein  mortier  genommen  ff)  meillwegs  gg)  wal- 
steilen     hh)  Frangell      ii)  einen  vor  pas,  durchstrichen  ist  vor      kk)  grossen. 


456  Joh.  GlIST.  DlOYSEN,  [142 

Warschau  verlassen  hette,  und  begehrele  Volck,  welches  gegen  dem  tage  ihme 
geschicket  wurde  und  ist  also  dieses  treffen  nebest  eroberung  der  Stad  War- 
schau ohne  grossen  schaden  der  unsrigen,  von  dem  Höchsten  glücklich  erhalten, 
welchem  wir  dafür  zuvordest,  und  dan  der  hohen  Conduite*  Seiner  Ktfnigl. 
Majest.  zu  danken  haben. b 

An  Stucke  haben  wir  dem  feinde  abgenommen  42  und  einen  mortier,  in 
der  Stad  gefunden  27,  und  4  ,  also  dass  es  in  allem  39  Stücken  und  2  mortier 
gewesen.  Die  Zahl  der  fahnen,  wie  auch  der  gepliebenen  kan  man  nicht  ei- 
gentlich wissen. 

a)  condevite    b)  hier  endel  das  Aatograab. 


Beilage  2. 

Relation   I. 


»Lelzte  aus  Warschau  eingelangte  gründliche  und  ausführlichere  Rela- 
tion dessen,  was  zwischen  Seiner  König!.  Maytt.  zu  Schweden  als  auch 
Sr.  Churfl.  Durchl.  zu  Brandenburg  eines  Theils  und  dem  Könige  und 
der  Republik  in  Polen  anderen  Theils  In  einer  dreytagigen  und  blutigen 
Schlacht  bei  dem  SUidtlein  Präge  gegen  Warschau  über  gelegen  an  der 
Weichsel  am  18/28  19/39  20/30  Julii  anno  1656  ergangen,  der  Wahrheit 
begierigen  Welt  zur  sichern  unpartheyischen  gewissen  und  beständigen 
Nachricht  wider  einige  erdichtete  unverschämte  Lügen-Zeitungen.  Anno 
M.DC.LVI.«  (Mit  einer  Vignette  auf  dem  Titel.  8  Blatter  4°.  $.  I.)  l 

§.  1.  Nachdem  Sr.  Koni  gl.'  Maytt.  zu  Schweden  von  Marienburg  bei  dero- 
selben  Haupt-Armee,  welche  der  malen  in  Masuren  bey  den  beyden  Flüssen 
der  Weichsel  und  den  Bugkb  auf  der  Zacrodzinischen c  Seiten  gegen  über  dem 
dorffe  Nowodwor  stunde,  den  21  Junii  angelanget,  haben  allerhöchstgedachte 
Sr.  Konigl.  Mayt.  Ihr  angelegen  seyn  lassen,  dass  die  beyde  in  Bau  gewesene 
Brücken ,  die  eine  über  die  Weichsel  bey  Sacrodzin  und  die  andere  über  den 
Bugk  bey  Nowodwor  verfertiget,  und  dadurch  Gelegenheit  erlanget  würde, 
mit  dem  Feinde,  welcher  bey  Warschau  stunde,  und  daselbst  ein  verretrenchir- 
tesd  Lager,    und  eine  Brücke  über  die  Weichsel  hatte,  in  action  zu  treten. 


4)  Fast  wörtlich  mit  dieser  Relation  stimmt  Relation  II,  deren  Titel  lautet: 

Letzte  noch  gründlichere  ausführlichere,  aus  dem  Konigl .  Schwedischen  Feldlager  bey 
Präge  vom  5  Augusti  Eingelangete  Relation,  was  zwischen  Ihr.  Konigl.  Mayt.  zu 
Schweden  und  Ihr.  Churf.  Durchl.  zu  Brandenburg  Eines  Theils  und  Ihr.  Konigl.  Mayt. 
und  der  Republtque  in  Pohlen  andern  Theils  in  einer  dreytagigen  und  blutigen  Schlacht 
bey  dem  Städtlein  Präge  gegen  Warschau  über  an  der  Weichsel  gelegen  den  28.  29. 
SO.  Julii  im  Jahr  4656  sich  zu  getragen,  der  wahren  wahrheitebegierigen  Welt  zum 
sichern  beständigen  Nachricht  wieder  einige  gedruckte  erdichtete  unverschämte  Lü- 
genzeitungen. Anno.  M.DC.LVI.  (7  Blatter  4*.  s.  I) 
Dieser  Druck  hat  folgende  Abweichungen  von  dem  der  Relation  I : 

«)  ihre  Kttnigl.  und  «o  immer  statt  Sr.      b)  Bngg      c)  Sacrotiniftche      4)  verschanztes. 


4  43]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  457 

§.  2.  lodern  nun  oberaelte  beyde  Brücken  bey  nahe  perfectioniret,  ist  das  Was- 
ser (wie  es  deren  Orten  alle  Jahr  umb  selbige  Zeit  gewöhnlich)  so  hoch  gewach« 
sen,  dass  man  solches  werck  in  der  Eyl  nicht  vollziehen  können,  sondern 
musste  damit  so  lange  Anstand  haben ,  bis  das  Wasser  wieder  gefallen ,  und 
sich  in  etwas  gesetzet.  §.  3.  Als  nun  der  Adel  in  Masuren  und  Podlachien  au  ff 
eine  Zeit  vorhero  die  dem  Fürsten  Bogislav  Radziviln  zuständige  und  48  Meilen 
von  Nowodwor  an  dem  Fluss  Nareu  belegene  Stadt  Tychozin*  belagert  hatten, 
commandirten  Sr.  Konigl.  Mayt. b  den  Feld  Marschall  Lieutenant  Graff  Douglas 
daselbst  hin ,  umb  selbigen  Ort  zu  succurriren,  massen  er  dann  auch  ermelten 
Adel  und  alle  ihre  Macht  davon  gejaget  und  elwan  in  die  2000  von  selbigen 
feindlichen  volckern  niedergehauen,  und  selben6  Ort  auffs  neue  mit  mehreren 
volcke  und  aller  andern  Nothdurfft  versehen  und  versichert.  §.  4.  Wie  nun 
solches  also  verrichtet  und  Sr.  Churf.  Durchl.  zu  Brandenb.  mit  dero  Armee  zu 
Plonske,  vier  Meilen  von  Nowodwor  belegen  angelanget ,  kam  auf  einen  Tag* 
die  Zeitung  ein,  das  der  Littausche  Unter-Feld-llerr  Gonsewski  ziemlich  starck 
bei  Osterlenka  stünde  und  Poltowsko  belagert  hatte ,  wesswegen  Sr.  Mayt.  den 
4  4/24  Julii"  eigener  Person  mit  einer  starken  Partey,  so  von  derof  eigenen  als 
Chur  Brandenburgischen  *  Völkern  aussgangen,  umb  den  Feind  zu  suchen.  §.  5. 
welcher  als  er  vermercket,  dass  Sr.  K.  Mayt.  völcker  ihme  zu  nahe  wollten 
kommen,  sich  von  Poltowsko  über  den  Bugk  in  grosser  Eyle  nach  Warschau  re- 
teriret.  Wie  nun  Sr.  K.  Mayt.  den  4  7/27  Julii  in  dem  Lager  bey  Nowodwor  wie- 
der angelanget  und  Sr.  Churf].  Durchl.  zu  Brandenburg  mit  dero  Armee  nacher 
Zacrodzin  unterdessen  avanciret,  massenb  höchstgedachte  Sr.  Churf.  Durchl. 
desswegen  die  conjunction  noch  immer  verschieben,  weilen  dieselbe  stets  in 
hoffnung  gestanden,  dass  Sr.  Mayt.  in  Polen  sich  endlich  würden  zum  Frieden 
bewegen  lassen.  §.  6.  weilen  aber  alle  Sr.  Churf.  Durchl.  auffgewendete  treuer 
Fleiss,  Mühe  und  Ynkosten  gantz  vergeblich ,  ward  unter  beyden  hohen  Haup- 
tern noch  selbigen  Tag  Rath  gehalten1  und  resolviret,  beyde  Armeen  als  die 
Königliche  und  Churfürstliche,  alsofort  zu  conjungiren  doch1  zu  keinem  andern 
Ende,  als  zu  Erlangung  eines  ehist- auftrieb  ti  gen  und  bestandigen  Friedens, 
welches  dann  auch  also  ins  Werk  gestellet  worden.  §.  7.  und  man  darauff  also- 
fort gegen  Abend  und  folgendts  die  gantze  Nacht  die  Königl.  Cavallerie,  und 
beyderseits  Artillerie  und  den  folgenden  48/28  Julii k  den  Rest  der  gantzen 
Armee  über  die  auff  dem  Bugh  gelegte  Brücke  bey  Nowodwor  filiren  und  die 
marche1  auf  Präge  so  an  der  Weichsel  gegen  über  Warschau  liget,  richten  lassen. 

a)  Tykozin  b)  Mayt.  den  Junii  mit  ausgelasener  Zahl  c)  denselben  d)  kam  den  Julii 
die  Zeitung  mit  ausgelassener  Zahl  e)  den  14.  Jnlü  f)  Ihrer  g)  Ihr  Churfttrstlichen  Durchl. 
h)  von  nassen...  bis  ward  unter  in  §.6  fehlt  i)  von  doehxn. . ..  bis  Friedens  fehlt  k)  18  Julii. 
1)  und  den  march. 


4)  Hier  beginnt  der  Text  der  brandenburgischen  Bearbeitung  (im  Theatr.  Europ.  VII. 
j>.  898  ed.  II)  mit  den  Worten  : 

worin  resolviret  worden  beyde  Armeen  als  die  Königliche  und  Cburfürstliche  alsofort 
gegen  Abend  und  die.  gantze  Nacht  (jj.  7}  wie  auch  den  folgenden  48/18.  Julii  Über  die 
auf  dem  Bugh  u.  s.  w. 
In  den  folgenden  Noten  sind  die  Abweichungen  der  brandenburgischen  Bearbeitung  und 
in  den  Noten  zu  diesen  Noten  die  von  dem  Churfürsten  gemachten  Correcluren  angeführt. 

Abhandl.  d.  K.  8.  Get.  d.  Wiss.  X.  84 


458  Job.  Gust.  Droysen,  [H4 

§.  8.  mit  der  Intention ,  der  Littauischen  Armee  so  bey  itzt  ermeldtem  Präge 
eine  weile  gestanden ,  eins  bey  zubringen,  oder  da  solche  sich  reteriren  thäten,1 
vorerst  die  Brücke  bey  Warschau  gantzlich  zu  ruiniren  und  als  dann  wieder  den 
Bugh  bey  Nowodwor  zu  repassiren  und  nachdem  man  über  die  bey  Zacrodzin 
verfertigte  BrUcke  wäre  gekommen2  jenseits  der  Weichsel  bey  Warschaw  mit 
dem  Feidde  zu  einer  rechten  Haupt  -Action  zu  gelangen  tentiren  und  suchen 
wo  He.  §.  9.  Es  hat  sich  aber  zugetragen,  dass  der  Feind  gleich  selbiges  Tages, 
nemblich  den  18/28  Julij "  suchte  mit  seiner  auf  jener  Seit  umb  Warschaw  bey 
sich  gehabten  force  über  seine  Brücke  zu  Warschau  zu  gehen ,  und  nach  be- 
schehener  Conjunction  mit  der  Littawiscben  Armee,  und  denen  angekommenen 
Tartaren,  für  Jem  Schwedischen  Lager  bey  Nowodwor  sich  zu  setzen ,  und  mit 
den  Parlheyen  die  Kön.  Schwedische  und  Churfl.  Brandenb.  Furagiers  zu  in- 
commodiren,  §.  10.  inmassen  dannb  anfangs  ein  Polnischer  Trompeter  kommen, 
welcher  an  8r.  GhurO.  Durchl.  ein  Schreiben  voll  barter  und  schmählicher  Be- 
trohungen  gehabt,8  worinnen  Sr.  Churfl.  Durchl.  so  treue  Vermittelung *  von 
Polnischer  Seiten  gantzlich  verworffen  worden ,  und  darauff5  der  Französische 
Ambassadeur  de  Lombres,c  so  von  Warschaw  gekommen,  Sr.  König].  May t.  und 
Sr.  Churfl.  Drchl.  zwischen  Prag  und  Nowodwor  begegnet,  von  des  Feindes 
überkunfft  und  contenance  solches  berichtet,  §.  H.  weswegen  dan  also  fort  re- 
solvirt  worden/  gedachten  Trompeter  bey  sich  zu  behalten,  und  (nachdem  man 
Stroh  zum  Feldzeichen,  und  Gott  mit  uns,  zum  Worte  genommen)  gerad  auff 
den  Feind  längs  der  Weichsel  losszugehen,  massen  auche  die  Battaglie  des  Mor- 
gens frühe6  auff  Mass  und  Weise,  wie  folget,  angeordnet  worden  :  §.  12.  Auff 
dem  rechten  Flügel  sind  Sr.  Königl.  Mayt.  zu  Schweden  selbst,  und  des  Herrn 
Generalissimi  FUrstl.  Durchl.  wie  auch  der  Herr  Feld-Mareschall  Lieutenant 
Douglas,  dessgleichen  S.  Fürstl.  Gn.  Herr  Marggraff  Carl  Magnus  zu  Baden,  als 
General  Lieutenant  über  die  Cavallerie,  wie  auch  die  beyde  General  Majors  zu 
Pferde,  nemlich  Sr.  Fürstl.  Gn.  Herr  Philip  Pfaltzgraff  von  Sultzbach  und  H. 
Henrich  Hörn ;  §.  43.  die  Infanterie  aber,  so  Sr.  Königl.  May.  bey  sich  auff  dem 
rechten  Flügel  gehabt,  und  in  dreyen  Brigaden  gestanden,  ist  unterm  Conduicte 
des  Herrn  General  Major  Bttlowen  gewesen.7  Die  Königl.  Artillerie  ist  von  dem 
Obristen  Herrn  Graf  Gustav  Oxenstiern  commendirt  worden.  Zu  dem  ersten 
Treffen  auff  dem  rechten  Flügel  wurden  verordnet  Se.  Fürstl.  Gn.  Pfaltzgraff  von 
Sultzbach,  zu  dem  andern  Herr  Marggraff  Carl  Magnus  zu  Baden  Fürstl.  Gn.  und 
zum  dritten  der  Herr  General  Major  Heinrich  Hörn.    §.  4  4.  Auff  dem  lincken 

a)  18.  Jnlti      b)  ▼©  o  anfangs  ....bis  and  darauf  fehlt     c)  de  L'Ombres     d)  v  o  n  gedachten  h  i  s  ge- 
nommen f  e  b  1 1     e)  nassen  dann  aaoh. 


4)  würde  statt  thaten  2)  und  wenn  man  nachgehende  über  die  damals  fertige  Brücke 
gekommen*  8)  ein  zumalen  impertinentes  und  unzeitiges  Schreiben  überbracht  4)  Durchl. 
öfters  offerirte  getreue  und  wohlgeraeynte  Vermittelung  5)  Bald  hernach  kam  6)  frühe 
von  Ihr.  Königl.  May  lt.  und  Churfürst).  Durch!,  auff  7)  von  die  Königl.  bis  commendirt 
werden  fehlt. 

')  Correclur  des  Churfurslen:  Krücke  bei  Sacrozin  über  die  Weixel  gekommen. 


445]  Die  Schucbt  von  Warschau.  1656.  459 

Flügel  sind  gestanden  Se.  Churfl.  Durchl.  zu  Brandenburg  selbst  mit  dero  Armee 
und  unter  derselben  conduicte  der  Herr  Feldroarscball  Graf  Carl  Gustav  Wran- 
gel.  *  Die  Gavallerie  comraendirte  der  Herr  Graff  von  Waldeck  als  General  Lieu- 
tenant von  der  Gavallerie,  nebenst*  den  dreien  General  Majors,  als  Herr  Kan- 
nenberg, H.  Graf  Claus  Tott,  und  Bötticher.  §.  45.  Massen  Se.  tönigl.  Mayt. 
diese  beyde  General  Majors  Graf  Tott  und  Bötlicbera  mit  5  Esquadronen  ihrer 
Reuter  denChurfUrsU.adjungiret  damit  beyde  Flügel  gleich  stark  seyn  möchten, 
es  haben  auch  S.  Churfl.  Drchl.  gleich  S.  fcönigl.  Mayt.  xwey  Brigaden  Fussvöl- 
cker  bey  sich  bey  dem  iincken  gehabt.8  Der*  Churfl.  Brandenb.  Feldzeugmei- 
ster Herr  Sparr  aber  ist  nebenst  den  zweyen  Churfl.  General  Majors  Herrn  Gra- 
fen von  Waldeck  und  Herr  von  Goltz  mit  7  Churfl.  Brigaden  in  der  mitte  zwi- 
schen den  beyden  Flügeln  gestanden ,  und  bat  auch  vielgedaohter  Herr  Sparr 
die  Churfl.  Artillerie  commendiret.4  §.  46.  Nach  sothaner  Verordnung  und  er- 
langter Kundschaft  des  Feindes  contenance,  haben  dero  Kita.  V.  mit  dero  Flügel 
die  rechte  Hand  und  avantgardie  genommen,  zuforderst  bei  einem  Dorff%Meil5 
von  Warschau  in  Bataille  gesteile,  und  darauf  durch  einen  darzwisohen  befind- 
lichen Wald  in  aller  Eil  marschiret,6  unterm  conduicte  des  Feldmarscball  Wran- 
gein aber  sind  600  commandirle  Reuter  nebst  einigen  Dragonern,  sich  der  Pas- 
sage durch  den  Wald  zu  versichern,  und  das  Feld  zu  recognosoiren ,  vorausge- 
schickt, worauf  denn  S.  Kön.  Mayt.  mit  den  Esquadronen  und7  rechtem 
Flügel  in  aller  Eyle8  gefolget.  §.  47.  Ynd  wie  S.  Kön.  Mayt.  durch  deu  Wald 
kommen,  haben  dieselbe  die  Situation  des  Orts  dergestalt  befunden ,  dass  sich 
die  Weichsel  zu  dero  rechten  Hand  und  derselbe8  Wald,  welchen  sie  allschon 
durchpassiret,  zu  Ihrer  Iincken  Hand  langst  bis  fast  an  der  Feinde  retrenchement 
erstreckte,10  §.  18.  und  haben  Se.  Kön.  Mayt.  zwischen  dem  Walde  und  der 
Weichsel  keinen  Platz  gehabt,  mit  dero  Flügel  in  einer  Fronte  zu  marchiren, 
derowegen  die  Regimenter  hinter  einander,  wie  es  der  PJatz  hat  zu  gegeben, 
marchiren  müssen,  §.  49.  und  nachdem  der  Feind  sich  anfangs  für  seinem  Lager 
und  zwischen  dem  Walde  und  der  Weichsel  mit  seinen  Vortruppen  gepräsen- 
tiret,  haben11  Se.  Koni  gl.  Mayt.  dem  Feldmarschall  Wränge!  «uff  den  Feind 


t)  Der  Anfang  des  g.  44  lautet:  Pen  Unken  Flügel  haben  8.  Churfl.  Durchl.  zu 
Brandenburg  zu  coramaadiren  über  sich  genommen  und  denselben  aus  Dero  Armee  for- 
miret.  Die  Cavallerie  *)  nebenst  dreyen  General  Majors,  worunter  unter  andero  der 
von  Kaneoberg  sich  mit  befunden.  Darauf  folgt  es  haben  auch  6.  Churfl.  Durchl.  u.  s.  w. 
S)  und  sind  beyde  Flügel  gleich  stark  gewesen  4)  so  dass  das  corps  de  bataille  und  der 
Unke  Flügel  von  der  Churfl.  Durchl.  selbst  und  dero  Generalität,  von  Ihrer  Königl.  Majestät 
aber  nur  der  rechte  Flügel  allein  comraandirt  worden.  5)  eine  viertel  Meile  6)  nwchi- 
ret,  damit  aber  selbiges  um  so  viel  sicherer  geschehen  könne ,  haben**  Sr.  Churfl.  Durchl. 
von  dem  linken  Flügel  600  commendirte  Reuter  nebst  einigen  Dragonern  detachirat  und 
durch  dieselben  sich  unterm  7)  May.  mit  dem  rechten  Flügel  8)  in  aller  Eyle  fehlt 
9)  denselben  40)  gehabt  44)  sind  einige  brandenburgische  Esquadronen***  beordert 
worden  auf .  .  . 

♦)  Der  Königlich  Schwedische  ftenivl  ton  Wränge!  und  CharflL      ••)  hafcea  S.  Köaigl.MtT.  einige  Vor- 
truppen QDler  GoanwuMlo  de«  Oberstlculeiunt  Gtnitz  detaebiret     ***)  obberQhrte  Vortroppen. 

Sl* 


460  Job.  Gcst.  Dkoyses,  [416 

losszugehen  beordert ,  welcher  dann  demselben  bis  an  sein  retrenchement  ge- 
folget und  poussiret  §.  20.  und  nachdem  sie  sich  etwas  zu  weit  entfernet  ge- 
habt,  von  den  Regimentern ,   bat1  man  billich  mathmassen  müssen,  dass  ein 
Theil  von  des  Feindes  Gross  bevm  Ende  vom  Walde  und  hinter  dem  Waide  solte 
stehen,  den  commendirten  Truppen  die  retraite  abzuschneiden ,  derowegen  Se. 
Königl.  Mayt.  die  4  Esquadronen,  so  necbst  dem  Walde  marchirten,  in  vollem 
Galoup  avanciren  Hessen,  §.  2< .  da  dann  das  Glück  es  so  eben  getroffen,  dass, 
wie  der  Feind  an  unsere  commendirte  bat  angeben  wollen,  diese  4  Esquadronen  * 
unter  conduicte  des  Herrn  Graf  Duglasses*  dem  Feinde  begegnet,  demselben 
poussiret,  und  bis  an  ihr  retrencbemenl  und  Mussquetirer  verfolget :  §.  22.  Die- 
weil  aber  die  Nacht  eingefallen,  und  man  wegen  grossen  Staubes  nichts  weiter 
hat  tentiren  können,  sind  Se.  Kön.  May.  mit  dem  rechten,   und  Se.  Churfl. 
Durchl.  mit  dem  lincken  Flügel,  bis  die  Infanterie  nachkäme,  und  ebener  ge~ 
stall  sich  einfinden  möchte,  für  des  Feindes  retrenchement  dergestalt  stehen  ge- 
blieben, dass  sie  den  Wald  zum  Rücken  genommen ,  und  ist  in  währender  ac- 
lion**  mit  canoniren  nicht  gefeyret  worden.  §.23.  Weil  nun  mit  solchem  setzen 
und  Anmarche  der  Regimenter  eine  ziemliche  Zeit  erfordert  worden,  ist  unter- 
dessen die  sinkende  Nacht  eingefallen  ,  da  man  dann  nicht  für  rathsam  befun- 
den, weiter  für  des  Feindes  Stücken  zu  stehen,  besondern  man  hat  sich  zurück 
gezogen,   und  zwischen  dem  Wald  und  der  Weichsel  die  Nacht  über  Stand  ge- 
fasst,  die  Königl.  Schwedische  Armee  längst  der  Weichsel,  und  die  Churfl.  längst 
dem  Walde  da  dann  die  Infanterie  in  der  mitte,  hinter  einander,  und  nur  12  Es- 
quadronen zu  Pferd,  und  2  Brigaden  in  der  fronte,  und  die  übrige  Regimenter 
verdoppelt  hinter  einander  gesetzet  worden.     §.  24.  Des  Sonnabends  bey  an- 
brechendem Tage  sind  S.  Ron.  May.  und  Se.  Churfl.  Drchl.  nebest  denen  Ge- 
nerals-Personen zu  recognosciren  geritten,  und  befunden ,  dass  den  Feind  zwi- 
schen seinen  rechten  Wercken  und  retrenchement  anzugreiffrn  nicht  dienlich, 
besondern  dass  man  suchen  möchte,  ihn  umbzugehen  auff  unserer  linken  Hand, 
§.  25.  zu  dem  Ende  nöthig  befunden  worden  sieb  einer  kleinen  Höhe,  welche 
allernechst  beym  Walde  gelegen ,  zu  impatroniren,8  und  von  dannen  das  Feld 
besser  zu  wehlen,  und  zu  suchen,  haben  also  S.  Churf.  Drchl.  mit  dero  Flügel 
nebest  zweyen  Brigaden  zu  Fuss  längst  für  dem  Walde  nach  der  Höhe  zu  avan- 
ciret,  *  und  des  Hügels  sich  glücklich  bemächtiget,  wiewol  es  grosse  Mühe  ge- 
kostet, die  Artillerie,  so  gleich  fort  zu  bringen,  wegen  der  kurtzen  Sträuchen 
und  morasthafTten  Wegen,  wodurch  man  hat  marschiren  müssen.     §.  26.  Wie 


4)  hat  man  aus  Beysorge,  dass  ein  Theil  von  dess  Feindes  Armee  beym  Ende  des  Wal* 
des  und  fiinter  dem  Walde  stehen  und  denen  commandirten  Truppen  die  retraicte  abschnei- 
den möchte,  4 Esquadronen avanciren  lassen,  **•  da  denn  das  Glück     2)  von  unter 

—  bis  Duglasses  f  e  h  1 1  8)  zu  bemächtigen  4)  die  Polen,  so  einen  sehr  avanlageusen 
Post  darauff  ge fasset ,  davon  gejaget,  auch  ver§chiedene  Stück  und  bagage  dabey  erobert 
und  des  Hügels  sich  mit  grossem  vigeur  glücklich4*** 

*)  diese  Esrarfronen      ♦*)  Action  vom  Feinde  mit       ***)  haben  8r.  KBnigl.  Mayt.  selber  mit  eyntgen  Squa- 
dronen  seeundiret,  da  denn  das  Glück       •♦♦♦)  die  Polen  davon  gejaget  and  des  Hügels  »ich  bemächtiget. 


<*7]  Die  Schlacht  von  Wabschau.  1656.  461 

man  nun  auf  die  Höhe  gekommen, '  hat  man  nicht  allein  von  des  Feindes  con- 
tenance,  sondern  auch  von  der  Situation  des  Orts  recht  urtheilen  können,  und 
haben  S.  Churfl.  DrchJ.  alsofort  sich  mit  dero  Flügel  längst  vor  dem  Walde  be- 
deckt, von  zwey*  Brigaden  zu  Fuss  und  Dragonern,  nebest  den  Stücken  in 
solche k  postur  gesetzet,  dass  deroselben  nichts  in  Rücken  gehen  konte.  §.  27. 
Dieweil  man  nun  von  solcher  unhenanter  Höhe  nicht  allein  gSntzlich  umb  den 
Wald  gekommen ,  sondern  auch  lauter  flach  Land  gefunden ,  bis  an  den  Stand 
des  Feindes,2  und  daraus  mercken  können,8  dass  der  Feind  seine  force  hatte 
zur  rechten  Hand  gezogen ,  so  wol  den  Ghurfürstlichen  in  die  flanque ,  als 
auch  hinten  durch  den  Wald  mit  etlichen  tausend  Pferden,  und  sonderlich 
mit  den  Tartarn  Sr.  Kön.  Hayt.  Flügel  in  den  Rücken  zu  gehen,  so4  haben 
Se.  Kön.  Hayt.  mit  umbschwingung  6  Esquadronen  vom  dritten  Treffen  den 
Feind  zurück  gejaget  welcher  darnach  sich  für  die  Churfl.  Armee  auffm 
Felde  präsentiret.  §.  28.  Entz wischen  haben  Se.  Kön.  May.  zwischen  dem 
Walde  und  der  Weichsel  mit  der  Artillerie,  Infanterie,  und  Cvallerie,  für  des 
Feindes  retrencbement*  subsistiret,  und6  ziemlich  mit  Canonen  begrüsset  wor- 
den, die7  Infanterie  vor  der  Cavallerie  auch  zum  Tbeil  mit  der  Gavallerie  ver- 
mischet gestanden,  und  damit  der  gantze  Schwärm  den  Churfl.  nicht  auff  den 
Halss  kommen  möchte,  sind  noch  2  Brigaden  die  Churfl.  zu  sustiniren  beordert 
worden:  §.  29.  Dieser  Stand  hat  so  lange  gewahret,  bis  die  Churfl.  Stücke, 
welche  auff  die  Höhe  solten  gebracht  werden,  durch  den  Morast  gescbleppet 
worden.  Alldieweil  nun  Se.  Kön.  May.  aus  des  Feindes  Anschickung,  und  an- 
dern Umbständen  für  ratbsam  befunden,  dem  Feinde  zu  seiner  rechten  Hand 
umbzugehen,  aber  nicht  practicabel  erachteten,  wegen  Enge  des  Weges  und 
durchgetretenen  Morastes  den  Weg  zu  gehen,  welchen  der  Churfl.  Flügel  gepas- 
siret,  sondern  beschlossen,  den  Weg  hinter  dem  Jinken  Flügel  umb  den  Wald, 
wo  die  Tartarn  Sr.  Königl.  Mayt.  in  den  Rücken  zu  gehen  gesuchet,  zu  neh- 
men. §.  30.  Gleich  wie  man  aber  bey  sothanen  resolutionen  sich  billich  nach 
des  Feindes  contenance  bat  müssen  reguliren ,  also  haben  Se.  König.  Mayt.  bey 
vorigem  Stande,  als  S.  Kögl.  May.  bey  der  Weichsel,  und  S.  Churfl.  Drchl.  jen- 
seits des  Morastes  waren,  sich  etwas  verweilen  müssen ,  §.  31.  sintemal  der 
Feind  zu  unterscheidlichen  mahlen  Mine  gemacht  hat,  so  wol  S.  Königl.  Mayt. 
als  die  Churfl.  Armee  beyde  zugleich  anzugreiffen,  und  es  bey  einer  solchen 
action  nicht  ratbsam  wäre,  dass  Se.  Königl.  Mayt.  durch  Abziebung  dero  Troup- 

a)  von  Dero  zwcy     b)  solcher. 


4)  Wie  nun  S.  Ch.  D.  solcheHöhe  erobert  und  den  Feind  davon  delogiret,  haben  die- 
selbe mit  Dero  Flügel  langst  von  dem  Walde  sich  mit  unglaublicher  appJication  und  unermü- 
deler  Arbeit*  bedecket  und  in  solche  Positur  gesetzet  3)  bis  an  den  Ort  wo  der  Feind  ge- 
standen 8)  und  dabey  wahr  genommen  4)  so  ist  der  Feind  mit  sechs  Esquadronen**  vom 
dritten  Treffen  zurückgejagt  und  an  solchem  seinem  Vorhaben  gehindert  worden.  Inzwi- 
schen 5)  zwischen  dem  Walde  und  der  Weichsel  in  bataille  subsistiret  6)  und  sind  da- 
selbst     7)  von  den  Worten  die  Infanterie.  .  .  .  bisg.  32  Indem  fehlt. 

*)  von  mit  anglaublicher  . .  .  .  bis  Arbeil  gestrichen.    ••)  mit  sechs  Esquadronen  ist  gestrichen. 


46 £  Jo«.  U*t  Dtrrrsn.  «i* 


(»im  dero  Detvrift  so  £**  *.*.s,ie  eS«ti.fei  *-v.e.  f.  3*.  fei**,1  z-.t 
wider  Wim  andernina!  zn  s^imr  ree&ten  Rani  kH  aü-rt  seicen  Tari* 
Charfl,  in  denüanffoen  rtkken.  otvd  freut*  rezVetcfc  «zaV<«L«i  »ict.ie.s 
»ta  durch  topfern  Wiidertund  der  CLarft.  z«rt.cfc  p.atfirvt  werden  anrfc 
welche  dorch  den  Wald  d?n  Ciarfl.  «,:*«  in  Borke«  s^bec.  d^rtfc  S.  Kaci'L 
May,  drillet  Treffen  ab£<£*ften  worden,     f.  33.  Es  kat  zwar  anch>  4er  Feind1 
in  »eitrigem  nv/ment  gcsocbet,  mit  seiner  sr^u-n  fecoe  nti**t  sc-'-Der  Infante- 
rie aus  seinen  retrenchemenl  frecen  S.  K^r/gl.  Bart,  zn  aTanriren.  sie  sind  aber 
ron  den  Stücken  ond  Garthescbtn  derse^tall  eaipfänam  «erden«  das»  ob  sie 
gleich  sich  zu  unterschiedenen  mahlen  berf  -r  getban  ,  haben  sie  sich  deenaeb 
endlich  wieder  in  ihre  retrenebesent  gezogen,  oed  denn  zc£>icb  yjnchei.  nach 
ihrer  rechten  Hand  orJt  aller  ihrer  force  aoff  den  Cburfnrstet;  lesszn^ehen.  f.  34. 
ßev  dieser  Occasion**  haben  S.  Eon. Hart.  Zeh  bekommen,  sieh  mit  Den  lafan 
terie  ond  Cavallerie  abzuziehen,  und  also  binden  umb  den  Charfl.  FHteel  dnrefc 
den  Wald  aoff  das  ebene  Feld  sieh  zn  ziehen.*  allwo  dann  S.  Conid.  Mayt.  mit 
des  CborfUrsten  gut  be6nden,  erwebhen  die  linefce  Hand  und  den  lineken  FlBgel 
zu  nehmen.     §.  35.   Die  weil*  ntm  der  Feind  seine  grdsste  forte  vnd  alle  seine 
Hassaren  aaf  seine  rechte  Hand  gesetzet,  und  in  enter  Ordre  nber  das  Feld  an- 
marsebirte,  als  streckten  Seine  Kon.  Mavt.  sich  auch  zur  linken  Hand  ans.  nmb 
Feld  so  gewinnen ,  und  dem  Feinde  in  der  Ebene  ins  Gesicht  zn  sehen,  f.  3f . 
und  nahmen  S.  Königl.  Mayt.  auf  dero  Flügel  zu  sich  etliche  oommandirte  Stocke 
nebenst  drey  Esquadronen  zn  Fnss,  welche  alle  für  der  Cavallerie  her  mardrir- 
ten ,  ond  suchten  also  S.  König],  MaU.  mit  guter  Ordre  dem  Feinde  im  flachen 
Felde  anzugreinen ,  wie  auch  selbige  umbzugehen ,  und  hinter  ihren  Stücken, 
die  sie  auf  eine  hohe  Sand-Dohne  mit  ihrer  Infanterie  gesetzet,  zn  altaqtriren. 
§,  37.  Wie  nun  S.  Mayt.  mit  dero  Flügel  in  guter  Ordnung  avancirten,  fieng  der 
Feind  an  gleich  das  Dorff,  welches  zu  seiner  rechten  Hand  war,  anzustecken, 


4 )  Bald  aber  darauff  hat  der  Feind  wieder  zum  andern  mal  zn  »einer  rechten  Hand . . . .  * 
i)  gesucht  er  ist  aber  mit  solcher  Valeur  ond  condnite  von  Sr.  Charfl.  Durchl.  empfangen 
worden ,  dass  er  sich  mit  tiberaas  grossem  Schaden  und  Hinterlassung  vieler  Todten  mit 
grosser  Coofus ion  wieder  zurück  machen  müssen.  Bei  dieser  Occasion  '$.  S4)  S;  sich  zu 
stellen,  dann  Sr. ..  *»*  4)  Für  die  gg.  85 — tt  hat  der  Text  des  Th.  Emr.  est  H.  Nach- 
dem nnn  Ihre  KOn.  MaytL  sich  mit  dero  Flügel  daselbst  ins  flache  Feld  gezogen,  so****  ist  man 
bald  daraaff  mit  dem  Feinde,  welcher  in  guter  Ordnung  auf  die  Königl.  und  ChuHurstliche 
Armee  an  marebiret,  ins  Gefechte  gerathen,  und  ob  schon  von  des  Feindes  Husaren  und  Reo- 
terey  vornehmlich  auf  die  Churfurstliche  Cavallerie-}'  ein  sehr  hitziger  Anfall  geschehen,  so 
seyod  doch  dieselben  von  Sr.  Churfl.  Durchl.  ff  dergestalt  repoussirt  worden ,  dass  sie  sich 
ebner  Gestalt  wie  vorhin  wieder  zurückbegeben  und  in  einer  ziemlich  confusen  Retirade  ihr 
beyl  suchen  müssen ,  welches  ziemliche  Zeit  lang  gewähret  und  zn  beyden  Theüen  sowohl 
an  Polnischer  als  Schwedischer  und  Brandenburgischer  Seite  mit  grosser  Courage  absonder- 
lich aber  von  8.  Churfl.  Durchl.  zu  Brandenburg  soütenirt  worden,  (g.  48).   Bey .  . . 

*)  Der  gsase  %.  SS  ist  gestrichen.  ••)  Nachgebend«  haben.  *••)  Einzelne*  ist  gestrichen. 
es  bleibt:  Carallerie  durch  den  Wald  abgezogen  and  also  hinten  ojb  den  Chnrfl.  Flügel  anf  das  ebene  Feld 
»ich  gestellet,  die  Unke  Hand  nod  IfnkenFlSgel  genommen.  ••♦•)  nachdem. ...  so  ist  gestrichen  ond 
ist      f)  Renterei  anf  die  Königl.  Cavallerie       ff)  Seite  tapfer  sontenirt  worden. 


H  9]  Die  Schlacht  von  Waeschau.  1 656.  463 

und  sich  binler  das  Dorff  zurück  zu  ziehen,  in  meynung  Sr.  Köd.  May.  wann 
Sie  das  Dorff  fUrbey  passirten ,  mit  einem  Theil  Ihrer  Gavallerie  hinten  umbs 
Dorff  in  den  Rücken  zu  gehen,  wesswegen  der  General  Major  H.  Hörn  mit  dem 
dritten  Treffen  zugleich  umb  das  Dorff  zu  gehen,  und  zu  avanciren  beordert 
wurde,  welches,  da  es  der  Feind  gewahr  wurde ,  zog  er  sich  allmählich  zurück 
zum  andern  Dorff,  nebest  einem  Morass,  und  setzte  sich  hinter  das  Dorff,  wel- 
ches sie  auch  ansteckten :  §.  38.  Als  avancirten  Sr.  Königl.  Mayt.  nach  dem 
Dorff,  zuvorderst  mit  den  Knechten,  und  da  sie  wegen  des  Morass  das  Dorff 
umbzugehen  nicht  für  ralhsam  hielten,  besonderen  zur  linken  Hand  zu  gehen, 
Hessen  Se.  Königl.  May.  die  Infanterie  vor  den  dreyen  Esquadronen  zu  Fuss 
heim  Dorffund  Morass  stehen  bleiben,  bis  das  erste  und  andere  Treffen  längs, 
und  für  das  Dorff  sich  zog,  das  dritte  Treffen  aber  blieb  bestehen  hinter  dem 
Fussvolck,  umb  solohes  zu  sustiniren,  §.  39.  und  als  S.  König).  Mayt.  mit  dem 
ersten  und  andern  Treffen  schon  das  Dorff  zum  Rücken  hatten,  hatten  Se.  Königl. 
Mayt.  dero  rechte  Fronte  gegen  den  Berg,  und  des  Feindes  Werck  auff  den 
Sand-Dühnen  geformiret,  da  dann  mit  canoniren  auff  beiden  Seiten  es  erst  recht 
angegangen,  und  beyderseits  grosser  Schaden  geschehen.  §.  40.  Dieweil  aber 
Se.  Königl.  Mayt.  sich  musten  dero  linkem  Hand,  wenn  sie  gegen  den  Berg 
weiter  avanciren  würden,  versichern,  haben  Se.  Königl.  Mayt.  nachdem  sie  das 
Dorff  schon  im  Rücken,  die  drey, Esquadronen  zu  Fuss  wieder  vom  Morass  zu 
sich  kommen  lassen ,  und  dieselbe  hinter  dero  zweytes  Treffen ,  und  gHntzlich 
am  Ende  des  Flügels  die  fronte  zur  linken  Hand  gewendet,  beym  Creutze  setzen 
lassen,  und  fronte  gegen  die  Tartarn  zu  thun,  welche  hinter  dem  Dorffe  beim 
Walde  oebenst  einer  Menge  Quartianer  Se.  Königl.  Mayt.  zur  linken  Hand  in 
die  flanque  zu  gehep  sucheten,  §.  41.  derowegen  Sr.  Königl.  Mayt.  mit  der 
gantzen  Bataille  halten  Hessen,  auff  dass  das  dritte  Treffen  sich  auch  möchte  her- 
ziehen, auf  seinem  rechten  Platz.  Entz wischen  hat  die  gantze  feindliche  force, 
ausserhalb  wenigen  Esquadronen,  die  beym  Fussvolk  auffm  Berge  bestehen 
blieben,  sich  zum  Theil  auff  der  rechten  Hand,  und  umb  Sr.  Königl.  Mayt.  Flü- 
gel, die  Hussaren  aber,  nebenst  5000  Pferden  gegen  Se.Kön.Mayt.  fronte  avan- 
ciret,  §.  42.  da  dann  die  Hussaren  auf  zwey  Esquadronen  einem  ziemlichen 
Effect  gethan,  und  zum  Theil  durchgebrochen,  sind  aber  von  dem  andern  Tref- 
fen, und  von  der  Seiten  dergestalt  empfangen  worden,  dass  ihrer  wenig  durch- 
kommen, die  aber,  welche  ihnen  gefolget,  zurück poussiret  worden,  von  welchen 
Theil  auff  Sr.  Königl.  Mayt.  Bataille,  etliche  auff  die  Ghurfl.  Gavallerie*  loss- 
gangen, von  welchen  sie  auch  dergestalt  empfangen  worden,  dass  sie  mit  höch- 
ster confusion  den  Berg  wieder  einzunehmen  gesuchet  haben:  §.  43.  Bey1  sol- 
chem währenden  Treffen  haben  die  Tartarn  nicht  gefeyret,  sondern  gesuchet 
umb  das  Dorff,2  und  der  Armee  in  den  Rücken  zu  gehen ,  worauff8  Se.  Königl. 
Mayt.  4  Esquadronen  unterm    conduicte    des  Herrn  Generalissimi b  Durchl. 

i)  Ihr  Churfilrstl.  Durchl.  loss      b)  Generaliuimi  Ilochfilrstl.  Durchl. 


4)  Bey  solchem  Treffen       2)  um  das  Dorf  und  fehlt.      8)  worauff  man  vier  Esqua- 
dronen wenden  lassen. 


464  Joh.  Gust.  Dboysbn,  [,2r) 

haben  wenden  lassen ,  welche  sie  denn ft  gepoussiret  und  in  den  Morass  gejaget, 
allwo  ihrer  eine  grosse  M&nge  geblieben,  und  von  ihren  Pferden  haben  absprin- 
gen müssen.  §.  44.  Wie  nun  bey  auf  so  vielfältige  Arten  geführten  actionen 
und  Treffen,  Se.  König! .  Mayt.  nötig  befunden,  dero  Regimenter  in  vorige  Ordre 
und  Platz  wieder  zu  bringen,  umb  den  Feind  in  seinem  Vortheil  zu  attaquiren, 
und  bey  Eroberung  eines  Waldes  welcher  dem  Feinde  und  die  Höhe  zur  rechten 
Hand  lag,  mit  gleicher  avantage  des  Feindes  Höhe  zu  erreichen ,  dass  man  also 
hinter  des  Feindes  Wercke  mit  dem  Feinde  und  seinem  Fussvolck ,  in  gleichem 
Vortheil  zu  fechten  kommen  mögte,  so  hat  man  gegen  den  Feind  avanciret,  aber 
zu  dem  Berge2  nicht  gelangen  können,  bis  es  gantz  finster  worden,  §.  45.  da 
dann  weitere  actionen  zu  verhüten,  Se.  Königl.May.*  sich  zurück  gezogen,  dero4 
Cavallerie  bey  einem  Walde  zur  Seilen  des  Dorffes  gesetzet,  nebenst  den  dreyen 
Esquadronen  zu  Fuss,  die  Infanterie  ist  aber  für  dem  Dorff,*  und  die  Churfürst- 
licbe*  Armee  auff  dem  Platz  stille  stehend  blieben,  bis  Sonntags  Morgens,  da 
man  sich  dann  bey  anbrechendem  Tage  wieder  zusammen  gezogen ,  §.  46.  und 
nachdem  Se.  Mayt.  eine  Esquadronen  Fussvolck  in  dem  Walde  wo  dero  Caval- 
lerie gestanden,  zu  verhawen  befohlen,  umb  da  Se.  Kön.  Mayt.  würden  avan- 
oiren ,  den  Rücken  frey  zu  .haben,  als  ist  darauff  resolviret  worden,  dass  man 
mit  der  Armee  zwischen  dem  Walde,  da  Sr.  Königl.  Mayt.  Cavallerie  über  Nacht 
gestanden,  und  dem  Walde,  dessen  der  Feind  bey  der  rechten  Hand  sich 
gebraucht11  hat,  zu  avanciren,*  und  die  Infanterie  in  die  Avantgarde  zu  neh- 
men nebenst  Artillerie  und  5  Esquadronen  zu  Pferd  der  Schwedischen,  umb 
den  Feind  aus  dem  Walde  zu  bringen,  welches  zu  verrichten,  dem  General 
Feldzeugmeisler  Sparr  auffgetragen  wurde,  auch  von  ihme  mit  sonderbarer 
dexterität  und  guter  disposition  verrichtet  worden.  §.  47.  Und  dieweil  der 
Feldzeugmeister  Sparr  den  Wald  zuvorderst  hefftig  canonirte,  hat  zwar  der 
Feind  seine  Infanterie  nach  dem  Walde7  gezogen,  mit  dem  gantzen  Reste  seiner 
Cavallerie  gesuchet,8  umb  in  die  flanquen  zu  gehen,  derowegen  ***  Se.  Kön.  Mayt. 
so  wol  als  die  Churfl.  Cavallerie  unterschiedliche  fronten  nach  Situation  des 
Orts,  umb  des  Feindes  einbrechen  zu  verhindern  formiret,  dass  also  an  allen 
vier  Ecken  fronte  ist  formiret  worden.  §.  48.  Nachdem  aber  der  Feldzeugmei- 
ster Sparr  den  Wald  eine  weile  canoniret,  ist  er  mit  der9  Infanterie  und  200 
oommendirtenMussquetirern  in  den  Wald  hinein  avanciret,  neben  *°fünff  Esqua- 
dronen Reuter,    §.  49.  und  weil  des  Feindes  Mussquetirer  also  den  Wald  ver- 

a)  Ihr  Chnrfüntl.  Durch].  Armee      b)  sieb  vorhin  gebraucht. 


4)  welche  sie  dann*  s)  Berge**  worauf  der  Feind  sich  dazumal  postiret  gehabt,  nicht 
8)  zu  verhttthen  man  sich  4)  und  die  5)  für  einem  Dorf ,  welches  man  zur  Linken  ge- 
habt 6)  von  und  ...  bis  Schwedischen  fehlt  7)  aus  dem  Walde  8)  aber  gesuchet 
8)  Der  Chnrfürstl.  Infanterie  und  fünf  Esquadronen  Reuter  in  40)  von  neben  ...  bis 
müssen  fehlt. 

*)  welche  acht  auf  sie  geben  matten,  damit  sie  nicht  von  hinten  einfielen.  Da  nnn  **)  avanciret  und  sich 
wegen  der  Nacht  allda  postiret,  dergestalt  dass  die  Cavallerie  bey  einem  Walde  ***)  derowegen  Carallerie 
commandiret  worden  die  Infanterie  des  linken  Flügels  in  bedecken.   §.  48.  Nachdem  . . . 


121]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  465 

lassen  müssen,  sind1  S.  Churfl.  Drchl.  in  eigener  Person  mit  sechs  Esquadro- 
nen* auf  den  Berg  avancirt,  die  darauf  befindliche  feindliche  Reuterey**  den 
Berg  hinunter  gejaget,  welche*  sich  dann  zur  linken  Hand  nach  dem  Morass, 
wo  des  vorigen  Tages  die  Tartarn  sich  hinbegeben ,  aber  von  dem  Feldmar- 
schalle  Herrn  Gustav  Wrangel  und  dem  Churfl.  ■  General  Lieutenant  Herrn 
Grafen  von  Waldeck  mit  commendirten  Beutern  und  etlichen  Esquadronen  ver- 
folget, in  Morass  gejaget,  und  also  die  meisten  derselben  erschossen,  ersoffen 
und  umbkommen.  §.  50.  Bei  wahrender  solcher  Action  haben  Se.  Churfl. 
Drchl.  resolviret  gehabt,4  nachdem  die  feindliche  Infanterie  ihre  Stücke  *  ver- 
lassen, auff  die  losssugehen,6  dieweil  dieselbe  aber  gleich  zu  accordiren  begehret, 
haben  S.  Churfl.  Drchl.  dieselbigen  nicht  verfolget,  besondern  die  Infanterie  hat 
in  wahrendem  Tractat  sich  nach  der  Schiffbrücke  verfüget,  dieselbige  passiret, 
und  hinter  sich  ruiniret:  §.  54.  Nachdem  nun  des  Feindes  linker  Flügel  und 
die  Infanterie  mit  Verlassung  des  Lagers ,  Pagage  und  allen  Stücken  7  sich  rete- 
riret  gehabt,  ist  des  Feindes  rechter  Flügel8  schon  zur  Flucht  parat  gewesen, 
und  sich  frühzeitig  grüsslen  Theils  zwischen  Präge  und  dem  nicht  weit  davon 
liegenden  Walde  weg  in  voller  confusion  reteriret  ohnangesehen  so  wol  dieses 
als  vorigen  Tages,  der  König  in  Polen  die  also  genannten  Hollotten  oder  Gesinde 
(welche  nicht  mit  Obergewehr,  sondern  nur  Sebeln,  Sensen,  Prügeln,  und  der- 
gleichen Instrumenten  versehen)  beydes  mit  Geide  und  Worten  animiret,  so  wol 
die  Quartianer  und  Pospolite  Bussenieb  vom  aussreissen  aufzuhalten,  §.  52. 
welches  sie  auch  in  der  That,  und  mit  vielfaltigem  grossen  Geschrei  anfanglich 
verrichtet,  endlich  aber  mit  eioander,  besagter  massen,  aussgerissen,****  wel- 
chen Se.  Ktfngl.  Mayt.  zwar  nachgegangen,  aber  wegen  abgematteter  Leute 
und  Pferde,  welche  in  der  dreytagigen  Action  nichts  gessen  haben,  hat  man 
den  Feind  wenig  verfolgen  können,  besondern  man  ist  des  andern  Tages  dem 
Feinde  6  Meileweges  nach  gangen. 

§.  53.  Der  König  in  Polen  hat  dieser  Action  von  Anfang  bis  zu  Ende  bey- 
gewohnet,  und9  da  er  gemerket,  dass  seine  Armee  das  Feld  hat  räumen  müssen, 

a)  Ihr  Churfüntl.  Durchl.  General  Lieutenant     b)  Ruszienie. 


4)  dann  auch  Sr.  2)  Esquadronen  sofort*  auff  dem  Fasse  gefolget  and  auff  den  Berg 
zu  8)  von  welche.  .  .  bis  umkommen  fehlt.  4)  gehabt  fehlt.  5)  ihre  Stücke 
schon  6)  losszugehen,  allermassen  auch  sonder  Zweifel  geschehen  und  vielleicht  nicht  das 
geringste  von  derselben  würde  echappiret  seyn.  Es  sind  aber  S.  Ch.  Durchl.  durch  dess  Kö- 
nigs Bruder  davon  divertiret  worden,  so  dass  gedachte  Infanterie  dadurch  Zeit  gewonnen  *** 
mit  den  Feldstücken  sich  davon  zu  machen  und  über  eine  Brücke  so  sich  eben  daselbst  ge- 
funden und  welche  sie  hinter  sich  ruiniret,  sich  zum  Theil  zu  salviren.  (§.  51).  Nachdem 
7)  Stücken  durchs.  Ch.  D.  zu  Brandenburg  gänzlich  überm  Haufen  geworfen  worden,  hat 
dess  8)  Flügel,  welchen  Ihre  König] .  Mayt.  von  Schweden  gegen  sich  gehabt  auch  keine 
sonderliche  ressitenz  mehr  gethan  sondern  sich  also  fortt  grössten  Theils  9)  und  da  Sr. 
Churfl.  Durchl.  des  Sonntags  durch  den  Wald  gesetzet  und  die  feindliche  Armee  von  dem 
Berge  getrieben  und  Er  darauss  gemerket. 

")  sofort  anff  der  nahten  Seite  anff  **)  Infanterie  •*•)  gewonnen  Ober  einen  Morast  da  sie  nicht  wohl- 
verfolget  werden  können  sich  in  salviren,  bei  welcher  retinae  ihrer  eine  grosse  Mengo  geblieben  und  sannt 
den  Pferden  in  Morast  nnkonnen.  Nachden      ****)  durchgangen. 


466  Joh.  Gost.  Dboyskn,  [128 

ist  er  nechst  für  der  Infanterie  über  die  Brücke  erst  auff  Warschau  und  so  wei- 
ter fortgegangen.  §.  54.  Die  Königin  aber,  *  welche  die  Polen  von  der  West- 
Seite  der  Weichsel,  als  sie  bey  Warschaw  am  48/28  passato  über  die  Brücke 
gangen,  in  einer  Garreten  dabey  haltend,  trefflich  animiret,  (so  dass*  die  Polen 
sich  grosssprechend  darauff  verlauten  lassen,  sie  wären  so  starck,  dass  sie  den 
Feind  mit  Peitschen  wegjagen  wolten)  hat  so  lange  nicht  gewartet,  sondern  in- 
dem sie  den  20/30  July,k  war  der  Sonntag,  vermercket,  dass  die  Königliche 
Schwedische  Armee  der  Polnischen  im  Lager  zusetzte,  soll  sie  sich,  nachdem  sie 
alle  drey  Tage  diess  harte  Treffen  mit  ihrem  Frawenzimmer  und  etlichen  Sena- 
toren angesehen,  frühzeitig  aus  dem  Wege  gemacht  haben,  §.  55.  Bei  diesem* 
Treffen  sind  beydes  Se.  Kön.  Mayt.  zu  Schweden ,  als  auch  Se.  Churfl.  Drchl. * 
in  grosser  Gefahr  gewesen ,  dann  sie  in  eigener  Personen  sehr  grossmüthig  ge- 
fochten ,  so  dass  Se.  Churfl.  Drchl.  einmal  gar  von  den  Tartarn  umbringet  ge- 
wesen, dass  man  eine  gute  Weile  nicht  gewust,  wo  sie  hinkommen.  §.  56.  Und 
also  ist  endlich  Sonntags  in  der  Nacht  Warschaw  d  von  der  Polnischen  Guarni- 
son  unterm  Obristen  Zeillari  mit  hinterbleibung  aller  Stücken,***  gleich  denen  im 
Felde,  verlassen,  und  hat  sich  des  Montags  früh  der  Ort  in  Sr.  Kön.  Mayt.2  de- 
votion  wieder  ergeben :  Se.  Koni  gl.  Mayt.  und  Churfl. Drchl.  Armee  ist****  bestan- 
den in  60  Esquadronen  zu  Pferde  und  4  Regimenter  Dragoner.  §.  57.  Davon 
30  auff  dem  rechten  und  30  auff  dem  linken  Flügel  gestanden.  Die  Fussvölcker 
sind  in  zwölff Brigaden  vertheilt  gewesen.  Des  Feindes  force  sol  allem8  bis  dato 
eingekommenen  Bericht  nach,' bestanden  seyn4  in  8000  Quartianer,  16000  Pol- 
nischer Pospolite  Russenie,  5000  Littawer,  6000  Tartarn  und  4000  zu  Fuss, 
wiewol  sie  sich  Selbsten  ins  gemein  mit  allem  400,000"  Man  zu  seyn  ge- 
schätzet, dahero  sie  sich  selbst  auch  wegen  solcher  grossen  Mänge,  den  Sieg 
gar  zu  gewisse  eingebildet  haben.  §.  58.  Es  ist  nicht  zu  beschreiben,  wie  Gott 
bey  dieser  Occasion  gewürcket  habe,  in  deme  wo  die*  Königliche  Schwedische 
Armee f  sich  nur  bingetrehet,  hat  sie  den  Vortheil  des  Windes  für  sich  gehabt, 

a)  von  welche. ...  bis  wegjagen  wollten  fehlt,  b)  30  Jnly  c)  von  Bei  diesen  ....  bi s  §.  56  ut 
endlieh  fehlt.  d)  Nacht  ist  die  Stadt  Warschau  e)  >elbsten  Aber  100000  f)  Schwedische  und 
Chnrbrandenburgische  Armee* 


4)  Zu  Brandenburg  continutrlich  zugegen  gewesen,  absonderlich**  haben  Sr.  Churfl. 
Durchl.  mit  einer  unvergleichlichen  intrepidität  sich  dabei  signalirt  und  alles  was  Tapferkeit 
und  prudentz  in  dergleichen  Folien  von  einem  grossen  helden  erfordern ,  erwiesen  und  an 
sich  spühren  lassen,  auch  nicht  allein  mitCommando  und  Anordnung  der  Armee  sich  begnü- 
get ,  sondern  in  eigner  hoher  Person  grossmüthig  mit  gefochten  und  sich  exponiret  so  dass 
Se.  Churfl.  Durchl.  einmal  gar  von  den  Tartarn  umringt  gewesen  und  man  eine  gute  Weile 
nicht  gewusst  wo  sie  hingekommen,  (g.  56)  Und  also  %)  Mayt.  und  Sr.  Churfl.  Durch!. 
3)  von  allem  ...  bis  nach  fehlt.  k)  in  zwanzig  tausend  Husaren  und  Quartianern. 
sechzigtausend  polnischer  pospolite  Ruszenie,  zwanzig  tausend  Lithauern,  sechs  und  dreissig 
tausend  Tartarn  und  vier  tausend  zu  Fuss  in  Allem  von  hundert  und  vierzigtausend  Mann. 
Dahero      5)  die  altiirte  Armee. 

*)  von  so  dass  ....  bis  jagen  wolten  ist  gestrichen.  ••)  Von  absonderlich. . . .  bis  hingekom- 
men ist  gestrichen;  dann  folgt  (g.  56)  Bndlich  ist  ***)  etlicher  weniger  8tftcke  ****)  ist  16  bis 
17000  Mann  und  des  Feindes  Macht  ist  im  Anfang  in  120000  Mann  inletzt  in  84600  eigenem  Gestlndniss  nach 
bestanden,  dahero. 


[*  23  Die  Schlacht  von  Warschau.  1 656.  467 

und  ist  deroselben  rund  umb  gefolget.  So  dass  dahero  der  grosse  Staub  sampt 
dem  Pulver-Rauche ,  dem  Feinde  ins  Gesicht  getrieben.  §.  59.  Von  hohen  Offi- 
cirern  sind  wenig  geblieben.  Des  ersten  Tages  ist  Obrisler  Senckler  mit  einer 
StUckkugel  geschossen,  wie  auch  der  General  Major  Kannenberg  blessiret  worden, 
von  den  gemeinen  aber  ungefehr  drey  bis  vier  hundert  gequetschet  und  geblie- 
ben. Was  von  vornehmen  unter  dem  Feind  geblieben  oder  gequetschet,  hat  man 
nicht  observiren  können,  die  todten  Cörper  aber,  so  hin  und  her  im  Felde  und 
in  dem  Morass  gefunden  worden ,  werden  auff  ungefehr  drey  bis  vier  tausent 
gerechnet.*  §.  60.  Und  hierauff  sind  nun  den  24  und  34  Julii1  die  beyde 
König-  und  GhurfUrstliche  Leib- Regimenter  fürüber  geführet*  und  die  Stadt 
Warschaw  damit  besetzet,  und  also  dieser  Ort  sonder  einige  Mühe  wieder  ge- 
wonnen worden:  Jedoch  kam  indessem  Zeitung,  dass  der  Feind  bei  Schersky* 
mit  viel  tausent  sich  wieder  gesetzet,  auff  welche  Se.  Mayt.  mit  etlichen  Regi- 
mentern Zugängen,  aber  niemand  gefunden,  dess wegen8  Se.  Mayt.  den  2.  Au- 
gusti  st.  n.  wieder  zurück  nach  Warschaw  gekehret.  Die  Bagage  hat  man  den 
Soldaten  zur  Beute  gegäben :  **  §.  61 .  Die  eroberte  Ganonen  sind  etwan  in  50 
StUcken  bestanden,  wenig  sind  gefangen  worden,  weil  man  wenigen  Quartier 
gegäben.  Es  ist  leicht  zu  glauben,  dass  man  weder  die  Fahnen  noch  die  Anzahl 
der  erschlagenen  gewiss  wissen  können ,  weil  alles  sich  in  die  Morässe  verlauf- 
fen,  und  wegen  des  unerträglichen  Gestancks  niemand  fast  weder  in  Warschaw 
noch  im  Felde  bleiben  können.  §.  62.  Den4  andern  und  dritten  Augusü  st.  n. 
ruheten  indess  die  Armeen  an  der  Oost- Seiten  aus,  bis  sie  den  vierdten  dessel- 
ben Über  die  reparirte  Schiffbrücke  gehen  könlen.  Und  diess  ist  der  gewisse 
und  warbaflle  Verla  uff,  der  sonder  Sparung  der  Warheit  wol  wehrt,  dass  er  an- 
gemercket,  und  dem  Allerhöchsten  unablässig  dafür  gedancket  werde.  Datum 
Warschaw,  am  4.  Augusti  st.  n.  1656. 

a)  uogefihr  auf  5  a  6000  gerechnet.    Datum  im  Felde  bei  Präge  gegen  Wanchanen  gelegeu  den  24  Julii 
Styl.  veU  16M.   Das  Folgende  fehlt. 


4)  eben  so  im  Th.  Eur.  ed.  II.       2)  Ichersky      3)  von  deswegen  ...  bis  gekeh 
ret  fehlt.      4)  §.  6t  fehlt. 

*)  Ober  die  Brücke      *•)  ist  den  ...  .  geworden. 


468  JOH.  GtJST.  Dioysbn,  [12* 

Beilage  3. 

Relation  III.* 

Relation  oder  wahrhaftiger  Bericht,  wie  es  bey  der  von  Seiten  Sr.  Churf. 
Durchl.  zu  Brandenburg  wider  die  Polen  und  Tarlaren  bey  Warschau 
erhaltenen  Victoria  daher  gegangen  de  dato  3f.  Julii  1656  aus  dein 
Churfl.  Ilaupiquartier  Prag  vor  Warsaw.  Gedruckt  in  obgemeldeiem 
Jahr,   (i  Bl.  4°  *.  I.) 

Vergangenen  Freitag  den  88.  Juli  spül  sein  wir  mit  ankommender  Nacht 
für  des  Feindes  Lager  angelangt.  Ihre  König].  Hayt.  zu  Schweden  gingen  nebenst 
Sr. Churfl. Durch!.,  des  Herrn  Grafen  zu  Waldeck  General  Leutnants  Excellenz, 
dem  Herren  General  v.  Wrangein,  dem  Herrn  Pfaltzgraffen  von  Sullzbach,  Du- 
glassen  und  anderen  Generalspersonen  nebenst  der  ganzen  Iteulerey'  voran, 
und  nachdem  sie  elzliche  von  des  Feindes  Truppen  angetroffen  wurden  sie  so- 
bald carchirert'  geschlagen  und  bis  an  des  Feindes  retrancbement  verfolget: 
Hierauff  befahlen  Ihre  Uaylt.  dem  Feldzeugmeisler  Sparren  mit  der  Infanterie  zu 
avanciren,  welches  auch  geschehen.  Gemeldte  Infanterie  bestund  in  3  Schwe- 
dischen und  9  Brandenburgischen  Brigaden  zu  Fuss.  Nachdem  wir  nun  avan- 
cirten  bis  auffeinen  Musketschuss  von  des  Feindes  Lager,  haben  Sr.  Haytt.  die 
Armee  lassen  in  bataille  stellen,  also  das  die  Infanterie  in  der  Milien,  dieCaval- 
lerie  auf  beiden  Seiten  gestanden.  Sobald  nun  der  Feind  unser  vermercket,  hat 
er  gewaltig  mit  Ganonen  unter  unsre  Infanterie  und  Cavallerie  gespielet,  wel- 
ches ohngefahr  bei  zwey  Stunden  gewähret,  auch  ohne  Schaden  nicht  abgegan- 
gen, indem  einem  schwedischen  Obristen  ein  Arm  abgeschossen,  auch  unter- 
schiedlich andre  Officiere  und  Soldaten  sowol  verwundet  als  geblieben.1  Nach- 
dem es  aber  ganz  finster  worden  bat  der  Feind  mit  dem  sohiessen  eingehalten,  da 
haben  wir  uns  ein  wenig  auseinander  gezogen  und  die  Soldaten  ruhen  lassen, 
mit  anbrechendem  Tag*  ist  die  armee  wiederum  in  vier  Tropfen*  hinler  einan- 
der in  bataille  gestellet  worden  also  das  die  Infanterie  mit  dem  rechten  Flllgel 
an  der  Weixel,  mit  dem  linken  Flllgel  in  einem  Wald  und  Morast  gestanden,  die 

«)  Der  andre  Druck,  hall  eWgirel      b)  dsrnndre  Druck  bil:  Truppen. 


*)  Hit  diesem  Druck  stimmt  mehrfach  der  Bericht  bei  Ailzema  p.  653  ff.  und  einzelne 
!en  unserer  Relation  sind  daher  zu  erläutern;  das  Wichtigere  folgt  in  den  folgenden  An- 
klingen. 

1)  ende  andere  hooge  Officeiren  gingen  met  de  Ruyterye  vooraen.  1)  het  welcke  de 
ea  siende,  speelda  met  soo  hevicb  canoneren  op  ons,  dat  veele  van  uns  bleven,  sonder- 
i  een  Schots  Overate  te  pcerde  Sengler  genoml,  ende  een  Brandenburg!) seh  Major,  ende 
wy  Reen  lijdt  ofte  macht  hadden  hei  canon  daer  tegens  aen  te  planten.  8}  Nach  Er- 
nung  des  Kriegsralbs  In  der  Nacht,  der  Vorbereitungen  zurSchlachl,  des  Loosungsschus- 
Itthrt  der  Bericht  fort:  waer  op  den  onse  armee  in  vier  deelen  achter  een  ander  weder  in 
die  gestelt  wierdt,  sulcx  dal  den  rechten  vleugel  onder  sijn  Cbur-Voratel.  Doorl.  naer 
Veisael,  den  slincker  vleugel  onder  sijn  Majesleyt  aen  bei  wandt  en  de  lloras  ende  de 
ntorie  met  de  Artillerie  in  front  tuvschen  beydeo  quam  te  staen. 


***]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  469 

meiste  Cavalierie  war  mit  Sr.  Ghurfl.  Durehi.  auf  den  rechten  Flügel1  ohne  etz- 
liche  wenige  Squadronen  so  Ihr.  Haytt.  bei  der  Infanterie  in  reserve  behalten. 
Die  Schwedische  wie  auch  unsre  Artillerie  war  vor  die  Infanterie  vertheilet,  so 
hatten  Ihr.  Ghurfl.  Durchl.  auch  etzliche  Regimentsstücke  bey  sich.  Umb  7  Uhr 
des  Morgens  fing  der  Feind  an  gewaltig  mit  Stücken  auff  unser  armee  zu  spie- 
len und  ward  ihm  von  unserer  Artillerie  hinwieder  tapffer  geantwortet,   der 
meiste  Schade,  so  der  Feind  tbal  geschah  aus  einer  Schantze  weiche  auff  einem 
Berg  gelegen2  desswegen  Ihre  Maytt.  und  Se.  Ghurfl.  Durchl.  sich  unterredet 
und  gut  befunden  solche  Schantze  zu  attaquiren  und  Se.  Ghurfl.  Durchl.'  so- 
bald! darauff  zu  marchiret,  etliche  Stücke  gegen  solche  Schantz  bringen  lassen, 
auch  den  Herrn  Gen.  Major  Goltzen  mit  3  Squadronen  zu  Fuss  commandiret, 
solche  attaque  der  Schanze  vorzunehmen.  Dieser  war  kaum  von  uns  abmarchi- 
ret,  kam  Bericht  das  etliche  4000  Tartarn  sich  durch  den  Wald  zögen  willens 
uns  in  den  Rücken  zu  gehen.    Ihre  Maytt.  sobaldt  sie  solches  vernommen,  seyn 
sie  mit  etlicher  Reuterey  auf  die  Tartarn  iossgangen  und  solche  über  Halss  und 
Kopf  zurückgetrieben.4  Der  Herr  Gen.  Leutnant  Graf  von  Waldeck  hat  auch  ein 
Theil  von  solchen  Tartarn  in  einen  Morass  gejaget  und  ein  Theil  niederhauen 
lassen.  Kurtz  nach  dieser  action  befahl  Ihre  Maytt.  den  Herrn  Gen.  Major  Gra- 
fen von  Waldeck  mit  drei  Squadronen  zu  Fuss,  etlichen  groben  und  Regiments- 
stücken durch  den  Wald  zu  Sr.  Churfl.  Durchl.  zu  gehen ,  wie  er  aber  in  den 
Wald  kam,  war  es  so  morastig  das  es  unmöglich  hindurchzukommen,  auch  be- 
orderte der  Reichsmarschall  Wrangel  wie  auch  der  Feldmarschall  L.  Duglass  ihn 
wiederumb  zurück  zu  ziehen,  andeutende,  das  Ih.  Churfl.  Durchl.  seiner  nicht 
benöthigt;5  in  solchem  seinem  Zurück  -March  ward  er  gewar,   das  sich  der 
Feind  mit  Macht  aus  dem  Lager  zog  und  sich  ansehen  liess  als  wann  der  Feind 
Lust  hatte  es  zur  Hauptaction  kommen  zu  lassen.     Herr  Gen.  Major  Graf  von 
Waldeck  stellte  sich  sobaldt  mit  denen  drei  Squadronen  auff  der  Seite  des  Wal- 
des und  liess  die  Stücken  vor  die  Squadronen  stellen,  welches  als  es  kaum  ge- 
schehen rückten  etliche  Fahnen  Quartianer  hervor  und  gingen  mit  guter  resolu- 
tion  auf  die  Gvardte  an,  in  Meinung  zwischen  solcher  und  einen  Berg  durchzu- 
kommen6 und  etliche  Stücke  so  wir  auff  dem  Berge  hatten  wegzunehmen;  aber 
sie  wurden  von  der  Gwardt  und  einer  Squadrone  so  empfangen ,  das  sie  die 
Stücke  vergassen ;  im  zurückgehn  gab  ihnen  Herr  Oberst  Syburg  wie  auch  die 


4)  De  meeste  Brandenburghsche  Ruyterie  uytgenomen  eenige  weynich  soo  sijn  Ma- 
jesteyt  by  de  Infanterie  ende  tot  Reserve  hadden  ghehouden.  2)  De  meeste  schade  die  den 
Vyantdede,  was  uyt  seecker  Schantse  die  op  een  bergh  lag  ende  den  Avenuen  comman- 
deerde.  8)  't  selve  over  sich  genomen  hebbende  4)  —  dat  sy  haer  over  hals  ende  kop 
weder  mosten  te  rugge  begeven.  Den  Heere  Generael  Majoor  Henderick  Hörn  voerende  de 
troupen  van  reserve,  dede  veel  hier  by,  ende  de  Heere  Grave  van  Waldeck  5)  dat  men 
van  wegen  het  Moras  daer  niet  konde  komen,  ende  liet  Sijne  Chur-Vorslel.  Doorl.  daer- 
en-boven  weten,  dat  hy  voor  als  noch  geen  secours  van  noode  hadde,  door  dien  hy  niet 
all  een  hem  alrede  meester  hadde  gemaeckt  van  de  hooghte  maer  ook  vier  ofte  ses  duysent 
van  de  Poolen ,  die  van  vooren  uyt  hare  retrenchementen  op  hem  selve,  met  een  schricke- 
lijck  gekryt  eenen  seer  furieusen  aenval  hadden  ghedaen,  gheluckich  hadde  gerepousseert 
ende  in  hare  voordeelen  wede  te  rugghe  ghejaeght.  6)  ghemeent  hebbende  tusschen  de 
selve  ende  een  kieyn  gheberghte  in  te  breecken. 


470  Jon.  Gcst.  D*OT8BW,  [126 

Stacke  so  Herr  Gen.  Haj.  von  Waldeck  bey  ihm  hatte ,  eine  Salve  in  die  Seite, 
durch  welches  ihnen  siemlicher  Schade  geschehen.  Ohngefähr  eine  halbe  Stunde 
hernach  praesenlirten  sich  viel  Stück  Esqaadranen  vom  Feinde'  gegen  nnsre 
Armee  aufweiche  der  Herr  Gen.  Peldseugmeister  Sperr  wie  auch  der  Schwe- 
dische Gen.  Major  Bülaw  so  gewaltig  mit  Stacken  Feuer  geben  lassen ,  das  der 
Feind  endlich  gezwungen  ward  sich  wiedemmb  in  sein  Lager  eu  ziehen. 

Weinig1  hernach  marcbirten  Ihr.  Haytt.  mit  der  Reuterey  und  Fuss-Volck 
ab  und  Eugen  sich  auff  der  linken  Hand  durch  den  Wald  in  Willens  sich  mit 
Ihr.  Cfaurfl.  Durch),  eu  conjungiren,  ehe  aber  die  Infanterie  kam,  kam  der  Feind 
in  voller  Bataille  auf  Ihr.  Haytt.  eu  marchieret,  darnach  nahmen  Ihr,  Haytt.  die 
schwedische  Cavalleris  neben  etlichen  esquadronen  von  uns.  Hellten  solche  auff 
den  linken  Flügel  in  balallie,  Hessen  den  Ochsenstern,  welcher  Oberst  von  der 
Artillerey,  avansiren  und  marcbirten  Ihr,  Haytt.  mit  dem  Flügel  sacht  auff  den 
Feind  an,  liessen  in  Maren  bissweilen  etliche  stocke  umbkehren  und  (euer  ge- 
ben ,  unterdessen  kam  unsre  Artillerey  und  Infanterey  such  an  und  wurden 
gleichmassig  neben  den  linken  Flügel  in  2  Treffen  in  Batalie  gestellet,  Sr.  Cburfi. 
Durchl.  blieben  mit  dem  rechten  Flügel  in  der  3ten  esquadron'  zu  Fuss,  so  der 
Gen.  Major  Goltz  bey  sieb  hatte,  am  Walde  sieben.  Sobald  wir  stunden,  kam 
der  Feind  in  grosser  Menge  und  mit  einem  grossen  Geschrey  an  marchirel  und 
lieffen  die  Husaren  mit  ihren  Copien  auf  unsern  linken  Flügel ,  für  welchem  der 
König  in  Person  war.  Die  Husaren  gingen  in  solcher  Furie  an,  das  von  ihnen 
über  die  Hülfte  sich  durchs  erste  Treffen  hinduroh  schlugen,  sobald  aber  des 
Königs  Leibguarde  zu  Fuss  eine  Salve  unter  sie  gaben,  *  ging  die  andere  dalfle 
wiederumb  zurück  und  wurd  von  den  Unserigen  etwas  doch  nicht  weit  verfol- 
get. Die  andre  Hiilffte,  so  durch  das  erste  Treffen  wie  vor  gesaget  durchgedrun- 
gen, wurden  von  Unsern  Reutern  und  Fussvolok  dermaassen  von  allen  Seiten 
angegriffen,  das  wie  ich  glaube  nicht  einer  davon  gekommen  auch  ihr  Oberster 
erschossen  worden. 

Auff  dem  rechten  Flügel4  da  Sr.  Chnrfl.  Durchl.,  Gen.  Wrangel,  Gen.  Uu- 
tenant  Graff  von  Waldeck  und  Gen.  Major  Kannenberg  waren,  wurden  die  Pnh- 
len  gleichmassigen  im  ersten  Angriff  repousirt.  Die  auff  die  Infanterie  sollten 
treffen,"  für  welcher  Gen.  Sparr,  BUlaw  und  der  Gen.  Major  Graff  Waldeck  wa- 
ren, wurden  durch  nnsre  Canon en  und  Husquelen  dermassen  empfangen,  das 
sie  auch  das  Hasenpanier  auff  wUrffen.  Die  Tartarn,  so  uns  umbringen  wollen 
und  schon  an  unsrer  Bagage  waren,  wurden  gleichmassig  zertrennet;  endlich 

m)  Der  mdre  Druck  fall:  io  den  S  F.squ.droMii. 

i)  Echter  quamen  noch  eenige  andere  Poolsche  esquadron«  legen  oos  mel  eeo  groote 
hevicheyt.  S)  Das  Nachstehende  weicht  in  dorn  Bericht  bei  Aitxema  bedeutend  von  Hei.  111 
■b.       I)   De  Houstaren  lijnde  Poolseben  Adel  met  landen  teer  wel  gemooteerl  deden  den 

'en  aenval  op  hei  Regiment  van  Sijne  Majesteyls  Garde  le  voat  het  welcke  vier  stnckeo 

is  met  musqnet-kogels  geladen,  voor  een  borstweer  hadde,  ende  reusseerden  aenvanck- 
800  wet  ...  4)  bei  andere  gros  van  de  Tarieren,  den  Adel  ende  de  Quartianen  vte- 
ip  den  Chur-Vorat,  geasaiatert  sijude  van  den  Heer  General  Wrangel  Waldeck  ende 
enbergh.  B)  een  ander  gedeelte  van  de  Poole«  allakeerde  onder  laschen  deChor-Vor- 
cke  Infanterie  etaende  ooder  den  Heer  General  Spar  Bulau  ende  de  General  Majoor  de 
e  van  Waldeck  eode  Golts. 


127]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  471 

wie  wir  von  des  Morgens  4  Uhren  bis  den  Abend  um  9  Uhr  ohn  Unterlass  von 
den  Feinden  canonirt  auch  von  allen  Seiten  attaquiret,  hat  uns  Gott  endlich 
die  Gnade  gegeben,  das  der  Feind  das  Feld  quittiren  und  in  sein  Lager  sich  re- 
teriren  müssen. 

Wir  sein  mit  unsrer  armee1  die  Nacht  auf  der  Wahlstatt  stehen  blieben 
und  ist  von  Köngl.  Maytt.  und  Churfl.  Durchl.  beschlossen  worden  den  Feind 
bey  früher  Tages  Zeit  in  seinem  Lager  anzugreiflen.  Des  folgenden  Tags  Sonntags 
zog  sich  der  König  mit  dem  linken  Flügel  und  theils  Infanterie  an  einen  Wald, 
in  welchem  sich  der  Feind  verschantzet ,  und  lagen  ein  Regiment  zu  Fuss,  et- 
liche 100  Dragoner,  noch  einige  Reuterey  darin,  auch  stund  des  Feindes  meiste 
Gavallerry  und  6  Regimenter  Infantery  hinter  dem  Wald  auff  einen  Berg,  auff 
welchem  sie  auch  einige  Stücke  gepflanzet  hatten,2  die  tartarn  hin  gegen  wie 
auch  einige  Pohlen  stunden  in  einem  Felde,  so  neben  dem  Walde,  in  Batallie.  Die- 
ses verursachete  das  der  König  mit  den  meisten  theil  seiner  Cavallerie  und  In- 
fanterie neben  einigen  kleinen  Stücken  auff  die  Tartarn  lossgangen,  indessen  Hess 
Gen.  Sparr  mit  denen  schwedischen  und  unsern  Stücken  mit  grosser  Furie  in 
den  Wald  spielen.  Der  Feind  schoss  mit  Stücken  und  Musqueten  hinwieder 
tapffer  herauss.  Dieses  wehrete  bey  einer  Stunde,  biss  endlich  Gen.  Sparr  den 
Major  G raffen  Waldeck  beordert  den  Oberst  Syburg  neben  500  Gommandirten 
in  den  Wald  zu  schicken8  umb  den  Feind  zu  attaquiren,  sobald t  solcher  im 
Walde  war  ward  gedachter  Herr  Gen.  Major  vom  Herrn  General  commandiret 
an  den  Ort  des  Waldes  mit  einer  Esquadron  anzufallen,  wo  der  Feind  zwey 
Stücke  stehen  hatte  welches  er  auch  gethan ,  und  obschon  der  Feind  zwey 
starcke  Salven  auff  ihn  that,  ward  doch  nur  ein  Mann  verwundet  und  quietie- 
ret  der  Feind  kurtz  her  nach  seinen  Vortheil ;  die  Reuterey  so  wir  antraffen  und 
chargirend  nahm  auch  die  Flucht.  Wir  verfolgten  sie  biss  auff  den  Berg  auf 
welchen  der  Herr  Gen.  Major  Graff  v.  Waldeck  2000  zu  Fuss  neben  einiger  Ca- 
vallerie und  Stücken  fand,  wovon  derselbe  den  Herrn  General  averliret,  welcher 
sobaldt  mit  ettlichen  esquadronen  zu  Fuss  und  ettlichen  stücken  zu  ihm  kam 
und  den  Feind  sobaldt  in  die  Flucht  brachte,  auch  sie  hernach  nur  mit  500 
commandirten  und  200  Reulern  biss  in  die  Schantze  vor  Warschaw  verfolget, 
selbige  Schantze  auch  einnahm  und  wenn  er  mehr  Volck  gehabt  hatte,  mit  ihnen 
in  Warschaw  gegangen  wären.  Wie  wir  uns  aber  mit  so  wenig  Volck  nicht  auff 
die  Brücke  wagen  durfften,  steckte  der  Feind  die  Brücke  an.  Wie  es  eigentlich 
bey  Sr.  Churfl.  Durchl.  und  den  König  zugegangen  davon  weiss  ich  kein  Par- 
ticularien  wie  das  sie  den  Feind  auch  an  allen  Orten  geschlagen.  Heute  morgen 
hat  sich  Warschaw  an  uns  ergeben.  Der  König  und  die  Königin  sind  entwichen. 
Hat  also  Gott  durch  uns  weinige  Leuthe,  die  schon  drey  Tage  Hunger  gelitten, 
einen  frischen  mächtigen  und  hochmüthigen  Feind  zerstrewet. 

4)  Aach  in  diesem  Theil  weicht  der  Berieht  bei  Aitzema  sachlich  vielfach  ab;  er  be- 
richtet auch  die  Vorgänge  auf  dem  rechten  und  linken  Flügel ;  in  den  Angaben  über  das 
Gefecht  im  Centrum  stimmt  er  mit  dieser  Relation  wesentlich  überein,  ist  aber  weniger  ge- 
nau. 8)  Achter  het  woudt  op  een  gheberghte  in  eenigeForten  die  met  canon  seer  weel  ver- 
slen  waren.  8)  de  Colone!  Sybergh  met  vief  hondert  gecommandeerde  Soldaten  recht  toc 
in  het  woudt  te  laten  gaen. 


472  Joh.  Gust.  Droysen,  [128 


Beilage  4. 
Relation  IV. 

Anno  1656.  32 te  Woche.  No.  \. 

B.   Einkommende  Ordinär-  und  Postzeitungen. 

Extra  et-  Schreibeos  aus  der  Vorstadt  Warschau,  vom  31 .  Julii. 

In  höchster  Eyl  berichte  hiermit,  dass  wir,  Gott  lob  und  danck,  den  Feind 
geschlagen,  das  Feld  behalten ,  und  annoch  heute  die  Stadt  Warschau  bezieben 
werden :  Das  Treffen  hat  gewähret  zwey  vollkommene  Tage :  Von  Anfang  bis 
zum  Ende  hat  es  sich  folgender  gestalt  begeben  :  Am  28.  dieses  umb  9  Vhr  ge- 
gen Abend  geriethen  die  Parteyen  und  Regimenter  aneinander,  und  währete  das 
Gefechte  bis  ungefähr  umb  Mitternacht,  es  kam  aber  dennoch  zu  keiner  Haupt- 
Action,  ausser  dem,  dass  mit  den  Stücken  sehr  au  ff  uns  gespielet  ward.  Folgenden 
Tages,  den  29.  Julii,  gieng  das  Treffen  des  Morgens  umb  3  Vhr  mit  allem  Ernst 
wieder  an,  und  ward  damit  bis  in  Mitlernacht  continuiret.  Vor  Mitlage  zwar 
Hess  es  sich  aujf  unser  Seiten  sehr  zweiffelhafftig  ansehen ,  und  meyneten  die 
Polen  gantz  gewiss,  sie  würden  unsere  Meister  werden,  weil  sie  von  drey  erha- 
benen Orten  auff  uns  cononiren  kunten ,  da  wir  hergegen  in  der  Niedrigung, 
aus  welchen  wir  ihnen  weil  sie  hinter  dem  Retrenchement  hielten,  wenig  Scha- 
den thun  kunten ,  stunden :  Vber  das ,  waren  die  Polen  fünffmal  so  starck ,  als 
wir,  und  fielen  uns  bald  von  hinten  bald  von  forne  an.  Nachmittage  hergegen 
gewonnen  wir  ihnen  eine  Advantage  ab ,  nemlich  einen  Pass ,  durch  welchen 
wir  mit  der  gantzen  Armee  filireten.  Als  die  Polen  solches  vermerketen,  ver- 
liessen  sie  ihre  Retrenchement  von  forne,  und  stellelen  ihr  Geschütz  von  hinten 
reeta  auff  uns  an,  und  giengen  darauff  mit  ihrer  gantzen  Armee  ins  offene  Feld : 
Gewiss  ist  es,  dass  es  damals  mit  uns  etwas  hart  hielte ,  angesehen  auff  unser 
Seiten  so  wol  als  hinter  uns,  nichts  anders  als  lauter  Morast  und  gantz  keine 
Retraite  war;  muste  also  ehrlich  gefochlen  seyn,  wer  nicht  schändlich  sterben 
wolte.  Vnd  in  Warheit,  es  bezeigeten  unsere  Soldaten,  vom  grossesten  bis  zum 
kleinesten,  hierin  eine  so  treffliche  Courage,  dass  sie  das  Gefecht  mit  allen  Freu- 
den angiengen,  unangesehen  der  überaus  grossen  Menge,  mit  welcher  sie  an- 
gehen solten.  Dieses  muss  ich  bekennen,  die  Polen  thäten  einen  so  stareken 
und  furiosen  Angriff,  dass  sie  zugleich  auf  alle  unsere  Regimenter  ansetzten. 
Als  es  aber  zum  General-Treffen  kam,  welches  sich  ungefehr  umb  3  Vhr  Nach- 
mittage anfieng,  hat  der  höchste  Gott  verliehen,  dass  wir  nach  fünffslündigem 
Gefecht  das  Feld  behalten ,  und  die  Polen  wieder  in  ihre  Retrenchement  getrie- 
ben ,  wegen  einfallender  Nacht  aber  sie  weiter  nicht  verfolgen  können.  Am 
30  Julii  griffen  wir  die  Polen  in  ihren  Retrenchementen  abermal  mit  gantzer 
Macht  und  solcher  Courage  an ,  dass  wir  sie  innerhalb  5  Stunden  nicht  allein 
daraus,  sondern  auch  aus  dem  gantzen  Felde  geschlagen,  und  also  rühmlich 
eine  vollkommene  Victori  erhalten  haben.    Wir  haben  gewisslich  Vrsach  dem 


<29]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  473 

höchsten  Gott  zu  dancken  für  die  grosse  Gnade  die  er  uns  erwiesen ,  indem  Er 
uns  den  Sieg  verliehen  hat,  wieder  so  einen  mächtigen  Feind  in  der  Anzahl,  mit 
so  wenigem  Verlust,  dann  auf  unserer  Seiten  in  allem  nicht  Über  300  todt,  und 
selbige  mebrentheils  unter  dem  GestUck  geblieben  sein.  Den  Verlust  auf  Polni- 
scher Seiten ,  kann  man  nicht  eigendlich  wissen ,  dennoch  halt  man  dafür,  dass 
derselbe  auff  4000  und  darunter  viel  vornehme  Herren  seyn  sollen.  Von  den 
Schwedischen  ist  nur  ein  Obrister,  genannt  Senckeler,  geblieben,  von  den  un- 
srigen  aber  keine  Person  von  Qualität,  ausgenommen,  dass  Herr  General 
Major  Kannenberg  von  einer  Stück  kugel  am  dicken  Fleisch  aber  doch  nicht  tödt- 
lich  verwundet  ist.  Sr.  Ex  cell,  dem  Herrn  Gräften  von  Waldeck  ward  ein  Pferd 
unter  dem  Leibe  erschossen,  die  übrigen  von  den  300  Todten  sind  mehrentheils 
nur  gemeine  Knechte  gewesen.  Se.  Königl.  Majest.  von  Schweden,  so  wol  als 
Se.  Churfürsll.  Durchl.  fochten  beyde  in  eigener  hohen  Person  selbst  und  mit 
so  trefflicher  Hertzhafftigkeit,  dass  es  zu  verwundern.  Ich  habe  es  gesehen,  dass 
Se.  Königl.  Majest.  unter  den  Tartern  schon  vermischet  war,  so  stunden  auch 
Seine  Churfürstl.  Durchl.  einmal  sehr  gefährlich  darunter,  dennoch  hat  man  den 
Allerhöchsten  zu  preisen,  und  muss  dieses  sagen:  dass  Gott  diese  beyde  Poten- 
taten mit  Seiner  Hand  beschützet  hat.  In  Summa ,  die  Schlacht  ist  gewonnen, 
der  Feind  aus  dem  Felde  geschlagen,  und  eine  gantz  herrliche  Victoria  erhalten 
worden. 

Der  König  Casimir  ist  mit  der  Königin  und  den  fümembsten  selb  sechste 
durchgangen,  wohin?  ist  unwissend,  und  haben  so  wol  die  Bürger  als  Soldaten 
die  Stadt  verlassen.  Vnsere  Völcker  sind  in  voller  Arbeit,  die  Brücke,  so  die 
flüchtige  Polen  hinter  sich  abbrannten ,  zu  repariren ,  und  hoffen  wir  noch  die- 
sen Abend  darüber  in  die  Stadt  zu  geben :  Der  höchste  Gott  wolle  ferner  Glück 
und  Gnade  verleihen  zu  einer  gewündschten  Beruhigung  Sr.  Churfl.  Durchl. 
Land  und  Leute  1 


Abhandl.  d.  K.  8.  Get.  d.  Witt.    X.  83 


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<-.;.--  »s-i-n:-**  .  -..:  yi  ^»ri^i-tsi  i"0*n  lir.bi  i:e  7  .«r*n  n  die  Facht  ee- 
.  "«,■  •  % --vr  i*-n  i*;:  t  ♦*  Tir.  ;oj: -i*a  :•>■*  n  i>  ",^',nU  "Vir^-haw  avanciret. 
\*  i.w  *  -.  t  *»  /  .••*»•.  ..;.•»  T«:r.rf-.'<fc»  ::>■?♦?•'-  w  *V-..:n.-r»*i  -•»■•mähki.  die  allda  ver— 
*.  .«•  •  ,  s..n  .r-  ,.^..%^  %*  #f*ii»r  5t»**i»  n  it»*i  3i— iT-i  i^:-**^**.  in»:  liso  auch  War— 
a-  -.<•»  «  >♦.-•:  ,.*  _•.-••  n  mz,\  i.e%»  5*  :r.«:e  -  n  :»*r  j.ir-te  %»*ser«:»»t  ward„  verfas- 
:..-  -  .»  &  ..^n  .i«<r*>n  T-*.*Mn  t«*v  üra  i*.ui»  .  Ii-r»  ^Jjjl£  and  Bagage  haben 
*•■«•-.  %  «t  rr.  **  »n  i*".r*«wn.  wn»  ?  e*e  z.^\.  .^cea  t  *;*:»  man  unendlich  nicht, 
'  »•  '  .••;  -.,f*.*n  .-.•;»  *'  ^ä*  aira  ziJ:  ~i  ich'.  E^rr  }en.  M«i  «-r  Kannenberg  ist 
<  .«  .  n  ?:  -  *r\-.»  .  >r  Be.ne  am  .i..:s.-*n.  FV^rä  .a^t-aiFet.  aber  doch  nicht 
" .  .  .  -,*r  ^;.*»-w  ^»*r».:k.t*r  ist  anvr  irra  >-h'v*,f^!i  »ach  w«:»  geblieben,  und 
. '  •  "■  Irr**«**;  >:c,  3L4»ck  §«».a  Ff^ri  iz**rm  Ljh"  ■jrscßorjsen  worden.  Son— 
«'  '.  •  ■  *r.  *',vh:..!.;>f  IrAitr  K.rrer  er:  •*«•  :«*ü  T'dten  befanden  worden, 
-jr  *  •»'»^/»n  *tr.r/*r.::*!>»r  W.inö«n  l.  l;  r-»i.nt  tu  ^rkifcnen  L?t.  es  wird  aber 

v  ■  -,.  v  \?v  d^*n  C^for.2^ne-ii  *th*2**azI  -ili  as:h  ^:c  iz-ie--en  deren  des  Litlawi- 
v.**.  -  riätzm+ivm  Flerrn  Goc«ewik.v  Fjr^:c  l-ekanr.:  ist.  an  den  Zähnen  ob- 
t*-  ;.-*• .  #1»^  ^  l*rnrA fiter  Herr  SchaUinets;er  seL 


134}  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  475 


Beilage  6. 
Relation   VI. 

No.  32.  Anno  1656. 
ParticalarzeituDg. 

Aus  Zakoczym  vom  4 .  Augusti. 

Es  wird  demselben  ohne  dass  kund  seyn,  Wie  die  Kö.  Schwed.  und  Chur- 
Br.  Armeen  dieser  gegen t  ein  Zeitlang  gestanden,  und  an  den  Brücken  über  den 
Bug  unfern  dieser  Stadt  eifferichst  gebavvet ,  es  ist  aber  gleich wol  nicht  anders 
als  zu  lauter  Frieden,  darzu  diese  beyden  Potentaten  geneigt,  die  Hoffnung  ge- 
wesen, allein  durch  die  jetzt  erschollene  Zeitung,  als  wolten  die  unsrigen  von 
keinem  Frieden  hören,  sich  auff  die  Fleischliche  Macht  der  angekommenen 
40000  Tartarn  verlassend ,  und  daneben  ausstrewend,  ob  stünde  es  bey  ihnen, 
den  Frieden  zu  geben,  aber  diese  beyde  conjungirte  Armeen,  auch  andere  Alliirte 
ihres  Gefallens  gäntzlich  zu  ruiniren  undauffzuheben,  haben  sie  beyde  hohe  Poten- 
taten ,  welche  wie  wir  selbst  bekennen  müssen ,  zur  vergiessung  unschuldigen 
Bluts,  keine  Begierde  gehabt,  dahin  gebracht,  dass,  wie  die  Brücke  fertig  gewor- 
den, am  vergangenen  Donnerstage,  als  am  27.  Julii  gegen  Abend,  Se.  Ghurf.  Durchl. 
die  gantze  Artollerie,  nachmahlen  die  Infanterie  in  aller  stille,  und  gegen  den 
Morgen  die  Gavallerie  herüber  bringen  lassen,  also  dass  am  Freylag  gegen  Mittag 
alles  über  gewesen  die  Bagage  ausser  2  Kaleschen  die  Sr.  Ghurf.  Durchl.  und 
eine  Sr.  Grafl.  Excel I.  von,  Waldeck  mitgenommen.  Die  Völcker  gingen  so  freudig 
über  dass  zu  verwundern  war.  Se.  Koni  gl.  Maytt.  in  Pohlen  unser  gnädstr. 
Flerr,  welcher  nebest  dero  Gemahlin  zu  Warschaw  war,  versah  sich  dessen 
nicht,  sondern  wahren  in  Freuden  über  die  Ankunft  obgedachter  40000  Tartarn 
in  dero  Lager  hinter  Warschaw.  Und  halten  wir  ein  Mitleiden,  dass  diese 
Schwed-  und  Brandenburgische  Armee ,  die  den  unserigen  an  stärckte  unver- 
gleichlich, gleichsam  auf  die  Schlachtbäncke  geführet  werden  müste;  müssen 
aber  bekennen,  dass  es  nicht  an  dem  grossen  Hauffen,  sondern  vornehmlich 
Göttlichem  Beystande  gelegen ,  denn  in  unsers  Königes  Lager  hinter  Warschaw 
wahren  60000  Mann  von  der  Pospolite  Ruszenie,  zu  Praag  gegen  Warschaw 
über  waren  20000  Mann  Litta  wische  Völcker,  die  Quartianer  und  Husaren  waren 
auch  20  tausent,  und  der  Tartarn  40000  (zusammen  4  00-  und  40  tausent) 
Mann,  auff  diese  letzte  drey  Armeen  gingen  die  Gonjungirte  loss,  denselben 
Freytag  und  Sonnabend  haben  wir  zwar  nichts  gewisses ,  wie  es  abgelauffen, 
am  Sonntag  frühe  umb  4  biss  40  Uhr,  hörele  man  unauffhörlich  Ganoniren,  ge- 
stern aber  erhielten  wir  die  allzu  gewisse  Nachricht,  dass  obwol  unsere  Husaren 
und  Tartarn  gegen  die  Brandenburgischen  3  Tage  lang  gefochten,  ihnen  dennoch 
durch  unaufhörliches  schiessen  und  Fewereinwerffen ,  welches  die  unsrigen 
zu  erdulden  nicht  gewöhnet,  zween  starcke  Schantzen    mit  stürm  abgenom- 

82* 


476  Jon.  Güst.  Droysen,  *32] 

men,  etliche  tausent  Mann  erleget  und  die  andern  gantz  aus  dem  Felde  geschla- 
gen ,  mit  Hinterlassung  alles  Geschützes  und  so  viel  tausent  Bagage  Wägen. 
Kön.  Maytt.  zu  Schweden  haben  mit  der  Cavallerie  unsern  Flüchtigen  nachge- 
setzt, unser  in  Praag  gelegene  Völcker  haben,  so  viel  als  gekönt,  sich  theils  über 
die  Brücke,  theils  mit  schwimmen  durch  die  Weichsel,  auf  Warschaw  reteriret, 
und  die  Brücke  hinter  sich  angezündet ,  von  dannen  seind  sie  mit  dem  König 
und  Königin  weiter,  wie  man  saget,  auf  Sandomirss  gangen,  hinterlassendt,  den 
daselbst  angehaltenen  und  krankliegenden  Grafen  Ochsenstirn.  Die  Ghurf. 
Völcker  haben  sich  in  Weichsel-Kähnen  und  Skuten  nach  der  Stadt  übersetzen 
lassen,  woselbst  sie  zwar  die  Stadt  geschlossen,  und  alle  Pasteyen  mit  Stück, 
aber  mit  keinem  Volck  besetzt,  gefunden,  dannenhero  auch  der  Bäht  und  die 
Bürger,  umb  sich  vor  der  gäntzlichen  Ruin  zu  erhalten,  die  Schlüssel  der  Stadt 
den  Churfl.  übergeben  und  dero  Besatzung  eingenommen.  Die  Tartarn  sollen 
ihren  Weg  wieder  au  ff  Lublin  genommen  haben,  und  ist  zu  besorgen,  Sie  sich 
auf?  viel  Meilen  aussbreiten,  und  was  sie  antreffen,  zur  Beute  in  die  Schlaverey 
mitnehmen  werden. 


*33]  Die  Schlacht  von  Warschau.   1656.  477 


Beilage  7. 

Relation   VI. 

Schreiben  des  Geheimen  Rathes  v.  Plathen  an  des  Statthalters  Grafen 
Wittgenstein  Excellenz.  In  dem  Lager  vor  Warschau  24/34.  Juli  4656. 

Ew.  hochgr&flichen  Excellenz  habe  ich  mit  diesem  wenigen  die  glückliche 
Victoria,  so  wir  wider  die  Pohlen  gehabt  berichten  wollen ,  sintemahl  nachdem 
die  Gonjunction  den  verschienenen  Donnerstag  bei  Sacrozin  geschehen,  man  so- 
fort folgenden  Tages  aufgebrochen  und  auf  die  Polen  nach  Warschau  avancirt, 
so  man  auf  der  Seite  nach  Preussen  in  einem  vortheilhafftigen  Ort  aufm  Sand- 
berg stehend  gefunden.  Des  Abends  da  wir  angekommen,  hat  es  zwar  noch 
einige  Scharmützel  gegeben,  aber  die  Nacht  fiel  bald  ein.  Des  andern  Morgens 
am  Sonnabend  stellten  wir  uns  mit  dem  Tage  in  bataille  und  ging  das  canoniren 
bald  an.  Die  Polen  hatten  ihre  Stücke  auf  dem  Sandberge  und  vermeinten  da- 
durch grossen  Schaden  zu  thun.  Die  Tartarn  so  in  4000  stark  bei  ihnen  waren, 
suchten  öfters  von  hinten  einzufallen ,  so  ihnen  aber  nicht  glücken  wollte.  Die 
Husaren  hielten  sich  tapfer  und  setzten  wohl  an  aber  mussten  doch  damit  wei- 
chen. Die  Polen  aber  wollten  sich  völlig  aus  ihrem  Vorlheil  nicht  geben  und 
ging  also  dieser  Tag  wieder  weg,  das  kein  Theil  recht  weichen  wollte.  Sonntag 
frühe  ward  unsres  Theils  resolviret  sie  in  ihrem  Vortheil  anzugreifen  so  auch 
glücklich  angangen.  Indem  sich  unser  Feldzeugmeister  eines  angelegenen  Wal- 
des darinnen  das  polnische  Fussvolck  gestanden,  bemächtiget.  Darauf  die  Polen 
theils  zur  Rechten  theils  zur  Lincken  theils  über  die  Brücke  die  Flucht  genom- 
men und  uns  das  Feld  geräumet  hinterlassend  ihre  Stücke  und  Bagage.  Das 
Fussvolck  hat  sich  über  die  Brücke  nach  Warschau  retiriret.  Der  König  in  Poh- 
len hat  aber  unser  daselbst  nicht  abwarten  wollen,  sondern  ist  die  Nacht  mit 
dem  Fussvolk  davon  gangen  und  wie  man  sagt  den  March  wieder  auf  Schlesien 
genommen  und  haben  wir  heute  morgen  Warschau  ledig  gefunden  und  darauf 
einzige  Yölcker  mit  Schiffen  überfuhrt  weil  die  Schiffbrücke  zum  Theil  abge- 
brannt und  die  Stadt  wieder  besetzen  lassen. 

P.  S.  Die  Canonaden  haben  das  beste  gethan.  Auf  unsrer  Seite  seind  über 
300  oder  400  Mann. nicht  blieben,   von  polnischer  Seite  hat  man  noch  keine 
Nachricht,  von  S.  Churfl.  Durchl.  ist  an  hohen  Officieren  niemandt  blieben  auch" 
nicht  gequetschet  ausser  der  Gen.  Wachtmeister  Kanneberger,  so  an  beiden 
Beinen  ziemlich  gefährlich  mit  einer  StUckkugel  soll  getroffen  sein. 


478  Joh.  Gust.  Droyskh,  [134 


Beilage  8« 

Concept  für  die  in  der  Handschrift  der  Berliner  Bibliothek  No.  50. 

Fol.  aufgenommene  Darstellung.  * 

p.p.  als  perduellem  tractirte  und  ausschriebe. 

Der  polnische  General  Zamecki  bekam  gar  darauf  [Ordre]  unter  des  Königs 
Hand  Ordre  welche  in  S.  Ch.  Durch!.  Hände  geriethe  höchstgedachte  S.  Churf. 
Durch I.  und  dero  lande  mit  fewer  und  schwerth  anzugreiffen  damit  dan  auch  ein 
anfang  in  Pommern  [und]  wie  auch  in  der  Newmarck  nachmahl  gleichfalls  in  dem 

•      •  •      • 

HerzogthumPreussen  wohin  die  Tarlaren  [selbst]  von  ihnen  [hinein]  geführet  wor- 
den gemachet  und  alle  crudeliläten  exerciret  [wurde]  auch  von  letzten  viele  Aecker 

■      ••••••  •      •      • 

leute  gefesselt  in  die  Dienstbarkeit  weggefuhret  wurden.  Was  konnte  S.  Churfl. 
Durchl.  nun  anders  thun  alss  umb  sich  und  Dero  von  Gott  anvertraute  lande 
wie  auch  mithin  das  Rom.  Reich  von  Gefahr  und  desolation  zu  befreyen,  dieje- 
nigen Mittel  die  dazu  übrig  zur  Hand  zu  nehmen,  und  der  Königl.  Maj.  zu 
Schweden  wie  zu  Marienburg  und  Labiau  geschähe  sich  naher  zu  setzen  die 
Waffen  darauff  wirklich  zu  conjugiren  und  mittelst  derselben  sonderlich  aber 
durch  des  Allerhöchsten  Reistand  dahin  zu  trachten  wie  ein  beständiger  repu- 
tirlicher  Friede  wieder  herbeygebracht  werden  mochte. 

S.  Churf.  Durchl.  brachen  dan  auch  aus  Königsberg  den  A^~rv  auf,  kamen 
bey  Dero  Armee  welche  vorangegangen  wahr,  diesseit  Schrinck  den  4ten  Juli 
und  conjungirten  sich  ferner  mit  der  Königl.  Schwedischen  den  47ten  ejusd.  ge- 
gen Abend  bei  Sacrozin  und  wurde  von  beyden  Seiten  darauff  resolvirt  den 
Abend  und  die  gantze  Nacht  auch  den  folgenden  48/28.  Juli  die  Armee  über  den 
Fluss  den  Rugh  genannt  bei  Nowodwor  filiren  und  auf  das  Städtlein  Präge  so 
an  der  Weichssel  gleich  gegen  die  Königl.  Polnische  Residenz  Warschau  [über] 
lieget  gehen  zu  lassen ,  in  der  intention  [zu  trachten]  sich  zu  bemühen  ob  der 
ohnweit  daselbst  stehenden  lithauischen  Armee  eins  beygebracht  oder  da  [sol- 
ches nicht  möglich  und]  dieselbe  sich  retiriren  [dorffle]  sollte,  ob  die  Brücke  bei 
Warschau  ruinirt  und  wan  man  Über  den  Bugh  zurückgegangen  ob  man  bei 
Sacrozin  über  die  Weichsselbrücke  komen  und  dann  füglich  mit  dem  Feinde 
anbinden  könte.  [Es  hatte  aber  eben  solchen  4  S/28.  Juli  derselbe]  Das  Feldzei- 
chen wurde  gegeben  Stroh  auff  dem  Huth  und  zum  Worthe  Gott  mit  uns  und 
avancirte  man  dergestalt  längst  der  Weichssel  auf  den  Feind,  das  Ih.  K.  Maj.  zu 
Schweden  den  rechten  Ihr.  Churf.  Durchl.  aber  und  Dero  Generalität  das  corps  * 
de  bataille  und  den  linken  Flügel  commandirte :  Des  Feindes  Yortruppen  prae- 
sentirten  sich  für  denselben  zwischen  dem  Wald  und  der  Weichssel  welche 
[biss]  so  bald  [durch  die  Schweden]  biss  an  Dero  retranchement  poussirt  wur- 


\)  Die  in  [  ]  gesetzten  Stellen  sind  im  Concept  ausgestrichen,  die  mit  untergesetzten 
Punkten  bezeichneten  zwischen  die  Zeilen  geschrieben. 


435]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  479 

den.  Folgenden  Tages  sehr  frühe  recognoscirte  Ihr.  K.  Maj.  und  S.  Churf. 
Durchl.  das  Lager  und  befunden  dasselbe  dergestalt  beschaffen ,  dass  der  Feind 
darinne  nicht  anzugreiffen  stunde  und  [funden]  hingegen  wol  zu  sein  wen  man 
denselben  zur  linken  [Hand  angriffe  und]  Hand  [ankähme]  suchte  anzukommen 
zu  dem  Ende  auch  eine  kleine  colline  [welche]  nächst  dem  Walde  [gelegen]  sich 
zu  bemächtigen,  welches  S.  Churf.  Durchl.  mit  einer  ungemeinen  intrepidät  zu 
Werk  so  alsbald  richteten  nnd  die  darauff  stehenden  Polen  nicht  allein  herunter 

jageten,  sondern  als  der  Feind  darauff  seine  force  zur  rechten  Hand  zöge  und  in 
die  Churf.  Flanque  [zu]  gehen  wollte,  denselben  zurück  trieben.  Die  allyrte 
bataille  wurde  darauf  geändert  und  ging  Ihre  K.  Maj.  mit  Dero  Infanterie  und 
Cavallerie  hinten  umb  den  Churf.  Flügel  durch  den  Wald  und  postirlen  sich 
gleichfalls  auff  das  flache  Feld,  die  lincke  Hand  und  den  lincken  Flügel  nunmehr 
führend,  welches  als  es  die  polnische  Armee  vermerckete  aus  den  retranche- 
ments  gingen  und  in  guter  Ordnung  auf  die  Allyrten  advancirten,  darüber  man 
ins  Gefecht  geriethe  und  obwol  von  den  Husaren  und  Reuterey  mit  erschreck- 
lichem Geschrey  ein  furioser  Anfall  geschähe,  die  Tartarn  auch  entzwischeu 
wiewohl  aber  vergebens  sucheten  den  Allyrten  in  den  Rücken    [inzwischen] 

zu  gehen,  wurden  selbte  doch  zurück  getrieben  das  sie  in  einer  ziemlich  confu- 
sen  retirade  ihr  Heil  suchen  mussten. 

Man  postirtesich  darauff  gegen  die  Nacht  kurtz  vor  dem  feindlichen  Lager 
und  als  der  Sontag  angebrochen  beschlösse  man  den  Feind  aus  einem  ihm  zur 
rechten  Hand  gelegenen  sehr  vorteilhaften  Walde  zu  bringen  und  wurde  die 
Verrichtung  dessen  dem  Churf.  Brandenburgschen  Gen.  Feld  Zeugmeister  Sparr 
aufgetragen,  welcher  vorher  hefftig  in  den  Wald  canonirte  darauf  mit  der  Ghurfl. 
Infanterie   und   5   esquadrons   Reuther  hineindrängte    [welchem]    und   dahin 

•      •      •      •     •      • 

S.  Churf.  Durchl.  in  eigner  Person  mit  6  andern  esquadronen  [demselben]  zur 
rechten  Seithe  [sobald]  folgete  und  vigoureusement  die  darauf  befindliche  pol- 
nische  Reuterei  herunter  jagete.  [Der  feindliche].  Sr.  Churf.  Durchl.  waren 
Willens  hierauff  in  die  feindliche  Infanterie  als  welche  ihre  Stücke  bereits  ver- 
lassen und  sich  zurückgezogen  zu  dringen,  Ihre  K.  Maj.  Herr  Bruder  aber  diver- 
lirte  sie  davon  und  [bekamen]  erlangten  jene  seihten  also  [dieselben  dergestalt] 

Zeit  sich  über  einen  Morast  [worinnen]  da  sie  [gleich  wol]  nicht  wohl  verfolget 
werden  kOndten  und  worinnen  viele  der  Ihrigen  nebst  den  Pferden  umbkamen 

zu  ziehen.  Als  nun  darauff  des  Feindes  linker  Flügel  durch  S.  Churf.  Durchl. 
angegriffen  und  über  hauffen  geworfeb  worden  und  wie  obgemeldt  die  feind- 

•      •      • 

liehe  Infanterie  die  Stücke  Bagage  und  das  Lager  verlassen  ,  wollte  der  feind- 

... 

liehe  rechte  Flügel  welchen  Ihr.  Maj.  in  Schweden  gegen  sich  hatte,  keine  son- 
derliche resistenz  mehr  tbun ,  retirirten  sich  gleichfalls  und  ob  man  wol  den- 
selben immer  verfolgete  flöhe  er  doch  so  starck  und  zündeten  [und  ruinirtenj 

alles  hinter  sich  an  ,  das  wegen  abgematteter  Pferde  und  da  in  dieser  dreitägi- 

gen  aelion  die  König].  Schwedischen  und  Churbrandenburgischen  Völcker  bey 
einer  sehr  grossen  Hitze  fast  nichts  genossen  hatten,  [dass  endlich]  man  zurück- 
bleiben musste.     Worauff  sich  Montags   früh  die  Kttnigl.   Polnische  Residenz 


480  Joh.  Güst.  Droysbn,  [436 

Warscbaw  so  von  ^polnischer  Garnison  verlassen  worden  den  Allyrten  devote 
ergab  und  von  denselben  wieder  besetzt  wurde,  Sr.  Ghurf.  Durch!,  aber  be- 
gaben sich  höchst  vergnügtt  und  dankbahr  gegen  die  göttliche  Maylt.  dass  der- 
selbige  durch  so  wenige  Kräffte  [und]  indem  [wurde]  die  Ktfnigl.  [Polnische] 
arm£e  nur  in  9000  die  GhurfUrstliche  aber  in  8490  Mann  gestanden  und  gegen 
eine  Macht  welche  anfangs  420000  Mann  Jetzt  aber  dero  eigenem  Geständniss 
nach  84000  [Mann  stark]  Combattanten  starck  gewesen,  so  grosse  und  herrliche 
Dinge  aussrichten  wollen,  zurück  und  langeten  den  19ten  Aug.  in  Soldaw,  den 
23sten  desselben  aber  wiederumb  in  der  Residenz  zu  Königsberg  an. 
Hierauf  nunfward  Polen  des  Kriegess  et  sequentia. 


Beilage  9. 

Schreiben  des  Geheimen  Rathes  Jena  an  den  Churfürsten. 

Cöln  a/S.  1  8.  Spt.  1  672. 

Ew.  Churfl.  Durchl.  haben  mir  gnädigst  befohlen  eine  Relation  von  dem 
Treffen,  welches  nunmehro  länger  dann  vor  46  Jahren  bei  Präge  jenseits  der 
Weichsel  gehalten  worden  aufzusetzen  und  unterthänigst  einzuschicken.  Nun 
bin  ich  schuldig  zu  thun,  thue  es  auch  willig  und  gerne  was  mir  gnadigst  an- 
befohlen wird  und  von  mir  verrichtet  werden  kann.  Dieweilen  aber  zu  einer 
dergleichen  Erzählung  erfordert  wird,  das  derjenige,  welcher  sie  aufsetzen  soll 
eigentlich  und  punctuell  wisse  wie  und  wo  die  Regimenter  Brigaden  Esquadro- 
nen  und  Stücke  gestanden ,  wie  sie  getroffen  und  mit  was  für  Effect  absonder- 
lich was  Ew.  Churf.  Armee  und  Stücke  ausgerichtet,  was  Vormittage  was  nach- 
mittage  geschehen  und  ich  von  diesem  allen  weder  Wissenschaft  habe  noch 
auch  das  allergeringste  hievon  im  Archivo  zu  finden  Uberdem  welcher  solchen 
Aufsatz  macht  die  Kriegsactionen  und  die  rechten  terminos  wissen  muss  woran 
es  mir  wie  bekannt  ermangelt,  so  werden  Ew.  Churfl.  Durchl.  wohl  von  selbst 
gnädigst  ermessen,  das  es  mir  unmöglich  fällt  einen  Bericht  wie  denselben  Ew. 
Ghurf.  Durchl.  begehren,  zu  verfertigen.  Es  hat  mir  aber  Ew.  Ghurf.  Durchl. 
Secretarius  Hartmann  beikommende  gedruckte  relation  zugestellet,  welche  zwar 
wegen  des  Marsches  und  der  communication  beider  Armeen  und  was  etwa  den 
Freitag  dabei,  ehe  die  Kanonen  durch  den  Bruch  kamen,  fürging,  meines  Erach- 
tens  nach  wohl  recht  eingerichtet.  Ob  aber  dieselbige  dasjenige,  was  hernachmals 
noch  des  Freitags  Abends  und  hernach  bis  auf  den  Sonntag,  da  die  Bataglie  ein 
Ende  hatte  vorgelauffen  und  sich  in  den  Acten  selbst  begeben,  eigentlich  an  sich 
habe  und  von  Ew.  Churf.  Durch,  und  derselbigen  Armee  dasjenige  setzen  was  zu 
setzen,  daran  muss  ich  fast  zweifeln.  Denn  als  Ew.  Ghurf.  Durch,  den  Sontag1  die 
Polen  von  dem  Hügel  jageten,  da  habe  ich  weil  ich  dabey  war  gesehen,  dass  Ew. 
Ghurf.  Durch,  auch  Stücke  bekamen,  davon  stehet  in  der  relation  nicht.    Ferner 


4)  Schreibfehler  statt  Sonnabend. 


437]  Dm  Schlacht  von  Warschau.  1656.  481 

wird  gesagt  Ew.  Churf.  Durchl.  hätten  mit  dem  Pussvolk  accordiren  wollen,  dassel- 
bige  aber  wäre  unter  dem  Accord  über  die  Brücke  gegangen ;  ich  habe  aber  dazu- 
mal gehört,  was  zwischen  Ew.  Churf.  Durch,  und  des  Königs  Bruder  geredet  ward 
und  dass,  wenn  es  von  diesem  nicht  divertiret,  die  Fussvölcker  wohl  Ew.  Churf. 
Durch,  gewesen  und  nicht  über  die  Brücke  gehen  können.  Dann  so  habe  ich 
den  Sonnabend  gesehen,  das  als  die  Hussaren  auf  das  anhaltische  Regiment 
treffen  wollen,  zuvorhero  von  Ew.  Churf.  Durch.  Guarde  zu  Fuss  mit  einer 
stattlichen  Musquetade  empfangen  worden ,  davon  schweigt  die  Relation  auch. 
So  wird  auch  nicht  gemeldet,  dass  als  am  Sonnabend  nach  mittag  die  Bataglie 
zu  endern,  das  dieselbige  enderung  mit  grosser  Conduite  von  dem  Herrn  Feld- 
marschall Sparren  sei.  dergestalt  gemachet,  das  ich  selbst  von  theils  hoben 
schwedischen  Befehl  ig  thabern  mit  dem  grössten  Ruhm  davon  sprechen  hören. 
Und  da  Herr  Feldmarschall  Sparre  den  Sontag  das  polnische  Fussvolck  aus  dem 
Busch  jagte  da  hatte  er  nur  Ew.  Churf.  Durchl.  Fussvölker  und  that  der  dama- 
lige Obristleutnant  Moll  mit  des  Herrn  Feldmarscball  Regiment  den  ersten  An- 
griff gehrauchte  auch  nun  Ew.  Churf.  Durchl.  Stücke.  In  der  Relation  aber 
stehet  nur  in  gemein  das  es  mit  derlnfanterie  und  200  commandirten  geschehen. 
Und  was  dergleichen  mehr.  Wenn  nun  Ew.  Churf.  Durchl.  gnädigst  gefallen 
möchte  durch  einen  kriegserfahrenen  und  welcher  bei  der  Aclion  gewesen  und 
alles  was  soldatisch  verstünde,  durchsehen  und  an  allen  Orten  zurecht  einrich- 
ten liesse,  welches  doch,  wenn  die  bataglie  in  Kupfer  gebracht  werden  soll, 
ohne  dem  nöthig,  so  würde  diese  beykommende  relation  wol  zu  gebrauchen 
sein.  Es  ist  ja  gesetzet,  als  wenn  der  König  alles  gethan  gerathen  verrichtet  etc. 
Sonst,  gnädigster  Churfürst  und  Herr,  muss  ich  unterthänigst  berichten,  dass 
so  lang  ich  die  Gnade  gehabt  in  Ew.  Cburf.  Durchl.  Diensten  zu  sein,  alles 
was  Merian  in  seinem  Theatrum  Europ.  und  sonst  von  Ew.  Churf.  Durchl.  und 
Dero  acliones  drucken  lassen,  durchaus  partheyisch  und  alles  was  er  Ew.  Churf. 
Durchl.  und  deroselben  Soldatesque  beylegen  sollen,  derselbigen  entgegen  oder 
doch  alles  corrumpiret.  Womit  Ewer  Churfürstlichen  Durchmächtigkeit  in  den 
Schutz  Gottes  trewlich  empfehle  und  alle  Zeit  verbleibe 

Durchlauchtigster  Gnädigster  Churfürst  und  Herr 
Ewer  Churfürstlichen  Durchlauchtigkeit 

Cöln  an  der  Spree  untertänigster  verpflichteter 

den   48.  Sept.  4672.  trewer  Diener 

Friedrich  von  Jena. 


482  Jon.  Gust.  Dboysen,  138] 


Beilage  10. 

Verzeichniss  der  schwedischen  und  brandenburgischen  Truppen. 

I.  Die  schwedische  Armee. 

1 .  Cavallerte. 

1 .  Leibregiment  des  Königs. 

2.  Leibregiment  der  Königin. 

3.  Reg.  Upland  unter  Obrist  Plauling  2  Esc. 

4.  Reg.  Smalaod  2  Esc. 

5.  Reg.  Ostrogotben  2  Esc. 

6.  Reg.  Prior  Adolph  Johann  von  Pfalz  Zweibrücken, 

7.  Reg.  Obrist  Taube. 

8.  Reg.  Fürst  Radzivil.1 

9.  Reg.  Finnland  unter  Obrist  Fabian  Berend  2  Esc. 
10.  Reg.  Graf  Wittenberg. 

41.  Reg.  Markgraf  Carl  Magnus  von  Baden. 

42.  Reg.  Obrist  Sinclair. 

13.  Reg.  Obrist  Hammerschild. 

14.  Reg.  Obrist  Aschenberg. 

15.  Reg.  Obrist  Breitlach. 

46.  Reg.  Obrist  Freiherr  v.  Hörn. 

47.  Reg.  Graf  Königsmark  3  Esc. 

48.  Reg.  Obrist  Yxkull. 

19.  Reg.  Obrist  Rose,2  2  Esc. 

20.  Reg.  Obrist  Sadowsky  3  Esc. 
24 .  Reg.  Obrist  Bötticher. 

22.  Reg.  Obrist  Israel_Ridderhielm. 

23.  Reg.  Feldmarschall  Wrangel. 

24.  Reg.  Westrogothen8  2  Esc. 

2.  Dragoner. 

4.  Reg.  Prinz  Philipp  von  Pfalz  Sulzbach. 

3.  Infanterie. 

1.  Reg.  Südermanland. 

2.  Reg.  Westgothen. 

3.  Reg.  Smaland. 

4.  Reg.  Upland. 

5.  Reg.  Narn. 

6.  Regina.  Helsing. 


4)  Bei  Memnierftals  Dragoner  angeführt.      8)  Bei  Memmcrt  Reg.  des  Herzogs  von  Mek- 
lenburg.       8)  Bei  Memmert  Reg  Krause. 


439]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  483 

II.    Die  brandenburgische  Armee. 

4    Cavallerie. 

4 .  Reg.  Churfürsten  Leibgarde  zu  Pferde  5  Esc. ' 

2.  Reg.  Graf  Friedrich  v.  Waldeck  Generalleutnant  5  Esc.  * 

3.  Reg.  Gen. -Wachtmeister  Kanneberg  3  Esc. 

4.  Reg.  Obrist  Eilern  3  Esc. 

5.  Reg.  Obrist  Schoneich  2  Esc. 

6.  Reg.  Obrist  Leschwang. 

7.  Reg.  Herzog  v.  Weimar  2  Esc. 

8.  Reg.  Obrist  Brunei  1. 

9.  Reg.  Gen. -Major  Graf  Josias  v.  Waldeck  2  Esc. 

2.  Dragoner. 

4 .  Reg.  Generalleutnant  Graf  Friedrich  v.  Waldeck  2  Esc. 

2.  Reg.  Obrist  Canitz  2  Esc. 

3.  Reg.  Obrist  Kalkstein. 

3.  Infanterie. 

4 .  Reg.  Churfürsten  Garde  zu  Fuss. 

2.  Reg.  Gen. -Feldzeugmeister  Sparr  2  Brig. 

3.  Reg.  Gen. -Major  Goltz  2  Brig. 

4.  Reg.  Gen. -Major  Graf  Josias  v.  Waldeck  2  Brig. 

5.  Reg.  Obrist  Syburg  2  Brig. 

Ordre  de  bataille 
29sten  Juli. 
Linker  Flügel.  König  Karl  Gustav. 
Generalissimus.  Prinz  Adolph  Johann  von  Pfalz  Zweibrücken. 

Cavallerie.  Feldmarschall  Leutnant  Douglas. 

Erstes  Treffen.  Gen.-Leutnant  Pfalzgraf  Philipp  von  Sulzbacb. 

4  Esc.  Sulzbach  Dragoner. 

4  Esc.  Königs  Leibregiment. 

4  Esc.  Königin  Leibregiment. 

2  Esc.  Upland. 

2  Esc.  Smaland. 

2  Esc.  Ostrogothen. 

4  Esc.  Pfalz  Zweibrück. 

4  Esc.  Taube. 

2  Esc.  Gen.-Maj.  Graf  Josias  Waideck. 
Zweites  Treffen.  Markgraf  Carl  Magnus  von  Baden. 

4  Esc.  Fürst  Radzivil. 

2  Esc.  Berends  Finnen. 

4  Esc.  Wittenberg. 


\)  Nach  Memmert  3  Esc.      J)  Nach  Memmert  4  Esc. 


484  Joh.  Gust.  Droysen,  4 40  j 

4  Esc.  Markgraf  zu  Baden. 
4  Esc.  Sinclair. 
4  Esc.  liammerschild. 
4  Esc.  Aschenberg. 
4  Esc.  Breitlach. 
Drittes  Treffen.  Gen. -Major  Hon). 
4  Esc.  Hörn. 

3  Esc.  Graf  Königsmark. 

4  Esc.  Yxkuil. 

2  Esc.  Rose. 
4  Esc.  Sadowsky. 

'    Infanterie.  Gen. -Major  Bülow. 
4  Brigade  .... 
4  Brigade  .... 
4  Brigade  .... 
Artillerie.  Gustav  Oxenstjerna. 

Gros  de  bataille  (Centrum)  unter  Wrangel  (?). 

Erstes  Treffen.  Gen.-Feldzeugmeister  Sparr. 

1  Brig.  Goltz. 

4  Brig.  Josias  v.  Waldeck. 

\  Brig.  Sparr. 
Zweites  Treffen.  Gen.-Maj.  Graf  Josias  Waldeck. 

1  Brig.  Jos.  Waldeck. 
4  Brig.  Syburg. 

4  Brig.  Syburg. 

Rechter  Flügel.    Churfürst  Friedrich  Wilhelm. 

Feldmarschall  Wrangel. 

Cavallerie.  Gen. -Leutnant  der  Cavall.  Graf  Friedrich  v.  Waldeck. 
Erstes  Treffen.  Gen. -Major  Kannenberg. 

5  Esc.  Churfürst  Leibgarde  zu  Pferd. 
5  Esc.  Gen.-Leut.  Graf  Waldeck. 

3  Esc.  Gen.-M.  Kannenberg. 
Zweites  Treffen.  Gen. -Major  Graf  Tott. 

r 

2  Esc.  Canitz  Dragoner. 

2  Esc.  Westgothen. 

4  Esc.  Wrangel. 
4  Esc.  Israel  Ridderhielm. 

i  4  Esc.  BOtticher. 

|  2  Esc.  Fr.  Waldeck  Dragoner. 

i  Drittes  Treffen 

4  Esc.  Kalkstein  Dragoner. 

3  Esc.  Eller. 

|  2  Esc.  Herzog  v.  Weimar. 


141}  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  485 

4  Esc.  Leschwang. 
2  Esc.  Schoneich. 
4  Esc.  BrUnell. 
Infanterie  unter  Gen  .-Major  Goltz. 
4  Brig.  Leibgarde  zu  Fuss. 
4  Brig.  Span*. 
4  Brig.  Goltz. 
Artillerie.  Gen. -Feldzeugmeister  Sparr. 


Beilage  11. 
Danziger  Berichte. 

Durch  gütige  Yermittelung  des  Herrn  Professor  Hirsch  in  Danzig  bin  ich  in 
den  Stand  gesetzt  nachträglich  noch  ein  Actenstück  zur  Aufklärung  der  Schlacht 
von  Warschau  mitzutheilen.  Auf  seinen  Antrag  hat  der  Magistrat  der  Sladt 
Danzig  die  überaus  grosse  Gefälligkeit  gehabt,  mir  ein  Actenheft  aus  dem  städti- 
schen Archiv  nach  Berlin  zu  senden,  das  für  die  von  mir  behandelten  Dinge 
vielfache  Aufklärung  giebt. 

Das  Actenheft  führt  den  alten  Titel  Gregorii  Barckmanni  Secretarii  civitatis 
Residentis  in  aula  Regia  tempore  belli  Suecici.  Es  beginnt  mit  einem  Schreiben 
Barckmanns  aus  Warschau  vom  46.  Juli  4655  und  umfasst  dessen  Correspon- 
denzen  und  Zusendungen  an  die  Stadt  bis  zum  Februar  4657,  kurz  vor  dem 
Einzug  des  Königs  in  Danzig. 

Seine  Briefe  sind  um  so  lehrreicher,  da  er,  fast  unausgesetzt  in  der  Umge- 
bung des  Königs,  namentlich  seit  dem  schnöden  Abfall  des  polnischen  Adels 
das  Vertrauen  des  Königs,  das  er  als  Resident  der  treugebliebenen  Stadt  ver- 
diente, in  hohem  Maass  genoss.  Er  wohnte  häußg  den  vertraulichen  Sitzungen 
der  Räthe  des  Königs  bei  und  in  den  schlimmsten  Tagen,  denen  nach  der  War- 
schauer Niederlage,  suchte  der  König  seinen  Rath. 

Aus  den  Schreiben  Barckmanns  während  der  letzten  Wochen  vor  der 
Schlacht  ergeben  sich  manche  für  unsere  Aufgabe  wichtige  Punkte. 

Namentlich  geben  sie  ein  anschauliches  Bild  von  dem  Anschwellen  der 
polnischen  Kriegsmacht  und  von  der  in  gleichem  Maass  wachsenden  Siegesge- 
wissheit;  wiederhohlentlich  lässt  der  König  den  Danzigern  sagen,  dass  er  in 
Kurzem  kommen  und  auch  ihre  Stadt  entsetzen  werde. 

Ich  lasse  zunächst  einige  Auszüge  aus  den  Briefen  vor  der  Schlacht  folgen. 

Der  König  war  am  30.  Mai  bei  Warschau,  das  bereits  von  der  litlhauischen 
Armee  belagert  wurde,  angekommen  und  hatte  in  der  Nähe  der  Stadt  in  Jasdowa 
Residenz  genommen.  Von  dort  schreibt  Barckmann  am  6.  Juni1 

.  .  .  »Wegen  der  Tartaren  haben  wir  seit  dess  Legaten  Mehmet  Ali  Mursa, 
der  nebenst  Jan  Romasskowic  von  hiesigem  Hofe  ab  ad  Electorem  gegangen  zur 


1}  Nicht  am  46.  Juni,  wie  von  späterer  Hand  corrigirt  ist. 


486  Job.  Gust.  Dkotsbh,  4*2] 

fidelität  I.  Ch.  D.  anzumahnen,  keine  Nachricht  gehabt.  .  .  .  Ein  grosses  fewer 
liegt  noch  in  der  a sehen,  die  Schweden  kratzen  nur  nit  zu  viel,  ess  kann  ihnen 
noch  heiss  genug  dabei  werden  ....  Seren.  Elector  soll  seine  Völker  auch 
zusammengezogen  haben,  aber  verboten  nichts  feindliches  wider  Pohten  zu 
tentiren,  welches  auch  Gen.  Ranneberg  an  den  Woywood.  Ploczky  durch  ein 
eignes  Schreiben  deutlich  zu  verstehen  giebt  und  dass  er  ordre  habe  ab  Electore 
empfangen  die  Völcker  über  die  Preusche  grenze  nit  gehn  zu  lassen.  .  .  .  Zulan- 
gend unsern  Zug  unter  Warschau  sind  wir  den  30.  Mai  mehr  denn  4©0/m  Seelen 
zu  Prag  an  der  andern  Seite  gestanden  und  den  tag  hernach  ohne  einiges  Hin- 
derniss  über  die  Weissei  gegangen  und  zu  der  littawschen  Armee  die  allbereit 
12/ra  stark  in  der  dritten  Woche  die  Stadt  herumb  blocquiret  gestossen.  Von 
deutschen  zusammengebrachten  Fussvöikern  etwa  5/m  Mann  bestehet  die  Infan- 
terie, bey  denen  finden  sich  unter  ihren  Führern  und  Fahnen  unzehlige  arme 
Edelleute  mit  allerhand  Schussgewehren  mit  haken  schauflen  und  spiessen. 
Nach  ihnen  etzliche  tausend  unter  ihren  fübrern  und  fahnen  Pawern  mit  sen- 
sen.  Zu  Boss  sint  bei  zwanzigtausend  wohl  mundirte  Quarciani  und  viel  tausend 
Pospolite  Russenia,  die  sich  noch  von  tag  zu  tag  wie  die  Bienen  vermehren 
und  an  den  wassern  liegen.  In  summa  es  mangelt  nichts  nächst  der  gnade  Got- 
tes als  an  guter  resolution  und  guter  anführung. « 

44.  Juni*.  .  .  .  »die  Beylage  der  tartari sehen  sreiben  habe  auss  dem  Origi- 
nal copirt  und  ist  der  Abgesandte  «per  posto  zurückgegangen  umb  zu  avisiren 
die  grosse  macht  welche  Serenissimus  allhier  bey  einander  hat  und  effective 
Regestrowick  ludzie  zum  schlagen  70/m  gerechnet  werden.  Die  Ilolota  hat  alle- 
zeit das  Allarm  gefordert  sie  wollen  stürmen,  also  haben  Seren,  den  8ten  ihren 
willen  ihnen  gelassen,  seint  demnach  ein  paar  tausend  von  allen  seiten  angelau- 
fen mit  leitern  und  blossen  achschen  sensen  und  spiessen  u.  s.  w.«c 

45.  Juni  ....  »Unsere  armee  betreffend  ist  nach  eingekommenen  beriebt, 
das  der  feind  im  antzug,  der  littawsche  Feldherr  Saphiea  effective  42/m  Mann 
stark  und  mit  dem  königlichen  Leibregiment  Dragoner  Über  die  Weissei  dem 
feind  entgegen  gangen,  sich  mit  Czarnecki,  der  auf  30/m  M.  gerechnet  wird 
zu  conjungiren.  Der  Herr  Krön  Marschalk  ist  aber  hieher  unter  die  Stadt  gerückt 
auch  an  30/m  stark,  welche  insgesamt  towarsistwo  sind.  Die  Pospolita  Russenia 
wird  a  parte  gerechnet,  so  auch  allhier  theils  unter  Jasdowa  und  auf  der  andern 
Seite  der  Weissei  lieget,  in  die  30  tausend  bestehend.  Die  Feldherrn  haben 
dan  auch  noch  absonderlieh  ihre  Pulte ;  ein  jeder  ist  resolvirt  zu  fechten  auf 
das  euserste.  Der  Fussvölker  drey  Regimenter  liegen  umb  der  Stadt  herumb  und 
aprochiren  von  tage  zu  tage ;  sobald  als  immer  das  grobe  Geschütz  folget  wel  - 
ches  Herr  Samoisky  nachbringet  und  schon  unterwegess  ist  können  wir  wills 
Gott  mit  Warschaw  fertig  werden  ....  der  feind  lieget  bei  Pulkowka  und  hat 
wollen  über  den  Bug  gehen,  die  unserigen  haben  ihn  aber  gewehret  .  .  .  .  « 

24.  Juni ....  »man  ist  vor  zwey  drey  tagen  mit  der  hälfte  der  Armee  biss 
unter  Bialenko  und  an  den  Bug  gerückt  woselbst  bei  Nowidwor  der  feind  sich 
schon  angefangen  überzumachen  ....  nachdem  er  kundschafl  eingezogen  von 
unsrer  grossen  macht,  ihm  auch  bald  drey  fahnen  aufgeklopft  worden,  bleibt  er 


143]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  487 

stehen  und  sucht  von  der  andern  seite  Warscbaw  zu  seeuadrren  .  .  .  der  Herr 
Samoisky  komt  heut  oder  morgen  gewiss  an  mit  etzlich  tausend  M»  Infanterie 
und  etzlichen  grossen  geschtttzen.  Zur  bataille  können  wir  taglich  über  die 
80/m  auffuhren  und  die  lager  bleiben  doeh  voll  bewehrter  Manschaft .  . .  .  • 

VonjiemseLben  Tage »unsere  Armee  bestehet  unter  folgenden  Generals- 
personen. Unter  den  beyden  Cronfeldherren  20yta  towaizistwo  same.  Unter  dem 
litlawschen  Feldberrn  Saphiea  19/m  towarzistwo.  Unter  Herrn  Czernecky  tö/m 
Unter  Herrn  Cron  Marschalk  20/m.  Und  die  unzehlige  Pospolita  Ruszenia,  die 
noch  von  tag  zusammenziehen.  Diese  haben  sich  nun  vertbetlt  auf  beide  Seiten 
der  Weissei  und  sind  gut  resolvirt  zu  schlagen.  Die  deutschen  Regimenter  liegen 
umb  die  Stadt  herumb  .  .  .  .  a 

Dass  die  schwedische  Armee  nur  vier  Meilen  von  Warschau  entfernt  durch* 
aus  nichts  zu  thun  vermochte,  um  ihre  eingeschlossenen  Truppen  und  die  vielen 
hohen  Officiere,  die  sich  dort  befanden  zu  entsetzen,  wurde  polnischer  Serts  als 
ein  Zeichen  ihrer  völligen  Entmuthigung  und  Ohnmacht  angesehen.  Am  $9.  Juni 
schreibt  Barckraann,  der  König  habe  ihm  aufgetragen  dein  Hath  von  Danzig  zu 
schreiben  »dass  sobald  man  hier  mit  Warschaw  richtig  worden,  welches  den» 
nunmehr  etzliche  tage  nit  kan  anstehen,  so  solle  die  ganze  Arnräe  herunter  gehn 
und  suceurs  der  Stadt  mit  aller  macht  suppeditirt  werden.  Ess  wäre  auch  von 
stunden  an  ein  corpo  formiret  und  schleunigst  herunter  commandirt  worden, 
weil  aber  der  feind  mit  setner  Hauptärmee  gegen  uns  anmarchiret,  bat  man 
unsre  Armee  zu  trennen  vor  gewisser  habender  Kundschaft,  wie  stark  der 
feind,  nit  für  rathsamb  befunden  .....  der  feind  verachtet  uns  zwar  und  unsre 
waffen ,  man  weiss  aber  das  vormals  die  ganze  weit  mit  lanzen  und  spiess  be- 
kriegt ist,  die  schwedischen  röhre  versagen  auch  und  treffen  nit  allzeit  das  Ziel, 

zudem  mangelt  es  uns  daran  auch  nit Ueber  tausend  Pferde  hat  ifcm 

schon  alibereit,  die  auf  dem  Grase  gegangen,  der  Herr  Schonberg,  auescomtnan«- 
dirt  mit  30  fahnen,  gestern  auch  jenseits  des  Bug,  woselbsten  die  ganze  schwe- 
dische Armee  stille  steht,  40/m  gerechnet  in  allem,  wiewol  andre  nit  6/m  an- 
schlagen, mit  vortel  nebenst  60  gefangenen  weggenommen ;  und  wie  ihm  etliche 
cornet  naohgesetzet,  hat  er  sie  biss  in  ihr  lager  repoussirt ....  Die  littawscbe 
Armee  der  Herr  Czarnecky  und  der  Cron  Marsebai k  liegen  bey  Nowidwor  .... 
Unsre  Armee  besteht  in  48/m  littawsche  Völker  eitel  gutte  geübte  quarcianer. 
Die  Cron  Armee  auf  die  50/m.  Andere  Wolinsche,  Podiasche,  Reusche  powiaten ! 
nit  weniger  auch  gutte  Soldaten  20/m.  Da  reebne  man  nun  mit  was  die  Knechte 
sind  die  auch  alle  bewehrt  zu  pferde  sitzen  und  noch  eins  solche  zahl  machen 
wie  dieser  alle  ist.  Zu  dem  kommen  folgends  die  drey  deutschen  Regimenter 
zu  Fuss ,  Obr.  Buttler  Generals  Artillerie ,  Obr.  Grodhausen  und  Obr.  ßoefaun 
Dragoner  das  vierdte,  alle  über  tausend  mann  stark.  Etzliche  Regimenter  Hey- 
ducken bey  jedwedem  herren ,  die  auch  immer  zusammengestellt  werden,  und 
ein  ziemlich  stark  corpus  praesentiren.  Endlich  so  viel  tausend  arme  Edelleule 
und  landvolk  mit  unterschiedenen  handgewehr  und  sensen.    Zu  welchen  jetzt 


4)  Distiicte. 


488  Joh.  Gi st.  Dbotsbn,  4M] 

aufs  newe  anzurechnen  die  Tartaren,  die  nun  gewiss  alle  tage  erwartet  werden« 
Auss  welchem  allen  unsere  Verfassung  kan  gesehen  werden  dass  sie  so  schlecht 
nicht  ist ....  Der  herr  Schonberg  ist  etwa  mit  4/m  Pferden  Tartaren  und 
Walachen  auf  der  Seite  da  der  feind  ist ...  • 

Am  4.  Juli  meldet  Barckmann,  dass  der  Tartarenchan  20/ro  Tartaren  habe 
aufbrechen  lassen,  die  schon  vor  8  Tagen  bei  Urcia  vorbei  gewesen;  »von  hier 
ist  ihnen  entgegen  gangen  der  Star.  Koronny  Jaskolsky  umb  sie  zu  führen  nach 
der  Preussschen  Grenze  weil  Elector  sein  volk  zusammenzieht  und  die  Ursache 
man  nit  weiss.  Man  rechnet  hier  effective  podpisane  woisko  80/m  und  noch 
einss  so  viel  Holotta,  die  auch  wie  bey  dieser  ocasion  wohl  zu  gebrauchen 
sind . .  .  .  a 

Allerdings  hatten  sie  bei  der  endlichen  Capitulation  Warschaus  (am  4 .  Juli) 
sich  eben  so  bemerklieb  gemacht,  wie  die  Quartianer  und  die  Pospolita  Russenia. 
Die  kleine  schwedische  Besatzung  hatle  in  der  Capitulation  freien  Abzug  bewil- 
ligt erhalten ,  aber  die  Quartianer  und  die  Posp.  Russ.  forderten  dass  wenig- 
stens die  sBmmtlichen  höheren  Ofßciere  kriegsgefangen  gehalten  würden,  worauf 
man  that,  wie  sie  wünschten.  Auch  das  »Gesinde«  erhob  seine  Stimme  »wass 
für  eine  furie  unter  dem  volk  ist  kann  nit  ausgesprochen  werden ;  wie  man 
aecordirt  hat,  hat  die  Holotta  keinessweges  bewiligen  wollen ;  endlich  ist  der 
Herr  Unterfeldherr  sie  zu  stillen  hergeritten,  man  hat  ihm  aber  das  Pferd  unter 
dem  leib  geschossen  und  mit  einem  zügelstein  einss  versetzt ;  und  wie  sie  sich 
noch  stillen  lassen,  sind  sie  mit  der  furie  auf  den  bazar  gelaufen  und  haben  die 
armen  Armenianer  geplündert.«  So  meldet  Barckmann  am  3.  Juli.  Zugleich 
meldet  er  das  Herannahen  der  Tartaren :  »20/m  stark,  allein  an  Bojaren.« 

Am  45.  Jul.  » .  .  .  Gestern  ist  General  Podpis  gewesen  und  hat  sich  die 
Armee  zu  felde  praesentirt,  machen  eine  fronte  von  der  Weissei  an  biss  an 
Jasdowa  und  werden  über  4000  Standarten  gezählet,  fussvolk  und  Dragoner, 
gutte  alte  volker  ist  bey  5/m  Mann ,  haben  bey  sich  30  mehren  tbeils  grob  ge- 
schütz.  keines  unter  42  Pfd Elector  hat  durch  ein  Schreiben  zu  ver- 
stehen gegeben  die  Ursach  warumb  er  sich  mit  den  Sweden  conjungiren  müssen 
und  aretius  verbinden ;  Man  will  aber  solchem  schreiben  noch  nit  trauen,  dass 
er  es  serio  meinen  solte ,  wie  denn  auch  noch  die  gestrigen  gefangenen  ausge- 
sagt ,  dass  der  meisten  meynung  ist,  er  werde  seine  Völker  über  die  grenze  nit 
lassen  gehn « 

Nach  diesen  Berichten  erscheint  die  Masse  der  polnischen  Armee  ungleich 
grosser  als  in  irgend  einer  bisher  bekannten  Angabe ;  und  wenigstens  die  Trup- 
pentheile,  die  als  »registrirte  Leute«  (regestrowick  ludzie)  als  »unterschriebener 
Herr«  (podpisane  woisko)  bezeichnet  werden,  müssen  im  königlichen  Haupt- 
quartier dafür  gegolten  haben  in  solcher  Zahl  im  Felde  zu  stehen.  Was  die  to- 
warzistwo  (vereint)  betrifft,  theilt  mir  Herr  Dr.  Strehlke  Folgendes  aus  Bandt- 
kie  II.  4  483  mit:  »Towarzyz  heisst  ein  jeder  Edelmann,  der  als  blosser  Edel- 
mann ohne  Rang  beim  allgemeinen  Aufgebot  zu  Felde  dient  und  gewöhnlich 
4—5  Knechte  (Pacholken)  bei  sich  hat.  Dann  aber  heissen  Towarzyz  auch  die 
für  immer  bei  der  Nationalcavallerie  dienenden ,  deren  jeder  einen  Szeregowy 


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445]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  489 

« 

(Gemeinen)  unter  sich  hat ,  der  für  ihn  Wachtdienste  u.  s.  w.  thut ,  aber  auch 
in  Reih  und  Glied  ficht.  Ein  solcher  Towarzyz  przytomny  erhält  für  sich,  seinen 
Szeregowy  und  zwei  Pferde  jährlich  4200  fl. « 

Die  Angabe,  dass  das  Heer  der  Tartaren  allein  20,000  Herren  (Bojaren) 
zählt,  rechtfertigt  die  anderweitige  Ueberlieferung ,  dass  die  Gesammtmasse 
dieses  Hülfsheeres  unter  Supan  Kazi  Aga  die  doppelte  und  vielleicht  dreifache 
Zahl  betragen  haben  mag,,  Es  ist  beachtenswert,  dass  Schonberg  sobon  vor 
ihrer  Ankunft  (s.  Bericht  vom  29.  Juni)  mit  Tartaren  und  Walacben  ausrücken 
konnte.  Endlich  ist  in  Betreff  des  Pussvolks  noch  eine  Schwierigkeit  zu  bemer- 
ken. Bereits  am  4  7. Febr.  4 656  bat  Barckmann  aus  Lemberg  geschrieben :  »Hier 
werden  die  alten  Regimenter  completirt  General  Grodsicky  seins,  Obr.  Gwtfrau«- 
r  --__  sens,  Obr.  Buttlers,  Obr.  Bockens  und  mangelt  gar  nit  an  guter  praeparation.« 

Ess  cheint  dass  Gen,  Grodsicky  das  König).  Leibregiment|Dragoner  führte ;  warum 
aber  in  dem  Bericht  vom  29.  Juni  gesagt  ist  »Obr.  Buttler  Generals  Artillerie« 
weiss  ich  nicht;  denn  dass  er  die  Artillerie  commandirt  haben  sollte,  ist  nicht 
zu  vermutben. 

Um  die  Mitte  Juli  würde  nach  Barckropnns  Berichten  die  polnische  Armee 
folgende  Bestandteile  gehabt  haben. 

4.  42,000  M.  Litthauer  towarzistwo  Quartianer  unter  dem  Grossfeldherrn 
(Hetman  Litt.  Wielei)  PaulSapieha  Woywoden  von  Wilna, 
Unterfeldherr  Vincenz  Gonsiewsky  Unterscbatzmeister  (Podskarbi 
Litewscki). 

2.  20,000  H. '  towarzistwo  unter  den  beiden  Kronfeldherren ,  dem  Krön- 
grossfeldherm  (Hetman  Poini  Wielei)  Stanislaus  Potocky  Woy- 
woden vonKrakau,  und  dem  Kronfeldherrn  (Hetman Poini)  Stanis- 
laus Lanokoronsky. 

3.  20,000  M.1  unter  C zarneck  y. 

4.  20,000  M.8  towarzistwo  unter  dem  Krongrossmarscball  (Harschalk 
wieici  koronny)^ Georg  Lubomirsky*    (Diese  Corps  2.  3.  4  nennt 

e'^i:  J  der  Bericht  vom  29.  Juni  die  Cronarmee  und  giebt  ihr  50,000  M.) 

P™'-  5.  20,000  M.  gute  Soldaten  aus  den  Volhynischen ,  Podiachischen,  Russin 

inm,>  sehen  Kreisen. 

ko»>"  6.  Die  Pulke  der  einzelnen  Herren  (HeyduckeoreguneBter). 

'  F&:  7.  Die  Pospeüte  Ruszenie. 

8.  Das  Gesinde  (Holotta)  80,000  (Bericht  4  Juli). 
<•:-  9.  20,000  Tartariscbe  Bojaren  nebst  ihren  Knechten. 

40.  Das  Königliche  Leibregiment  Dragoner  (unter  Gen,  Grodsicky?). 

44.  3000  H.  Deutsche  unter  den  Obersten  Grodhausen  Buttler  und  Beckum. 


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4)  towarzistwo  same,  »selbst  Tow.«  heissen  sie  im  Bericht  vom  14.  Juni,  vielleicht  am 
anzadeutea ,  dass  ihre  szeregowy  nicht  mitgezahlt  werden.  •)  8o  in  dem  Bericht  vom 
14 .  Juni ;  in  dem  vom  4  5.  Juni  hat  Czaroecky  30,000  M .,  da  aber  wird  Potocky  noch  nicht  er- 
wähnt, der  wohl  erst  spttter  herangekommen  ist.  Ob  auch  diese  80,000  in  dem  Bericht  vom 
45.  Juni  als  Towarzyz  bezeichnet  sind,  ist  unklar.  «)  In  dem.. Bericht  vom  45.  Juni 
M,000  Bf. ;  die  obige  Summe  nach  da»  Beriebt  vom  84.  Juni. 

AbhftodL  d.  K.  8.  Gm.  d.  Wi».  X.  38 


490  Joh.  GüST.  DfiOYSEN,  <*6] 

Für  die  Schlacht  war  diese  ganze  Masse  nicht  mehr  beisammen,  namentlich 
die  Grosspolen  waren  nach  Hause  gegangen,  wie  Barckmann  in  dem  gleich  mit- 
zutheilenden  Brief  vom  4.  August  berichtet. 

Von  Interesse  ist  sein  Schreiben  aus  Warschau  vom  28.  Juli,  das  spät  ge- 
nug geschlossen  ist  um  noch  von  dem  begonnenen  Kampf  jenseits  der  Weichsel 
zu  berichten.  »Der  Feind,  a  schreibt  Barckmann  etwa  in  der  Mittagsstunde, 
»campirt  noch  auf  seinem  alten  Orte;  die  churfürstliche  Armee  steht  noch  drey 
meilen  von  ihm  bei  Plonsko  und  sagt  man  dass  er  wegen  der  anklebenden  sucht 
seine  Völker  nicht  conjungiren  will;  brod  bier  und  fourege  fällt  ihm  sehr 
schwer,  werden  bald  auch  die  Kanonen  müssen  mitnehmen  Gras  zu  hohlen. 
Der  littawsche  Unterfcldherr  ausscommandirt  mit  etwa  3/m  Pferden  hat  ihnen 
bei  Pullowka  dieser  tage  bei  500  Klepper  abgenommen ,  partiret  frisch  um  sie 

herumb Unsere  Armee  ist  mehren  theils  worüber  man  sich  lange  nicht 

einigen  können,  über  die  Weissei  gefahren  und  heut  gangen,  auch  Serenissimus 
in  perschon.  Der  Herr  Gzarnecki  mit  einem  gut  formirten  corpo  bleibet  auf  die- 
ser seite  (Chiffer  :  etwa  vier  bis  fünf  tausend  stark)  ;  den  nunmehr  meine  viel- 
fältigen promessen  von  den  Tartaren  sich  verificirt  haben  dass  sie  sich  anch  ge- 
stellet und  stehen  an  dem  Bug  drey  meilen  von  den  Unsrigen.  Gestern  kam  der 
Supan  Kazi  Aga  über  der  Weissei  nebst  wenigen,  ist  eine  starke  manliche  Per- 
schon breit  von  schultern  schwarzbraun  von  gesiebt  u.  s.  w. «  folgt  die  ausführ- 
liche Beschreibung  der  Audienz.  »  .  . .  .  Mr.cTOmbre  legatus  GalHae  negotitrt  ob 
wir  wohl  die  französische  mediation  aeeeptiren,  sagt  im  Übrigen,  er  habe  seine 
völlige  Instruction  noch  nicht.  Hat  zur  Antwort  bekommen :  paeem  a  Suecis  tum 
petimus,  sed  nee  rejicimus ,  und  aeeeptiren  dazu  wo  es  so  sein  sollte  Imperato- 
ren*,  Regem  suum  tum  exeludendo,  Hollandos  et  Regem  Daniae Jetzt  eben 

um  sieben  uhr  wird  aliarm  auf  iener  seite  gemacht  und  höre  ein  starkes  schies- 
sen; hat  gewähret  bis  zu  halb  zehn.  Der  feind  soll  über  den  Bug  gangen  sein 
und  will  mit  macht  schlagen ,  soll  mit  den  unseligen  auf  eine  viertel  meile  von 
einander  sein.  Gott  gebe  gut  glück.  Hoffe  morgen  nit  weit  davon  zu  sein.  P.  S. 
Die  Nacht  ist  jetzt  so  finster  dass  man  auch  nicht  einen  einsigen  Stern  er- 
siebet. « 

Die  verhängnissvolle  Schlacht  warf  auch  Barckmann  in  den  wilden  Strudel 
der  Flüchtenden,  und  erst  nach  mehreren  Tagen  und  nach  mancher  Gefahr  fand 
er  das  Hoflager  des  Königs  wieder.  Sein  nächster  Bericht  ist  aus  Lancut 
4  \ .  August. 

Die  Darstellung  der  Schlacht  die  er  giebt  ist  zwar  sehr  ungenügend ;  aber 
sie  giebt  doch  einige  lehrreiche  Details,  namentlich  für  die  Aufstellung  auf 
polnischer  Seite.  Der  mitgesandte  Plan  (punetur)  auf  den  sich  die  Nummern  in 
dem  Bericht  beziehen,  liegt  nicht  mehr  in  den  Acten;  doch  ist  es  leicht  die  be- 
treffenden Stellen  auf  unserm  Plan  wieder  zu  erkennen.  Das  Schreiben  lautet: 

WolEdle  Gestrenge  Namhafte  Hoch  und  Wolweise  Herren 
Insonderss  Hochgeehrte  Grossgünstige  Herren. 
Unlängst  den  28sten  verlaufenen  monats  habe  an  Ihre  WoIEdl.  Gestr.  Her- 
ren durch  einen  eignen  boten  Baranowski  genannt  wohnhaft  in  Danzig  seines 


147]  Die  Schlacht  von  Wabschaü.  1656.  491 

thuos  ein  fuhrmann  vordem,  ein  ziemliches  pacquet  unterdienstlich  abgefertigt 
.und  den  damaligen  unser  Armto  Zustand  berichtet.  Nur,  leider,  wieder  ver- 
muhten durch  unserer  eigenen  leuhte  fahrlässige  Sicherheit  ist  mein  triumphus 
quem  cecini  ante  victoriam  ietzo  in  newes  klagen  verwandelt  worden. 

Man  hat  nit  ehe  alss  den  27sten  recht  gewust  wie  der  feind  unss  schon  auf 
dem  halse  gesessen,  dass  er  im  anzuge  begrifen,  worauf  die  Volker  so  viel  wie 
beysamen,  den  die  gross  Pohlen  alle  nach  hause  abgezogen  waren,  seint  auf  die 
andre  seife  geführt  worden.  Doch  war  in  aequiparation  gegen  den  feind  zu 
rechnen  mehr  den  allzuviel  Volk  noch  bey  den  unssrigen  vorhanden. 

Die  praesentation  der  formirten  batailie  war  dem  Augenschein  nach  auf  die 
form  wie  beygefügte  punctur  zum  Theil  aussweiset  zu  sehen. 

No.  1.  Ist  ein  umbgegrabner  hoher  hügel,  vor  dem  der  galgenberg  genant 
auf  selbigem  war  ein  klein  fort  aufgeworfen  und  gestük  gepflanzet  der  sich  auch 
connectirete  mit  den  trenchiren.1  No.  2  wie  das  Jager  auf  unsrer  seite  gestan- 
den. No.  3.  Unten  an  dem  galgenberge  am  ufer  der  weissei  war  ein  klein  re- 
doutchen  aufgeworfen  die  SchifsbrUcke  zu  defendiren ,  wie  auch  auf  der  ande- 
ren seite  zu  selbigem  effect  ein  andernst  werk,  etwass  stärker  aufgeführt.2 

No.  5  hatte  man  sich  beschantzet  dass  Hr.  Samoisky  fussvolker  recht  gegen 
dess  feindes  lager  über8  und  canonirten  lustig  gegen  einander  an  das  die  ku- 
geln zwischen  den  feldern  gleich  den  Wiedehopfen  herumsprungen,  thaten  den- 
noch unter  den  Unsrigen  wenig  schaden,  die  sich  auch  nit  von  dem  platz  rühr- 
ten ,  beriegen  hat  man  recht  gesehen  wie  die  Unsrigen  ganze  glieder  weggeris- 
sen, das  der  feind  auch  etzliche  mahl  seinen  vohrtrap  vercantert  hat,  weil  ihm 
so  viel  schaden  geschehen.  Der  anfang  zu  diesem  spiel  war  gemacht  den  28  ge- 
gen abend.  Von  dem  Galgenberg  wart  auch  geschossen  aber  ohne  sondern 
effect.  Serenissima  mit  dem  frawen  Zimmer  hielt  an  genanten  orte,  nebenst 
tausend  anderen ,  die  dieses  trefen,  der  ersten  veranlassung  nach,  vor  ein  ge- 
wonnes  spiel  hielten,  Hess  auch  mit  ihren  pferden  auss  der  carosse  unten  an  die 
weissei  schwerner  gestück  führen  in  das  redoutchen,  weil  Ihr.  Majest.  sähe,  wie 
essauch  war,  das  von  (da?)  dem  feinde  mehr  abbruch  geschehen  könnte.4  No.6. 
Von  der  höhe  vor  dem  walde  schoss  der  feind  zum  öfteren,  aber  auch  mit  we- 
nigem schaden  da  No.  7  von  des  Herrn  Gzamecki  scbantze  der  orth  wieder  be- 
strichen wart,  und  zuletzt  von  einem  sandhügel  No.  8  das  der  feind  sein  ge- 
schütz  abführen  muste.*  No.  9  seint  unsre  fahnen  wor  auss  zwey  weisse  dem 
feinde  bis  auf  das  gestück  gefallen,  er  hat  sich  aber  stets  mit  geschlossnen  trup- 
pen  zusammengehalten  und  keines  wegs  wollen  auf  das  feld  berauss  führen 


4)  Auf  dem  Plan  von  Memmert  ist  ein  Galgen  auf  einer  Höhe  gezeichnet,  die  dicht  nord- 
wärts an  der  Stadt  Hegt.  Der  »vordem  Galgenberg  genannte«  Hügel  ist  weiter  nordwärts, 
wo  in  unserer  Karte  das  kleine  Fort  gezeichnet  ist.  2)  Hier  fehlt  die  Bezeichnung  No.  4  für 
den  auf  dem  rechten  Ufer  der  Weichsel  angelegten  Brückenkopf.  3)  Hier  scheint  ein  Wort 
zu  fehlen.  4)  Also  nicht  von  der  buschigen  Insel  in  der  Weichsel  aus  Hess  die  Königin  ihre 
Geschütze  spielen?  5)  No.  8  ist  der  Schanzhügel,  der  die  Nordostecke  der  polnischen  Stel- 
lung beherrscht.  Zwischen  diesem  und  der  Weichsel  zählt  Barckmann  nur  zwei,  nicht  drei 
Verschanzungen,  die  östlichen  die  Czarneckys,  die  der  Weichsel  nähern  die  Zamoiskys. 

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.         *  *9]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1 656.  493 

dieser  occasion  sich  gar  heroisch  sehen  stellele  sich  ganz  an  die  spitze  und 
grif  des  einen  Standart  und  wollte  sie  selbst  anführen ,  aber  die  antrage  man- 
gelte, andere  ignavos  quipugnam  deserebant  trieb  Ihre  Maj.  auch  mit  dem  blosen 
gewehr  zurück.  DieLittawschen  husaren  haben  noch  vor  allen  andern  den  preiss 
behalten  weil  sie  aber  auch  nit  sint  secundirt  worden,  sint  von  einer  gantzen 
compagnie  kaum  acht  wieder  zurückkommen.  Ess  hat  ein  Schwedischer  trom- 
peter  nach  der  bataillie  berichtet  das  der  eine  dem  schwedischen  Könige  mit  der 
copie  sey  zwischen  den  arm  weggelaufen,  der  fürst  Boguslaw  aber  habe  densel- 
ben herunter  geschossen,  und  das  der  König  wegen  seiner  mänlichen  odwaga f 
habe  mit  sonderlicher  ceremonie  Ihn  begraben  lassen.  Ein  andrer  gefangener 
beriebt  das  ein  stickkugel  neben  dem  König  seinem  pferd  den  kamb  weggerissen 
habe.  Ihr.  Churfürstl.  Durchl.  aber  sey  bey  dem  treffen  nit  gesehen  worden. 

Dieses  charmuziren  daurete  biss  eine  stunde  nach  der  sonnen  Untergang 
und  wart  sonderlich  stark  mit  gestück  geschossen.  Auf  unser  seite  geschähe 
dennoch  gar  wenig  schaden ,  heriegen  rakten  die  Unsrigen  desto  besser  unter 
des  feindes  trouppen,  der  feind  Hess  sich  doch  solches  nit  irren  sondern  zog  sieb 
wie  ein  halber  mond  von  dem  walde  No.  4  0  an  biss  hinter  die  schantze  No.  7 
lierumb ,  wodurch  Er  gewent  dass  er  uns  von  hinten  in  die  ofnen  schantzen 
kommen  konte.  Ich  sähe  solches  schon  umb  gloke  4  nachmittag  ah,  dass  ess  übel 
spiel  setzen  wolte ,  rit  zum  Hr.  Erzbischoff  der  auf  der  andern  seite  am  Ufer 
einen  speetator  mitgab,  den  die  Königin  schon  war  weggefabren,  wiess  mit  den 
fingern  an  die  gefahr  und  gab  an  sie  wolten  das  waldchen  No.  16.  doch  ver- 
bauen1 besetzen  und  forn  an  die  höhen  gestück  bringen  lassen,  worauf  den  von 
i\es  Hr.  Gzarnecky  Dragoner  sint  commendirtt  worden  und  ein  Theil  von  Ob. 
Grodhausen  fnssvolk.  Die  nacht  war  zu  allem  werk  bequem  genug,  den  es  so 
finster  war,  das  man  auch  nit  eine  Hand  vor  sich  sehen  konte.  Das  Unglück  hat 
aber  sein  sollen,  frühe  mit  der  ersten  Dämmerung  Hess  der  feind  losung  geben : 
unsere  auch,  wenig  stellten  sich  aber  zu  ihren  fahnen  ein.  Ess  war  auch  ein 
nebel  so  gross  das  man  bey  4  stunden  auf  den  tag  nichts  sehen  konte  wass  sich 
auf  der  andern  seile  hebte  (sie).  Damit  avancirte  der  feind :  unsere  setzten  zwar 
ein  wenig  an ,  deserirten  aber  alsobald  pugnam ,  und  nachdem  die  fernsten 
aussriesen ,  lief  aller  bettel  darvon.  die  sich  dessen  nit  versahen  und  nach  der 
linken  hand  begaben  wosel  baten  viel  morast  sini  entweder  mit  den  pferden 
stecken  blieben  oder  auch  mit  genauer  noht  kaum  allein  davon  kommen,  viel 
sint  auch  indem  sie  die  vada  gesucht,  im  wasser  blieben,  da  sie  sicher  leben 
und  die  reputation  wan  sie  hatten  Heber  fechten  alss  schwimmen  wollen ,  in 
dess  feindes  blut  erhalten.  Dero  feldherrn  Potocky  wird  schuld  gegeben,  er  habe 
seine  bagage  lassen  fortgehen  und  damit  dem  volke  das  hertz  benommen,  andere 
sagten  latuit  post  prineipia .  Serenissimus,  weil  er  sie  nun  mehr  nit  halten  konte, 
wie  wol  auch  die  Dragoner  fewer  unter  dieselben  gaben,  die  sich  nach  der 
brücke  drengten,  muste  sich  auch  also  über  diebrücken  machen.  Den  feldherrn 
drengten  sie  von  der  brücken  inss  wasser.  Hr.  Poduasi  coronni 8  fiel  auch  herab 


4)  Hekteathat.      *)  No.  46  ist  das  Holz  von  Praga.      8)  d.  Ji.  Podcsasi  koronny  der 
Kron-Mundschenk. 


494  Joh.  Glst.  Dioysen,  450] 

und  andre  mehr  die  sich  am  geschwinsten  bergen  wollen.  Fttnff  geslUck  die 
kleinsten  wurden  mit  salviret  die  anderen  blieben  im  stich.  Der  feind  setzte  nit 
seumend  durch  den  wald  No.  1  6  auf  Präge  zu  und  klopfte  die  Dragoner  herauss 
die  sich  aber  bey  Zeiten  hinter  den  anderen  mit  salviret  haben  und  sint  etwan 
mit  vertust  \  5  Perschonen  nachmals  wieder  zu  ünss  kommen.  Prag  und  Skar- 
pow  haben  die  Unsrigen  bald  in  den  Brand  gesteckt.  Die  arme  Leute  mit 
ihren  bindlen  und  zusammengeraspelten  zeuge  sassen  an  dem  Ufer  wurden  von 
dem  feinde  theils  niedergemacht,  theils  Hess  dass  wasser  weg  die  sich  zu  tief 
hinein  begeben.  Die  schantz  vor  der  brücken  hielt  sich  nicht  und  die  brücke 
wart  auch  bald  in  den  brand  gesteckt. 

Indem  hat  ein  Theil  von  den  Tartaren  sich  wiederumh  gewendet  und  viel 
schaden  gethan,  der  nachdruck  von  den  Unsrigen  mangelte  allein. 

Der  feind  hat  Ihm  denn  auch  nit  unterstehen  dürfen  die  Unsrigen  weiter 
bis  an  die  kempen ,  woselbst  die  hollander  wohnt  (sie)  zu  verfolgen. ' 

Dieses  ist  also  der  gantze  verhalt  dessen  was  ich  mit  äugen  nahe  bey  ge- 
nug gesehen  habe.  Eine  bataiile  kann  ichs  nit  recht  nennen,  sondern  vielmehr 
einen  verlauf  einer  schon  halb  gewonnenen  victori  ohne  schlacht.  Das  fussvolk 
hat  sich  mehren  theils  von  der  cavallerie  verlassen  salviret,  etwan  zehn  stück 
sint  stehen  blieben,  unter  welchen  das  gröste  der  smok  genannt.2 

Was  dieses  nun  vor  eine  bestürtzung  auf  der  Seiten  von  Warschau  gab,  ist 
leicht  zu  erachten.  Die  Königin  ging  mit  den  Wagen  sie  selbst  zu  pferde  auf 
Gzersko  zu  ;  was  übrig  von  wagen  von  der  pospolita  russenia  zerschlug  sich, 
einer  diesen  weg,  der  ander  einen  anderen,  hie  der  herr  ohne  knecht,  dort  der 
knecht  ohne  herren,  das  fussvolk  hielt  aber  noch  unten  an  den  schantzen.  Se- 
renissimus kam  mit  Herrn  Butler  von  Dönhoff,  Her.  Meidel ,  Her.  Palat.  Posna 
der  eben  auch  damal  zum  Unglück  krank  war,  auf  das  Palalium  umb  noch  zu 
deliberiren  wass  bey  Warschau  zu  thun  war.  Der  Herr  Kantzier  folgte,  war  gantz 
resolvirt,  Serenissimus  solle  nit  weichen  und  invehirte  machtig  auf  den  Herrn 
Paz  littawschen  Vice  Gancelar  praesentem,  das  Ihre  odia  mit  den  Radziwillea 
solches  unheil  in  der  cron  verursacht  betten ,  denen  sie  doch  nimmer  gewach- 
sen weren.  Der  Littawsche  Feldherr  hat  den  tag  vor  dem  schlagen  die  röhr 
knochen  im  herumbreiten  zerfallen  in  den  rechten  Schenkel ;  ist  mir  recht.  End- 
lich brachten  die  anderen  ein :  das  volk  wer  von  Warschau  alles  weg,  in  der 
Stadt  wäre  kein  proviant,  Serenissimus  müste  den  ort  verlassen,  und  also  order 
gegeben  das  fussvolk  sollte  abmarchiren  und  die  geslUck  mit  nehmen,  die  auch 
Gottlob  sich  salviret  haben  und  sint  zu  oder  unter  Golembia  über  die  weissei 
gegangen,  Serenissimus  aber  von  Warschau  hatte  seinen  weg  geendert  und  »ar 
über  Warka  gangen  kam  zu  Kozelnica  den  34  erstlich  zu  der  Königin  und  fuhr 
auch  unter  Golembia  über. 

Ich  habe  mich  wunderbar  mit  meinein  wagen  zur  nacht  durch  geschlept, 
biss  ich  endlich  zu  Koselnica  an  die  Königin  kommen  bin,  blieb  aber  im  stich 


4)  Die  Kempen  sind  die  Niederungen  südwirU  des  todten  Weichselarmes.       S)  Der 
Drache. 


154]  Die  Schlacht  von  Warschau.  1656.  495 

und  konnte  wegen  des  grossen  gedrenges  nit  Über  kommen ,  hatte  auch  das 
unglück  dass  mir  das  beste  pferd  im  zuge  gestttrzet  ist.  Ihre  Majestäten  den- 
noch und  die  Königin  haben  eine  fahne  volk  zu  ross  aussconimandirtt,  die  mich 
suchen  müssen  und  mich  gefunden  haben  unter  Pulawa,  dieselben  nahmen  den 
anderen,  die  stärker  waren  alss  ich  eine  drefte  holz  ab  und  brachten  mich  Gott 
sey  dank,  also  über,  wie  wol  ess  auch  dabey  ohne  handrecht  nit  ablief,  und  war 
mein  iung  in  den  köpf  etwass  verwundt.  Zu  KonskiwoJo  habe  ich  die  hofstadt 
wieder  angetroffen,  Serenissimus  aber  hat  sich  bald  geschieden  cum  Seremssima 
und  ist  cum  exiguo  comitatu  allein  zu  ross  nach  unserem  volk  gangen ,  die 
sich  unter Ogonow  zusammen  gezogen  hatten.  Mir  war  ess  unmöglich  wegen  der 
abgematteten  pferde  zu  folgen,  und  welches  ich  selbst  rit  war  vernagelt,  zu- 
dem war  mir  von  dem  vielen  wachen  und  der  grossen  hitze  eine  wehtage  auf 
die  Augen  gefallen  das  sie  mir  ganz  zusammen  bakten,  welches  den  zu  meiner 
entschuldigunglhre  Wol  Edl.  Gestr.  mir  günstig  wolten  gültig  sein  lassen,  warum 
ich  Serenissimum  verlassen  und  Serenissimae  gefolget  bin  allhie  nach  Lancut. 
Serenissimus  sagte  mir  bey  seinem  abschiede  ich  würde  Ihre  Maj.  wiederumb 
zu  Lublin  oder  Samosc  finden,  sint  aber  recht  fort  zu  Lublin  (sie)  und  das  volk 
liegt  gegen  Warschau  zu,  sollen  noch  stärker  sein  wie  vordem,  weil  die  Tarta- 
ren order  haben  die  zu  plündern  die  sich  absondern  von  der  haubt  Armee,  und 
also  bleiben  sie  beysamen.  Sobald  auch  das  fussvolk  wieder  etwass  in  Ordnung 
gebracht  were ,  wollen  sie  auf  den  feind  wieder  lossgehen ,  zu  welchem  ende 
den  auch  nach  Lemberg  und  andere  örter  mehr  nach  Artillerie  geschickt  ist. 
Ein  Theil  von  der  Armee  nebenst  den  Tartaren  umb  einer  diversion  halber,  die 
ihrer  denn  genug  sint,  sollen  nach  Pomeren  gehen,  ein  ander  corpo  nach  Preus- 
sen;  was  hierin  geschehen  wird,  lehrt  die  zeit.  Sonsten  haben  die  Völker  die 
alten  Feldherren  verworfen  und  haben  ihnen  den  Herrn  Gzarnecky  und  Woy- 
wod  Sendomirsky  Koniecpolski  zu  häubtern  erkohren  und  Herr  Gassewsky  ist 
bei  denLittawschen.  Es  wäre  gut  gewesen  sie  weren  zu  anfang  davon  blieben. 

Nach  der  Zeit  hat  der  Trompeter  antwort  schreiben  gebracht  von  Ihr.  Ghurf. 
Durchl.  deren  copien  ich  (verstehe  so  Ihre  Maj.  abgehen  lassen)  durch  Bara- 
nowsky  herunter  geschickt  satis  humanüer  exaratas,  die  aber  ad  Archieptscopum 
sollen  härterer  gewesen  sein,  Senatores  beschuldigen,  das  er  durch  ihren  eige- 
nen abtrit  sey  zu  diesem  spiel  forciret  worden. 

Ein  abgeschickter  Gizicky  Stolnik1  von  Wilon  wie  Er  sich  aussgiebt,  hat  aber 
keine  credentiales  und  wirt  vielen  wol  bekant  sein  hat  sich  aufgehalten  bei 
Wladislai  zeit  am  hoffe,  bringt  folgende  puneta  mit  zur  Friedenshandlung, 

4.  Den  fürsten  Boguslaw  >ou verain  in  Podlass  zu  machen. 

2.  Radzciewsky  gewisse  gütter  bei  Plocko  zu  cediren. 

3.  Die  gefangenen  zu  restituiren. 

4.  Die  traetaten  mit  Moscauen  zu  differiren. 

5.  Einen  pass  zu  ertheilen  vor  einen ,  den  der  König  in  Schweden  den  ge- 
neral  frieden  zu  befördern  an  Chmielnicky  schicken  will. 


4)  Stolnik  ist  Tafeidecker  für  den  District  Wilona  in  Lithauen. 


496  Joh.  Gdst.  Droyskn,  Die  Schlacht  von  Waischau.  468] 

Wie  er  wird  abgefertigt  werden  steht  künftig  zu  vernehmen. 

Mit  dem  Herrn  Marschalkk  habe  alhier  weitittuftig  mich  unterredet  (Chiffer 
videtur  mihi  multum  consternatus  et  rebus  non  solus  sufficiensf  tnagis  quoque  de  re 
sua  private  cmxius  quam  de  aliis)  sagte  ferner  (Chiffer :  ad  explorandum  anitnum 
tneum  civitas  nostra  hätte  sich  nicht  zu  besorgen  der  feind  iwere  ja  unserer  re- 
Ugion  et  si  esset  catholicus  hodie  esset  rex,  Ragocky  auiem  non  veniet  nisi  vocatus ; 
waren  alle  seine  worte). « 

Es  folgen  dann  noch  in  diesem  Schreiben  andere  politische  Mittheilungen, 
die  ich  Übergehe. 

Die  späteren  Schreiben  bieten  keine  weiteren  Notixen  zur  Aufklärung  der 
Schlacht.  Nur  in  dem  französisch  geschriebenen  Bericht  vom  49.  August  aus 
Lublin  ist  eine  Aeusseruug  beachtenswert.  Barckmann  erzählt  wie  Hr.  v.  Schon- 
berg vor  einigen  Tagen  einen  sehr  kühnen  Angriff  auf  den  Feind  gemacht,  sich 
selbst  an  die  Spitze  gestellt  habe;  aber  von  seinem  ganzen  Regiment  seien  ihm 
nur  50  gefolgt.  Mais  il  est  trts  cerlam,  qu'il  riy  a  point  de  nation  qui  ne  comette  de 
lachettez,  au  an  en  peut  commettre  impunementf  comme  m  ce  Pays  id.  Cest  pour- 
quoi  tant  que  le  baurreau  sera  oysifdcms  nos  armde*,  les  Polonois  ne  seront 
jamcds  courageux  ny  braves. 


DIE  UNTERSCHEIDUNG  VON 


NOMEN  UND  VERBUM 


IN  DER  LAUTLICHEN  FORM. 


VON 


AUG.  SCHLEICHER. 


Abkiodl.  4.  K.  S.  G«Mllaek.  d.  WittMMrk.  X.  34 


VORWORT. 


JÜne  Untersuchung  über  die  Unterscheidung  von  nomen  und  ver- 
bum  in  der  lautlichen  form  wäre  erst  dann  einiger  mafsen  ab  gefchlo- 
fsen,  die  frage,  welche  sprachen  unterscheiden  die  genanten  redeteile 
mer  oder  minder  durch  die  lautliche  gestaltung  des  Wortes,  wäre  erst 
dann  beantwortet,  wenn  sämtliche  bis  jetzt  zugänglich  gewordene 
sprachen  auf  den  unterschid  von  verbum  und  nomen  betrachtet  worden 
wären.  Teils  feien  mir  hierzu  die  hilfsmittel,  teils  bin  ich  durch  andere 
arbeiten,  zu  denen  ich  mich  verpflichtet  habe,  ab  gehalten,  mich  ferner- 
hin mit  disem  gegenstände  zu  beschäftigen.  So  möge  es  mir  denn 
verstattet  sein ,  die  vor  ligende  abhandlung ,  an  der  ich  ab  und  zu  seit 
mereren  jaren  gearbeitet  habe,  in  unvollendeter  gestalt  zu  veröffent- 
lichen. Yilleicht  ist  sie  auch  so  nicht  one  alles  interesse  und  eine  völ- 
lige erschepfung  des  materials  ist  ja  auf  disem  gebiete  onehin  eine 
sache  der  Unmöglichkeit.  Ist  der  von  mir  ein  genommene  standpunct 
der  betrachtung  ein  solcher,  der  für  die  erkentnis  des  wesens  der 
spräche  erspriefslich  ist,  so  werden  sich  hoffentlich  andere  finden, 
welche  die  grofsen  von  mir  gelafsenen  lacken  aufs  fallen. 

Die  im  folgenden  als  quellen  benuzten  werke  verdanke  ich  zum 
grofsen  teile  der  gute  gelerter  freunde  und  gönner ,  vor  allem  den  Her- 
ren Akademikern  Böhtlingk,  Kunik,  Scbiefner  in  St.  Petersburg,  ferner 

34* 


500  Vorwort. 

Herrn  H.  C.  von  der  Gabelentz  auf  Poschwitz  bei  Altenburg,  Herrn 
G.  E.  Eurön  in  Abo ,  Herrn  B.  H.  Hodgson ,  früher  British  Minister  at 
the  Court  of  Nepal  in  Darjeeling,  jezt  in  Glostersbire ,  Herrn  W.  Bleek 
in  Capstadt  u.  a.  Inen  allen  herzlichsten  dank  für  die  Förderung  meiner 
Studien. 

Die  Umschreibung  fremder  sprachen  gab  ich  teils  nach  meiner  art, 
teils  nach  der  der  benuzten  quellen.  Auch  die  bekanteren  alphabete 
glaubte  ich  mit  Umschreibung  versehen  zu  müfsen,  um  dise  Unter- 
suchung auch  solchen  zugänglich  zu  machen,  die  nicht  glottiker  von 
fach  sind. 

Jena,  im  September  1864. 


Aug.  Schleicher. 


Die  folgende  Untersuchung  soll  nach  weisen,  dafs  von  einer  aozal 
in  belracbl  genommener  sprachen  die  t rennung  von  nomen  und 
verbum  in  der  lautlichen  form  nur  im  Indogermanischen 
volkommen  durch  gefürt  ist,  dafs  folglich,  wenn  der  vom  Indo- 
germanischen her  genommene  begriff  von  nomen  und  verbum  fest  ge- 
halten wird,  die  Unterscheidung  diser  beiden  Wortarten  nichts  alge- 
meines ,  der  spräche  als  solcher  zu  kommendes ,  sondern  vilmer  eine 
besonderbeit  einzelner  sprachen ,  warscheinlich  sogar  eine  dem  Indo- 
germanischen aufsschliefslich  zu  stehende  eigentttmlichkeit  ist. 

Wir  werden  in  der  folgenden  darstellung  zunächst  nur  die  laut- 
form, die  durch  den  laut  zur  erscheinung  kommende  gestaltung  des 
Wortes  ins  äuge  fafsen. 

Ehe  ich  mich  zum  gegenstände  selbst  wende,  mag  jedoch  eine 
frage  erörtert  werden 9  die,  in  unserem  sinne  beantwortet,  die  folgende 
Untersuchung  für  das  wesen  der  spräche  ungleich  bedeutsamer  erschei- 
nen läfst,  als  im  entgegen  gesezten  falle.  Es  fragt  sich  nämlich ,  ob  die 
lautliche  form,  ob  die  morphologische  beschaffenheit  fiir  das  innere 
wesen  der  spräche,  für  die  function  mafs  gebend  ist  oder  nicht,  ob  man 
von  der  lautlichen  form  einen  sichern  schlufs  auf  die  beziehungsfunctio- 
nen  der  spräche  zu  ziehen  berechtigt  sei  oder  nicht;  genauer,  ob  da, 
wo  verbum  und  nomen  nicht  in  lautlich  gesonderter  weise  existieren, 
dise  Unterscheidung  auch  in  der  function  feie,  also  überhaupt  nicht  vor- 
handen sei ,  oder  ob  wir  ein  recht  haben ,  auch  in  solchen  sprachen» 
die  nomen  und  verbum  lautlich  nicht  unterscheiden ,  dennoch  das  Vor- 
handensein dises  gegensatzes  an  zu  nemen.  Mit  andern  Worten :  dekt 
sich  function  und  laut,  inhalt  und  form  in  der  spräche, 
oder  gibt  es  functionen  one  lautlichen  aufsdruck,  inhalt  one  erschei- 
nung des  selben  in  der  form?   Existieren  im  sprachgefttle  des 


502  Are.  Schleicher  ,  dik  Unterscheidung  von  [6 

redenden  grammatische  kalegorien,    die  der  selbe  laut- 
lich nicht  bezeichnet? 

Nach  meiner  Überzeugung  istdifs  nicht  der  fall.  Der  sprach- 
laut, die  lautliche  form  der  spräche  ist  der  körper,  die  ersebeinung  der 
funetion,  des  inhaltes  der  spräche.  Beide  kommen  nicht  von  einander 
getrent  vor,  sie  sind  stäts  und  unlrcnbar  verbunden.  Sie  sind  identisch, 
wenn  auch  natürlich  nicht  einerlei.  Wir  haben  kein  recht,  funetionen  da 
voraufs  zu  setzen,  wo  keine  lautform  ir  Vorhandensein  an  zeigt.  Auch 
in  der  spräche  läuft  nicht  der  geist,  die  funetion,  unabhängig  von  sei- 
nem leibe,  dem  laute,  sondern  er  ist  nur  in  und  durch  lezteren  wirk- 
lich vorhanden.  Unsere  anschauung  vom  wesen  der  spräche  ist  keine 
dualistische,  sondern  eine  monistische  und  nur  dise  können  wir  für  be- 
rechtigt halten. 

Wäre  die  lautform  unabhängig  von  der  funetion ,  so  mttste  man 
folgerichtiger  weise  für  alle  sprachen  eine  und  die  selbe  functionelle 
gestaltung  an  nemen,  one  rüksicht  darauf,  ob  eine  spräche  dise  fune- 
tionen sämtlich  lautlich  aufs  drükt,  oder  die  selben  nur  unvolkommen 
durch  den  laut  bezeichnet,  oder  sie  samt  und  sonders  im  laute  un- 
angedeulet  läfst.  Sämtliche  sprachen  wären  sich  dann  funclionell  we- 
sentlich gleich ;  alle  sprachen  hätten  z.  b.  nomina  und  verba,  erstere  in 
allen  casus  und  zalen,  leztere  in  allen  tempus,  modus,  zalen,  personen, 
nur  im  laute  und  in  der  form  unterschiden  sie  sich.  Um  zu  finden,  was 
denn  eigentlich  die  functionelle  gestaltung  der  spräche  bilde,  welche 
beziehungen  die  spräche  zu  enthalten  habe,  hätte  man  zwei  vvege. 
Entweder  mttste  man  aufs  den  lautlich  aufs  gedrükten  funetionen  aller 
sprachen  jenes  sprachideal  zusammen  stellen  —  an  sich  schon  eine 
bare  Unmöglichkeit ,  da  sich  die  sprachen  in  diser  beziehung  nicht  so 
verhalten,  dafs  man  die  in  inen  aufs  gedrükten  beziehungsfunetionen 
summieren  kann ,  sondern  vilmer  oft  so,  dafs  die  art  und  weise  der  ei- 
nen spräche  die  der  andern  aufs  schliefst  — ,  wobei  man  sich  sogleich 
in  den  Widerspruch  verwickelt ,  dafs  man  doch  widerum  nur  die  laut- 
lich aufs  gedrükten  funetionen  in  rechnung  zu  bringen  vermag,  weil  man 
nur  von  disen  etwas  wifsen  kann.  Da  ja  aber  nach  der  voraufssetzung 
der  laut  nicht  für  die  funetion  mafs  gebend  sein  soll,  so  könten  ja 
möglicher  weise  funetionen  existieren ,  die  zufällig  in  keiner  bekanten 
spräche  lautlich  erscheinen.  Oder  man  müste  dise  innere,  vom  laute 
unabhängige  spräche  rein  a  priori ,  one  alle  rüksicht  auf  das  in  den  ge- 


7]  Nomen  und  Vbrbum  in  der  lautlichen  Form.  503 

gebenen  sprachen  wirklich  vor  ligende ,  construieren ;  ein  unternemen, 
defsen  unaufsfürbarkeit  leicht  ein  zu  sehen  ist  und  das  in  einer  beob- 
achtungswifsenscbaft,  wie  difs  die  sprachwifsenschaft  ist,  völlig  unstatt- 
haft und  methodewidrig  wäre.  Man  müste  z.  b.  eine  bestirnte  anzal  von 
casus,  numerus,  genus,  personen,  modus,  tempus  u.s.  f.  als  mit  dem 
begriffe  der  spräche  notwendig,  gesezt  statuieren  und  behaupten ,  der 
sprechende  fttle  dise  sämtlich,  nur  drücke  sie  die  und  die  spräche  nur 
teilweise  oder  gar  nicht  lautlich  aufs.  Da  nun  manche  sprachen  im 
aufsdrucke  mancher  beziehungen,  z.  b.  der  personalunterschide,  der 
casus ,  ganz  besonders  reich  sind ,  so  käme  man  gleich  hierbei  in  Ver- 
legenheit, indem  man  sich  die  frage  zu  beantworten  hätte:  ist  diser 
reichtum  der  spräche  wesentlich  oder  nicht.  Im  ersteren  falle  ent- 
spräche dann  villeicht  nur  eine  einzige  spräche  der  erde  dem  urbilde 
im  zweiten  wäre  man  in  die  bedenkliche  läge  versezt,  zu  entscheiden, 
wie  vil  die  und  die  spräche  des  guten  zu  vil  tue.  Kurz,  wie  man  sich 
auch  wenden  mag,  so  wie  man  die  innere  spräche  von  der  lautsprache 
trent,  komt  man  auf  Widersprüche  und  unlösbare  schwirigkeiten. 

Was  ein  einer  uns  fremden  spräche  an  gehöriges  individuum  beim 
sprechen  fiilt,  können  wir  dann  gar  nicht  wifsen,  wenn  die  lautform 
der  spräche  uns  nicht  als  mafsslab  für  das  sprachgefttl  selbst  dienen 
kann. 

Es  läfst  sich  aber ,  so  bedünkt  mich ,  auf  dem  wege  der  beobach- 
tung  gerade  zu  nach  weisen,  dafs  die  functionelle  gestaltung  der  sprä- 
che, die  innere  form  der  selben  bei  verschidenen  sprachen  verschiden 
ist  und  zwar,  dafs  dise  verschiden  hei  t  völlig  der  durch  die  laute  und 
formen  aufs  gedrükten  verschidenheit  entspricht. 

Wenn  z.  b.  der  genusunterschid  unter  die  einer  spräche  zu  kom- 
menden grammatischen  kategorien  zu  rechnen  ist,  so  müste  also  jeder 
redende  mensch  ein  geftll  für  den  genusunterschid  besitzen ,  also  auch 
diejenigen  Völker ,  deren  sprachen  disen  unterschid  nicht  aufs  drücken, 
z.  b.  Chinesen,  Tataren,  Finnen.  Dafs  difs  nicht  der  fall  ist,  wird  jeder 
bemerken,  der  z.  b.  einen  Chinesen  sich  ab  mühen  hört,  eine  unserer 
das  genus  unterscheidenden  sprachen ,  z.  b.  französisch ,  zu  sprechen. 
Doch  wir  brauchen  uns  nicht  auf  fremde  völkerstämrae  zu  berufen ,  wir 
können  mit  unserem  eigenen  sprachgefüle  versuche  an  stellen.  Unser 
slawischer  nachbar  sondert  in  einigen  formen  das  masculinum  in  ein 
belebtes  und  ein  unbelebtes.    Die  berechtigung  solcher  Unterscheidung 


504  Aug.  Scblsicb»,  die  Unteisch  Biomo  vor  [8 

wird  mau  schwerlich  in  abrede  stellen  können ,  ist  sie  doch  im  wegen 
der  dinge  volkommen  begründet.  Ist  dem  also ,  ist  die  Scheidung  von 
belebt  und  unbelebt  der  spräche  als  solcher  zu  kommend ,  so  m Osten 
wir  Deutsche  beim  sprechen  disen  wol  berechtigten  unterschid  doch 
eben  so  gut  fülen  als  der  Slawe ,  wenn  wir  dem  selben  auch  keiaen 
hörbaren  aufsdruck  verleihen.  Ist  difs  auch  wirklich  der  fall?  Nein,  soq- 
dem  wir  fülen  bei  Worten  wie  'der  balken,  der  bäum,  der  band,  der 
son'  u.  8.  f.  nur  ein  und  das  selbe  grammatische  genus.  Auch  fragt  es 
sich ,  um  beim  genus  stehen  zu  bleiben ,  welche  genusunteiischide  der 
spräche  als  solcher  zu  kommen  9  ob  etwa  die  zufällig  uns  gelaufige  son- 
derung van  mascul.,  femininum  und  neutrum,  oder  die  des  Namaqua  in 
masculinum,  femininum  und  commune,  oder  etwa  nur  die  in  masculinotn 
und  femininum,  oder  eine  sonderung  des  belebten  oder  unbelebten,  oder 
etwa  die  zal reicheren  genusunterschide  des  Thußch  oder  der  südafrika- 
nischen Bäntu- sprachen?  Wo  ist  hier  mafs  und  richtschnur  zu  finden, 
um  aufs  der  fülle  des  in  den  sprachen  vor  ligenden  und  des  nach  disen 
analogien  denkbaren  das  heraufs  zu  sondern,  was  zum  wesen  der 
spräche  gehört?  Wolle  man  aufs  allen  in  den  sprachen  wirklich  vor- 
handenen genusunterschiden  ein  compliciertes  System  der  genusunter- 
schide entwerfen  als  das  im  innern  wesen  der  spräche  begründete ,  so 
würde  man  auf  die  schwirigkeit  stofsen ,  dafs  verschidene  genusarten 
verschidener  sprachen  sich  nicht  mit  einander  vereinigen  lafsen.  Ein 
und  der  selbe  begriff,  eine  und  die  selbe  anschauuag  geht  ferner  in 
verschidenen  sprachen  ser  oft  unter  verschidenem  grammatischen  ge- 
nus. Was  hier  beispilsweise  vom  genus  gesagt  ward,  gilt  aber  von 
allen  andern  grammatischen  beziehungen  nicht  minder.  Ich  will  nur 
noch  an  einem  beispile  die  sache  zur  anschauung  bringen.  Wir  Deutsche 
haben  in  unserer  spräche  nur  eine  einzige  form  fürs  praeterilum ,  der 
Grieche  hat  deren  drei,  imperfectum,  aorist,  perfectum ;  eine  Scheidung, 
die  doch  gewiß  wol  berechtigt  ist  und  die  der  griechischen  spräche 
wesentlich  zur  zierde  gereicht.  Lebte  nun  in  uns  Deutschen  die  selbe 
sonderung  des  praeteritum  in  imperfectum ,  aorist ,  perfectum  und  käme 
sie  bei  uns  nur  zufällig  nicht  zur  lautlichen  erscheinung ,  so  könten  wir 
uns  z.  b.  beim  übersetzen  aufs  dem  deutschen  ins  griechische ,  wo  nun 
die  lautlichen  formen  für  die  in  uns  als  lebendig  voraufs  gesezte  drei- 
fache auffafsung  des  praeteritum  vor  ligeu ,  niemals  im  gebrauche  der 
tempusformen  irren.   Dafs  lezteres  aber  tatsächlich  der  fall  ist,  bedarf 


9]  NOMRN  UND  YfiUUM  IN  WER  LAUTLICHEN   FORM  SOS 

keines  nachweises.  Bei  disem  lezleren  beispile  könte  man  noch  darauf 
hin  weisen ,  dafs  in  unserem  sprachgefille  der  unterschid  jener  drei 
bezieh ungen  der  Vergangenheit  noch  lebendiger  sein  dürfte,  da  in  der 
urzeit  die  formen  des  imperfects,  des  aorists  und  des  perfects  allen 
indogermanischen  sprachen  gemeinsam  zu  kamen  und  noch  im  alteren 
deutsch  durch  den  gegensatz  der  verba  perfecta  und  imperfecta  etwas 
jenem  im  griechischen  erhaltenen  unterschied  änlicbes  aufs  gedrttkt 
werden  koote.  Trotz  alle  dem  ist  aber  in  unserer  jetzigen  spräche  nur 
ein  praeteritum  vorbanden ,  bei  dem  wir  nichts  anderes  Allen ,  als  eben 
ein  praeteritum. 

Gerade  so,  wie  es  uns  Deutschen  mit  einigen  grammatischen  be- 
ziebungsunterschiden  geht ,  nämlich  dafs  wir  sie  nicht  empfinden ,  weil 
uns  in  unserer  spräche  die  formen  dafür  mangeln,  geht  es  anderen 
sprachen  mit  anderen  beziehungen.  Den  sprachen  können  mer  oder 
minder  zalreicbe  beziehungen  ab  geben  und  eine  gradweise  abstufung 
fürt  in  den  sprachen  bis  zum  feien  aller  beziehung.  Wie  es  uns  mit 
dem  belebten  masculinum  und  mit  dem  aorist,  imperfeclum  und  per- 
fectum  ergeht,  gerade  so  ergeht  es  dem  Semiten  mit  dem  genus  neu- 
trum9  vilen  Völkern  mit  dem  genus  überhaupt  und  noch  andern  mit 
allen  und  jeden  beziehungen.  Sie  haben  sie  nicht  und  drücken  sie  daher 
auch  nicht  aufs.  Mit  dem  selben  rechte,  mit  welchem  ich  dem  Neu- 
Caledooier  das  gefül  grammatischer  beziehungen  zu  schreibe ,  obgleich 
sie  in  seiner  spräche  keinen  aufsdruck  finden,  könte  ich  dem  tiere,  der 
pflanze  sogar  einen  höchst  volkommenen  geist  zu  schreiben  und  be- 
haupten, dise  Organismen  könten  die  in  inen  so  gut  als  in  uns  menschen 
statt  findenden  inneren  Vorgänge  nur  nicht ,  wie  wir,  an  den  tag  legen. 
Kurz,  so  wie  man  sich  bei  gehen  läfst,  ein  inneres  leben,  sei  es  auf 
sprachlichem  gebiete  oder  auf  irgend  welchem  andern ,  an  zu  nemen, 
das  nicht  in  die  erscheinung  tritt ,  verliert  man  den  boden  unter  den 
füfsen  und  an  die  stelle  objeetiv  methodischer  forsch ung  auf  solider 
beobachlungsgrundlage  tritt  die  subjeelive  ansieht  und  die  phantasie. 

Wir  halten  demnach  an  der  Überzeugung  fest,  dafs  nichts  im  spre- 
chenden vor  geht,  was  nicht  lautlich  aufs  gedrükt  wird;  dafs  der  laut 
ein  volgiltiger  und  zwar  der  einzige  zeuge  für  die  funetion  ist  und  dafs 
also  eine  spräche  nur  die  funetionen  besizt,  welche  sie  lautlich  bezeich- 
net. Wir  nemen  also  nicht  eine  und  die  selbe  innere  sprachform  für  alle 
sprachen  an,  sondern  schreiben  jeder  spräche  nur  die  innere,  funetio- 


506  Aug.  Schleicher,  die  Unterscbeidung  von  [40 

• 

nelle  gestaltung  zu,  die  sie  zum  lautlichen  aufsdrucke  bringt.  Wir  finden 
demnach  auch  in  der  function  eine  ser  grofse  Tülle  von  vcrschidenhei- 
ten,  eben  so  wie  im  laute,  in  der  form ,  im  sazbaue  der  sprachen.  Also 
halten  wir  uns  für  berechtigt  zu  behaupten,  dafs  sprachen,  welche  z.  b. 
das  genus  nicht  lautlich  bezeichnen,  den  genusunterschid  überhaupt 
nicht  besitzen,  dafs  solche,  welche  nur  z.b.  masculinum  und  femininum 
im  laute  unterscheiden,  in  der  tat  ein  neulrum  gar  nicht  haben  und  dafs 
im  gefüle  dessen,  der  zalreichere  genusunterschide  in  seiner  spräche  aufs 
drükt,  dise  unterschide  auch  lebendig  sind.  Sprachen,  welche  no- 
mina  und  verba  lautlich  nicht  scheiden,  besitzen  also  den 
unterschid  von  nomen  und  verbum  überhaupt  nicht.  An- 
statt beider  haben  sie  eine  grammatische  kategorie,  die  sich  in  höher 
entwickelten  sprachen ,  so  im  Indogermanischen ,  nicht  findet.  In  diser 
ist  das  noch  ungeschiden  vorhanden ,  was  im  Indogermanischen  sich  zu 
zwei  gesonderten  kategorien  entwickelt  hat. 

Änlicbe  Vorgänge  zeigt  uns  die  weit  der  naturorganismen  und  an 
inen  können  wir  uns  das  wesen  solcher  erscheinungen  villeicht  an- 
schaulicher machen ,  als  in  der  weit  der  sprachen.  Es  sei  deshalb  ge- 
stattet, an  einen  solchen  Vorgang  aufs  dem  tierreiche  zu  erinnern.  Die 
höheren  liere  haben  respirationsorgane  und  verdauungsorgane.  Es  gibt 
aber  tiere  so  niderer  entwickelung,  dafs  ein  und  das  selbe  organ  beiden 
functionen  dienen  mufs.  Hier  haben  wir  also  weder  ein  respirations- 
organ,  noch  ein  verdauungsorgan,  sondern  etwas  drittes,  das  keins  von 
beiden  ist,  weil  es  beides  zugleich  ist.  Wir  haben  hier  aber  auch  weder 
einen  respirationsprocess  noch  einen  verdauungsprocess  derart,  wie 
bei  denjenigen  tiere n,  die  für  jede  diser  physiologischen  functionen  aufs- 
schliefslich  bestirnte  Organe  besitzen.  Gerade  so  verhält  es  sich  mit 
nomen  und  verbum  in  den  sprachen. 

Wenn  ich  in  der  Überschrift  diser  abhandlung  die  an  zu  stellende 
betrachlung  der  sprachen  aufsdrüklich  auf  ire  lautliche  form  beschränkt 
habe,  so  geschah  difs  hauptsächlich  deshalb,  weil  ich  nicht  darauf  ein 
gehen  will,  die  function  solcher  bildungen,  die  weder  dem  nomen,  noch 
dem  verbum  im  indogermanischen  sinne  entsprechen ,  begriflicb  näher 
zu  entwickeln  und  zu  bestimmen.  Das  hier  einleitungsweise  aufs  ge- 
fürle  solte  nur  dazu  dienen,  für  die  lautform  eine  hohe  bedeutsamkeit 
für  das  wesen  der  spräche  überhaupt  in  anspruch  zu  nemen  und  somit 
von  unserer  Untersuchung  den  Vorwurf  ferne  zu  halten,  als  beschäftige 


**]  NOMBN  UND  VfCRBUM  IN  DER  LAUTLICHEN  FORM.  507 

sie  sich  nur  mit  einer  mer  oder  minder  bedeutungslosen  aufsenseite  der 
spräche. 

Einen  einwurf  gegen  den  salz,  dafs  nichts  in  der  function  vorhan- 
den ist,  was  nicht  auch  im  laute  erscheint,  könte  man  von  der  beob- 
achtung  her  nemen,  dafs  lautlich  gleiche  bedeutungslaute  (wurzeln) 
tiicht  selten  ganz  verschidene  bedeutungen  haben.  Bekantlich  ist  difs  in 
aufs  gedentester  weise  im  Chinesischen  der  fall ,  doch  bieten  auch  an* 
dere  sprachen  v  auch  das  Indogermanische ,  dergleichen  fälle.  So  haben 
wir  im  Indogermanischen  würz,  pa  lueri  und  würz,  pa  bibere ,  würz,  i 
ire  und  würz,  i  pronomen  demonstrativum ,  würz,  ta  extendere  und 
würz,  ta  pronomen  demonstrativum  und  anderes  der  art.  Von  derglei- 
chen gleich  lautenden  wurzeln  ist  jedoch  eine  scheinbar  verwante  er- 
scheinung  bei  den  beziehungslauten  sorgfältig  zu  unterscheiden.  Wenn 
z.  b.  die  stambildungssuffixa  -as,  *ti,  'tu  im  Indogermanischen  so  wol 
nomiua  aclionis  als  nomina  agentis  bilden,  so  beruht  dise  erscheinung 
nur  darauf,  dafs  zur  zeit,  da  dise  formen  entstunden,  die  function  der 
selben  eine  noch  nicht  näher  bestirnte,  eine  algemeinere  war,  die  bei- 
des in  sich  vereinigte.  Das  factum  läfst  sich  aber  keines  falles  in  abrede 
stellen,  dafs  ein  und  die  selbe  lautverbindung  als  wurzel  verschidene 
bedeutungen  in  sich  vereinigen  kann ,  die  sich  nicht  auf  eine  gemein- 
same  grundbedeutung  zurück  füren  lafsen.  Es  ist  jedoch  eine  ganz 
andere  sache,  ob  z.  b.  die  lautverbindung  pa  zugleich  'trinken'  und 
'beschützen'  bedeutet,  oder  ob  man  an  nimt,  dafs  eine  function,  die 
lautlich  gar  nicht  aufs  gedrükt  wird ,  im  geiste  des  redenden  dennoch 
vorhanden  sei.  Darüber,  dafs  das  eine  mal  pa  'trinken',  das  andere  mal 
'beschützen,  beherscben'  bedeute,  darüber  läfst  die  lebendige,  gespro- 
chene Sprache  nicht  im  zweifei.  Die  bedeutungsfunction  ist  ja  auch  hier 
stäts  aufs  gedrükt,  wenn  auch,  wie  es  scheint,  rein  zufällig  beide  male 
auf  ein  und  die  selbe  weise.  Wir  reden  hier  aber  davon,  ob  es  bezie- 
hungsfunctionen  gebe,  die  lautlich  gar  nicht  zur  erscheinung  kommen 
und  dafür  legen  verschidene  wurzeln  gleicher  laute  kein  zeugnis  ab. 

Wenden  wir  uns  nun  zum  gegenstände  selbst. 

Vor  allem  ist  es  nötig,  die  begriffe  verbalform  und  nominalform 
scharf  zu  fafsen.  Wir  können  hierbei  lediglich  vom  Indogermanischen 
aufs  gehen,  einmal  weil  uns  hier  eine  tiefer  gehende  erkentnis  der 
sprachformen  zu  geböte  steht  und  diser  erkentnis  zugleich  das  lebendige 
sprachgefül  zur  seite  geht,  sodann  weil,  wie  sich  bald  zeigen  wird,  von 


508  Aig.  Schleicher,  ixe  Unterscheidung  von  [12 

deo  hier  betrachteten  sprachen  nur  im  Indogermanischen  verbalformen 
und  nominalformen  wirklich  durch  greifend  geschiden  sind.  *) 

Indogermanisch. 

Im  Indogermanischen  sind  die  worte  nomina,  welche 
ein  casussuffix  haben,  die  worte  sind  verba,  welche  ein 
personalsuffi  &  haben.  Es  versteht  sich,  dafs  der  Sachverhalt  ganz 
der  selbe  wäre,  wenn  die  casus-  und  personal  -  elemente  nicht  gerade 
als  suffixa  erschinen;  die  Stellung  tut  ja  nichts  zur  sache.  Dafs  in  spä- 
teren perioden  des  Sprachlebens  in  den  indogermanischen  sprachen  ser 
häufig  casussuffixa  und  personalendungen  geschwunden  sind ,  dafs  sol- 
cher abfall  in  manchen  fällen  schon  frühe  ein  getreten  ist  (z.  b.  urspr. 
bharä-mi,  altind.  bhärä-mi,  altbaktr.  barä-mi  und  darneben  auch  barä, 
g riech,  (ptgo)  für  *q>d(jci>-fu9  lat.  fero  für  *ferö-mi)**),  möglicher  weise  in 
vereinzelten  formen  sogar  bereits  in  der  lezten  periode  der  einen,  allen 
übrigen  zu  gründe  ligenden  indogermanischen  Ursprache  (z.  b.  bhmra 
villeicht  für  *bhara-dhiy  vgl.  altind.  bhära,  altbaktr.  bara,  griech.  qpqp«, 
lat.  fer,  got.  bair;  aber  bei  anderen  praesensstammaufslauten  ist  das  alte 
-dhi  als  personalsuffix  erhalten,  z.  b.  urspr.  as-dhi,  altind.  e-dhi>  griech. 
k-Oi;  urspr.  akvä  nom.  sing.,  villeicht  für  akva-s,  vgl.  altind.  ägvä,  lat 
equa  u.  s.  f.,  sämtlich  one  das  -s  des  nominativs),  hebt  die  an  die  spitze 
gestehe  definition  nicht  auf;  dise  secundären  Veränderungen  können  hier 
natürlich  gar  nicht  in  betracht  kommen.  Will  man  die  oben  fürs  Indo- 


*)  Nicht  scharf  und  deutlich  genug  hat  den  unterschid  von  nomen  und  verbum 
im  Indogermanischen  erfafst  Max  Müller,  Classification  of  Turanian  ianguages  §  2; 
§4  —  7,  wo  er  über  disen  unterschid  spricht  und  neben  vilem  treffendem  und  bee- 
rendem auch  manches  nach  unserer  ansieht  verfeite  gibt.  Ich  kann  jedoch  auf  eine 
besprechung  des  einzelnen  und  auf  eine  Widerlegung  dessen ,  was  ich  für  unrichtig 
halte,  hier  nicht  ein  gehen.  Manches  ergibt  sich  aufs  unserer  folgenden  darstellung,  so 
z.  b.  dafs  wir  Mai  Müller  nicht  bei  pflichten  können,  wenn  er  vermutet,  dafs  ur- 
sprünglich im  Indogermanischen  das  verbum  durch  Verdoppelung  des  anfangsbueb- 
slaben,  im  Semitischen  aber  durch  Verdoppelung  des  endbuchstaben  und  hinzufügung 
des  dritten  lautes  überhaupt  vom  nomen  geschiden  worden  sei.  Dise  form  der  redu- 
plication  ist  überhaupt  später ,  das  älteste  war  offenbar  die  widerholung  der  ganzen 
Wurzel ;  auch  ligt  der  unterschid  von  verbum  und  nomen  nicht  in  den  starobU- 
dungselemenlen ,  sondern  in  den  zu  den  stammen  hinzu  tretenden  wortbildungs- 
elementen. 

**)  Mit  *  bezeichnen  wir  erschlofsene ,  nicht  aufs  den  sprachen  selbst  belegbare 
formen. 


* 3]  Nomen  uro  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  S09 

germanische  in  seiner  urforra  gegebene  definilion  von  nomen  and  ver- 
bum  ftlr  die  wirklieb  vor  ligenden  sprachen  dises  Stammes  passend  ma- 
chen, so  hat  man  zu  sagen :  nomina  sind  im  Indogermanischen 
diie  worte,  welehe  ein  casussuffix  haben  oder  hatten; 
verba  sind  die  worte,  welche  eine  personalendung  haben 
oder  hatten.  Mit  aufsschlufs  der  echten  interjeetionen, 
die  außerhalb  der  spräche  stehen  nnd  als  lantgebärden  zu  betrachten 
sind,  und  der  vocative,  welche  nominalstämme  sind,  die  die  form 
von  interjeetionen  an  genommen  haben,  geht  die  indogermanische 
spräche  in  nomen  und  verbum  one  rest  auf.  Alle  indogerma- 
nischen worte  sind  oder  waren  doch  ursprünglich  entweder  nomina 
oder  verba.  Adverbia  und  die  als  meist  verkürzte  adverbia  zu  fafsen- 
den  praepositionen ,  conjunetionen  und  partikeln  überhaupt  sind  ur- 
sprünglich meist  casus  formen,  vil  seltner  verbalformen,  wie  difs  nunmer 
wol  als  algemein  bekant  und  anerkant  an  genommen  werden  darf. 

Ein  wortstamm  ist  im  Indogermanischen  als  solcher  kein  lebendi- 
ges sazglid,  wie  das  wort  (nomen  oder  verbum),  sondern  ein  wissen- 
schaftliches praeparat  (z.  b.  bhara,  tanu  u.  s.  f.);  auf  dafs  er  sazglid, 
wort  werde,  bedarf  er  eines  casussuffixes  (z.  b.  nom.  sg.  bhara-8,  tanu-s, 
acc.  sg.  bhara-m,  tanu-m)  oder  einer  personalendung  (z.  b.  III.  sg. 
bhara -ti,  tanau-ti;  I.  plur.  tanu-masi),  wodurch  er  im  ersteren  falle 
zum  nomen,  im  zweiten  zum  verbum  wird.  In  den  stammen  ligt 
der  unterschid  von  verbum  und  nomen  nicht.  In  allen  spra- 
chen also,  in  welchen  nakte  stamme  zugleich  als  worte  erscheinen  kön- 
nen ,  ist  eine  tief  gehende  verschidenheit  vom  Indogermanischen  nicht 
zu  verkennen. 

Der  unterschid  von  nomen  und  verbum  ist  demnach  im  Indoger- 
manischen volkommen  deutlich  und  durch  gefllrt.  Die  oben  gegebene 
definition  von  nomen  und  verbum  halten  wir  fürs  folgende  fest« 

Ehe  wir  uns  zu  den  andern  sprachen  wenden,  wollen  wir  uns 
noch  in  übersichtlicher  kürze  die  art  und  weise  der  declination  (nomi- 
nalbildung)  und  conjugation  (verbalbildung)  des  Indogermanischen  und 
zwar  die  erreichbar  älteste  form  der  nomina  und  verba  vergegenwärti- 
gen. *)    Wegen  der  schwirigkeiten ,  welche  in  den  meisten  casus  und 


•)  Eine  kurze  darstellung  der  indogermanischen  conjugations-  und  decllnations- 
formen  glaubte  ich  um  so  weoiger  hinweg  lafsen  zu  dürfen,  als  die  vor  ligende  ab- 


510 


Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von 


[« 


personen  einer  sicheren  ermittelung  der  ältesten  dualformen  entgegen  tre- 
ten, müfsen  wir  disen  numerus  im  folgenden  merfacb  lückenhaft  lafsen. 
I.  ein  a-stamm,  bhara  (würz,  bhar  ferre,  stambildungssufßx  a). 

als  nomen  als  verbum  (indicat.  praesentis  activi) 

Singular. 

mascul.  neutrum  femininum 

I.pers.  bharcMni 


nomin. 


accus. 

ablativ. 

genitiv. 

locativ. 

dätiv. 


bkaras;     bharäs 
neutr.  feit. 

bhara-m     bharä-m 


bharä-t  bharä-t 
bhara-sja  bharä-s 
bhara-i 
bhara-ai 


instrum.  I.  bhara-ä 


bhara-i 
bhara-ai 
bhara- ä 


H.pers.  bhara-si 
III.  pers.  bhara-ti 

Nominativ  und  accusativ  der  entspre- 
chenden pronomina: 

I.  pers.  agam  (vill.  agham),  ma-m 

II.  pers.  tu-am  (vill.  tu),  tva-tn 
instrum.  IL  bhara- bhi  bharä-bhi    III.  pers.  ta*8,  fem.  tä-s;  ta-m,  fem.  tä-tn 

Dual, 
nom.  acc.        bharä-(s)äs*)    bharari?  I.  pers.  bharär-vasi 

gen.  loc.  ?  ?  Die  übrigen  personen,  so  wie 

dat.  abl.instr.  bhara-bhjäms   bharä-bhjäms  die  entsprechenden  prominal- 

formen  des  persönl.  prono- 
mens  können  in  irer  ältesten 
form  nicht  ermittelt  werden. 

Plural. 

I.  pers.  bharä-masi 

II.  pers.  bhara-tasi 
III.  pers.  bhara-nti 

Entsprechende  pronomina : 

I.  villeicht  vom  stamme  ma-ma 
od.  a*ma 

II.  vill.  von  tva-sma  od.  ju-sma 

III.  nom.  msc.  ia-i,  fem.  tä-sas; 
acc.  msc.  ta-ms,  ntr.  tä,  fem. 
tä-ms. 


nom. 


bhara- sa  8        bharäsa-8 
neutr.  feit. 

bhara-m-s  bharä-m-s 

neutr.  bharä 

bharasäms      bharä-säm-s 
vill.  bharäm['S)  bharäm-fa) 

bhara-8va(-s)     bhara- sva(-8) 

dat.  ab\.bhara-bhjam-8  bharä-bhjam-s 

instr.      bhara-bhi-s      bharä-bhi-8 


acc. 


genit. 


locat. 


handtung  nicht  nur  für  den  gloltiker  von  fach ,  sondern  auch  für  anthropologen  und 
Philosophen  einiges  interesse  haben  dürfte.  Bei  disen  können  wir  aber  keine  kentnis 
diser  dinge  voraufs  setzen  und  das  verweisen  auf  andere  bücher  ist  stöts  unbequem 
für  den  leser  und  erschwert  namentlich  dem  die  sache ,  dem  die  an  gefürten  werke 
nicht  zur  band  sind.  —  Genaueres  über  das  indogermanische  verbum  und  nomen 
kann  man  in  meinem  compendium  finden. 

*)  Mutmafslich  ser  früh  aufs-  oder  ab  gefallene  laute  sind  in  klammern  gesezt. 


45] 


Nomen  und  Vbrbum  in  der  lautlichen  Form. 


511 


II.  ein  u-stamm,  tanu  (würz,  ta  extendere,  sufF.  nu). 

als  nomeo  (masc.  fem.)  als  verbum  (indic.  praes.  activi) 

Singular. 

I.  pers.  tanau-tni 
II.  pers.  tanausi 
III.  pers.  tanau-ti 

Den  dualis  wollen  wir  der 
kurze  wegen  hier  übergehen. 


nom. 

tanus 

acc. 

tanu*m 

ablat. 

tanav-at 

genit. 

tanav-as 

locat. 

tanav-i 

dat. 

tanav-ai 

instr. 

I.    tanu-ä 

instr. 

II.  tanu-bhi 

nom. 

tanu-sas  od. 

tanav-as 

acc. 

tanu-m-8 

u.  s.  w. 

Plural. 


I.  tanu-masi 
II.  tam-tasi 
III.  tanu-anti 


Der  plural  der  nomina  wird  also  durch  ein  an  das  casussuffix  tre- 
tendes 8  gebildet,  wärend  im  plural  des  verbums  aller  warscheinlichkeit 
nach  gehäufle  personalendungcn  (I.  pers.  -ma-si  =  ich  und  du,  II.  pers. 
-ta-si  =  du  und  du ,  III.  pers.  an-ti  =  er  und  er  —  an  von  einem  an- 
dern pronominalstamme  der  III.  person  — )  vor  ligen. 

III.  ein  consonantischer  stamm,  vak,  als  nominalstamm  väk  (die  Stei- 
gerung von  a  zu  ä  ist  aber  nicht  für  die  nominalbildung  wesentlich; 
würz,  vak  loqui). 


als  nomen 
väk  (femin.) 

nom.  väk-8 
acc.    väk-am 
abl.     väk-at 
gen.    väk- as 
u.  s.  f. 


Singular. 


als  verbum 
vak  (indic.  praes.  activi) 

I.  pers.  vak-mi 
II.  pers.  vak-si 
III.  pers.  vak-ti 
u.  s.  f. 


Aufser  den  personalendungen  des  aclivs  hat  das  Indogermanische 
noch  die  des  mediums,  die,  wie  es  scheint,  durch  Verdoppelung  gebil- 
det sind.  Z.  b. 


512 


Acg.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von 


[46 


I.  pers.  sing,  bharä-ina-mi 

II.  pers.  sing.  bhara-sa-si    \ 
III.  pers.  sirig.  bhara-ta-li    - 

III.  pers.  plur.  bhara-nta-nti 


<pe'po/Lict(jLi)i  (ich  trage  toir  od.  mich) 
*<pe'(>€oa(o)i  (du  trägst  dir  od.  dich) 

cp€^era(r)i  (er  trägt  sich) 
(ptgovra(vr)i.  (sie  tragen  sich) 


An  gewisse  terapus-  tmd  modusstämme  tretetf  ab  gekürzte  formen 
der  personalendungen,  z.  b.  optativstamm  praesentis  bhara-i: 


Activum 

I.  bharai-m 
II.  bharai'8 
III.  bharai-t 

f.  bharauvas 
II.  III.  ? 

I.  bharai-mas 
IL  bharai-las 
III.  bharai-nt 


Singular. 


Dual. 


Medium 

bharauma(m) 

bharai-sa{s) 

bharai-ta(t) 

bharai-vadha 


Plural. 


bharaumadha 
bharausdkva  ? 
bharai-nta(nt). 


Auch  der  imperativ  hat  personalendungen ,  wenn  auch  in  der  II. 
sing.,  die  villeicht  die  einzige  uralte  Imperativform  ist,  in  einer  von  den 
übrigen  modus  ab  weichenden  form;  II.  sing,  imperativi  activi  bhara- 
*(dhi),  tanu-dhi,  vak-dhi.  Das  perfectum  und  die  übrigen  praeteritalfor- 
men  unterscheiden  sich  in  iren  personalendungen  nicht  wesentlich  von 
den  andern  verbalstämmen,  z.  b.  perfectstamm  vivid  (würz,  vid  videre): 


Activum 

I.  viväid-(m)a 
II.  viväidrta 
III.  viväid-(t)a 

I.  vivid'vasi 

ii.  ni.  ? 

I.  vivid-masi 

II.  vivid-iasi 
III.  vivid-anti 


Singular. 


Dual. 


Medium 

vivid-mafäi 

vivid'tafyi 

vivid-ta(t)i 

vivid'Vadhai 


Plural. 


vivid-madhai 
vividsdhvai? 
vivid-antai. 


47]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  S13 

Mag  im  vor  stehenden  auch  manches  zweifelhafte  oder  von  mir 
geradezu  nicht  richtig  erschlofsene  mit  unter  gelaufen  sein ,  so  ist  es 
doch  gegenüber  der  anzal  der  völlig  sicher  erschliefsbaren  formen  one 
belang. 

Namentlich  hebe  ich  als  wichtig  hervor  1)  die  völlige  verschiden- 
heit  in  der  pluralbildung  bei  den  nominibus  und  verbis;  2)  den  um- 
stand ,  dafs  auch  die  zweite  person  des  imperativs  ein  personalsuffix 
zeigt ;  3)  die  völlige  abweichung  der  am  verbum  als  personalbezeich- 
nung  auf  tretenden  pronominalen  elemente  von  den  formen  der  selb- 
ständigen pronomina ;  4)  die  wesentliche  Übereinstimmung  der  person- 
bezeichnung  bei  allen  verbalstammen;  5)  die  abwesenheit  von  posses- 
siven pronominalsuffixen ;  6)  den  umstand ,  dafs  auch  der  nominativus 
singularis  und  pluralis  ein  casuszeichen  hat;  7)  endlich  wolle  man  nicht 
übersehen,  dafs  bereits  in  der  indogermanischen  Ursprache  sich  ein 
wirkliches  verbum  substantivum  entwickelt  hatte,  dafs  es  eine  verbal- 
wurzel  gab,  welche  schon  in  der  vorzeit  unseres  Stammes  bis  zur  func- 
tion ,  die  bedeutung  des  reinen  seins  aufs  zu  drücken,  gelangt  war,  die 
wurzel  as.  Den  sichersten  beweis  hierfür  lifern  die  bereits  für  die  Ur- 
sprache nachweisbaren  mit  diser  wurzel  zusammen  gesezten  tempora 
(das  futurum  und  der  zusammen  gesezte  aorist  z.  b.  dasjämi  aufs  da-as« 
jämi,  dwaw;  a-diksa-m,  edei£a. 

Wie  steht  es  nun  mit  der  Unterscheidung  voh  nomen  und  verbum 
in  andern  hinlänglich  zugänglichen  sprachen? 

Da  wir  vom  Indogermanischen,  der  volkommensten  unter  den  be- 
kanten  (und  sicherlich  auch  unter  den  noch  nicht  bekanten)  sprachen 
aufs  gehen ,  so  werden  wir  natürlicher  weise  zunächst  diejenigen  spra- 
chen unter  dem  angegebenen  gesichtspuncte  mit  im  zusammen  halten, 
welche  mit  dem  Indogermanischen  am  meisten  morphologische  änlich- 
keit  haben.  Zunächst  werden  wir  also  das  Semitische  vor  nemen ,  weil 
dises  allein  mit  dem  Indogermanischen  die  wurzelform  R1  (d.  h.  zum 
zwecke  des  beziehungsaufsdruckes  regelmäfsig  steigerbare  wurzel)  teilt. 
Sodann  mögen  die  sprachen  der  form  Rs  (d.  h.  unveränderliche  wurzel 
mit  suffixen)  folgen  (das  indogermanische  wort  bat  durchweg  die  form 
RJ).  Zwischen  beide  haben  wir  das  Koptische  ein  geschalten,  weil 
dises  in  manchem  wenigstens  an  die  flexion  (Rx)  erinnert.  Nach  den 
sprachen  der  form  Rs  lafsen  wir  andere  zusammenfügende  sprachen 
folgen,   so  gut  es  gehen  will  eine  motivierte  reihenfolge  ein  haltend, 

Abhaodl.  d.  K.  S.  Gesell«*,  d.  Wisseosdi.  X.  35 


514  Äug,  Schleicher,  die  Untersctjeidcng  von  [*8 

bis  wir  zulezt  bei  den  einfachsten  Sprachorganismen ,  den  so  genanten 
isolierenden  sprachen  (die  nur  wurzeln  als  worte  haben ,  sprachen  der 
formen  R,  R+r  u.  s.  f.)  an  langen.  *) 

Dise  sprachen  werden  wir  also  darauf  an  sehen ,  ob  in  inen ,  in 
änlicher  weise  wie  im  Indogermanischen,  verbum  und  nomen  zu  einem 
durch  greifenden  gegensatze  in  irer  lautlichen  gestaltung  gelangt  sind, 
d.h.  ob  sich  wäre  verba  und  wäre  nomina  in  inen  volkommen  ent- 
wickelt haben. 

Semitisch.**) 

In  ermangelung  der  semitischen  Ursprache,  welche  schwiriger  zu 
erschließen  ist  als  die  den  indogermanischen  sprachen  zu  gründe  li- 
gende  urform,  substituieren  wir  der  selben  das  Arabische,  über  dessen 
bedeutung  wir  mit  Olshausen  (Lehrbuch  der  hebräischen  Sprache, 
Braunscbweig  1861,  §  2,  b;  §  S,  a  und  sonst)  und  Wright  (a  Grammar 
of  the  Arabic  language,  translated  from  the  German  of  Caspari,  Leipzig 
1859,  vorrede  s.  X)  überein  stimmen.  Wir  gehen  hierbei  von  der  Über- 
zeugung aufs,  dafs  der  so  begangene  feler  so  unbedeutend  ist,  dafs  er 
aufs  er  ansatz  gelafsen  werden  kann  und  dafs  der  vorteil ,  mit  wirklich 
vor  ligenden  sprachformen  zu  arbeiten ,  den  nachteil  einer  geringeren 
altertümlichkeit  und  ursprünglichkeit  der  selben  auf  wigt. 

Aufs  der  Übereinstimmung  der  semitischen  sprachen  ergibt  sich 
mit  völliger  Sicherheit,  dafs  in  der  semitischen  grundsprache  bereits  die 
dreilautigkeit  die  regelntffsige  form  der  semitischen  wurzel  war.  Wir 
stehen  nicht  an ,  sogar  die  dreisilbigkeit  als  volle  form  der  semitischen 
wurzel  in  anspruch  zu  nemen.  Dafs  dise  form ,  nach  der  alle  factisch 
vor  ligenden  semitischen  wurzeln  gebildet  sind,  nicht  von  allem  anfange 


*)  Über  die  oben  gebrauchten  morphologischen  formein  vgl.  mein  compend.  der 
vergleichenden  gramm.  der  indogermanischen  sprachen  I,  Weimar  1861,  s.  2.  Für 
W  (wurzel)  setze  ich  jezt  aber  R  (radix)  in  Übereinstimmung  mit  p  (praefixum) ,  t  (in- 
flxum),  8  (suffixum);  r  bezeichnet  eine  einer  andern  wurzel  bei  gesezte  hilfs wurzel. 

**)  Um  dem  vorwürfe  der  anmafslichkeit  zu  begegnen»  den  ich  mir  etwa  dadurch 
zu  ziehen  könte,  dafs  ich  es  wage  im  folgenden  eingehender  über  das  Semitische  zu 
handeln  one  semitist  von  fach  zu  sein,  erlaube  ich  mir  die  milteilung,  dafs  ich  dem 
Studium  der  semitischen  sprachen  länger  als  ein  decennium  hindurch  eifrig  ob  gelegen 
habe ;  zuerst  auf  dem  Ko burger  gymnasium  unter  leitung  meines  vererten  lerers  For- 
berg, sodann  in  Leipzig  bei  Fleischer,  in  Tübingen  bei  Ewald  und  in  Bonn  bei  Gttde- 
meister. 


49]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  515 

an  vorhanden  war ,  gondern  ersl  im  verlaufe  der  zeit ,  warscheinlich 
durch  überhandname  einer  analogie,  geworden  sei  —  dise  wol  zimlich 
algemein  giltige  ansieht  für  nicht  treffend  zu  halten ,  komt  mir  natür- 
lich nicht  in  den  sinn.  Man  wolle  jedoch  nicht  aufs  den  äugen  lafsen, 
dafs  die  entslebung  diser  bestirnten  wurzelform  des  semitischen  wortesin 
die  uralte  periode  des  werdens  der  semitischen  grundsprache  selbst 
fält.  Daher  die  schwirigkeit  mit  sicherer  methode  über  die  dreisilbig- 
keit hinaufs  die  form  semitischer  wurzeln  zu  erschliefsen ,  die  dreisil- 
bigkeit in  eine  noch  ältere  form  zurück  zu  übersetzen.    In  semitischen 

worlformen  wie  v^  kataba,  vüu  kätibun  u.  s.  f.  sehen  wir  also  keine 

suffixa  (-a,  -un),  sondern  nur  die  voll  vocalisierte  wurzel;  denn  auch 
den  nasalierten  vocal  im  aufslaute  von  nominalformen  möchten  wir 
nicht  als  ein  suffix  -n  enthaltend  betrachten  (freilich  fallen  dabei  die 
pluralendungen  zu  bedenken).  Difs  beiläufig  und  one  weitere  begrün- 
düng,  da  es  nicht  unmittelbar  die  uns  hier  beschäftigende  frage  berürt, 
wol  aber  im  folgenden  voraufs  gesezt  wird  (vgl.  Semitisch  und  Indo- 
germanisch in  den  Beiträgen  zur  vergleich.  Sprachforschung  u.  s.  f. 
herausgegeben  von  A.  Kuhn  und  A.  Schleicher,  bd.  II,  Berlin  1861, 
s.  236  flg.). 

Das  perfectum  im  Semitischen  zeigt  in  seinen  dritten  personen  for- 
men, die  keine  personalbezeichnung  haben,  sondern  in  irer  form  mit 
nominalbildungen  zusammen  fallen.  Diser  erscheinung  werden  wir  noch 
ser  oft  begegnen.  Sie  tritt  überall  da  ein,  wo  das  verbum  kein  verbum 
im  indogermanischen  sinne ,  sondern ,  so  zu  sagen ,  eine  nominalform 
ist.  Dann  braucht  die  dritte  person ,  als  selbstverständlich ,  keine  wei- 
tere bezeichnung  und  nur  ein  Hinweis  auf  die  andern  personen  ist  nö- 
tig. Das  selbe  finden  wir  im  Indogermanischen,  wenn  auch  hier  nomina 
zum  aufs  drucke  verbaler  Verhältnisse  an  gewant  werden  (z.  b.  altind. 
dätäsmi  für  *dätärs  asmi  daturus  sum.,  däta-si  für  *dätärs  assi  daturus 
es ,  aber  data  für  *dätärs  daturus  one  weitere  bezeichnung  der  person ; 
änliches  in  andern  sprachen  unseres  Stammes).  Dafs  aber  die  dritten 
personen  des  semitischen  verbum  wirklich  von  nominalformen  völlig 

ungeschiden  sind,  ligt  auf  der  hand.    Die  III.  sg.  msc.  v^  kataba  (scri- 

psit)  ist  die  blofse  wurzel.    Die  form  steht,  wie  mich  bedankt,  in  der 

verkürzten  form  des  so  genanten  aecusativs ,  der  im  Arabischen  beim 

verbum  in  so  vilfacher  bezieh ung  gebraucht  wird  (vgl.  Ewald,  arab. 

35* 


516  Are  Schleiche!,  die  Ustoschomsg  vom  [20 


grammatik,  II.  bd.,  das  capitel  de  objecto  et  accusaüvo}.  Bei  v^tf  kataba 
ist  das  verbum  selbst ,  d.  h.  das  verbam  *  esse\  gar  nicht  vorhanden, 
nur  der  vom  begriffe  des  seins  bedingte  accosativ  wird  aufs  gedrükt. 
Der  accusaüv  steht  nämlich  im  Arabischen  zur  bezeichnung  des  praedi- 
cats  beim  verbum  0^  kana  (fait)  and  änlichen.  Die  hier  von  ans  an  ge- 
nommene aufsdraksweise  one  0^  oder  ein  änliches  wort  ist  bekantlich 

im  Arabischen  bei  der  negation  erhalten ,  z.  b.  ist  das  häufige  o^y  la 

budda  nallam  effugiam  seil,  est  od.  fait  hierher  gehörig.  In  v^  kataba 

ligt  ans  nichts  anderes  als  der  positiv  zu  einem  vJtf  S  lä  kataba  vor. 
Dafs  meistens  dise  formen  der  III.  sg.  perfecti  nur  in  diser  funetion, 
nicht  aber  außerdem  als  nomina  vor  kommen,  kann  der  aaffafsang  irer 
syntactischen  geltung  nichts  in  den  weg  legen.  Im  Hebräischen  ist  bei 
disen  formen  das  aufs  lautende  a  geschwanden ,  wie  der  aufstaut  bei 

den  nominibus  überhaupt.  Ein  hebräisches  ppT  qätan  ist  parvus  und 
parvus  fuit;  "Q3  käbid  gravis  und  gravis  fuit,  so  dafs  hier  deutlich 
nomen  und  verbum  nicht  unterschiden  ist. 

Was  von  der  III.  sg.  msc.  des  perfecta  gilt,  das  gilt  auch  von  der 

III.  sing,  feminini ,  z.  b.  <^4^  katabat,  hebr.  HSrO  kaibäh,  einer  deut- 
liehen  nominalform,  wie  difs  auch  algemein  an  erkant  ist.  Wir  vermuten 
für  die  semitische  grundsprache  die  form  *katabata,*)  dem  masculinum 
kataba  in  der  endung  entsprechend  (also,  um  mich  arabisch  aufs  zu 

drücken,  auch  difs  *ä*ä*'  katabata  ist  der  positiv  zu  einem  **^  ^  lä  ka- 

tabata;  der  nominativ  würde  %^  katabatun  lauten).  Im  Arabischen  ist 
das  *-ata  der  semitischen  Ursprache  zu  -at,  im  Hebräischen  vor  Suffixen 
zu  -at9  one  suffixe  fast  durchweg  zu  -äh  verkürzt;  aufsnams weise  (s. 
die  anm.)  ist  im  Hebräischen  ein  archaisches  -atah  erbalten. 

Die  dualformen  der  III.  persM  masc.  ^  kataba,  feminin.  &^  ka- 


*)  Solle  etwa  das  seltene  hebräische  -atdh  ein  villeicht  nach  analogie  des 
wönlichen  fw  -äh  des  feminins  um  gestalteter  rest  diser  grundform  sein?  Das  selbe 
gilt  natürlich  auch  von  den  formen  der  verba  nS  auf  nn-,  in  pausa  auf  nn-^  Dise  for- 
men pflegt  man  in  der  regel  als  entstanden  durch c unorganisches'  anhängen  der  femi- 
ninendung  tu.  an  die  ältere  femininendung  n-  zu  fafsen.  Dafs  es  mit  diser  erklärung 
nicht  zum  besten  steht,  ligt  auf  der  band.  Nach  unserer  auffafsung  ist  also  von  di— 
sem  at-dh  at  die  bezeichnung  des  feminins,  äh  aber  die  accasativendung ,  die  auch 
aufserdem  im  Hebräischen  in  diser  weise  sich  erhalten  hat. 


24]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  517 

tabatä  sind  identisch  mit  den  nominalformen  im  Status  constractus  des 

nominativs,  d.  h.  Verkürzungen  von  #qI4^  katabäni,  *&&&  katabatäni. 
Auch  sie  weisen  also,  gerade  so  wie  der  singular,  auf  die  nominalformen 

nom.  sg.  ^  kalabun,  fem.  ^  katabatun  hin. 

Eben  so  steht  die  III.  plur.  masculini  ]y*tf  kalabü,   hebr.  13P* 

kälbü  für  #q>^  katabiina,  wie  das  seltene  hebräische  ]V"  ün  und  die 
entsprechenden  formen  des  imperfects  dar  tun.  Wir  haben  also  auch  hier 

eine  deutliche  nominalform  vor  uns.  Das  femininum  c^  katabnu  hat 
zwar  keine  entsprechende  nominalform  zur  seite,  dafs  es  aber  eine 
solche  ist,  zeigt  wol  schon  der  parallelismus  mit  dem  masculinum  *ka- 
tabüna. 

Das  endergebnis  einer  betrachtung  der  dritten  personen  des  per- 
fectum  im  Semitischen  ist  also  unbestreitbar  das,  dafs  in  disen  personen 
keine  verbalformen ,  sondern  mit  nominalformen  wesentlich  gleich  lau- 
tende und  disen  gleichartige  formen  vor  ligen.  Schon  jezt  können  wir 
also  die  behauptung  auf  stellen ,  dafs  sich  im  Semitischen  nomen  und 
verbum  nicht  in  der  durch  greifenden  art  scheide,  wie  im  Indogerma- 
nischen. Folgte  das  Indogermanische  der  semitischen  weise ,  so  müste 
z.  b.  ein  mascul.  bhara-m  femin.  bhara-m  so  vil  bedeuten  als  bhara-ti; 
ein  plur.  bhara-sas  so  vil  als  bhara-nti  u.  s.  f. 

Doch  sehen  wir  weiter  zu.  Was  von  den  dritten  personen  gilt, 
das  hat  höchst  warscheinlich  auch  von  den  andern  personen  zu  gelten ; 
denn  eine  spräche  wird  wol  schwerlich  für  die  ersten  und  zweiten  per- 
sonen eine  echte  conjugation,  wäre  verba,  besitzen,  für  die  dritten  aber 
nicht.  Nur  wollen  wir  im  voraufs  uns  erinnern ,  dafs  ein  hinweis  auf 
pers.  I.  und  II.  auch  solchen  formen  nicht  leicht  feien  kann,  die  irer 
natur  nach  nicht  verbal  sind.  Betrachten  wir  zunächst  die  zweiten  per- 
sonen des  perfects. 

II.  singul.  masc.  v^tf  katabta,  hebr.  Z^Pj  kätabtä  gilt  uns  als 

eine  zusammenrückung  und  Verkürzung  von  *c*it  v^  kataba  anta, 
hebr.  *nfttt  3P3  kätab  attäh;  neben  das  an  sich  nicht  auf  eine  bestirnte 

person  bezügliche  v^f  kataba,  3P3  kätab,  das  one  weiteren  zusatz 
zunächst  von  der  dritten  person  verstanden  wird,  trat  ursprünglich 
das  pronomen  der  zweiten  person  singul.  mascul.,  um  auf  dise  person 
jenes  kataba  zu  beziehen.    Ins  Indogermanische  übersezt  würden  dise 


51 8  Aug.  Schleicher  ,  die  Unt  Bescheidung  von  [22 

formen  *bhara*m  tu  zu  lauten  haben,  eine  aufsdruksweise,  die  von 
bhara-si  völlig  und  gründlich  verschiden  ist.  Das  selbe  gilt  von  allen 
zweiten  personen  des  perfects. 

II.  sing,  feminini  &+&  katabli,  hebr.  ^n?  kätabt  aufs  *vi*j'  **tf 
kalabala  anli.  * 

II.  dualis  L^äS'  katabtumä  aufs  *U&!  Ltf  katabä  antumä. 

II.  plur.  masculini  jU^  katabtum  aufs  *^  o>^  katabüna  anlum, 
hebr.  ÖP3n3  ktabtem  aufs  *ÖP**  1*13133  f  älter  etwa  *katabüna  antem. 

II.  plur.   feminini  ^y^  katabtunna  aufs  der  in  irer  grundform 

schwer  erschliefsbarenf  im  Arabischen  ^^  katabna  lautenden  form  mit 

^t  antunna,  der  II.  plur.  feminini  des  Personalpronomens;  auch  im 
Hebräischen  1^^^  ktabten  ist  das  entsprechende  pronomen  ]ntt  äffen 
uoverkenbar. 

Nicht  also  ,  wie  im  Indogermanischen ,  die  wurzeln  der  pronomina 
treten  mit  den  verbalstämmen  zu  einem  waren  worte  zusammen,  son- 
dern das  fertige  pronomen  tritt  an  ein  fertiges  wort  an.  Deutlich  siht 
man,  dafs  sich  ftlr  alle  dise  formen  eine  analogie  gebildet  hat.  Überall 
ist  vom  pronomen  nur  der  lezte  teil  gebliben ,  wärend  die  zu  gründe 
ligenden  verschidenen  formen  des  nominalstammes  sich  mit  verlost  ires 
aufslautes  in  eine  am  ende  vocallose  form  vereinfacht  haben. 

Die  erste  person  singularis  \z~*S  katabtu,  hebr.  i*m03  kätabti 
zeigt  ein  anderes  pronomen,  als  das  als  selbständiges  wort  gebrauchte 

arab.  Lsl  anä,  hebr.  ^  äni,  "3Ä  änoki.  Dise  form  weifs  ich  also 
nicht  zu  erklären;  denn  -ti  aufs  -ki  entstehen  zu  lafsen,  geht  gegen 
meine  lautgesezliche  Überzeugung.  Villeicht  hat  die  analogie  der  zwei- 
ten personen  gewirkt,  villeicht  ligt  im  verbum  ein  sonst  verlorenes 
pronomen  vor. 

Die  I.  plur.  U~tf  katabna,  hebr.  ^3113  kälabnü  enthält  jedoch  in 

irem  aufslaute  deutlich  den  rest  von  q^  nahhnu,  hebr.  *t3rj3tf  änachnü, 
13H3  nachnü,  138  änü..  Von  der  vor  dem  an  geschmolzenen  pronomen 
stehenden  form  gilt  das  selbe,  was  bei  den  II.  personen  bemerkt  ward. 

Dunkler  in  irem  Ursprünge  sind  die  bildungen  der  zweiten  form 
des  semitischen  verbum,  des  imperfectum.  Hätte  Rud.  von  Raumer 
(gesammelte  sprachwifsenschaflliche  Schriften,  Frankf.u.  Erlangen  i  8 63, 
s.  470  flgg.)  recht  mit  der  Vermutung,    dafs  hier  das  perfectum  der 


23]  Nomen  und  Verb  um  in  der  lautlichen  Form.  519 

st.  Q^  ^ii         sein  bedeutenden  wurzel  vor  eine  nominalform  getreten  sei  (z.  b.  hebr. 

3FÖ1?  jiklob  aufs  *3rü  PPJ1  Aö/a  &to^  u.  s.  f.) ,  so  wären  dise  formen 

rim*  *"er  §ar  D'c^1  we^er  zu  bebandeln,  da  wir  das  perfectuin  bereits  be- 

*      sprachen  haben.    Allein,  so  ansprechend  die  Raumersche  hypothese 


^  kntAi 


«K 


«•::? '  '• 


auch  ist,  so  stell  sich  der  selben  doch  ein  gewichtiges  bedenken  in  den 

weg.  Das  semitische  imperfectum  ist  nach  v.  Raumer  eine  durch  secun- 

•^  o*2  ü*      däre  processe ,  durch  Vorgänge ,  wie  sie  erst  im  späteren  sprachleben 

•ter  etwa  'kt*      ein  zu  treten  pflegen ,  entstandene  form.    Auf  der  andern  seite  ist  das 

j  .k  jer  j.  ^      imperfectum  allen  semitischen  sprachen  gemeinsam ,  seine  entstehung 

t  , ,  fäll  also  in  die  zeit  der  bildung  und  entwickelung  der  semitischen  ur- 

und  grundsprache.  Für  dise  urzeit ,  für  dise  noch  jugendliche  lebens- 
^  uj.f^<si  periode  der  spräche  dürfen  wir  aber  nicht  Spracherscheinungen  voraufs 
-endepr**      setzen,  wie  sie  nur  in  senilen  sprach individuen  ein  zu  treten  pflegen. 

Mag  aber  auch  wirklich  dem  semitischen  imperfectum  ein  perso- 

*  - 

Lewcnekt;  nalaufsdruck  praefigiert  sein,  so  macht  ein  solcher  an  sich  noch  nicht 

'eo  wcneafi  notwendiger  weise  ein  verbum;  auch  im  Namaqua  kann  die  person  am 

?v>u( rtaii  nomen  bezeichnet  werden,  one  dafs  dises  dadurch  zum  verbum  wird. 

::.e^::&  Die  nominale  natur  des  semitischen  imperfectum  tritt  aber  unverkenbar 

ei.  n^jir:  klar  und  deutlich  zu  tage.    Der  kürze  wegen  lafse  ich  im  folgenden  das 

.ijess \:*s  Hebräische  bei  seite,  das  one  hin  neben  dem  durch  erhaltung  der  voca- 

0  :,!-£  tischen  aufslaute  altertümlicheren  Arabischen  zur  erklärung  und  erkent- 

nis  der  formen  nichts  bei  zu  tragen  vermag. 

Man  vergleiche : 


«  »  »  -       4 


.   *;•  *■ 


:  ~:  ::  ix  .' 


14  i- 


<ilZ.  .2t 


Imperfectum.  Nomen  (Nominativ). 

Singular. 

III.  msc.  v^  jaktubu  u~jL=>  gälisun  (sedens)  in  vilen  fällen 

III.  fem.  u*ä£j  taktubu  aber  auch  u^L>  gälisu  one  -n;  vgl. 

II.  msc.  vw&  taktubu  auch  formen  wie  <^l  awadu  (niger) 

die  -t>  nie  haben. 

Dual. 


^^^         IH-  msc«  o'"*^  jaklubäni  q^  •  gälisäni,  q^^  asvadani 

-~  *'        III.  fem.  pl4ift  taA^m 

-:  *  Li* 


»>  o. 


r_     ^  IL  msc.  qLjäü  taktubäni 


k** 


520  Aug.  Schleich!»  ,  die  Unterscheidung  von  [24 

Plural. 
III.  msc.  qj**£>.  jaktubüna  oy*&=>  gäUsüna 

«     y  y  ©.. 

II.  msc.  o>y^'  taktubüna. 

In  disen  formen  Iigt  also  die  volkommenste  Übereinstimmung  der 
so  genanten  verbal-  und  nominalformen  klar  zu  tage. 

Die  III.  plur.  fem.  &»&  jaktubna  und  die  IL  plur.  fem.  o**^-»  fo&- 
tobna  sind  gebildet  wie  die  III.  plur.  feminini  des  perfects  &&  katabna. 

*       y  o- 

Die  endung  der  II.  sing.  fem.  &&*&  iaktubina  ist  dunkel.     Die  I.  sing. 

y    y  öS  >    )o« 

v^i  dktvbu  und  I.  plur.  v^^i  naktubu  zeigen  nichts,  was  nicht  einer 
nominalform  gemäfs  wäre. 

Dazu  komt,  dafs  das  imperfectum  überhaupt  declinierbar  ist.    Es 

*.  y  o, 

kann  in  den  accusativ  gesezt  werden,  z.  b.  v"&  jaktuba  accus,  zu 

u^,  wie  *y*  asvada  accus,  zu  ^t.  Die  nominale  art  des  imperfectum 
ist  auch  keineswegs  von  den  arabischen  grammatikern  verkant  worden 
(vgl.  z.  b.  Ewald,  arab.  gramm.  §  209;  Wright  §  95). 

Auch  der  syntactisohe  gebrauch  des  imperfects  in  Verbindungen 

y  y  o,,    .,   , 

wie  wäi  0u  käna  jaktubu  scribebat ,  wörtlich  etwa  fuit  scribens ,  ist 
wol  nicht  zu  übersehen. 

Nach  dem  bisherigen  kann  also  nicht  in  zweifei  gezogen  werden, 
dafs  im  Semitischen  das  nomen  vom  verbum  nicht  wesent- 
lich verschiden  ist.  Wir  können  mit  Zuversicht  behaupten,  dafs  das 
wesen  des  so  genanten  verbum  im  Semitischen  von  dem  des  indoger- 
manischen verbums  völlig  ab  weicht  und  dafs  es  im  Semitischen, 
trotz  seiner  flexivischen  natur,  zu  einer  durch  greifenden  Unter- 
scheidung von  verbum  und  nomen  nicht  gekommen  ist. 

Koptisch. 

Das  Koptische  beut  dem  Verständnisse  seiner  grammatischen  form 
besondere  schwirigkeiten  deshalb,  weil  man  über  die  grunzen  des  Wor- 
tes nicht  sicher  ist.  Würden  wir  der  Schwartzeschen  art  die  worte  zu 
trennen  (vgl.Scbwartze,  koptische  grammatik,  herausgegeben  von  Stein- 
thal, Berlin  1850)  folgen,  so  wäre  unsere  Untersuchung  ser  leicht  und 
einfach,  denn  dann  bestünde  in  dieser  spräche  zwischen  nomen  und 
verbum  gar  kein  unterschid.  Der  Sicherheit  des  ergebnisses  wegen  wol- 
len wir  jedoch  eine  nähere  Zusammengehörigkeit  der  beziehungsele- 


25]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  524 

mente  mit  den  bedeutungselementen  im  Koptischen  voraufs  setzen  (vgl. 
zur  Morphologie  der  Sprache  in  den  Mämoires  de  l'Acadämie  Imperiale 
des  Sciences  de  St.  Petersb.,  VII0  s6rie,  Tome  I,  Nro.  7.  St.  Petersburg 
4  859,  s.  24  flg.). 

Was  zunächst  das  nomen  betritt,  so  hat  es  eine  vom  Indogermani- 
schen völlig  verschidene  form.  Es  hat  nämlich  keine  declination.  Die 
casus  werden  mittels  praepositionen  aufs  gedrttkt.  Nun  könte  man  dise 
elemente  als  mit  dem  nomen  ein  wort  bildend ,  als  casuspraefixe  auf 
fafsen,  die  in  irer  nomenbildenden  function  natürlich  eben  so  berechtigt 
waren,  als  die  casussuffixe  des  Indogermanischen.  Diser  auffafsung  tritt 
aber  der  umstand  in  den  weg,  dafs  eine  praeposition  auf  merere  durch 
'und'  verbundene  nomina  wirken  kann,  z.  b.  Genes.  XII,  7  (Uhlemann, 
linguae  copticae  grammatica,  Lips.  4853,  pg.  52)  nak  nfm  iTFKxpox 
nak  nem  pek-grog  tibi  et  semini  tuo;  NA  na  'versus,  ad'  bezeichnet  den 
dativ ;  K  k  ist  suffix  der  II.  person  sing,  masculin. ;  NEM  nem  atque, 
etiam;  iTEpe  ab  geschwächtes  demonstrativen,  fungiert  als  artikel  des 
singularis  mascul. ;  xpox  grog  semen.  Hier  wirkt  also  NA  na  auch  auf 
ITEKicpox  pekgrog  und  macht  es  zum  dativ.  Luc.  XII,  56  (Schwartze, 
koptische  gramm.  syntax  §  54,  s.  486)  ngo  N  T<|>E  NEM  m  KAgi  p-ho 
en  t-<pe  nem  pi  kahi  facies  caeli  et  terrae ;  n  p  artic.  sing.  masc. ;  go  ho 
facies;  N  en,  vor  labialen  und  b  ch  ero,  bezeichnet  irgend  einen  casus, 
der  nicht  nominativ  ist,  hier  den  genitiv ;  T  t  articul.  sing.  fem. ;  ty$  (pc 
coelum ;  NEM  nem  atque,  etiam ;  m  pi  articul.  sing.  masc. ;  KAgi  kahi 
terra.  Hier  wirkt  also  n  en  auch  auf  TTlKAgi  pi-kahi.  Dergleichen  fälle 
sind  natürlich  häufig.  Sie  beweisen ,  dafs  wir  es  nicht  mit  casusprae- 
fixen,  die  mit  dem  wortstamme  zur  einheit  des  wortes  verwachsen  sind, 
sondern  mit  praepositionen,  mit  getrenten  worten  zu  tun  haben;  d.  h. 
es  gibt  im  Koptischen  keine  declination  wie  im  Indogermanischen ,  also 
auch  keine  nomina  der  art ,  wie  wir  sie  dort  fanden.  Solche  beispile, 
wie  die  oben  an  gefürten ,  würden  im  Indogermanischen  etwa  lauten 
z.  b.  akva  ka  vägha  s  anstatt  akvas  ka  väghas  equus  et  currus  (an  genom- 
men dafs  ka  also  gebraucht  und  gesteh  werden  könte ;  in  Wirklichkeit 
wäre  akvas  väghas  ka  für  die  indogermanische  Ursprache  in  ansatz  zu 
bringen). 

In  der  regel  hat  das  nomen  einen  artikel ,  einen  bestirnten  oder 
einen  un bestirnten ,  vor  sich  und  ist  hierdurch  in  fast  allen  fällen  als 
solches  kentlich.    In  der  vor  ligenden  spräche  ist  der  artikel  entschiden 


522  Aue.  Schleicher  ,  die  Unterscheidung  von  [26 

als  an  das  nomen  an  geschmolzen  zu  betrachten,  da  er  oft  nur  aufs  einem 
einzigen  consonanten  besteht,  der  unter  dem  lautgesezlichen  einflufse  des 
anlautes  des  nomens  steht;  z.  b.  noypo  p-uro  masc.  6  ßaadsvg;  THTTi 
t-epi  fem.  6  äQiÖ/uog;  (J)OyHB  <p  wev  6  ieQevg;  OBAKl  th-vaki  fem.  ij 
noXtg.  Der  unbestimte  artikel  ist  auch  hier  das  verkürzte  zalwort  eins. 

In  gewissen  fällen  steht  jedoch  der  artikel  nicht,  und  dann  fttft 
jeder  formelle  unterscbid  zwischen  nomen  und  verbum  hinweg.  Ein 
nomen  one  artikel  unterscheidet  sich  in  nichts  von  einem  verbum  one 
personalbezeichnung ,  wie  solches  im  imperativ  vor  zu  kommen  pflegt, 
z.  b.  ccotfh  sotem  audi,  audite  und  auditus,  obedientia.  Da  im  Indo- 
germanischen auch  der  imperativ  eine  verbal  form  ist,  welche  ursprüng- 
lich stäts  eine  personalendung  hatte ,  die  in  gewissen  fallen  ja  auch  bis 
in  spätere  lebensperioden  der  spräche  verblib,  so  haben  wir  schon  hier 
einen  beweis  dafür,  dafs  im  Koptischen  nomen  und  verbum  nicht  so 
durch  greifend  gesondert  sind ,  als  im  Indogermanischen. 

Ein  fernerer  beweis  für  die  selbe  warnemung  ist  der  umstand, 
dafs  das  demonstrativpronomen,  d.  h.  der  stamm  des  selben  (one  casus* 
element,  denn  dergleichen  gibt  es  ja  im  Koptischen  nicht,  wie  wir  oben 
sahen)  zugleich  als  verbum  substantivum  fungiert;  z.  b.  nepe  =  ö  und 
eori  mascul. ;  TB  te  =s  rj  und  iari  femin. ;  NE  ne  =  oi ,  ai  und  eial  msc. 
femin.  Eben  so  mit  der  negation ;  an  JUS  an  pe  non  est  masc. ;  an  TE 
an  te  non  est  femin. ;  AN  NE  an  ne  non  sunt  masc.  u.  fem.  (Uhlemann,  lin- 
guae  copticae  grammatica  §  42,  pg.  37).  Z.  b.  ANOK  ITC  m  KOfSi  anok 
pe  pi  kugi  iyto  6  /uxqoq  ich  bin  der  kleine.  Indogermanisch  ist  difs 
unmöglich ,  weil  in  diser  spräche  ein  stamm  nicht  zugleich  nomen  und 
verbum  sein  kann.  Änlicher  weise  findet  sich  der  mangel  eines  verbum 
substantivum  in  zalreichen  sprachen,  in  denen  sich  kein  eigentliches 
verbum  entwickelt  hat,  oder,  genauer  gesagt,  in  denen  es  nicht  zum 
gegensatz  von  nomen  und  verbum  gekommen  ist.  Wir  werden  auf  disen 
punct  noch  mermals  gefürt  werden. 

Gewisse  nomina ,  die  so  genanten  pronominalsubstantiva  und  die 
pronomina  haben  den  artikel  nicht  und  hängen  die  possessivsuffixa  an 
iren  aufslaut.  Warscheinlich  haben  wir  in  disen  fallen  reste  einer  älte- 
ren Sprachgestaltung  vor  uns.  Dise  nomina  fallen  in  der  form  völlig  mit 
den  verben  zusammen,  welche  die  persona laufsd rücke  an  iren  aufslaut 
hängen;  auch  dise  stammen  warscheinlich  aufs  einer  früheren  sprach* 
periode.   Diser  so  genanten  verba  sind  es  freilich  ebenfals  nur  wenige, 


27]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  523 

aber  zu  inen  gehören  die  wichtigen  stamme,  welche  als  tempus-  und 
modusaulsdrtlcke  vor  andern  verbalstttmmen ,  welche  leztere  unverän- 
dert bleiben ,  ire  stelle  haben.    Die  personalsuffixa  sind  bei  allen  disen 
stammen  die  selben,  sowol  bei  denen,  die  man  als  verba  betrachtet, 
als  bei  denen ,  die  als  nomina  und  pronomina  gelten ,  z.  b. 
pco-q ,  pCD-C  ro-f,  rö-s  cro/ia  ccvrov,  oto/m  avrrjc. 
JtTO-q ,  ntoc  ento-ft  entos  ille,  illa. 
NTA-q ,  nta-C  enta~f%  enta-s  eius  msc,  eins  femin. 
e-q,  e-c  e-f,  es  est  msc,  est  femin. 
TTCXA-q,  fTEXA-C  pega-f,  pega-s  dixil  msc,  dixil  femin. 
u.  s.  f. 

Hier  feit  also  nomen  und  verbum  volkommen  in  der  form  zusam- 
men und  es  ist  nicht  zu  entscheiden,  ob  die  stamme,  welche  vor  den 
personalsuffixen  stehen,  nominale  oder  verbale  stamme  sind. 

So  tritt  ser  häufig  ein  stamm  A  a  auf,  dem  man  die  bedeutung 
'esse*  (Schwartze  §  144),  'habere,  esse'  (Uhlemann,  §  30)  gibt,  und  in 
der  tat  findet  sich  diser  stamm  in  diser  function  z.  b.  a-n  a-»  'sunt' 
(Peyron  lexic.  copt.  s.  v.  a)  ;  auch  Schwartze  fürt  AK  a-k,  A-q  a-f,  A-C 
a-s  in  der  function  'es,  est  msc,  est  femin/  an.  Dises  A  a  ist  aber  mög- 
licher weise  auch  ein  pronomen ,  wie  difs  auch  Schwartze  aufs  spricht 
(§  1 49).  Wie  mit  disem  A  a,  so  verhält  es  sich  aber  mit  mereren  anh- 
eben dementen,  z.  b.  e  e  in  E-q  e-f  est  mascul.,  S-C  es  est  femin.  (Uh- 
lemann §  29)  u.  s.  f.  Uhlemann  (§  4  6)  betrachtet  e  e  als  verbalwurzel 
mit  der  function  'esse ,  Schwartze  dagegen  (§  4  46)  fafst  es  als  relativ 
und  ttbersezt  z.  b.  Ftj  ef  mit '  welcher  er  =  m>\  ec  es  mit  'welcher  sie 
ss  ovaa.  Ferner  N  en  quod  (Uhlemann  §  34,  pg.  30),  aber  mit  Suffixen 
z.  b.  N-+  en-ti  sim,  N-q  en-fsbl  masc,  Jt-C  ens  sit  femin.  u.  s.  f. 

Sind  nun  A  a,  e  e,  u  en  verba  oder  nomina?  Warscheinlich  wol 
sowol  das  eine  als  das  andere  oder  vilmer  richtiger  keines  von  beiden, 
sondern  verbum  und  nomen  sind  in  den  an  gefürten  ftrtlen  eben  noch 
nicht  geschiden  und  ein  und  dieselbe  form  kann  als  verbum  sowol  als 
als  nomen  (unserer  sprachen)  gelten. 

Dise  elemente  dienen  nun  andern  stammen  (so  genanten  verbis) 
zum  beziehungsaufsdrucke.  Z.  b.  N-+-TCOM  en-ti-tom,  wörtlich  etwa  'quod 
ego  claudere',  d.  i.  ut  claudam;  A-q-MEü)T  a-f-meit  migravit  u.a.  Eben 
so  gebildet  ist  aber  auch  A-q-OCDN  a-f-&6n  ubi  est  masc,  a-cbcdn 
as-&6n  ubi  est  femin.  zu  eo)N  &6n  ubi ;  ferner  zeigen  den  gleichen  bau 


524  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [28 

die  nomine  mit  artikel  und  possessivsuffixen ,  z.  b.  ne-q-p  AN  pe-f-ran, 
wörtlich  etwa  'der-sein-name'  nomen  eius  u.  s.  f.  Lauter  bildungen,  in 
denen  kein  unterschid  zwischen  verbum  und  nomen  zu  bemerken  ist. 

Ferner  zeigt  sich  die  mangelnde  worteinheit ,  der  nicht  feste  zu- 
sammenschlug der  pronominalen  personbezeichnung  mit  dem  verbal- 
stamme, also  der  vom  Indogermanischen  völlig  verschidene  character 
des  Koptischen  darin,  dafs  das  concrete  Substantiv  anstatt  des  pronomi- 
nalen personalaufsdruckes  beim  so  genanten  verbum  ein  treten  kann. 
Z.  b.  nsxAq  pega-fdixit,  wörtlich  etwa  cdicere  eius9,  aber  nexe  ABpAAM 
pege  avraam  dixit  Abraham  (Genes.  XXII,  5),  wörtlich  etwa  'dicere  Abr.'. 
Im  Indogermanischen  würde  sich  das  so  aufs  nemen,  z.  b.  im  Lateini- 
schen: dixi-  Abraham  für  dixi-t;  AqMEjjjT  a-f-mest  migravit  (über  A-q 
a-f  s.  o.  MPcyT  mest  migrare,  peragrare),  aber  X  XepAM  mfjj)T  a  avram 
mest  (Genes. XII,  6)  migravit  Abraham,  wo  für  das  pronomen  q  /"in  a-f- 
mest  das  substantivum  ein  getreten  ist.*)  Ware  ein  solches  verfaren  im 
Indogermanischen  möglich ,  so  könte  man  z.  b.  neben  indogerm.  ai-ü 
(altind.  e-ti,  lat.  i-f,  älter  ei-t  er  geht)  sagen  ai  varkas  (it  lupus),  latei- 
nisch t  lupus  anstatt  ai-ti  varkas,  lat.  it  lupus.  Das  substantivum  ersezt 
im  Koptischen  die  personalbezeichnung.  Die  formen ,  welche  man  im 
Koptischen  verba  nent,  sind  difs  nicht  im  indogermanischen  sinne,  denn 
auch  der  personalaufsdruck  ist  disen  so  genanten  koptischen  verben  nicht 
absolut  wesentlich  (man  erinnere  sich  der  oben  bei  gebrachten  falle 
wie  ne  pe  est  msc.,  te  te  est  femin.  u.  s.  f.). 

Die  häufige  praesensbildung  mit  vor  geseztem  pronomen  —  indem 
dises  zugleich  die  function  'sein*  involviert  —  z.  b.  •f--T(DM  ti-tom  claudo, 
q-TCOM  f-töm  claudit  msc,  c-tcdm  s-tam  claudit  femin.  u.  s.  f.,  stimt  in 
morphologischer  beziehung  zu  der  Verbindung  des  nomens  mit  dem  ar- 
tikel, z.  b.  +-kü)C  ti-kös  sepultura,  •f-KCDC  ti-kös  sepelio,  m-T(DM  pi-töm 
'der  verschlufs,  der  zäun'  u.  s.  f.  Nur  dadurch  unterscheiden  sich  dise 
beiden  bildungen,  dafs  bei  den  so  genanten  verbis  ein  persönliches  pro- 
nomen, bei  den  nominibus  ein  demonstrativer  pronominalstamm  vor 
dem  wortstamme  steht. 


*)  Übrigens  kann  man  im  Koptischen  auch  das  substantivum  mit  der  so  genan- 
ten nominativpartikel  dem  vollen  verbalaufsdmcke  bei  fügen,  z.  b.  Aq(Tl  NOT  ABpAM 
af-ki  enge  avram  cepit  Abraham  (über  A-q  a-f  ist  bereits  gehandelt;  (Fl  ki  capere, 
accipere ;   NOT  enge  nominativpartikel) . 


29]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  525 

Das  schlufsergebnis  unserer  betrachtung  des  Koptischen  kann 
demnach  kein  anderes  sein,  als  die  Überzeugung,  dafs  eine  Schei- 
dung von  Domen  und  verbum  im  Koptischen  nicht  statt 
findet. 

Magyarisch. 

Im  Magyarischen,  wie  auch  in  andern  dem  selben  verwanten  oder 
in  der  form  mit  im  überein  stimmenden  sprachen ,  ist  verbum  und  no- 
men  meist,  nach  dem  ersten  blicke  auf  die  formen  zu  urteilen,  deutlich 
geschiden.  Untersucht  man  jedoch  die  formen  genauer,  so  finden  sich 
zalreiche  belege  dafür,  dafs  auch  hier  dise  Scheidung  keine  durch  grei- 
fende ist,  wie  im  Indogermanischen,  so  dafs  wir  auch  im  Magyarischen 
mit  der  vom  Indogermanischen  her  genommenen  definition  von  nomen 
und  verbum  nicht  durch  kommen.  Vilmer  gibt  es  im  Magyarischen  und 
in  sämtlichen  gleich  gebauten  sprachen  zalreiche  teile,  in  denen  nomen 
und  verbum  in  der  form  völlig  zusammen  fallen ,  d.  b.  die  Scheidung 
von  nomen  und  verbum  ist  auch  hier  nicht  volzogen. 

Am  deutlichsten  scheint  sich  wirklich  verbale  natur  zu  zeigen  in 
denjenigen  verbalformen ,  welche  aufser  dem  subject  auch  das  object 
an  deuten«  Dise  formen,  welche  sich  vereinzelt  nicht  selten  in  den 
sprachen  finden ,  im  Baskischen  und  in  zalreichen  sprachen  der  neuen 
weit  aber  bekantlich  in  besonders  aufs  gedentem  mafse  entwickelt 
sind,  pflegt  man  einverleibende  zu  nennen.  Im  Magyarischen  gehört 
hierher  die  so  genante  bestirnte  conjugation,  z.  b.  vär-jä-tok  ir  erwartet 
es,  in,  sie  (vär,  wurzel,  mit  der  bedeutung  warten,  erwarten;  -jd-  be- 
zeichnet das  object;  -tok  ist  das  suffix  der  II.  pers.  pluralis);  k4r-l-ek 
ich  bitte  dich  (kär,  wurzel,  bitten;  -/-  drükt  die  beziehung  auf  die  II. 
person  aufs ;  -ek  bezeichnet  die  I.  person  als  subject).  *)  Und  dennoch 
zeigt  sich  sowol  in  den  amerikanischen  Indianersprachen  als  auch  im 
Magyarischen  selbst,  dafs  dise  einverleibenden  formen  nicht  eigentliche 
verba  im  indogermanischen  sinne  sind.  Die  suffixa,  welche  das  subject 
des  verbums  bezeichnen ,  kommen  hier  vor  allem  in  betracht  und  von 
disen  werden  wir  sehen,  dafs  sie  sich  nicht  wesentlich  von  den  pos- 


*)  Das  medium  des  Indogermanischen  ist  ebenfals  eine  solche  einverleibende 
form.  Ein  urspr.  bhara-ta~ti  =  q)tQtxa[r)i  unterscheidet  sich  nur  dadurch  vom  acti- 
vum  bhara-H  =  yigityi,  dafs  nach  dem  verbalstamme  die  pronominalwurzel  ta,  um 
das  object  zu  bezeichnen,  ein  gefügt  ist. 


526  Aug.  Schlbkhbb,  die  Untkbscheimjng  von  [30 

sessivsuffixen  am  nomen  unterscheiden  (vär-jä-tok  ist  eigentlich  '  euer 
es  warten'  wie  ruhä-lok  euer  kleid)  ab  gesehen  davon ,  dafs  selbst  dise 
einverleibenden  formen  adjectivisch  gebraucht  werden  können.  Davon 
weiter  unten.  Im  wesen  der  einverleibung  ligt  aber  keineswegs  etwas 
entscbidert  verbales ,  denn  auch  eine  nominalform  kann  transitive  func- 
tion  haben  (man  erinnere  sich  der  participien  und  infinitive). 

Was  zunächst  das  nomen  des  Magyarischen  betritt,  so  sehen  wir 
hier,  wie  in  zalreichen  andern  sprachen,  die  casus  Verhältnisse  durch 
postpositionen  aufs  gedrttkt,  von  welchen  das  Magyarische  eine  grofse 
anzal  auf  zu  weisen  bat.  Der  blofse  stamm  one  casuszeichen,  im  plural 
mit  dem  pluralzeichen  versehen,  gilt  als  noroinativ,  der  blofse  nominal- 
stamm hat  aber  oft  auch  andere  Casusverhältnisse  zu  vertreten  (s.  u. 
beim  Ostjakischen).  Schon  hierdurch  erweist  sich  das  magyarische  no- 
men als  grundverschiden  von  dem  des  indogermanischen ,  welches  nie- 
mals als  lebendiges  wort  eines  Casuszeichens  entraten  kann.  Dafs  aber 
auch  die  postposition  nicht  einem  indogermanischen  casussuffix  gleich 
zu  achten  ist, dafs  sie  nicht  mildem  nominalstamme  zu  einem  untrenba- 
ren  wortganzen  zusammen  geht,  wie  difs  im  Indogermanischen  der  fall 
ist ,  dafs  also  nicht  der  stamm  erst  durch  das  casuszeichen  zum  worte 
wird,  wie  im  Indogermanischen,  sondern  als  solcher  schon  als  wort 
fungieren  kann,  dafs  also  das  magyarische  wort  etwas  ganz  anderes  ist, 
als  das  indogermanische,  zeigt  sich  deutlich  darin,  dafs  die  postposition 
bei  coordinierlen  nominibus  den  voran  gehenden  entzogen  werden  kann 
und  nur  bei  dem  lezten  zu  stehen  braucht;  z.  b.  ajö  embernek  dem  gu- 
ten menschen  (a  für  az  demonstrativem),  artikel;  jö  gut;  ember  mensch; 
-nek  -nah  postposition  etwa  im  sinne  unseres  dativs)  Air  *az-nak  (annak) 
jö-nak  ember-nek  (als  könte  man  im  Griechischen  sagen  *ro  äya&o  av- 
#(H»ftp«  Das  vor  dem  substanlivum  stehende  attributive  adjeetiv  steht 
stats  in  der  reinen  stamform,  pluralzeichen  und  casuspostpositionen  treten 
nicht  an  das  selbe.  So  sagt  man  z.  b.  Hunyady  Mätyäs  magyar  kiräly-nak 
dem  ungarischen  könig  Mathias  Hunyady,  -nah  gehört  hier  zu  allem  vor- 
her  gehenden.  Anliches  findet  bei  mit  cund'  verbundenen  worten  statt 
(vgl.  oben  den  entsprechenden  fall  bei  den  koptischen  praepositionen). 

Beim  activen  verbum  hat  die  dritte  person  keine  personalbezeicb- 
nung,  es  fäll  also  die  dritte  person  singularis  des  unbestimten  verbs  in 
der  form  mit  dem  verbalstamme  zusammen.  Dise  dritten  personen 
sind  also,  nach  indogermanischem  mafsstabe,  keine  verba ;  z.  b.  III.  sing. 


34]  Nomen  und  Verb  im  in  der  lautlichen  Form.  527 

vor  er  wartet ,  var-ja  er  erwartet  in ,  es  t  sie ;  ja  bezeichnet  das  object ; 
HI.  plur.  väm-ak  (das  n  halte  ich  für  rest  eines  verbalnomen,  das  hier 
anstatt  des  in  den  andern  personen  bräuchlichen  Stammes  ein  tritt)  sie 
warten;  vär-jä^k,  der  regelrecht  auf  nominale  art  von  vär-ja  gebildete 
pluralis,  sie  erwarten  es,  in,  sie.  Das  -ak,  -k  ist  das  gewönlicbe  plural- 
zeichen der  nomina. 

Eben  so  in  andern  temporibus  und  modis.  Z.  b»  perfectstamm 
vär~tt  bedeutet  zugleich  er  hat  gewartet;  vär-t-a  er  hat  es  erwartet  (a 
ist  mit  ja  gleich  bedeutend ,  auch  an  nominibus) ;  III.  pluralis  var-t-ak 
sie  haben  gewartet ;  vär-t-a-k  sie  haben  es  erwartet  u.  s.  f.  Lauter  echte 
nominalformen,  oder  vilmer  formen,  die  sowol  nomina  als  verba  sein 
können. 

Da  nun ,  wie  wir  oben  sahen,  der  nominativ  der  nomina  aufs  dem 
blofsen  stamme  besteht,  so  fallen  nominativ  singularis  und  III.  singula- 
ris  praesentis  der  un bestirnten  form  in  allen  fällen  völlig  zusammen ,  in 
welchen  ein  und  der  selbe  stamm  sowol  als  verbum  als  als  nomen  in 
gebrauch  steht.  Hierauf  macht  bereits  R6vai  (antiquitates  literaturae 
hungaricae  I,  Pest  4803,  s.  199,  §  101)  aufmerksam  und  fürt  beispile 
an  wie  nyom  vestigium,  premit ;  ter  spatium,  spatiosus,  revertitur,  con- 
vertitur,  quasi  spatium  conficit ;  fagy  gelu,  gelascit;  fog  dens,  capit  u.s.f. 
Der  fall  ist  nicht  selten,  er  tritt  auch  bei  stammen  mit  stambildungssuf- 
fixen  nach  der  wurzel  ein,  z.  b.  vad-äsz  jager,  erjagt;  hal-äsz  Bscher, 
er  fischt;  ir-at  schritt,  er  läfst  schreiben  u.  s.  f. 

Ferner  lautet  ein  teil  der  personalsuffixa  am  verbum  und  der  pos- 
sessivsuffixa  am  nomen  völlig  gleich ;  durchweg  ist  difs  allerdings  nicht 
der  fall.  Leider  feien  uns  magyarische  Sprachdenkmale  höheren  alters; 
halten  wir  die  spräche  in  einer  wesentlich  ursprünglicheren  form  zur 
Verfügung,  so  würde  sich  manches  erklaren  lafsen,  das  bei  dem  vor 
ligenden  sprachmateriale  dunkel  bleibt. 

Man  vergleiche  z.  b. : 

stamm  värt  gewartet  stamm  hol  fisch 

Singularis. 

I.  värt- am  ich  habe  gewartet  hal-am  mein  fisch 

II.  värt-ad  du  hast  in,  es,  sie  erwartet  (das         haUad  dein  fisch 

objectspronomen  ist  in  diser  form  ge- 
schwunden) 

III.  värl-a  er  hat  in  erwartet  haUa  sein  fisch. 


528  Aüg.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [32 

Pluralis. 
I.  värt-unk  wir  haben  gewartet  hal-unk  unser  fisch 

II.  värt-atok  ir  habt  gewartet  hal-atok  euer  fisch 

vart-är-tok  ir  habt  es,  in,  sie  er-      ruhä-tok  euer  kleid  (stamm  ruha) 

wartet  (stamm  vart-a) 
III.  värt-ak  sie  haben  gewartet  hal-ak  fische 

värt-ä-k  sie  haben  es,  in,  sie  er-     ruhä-k  kleider. 

wartet. 

Natürlich  fallen  auch  andere  personen  als  die  dritten  nicht  selten 
mit  nominibus  völlig  zusammen ,  wie  z.  b.  vaddsz-unk  'unser  Jäger  und 
'wir  jagen  u.  dergl.  mer. 

Hat ,  wie  schon  gesagt ,  das  verbum  auch  manche  endung  für  sich, 
die  am  nomen  nicht  erscheint,  wenigstens  nicht  in  der  heutigen  spräche 
(z.  b.  I.  sing,  vär-ok  ich  warte ,  II.  sing,  vär-sz  du  wartest  und  andere), 
so  folgt  doch  aufs  der  oben  gegebenen  Zusammenstellung,  dafs  difs 
nicht  im  princip  der  spräche  ligt,  dafs  es  vilmer  zufälliger  art  ist,  wenn 
nomen  oder  verbum  etwas  inen  aufsschliefslich  eigentümliches  zeigen. 
Ein  durch  gefUrter,  principieller  gegensatz  in  der  bildung  diser  beiden 
redeteile  läfst  sich  keinesweges  im  Magyarischen  nach  weisen. 

Das  dem  nominalen  nahe  stehende  wesen  des  magyarischen  ver- 
bums tritt  aber  ferner  noch  deutlich  zu  tage  in  dem  adjectivischen  ge- 
brauche der  verbalformen.  Es  kann  nämlich  eine  verbalform  geradezu 
als  adjectivum  zu  einem  substantivum  gesezt  werden.  Z.  b.  a  hallod 
dolgok,  wörtlich :  die  du-hörst-sie  (bestirnte  form)  dinge  (a  abgekürztes 
pronomen  demonstrativum ,  artikel ;  hall- od  II.  sing,  praesenlis  bestirn- 
ter form  zu  würz,  hall  hören ;  dolg-ok  pluralis  zu  sing,  dolog  ding),  d.  h. 
die  dinge,  die  du  hörst.  Häufiger  ist  diser  gebrauch  im  perfectum,  z.  b. 
a  hallottam  beszed  'die  ich-habe-sie-gehört  rede1,  die  rede ,  welche  ich 
gehört  habe ;  a  kärt  vallott  ember  'der  schaden  bekante  (bekant  habende) 
mensch',  d.  i.  der  mensch,  der  schaden  (fair,  accus,  sing,  kär-t)  gelitten 
hat  u.a.  (Bloch,  ungarische  grammatik,  3.  aufläge,  Pesth  1848,  s.  183, 
§  1 42).  In  dem  zulezt  an  gefürten  beispile  ist  vallott  deutlich  participium 
praeteriti  zu  voll  er  gesteht,  bekent,  sagt  aufs;  difs  participium  gilt  nun 
eben  so  zugleich  als  III.  sing,  perfecti,  wie  der  blofse  verbalstamm  als 
III.  sing,  praesentis.  Hier  ligt  die  identität  von  adjectivum  und  verbum 
auf  der  band.  Da  nun  aber  auch  die  andern  personen  des  verbi ,  nicht 
blofs  die  dritte ,  adjectivisch  gebraucht  werden ,  so  folgt  daraufs ,  dafs 


33]  Nomen  dnd  Verb  im  in  der  lautlichen  Form.  529 

durch  die  anftlgung  der  sufßxa  zur  bezeichnung  der  handelnden  person 
und  des  objects  die  nominale,  hier  atljectivische  natur  nicht  geändert 
wird ;  a  hallottam  beszöd  ist  also  eben  so  vil  als  'die  mein-sie-gehört 
rede' ;  a  hallod  dolgok  etwa  'die  dein-sie-hören  dinge*. 

Übersiht  man  alles  das,  was  im  bisherigen  über  die  conjugation 
des  Magyarischen  an  gefürt  ward»  so  ergibt  sich,  dafs  auch  für  das  Ma- 
gyarische der  indogermanische  gegensatz  von  nomen  and  verbum  keine 
geltung  hat.  Verba  und  nomina  zeigen  im  Magyarischen  eine 
im  wesentlichen  gleichartige  form,  d.  h.  nach  indogerma- 
nischen begriffen  gibt  es  im  Magyarischen  weder  nomina, 
noch  verba. 

Finnisch. 

Die  sämtlichen  mit  dem  Finnischen  und  Magyarischen  verwanten 
sprachen  hier  durch  zu  nemen,  ist  wol  nicht  erforderlich ;  es  genügt  für 
unseren  zweck ,  wenn  wir  einige  sprachen ,  besonders  aber  die  vor- 
nemsten  Vertreter  der  finnischen  sprachgruppe  auf  die  hier  in  betracht 
kommenden  formen  an  sehen.  Dafs  vor  allem  aufser  dem  Magyarischen 
das  Finnische  im  engeren  sinne,  das  Suoini,  in  betracht  komt,  bedarf 
keiner  begrttndung.  Meine  hilfsmittel  für  das  Studium  des  Finnischen 
sind  6.  E.  Eurän,  finsk  Spräklära,  Abo  1849;  des  selben  Finsk-Swensk 
Ordbok,  Tavastehus  1 860 ;  G.  Renvall,  lexicon  linguae  Fennicae,  Aboae 
1 823 — 1 826,  bisweilen  benuzte  ich  auch  das  Svenskt-Finskt  Handlexi- 
eon,  Helsingfors  1853.  Texte  zu  leseübungen  stehen  mir  in  den  Ver- 
öffentlichungen der  finnischen  litteraturgeselschaft  in  reichem  mafse  zu 
geböte. 

Auch  im  Finnischen  feit  eigentlich  stäts  der  nominativus  singularis 
mit  dem  stamme  der  nomina  zusammen,*)  er  hat  kein  casuszeichen; 


*)  Beiläufig  sei  bemerkt,  dafs  das  Finnische  besonders  in  einer  beziebung  für 
die  glottik  von  bedeutung  ist.  Man  findet  nicht  selten  vereinzelt  in  den  sprachen  die 
benutzung  secundärer  lauterscheinungen  zur  andeutung  functioneller  unterschide,  be- 
sonders zum  aufsdrucke  und  zur  Unterscheidung  von  beziehungsfunctionen  (z.  b.  no- 
dag  neben  nodee,  gemeinsame  grundform  beider  casus  ist  aber  padas,  früher  allerdings 
padas  nom.  plur.,  padams  accus,  plur.) .  Im  Finnischen  ist  difs  verfaren  so  zu  sagen 
zu  einem  princip  der  Wortbildung  geworden  So  lautet  z.  b.  der  nominativ  singal. 
eines  Stammes  vastaukse  (antwori),  der  sich  in  diser  form  als  nommativ  vor  Suffixen 
erhalten  hat  (z.  b.  vastaukse-ni  meine  antwort)  nicht  mer  also ,  sondern  vastaus ,  wo- 
durch sich  also  diser  casus  scharfer  von  andern  ab  sezt  (z.b.  vastaukse-lta  ablat.) ;  es 

Abhandf.  d.  K.  S,  Gesellscb.  d.  Wissensch.  X.  36 


530  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [34 

auch  hier  ist  also,  im  gegensatze  zum  Indogermanischen,  ein  stamm  zu- 
gleich wort.  Wenn  sich  bei  vilen  stammen  dennoch  der  nominativus 
singularis  in  seiner  form  von  der  andern  casus  zu  gründe  ligenden  stam- 
form  unterscheidet,  so  ist  difs  lediglich  eine  folge  später  ein  getretener 
lautlicher  Veränderungen,  von  denen  die  nominativform  sich  frei  gehal- 
ten hat ,  wenn  ein  suffigiertes  pronomen  an  sie  an  tritt. 

Der  vom  nomen  nicht  wesentlich  verschidene  character  des  finni- 
schen verbums  tritt  deutlich  hervor  zunächst  in  der  dritten  person  plu- 
ralis  auf  -vat,  -vät  (der  Wechsel  von  a  und  ä  beruht  auf  dem  bekanten 
gesetze  der  vocalharmonie) ,  -/.  Dises  t  ist  offenbar  das  selbe  element, 
welches  auch  beim  nomen  als  pluralbildend  erscheint ;  es  ist  auf  den 
nominativ  pluralis  beschränkt  (z.  b.  karhu  ursus,  nominal,  plur.  karhu-t), 
vor  den  endungen  der  andern  casus  wird  ein  anderes  pluralzeichen  (*) 
gebraucht,  welches  auch  im  Magyarischen  in  gewissen  fällen  an  gewant 
wird.  Das  -va-  der  endung  -vat,  -vä-t  halte  ich  für  identisch  mit  dem 
suffixe  va,  welches  ein  partieipium  bildet;*)  z.  b.  stamm  saa  aeeipere, 
partieip.  saa-va  aeeipiens,  HI.  plur.  praes.  saa-va  t  aeeipiunt,  wörtlich 
aeeipientes.  Die  als  dialectisch  von  Euren  bei  gebrachten  formen  wie 
saavaüen  scheinen  durch  das  antreten  einer  anhangspartikel  entstanden 
zu  sein,  von  denen  das  Finnische  einen  ser  aufs  gedenlen  gebrauch 
macht. 

Die  111.  pers.  singularis  zeigt  eben  so  wenig  ein  personalsuffix,  z.  b. 
saa  aeeipit.  Sie  nimt  aber  gerne  den  zusatz  eines  -pi  (in  gewissen  fällen 
lautgesezlich  wechselnd  mit  -vi)  an,  also  saa-pi,  worin  man  mit  Renvall 
wol  nur  eine  an  gehängte  partikel  sehen  kann,  mittels  deren  das  Finni- 
sche den  worten  oft  nur  einen  gröfseren  nachdruck  zu  verleihen  liebt. 
In  disen  dritten  personen  haben  wir  also  formen  vor  uns,  die,  mit  indo- 
germanischem mafsstabe  gemefsen ,  nichts  verbales  an  sich  haben. 

Die  ersten  personen  endigen  im  singularis  auf  -n ,  im  pluralis  auf 
-inme;  z.  b.  saa-n  aeeipio,  saa-mme  aeeipimus.  Die  endung  der  I.  sing, 
-n  fafse  ich  als  eine  Verkürzung  von  -ni  (vgl.  die  II.  sing.);  -vi  ist  das 
possessive  suffix  der  I.  singularis  beim  nomen    /.  b.  maa-ni  terra  mea), 


heifst  repii  (er  zerreifst) ,  repivät  (sie  zerreifsen)  aber  revit  (du  zerreifsest) ,  revimrne 
(wir  zerreifsen),  revitte  (ir  zerreifset)  u.  s.  f. 

*)  Auch  im  Magyarischen  scheint  die  HI.  pluralis  praesentis  und  dem  praesens 
'anlich  gebildeter  lempus-  und  modusformen  auf  einem  partieipium  zu  beruhen. 


35]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  531 

-mme  aber  lautet  eben  so  als  possessives  suffix  der  nomina  (z.  b.  maa- 
mme  terra  nos(ra).  Die  entsprechenden  selbständigen  pronomina  sind 
mim  ego,  me  nos.  Ob  die  von  Eurän  an  gefürte  dialectforro  -mma, 
-mmä  für  -mme  auch  als  possessivsufßx  vor  komt,  vermag  ich  nicht  zu 
ermitteln. 

Die  zweiten  personen  endigen  im  praesens  und  in  meieren  andern 
tempus  und  modus  im  singularis  auf -f,  im  pluralis  auf  -tte;  z.  b.  saa-t 
accipis,  8aa-tte,  dialectisch  saa-tla  accipitis.  Sie  sind  dem  verbum  ei- 
gentümlich. Die  entsprechenden  possessivsuffixe  sind  sing,  -si,  plur. 
-nne;  z.h.maa-si,  maa-nne.  Die  selbständigen  pronomina  sind  sind  tu,  te 
vos.  Es  verhält  sich  also  me  zu  -mme  wie  te  zu  -tte  und  es  dürfte  daher 
zufällig  sein,  dafs  das  dem  -mme  volständig  entsprechende  -tte  nicht  fürs 
nomen  gebräuchlich  ist,  sondern  nur  beim  verbum  auftritt.  Im  optati- 
vus  erscheint  jedoch  in  der  IL  singularis  das  personalsuffix,  welches 
nach  analogie  der  ersten  person  zu  erwarten  war,  nämlich  -s;  -n  :  -m 
=  -s:-si.  Dise  IL  sing,  optativi  lautet  z.  b.  saao-s,  nach  den  laut- 
gesetzen  fUr  saa-ko-s  (vgl.  maa-si  terra  tua). 

Die  zweite  pers.  sing,  imperativi  ist,  wie  in  zalreichen  dem  Finni- 
schen verwanten  und  nicht  verwanten  sprachen,  der  blofse  verbal- 
stamm; z.  b.  saa  accipe,  sano  die  u.  s.  f.  Eur£n  schreibt  allerdings  saa, 
sano'  als  wäre  hier  am  ende  etwas  hinweg  gefallen ;  ich  glaube  nicht 
mit  recht.  Auf  dises  so  genante  aspirationszeichen  werden  wir  weiter 
.unten  zurück  kommen. 

Der  nachweis,  dafs  auch  im  Finnischen,  wie  im  verwanten  Magya- 
rischen, der  gegensatz  von  nomen  und  verbum  nicht  durch  greifend 
entwickelt  ist,  ist  im  bisherigen  bereits  bei  gebracht. 

Doch  werfen  wir  noch  einen  blick  auf  das  finnische  verbum. 

Die  stamme  des  Optativs  und  imperativs  (mit  aufsname  der  II.  per- 
son singularis),  z.  b.  optativstamm  saa-kot  repi-kö  (repi,  revi  rumpere, 
lacerare),  imperativslamm  saa-ka,  repi-kä,  bestehen,  wie  leicht  zu  er- 
kennen ist,  im  optativ  aufs  dem  verbalstamm  und  der  fragepartikel  -fco, 
-fco,  im  imperativ  aufs  dem  verbalstamme  und  der  hervor  hebenden  an- 
hängepartikei  -ka,  -kä.  In  der  III.  person  singularis  und  im  ganzen  plu- 
ralis tritt  in  beiden  modus  noch  -A+n,  das  heifst  -A+vocal  der  vorher 
gehenden  silbe  -fr-w,  an;  warscheinlich  ist  difs  -h+n  die  häufig  ge- 
brauchte anhängepartikel  -hau,  -hän,  die  sich  gerne  mit  -ka,  kä  verbin- 

36* 


532  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [36 

det,  die  aber  hier  iren  vocal  dem  der  vorher  gehenden  silbe  assimi- 
liert, z.  b. 

Optativ  Imperativ 

Singularis. 

I.  in  beiden  modus  nicht  gebräuchlich. 
II.  $aa-o-$  für  saa-ko-s  andere  bildung. 

III.  saa-ko-hon9  gewönl.  saa-ka-han,  gewönl. 

saakoon  saakaan 

Pluralis. 

I.  saa-ko-ho-mme ,  gewönl.     saa-ka-ha-mme ,  gewönl. 

saakoomme  saakaamme 

II.  saa-ko-ho-tte  saa-ka-ha-tte 

saakootte  saakaalte 

III.  saa-ko-ho-t  saa-ka-ha-t 

saakoot  saakaat. 

Der  schwund  des  n  vor  consonanten,  wie  in  saakoho-mme  u.  s.  f. 
für  *8aa-ko-hon-mme  u.  s.  f.,  ist  auch  sonst  im  Finnischen  gewönlich.*) 

Die  dritten  personen  des  singularis  haben  hier  also  gar  nichts,  was 
sie  zu  nomina  oder  zu  verba  stempelte ,  sie  bestehen  aufs  einem  wort- 
stamme mit  an  gehängten  partikeln.  In  den  übrigen  personen  treten 
noch  die  gewönlichen  pronominalsuffixa  hinzu ,  in  der  III.  pluralis  das 
pluralzeichen. 

Der  lautform  nach  könte  man  geneigt  sein  bei  $aa-ko-hon,  saa-ka- 
han  an  das  -A+n,  sufßxpronomen  der  III.  singularis  zu  denken  (z.  b. 
maassaan  für  maa-ssa-han  in  seinem  lande ;  tnaa-ssa  inessiv  zu  maä)t  das 
regelmäfsig  sich  mit  seinem  vocale  nach  dem  der  vorher  gehenden  silbe 
richtet.  Dann  müste  man  an  nemen  dafs  für  den  plural  die  III.  singu- 
laris als  stamm  gelte,  was  zwar  in  den  sprachen  nicht  unerhört  ist  (vgl. 
z.  b.  poln.  jest-em  sum,  jest-estny  sumus  u.  s.  f.,  von  jest  est,  anstatt  von 
jes,  dem  stamme  des  praesens,  gebildet),  mir  jedoch  weniger  war- 
scheinlicbkeit  für  sich  zu  haben  scheint,  zumal  in  sprachen,  die  dem 
Finnischen  nahe  stehen  (so  im  Osljakischen ,  Samojedischen) ,   in  der 


*)  Dlse  formen  erinnern  gar  ser  an  die  jungen  litauischen  imperative  wie  du- 
ki-me  y  du-ki-te,  bei  denen  im  k  auch  eine  parükel  slekt  (vgl.  litauische  grammalik, 
§  4  08,  s.  229  flgg.)-  In  disen  litauischen  imperativen  haben  wir  also  warscheinlicb 
einen  finnismus  zu  erkennen. 


37]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Forb.  833 

selben  weise  partikeln  an  so  genante  verbalstamme  treten  um  modus- 
Stämme  zu  bilden.  Jedes  fall  es  entraten  formen  wie  saakohon  eines  spe- 
cifisch  verbalen  characters. 

Nicht  bedeutungslos  für  die  beurteilung  des  finnischen  sprachgefüls 
bezüglich  des  gegensatzes  von  nomen  und  verbum  ist  auch  der  um- 
stand ,  dafs  casus  von  pronominalstammen ,  die  als  partikeln  fungieren, 
mit  den  selben  personalendungen,  welche  an  die  verba  treten,  versehen 
werden  können.  Z.  b.  relativer  stamm  ku  (nomin.  sing,  ku-ka  mit  dem 
bereits  erwähnten  an  gehängten  ha) ;  inessivus  hussa,  d.  h.  ubi ;  elati- 
vus  ku-sta,  d.  h.  unde,  und  nun  von  disen  casusformen  I.  sing,  kn-ssa-n 
ku-sta-n  ubi  ego,  unde  ego;  II.  sing,  ku-ssa-s,  kusta-8  ubi  tu,  unde  tu 
u.  s.  f.  (Renvall  lex.  s.  v.  kuka).  Änliches  findet  in  andern  füllen  der 
art  statt.  Difs  erklart  sich  mir  auf  die  weise,  dafs  die  so  genanten  per- 
sonalendungen des  finnischen  verbum  nichts  anderes  sind  als  die  an 
den  nominibus  gebräuchlichen  possessivsuffixa,  denn  auch  dise  treten 
nach  der  casusendung  an  (z.  b.  tnaa-ssa-ni  terra  in  mea) ;  an  ein  aufs 
gelafsenes  oder  verflüchtigtes  ole-n  sum ,  ole-t  es  u.  s.  f.  kann  hier  nie- 
mand denken.  Man  vergleiche  hierzu  auch  magyarische  bildungen  wie 
näl-am  apud  me ,  häl-ad  apud  te  u.  s.  f.,  wörtlich:  meum  apod,  tuum 
apud.  Ist  aber  ein  ku-ssa-n  wörtlich  ein  'meum  ubi',  das  auch  die  func- 
tion  von  'ubi  ego'  hat,  so  wird  auch  wol  ein  saa-n  nichts  anderes  sein 
als  c meum  accipere',  d.  i.  accipere  ego,  accipio.  Die  finnischen  perso- 
nalbezeichnungcn  am  so  genanten  verbum  sind  also  etwas  ganz  ande- 
res, als  die  personalendungen  des  Indogermanischen. 

Dafs  der  personalaufsdruck  dem  finnischen  verbum  nicht  so  we- 
sentlich ist  als  dem  indogermanischen,  zeigt  auch  die  so  genante  nega- 
tive conjugaüon ,  in  welcher  nach  dem  'negativen  verbum'  (von  dem  es 
ser  dahin  steht,  ob  es  disen  namen  verdient)  der  blofse  lempus-  oder 
modusstamm  steht,  one  personbezeichnung.  Die  grammatik,  aber  auch 
nur  dise,  versiht  in  disem  falle  allerdings  den  tempus-  oder  modus- 
stamm mit  dem  aspirationszeichen ,  als  wäre  etwas  hinweg  gefallen. 
Bei  disem  aspirationszeichen  ist  es  mir  jedoch  ser  zweifelhaft,  ob  es 
mer  sei  als  ein  blofses  zeichen ,  das  die  grammatik  irer  theorie  zu  folge 
sezt;  eine  lautliche  geltung  scheint  es  kaum  zu  haben  (für  den  inlaut 
stelt  eine  solche  Eurön  selbst  in  abrede,  s.  4,  §  1 ,  anm.  4).  *)   Man  sagt 


*)  Über  dise  rätselhafte  a9piration  sagt  Earln  a.  a.  orte  folgendes :  'ütora  fdre- 


534  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [38 

also  im  Finnischen  sano-n  ich  sage,  aber  e-n  sano  ich  sage  nicht;  sano-t 
du  sagst,  aber  e-t  sano  du  sagst  nicht ;  sanom-n  ich  würde  sagen,  aber 
e-n  sanoisi  ich  würde  nicht  sagen  u.  s.  f. 

Ergebnis.  Die  fürs  Indogermanische  gütige  gieichung: 
'nomen  =  stamm  -t-  casussuffix,  verbum  =  stamm  -+•  per- 
sonalendung'  hat  auch  fürs  Finnische  keine  geltung. 

Ostjakisch. 

Als  beispil  einer  ostfinnischen  spräche  mag  uns  das  Ostjakische 
gelten  (Alex.  Casträns  Versuch  einer  Ostjakischen  Sprachlehre  nebst 
kurzem  Wörterverzeichniss.  Im  Auftrage  der  Kaiserl.  Akademie  der 
Wissenschaften  herausgegeben  von  Ant.  Schiefner.  St.  Petersburg  1 858). 
Nach  Castren  bildet  das  Osljakische  mit  dem  Wogulischen  den  östlich- 
sten zweig  des  finnischen  Stammes  (a.  a.  o.  s.  V). 

Das  Ostjakische  bietet  im  algemeinen  die  selben  ersebeinungen, 
wie  die  übrigen  sprachen,  die  man  (mer  nach  irem  baue,  als  nach  irer 
wirklichen,  leiblichen  verwantschaft)  unter  dem  namen  der  ural-altai- 
schen  zusammen  zu  fafsen  pflegt.  Die  Verhältnisse  ligen  in  diser  spräche 
jedoch  einfacher  als  im  Magyarischen  und  Suomi,  so  dafs  einige  wenige 
nachweise  genügen  werden,  um  dar  zu  tun,  dafs  auch  im  Ostjaki- 
schen keine  Scheidung  von  nomen  und  verbum  in  der  laut- 
lichen form  statt  findet. 

Der  nominativus  singularis,  ja  sogar  der  genitiv  und  aecusativ  wird 
durch  den  reinen  wortstamm  gegeben  (§§  60.61).  Difs  findet  sich  übri- 
gens in  gewissen  fällen  auch  im  Magyarischen  (vgl.  z.  b.  Bloch  —  Bai- 
lagi  —  ausführt.  Grammatik  der  ungarischen  Sprache,  3.  Ausg.,  Pesth 
1848,  §  166.  s.  217,  §  88,  s.  137);  als  solche  genitive  one  suffix  be- 
trachten wir  nämlich  die  aufserordentlich  häufigen  fälle,  in  denen,  wie 
man  gewönlich  sagt,  die  postposition  -nah,  -nek  'hinweg  gelafsen  oder 
'hinweg  gefallen  sein  soll;  den  aecusativen  anderer  sprachen  kann  man 
aber  manche  adverbielle  aufsdrücke  des  Magyarischen  vergleichen,  z.  b. 
este  abends,  minden-nap  jeden  lag,  täglich  u.  s.  f.     Das  adjeetiv  als  sol- 


nUmde  ljud,  har  finska  spräket  aspiralionen,  hvilken  beslär  i  en  utaodoing  vid 
slutet  af  nägra  ord.  Sä  väl  i  slutet  som  inuti  ord ,  der  den  forekommer,  8r  den  en 
femning  af  en  försvunnen  konsonant,  inen  inuti  ordet  hores  den  icke.  Den  brukas 
ocksä  blott  i  spräkläror,  för  att  forklara  vissa  bokstafsförvandlingar.  I  denna  bok  be- 
gagnas  s&som  aspirationstecken  (');  t.  ex.  sano'  sSg;  tuoda  att  hemta.' 


39]  Nomen  und  Verb  im  in  der  lautlichen  Form.  S3S 

ches  entbert  im  Osljakischen  der  declination  (§  57),  wie  im  Magyari- 
schen (aber  nicht  im  Suomi). 

Die  possessivsuffixa  am  so  genanten  nomen  und  die  personalsuffixa 
am  so  genanten  verbura  sind  gleich  lautend.  In  der  transitiven  conju- 
gation  ist  difs  durchweg  der  fall ,  in  der  intransitiven  jedoch  nur  teil- 
weise (vgl.  was  über  dise  nur  teilweise  verschidenheit  der  an  worte 
verschidener  art  tretenden  pronominalsuffixa  bei  gelegenheit  des  Ma- 
gyarischen bemerkt  ward). 

Die  zweite  person  imperativi  ist  der  reine  verbalstamm. 

Die  Übereinstimmung  nominaler  und  verbaler  bildung  im  Ostjaki- 
schen wollen  wir  an  einem  beispile  vor  äugen  füren. 

stamm  äna  frau  stamm  pane  legen 

(s.  41,  §  89)  (s.  58,  §115) 

Singular. 

I.  ime-m  meine  frau  pane-tn  ich  legte 

II.  ime-n  deine  frau  pane-n  du  legtest 
III.  ime-t  seine  frau  pane-t  er  legte. 

Dual. 
I.  ime-men  unsere  frau      pane-men  wir  (beide)  legten 

II.  ime-den  euere  frau        pane-den  ir  (beide)  legtet 
III.  imc-den  ire  frau  pane-den  sie  (beide)  legten. 

Plural. 
I.  ime-u  unsere  frau         pane-u*)  wir  legten 
II.  ime-den  euere  frau       pane-den  ir  legtet 

III.  ime-t  ire  frau  pane-t  sie  legten.  **) 

Die  disen  Suffixen  meist  zimlich  nahe  stehenden  selbständigen  pro- 
nomina  lauten  im  nominativ  (stamm)  : 


*)  S.  59  steht  panen,  eben  so  im  futurum  panden.    Dafs  difs  drukfeler  sei,  lert 
§  104. 

**)  Die  Übereinstimmung  der  !!I.  sing,  und  der  III.  pluralis  würde  an  das  Litaui- 
sche erinnern,  wenn  auch  der  dualis  seine  form  mit  dem  singularis  teilte.  So  ist,  wie 
es  scheint ,  im  Ostjakischen  dises  zusammenfallen  der  III.  sing,  und  pluralis  nur  zu- 
fällig (t  =  teu  und  =  teg) . 


536  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [40 

Singular.  Dual.  Plural. 

I.  ma  ich  (suff.  -ro)  min  (suff.  -meri)  meh  (suflF.  -ti,  nach  Caströns  Ver- 
mutung —  §  85,  anm.  s.  39  — 
eine  Wandlung  von  -m) 

II.  nen*)  du  (suff.-n)     ntn  (suff. -den),  neh  (suff.  -den); nach Casträn steht 

ab  weichend,      neh  filr  *teh) 
s.  d.  plur. 

III.  teu  er,  der  (suff.  -J)  ttn  (suff.  -den)     teg  (suff.  -t). 

In  der  intransitiven  conjugation  finden  sich,  wie  im  Magyarischen, 
für  die  dritten  personen  des  singularis  und  pluralis  in  den  Surgut-dia- 
lecten  formen  one  personalbezeichnung ,  z.  b.  men  er  gieng  (I.  sing. 
men-em,  II.  ging,  men-en),  plur.  men-t  sie  giengen  (§  106,  s.  55;  §  115, 
s.  60);  -et  -t  ist  aber  das  gewön liehe  pluralzeichen  (§  60,  s.  25  f.).  In 
disem  men-t,  im  Irtysch-dialect  men-et,  finden  wir  also  nicht  das  f  der 
dritten  person,  sondern,  in  Übereinstimmung  mit  der  art  und  weise  der 
zunächst  verwanten  sprachen ,  eine  in  gar  nichts  wesentlichem  von  ei- 
nem plural  eines  nomens  (one  suffixe)  verschidene  form. 

Für  eine  andere  ostfinnische  spräche ,  das  Mordwinische ,  ligt  ein 
vorzügliches  Studienhilfsmittel  vor  in  Dr.  Aug.  Ahlquists  Versuch  einer 
Mokscha-Mordwinischen  Grammatik  nebst  Texten  und  Wörterverzeich- 
nis. St.  Petersburg  1861  (Kaiserl.  Akad.  der  Wissensch.).  Es  tut  mir 
leid ,  dafs  ich  nicht  auch  dise  finnische  spräche  unter  dem  hier  in  rede 
siehenden  gesichtspunete  in  betracht  nemen  kann;  ich  mufs  aber  durch- 
aufs  mit  diser  arbeit  zum  abschlufse  eilen  und  sehe  mich  so  genötigt, 
es  bei  den  im  vorher  gehenden  erörterten  sprachen  finnischen  Stammes 
bewenden  zu  lafsen.  Eine  flüchtige  durchsieht  der  formen  des  Mokscha 
hat  mich  zu  der  Vermutung  gefürt,  dafs  trotz  mannigfacher  abweichun- 
gen  vom  Suomifinnischen ,  die  eher  für  einen  starker  entwickelten  als 
für  einen  noch  mer  verwischten  gegensatz  von  nomen  und  verbum  zu 
sprechen  scheinen ,  das  schlufsergebnis  einer  genaueren  Untersuchung 
diser  spräche  dennoch  wesentlich  in  demselben  sinne  aufs  fallen  dürfte, 
wie  beim  Magyarischen  und  beim  Suomi. 

Samojedisch. 

Dafs  im  Samojedischen  nomina  und  verba  in  iren  formen 
zusammen  fallen,  fürt  Casträn  (Grammatik  der  samojedischen  spra- 


*)  Mit  ti  bezeichnen  wir  das  gutturale  n  (wie  ng  in  unserem  e-ng-e,  la-ng-e). 


41]  Nomen  und  Verbüm  in  der  lautlichen  Form.  537 

chen.  Im  Auftrage  der  Kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften  heraus- 
gegeben von  Ant.  Schiefner.  St.  Petersburg  1854,  §  214 — 219  und 
§  463  flgg.)  des  näheren  aufs.  Diser  einzige  kenner  des  Samojedischen 
weist  darauf  hin,  dafs  das  praedicative  adjectiv  zugleich  verbum  sei, 
z.  b.  sawa  jale  ein  guter  tag,  aber  jäleda  sawa  der  tag  ist  gut;  auch  die 
substantiva  können  zugleich  als  verba  fungieren  one  irgend  welche  Ver- 
änderung irer  form,  z.  b.  bärba  'herr  und  'es  ist  ein  herr ,  jäle  'tag'  und  'es 
ist  tag'.  Jedem  nomen  können  nicht  blofs  im  nominativ,  sondern  in  ver- 
schidenen  casus  verbalsuffixe  an  gefügt  werden  (§216;  vgl.  finnische 
formen  wie  ku-ssa-n  ubi  ego,  ku-ssa-s  ubi  tu;  beispile  aufs  dem  Samo- 
jedischen habe  ich  jedoch  hierfür  nicht  finden  können ,  wodurch  natür- 
lich auch  nicht  im  entferntesten  ein  zweifei  gegen  die  richtigkeit  von 
Casträns  angäbe  entsteht),  wie  die  possessivsuffixa  irerseits  auch  dem 
verbum,  dessen  formen  überdifs  decliniert  werden  können  (§  218;  auch 
für  dise  leztere  erscheinung  sind  mir  keine  beispile  zur  hand). 

Der  nominativ  hat  auch  im  Samojedischen  kein  suffix  (§  224). 

Die  possessivsuffixa  am  nomen  und  die  verbalsufßxa ,  welche  die 
beziehung  auf  das  subject  verbi  aufs  drücken ,  unterscheiden  sich  nicht. 
Die  folgende  Zusammenstellung  mag  difs  vor  äugen  legen  (die  beispile 
sind  sämtlich  derJuraksprache  entnommen;  Casträns  grammatik  urafafst 
nämlich  verschidene  samojedische  sprachen  und  dialecte). 

stamm  lamba  Schneeschuh  stamm  mäda  hauen ,  gehauen 

(§  412,  s.  243)  haben  (§  494,  s.  389) 

Singular. 
I.  lamba-u  mein  Schneeschuh  mada-u  ich  hieb  (irgend  et- 

was unbestimtes;  eigentl. 
mein  hauen) 
II.  lamba-r  dein  Schneeschuh  mada-r  du  hiebst 

III.  lamba-da  sein  Schneeschuh  mada-da  er  hieb. 

Dual. 

I.  lamba-mi'*)  unser  (beider)  Schneeschuh  mada-mi'  wir  beide  hieben 

II.  lamba-ri  euer  Schneeschuh  mada-ri'  ir  beide  hiebt 

III.  lamba-di'  ir  Schneeschuh  mada-di'  sie  beide  hieben. 


*)  '  bezeichnet  hier  ein  ab  gefallenes  ri  (gutturales  n). 


538  Aug.  Schleicher,  die  Untebschbidung  von  [42 

Plural. 

I.  lamba-wa  unser  Schneeschuh    mada-u  (als  neben  form  von  mada-wa 

deutlich  erkenbar,  -wa  und  -u  wech- 
seln auch  sonst)  wir  hieben 

II.  lamba-ra  euer  Schneeschuh      mada-ra  ir  hiebt 
III.  lamba-du  ir  Schneeschuh  mada-du  sie  hieben. 

Die  selbständigen  pronomina  lauten  im  nominativ,  dem  der  genitiv 

gleich  ist : 

Singular.  Dual.  Plural. 

I.  man*)  mani  maria 

II.  pudar  pudart  pudara 

III.  puda  pudx  pudu. 

Es  ligt  am  tage,  dafs  die  in  den  oben  gegebenen  beispilen  vor 
kommenden  suffixa  einfache  abkürzungen  diser  selbständigen  prono- 
mina sind. 

Steht  das  object  eines  so  genanten  verbum  im  dual,  so  steht  ge- 
wissermalsen  auch  das  verbum  im  dualis.  Es  nimt  in  disem  falle  die 
selben  suffixa  an,  welche  als  possessivsuffixa  an  die  dualformen  des 
nomen  treten.    Z.  b. 

Singular. 

I.  lamba-hajun  meine  zwei  schnee-  madana-hajun  ich  haue  (oder  hieb) 
schuhe  (lambaha?  zwei  schnee-  zwei  (wörtl.  meine  zwei  hauun- 
schuhe)  gen) 

II.  lamba-hajud  deine  zwei  schnee-     tnadana-hajud  du  hiebst  zwei 

schuhe 

III.  lamba-hajuda  seine  zwei  schnee-    madaria- hajuda  er  hieb  zwei 

schuhe 

Dual. 

I.  lamba  -  hajuni'   unsere   zwei         madaria  -  hajuni   wir  beide  hieben 

Schneeschuhe  zwei 

II.  lamba  -  hajudi  madaria- hajudi' 
III.    lamba  -  hajudi  madaria-hajudi' 

Plural. 

1.   lamba- hajuna9    unsere   zwei        madaria- hajuna  wir  hieben  zwei 
Schneeschuhe 

II .    lamba  -  hajuda'  madaria-  hajuda' 

HI.    lamba  -  hajudu  madaria-hajudu\ 


*)  Mit  n  wollen  wir  die  innige  Verbindung  von  n  und  /,  das  palatale  n,  bezeichnen. 


43]  ^Jomen  und  Verb  um  in  der  lautlichen  Form.  539 

Ganz  eben  so  sind  nomina  und  verba  im  plural  gleich,  d.  h.  wenn 
das  nomen  im  plural  steht,  an  welches  die  possessivsuffixa  treten  und 
wenn  das  object  des  so  genanten  verbum  ein  plural  ist.  Z.  b. 

Singular. 

I.  lambi-n  meine  Schneeschuhe         mada-i-n  ich  hieb  (merere  oder 

(lambi  acc.  und  gen.  plur.)  vile) 

II.  lambi- d  deine  Schneeschuhe  mada-i-d  du  hiebst  u.  s.  f. 
III.  lambi- da  seine  Schneeschuhe         mada-i-da 

Dual. 
I.  lambi-ni'  mada-i-ni  wir  beide  hieben  merere 

II.  lambi-di'  mada-i-di 

III.  lambi-di  mada-i-di' 

Plural. 
I.  lambi-na  mada-i-na' 

II.  lambi- da'  mada-i-da' 

III.  lambi-du  mada-i-du*) 

Der  oben  bereits  berürte  verbale  gebrauch  der  nomina  steht  der 
so  genanten  bestirnten  conjugalion  der  verba  zur  seite.  Die  dritten  per- 
sonen  singularis ,  pluralis  und  dualis  haben  hier  gar  keine  bezeichnung 
der  person ,  sondern  sind  eben  die  stamme  der  betreffenden  zalen,  im 
singular  also  die  wortslämme  selbst  (wie  ja  auch  im  Magyarischen  und 
sonst). 

stamm  sawa  gut  stamm  mada  hauen 

(s.  226)  (s.  288) 

Singular. 

I.  sawa-m  ich  bin  gut  mada-m  ich  hieb  (etwas  bestirntes) 

II.  sawa-n  du  bist  gut  mada-n  du  hiebst 
III.  sawa  er  ist  gut  mada  er  hieb. 

Dual. 

I.  sawa-nt  wir  beide  sind  gut  mada-m  wir  beide  hieben 

II.  sawa- di  mada- dt 

III.  sawaha  madaria   von  einem  andern  stam- 

me für  madaria-ha' 


*)  Hier  und  sonst  teile  ich  auch  aufs  d.Qrn  gründe  grofsere  stücke  aufs  den  be- 
sprochenen sprachen  mit ,  um  nebenbei  ,den  auf  dem  gebiete  der  sprachen  weniger 
bewanderten,  die  villeicht  von  diser  abhandlung  einsieht  nemen,  eine  wenigstens  teil- 
weise  anschauung  von  dem  Organismus  —  fast  möchte  man  sagen  mechanismus  — 
wenig  bekanter  sprachen  zu  geben. 


540  Aug.  Schleiche!!,  die  Unterscheidung  von  [44 

Plural. 
I.  sawa-wa  wir  sind  gut        mada-wa  wir  hieben 

II.  sawa-da'  '        mada-da 

III.  sawa  mada. 

Jakutisch. 

Anstatt  des  Osmanli  wälen  wir  als  Vertreter  der  türkisch -tatari- 
schen sprachen  das  Jakutische.  Hierzu  bestirnt  uns  teils  der  umstand, 
dafs  uns  das  Jakutische  in  der  meisterhaften  darslellung  Böhtlingks 
(Über  die  Sprache  der  Jakuten.  Grammatik,  Text  und  Wörterbuch.  St. 
Petersburg,  Buchdruckerei  der  Kaiser!.  Akad.  der  Wissenschaften,  1851) 
vor  ligt ,  teils  die  warnemung ,  dafs  das  Jakutische  im  ganzen  altertüm- 
licher, in  seinem  baue  klarerund  ungetrübter  ist,  als  seine  türkische 
Schwester. 

Im  ganzen  gleichen  bek antlich  die  tatarisch,  auch  (besonders  in 
weiterem  sinne)  altaisch  genanten  sprachen  in  irem  wesen  den  finni- 
schen. Auch  in  bezug  auf  die  uns  beschäftigende  frage  fürt  die  Unter- 
suchung diser  sprachen  zu  dem  selben  ergebnisse,  welches  sich  bei  den 
finnischen  sprachen  und  dem  dem  Finnischen  nahe  stehenden  Samoje- 
dischen  heraufs  stelte. 

Auch  hier  gilt  der  stamm  als  'casus  indefinitus'  des  nomen  und  als 
II.  sing,  imperativi. 

Was  Böhtlingk  casus  indefinitus  nent,  ist  das  selbe,  was  im  Magya- 
rischen u.  s.  f.  von  den  grammatikern  nominativ  genant  wird.  In  be- 
stirnten fällen  bezeichnet  clise  form  im  Jakutischen  auch  das  object  eines 
transitiven  verbs ,  obwol  das  Jakutische  aufserdem  noch  einen  accusa- 
tivus  indefinitus  und  einen  accusalivus  definitus  hat.  Auch  hier  steht 
das  adjectivum  vor  dem  substantivum  in  seiner  reinen  stamform  — 
nach  Böhtlingk  im  casus  indefinitus  — ;  z.  b.  ölbüt  km-lär-gä  gestorbe- 
nen menschen;  nach  unserer  auffafsung,  das  dem  substantivum  an  tre- 
tende pluralzeichen  und  die  dem  selben  an  gefügte  postposition  wirkt 
auch  auf  das  vorher  gehende  adjectivum  (über  den  casus  indefinitus 
vgl.  bei  Böhtl.  §  390,  s.  1 59  f.). 

Die  zweite  singularis  imperativi,  so  wie  die  zweite  pluralis  und  die 
dritte  person  des  selben  modus  hält  Böhtlingk  für  echte  verbalformen, 
wärend  er  die  übrigen  meist  so  genanten  verbalformen  für  reine  nomi- 
nalformen erklärt  (§  510,  s.  203).    Wir  können  dem  nicht  bei  pflichten, 


45]  Nomen  und  Veibuu  in  deb  lautlichen  Form.  541 

in  so  ferne  wir  an  der  oben  vom  Indogermanischen  entnommenen  defi- 
nition  von  verbura  und  nomen  fest  halten.  So  wie  diser  definition  zu 
folge  der  'casus  indefinilus'  kein  casus  sein  kann ,  weil  er  kein  casus- 
suffix  hat ,  so  kann  auch  die  II.  sing,  imperativ!  kein  verbum  sein ,  weil 
sie  keine  personalbezeichnung  besizt.  Was  ferner  die  dritte  person  plu- 
ralis  des  imperativs  betritt ,  so  wird  sie  mittels  des  auch  beim  nomen 
gebrauchten  pluralzeichens  -lar,  -tör  u.  s.  f.  von  der  dritten  person  des 
Singulars  gebildet,  dise  selbst  aber  erhält  die  beziehung  auf  die  dritte 
person  durch  das  selbe  suffix ,  das  auch  bei  den  nominibus  als  posses- 
sivum  für  die  dritte  person  singularis  gebräuchlich  ist  (§§  420.  421). 
Z.  b.  II.  sing,  imperativi  bys  schneid;  III.  sing,  bys-tyn,  also  wörtlich 
etwa  'sein  schneiden,  sein  schnitt';  111.  plural.  bys4yn-nar,  für  *bys-tyn- 
'lar,  ist  regelrechter  plural  zum  entsprechenden  singular.  Das  suffix 
der  zweiten  person  pluralis  imperativi  -yri,  -in  u.  s.  f.  (n  —  gutturalem  n) 
identificiert  Böhtlingk  selbst  (§  321)  mit  dem  entsprechenden  suffix  der 
nomina  -riyt,  ritt  u.  s.  f.,  aufs  dem  es  durch  Verkürzung  entstanden  sei; 
eine  ansieht,  die  durch  die  verstärkte  form  des  imperativs  bys-ynyUyi 
zur  vollen  gewisheit  erhoben  wird.  Es  bezeichnet  somit  auch  die  II. 
plural.  imperativi  zunächst  nichts  anderes  als  'euer  schneiden,  euer 
schnitt*.  Somit  ist  der  ganze  imperativ  nichts  vom  nomen  wesentlich 
verschidenes  und  er  fält  daher  in  seinem  wesen  mit  den  übrigen  so  ge- 
nanten verbalformen  zusammen ,  deren  vom  nomen  nicht  unlerschidene 
art  von  Böhtlingk,  wie  oben  gesagt,  bereits  erkant  worden  ist. 

Der  so  genante  casus  indefinilus  und  die  II.  sing,  imperativi  fallen 
also  in  irer  form  zusammen  und  nicht  selten  kommen  auch  wirklich 
die  selben  worte  in  beiden  funetionen  vor  (§  235),  wie  z.  b.  äs  (s  wie 
unser ß)  hunger,  hungere;  tot  satt,  werde  satt;  tyn  atem,  atme;  Um  ge- 
froren, friere ;  sät  schände,  schäme  dich ;  sanä  gedanke,  denke ;  chorui 
antwort,  vergilt  gleiches  mit  gleichem. 

Wie  in  allen  sprachen  änliches  baues,  so  besieht  auch  im  Jakuti- 
schen das  perfectum  aufs  einem  nomen  praeteriti  mit  den  possessiv- 
suffixen,  die  hier  auch  an  den  dritten  personen  nicht  feien.  So  ist  z.  b. 
bys-U  (bys  schneiden)  ein  solcher  perfeclstamm.  Nach  Böhtlingk  ist  das 
an  die  würzet  tretende  t  ein  rest  von  •tack,  mit  welchem  Suffixe  (§  378) 
ein  nomen  praeteriti  und  indefinitutn  gebildet  wird,  z.  b.  bys-tach,  im 
Wörterbuch  erklärt  als  'ein  abgesonderter,  für  sich  bestehender  Theil\ 
Mag  villeicht  difs  t  im  praeteritum  nur  mit  jenem  -lach  verwant,  nicht 


542  Ai  g.  Schleicher  ,  dir  Unteisciieidukg  vox  [46 

identisch  sein,  sicher  ist  jedes  falles,  dafs  wir  im  praeleritum  keine  von 
den  als  nomina  gelteoden  verschidene  formen  vor  uns  haben.  Man  ver- 
gleiche z.  b. 

stamm  byst  geschnitten  stamm  bas  köpf 

Singular. 
I.  bygt't/m  ich  schnitt  basym  mein  köpf 

II.  byst-yri  du  schnitst  bas-yn  dein  köpf 

III.  byst-a  er  schnitt  bas-a  sein  köpf. 

Plural. 

I.  bysty-byt  wir  schnitten  bas-pyl  {p  für  b  nach  den  lautgesetzen 

§  165)  unser  köpf 

II.  bysty-gyt  ir  schnittet  bas-kyt  (k  für  g  nach  §  1 56)  euer  köpf 

III.  bysly-lar-a  sie  schnitten  bas-tar-a  (t  für  /  nach  §  173)  ir  köpf. 

Der  vocal  zwischen  stamm  und  suffix  in  den  pluralformen  des 
perfectum  ist  so  genanter  hilfsvocal.  Er  findet  sich  auch  bei  andern 
stammen. 

In  anderer  weise  ist  das  praesens,  der  potentialis  und  der  condi- 
tionalis  gebildet.  In  disen  formen  tritt  nämlich  das  Personalpronomen 
als  nominativ  an  den  stamm  an.  Das  pronomen  ist  aber,  wie  andere 
nomina  auch,  in  so  ferne  zugleich  verbura,  als  es  den  begriff  "sein  ent- 
halten kann.  So  heifst  z.  b.  ädär  jung,  auch  'jung  sein  ;  z.  b.  kini  (pron. 
III.  pers.  sing.)  ädär  er  ist  jung;  kini-lär  ädär-där  ('nach  den  lautgesetzen 
für  *ädär-lär)  sie  sind  jung.  So  kann  also  z.  b.  min,  pronom.  personale 
der  I.  person,  als  an  gehängtes  pronomen  -byn  -pyn,  -bin  -frfin  -frön 
u.  s.  f.  (vgl.  türkisch  &  ben  ich)  je  nach  den  voraufs  gehenden  vocalen 
lautend,  auch  heifsen  'ich  bin;  daher:  min  agha-byn  'ich  vater-ich'  so 
vil  als  '  ich  bin  vater .  Im  Jakutischen  haben  die  an  gehängten  prono- 
mina,  praedicataffixe  von  Böhtlingk  genannt,  in  den  I.  und  IL  personen 
formen  entwickelt,  die  von  denen  der  selbständig  gebrauchten  prono- 
mina  mer  oder  minder  ab  weichen,  wärend  in  den  tatarischen  dialeclen 
die  praedicataffixe  mit  den  selbständigen  pronominibus  ganz  zusammen 
fallen  (§  419  anm.,  s.  169). 

Bei  den  stammen ,  die  als  so  genante  verba  gelten ,  verhalt  es  sich 
nun  nicht  anders,  als  bei  den  inen  wesentlich  gleichartigen  stammen, 
die  als  nomina  betrachtet  werden.  Der  blofse  stamm  gilt  als  dritte  per- 
son; z  b.  bysar  'schneidend',  türk.  yy**  sewer  liebend.  Dise  form  ist 
geradezu  auch  ein  nomen  (Böhtl  §  375,  s.  154;  der  türkischen  gram- 


47]  NOMRN  UND  VEHBUH  IN  DER  LAUTLICBEN  FORM.  543 

matik  gilt  sie  als  indeclinabeles  participium  praesentis,  s.  z.  b.  Mirza 
A.  Kasem-Beg,  Allgemeine  Grammatik  der  türkisch-tatarischen  Sprache, 
übersetzt  von  Zenker,  Leipzig  1848,  s.  126  u.  sonst).  Das  selbe  gilt 
vom  negativen  praesens,  dem  der  negative  praesensstamm  zu  gründe 
ligt;  z.  b.  bys-pat  'nicht  schneidend1  (bys-pal  km  ein  nicht  schneidender 
mensch)  und  'er  schneidet  nicht' ;  z.  b.  km  byspat  der  mensch  schnei- 
det nicht.  Die  dritte  person  pluralis  hat  natürlich  das  gewönliche  plu- 
ralzeichen, z.  b.  bysallar,  nach  den  lautgesetzen  für  *bysar*lary  schnei- 
dende, d.  h.  'sie  schneiden  ;  byspatlar,  nach  den  lautgesetzen  für 
*by8pat4ar,  'nicht  schneidende',  d.  h.  'sie  schneiden  nicht'.  Die  andern 
personen  fügen  das  pronomen  zu  disem  stamme  hinzu: 

Singular. 
I.  bysa-byn  für  *bysar-byn;  tttrk.  f}y  $ewer-im. 
ll.  bysa-ghyn  für  *bysar-gyn ;  tttrk.  w»xr»  ^ewer-sen. 

Plural. 

I.  bysa-byt  für  *by8ar-byt;  tttrk.  ^xy  sewer-iz. 

II.  bysa-ghyt  für  *bysar-gyt;  tttrk.  y»jy  sewer-siz. 

Die  nominative  der  selbständigen  personalpronomina,  die  aller- 
dings von  den  suffigierten  formen  teilweise  verscbiden  sind,  lauten 
(Böhtl.  §  434,  s.  174:  Kasem-Beg  §  149,  s.  60  flg.): 

Singular. 
I.  min;  tttrk.  ^  ben,  lezteres  warscheinlich  mit  dem  älteren  anlaute 
(ttber  den  Wechsel  von  m  und  b  vgl.  §  172,  s.  77). 

II.  an;  tttrk.  ^  sen. 

Plural. 
I.  bis-igi;  türk.  ß  biz  oder  Jjj  biz-ler. 
II.  äs-igi  oder  is-igi;  türk.  y»  siz. 

Der  potentialis  und  der  conditionalis  des  Jakutischen  unterscheiden 
sich  beide  irem  baue  nach  nicht  vom  praesens,  sondern  nur  durch  den 
stamm.  Sie  brauchen  hier  also  nicht  weiter  erörtert  zu  werden. 

Wir  können  angesichts  der  vor  gelegten  sprachlichen  tatsachen 
mit  völliger  bestimtheit  aufssprechen,  dafs  im  Jakutischen  und  in 
den  im  verwanten  sprachen  dergegensatz  von  nomen  und 
verbum  in  der  lautlichen  form  nicht  entwickelt  ist. 

Die  mit  dem  Jakutischen  zu  einem  und  dem  selben  stamme  gehö- 
rigen sprachen  hier  durch  zu  nemen,  ist  nicht  nötig,  so  wenig  als  es 


544  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [48 

am  platze  gewesen  wäre,  wenn  wir  oben  die  einzelnen  semitischen 
oder  indogermanischen  sprachen  einer  betrachtung  unterzogen  hätten. 
Deshalb  möge  hier  auch  das  Koibalische  und  Karagassische  übergangen 
werden ,  obgleich  mir  für  dise  sprachen  in  M.  Alex.  Caströns  koibali- 
scher  und  karagaSsischer  Sprachlehre,  herausgegeben  von  Ant.  Schief- 
ner, St.  Petersburg  1 857,  ein  bequem  zu  benutzendes  studienhilfismittel 
vor  ligt. 

Tungusisch. 

Im  Tungusischen  (M.  Alex.  Castrens  Grundzüge  einer  tungusi- 
schen  Sprachlehre  nebst  kurzem  Wörterverzeichniss.  Im  Auftrage  der 
Kaiserl.  Akad.  der  Wissensch.  herausgegeben  von  Ant.  Schiefner.  St. 
Petersburg  1856)  verhalt  es  sich  bezüglich  der  Scheidung 
von  verbum  und  nomen  im  wesentlichen  eben  so,  wie  im 
Jakutischen. 

Der  nominativ  hat  kein  suffix. 

Das  adjectivum  als  solches  nimt  keine  declinationsendungen  an. 

Das  perfeclum  besteht  aufs  dem  stamme,  dem  die  possessiven  pro- 

nominalsuffixe  an  treten ;  z.  b. 

stamm  und  nominativ  des  partic. 
stamm  und  nominativ  haga  schale.        perfecli  anacä;   stamm  des  ver- 
bums ana  stofsen. 

Singular. 

I.  haga-u,   dial.  haga-f  meine       anaca-f,  anacä-u  ich  habe  gesto- 

schale  fsen 

II.  hagas  deine  schale  anacd-s  du  hast  gestofsen 

III.  haga-n  seine  schale  anacä  u.  anacä-n  er  hat  gestofsen. 

Plural. 
I.  hagorwun  unsere  schale  anacä  wun  wir  haben  gestofsen 

II.  haga-sun  euere  schale  anacä-sun  ir  habt  gestofsen 

III.  haga-tin  ire  schale  anacä-l  und  anacä-tin  sie  h.  g. 

Die  III.  sing,  anacä  ist,  wie  in  den  dritten  personen  häufig,  der 
blofse  stamm  one  personalbezeichnung.  Das  selbe  gilt  von  der  III.  plur. 
anacä-l,  welche  zum  stamme  nur  die  algemeine  pluralendung,  wie  sie 
bei  den  nominibus  überhaupt  gebräuchlich  ist,  gefügt  hat. 

Das  praesens  hat  nur  in  der  I.  und  II.  person  singularis  eigentüm- 
liche formen,  die  übrigen  fallen  in  der  form  mit  den  als  nomina  fungie- 
renden worten  zusammen. 


*9]  Nomen  und  Veibum  in  oüft  lautlichen  Form.  5i5 

Singular. 

I.  ana-in  ich  stofse  (warscheinlich  aufs  #anora-i»  verkürzt,  das  selbe 

gilt  vom  stamme  der  II.  sing. ;  zu  -tn  vgl.  bi,  gen.  mini,  ich). 

II.  ana-ndi  du  stöfsest  («,  gen.  si-rii,  du). 

III.  anara-n  er  stöfst  (vgl.  oworf  parlicip.  praesentis;  das  suffix  ist  das 
selbe  wie  im  perfectum  und  am  nomen). 

Plural. 

I.  anara-wun  und  anara-f  wir  stofsen  (leztere  form  wol  eine  Verkür- 

zung der  ersteren.    Oder  gilt  der  singularis  zugleich  als  plural? 
Ober  das  suffix  s.  beim  perfectum). 

II.  anara-sun  und  anaras  ir  stofset  (ganz  wie  bei  der  I.  plural.). 
III.  anara  sie  stofsen  (der  blofse  stamm). 

Burj&tisch. 

Für  die  mongolische  Schriftsprache  stehen  mir  im  augenblicke 
keine  hilfsmittel  zu  geböte.  So  weit  ich  mich  diser  spräche  aus  frühe- 
ren Studien  erinnere ,  weicht  sie  in  betreff  der  uns  hier  beschäftigenden 
fragen  nicht  wesentlich  von  den  bisher  besprochenen  sprachen  der  so 
genanten  altaischen  Sprachengruppe  ab. 

Dagegen  ligt  mir  für  das  Burjatische  eine  trefliche  quelle  vor  (Alex. 
Caströns  Versuch  einer  Burjatischen  Sprachlehre  nebst  kurzem  Wörter- 
verzeichniss.  Im  Auftrage  der  Kaiser!.  Akademie  der  Wissensch.  her- 
ausgegeben von  Ant.  Schiefner,  St.  Petersburg  1857).  Es  tritt  uns  auch 
hier  im  algemeinen  der  selbe  typus  sprachlicher  bildung  entgegen ,  den 
wir  bereits  bei  den  eben  erörterten  sprachen  kennen  gelernt  haben. 

Der  so  genante  nominativ  hat  kein  suffix,  er  feit  in  der  form  mit 
dem  stamme  zusammen.  In  näherer  Verbindung  mit  einem  andern  no- 
men kann  er  auch  in  der  funclion  eines  genitivs  stehen. 

Die  adjectiva  als  solche  haben  keine  suffixa. 

Als  possessive  suffixe  gelten  die  vollen  oder  verkürzten  genitiv- 
formen des  singularis  und  pluralis  der  selbständigen  pronomina. 

So  genantes  verbum.  '§  1 05.  Das  Burjatische  theilt  mit  mehreren 
samojedischen  und  türkischen  Sprachen  die  Eigentümlichkeit,  dass  die 
Personalaffixe  sowohl  an  Verba  als  auch  an  Nomina  und  gewisse  Ad- 
verbien gefügt  werden.  Dieser  Umstand  ist  im  Burjatischen  um  so  be- 
merkenswerter, als  das  Mongolische  sogar  in  vielen  Verbal- 
formen die  Personalendungen  hintansetzt  [vgl.  hierzu  das 

Abband!,  d.  K.  S.  Gesellaeb.  d.  Witsenieb.  X.  37 


546  Aug.  Schleicher  ,  die  Unterscheidung  von  [50 

im  flg.  über  dasMandschu  gesagte].  Diese  können  zwar  auch  im 
Burjatischen  ausgelassen  werden,  es  giebt  jedoch  keine 
Verbalform,  die  nicht  Personenendungen  annehmen  könn- 
te. Nur  für  die  dritte  Person  des  Singulars  uud  Plurals 
fehlt  eine  besondere  Eudung  und  diese  ist  somit  als  der  Slamm 
jeder  einzelnen  Verbalform  zu  betrachten.  Der  Bedeutung  nach  ist  die 
dritte  Person  des  Verbums  im  Burjatischen  wie  in  vielen  andern  ver- 
wandten Sprachen  ein  Nomen'  [nicht  nur  der  bedeutung,  sondern 
auch  der  form  nach  ist  sie  difs;  auch  die  andern  personen  unterschei- 
den sich  nicht  vom  nomen  s.  u.].    c§  106 Die  Verbalsuff  ix  a 

sind  aus  den  Personalpronomina  entstanden  und  machen  ent- 
weder eine  vollständige  oder  verkürzte  Form  ihres  Nomi- 
nativs aus  [wir  haben  also  eine  blofse  aneinanderrtlckung  zweier 
worte  vor  uns,  slamm  und  pronomen].  In  ihrer  vollständigen  Form 
kommen  jedoch  die  Personalsuffixe  beim  Verbum  nur  ausnahmsweise 
in  einigen  Dialeclen  vor  und  auch  dann  meist  in  der  zweiten  Person  des 
Singulars  und  in  der  ersten  und  zweiten  Person  des  Plurals*.  Bei  sol- 
cher losen  zusammenfUgung  von  stamm  und  pronomen  kann  es  nicht 
wunder  nemen,  wenn  da,  wo  keine  undeutlichkeit  dadurch  entsteht, 
das  pronomen  aufs  gelafsen  und  der  blofse  slamm  aHein  gesezt  wird, 
wie  difs  regelmäfsig  in  der  dritten  person  geschiht.  Von  verbis  nach 
indogermanischem  begriffe  kann  also  im  Burjatischen  auch 
nicht  im  entferntesten  die  rede  sein.  '§  108.  Diese  Personal- 
endungen werden  an  alle  Modi  finiti  mit  Ausnahme  des  Imperativs  gefügt. 
Dieser  Modus  bildet  mit  seiner  zweiten  Person  des  Singularis  den  Stamm 
selbst  und  nimmt  deshalb  nach  der  Regel  keine  Personalendungen  an. 

Ein  beispil  mag  anschaulich  machen ,  wie  es  nach  dem  gesagten 
ums  so  genante  verbum  im  Burjatischen  steht. 

Imperat.  II.  sing,  ala  töte.    Die  andern ,  teilweise  schwing  zu  er- 
klärenden personen  des  imperativs  mögen  hier  aufser  betracht  bleiben. 
Praesens  indicativi  stamm  alana  Pronomen 

Singular. 
III.  alana  er  tölel  (ohön  er;  tere  jener,  er) 

II.  alana- i,  alana- c  für  *alana  *t,       si  (ie) ,   dial.  ci  (ie) ;   genit.  *t-Ät\ 
*  alana  ci  du  tötest  ct-ilt*) 


*\  £ 


)  n  ist  auch  hier  bezeichnung  des  palalalen  n  (=  «/). 


51]  Nomen  pnd  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  547 

I.  alana-p  für  *alana  tri;  alana-m     bi%  genit.  mt-Ät. 

ich  töte  (lezlere  form  ist  wol 
kaum  nach  §  1 1 2  zu  erklären, 
sondern  nach  §  25,  b  als  nur 
phonetisch  von  alana-p  ver- 
schiden  zu  fafsen). 

Plural. 

III.  alana  sie  töten  (der  reine  stamm,     [ohöt;  tede) 
sogar  one  pluralzeichen.  Oder 
steht  hier,  wie  im  Litauischen, 
der  Singular  für  den  plural?) 

II.  alana-t  für  und  neben  alana-ta     ta,  genit.  ta-nai,  dial.  ta-ni,  ta-ili 

ir  tötet 

I.  alana-bda,  alana-bdi,  alana-bdji     bide,  bidi,  bidji,  genit.  tna-nai,  dial. 
für  *alana  bide,  alana  bidi  od.        tna-ni,  roa-flt. 
bidji. 

Wie  bereits  gesagt,  werden  die  personen  überall ,  auch  im  perfec- 
tum ,  auf  dise  art  bezeichnet. 

Obgleich  es  bei  den  paradigmen  nicht  bemerkt  ist,  so  können  die 
den  stammen  bei  gesezlen  pronomina  im  Mongolischen  und  Burjatischen 
auch  feien  (s.  o.). 

Mandschu. 

Im  Mandschu  (Kaulen,  linguae  mandschuricae  instituliones,  Ra- 
tisbonae  1856)  feit  eine  bezeichnung  der  zal  und  der  person 
beim  so  genantenverbum  ganz  undgar,  sodafs  hieralso 
von  einem  unterschide  von  verbum  und  nomen  in  der 
lautlichen  form  sich  keine  spur  findet.  Die  stamme,  die  wir 
als  nomina  zu  betrachten  haben,  unterscheiden  sich  in  irer  lautform 
nicht  von  denen,  die  durch  verba  zu  übersetzen  sind.  So  bezeichnet 
z.  b.  -tshi  sowol  den  ablativ,  als  den  conditionalis :  ama-Uhi  vom  vater, 
ara-Uhi  wenn  ich  schreibe;  -be  bildet  den  accusativ  und,  an  jene  con- 
ditionale  geh&ngt,  den  '  limitativ' :  ama-be  patrem ,  ara-tohi-be  licet  scri- 
bam  u.  s  f.  Wir  glauben  daher  auf  dise  spräche  hier  nicht  näher  ein 
gehen  zu  sollen.  Beiläufig  bemerke  ich  nur,  dafs  im  Mandschurischen, 
wie  mir  die  leclüre  der  bei  Kaulen  mit  geleilten  sprachproben  dar  ge- 
tan, ganze  Sätze  durch  postpositionen  gewisser  mafsen  decliniert  wer- 
den können.  Die  in  den  finnischen  und  tatarischen  sprachen  one  difs 
in  manchen  fällen  nicht  streng  durch  geflirle  Scheidung  und  individua- 

37* 


548  Aug.  Schleicbeä,  die  Unterscheidung  von  [52 

lisierung  der  einzelnen  sazglider  als  worte  scheint  im  Mandschu  bis  zu 
einem  völligen  nichtVorhandensein  des  unterschides  von  wort  und  satz 
aufs  gebildet  zu  sein.  Das  selbe  findet  sich  auch  in  andern  sprachen 
mit  geringer  formentwickelung.  Irer  dürftigen  grammatischen  beschaf- 
fenheit  wegen  haben  wir  die  Mandschu  spräche  one  rüksicht  auf  ire 
stamverwantschaft  ans  ende  unserer  betrachtung  der  so  genanten  altai- 
seben sprachen  gestelt. 

Tamulisch. 

In  dem  dra  vidi  sehen  oder  dekhanischen  sprachstamme  verhält  es 
sich  mit  der  Unterscheidung  von  nomen  und  verbum  etwa  in  der  selben 
weise ,  wie  in  den  finnischen  und  tatarischen  sprachen ,  mit  deren  bau 
der  des  Dravidiscben  überhaupt  im  algemeinen  überein  stimt.  Als  probe 
dises  Sprachstammes  wälen  wir  das  Tamulische  (nach  Grauls  outline  of 
Tamil  Grammar  in  dessen  Bibliotbeca  Tamulica  tom.  II;  anch  unter  dem 
titel  Kaivaljanavanita,  a  Vedanta  poem  u.  s.  f.  Leipzig  u.  London  1855). 

Das  nomen  enträt  auch  hier  eines  casussuffixes  für  den  nominativ; 
im  pluralis  tritt  das  pluralzeichen  an  und  an  dises  die  selben  casussuf- 
fixe  oder  postpositionen ,  die  auch  im  singular  gebraucht  werden,  z.  b. 
nominal,  sing,  ugogn  pdleh  (7  a  soft  /;  h  a  soft  n;  fruit,  gain,  reward, 
aufs  dem  sanskrit  entlent),  nominat.  plural.  ueveiraar  pdlen-kal  (/ a 
hard  /  of  a  lingual  character);  locat.  sing,  uevesflev  pdleh-il;  locat. 
plural.  U6V65r&6ffi6V  pdleh-kal-il  u.  s.  f. 

Was  das  verbum  betrift,  so  hat  das  Malayalam  nur  in  der  poesie 
personalendungen  (Graul,  Tamil  Gramm.  6.  42 ,  anm.  1  und  s.  99),  ein 
beweis  dafür,  dafs  sie  nicht  mit  dem  stamme  zu  einer  wirklichen  wort- 
einheit  verbunden  sind.  Im  Indogermanischen  ist  etwas  dergleichen 
unmöglich.  Nur  lose  an  tretende  nähere  bestimmungen  des  Stammes 
können  so  one  weiteres  hinweg  gelafsen  werden ,  nicht  aber  teile  eines 
wirklichen  wortes  (so  kann  im  Indogermanischen  wol  das  augment,  ein 
nur  an  gerüktes  adverbium,  feien,  nimmermer  aber  in  den  älteren 
noch  volständiger  erhaltenen  sprachen  dises  Stammes  casus-  und  per- 
sona lendung).  Auch  aufs  dem  Tamulischen  feit  es  nicht  an  beispilen 
diser  art;  denn  Graul  fürt  (s.  42,  §  35,  anm.  1}  alte  tamulische  verbal- 
formen one  personalendungen  an. 

Die  personalaffixe  des  Tamulischen  sind  nichts  anderes  als  die  ge- 
wönlichen  selbständigen  pronomina ,  die,  meist  in  verkürzter  form,  an 


53]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  549 

den  stamm  an  treten.  Einige  formen  mögen  dife  anschaulich  machen. 
Z.  b.  tjygü  atu  genauer  athu  (th  wie  im  Englischen  zu  sprechen),  nom. 
sing,  des  pronom.  der  dritten  person  neutrius,  it;  Q&iu  sej  eine  Wur- 
zel, facere  bedeutend ;  Sesrjb  kinr  oder  kihd  (f  a  gnarling  r,  half  dental 
and  half  lingual ,  kann  nach  öjt  n  als  d  gesprochen  werden)  bildet  den 
praesensstamm;  demnach  Q &iu§ättr p^  sej-kihr-atu  itdoes;  ^euirsm 
avar-kal  they,  regelmässiger  plural  des  pronomens  der  dritten  person, 
Q&iu&m&ir&eir  sej -kihr -är-kal  they  do,  in  welcher  form  das  als  selb- 
ständiges wort  avar-kal  lautende  pronomen  zu  är-kal  zusammen  gezo- 
gen ist  u.  s.  w. 

Die  lose  an  tretenden  pronomina  vermögen  nicht  dise  formen  zu 
wirklichen  verbalformen  zu  stempeln  und  es  ist  daher  volkommen  er- 
klärlich, dafs  jede  derartige  so  genanle  verbalform  durch  die  selben 
postpositionen,  wie  alle  so  genanten  nomina,  decliniert  werden  kann 
(Graul  a.  a.  o.  §  44  note,  pg.  50),  wie  sie  ja  auch  im  pluralzeichen  sich 
nicht  von  andern  Worten  unterscheiden.  Z.  b.  jBL-fß($ß6br  nata-nt-eh, 
genauer  nadandeh  'I  walked'  und  CJ  who  walked'  (nt  ist  zeichen  des 
praeteritum) ;  accusativ  ßi^^Q^bssf  nata-nt-4n-ei  me  who  walked; 
pL-ßpfiGn  nat-nt-äh  he  walked  (^gyoj&r  avak,  zusammen  gezogen 
an,  he);  ßi^ßfßa^eo  nata-nt-an-al  instrumentalis ,  tbrough  him  who 
walked  u.  s.  f.  Durch  die  declinierbarkeit  ist  der  volgiltige  beweis  dafür 
gelifert,  dafs  wir  beim  Tamulischen  im  so  genanten  verbum  keine  ei- 
gentlichen verbalformen  vor  uns  haben,  sondern  gebilde,  die  sich  in 
gar  nichts  von  denen  unterscheiden ,  die  als  nomina  zu  gelten  pflegen. 

Die  vor  den  pronominibus,  welche  die  personalendungen  ersetzen, 
stehenden  stamme  sind  als  adjectiva  (participia)  zu  fafsen.  Mit  dem  aufs- 
laute a  erscheinen  sie  denn  auch  wirklich  als  solche,  z.  b.  Q&iuS&tjd 
sej-kiht-a  who  or  which  does  u.  s.  f.  Stämme,  die  als  nomina  gelten, 
können  in  gewissen  fällen  durch  anfügung  der  tempusexponenten  und 
der  pronomina  (der  personalendungen) ,  sogar  durch  leztere  allein,  als 
so  genante  verba  fungieren  (§  44),  wärend  aufser  dem  die  anfügung  der 
personalendungen  an  die  mit  keinem  tempussuffix  bekleidete  wurzel 
das  negative  verbum  bildet  (§  39). 

Doch  ich  übergehe  alles  einzelne ,  da  die  nicht  eigentlich  verbale 
natur  der  so  genanten  tamulischen  verba  im  vor  stehenden  zur  genüge 
erwisen  ist. 


550  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  |5* 

Die  blofse  Wurzel  gilt  als  II.  sing,  imperalivi,  wie  in  so  vilen 
sprachen. 

Ergebnis:  das  Tamulische  scheidet  nomen  und  verbum 
nicht  in  der  lautlichen  form. 

Jenisseiisch. 

Eine  in  mancher  bezieh ung  roeik  würdige  spräche  ist  die  der  Je- 
nissei-Ostjaken  oder  Jenisseier  am  Jenissei  und  seinen  nebenflü- 
fsen ,  deren  anzal  nach  Castren  (M.  Alex.  Casträns  Versuch  einer  Jenis- 
sei-osljakischen  und  Kottischcn  Sprachlehre  nebst  Wörterverzeichnissen. 
Im  Auftrage  der  Kaiserl.  Akademie  der  Wissensch.  herausgegeben  von 
Ant.  Schiefner,  St.  Petersburg  1858)  eine  nur  noch  geringe  ist.  Mit 
diser  spräche  namentlich  im  baue  verwant  ist  die  der  Rotten,  von  de- 
nen Castren  (s.  V)  nur  noch  fünf  individuen  vor  fand.  Im  folgenden 
werden  wir  nur  das  Jenisseiische  berüksichtigen. 

Mit  recht  bemerkt  Castren  (s.  VI),  dafs  das  Jenisseiische  einen  von 
dem  der  so  genanten  altaischen  sprachen  ser  verschidenen  character 
habe.  Es  gehört  entschiden  nicht  in  die  grofse  gruppe  von  sprachen, 
die  man  unter  dem  namen  der  ural -altaischen  zusammen  zu  fafsen 
pflegt.  Warscheinlich  haben  wir  in  disen  eigentümlichen  idiomen  den 
rest  eines  ehemals  weiter  aufs  gebreiteten  Stammes  zu  erkennen  (Ca* 
str6n  s.  V). 

Wenn  ich  das  Jenisseiische  an  diser  stelle  behandele ,  so  geschiht 
difs  nicht  in  der  Überzeugung ,  als  gebüre  im  seinem  baue  nach  gerade 
diser  platz ,  denn  das  wesen  diser  spräche  ist  mir  noch  vi!  zu  wenig 
klar  geworden ,  um  dem  Jenisseiischen  eine  bestirnte  stufe  in  der  reihe 
der  sprachen  an  weisen  zu  können.  Überhaupt  sind  ja  in  der  vor  li- 
genden  abhandlung  die  sprachen  nur  so  ungeför  nach  ircr  morphologi- 
schen beschaffenheit  an  geordnet,  denn  ein  streng  wifsenschaflliches 
natürliches  System  der  sprachen  ist  eine  aufgäbe  der  zukunft. 

Höchst  bemerkenswert!]  sind  in  beiden  sprachen  vocalwechsel  im 
stamme  bei  der  pluralbildung,  z.  b.  tjip  hund,  plur.  tjap  (one  plural- 
endung);  fcegquappe,  plur.  kas-n  (mit  der  gewönlichen  pluralendung, 
vgl.  §§  53.  54  u.  vorwort  s.  IX);  kottisch  atiip  hund,  plur.  alsap  (one 
pluralendung);  ich  name,  plur.  ek-ri  (§  64)  u.a.  Anliche  vereinzelte  an- 
klänge an  flexion  finden  sich  auch  noch  sonst,  z.  b.  im  Koptischen. 

Wir  haben  difs  hauptsächlich  aufs  dem  gründe  hier  an  gefürt,  um 


55]  Nomen  und  Verb  um  in  der  lautlichen  Form.  551 

die  trennung  diser  sprachen  von  den  so  genanten  altaischen  zu  recht- 
fertigen. 

Übrigens  ist  die  uns  hier  beschäftigende  frage  nach  der  Unterschei- 
dung von  verbum  und  nomen  in  bezieh ung  auf  das  Jenisseiische  ziralich 
sicher  zu  beantworten.  Das  Jenisseiische  kent  keine,  dem  in 
den  indogermanischen  sprachen  vor  ligenden  gegensatze 
von  nomen  und  verbum  vergleichbare  Scheidung  diser 
beiden  redeteile. 

Für  dise  behauptung  mag  folgendes  als  begründung  an  geftirt 
werden. 

Im  Jenissei-osljakischen  gilt  der  stamm  der  noroina  als  nominaliv 
singularis.  Dem  nominativ  kann  auch  der  genitiv  und  aecusativ  gleich 
lauten.  Eben  so  im  Kottischen,  wo  jedoch  nominativ  und  aecusativ 
stäts  zusammen  fallen. 

Vom  verbum  genügt  es  hervor  zu  heben ,  dafs  der  plural  die  auch 
bei  nominibus  gewönliche  endung  zeigt,  z.  b.  I.  II.  III.  sing,  sitägit  ich 
reinige,  du  reinigst,  er  reinigt;  I.  II.  III.  plural.  sitägü-n  wir  reinigen 
u.s.  f.  Eben  so  im  praetorium),  z.  b.slng.sitörgü,  p\ur.  sitörgil-n.  Andere 
verba  sondern  die  personen  durch  praefixe,  die  pluralbezeichnung  bleibt 
aber  die  selbe,  z.  b. 

Singular. 
Praesens.  Praeterilum . 

I.  dä-gafuot  ich  warte  da-görfuot  ich  wartete 

IL  ka-gafuot  du  warlest  ka-görfuol  du  wartetest 

III.  da-gafuot  er  wartet  da-görfuot  er  wartete. 

Plural. 
I.  da-gafuot- n  wir  warten       da-gorfuot-n  wir  warteten 
II.  ka-gafuot-n  ir  wartet  ka-gorfuot-n  ir  wartetet 

III.  da-gafuot-n  sie  warten       da-gorfuot-n  sie  warteten. 

Das  vor  stehende  genügt,  um  die  nicht  wesentliche  verschidenheit 
von  nomen  und  verbum  auf  zu  zeigen.  Die  mannigfache  art  der  verbal- 
st&inme  diser  sprachen,  die  meist  deutlich  zusammen  gesezt  sind,  zu  er- 
örtern, ist  nicht  durch  die  aufgäbe  geboten,  die  wir  uns  gestelt  haben. 

Wenden  wir  uns  zur  betrachtung  einiger  sprachen  des  Kaukasus, 
deren  kentnis  wir  fast  aufsschliefslich  den  Forschungen  Schiefners  zu 
danken  haben. 


552  Aug.  Schleiche*,  die  Untebscheidusg  von  [56 


Thusch. 

Die  Thusch -spräche  ligt  in  umfafsender  darstelluug  vor  in  Ant. 
Schiefners  Versuch  über  die  Thusch-sprache  oder  die  khistische  Mund- 
art in  Thuschetien,  St.  Petersburg  1  856.  Besonderer  Abdruck  aus  den 
Memoires  de  l'Academie  Imperiale  des  Sciences  de  St.  Petersb.,  Sciences 
politiques,  bistoire,  philologie  T.  IX.  Mit  dem  Thusch  ist  nahe  verwant 
das  Tschetschen zische  (Ant.  Schiefner,  tschetschenzische  Studien, 
in  den  Mömoires  de  l'Acad.  Imperiale  de  St.  Petersb.  VII6  Sörie,  Tome 
VII,  nro.5;  1864).  Es  teilt  mit  dem  Thusch  den  eigentümlichen  sprach- 
character,  weshalb  wir  uns  hier  auf  das  leztere  beschränken  können. 

Das  Thusch  besizt  als  verbum  eine  reihe  adjectivischer  tempus- 
stamme  (Schiefner  §  298  spricht  mit  vollem  rechte  vom  'adjectivischen 
Character  des  Verbums  in  diser  spräche),  denen  sich  die  personalpro- 
nomina  der  ersten  und  zweiten  person  mer  oder  minder  innig  an  schlie- 
fsen  können  (§  177).  In  den  sprachen,  in  welchen  es  kein  verbum  sub- 
stanlivum  gibt,  pflegen  Überhaupt  die  adjectiva  mit  den  verben  zusam- 
men zu  fallen ;  es  gibt  in  disen  sprachen  einen  redeteil ,  dem  beide  be- 
ziehungsfunctionen  noch  ungeschiden  zu  kommen. 

Das  was  Schiefner  das  verbum  substantivum  nent  (§§  82.  208)  ist 
aber  offenbar  im  Thusch  nichts  anderes,  als  eine  reihe  von  pronominal- 
stämmen,  je  nach  genus  und  zal  im  praesens  wa9ja,  ba,  da,  tschetschen- 
zisch  wu,  ju,  bu,  du >  im  imperfect.  war,  jar%  bar,  dar,  tschetschenzisch 
wara,  jara,  bara,  dara  lautend.  So  sagt  man  z.  b.  tschetschenzisch  mo 
(ich),  wu  oder  ju  u.  s.  f.  ich  bin ;  huo  wu  u.  s.  f.  du  bist  etc. 

Die  personalbezeichnung  ist  dem  so  genanten  verbum  nicht  we- 
sentlich und  kann  da  feien ,  wo  das  handelnde  subject  anderweitig  be- 
zeichnet ist,  z.  b.  thusch.  nax  buger  (das)  volk  rief.  Das  pronomen  steht 
im  Thusch  entweder  als  selbständiges  wort  vor  dem  so  genanten  ver- 
bum ,  oder  es  steht  nach  dem  selben ;  in  disem  falle  können  die  prono- 
mina  der  I.  und  II.  person  mit  im  verschmelzen.  Die  pronomina  stehen 
entweder  im  nominativus  oder  im  instructivus  und  werden  beim  an- 
schmelzen an  den  stamm,  welcher  die  stelle  des  verbums  vertritt,  teil- 
weise verkürzt;  z.  b.  ailr-atxo,  nach  den  lautgesetzen  der  spräche  für 
*alir  atcho  wir  sprachen  {atcho  wir) ;  was  ich  bin,  wa-h  du  bist  für  wa 
90,  wa  ho;  dagegen  im  imperfect  war-aso  ich  war,  war-ako  du  warst  mit 


57]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  553 

einer  volleren  form  des  pronoraens  (vgl.  den  instructivus ,  I.  person  as, 
asa;  II.  person  ah,  aha). 

Wie  bei  dem  adjectivum ,  so  wechselt  auch  bei  dem  so  genanten 
verbum  der  anlaut  des  Wortes  je  nach  dem  geschlechte,  auf  das  es  sich 
bezieht. 

Kino  nähere  dai  legung  der  formen  der Thusch -spräche  ist  nicht  er- 
fordet lieh.  Das  mitgeteilte  genügt,  um  das  nichtVorhandensein 
eigentlicher  verba  in  diser  spräche  zu  bezeugen. 

Awarisch. 

Das  Avvarische  (Ant.  Schiefner,  Versuch  über  das  Awarische;  M6- 
raoires  de  l'Acadämie  Impär.  des  Sciences  de  St.  Petersb.,  VII0  S6rie, 
Tome  V,  nro.  8,  St.  Petersburg  1862),  'eine  der  Hauptsprachen  Daghe- 
stans,  welche  gewöhnlich  auch  unter  dem  Namen  der  lesghischen  be- 
kannt sind*  (Schiefner  a.  a.  o.  s.  5),  'deren  Mittelpunct  Chunsag  ist' 
(Schjefner  s.  1 ,  2) ,  stimmt  bezüglich  der  hier  in  betracht  kommenden 
punete  zum  Thusch  und  zum  Tschetschenzischen.  Wir  haben  auch  hier 
eine  änliche  bezeichnung  des  geschlechtes  am  adjeetiv,  Substantiv  und 
verbum  (§§  42,  61  —  63,  71,  76,  86,  97),  z.  b.  'wotu  die  Liebe,  deren 
Gegenstand  ein  Mann  ist,  jolu  dagegen  eine  Liebe,  welche  sich  auf  ein 
Weib,  bolu  wenn  sie  sich  auf  ein  anderes  Wesen  oder  Ding  bezieht;  im 
Altgemeinen  aber  heisst  die  Liebe  rotu,  da  r  zur  Bezeichnung  der  Mehr- 
zahl angewandt  wird'  (s.  1 1  flg.). 

'Beim  Verbum  kommt  die  Bezeichnung  des  Geschlechts  und  der 
Zahl  in  Betracht  und  geht  auf  Grundlage  des  in  §  42  Gesagten  [nämlich 
eben  so  wie  bei  den  adjeetiven  und  Substantiven]  vor  sich.  Diese  Be- 
zeichnung findet  hauptsachlich  im  Anlaut  statt,  so  dass  w,  j,  b  und  r  bei 
einem  und  demselben  Zeitwort  wechseln ,  z.  B.  wortize,  jirtize  [§  25 ;  i 
steht  hier  für  o  in  folge  der  Wirkung  des  j  auf  den  nachstehenden  vo- 
cal],  borlize,  rorUze  fallen  (§  97,  s.  20);  -ze  ist  infinitivendung  (§91). 

Die  person  wird  also  nicht  am  verbum  bezeichnet,  sondern,  wenn 
es  sich  nötig  macht,  durch  die  als  selbständige  worte  bei  gesezten  per- 
sonalpronomina  aufs  gedrttkt,  z.  b.  dun  bicanani  wenn  ich  sagte;  mm 
wacanani  wenn  du  kämest  (§  105)  u.  s.  f.  Adjeetiv  und  verbum  fallen 
also  auch  hier  wesentlich  zusammen;  da  wo  es  nicht  einmal  eine  be- 
zeichnung der  nominativischen  person  am  worte  selbst  gibt,  kann  von 
verben  im  indogermanischen  sinne  gar  keine  rede  sein. 


554  Ate  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  !r>8 

Imperativ  und  verbal uomioa  falleo  meist  in  der  form  zusammen, 
z.  b.  ahi  ruf,  rufe  (§  39,  s.  11). 

Udiscb. 

Das  Udiscbe  (Ant.  Schiefner,  Versuch  über  die  Sprache  der  Uden ; 
Mämoires  de  I'Acad.  Impär.  des  Sciences  de  St.  Petersb.,  VII0  S6rie, 
Tome  VI,  nro.  3,  St.  Petersburg  1 863),  das  jezt  nur  noch  auf  zwei  dör- 
fer  beschränkt  ist,  scheint,  nach  Schiefner  (s.  8)  zu  den  kaukasischen 
sprachen  zu  gehören,  obwol  es  von  disen  in  manchen  wesentlichen 
punclen  ab  weicht.  —  Die  forschung  ist  auf  dem  gebiete  solcher  spra- 
chen, die  keine  litteratur  haben,  aufs  dem  gründe  ser  erschwert,  weil 
wir  dise  sprachen  nur  in  irer  allerspütesten ,  jezt  vor  ligenden  gestalt 
kennen  und  dise  sich  meist  bereits  weit  vom  ursprünglichen  entfernt 
hat.  Man  darf  sich  daher  nicht  wundern,  wenn  Ober  das  wesen  und 
die  verwantschaftsverhaltnisse  solcher  sprachen  bisweilen  kaum  etwas 
völlig  sicheres  zu  ermitteln  ist. 

Auch  im  Udischen  ist  kein  dem  Indogermanischen 
entsprechender  gegensatz  von  nomen  und  verbum  vor- 
handen. Der  nominativ  hat  auch  hier  kein  casussufßx  (§  66).  Die 
Verbindung  der  pronomina  mit  den  verbal  stammen,  die  als  eine  art  par- 
tieipien  zu  betrachten  sind  (§§  104, 108),  ist  nur  lose  (§§  76»  99, 111); 
das  pronomen  ist  nicht  an  den  verbalstamm  gebunden ,  sondern  kann 
sich  auch  einem  vorher  gehenden  worte  an  hangen.  So  ist  also  weder 
dem  verbum  die  personalbezeichnung ,  noch  dem  nomen  durchweg  das 
casustmffix  wesentlich  und  eine  feste  worteinheit  ist  nicht  vorhanden. 
Udische  formen,  ins  Indogermanische  übertragen,  würden  lauten  wie 
z.  b.  ein  varka-ti  ai  für  varkas  aiti,  latein.  lupu-t  i  für  lupus  it.  Wie  lose 
in  diser  spräche  auch  die  stambildenden  elemente  an  einander  hangen, 
zeigt  u.  a.  der  umstand ,  dafs  das  praeteritumbildende  sufßx  i  auch  an 
das  Personalpronomen  vor  dem  verbum  treten  kann,  anstatt  an  den 
stamm  des  lezteren  (§  127) ,  z.  b.  bullet  qaeexa  der  köpf  schmerzte,  für 
bulle  qqcneexai;  bul  bedeutet  köpf;  ne  ist  'er  beim  verbum  (§  77),  das 
n  assimiliert  sich  dem  aufslaute  des  vorher  gehenden  Wortes  nach  f,  d, 
r,  /  (§  24),  demnach  steht  bulle  für  bul-ne  'köpf  er  ;  %  ist  das  Suffix  des 
praelerilum;  qae  schmerz;  exa  (§  102)  ist  ein  praesentialer  verbal- 
stamm, der  ser  vil  in  Zusammensetzung  gebraucht  wird  'machen,  sagen* 
bedeutend   (§§  88,  123);    demnach  ist  qae-em  'schmerz  machend', 


&i>]  Nomen  und  Verbum  in  dur  lautlichen  Form.  555 

also  bullet  qacexa  '  kopf-er-einst  seh  merz- machend',  bulle  qqc-ne-exa-i 
'kopf-er  schmerz-er-machend-einst'. 

Schon  aufs  diser  losen  aneinanderreihung  der  elemente,  die  zu 
einem  worte  zusammen  gefügt  werden,  ergibt  sich  ein  sprachcharacter, 
der  von  dem  des  Indogermanischen  weit  ab  steht  und  bei  welchem  ein 
sondern  der  nicht  zu  unzertrenbaren  wortkörpern  entwickelten  nomina 
und  verba  nicht  stall  findet.  Was  eigentlich  des  verbums  ist ,  wie  im 
oben  an  gefürten  beispile  ne  und  i ,  das  sehen  wir  also  auch  am  nomen, 
wodurch  eben  der  gegensatz  in  der  lautlichen  form  zwischen  disen  bei* 
den  redeteilen  verwischt  wird. 

Abchasisch. 

Eine  höchst  merkwürdige  spräche  ist  das  Abchasische  (Ausführli- 
cher Bericht  über  des  Generals  Baron  Peter  von  Uslar  Abchasische  Stu- 
dien. Von  A.  Schiefner.  Mömoiresde  l'Acadömie  etc.  Tome  VI,  nro.  12, 
St.  Petersburg  1863).  Für  phonologische  Studien  beut  dise  spräche 
durch  die  ir  eigenen  absonderlichen  laute  reiches  material;  auch  in 
morphologischer  beziehung  ist  sie  von  grofsem  interesse. 

Das  verbum,  d.  h.  das,  was  man  so  zu  nennen  pflegt,  ist  hier  in 
der  weise  entwickelt,  welche  den  so  genanten  einverleibenden  sprachen 
eigen  ist;  das  objeet  u.  s.  f.,  so  wie  das,  was  in  unseren  sprachen  durch 
conjunetionen  aufs  gedrttkt  wird ,  findet  im  Abchasischen  seinen  aufs- 
druck  am  so  genanten  verbum.  Dabei  ist  es  dennoch  nicht  zu  einer 
der  indogermanischen  art  und  weise  vergleichbaren  gc- 
gensttzlichen  entwickelung  von  verbum  und  nomen  ge- 
kommen. Die  pronominalpraefixe  oder  pronominalinfixe  (als  infixe 
treten  die  pronomina  bei  stammen  auf,  die  aller  warscheinlichkeit  nach 
zusammen  gesezt  sind;  vgl.  s.  VIII),  die  am  nomen  als  possessiva,  am 
verbum  als  bezeichnung  des  subjeets  und  des  objeets  fungieren  (§  9  flg.), 
sind  bei  beiden  Wortarten  wesentlich  die  selben.  Z.  b.  8-ab  oder  8-ara 
s-ab  (ego  meus-pater)  mein  vater;  sy-gny  (y  ist  eine  art  hilfsvocal)  oder 
8-ara  sy-gny  mein  haus;  b-ab  oder  b-ara  b-ab  dein  (femininum)  vater; 
by-b-gny  dein  (femin.)  haus  u.  s.  f.,  unterscheiden  sich  irer  form  und 
ihrem  wesen  nach  nicht  von  8-ara  sy-qoup  ich  bin  (wörtlich  etwa :  ich 
mein-dasein) ,  sy-qan  ich  war;  sy-bzian  ich  war  gut;  sybziamynda  ich 
möchte  nicht  gut  sein  u.  s.  f. ;  b-ara  by-qoup  du  (weib)  bist;  b-ara  by- 
bzioup  du  bist  gut  u.  s.  f. 


556  Aug.  Schleicheb,  die  Unterscheidung  von  [60 

Allerdings  isl  nicht  in  abrede  zu  stellen,  dafs  dergleichen  Überein- 
stimmung zwischen  nominal-  und  verbalformen  nicht  durchweg  statt 
findet  und  dafs  durch  den  bestirnten  und  den  un bestirnten  arlikel  (§  53) 
auch  im  nominativ  singularis  das  nomen  sich  vom  verbum  unterschei- 
det. Ein  durch  greifender  gegensatz  beider  redeteile  ist  aber  nicht 
vorhanden. 

Georgisch. 

FUr  das  Georgische  sind  meine  studienhilfsmittel :  Dictionnaire 
Geoi'gien-russe-fran$ais ,  composö  par  David  Tchoubinof ,  St.  Petersb. 
1 840  (difs  Wörterbuch  enthält  auch  eine  kurze  grammatik)  und  KpaTKan 
rpy3HHCKaa  rpaMxaTHKa  /^.  Hyämiona ,  Camera.  1 855. 

Leider  hat  es  mir  nicht  gelingen  wollen,  mir  auch  nur  so  weit  ein- 
sieht in  das  wesen  der  georgischen  spräche  zu  verschaffen ,  um  die  in 
diser  abhandlung  untersuchte  frage  in  bezug  auf  dise  spräche  beant- 
worten zu  können.  Der  grund  davon  ist  keines weges  in  der  Unzuläng- 
lichkeit meiner  quellen  zu  suchen ,  denn  die  oben  genanten  werke  er- 
möglichen eine  volkommen  aufs  reichende  anschauung  und  kentnis  der 
spräche ;  er  ligt  vilmer  im  wesen  diser  spräche  selbst.  Es  scheint  mir 
nämlich  das  Georgische  eine  bereits  stark  von  der  ursprünglichen  be- 
schaffenheit  ab  gewichene  spräche  zu  sein ,  so  dafs  ir  gegenüber  der 
Sprachforscher  sich  in  einer  anheben  läge  befindet ,  als  wenn  er  etwa 
aufs  dem  Englischen  oder  Französischen,  wie  es  jezt  ist,  und  zwar  aufe 
einer  phonetischen  darstellung  diser  sprachen — das  Georgische  hat  keine 
historische  Schreibung,  wie  die  beiden  genanten  indogermanischen  spra- 
chen —  einsieht  in  das  wesen  des  Indogermanischen  gewinnen  wolte. 
Ich  bin  nicht  im  stände ,  die  georgischen  worte  in  ire  elemente  zu  zer- 
legen und  den  Ursprung  diser  elemente  zu  ermitteln.  Hätten  wir  dise 
formenreiche  spräche  aufs  einer  beträchtlich  früheren ,  altertümlicheren 
lebensperiode  vor  uns ,  dann  wäre  wol  eher  eine  einsieht  in  iren  bau 
und  ire  entwickelung  möglich. 

Um  dem  leser  wenigstens  einiger  mafsen  die  hier  der  forschung 
entgegen  tretenden  schwirigkeiten  anschaulich  zu  machen  und  weil 
leicht  zugängliche  hilfsmittel  für  das  Studium  diser  spräche  v  in  welchen 
das  georgische  aiphabet  in  lateinische  schritt  um  gesezt  ist,  nicht  vor- 
handen sind,  teile  ich  einiges  aufs  der  georgischen  declination  und  con- 
jugation  hier  mit.   Auch  glaube  ich ,  dafs  die  blofse  anschauung  diser 


«0 


NoMBN  UND   VkUBUM  IN  DEH  LAUTUCHEN  FofM. 


657 


formen  gentigt,  um  die  völlige  verschidenheit  des  Georgischen  vom  In- 
dogermanischen dar  zu  tun.  Friedr.  Muller  (Orient  und  Occident  II,  526 
—  535)  sielt  mit  recht  den  Zusammenhang  der  kaukasischen  sprachen 
mit  den  indogermanischen  in  abrede,  wärend  bekantlich  von  namhaften 
gelerlen  das  gegenteil  behauptet  wird  (vgl.  z.  b.  Brossets  vorrede  zu 
Tschubinovs  Wörterbuch).  Die  georgischen  worte  habe  ich ,  so  gut  als 
es  gehen  wolte,  in  lateinische  schrill  umgescbribeo ,  dabei  aber,  um 
drukschwirigkeiten  zu  vermeiden,  mich  nicht  gescheut,  ein  einziges  zei- 
chen der  georgischen  schritt  durch  zwei  oder  sogar  drei  lateinische 
buchstaben  wider  zu  geben.  Auf  solche  fälle  habe  ich  jedoch  da ,  wo 
sie  zuerst  vor  kommen ,  aufmerksam  gemacht. 

Declination  eines  Substantivs. 


Singular. 

Plural  I. 

Plural  11. 

nomin.        katsi  (ts  ein  zeichen) 

katsni 

katsebi 

mensch 

genit.          kalssa 

katstha(th  ein 

zeichen) 

katsebisa 

daliv           kalssa 

kaistha 

kalsebsa 

vocativ        kalso 

katsno 

katsebo 

instr.  I.        kalsilha 

feit 

katsebitha 

inslr.  II.      katsad 

feit 

katsebad 

ortsgenitiv  kalsisas 

katsthasa 

kaisebisas 

erzälungs- 
nomin.      katsman 

feit 

katsebman. 

Es  wird  bemerkt  (s.  6),  dafs  der  genitiv  oft  noch  die  endungfen 
anderer  casus  erhalte  und  dafs  sich  auch  pl Uralbildungen  auf  -ebni  und 
-nebi  finden.  Difs  scheint  eine  Verbindung  der  beiden  pluralbildungen 
auf-m  und  -ebi  zu  sein.  Die  beiden  pluralbildungen  mögen  gleiche  func- 
tion  haben,  wenigstens  gibt  Tschubinov  keinen  funetionsunterschid  an. 

In  den  formen  kaistha  genit.  dat.  pluralis,  katsthasa  ortsgenitiv  plu- 
ralis ,  scheint  (ha  den  genitiv ,  der  ja  auch  im  Singular  und  im  zweiten 
plural  mit  dem  dativ  fast  gleich  lautend  ist,  zu  bezeichnen;  im  so  ge- 
nanten ortsgenitiv  ist  an  dises  tha  noch  sa  getreten ,  wie  im  ortsgenitiv 
des  Singulars  und  des  zweiten  plurals  an  den  genitiv  auf  -sa  ein  s  (wol 
aufs  sa  gekürzt)  tritt.  Dann  feit  aber  in  disen  formen  kats-tha  und  kats- 
thasa die  bezeichnung  des  plurals.  Fast  vermute  ich ,  dafs  in  disen  ca- 
sus ein  pluralzeichen  th  mit  dem  auf  das  selbe  folgenden  casuszeichen 
tha  verschmolzen  sei;  vgl.  die  I.  und  II.  person  pluralis  (in  manchen 


558  A(JG    SCHLEICHKR,    DIB  UmERSCHKIDUNG  VON  [62 

formen  auch  III.  pluralis)  auf  -th  (Friedr.  Müller,  Or.  u.  Occ.  II,  s.  533 
fürt  die  pluralformen  ama-th  jene,  ima-lh  dise  an,  welche  meine  Ver- 
mutung nichl  wenig  stutzen  würden;  ich  weifs  dise  formen  jedoch  aufs 
Tschubinov  nicht  zu  belegen). 

Von  den  pronominibus  erwähne  ich  me  ich ,  genit.  tschemi  (tsch  ein 
zeichen),  dat.  tschemda,  instr.  I  tschemith,  inslr.  II  tschemad;  tschven  wir, 
genit.  tschveni,  dat.  tschvenda,  instr.  I  tschvenitha,  instr.  II  Uchvenad; 
sehen  [seh  ein  zeichen),  du,  genit.  scheni  u.s.  f. ;  thkhven  (kh  ein  zeichen) 
ir,  genit.  thkhveni  u.  s.  f.  Die  nominativformen  beider  zalen  werden  ser 
oft  auch  anstatt  der  obliqui  gebraucht.  Ferner  man  er,  genit.  mis,  dat. 
mos  u.  s.  f. ;  w,  igt  er,  sie  (plural  isini,  igini) ;  ese,  am  celui-ci,  celle-ci ; 
ege  celui-lä,  celle-lä;  vin  wer,  genit.  vis,  dat.  visa  u.  s.  f. ;  ra  was,  gen. 
dat.  risa  u.  s.  f. 

Das  verbum  hat ,  nach  art  der  so  genanten  ein  verleibenden  spra- 
chen, vile  formen,  indem  es  aufser  dem  subjeet  auch  das  aecusativische 
und  dativische  objeet  an  deuten  kann ;  z.  b.  vhtlser  (tts  ein  zeichen)  ich 
schreibe  (das  futurum  indicativi  hat  die  selbe  form ;  das  praesens  von 
verben,  die  mit  praepositionen  zusammen  gesezt  sind,  fungiert  als  futu- 
rum ,  z.  b.  davhsttser  ich  werde  schreiben) ,  vhstiser  ich  schreibe  etwas 
(s.  17,  §  13),  vitiser  ich  schreibe  für  mich,  vuttser  ich  schreibe  für 
in ,  vittserebi  und  vettserebi  ich  werde  geschriben  (nmiiyci») ,  mtteer  du 
schreibst  mir,  mittser  du  schreibst  für  mich,  mattier  du  schreibst,  adres- 
sierst, an  mich  (HaAUHcuBaenu»  Ha  mcha),  mettserebi  du  schreibst  mich ; 
vattserineb  ich  lafse  schreiben,  vittserineb  ich  lafse  fllr  mich  schreiben, 
vutteermeb  ich  lafse  für  in  schreiben,  mitteerineb  du  lafst  für  mich  schrei- 
ben ;  ja  sogar  doppelte  causativa  finden  sich,  so  vatlserinebineb  ich  lafse 
einen  (jemand)  zum  schreiben  veraolafsen ,  vittserinebineb  ich  lafse  für 
mich  einen  zum  schreiben  veranlafsen. 

Verbalsubstantiv  (das  von  den  grammatikern  als  verbalstamm  den 
übrigen  formen  zu  gründe  gelegt  wird)  ist  ttsera  schreiben ;  parlicipium 
praesenl.  act.  mttsereli,  mttseri  schreibend ;  parlicipium  praeterili  pass. 
ttserili  geschriben. 

Als  beispil  für  die  abwandlung  nach  zeiten ,  modus  und  personen 
diene  folgendes. 


63] 


Nomen  und  Verbdm  in  deb  lautlichen  Form. 


559 


I.  vhttsser  scribo 

II.  hstlser  scribis 
III.  hstlsers  scribit. 

I.  vhstlserth 

II.  hstlserth 

III.  hstlseren. 

I.  vhsttsere  scripsi 

II.  hstlsere 

III.  hstlsera,  hstlser  is. 

I.  vhsttsereth 

II.  hstlser eth 
HI.  hsttseres. 


Indicativ. 

Singular. 

vhsttserdi  scribebam 

hstlserdi  scribebas 

hsttserda,  hsttserdis  scribebal. 
Plural. 

vhstterdith 

hsüserdith 

hsttserdnen,  hstlserdian,  -dnian. 
Singular. 

mittseria,  mitiseries  scripseram 

gittseria,  -ries 

uttseria,  -ries. 
Plural. 

gviltseriath,  -riesth 

gittseriath,  -riesth 

ultseriath,  -riesth. 


Conditional  (ycvioBHoe  naiuoHeHie). 

Praesens.  Perfectum. 

Singular. 
I.  vhsttserde  wenn  ich  schribe         mettsera  wenn  ich  geschriben  halte 
II.  hsttserde  geUser a 

III.  hstlser  des.  etlsera. 

Plural. 
I.  vhstlserdeth  gvettserath 

♦ 

II.  hstlserdeth  getlseralh 

III.  follserden.  ettserath. 


Plusquamperfectum. 


Futurum. 


Singular. 


I.  mettseros  wenn  ich  geschr.  hätte    vhstlsero  wenn  ich  schreiben  werde 


II.  gettseros 

hstlsero 

III.  etlseros. 

hsttseros. 

Plural. 

I.  gvetlserosth 

vhstlseroth 

II.  gettserosth 

hsltseroth 

fll.  ettserosth. 

hsttseron. 

560  Aug.  Schleicher,  die  Untebscheidlng  von  [64 

Im  imperativ  ist  die  II.  sing.  =  der  II.  sing,  indic.  perfecti ;  die 
III.  sing.  =  III.  sing,  condition.  futuri;  II.  plur.  =  II.  plur.  indic.  per- 
fecti; III.  plur.  =  III.  plur.  condition.  futuri.  Auch  die  übrigen  formen 
des  imperativs  bieten  kein  weiteres  interesse. 

Ich  lafse  noch  zwei  mer  oder  minder  ab  weichende  praesensfor- 
men  folgen. 

Indicativ. 

Singular. 

I.  var  ich  bin  (s.  42)  val  ich  gehe 

II.  char  du  bist  ich  ein  zeichen)  chval  du  gehst 

III.  ars  er  ist  vals  er  geht. 

Plural. 

I,  varth  wir  sind  valth  wir  gehen 

II.  charth  ir  seit  chvalth  ir  gehl 

III.  arian,  am  sie  sind  vlen,  vlenan  sie  gehen. 

Als  Verbalsubstantiv  zu  lezterem  gilt  via,  svla  (s.  40). 

Von  disen  formen  ist  mir  nur  so  vil  deutlich,  dafs  in  der  I.  und  II. 
pluralis,  im  conditionalis  perfecti  und  plusquamperfecti  auch  in  der  III. 
pluralis ,  -th  als  pluralzeichen  fungiert.  Es  schin  uns  oben  warschein- 
lieh ,  in  einigen  casus  das  selbe  pluralzeichen  auch  für  die  nomina  vor- 
aufs  zu  setzen. 

Die  personalbezeichnung  ist  mir  aber  rätselhaft.  Man  vergleiche 
die  abwandlung  des  praesens  indicativi  von  User  schreiben  mit  der  von 
ar  sein ,  vi  gehen  und  ferner  mit  der  des  plusquamperfectum  indicativi 
und  des  perfectum  und  plusquamperfectum  conditionalis  und  dise  sämt- 
lichen formen  mit  den  selbständigen  pronominibus  und  man  wird  mir 
gewis  zu  gute  halten,  wenn  ich,  angesichts  diser  sprachlichen  facta,  auf 
jeglichen  deutungsversuch  verzichte. 

Zur  bequemlichkeit  des  lesers  lafse  ich  dise  Zusammenstellung 
hier  folgen.  Das  was  sicher  als  wurzel  oder  stamm  erkenbar  ist,  ist, 
der  leichteren  übersieht  wegen,  mit  kleinerer  schritt  gesezt. 


Praesens. 

Plusqperf. 

Perf.  cond.  Praes.  ii 
Singular. 

id.           Pronomen. 

I.  vhsitser 

mütseria 

tnetUera            var 

roe,  in  and.  cass.  tochem 

II.   hstlser 

gittseria 

getlsera            char 

sehen 

II.   hstUerS 

UtUeria 

ettsera              arg 

ese,  u 

65]  Nomen  und  Verb  im  in  der  lautlichen  Form.  561 

Plural. 

I.    vhsttserth        gvUtseriath       gvetlserath        Varth        tschven 
II.   hsilserth         gütseriath         getUeralh         charth      thkhvetl 

III.  hsttseren       utiseriath        ettserath  arian      Vergl.  das  pluralzeichen 

-ro\  th? 

Baskisch. 

Die  mir  zu  geböte  stehenden  hilfsmittel  für  das  Studium  der  bas- 
kischen spräche  verstatlen  keine  genügende  einsieht  in  den  bau  des 
baskischen  wortes  (Larramendi,  el  imposible  veneido.  Arte  de  la  len- 
gua  Bascongada.  Nueva  edicion  por  Pio  Zuazua,  San  Sebastian  1 853, 
lerl  keineswegs  die  Zerlegung  des  wortes  in  seine  elemente;  Mahn, 
Denkmäler  der  Baskischen  Sprache.  Mit  einer  Einleitung  u.  s.  f.,  Berlin 
4  857,  fürt  durchaufs  nicht  weiter  in  der  erkentnis,  als  bereits  W.  von 
Humboldt  gelangt  war  in  seinen  Berichtigungen  und  Zusätzen  zum  Mi- 
thridates,  Berl.  1 81 7.  Nur  aufs  der  leztgenanten  abhandlung  vermochte 
ich  in  betreff  des  baues  der  baskischen  spräche  etwas  zu  lernen). 

Der  so  genante  einverleibende  Sprachbau,  d.  h.  die  bezeichnung 
des  objeets ,  auch  der  nebenher  betroffenen  und  der  an  geredeten  per- 
son  am  verbum ,  scheint  allerdings  sofort  einen  notwendigen  gegensatz 
von  verbum  und  nomen  zu  bedingen.  Dafs  jedoch  durch  die  einverlei- 
bung  keinesweges  eine  dem  im  Indogermanischen  vorhandenen  unter- 
schide  von  nomen  und  verbum  entsprechende  Scheidung  diser  beiden 
redeteile  herbei  gefürt  weide,  haben  wir  oben  bei  gelegenheit  des  Ma- 
gyarischen (s.  525)  bereits  erörtert.  Und  so  scheinen  denn  auch 
einige  specielle  züge  des  baskischen  verbums  dar  zu  tun,  dafs  auch 

in  diser  spräche  eine  völlig  durch  ge fürte  Scheidung  von 

» 

nomen  und  verbum  nicht  vorhanden  ist.  Freilich  kann  ich  nur 
ser  weniges  zur  begründung  diser  Vermutung  bei  bringen,  weil  ich,  wie 
gesagt,  vom  Baskischen  überhaupt  nur  ser  wenig  weifs. 

Die  dem  indogermanischen  verbum  wesentliche  personalbezeich- 
nung  feit  auch  im  Baskischen  in  der  dritten  person  singularis.  Wir 
kennen  bereits  dise  erscheinung  und  wifsen,  was  sie  zu  bedeuten  bat. 
W.  v.Humboldt  sagt:  die  III.  Pers.  Sing.  Nomin.  wird  niemals  ausge- 
drückt, sondern  zeigt  sich  durch  die  Abwesenheit  eines  Kennbuchsta- 
bens an'.  Da  nun  auch  das  an  geredete  masculinum  one  bezeichnung 
bleibt ,  so  besteht  z.  b.  il  au  'er  hat  dich  getötet  o  mann ,  nur  aufs  den 

AbhtDdl.  d.  K.  S.  Gesellich.  d.  Wiweasch.  X.  38 


562  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [66 

beiden  verbalwurzeln  il  töten,  au  Wurzel  des  so  genanten  verbum  auxi- 
liare  (v.  Humb.  in  der  tabelle  s.  58  des  sonderabdruckes).  Da  es  gerade 
die  dritte  person  ist,  welche  auch  in  andern  sprachen  mit  nicht  ent- 
wickelter Scheidung  von  nomen  und  verbum  one  bezeichnung  der  per- 
son bleibt,  so  haben  wir  auch  im  Baskischen  kein  recht,  den  vertust 
einer  einst  vorhandenen  lautlichen  bezeichnung  diser  person  voraufs  zu 
setzen. 

Ferner  scheint  ein  beweis  für  die  nicht  rein  verbale  natur  der  bas- 
kischen verbalformen  darin  zu  (igen,  dafs  'jede  Person  eines  Verbi  in 
jeder  Zeit,  jedem  Modus  und  jeder  Conjugation,  mithin  jede  Modifica- 
tion  einer  Handlung ,  durch  blofse  HinzufUgung  eines  n  am  Ende  des 
Qectirlen  Auxiliars  in  ein  Participium  verwandelt  werden  kann'  (von 
Humb.  s.  61).  In  disem  n  vermutet  von  Humboldt  wol  mit  recht  die 
postposition  an,  en  (sie  bezeichnet  den  locativ,  Larramendi  cap.  IX, 
s.  173 ;  z.  b.  Cadiz-en  en  Cadiz  u.  s.  f.).  Das  von  W.  von  Humboldt  aufs 
einem  wigenliede  an  gefürte  beispil  eines  solchen  angeblichen  partici- 
piums  bestätigt  nur  dise  Vermutung.  Es  lautet  guradozun  egunen  baten 
eines  tages,  wo  du  es  wilst;  hier  ist  guradozu-n  deutlich  locativ  von 
gura-dozu  'du  wilst  es'  (gura  wollen,  d  es,  o  tun,  zu  du;  wollen -es- tust- 
du,  warscheinlich  eigentlich  du-es- wollen -tuend ,  locativ  also:  in-dei- 
nem-es-wollen-tuenden) ,  wie  egunen  locativ  zu  eguna  tag,  baten  locativ 
zu  bat  einer,  eine,  eines;  die  worte  guradozun  egunen  baten  scheinen 
also  so  vil  zu  bedeuten  als  'an  einem  du- es- wollen -tuenden  tage'.  Ver- 
balformen aber,  die  postpositionen  an  nemen,  d.  h.  die  decliniert  wer- 
den können ,  sind  unmöglich  verbalformen  im  indogermanischen  sinne, 
sondern  in  irem  wesen  von  nominalformen  noch  nicht  geschiden.  Man 
denke  sich  nur  etwa  ein  altindisches  *bharanti-m  =  griech.  *(peQorri-oi 
od.  *(pt()ovo€-oi,  locat.  plur.  zu  bhdranti  =  (pegovri,  (pegovoi,  um  sofort 
die  völlige  Unverträglichkeit  von  verbalformen  mit  casusendungen  zu 
empfinden. 

Cree. 

Leider  stehen  mir  für  die  sprachen  der  neuen  weit,  deren  bau  be- 
kantlicb  an  den  des  Baskischen  erinnert,  keine  aufs  reichenden  hilfe- 
mittel  zu  geböte.  Meine  adversarien  bieten  mer  oder  minder  aufs  ge- 
dente  aufszüge  aufs  Du  Ponceau,  Memoire  sur  le  Systeme  grammatical 
des  langues  de  quelques  naüons  Indiennes  de  l'Amärique  du  Nord, 


67]|  NOMBN  UND  VsRBUtf  IN  DER  LAUTLICHEN  FORM.  563 

Paris  1838  u.  aufs  Grammar  of  the  Lenni  Lenape  or  Delaware  Indians 
by  D.  Zeisberger,  transl.  with  preface  etc.  by  Du  Ponceau,  Philadel- 
phia 1 827.  Dise  beiden  Schriften  halfen  mir  so  gut  als  nichts.  Mer  ge- 
nüzt  hat  mir,  one  jedoch  klare  einsieht  zu  ermöglichen  Howse,  a 
Grammar  of  the  Gree  language  with  which  is  combined  an  analysis  of 
the  Chippeway  dialect,  London  1844. 

Be kantlich  verschlingt  in  disen  sprachen  das  so  genante  verbum 
den  satz  mer  oder  minder  in  sich,  so  dafs  das,  was  aufser  dem  verbum 
im  salze  steht,  nur  apposition  zu  dem  bereits  im  verbum  aufs  gedrükten 
ist  (z.  b.  im  Cree:  er,  son-sein,  ich  sehe-in-den-seinen ,  d.  h.  ich  sehe 
seinen  son).  Hieraufs  schon  folgt,  dafs  in  disen  sprachen  ein  ganz  an* 
deres  Verhältnis  von  nomen  und  verbum  ob  walten  mute,  als  im  Indo- 
germanischen. Aber  auch  in  der  form  ist  nomen  und  verbum  nicht, 
oder  doch  wenigstens  nicht  principiell  geschiden.  Es  genügt  ein  bei- 
spil ,  um  difs  fürs  Cree  anschaulich  zu  machen. 

Singular. 
I.  n-ootäwee  mein  vater  ne  ketoon  ich  spreche 

II.  k-ootdwee  dein  vater  ke  ketoon  du  sprichst 

III.  ootdwee  sein  vater  ketoo  er  spricht. 

Plural. 

I.  u.  III.  n-ootäwee-nan  unser  (erste       ne  ketoon-nan  wir  (1. 111.)  sprechen 
u.  dritte  person)  vater 

I.  u.  II.  k-ootäwee-nöw  unser  (erste        ke  ketoon-änow  wir  (I.  II.)  sprechen 
u.  zweite  person)  vater 

II.  k-ootäwee-oowow  euer  vater       ke  keloon-owöw  ir  sprecht 
III.     ootawee-oowow  ir  vater  ketoo-wük  sie  sprechen. 

Man  siht,  zwischen  den  possessiven  aufsdrücken  am  nomen  und 
der  personalbezeichnung  am  verbum  ist  kein  wesentlicher  unterschid, 
so  dafs  also  ein  ne  ketoon  ich  spreche  wol  als  'mein  sprechen  zu  fafsen 
ist.  Das  selbe  findet  nun  auch  in  andern  sprachen  Americas  statt.  Es 
ist  hier  zu  keinem  gegensatze  zwischen  verbal*  und  no- 
minalformen in  der  lautlichen  gestaltung  der  selben  ge- 
kommen. 

Tscherokesisch. 

Es  ligt  mir  vor:  Kurze  Grammatik  der  Tscberokesischen  Sprache 
von  H.  C.  von  der  Gabelentz  in  Höfers  Zeitschrift  für  die  Wissenschaft 
der  Sprache,  Greifswald  1851,  III,  255—300. 

38* 


564  Aug.  Schleicher  ,  die  Unterscheidung  von  [68 

Das  substaativum  unterscheidet  in  diser  spräche  höchstens  Singu- 
lar und  plural,  nicht  aber  die  casus. 

Fast  sämtliche  adjectiva  werden  als  so  genante  verba  behandelt. 
An  personalpronominibus  gibt  es  nur  die  unveränderlichen  ayv  (v 
bedeutet  einen  laut,  der  dem  des  französischen  un  gleich  komt,  also 
nasales  englisches  u,  wie  es  in  but  gesprochen  wird)  ich,  wir;  uchi,  du, 
ir.  Aufserdem  einige  ebenfals  indeclinable  demonstrativa:  na,  nani  oder 
nasgi  jener;  hia  diser.  Alles  übrige  stekt  im  so  genanten  verbum  und 
in  den ,  wie  wir  gleich  sehen  werden ,  von  den  verbalen  formen  nicht 
verschidenen  possessiven  nominalbildungen. 

Wir  haben  hier  nämlich  die  selbe  erscheinung  vor  uns,  wie  im 
Cree;  die  einfache  conjugalion  und  die  possessivformen  sind  identisch. 
Man  vergleiche: 

Singular. 
I.      Isinelung  mein  haus  dsinega*)  ich  spreche 

II.  hinelung  dein  haus  hinega  du  sprichst 

III, a.  kanUung  sein   (des  gegen-        kanega  er  spricht, 
wärtigen)  haus 

III,  b.  kanelung  sein  (des  abwesen- 
den) haus 

Dual. 

I.  II.  ininelung  dein  u.  mein  haus       ininega  wir  (ich  und  du)  sprechen 
f. III.  aslinelung  sein  u.  mein  haus        osdinega*)  wir  (ich  u.  er)  sprechen 

II.  istinelung  euer  haus  sdinega  ir  beide  sprecht 

III,  a.  taninelung  ir  (der  beiden  ge- 
genwärtigen) haus 

III,  b.  aninelung  ir  (der  beiden  ab-       aninega  sie  beide  sprechen, 
wesenden)  haus 

Plural. 

I.  sg.  u.  II.  pl.  itinelung  euer  u.  mein        idinega  wir  (ich  und  ir)  sprechen 

haus 

I.  sg.  u.  III.  pl.  atsinelung  ir  u.  mein        odsinega  wir  (ich  und  sie)  sprechen 

haus 

II.  itsinelung  euer  haus  -  idsinega  ir  sprecht 

III,  a.  taninelung  ir  (gegenw.)  haus 

III,  b.  aninelung  ir  (abwes.)  haus  aninega  sie  sprechen. 


*)   Ober  den  Wechsel  von  t  und  d  und  Unliebe  Schwankungen  bemerkt  der  verf. 


69]  Nomen  und  Veiibum  in  der  lautlichen  Form.  565 

Eben  so  gehl  kanegoi  er  spricht  gewönlich,  kanegvgi  er  sprach  (he 
was  speaking)  in  meiner  gegenwart  oder  nach  meiner  eigenen  warne- 
mung ,  kanegei  er  sprach  one  meine  eigene  warnemung ,  kanegesdi  he 
will  be  speaking,  kanegvi  sein  sprechen. 

Ferner  vergleiche  man : 

Singular. 
I.       akinawi  mein  herz  aginedsv  ich  habe  gesprochen 

II.       tsannwi  dein  herz  dsanedsv  du  hast  gesprochen 

III,  a.  tunawi  sein  (gegenw.)  herz 
III,  b.  unawi  sein  (abwes.)  herz  unedsv  er  hat  gesprochen. 

Dual. 

I.  u.  II.  kininawi  dein  u.  mein  herz       gininedsv  wir  (du  und  ich)  haben 

gesprochen 

I.  u.  III.  akininawi  sein  u.  mein  herz        ogininedsv  wir  (er  und  ich)  haben 

gesprochen 

II.      stimm  euer  herz  sdinedsv  ir  habt  gesprochen 

III,  a.  tuninawi  ir  (der  gegenw.) 
herz 

III,  b.  uninawi  ir  (abwes.)  herz  uninedsv  sie  haben  gesprochen. 

Plural. 

I.  u.  II.  pl.  ikinawi  euer  und  mein       iginedsv  wir  (ir  und  ich)  haben  ge- 

herz  sprochen 

I.  u.  III.  pl.  akinawi   ir   und   mein        oginedsv  wir  (sie  und  ich)  haben 

herz  gesprochen 

IL       itsinawi  euer  herz  idsinedv  ir  habt  gesprochen 

III.       wie  im  dualis. 

Eben  so  gehen  sechs  modißcationen,  wie  unedsoi,  unedsvgi  u.  s.  f. 

Der  unterschid  der  possessivformen  im  ersten  beispile  von  denen 
im  zweiten ,  so  wie  die  sonderung  der  einzelnen  elemente  und  ir  Ur- 
sprung haben  mich  bei  diser  und  bei  andern  Indianersprachen  Americas 
schon  merfach  beschäftigt,  one  dafs  ich  zu  einem  irgend  wie  genügen- 
den ergebnisse  gelangt  wäre. 

Man  vergleiche  ferner: 


s.  259,  dafs  sie  sich  auf  einen  Wechsel  in  der  aufs  spräche  und  dadurch  bedingte  ver- 
schidenartigkeit  seiner  quellen  gründen. 


566 


Aüg.  Schleiche«,  die  Untebscheiding  von 


[70 


Singular. 

Üukung  bäum 

kutusi  berg 

equani  flufs 

Isaiota  dein  vater 

ulota  sein  vater. 

kalitoii  ich  bediene  mich  eines  lef- 
fels 

Isigowati  ich  sehe  ein  ding 

isistigi  ich  efse  ein  ding 


Plural. 

detlukung  bäume 

dikutusi  berge 

toequoni  flüfse 

ditsatota  deine  vater 

Isutota  seine  väter 

dekatitoti  ich  bediene  mich  roere- 
rer  leffel 

delsigowati  ich  sehe  merere  dinge 


delsistigi  ich  efse  merere  dinge 
u.  s.  f. 

In  die  verwirrende  fülle  der  so  genanten  Iransitionen  wollen  wir 
nicht  versuchen  ein  zu  dringen,  zumal  da  das  im  bisherigen  vor  gelegte 
genügt,  um  zu  beweisen,  dafs  verbum  und  nomen  auch  hier  in 
der  form  nicht  gesondert  sind. 

Ein  verbum  'sein  gibt  es  nicht  (s.  298). 

Demnach  komt  es  in  diser  spräche  nicht  zu  eigentlichen  verben, 
trotz  bildungen  wie  winitotigeginaliskolvUmonelitisesti  sie  werden  zu  je- 
ner zeit  zimlich  auf  gehört  haben  dich  und  mich  aufs  der  ferne  zu  be- 
günstigen (s.  260). 

Dakota. 

Grammatik  der  Dakota-Sprache  von  H.  C.  von  der  Gabelentz.  Auch 
unter  dem  titel :  Beiträge  zur  Sprachenkunde,  zweites  Heft,  Lpz.  1 852. 
Keine  declination.   Plural,  mit  beschränktem  gebrauche,  auf -p*. 
Bestirnter  artikel  kin,  ein,  unbestimter  wan  (vgl.  wanja  zalwort  für  1), 
als  selbständige  worte  nach  gesezt. 

Verbum  one  bezeichnung  der  dritten  person.  Das  pluralzeichen 
am  verbum  ist  das  selbe  wie  an  den  nominibus.  Jedoch  haben  die  I. 
und  II.  sing,  eigentümliche  personalpraefixa.    Z.  b. 

Singular. 
mi  oie  mein  wort  miye  ich 

ni  oie  dein  wort  niye  du 


I.  wa-ni  ich  lebe 

II.  ya-ni  du  lebst 
III.  ni  er  lebt. 


I.  on-ni~pi  wir  leben 

II.  ya-nt-pi  ir  lebt 
III.  ni-pi  sie  leben. 


Plural. 
onk-oran-pi  unsere  werke   onkiye  wir 
ni  oran-pi  euere  werke       niye-pi  ir 


74]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  567 

Nur  in  der  besonderheit  der  personalbezeichnung  der  I.  II.  sing, 
ligt  ein  schwacher  ansalz  zur  scheidung  von  verbal-  und  nominalformen 
vor ;  denn  on-  der  I.  plur.  ist  offenbar  blofse  Verkürzung  von  onk-,  das 
auch  wirklich  vor  vocalen  steht,  z.  b.  opa  er  ist  dat  onk-opa-pi  wir  sind 
da;  die  (I.  plur.  ist  der  auf  nominale  art  gebildete  pluralis  der  II.  sing. 
Das  blofse  verbum  kann  auch  als  participium  fungieren  (§  32).  Die 
'transitionen'  bestehen  in  einfacher  beifügung  pronominaler  elemente  zu 
dem  so  genanten  verbum ,  z.  b.  qu,  du  (c  vertritt  ein  q  nach  t,  e)  geben, 
davon : 

ma-qu  er  gibt  mich  oder  mir  (qu  er  gibt), 

ni-qu  er  gibt  dich  oder  dir, 

ma-qu-pi  sie  geben  mich  oder  mir  (qtt-pi  sie  geben), 

ni-qu-pi  sie  geben  dich  oder  dir, 

on-qu-pi  er  gibt  uns,  aber  auch  'sie  geben  uns', 

wa-ki-öu  ich  gebe  in  oder  im  (wa-ku  ich  gebe), 

on-ni-du-pi  wir  geben  in  oder  im  (on~ku-pi  wir  geben). 

In  die  von  nominibus  nicht  unterschidenen  so  genanten  verba  (wie 
qu  er  gibt,  qu-pi  sie  geben  u.  s.  f.)  komt  durch  die  transitionen  nichts 
specifisch  verbales. 

Also  auch  hier  keine  trennungvon  nomen  und  verbum. 

Grönländisch. 

Für  andere  amerikanische  sprachen  kann  ich  nur  aufs  secundären 
quellen  schepfen.  Das  Grönländische  und  das  Mexicanische  behandelt 
Stein lhal  (Characteristik  der  hauptsachlichsten  Typen  des  Sprachbaues, 
Berlin  1 860) ;  das  erstere  nach  Kleinschmidts  grammatik  der  grönländi- 
schen spräche  mit  (heil weisem  einschlufs  des  Labradordialects,  Berlin 
1 851 ,  das  leztere  nach  mir  nicht  bekanten  quellen. 

Von  dem  über  das  Grönländische  bei  Steinthal  mit  geteilten  heben 

wir  folgendes  aufs:  Es  bekleidet auch  beim  Indicativ  das  Verbum 

mit  einem  Moduscharacter.  Dagegen  versäumt  auch  die  grönländische 
Sprache  das  wichtigste,  nämlich  die  dritte  Person  als  Subject  durch  ei- 
nen Personal -Character  zu  bezeichnen.  Der  Stamm  also  mit  dem  Modus- 
Character  ist  zugleich  die  3.  Pens.  Sing,  und  der  Dual  und  Plural  ent- 
stehen durch  Abwandlung  des  Sing,  nach  Weise  der  Nomina'  (s.  224). 

Vgl.  hierzu  das  so  eben  aufs  andern  sprachen  Nordamericas  mit 


568  Aüg.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [72 

geteilte.    Demnach  wird  im  Grönländischen  eben  so  wenig 
nomen  und  verbum  geschiden,  als  in  jenen. 

Mexicanisch. 

Über  das  Mexicanische  mag  man  bei  Steinthal  (Characteristik  etc. 
s.  202  flgg.)  nach  lesen.  Ich  hebe  nur  das  nötigste  hier  aufs,  um  dar 
zu  tun,  dafs  auch  im  M exicanischen  eine  Scheidung  von  no- 
men und,  verbum  in  der  lautlichen  form  nicht  besteht. 
S.  216:  c  Dafs  die  3.  Person  des  Verbums  kein  Präfix  hat,  ist  ein  böses 
Zeichen.  Dazu  kommt,  dafs  der  Plural  des  Verbums  gerade  so  gebildet 
wird,  wie  der  des  Nomens:  nemi  er  lebt,  nemi  sie  leben. 

Dies  weist  daraufhin,  dafs  ni-nemi,  ti-nemi  nur  so  viel  heifst,  wie: 
ich  Lebender,  du  Lebender.  So  sagt  man  ja  auch  ne  ni-llätlakoäni  ich 
ich-Sünder. 

Daher  hat  es  auch  nichts  Auffallendes  mehr,  dafs  alle  Nomina  jene 
Prädicals- Präfixe  erhalten  können  [eine  erscheinung,  die  wir  bereits 
kennen,  vgl.  z.  b.  das  Jakutische  s.  340  f.]:  ni  kwalli,  eigentlich:  ich  gut, 
ich  bin  gut;  ti-kwalli  du  (bist)  gut,  kwalli  er  (ist)  gut'  u.  s.  f. 

Die  so  genante  einverleibung  vermag  nicht  dise  nichtunterschei- 
dung  von  nomen  und  verbum  zu  beheben,  denn  auch  ein  nomen  kann 
ja  active  function  haben ;  ein  ni-naka-kwa  (naka-tl,  in  Zusammensetzung 
zu  naka  gekürzt,  fleisch;  kwa  efsen)  ich-fleisch-efse,  ich  efse  fleisch, 
ist  von  dem  oben  an  gefürten  ni-nemi  ich  lebe,  ni-kwalli  ich  bin  gut 
nicht  wesentlich  verschiden ;  wir  haben  es  etwa  als  'ich-fleisch  efsen- 
der  zu  fafsen.  Wenn  Steinthal  (s.  21 8)  dem  Mexikanischen  'wahrhafte 
Verba  ab  spricht,  so  können  wir  im  hierin  nur  bei  pflichten. 

Mit  dem  vor  stehenden  mufs  ich  es  in  betreff  der  sprachen  Amen- 
cas  sein  bewenden  haben  lafsen.  Hoffentlich  läfst  sich  einmal  ein  ande- 
rer fachgenofse  herbei,  die  zalreichen  mir  unzugänglichen  sprachen  auf 
den  hier  in  betracht  kommenden  punct  einer  Untersuchung  zu  unter- 
werfen. 

Südafrikanische  (Bäntu)  sprachen. 

Von  den  sprachen  Africas  (aufser  dem  Koptischen  und  Nama)  ste- 
hen mir  nur  für  einige  der  so  genanten  siidafricanischen  sprachen,  der 
Bä-ntu  Family  Bleeks  (The  library  of  his  Excellency  Sir  George  Grey. 
Philology,  Africa.    Vol.  I,  Part  II,  London  u.  Leipzig  1858),  hilfsmittel 


73]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  569 

zur  Verfügung,  nämlich  für  das  Zulu,  das  nach  Bleek  zur  South-African 
Division,  South-Eastern-Branch,  Kafir  Species  der  Bäntu  Family  gehört, 
für  das  Hererö.  nach  Bleek  South-African  Division,  South-Western 
Branch,  Southern  Portion  der  Bäntu  Family,  und  für  das  Yoruba, 
West-African  Division,  Niger  Branch  der  Bäntu  Family.  Fttr  das  Zulu 
(igen  mir  aufsfürliche  abschriflen  vor,  die  ich  aufs  dem  Journal  of  the 
American  oriental  Society,  Vol.  I,  New- York  and  London,  gemacht  habe, 
und  zwar  von  folgenden  abschnitten:  1)  The  Zulu  language  by  Rev. 
James  C.  Bryant  und  2)  The  Zulu  and  other  dialects  of  soulhern 
Africa  by  Rev.  Lewis  Grout.  Meine  aufszüge  aufs  A  Grammar  of  the 
Mpongwe  language  with  vocabularies  by  the  Missionaries  of  the  A.  B. 
C.  F.  M.  Gaboon  Mission,  Western  Africa,  New-York  1847  —  das 
Mpongwe  steht  nach  Bleeks  tahelle  dem  Hererö  nahe  — ,  so  wie  aufs 
Riis,  Elemente  des  Akwapimdialects  der  Odschisprache,  Basel  1853  — 
das  Odschi  gehört  nach  Bleek,  wie  das  Yoruba,  zur  West-African  Divi- 
sion der  Bäntu-sprachen  —  sind  zu  kurz  gehalten ,  als  dafs  ich  sie  hier 
verwerten  könte.  Auch  genügt  es  ja  hier  nur  einige  Vertreter  der  gro- 
fsen  Bäntu  -Family  in  betracht  zu  ziehen,  die  übrigen  sprachen  dises 
Stammes  werden  sich,  schwerlich  in  dem  hier  besprochenen  puncte  an- 
ders gestaltet  haben.    Für  das  Hererö  benutze  ich:   Grundzüge  einer 

z  Grammatik  des  Hererö  (im  westlichen  Africa)  mit  einem  Wörterbuche 

von  G.  Hugo  Hahn.  Berlin  1857;  für  das  Yoruba  besitze  ich:  Gram- 
mar  and  Dictionary  of  the  Yoruba  language  etc.  by  the  Rev.  T.  J.  Bowen. 

^  Washington  City :  Published  by  the  Smithsonian  Institution  1 858. 

t 

Zulu. 

*  Im  Zulu  tritt  an  den  stamm  des  verbums  selbst  keine  personbe- 

F  Zeichnung.    Vor  den  selben  treten  die  pronomina ,  in  meinen  vorlagen 

,  als  selbständige  worte  geschriben;  mit  den   nominalstämmen  werden 

sie  jedoch  zusammen  geschriben.  Bekantlich  hat  das  Zulu,  wie  die  mir 
bekanten  andern  Bäntusprachen  ebenfals,  eine  grofse  anzal  pronomina 
der  dritten  person ,  da  dise  sprachen ,  so  zu  sagen ,  mer  grammatische 
genera  unterscheiden  als  wir  und  für  jedes  genus»ein  besonderes  pro- 
noroen  der  dritten  person  besitzen,  das  den  nominibus  praefigiert  wird ; 
z.  b.  i-hashi  pferd,  um-fana  knabe,  u-dade  Schwester,  in-to  ding,  uku-hla 
narung  u.  s.  f.  Nur  im  vocativ  wird  das  pronomen  nicht  gesezt.  An 
disen  pronominibus  erscheinen,  wie  beim  nomen  die  casus,  so  beim 


I 


570  Aug.  Schleicher,  die  Unteischeidung  vor  P* 

verbum  modus  und  tempus ,  doch  beides  keinesweges  aufsscbliefslich, 
sondern  es  treten  bisweilen  auch  am  aufslaute  der  stamme  abwandlun- 
gen  ein. 

Ein  wesentlicher  unterschid  von  nomen  und  verbum 
hat  sich  jedoch  nicht  entwickelt.    Hierfür  einige  belege. 

Die  tempusstämme  des  praesens  und  des  perfecls  werden  zugleich 
als  participien  auf  gefürt;  gi  tanda  wird  sowol  übersezt  mit  I  love  als 
mit  I  loving;  eben  so  II.  sing,  u  tanda,  I.  plur.  si  tanda,  II.  plur.  ni  tanda. 
Des  gleichen  im  perfectum ;  z.  b.  I.  sing,  gi  tandile  ist  sowol  verbum  als 
participium.  Dafs  das  praesens  oft  ein  so  genantes  hilfsverbum  an  nimt, 
z.  b.  gi  ya  tanda  ich  liebe,  wörtlich  'ich  gehend  liebend*,  ist  unwesent- 
lieh.  Schon  hier  haben  wir  also  formen,  die  nominale  und  verbale  natur 
in  sich  vereinigen. 

In  Sätzen  wie  izi-nyoni  zi  ya  kala  oder  zi  kala  the  birds  sing,  wört- 
lich 'die-vögel  die  gehend  singend'  oder  cdie  singend',  unterscheidet 
sich  das  nomen  izi-nyoni  vom  so  genanten  verbum  zi  ya  kala  oder  zi 
kala  (dise  worte  als  eins  gefafst,  was  sie  jedoch  nicht  zu  sein  scheinen) 
nur  durch  eine  vollere  form  des  pronomens  izi  und  durch  die  nichttren- 
nung  des  selben  vom  folgenden  worte;  ein  unterschid,  der  sich  doch 
keinesweges  dem  im  Indogermanischen  vorhandenen  gegensatze  von 
nomen  und  verbum  vergleichen  läfst. 

Das  praedicative  adjeetiv  hat  eben  so,  wie  das  so  genante  verbum, 
das  wir  ja  bereits  als  nicht  verschiden  vom  participium,  d.  h.  vom  ad* 
jeetiv,  kennen,  das  pronomen  als  gesondertes  wort  vor  sich ;  z.  b.  uku- 
hla  ku  hie,  ku  ningi  food  is  nice  and  abundant,  wörtlich  food  it  nice,  it 
many ;  eben  so  uku-hla  $e  ku  vutive  the  food  ist  just  now  ready  (se,  ad- 
verbium,  just  now ;  übrigens  gibt  es  nur  wenige  adverbien,  da  sie  durch 
verba  ersezt  werden ;  vutive  ergibt  sich  seiner  form  nach  als  perfectum 
passivi  eines  so  genanten  verbs,  dessen  praesens  vula  heifsen  mufs,  vgl. 
praesens  tanda,  perfectum  tandile  oder  lande,  passivum  praes.  tand-u-a, 
perfectum  tand-iw-e). 

Ferner  ist  für  die  natur  des  verbums  nicht  unwichtig,  dafs  unter 
anfligung  von  -yo  jedes  verbum  als  adjeetivum  gebraucht  werden  kann, 
z.  b.  u-tyani  obutambileyo  grass  which  is  soft;  tambile  ist  perfectum  zu 
infinitiv  uku-tamba  td  be  soft ;  u  ist  die  kürzeste  form  der  gleich  bedeu- 
tenden pronomina  ubu  und  bu ,  obthtambileyo  steht  für  a-ubu-tambileyo, 


75]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  571 

a  ist  relativum,  so  dafs  diser  satz  wörtlich  heifst  'das-gras  welches-das- 
sanftgewordene'. 

Hererö. 

Das  Hererö  stimt  in  seinem  baue  wesentlich  zum  Zulu,  mit  dem  es 
ja  auch  verwant  ist.  Auch  hier  treten  die  unterschide  der  tempora  u.  s.  f. 
zum  grösten  teile  am  pronomen  hervor,  das  auch  hier  als  gesondertes 
wort  geschriben  wird  und  zwischen  welches  und  das  verbum  andere 
elemente  treten  können.  Hierdurch  erhält  das  so  genante  verbum  aller- 
dings meist  eigene,  besondere  pronominalformen,  doch  nicht  durchweg. 
Pas  verbum  selbst  aber  nimt  keine  ab  Wandlung  nach  personen  an. 
Wegen  der  änlichkeit  diser  spräche  mit  dem  Zulu  glauben  wir  nicht 
näher  auf  die  selbe  ein  gehen  zu  müfsen,  zumal  die  formen  der  Zulu- 
sprache meist  altertümlicher  zu  sein  scheinen ,  als  die  des  Hererö. 

Yoruba. 

Das  Yoruba  ist  in  seinem  grammalischen  baue  einfacher,  als  die 
beiden  zulezt  besprochenen  sprachen.  Weder  von  declination  noch  von 
conjugation  in  unserem  sinne  findet  sich  hier  etwas.  Lassen  wir  den 
verf.  des  oben  genanten  werkes  selbst  reden.  S.  18,  §  72 :  'Of  infle- 
xion,  properly  so  called,  the  language  exhibits  but  faint  traces'.  S.  27, 
§123:  Through  all  the  variations  of  person,  number,  mode,  and  tense, 
the  Yoruba  verbal  root  remains  unchanged.  §  124:  Person  and  num- 
ber are  denoted  by  the  form  of  the  personal  pronoun  that  represents 
the  subject,  as  follows: 

emi  ri  I  see  or  saw  awa  ri  we  see  or  saw 

iwq  ri  thou  seest  or  sawest         enyin  ri  ye  see  or  saw 
6h*)  ri  he  sees  or  saw  nwqh  ri  they  see  or  saw. 

§  125:  The  modes  and  tenses  are  indicated  by  auxiliary  particles  pla- 

ced  before  the  verb. §  1 26 :  There  is  but  one  conjugation ,  and 

no  irregulär  verbs,  in  Yoruba;   all  verbs  being  varied  in  the  same 
manner. 

So  lautet  z.  b.  der  aorist  perf.  emi  ri  I  see  or  saw;  aorist  iraperf. 


*)  ri  bezeichnet  den  nasalen  klang  des  vorhergehenden  vocals ,  auch  das  guttu- 
rale n.  Im  originale  steht  ein  anderes  zeichen,  das  ich,  um  drukschwirigkeiten  zu 
meiden,  durch  ri  ersezt  habe. 


572  Aug.  Schleicher,  die:  Unterscheidung  von  [76 

emi  riri  I  am  or  was  seeing ;  past  perf.  emi  ti  ri  I  have  or  bad  seen, 
past  imperf.  emi  ti  riri  or  nti  riri  I  have  or  had  been  seeing;  futur.  emi 
6  ri  or  ä  ri  I  shall  or  will  see  u.  s.  f.;  aorist  optal.  or  potential  emi  ma  ri 
I  may  or  would  see  or  am  seeing  u.  s.  f  ;  subjunctive  forms  z.  b.  aorist 
perf.  bi  emi  ba  ri  if  I  see  or  saw ;  futur.  6t  emi  6  ba  ri  if  I  shall  or  will 
see  u.  s.  f.    S.  39,  §  173:  'Our  Present  Participle  is  represented  1.  By 

a  simple  verb 2.  By  a  verb  with  the  prefix  n\   das  überhaupt 

öfters  vor  so  genanten  verben  erscheint  und  warscheinlich  rest  des 
häufig  gebrauchten  demonstrativums  ni  ist,  das  zugleich  als  verbum  sub- 
slantivum  und  praeposition  gilt  (vgl.  §§  128. 136. 182  flg.  226).  §  174: 
'The  Perfect  Participle  is  represented  much  in  the  same  manner  as  the 
present'.  S.  43,  §  195:  'Yoruba  nouns  are  not  varied  in  form  to  ex- 
press  gender,  number,  or  case;  or  in  other  words,  they  exhibit  no  tra- 
ces  of  i n flexi on. 

Überblicken  wir  das  in  disen  aufszügen  enthaltene,  so  stellen  sich 
folgende  puncto  heraufs:  1.  üer  verbalstamm  selbst  nimt  kein  perso- 
nenzeichen  an,  ein  pronomen  separatum  deutet  die  person  an,  auf 
welche  sich  der  stamm  beziehen  soll.  2.  Die  so  genanten  verba  fun- 
gieren zugleich  als  participien.  3.  Die  nominalstämme  haben  kein  ca- 
suszeichen. 

Difs  berechtigt  uns  zu  der  behauptung,  dafs  im  Yoruba  nomen 
und  verbum  nicht  in  einer  dem  Indogermanischen  auch 
nur  an  nähernd  vergleichbaren  weise  geschiden  ist. 

Malayisch  und  Sudseesprachen. 

Es  ist  bekant,  dafs  das  Malayische  und  die  Südseesprachen  in 
irem  grammatischen  baue  bezüglich  des  aufsdruckes  von  casus-  und 
personalbeziehungen  wesentlich  auf  dem  standpunct  des  Chinesischen 
und  anderer  isolierender  sprachen  stehen,  von  denen  sie  sich  nur  durch 
entwickelung  zusammen  gesezter  wortstämme  unterscheiden.  Hier  fält 
also  stamm  und  wort  zusammen,  wie  in  den  isolierenden  sprachen  Wur- 
zel, stamm  und  wort.  Eine  Scheidung  von  nomen  und  ver- 
bum in  der  lautlichen  form  kann  disem  algemeinen  cha- 
racter  der  spräche  zu  folge  im  ganzen  ungeheuren  gebiete 
der  Malayi sehen  und  Sudseesprachen  nicht  statt  finden. 

In  disem  punete  stiint  das  urteil  aller  derjenigen  überein ,  welche 
sich  mit  disen  sprachen  beschäftigt  haben.    Da  mir  auf  disem  gebiete 


77]  Nomen  und  Verb  im  in  der  lautlichen  Form.  573 

genaueres  eigenes  Studium  ab  geht,  sei  es  mir  verstauet,  einige  urteile 
anderer  über  dise  sprachen  hier  an  zu  füren. 

Hören  wir  vor  allem  Wilhelm  von  Humboldt.  Er  sagt  (Kawispr. 
CCLXXVI1  f.:  'Eine  der  natürlichsten  und  allgemeinsten  Folgen  der 
inneren  Verkennung,  oder  vielmehr  der  nicht  vollen  Anerkennung  der 
Verbalfunction  ist  die  Verdunkelung  der  Gränzen  zwischen  Nomen  und 
Verb  um.  Dasselbe  Wort  kann  als  beide  Redetheile  gebraucht  werden; 
jedes  Nomen  läfst  sich  zum  Verbum  stempeln;  die  Kennzeichen  des 
Verbums  modificiren  mehr  seinen  Begriff,  als  sie  seine  Function  cha- 
racterisiren ;  die  der  Tempora  und  Modi  begleiten  das  Verbum  in  eige- 
ner Selbständigkeit  und  die  Verbindung  des  Pronomens  ist  so  lose,  dafs 
man  gezwungen  wird ,  zwischen  demselben  und  dem  angeblichen  Ver- 
bum, welches  eher  eine  Nominalform  mit  Verbalbedeutung  ist,  das 
Verbum  sein  im  Geiste  zu  ergänzen.  Hieraus  entsteht  natürlich,  dafs 
wahre  Verbalbeziebungen  zu  Nominalbeziehungen  hingezogen  werden, 
und  beide  auf  die  mannigfaltigste  Weise  in  einander  übergehen.  Alles 
hier  Gesagte  trifft  vielleicht  nirgends  in  so  hohem  Grade  zusammen, 
als  im  Malayischen  Sprachstamm,  der  auf  der  einen  Seite,  mit 
wenigen  Ausnahmen ,  an  Chinesischer  Flexionslosigkeit  leidet ,  und  auf 
der  andern  nicht,  wie  die  Chinesische  Sprache,  die  grammatische  For- 
mung mit  verschmähender  Resignation  zurückstufst,  sondern  dieselbe 
sucht,  einseilig  erreicht ,  und  in  dieser  Einseitigkeit  wunderbar  verviel- 
fältigt. Von  den  Grammatikern  als  vollständige  durch  ganze  Conjuga- 
tionen  durchgeführte  Bildungen  lassen  sich  deutlich  als  wahre  Nominal- 
formen nachweisen;  und  obgleich  das  Verbum  keiner  Sprache  fehlen 
kann ,  so  wandelt  dennoch  den ,  welcher  den  wahren  Ausdruck  dieses 
Redetheils  sucht,  in  den  Malayischen  Sprachen  gleichsam  ein  Gefühl 
seiner  Abwesenheit  an.  Dies  gilt  nicht  blofs  von  der  Sprache  auf  Ma- 
lacca,  deren  Bau  überhaupt  von  noch  gröfserer  Einfachheit,  als  der 
der  übrigen  ist,  sondern  auch  von  der,  in  der  Malayischen  Weise  sehr 
formenreichen  Tagalischen'. 

Buschmann  (Kawispr.  II,  s.  79,  §  1 1)  sagt  von  den  sprachen  des 
malayischen  Stammes  überhaupt:  'So  wie  das  Nomen  in  diesen  Spra- 
chen der  Declination  ermangelt,  ebenso  fehlt,  genau  genommen,  auch 
dem  Verbum  die  Conjugation  in  ihnen.  Partikeln  und  die  persönlichen 
Pronomina  deuten  die  Modi,  Tempora  und  Personen  an ,  bleiben  in  die- 
ser Andeutung ,  bis  auf  äufserst  wenige  Ausnahmen ,  unverändert  und 


1 

1 


574  Aug.  Schleicher,  die  Untbbschbidung  von  [78 

unabgekürzt,  verschmelzen  daher  nicht  mit  dem  Grundwort,  und  fehlen 
endlich  sehr  häufig  ganz'.  S.  81 :  '  Dasselbe  Wort  dient  in  den  Malayi- 
sehen  Sprachen ,  wie  es  freilich  auch  in  den  meisten  andern  bisweilen 
geschieht,  zum  Nomen  und  zum  Verbum,  ohne  seine  Gestalt  im  Gering- 
sien weder  durch  Flexion,  noch  durch  Affixa  zu  verändern.  II,  348 
gibt  Buschmann  fürs  Tagalische  folgendes  beispil:  sungmustiial  siyä 
schreibt  er,  ang  sutujmustilat  der  schreibende;  sa  susulai  für  den  der 
schreiben  wird,  stmdat  siyä  schreiben  wird  er.  Die  worte,  welche  eine 
form  als  so  genantes  verbum  erkennen  lafsen,  werden  aufsdrttklich  (II, 
347,  §  36)  als  'abgesonderte  Wörter  bezeichnet. 

Hierzu  stimt  genau  A.  A.  E.  Scbleiermacher,  de  l'influence  de  1'6- 
criture  sur  le  langage  etc.  suivi  de  grammaires  Barmane  et  Malaie  etc., 
Darmstadt  1836,  p.  446,  grammaire  Malaie  §  31:  'La  plupart  des  mots 
malais  primitifs  sont  de  deux  syllabes.  Beaucoup  de  ces  mots  appar- 
tiennent  en  raöme  temps  ä  plusieurs  parties  du  discours,  et  on  peut  les 
employer  dans  l'£tat  primitif  comme  verbes ,  noms,  adverbes ,  pröposi- 
tions,  conjonetions  ou  interjeetions ,  si  la  conneuon  du  discours  rend 
suffisamment  clair  le  sens  dans  lequel  ils  sont  pris\  Ferner  s.  448, 
§  34:    Les  mots  ne  prennent  point  d'inflexions. 

Von  den  Sttdseesprachen  sagt  Buschmann  (Kawispr.  III,  s.  842, 
§  52) :  '  Die  Sttdseesprachen  haben  die  Ununterschiedenbeit  der  Rede- 
theile  mit  den  westlichen  gemein ;  dasselbe  Wort  kann  die  Eigenschaft 
eines  Subst.,  Adject.,  Verbums  u. s.  w.  in  sich  vereinigen;  der  Vorsatz 
des  Artikels  macht  es  zum  Subst.,  der  einer  Verbal-Partikel  zum  Ver- 
bum, und  die  Nachstellung  nach  einem  Hauptworte  zum  Adj.\ 

Nach  Hardeland  (Versuch  einer  Grammatik  der  Dajackschen  Sprache 
[auf  Borneo],  Amsterdam  1 858)  sagt  Steinthal  (Gharacteristik  der  haupt- 
sächlichsten Typen  des  Sprachbaues,  Berlin  1860,  s.  157):  'Zunächst 
zeigt  sich  auch  im  Polynesischen  Mangel  an  Unterscheidung  der  Rede- 
theile.  Substantivum,  Adjectivum,  Verbum ,  Präposition  kann  in  dersel- 
ben Form  liegen.  Von  den  so  genanten  verbal praefixen  helfet  es  hier 
(s.  169):  'Am  wenigsten  läfst  sich  sagen,  dafs  jene  Präfixe  Verba  bilde- 
ten. Denn  da  sie  nicht  persönlich  flectirt  werden,  sondern  durchaus 
unverändert  bleiben ,  so  könnte  man  sie  nur  als  Participia ,  genauer  ge- 
nommen, nur  als  transitive  oder  intransitive  Adjectiva  ansehen*.  Ferner 
(s.  171):  'Das  Verbum  bat  weder  Personal  - ,  noch  Temporal-,  noch 
Modal- Flexion. 


79]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Form.  575 

Disen  übereinstimmenden  urteilen  wird  man  um  so  mer  vollen 
glauben  schenken,  als  in  den  an  gefürten  werken  beispile  aufs  den 
sprachen  selbst  zur  bestätigung  des  oben  gesagten  zu  finden  sind. 

Nur  von  zwei  der  zalreichen  hierher  gehörigen  sprachen  ligen  mir 
grammatische  bearbeitungen  vor.  Diso  zwei  sprachen  will  ich  im  fol- 
genden noch  besprechen ,  um  das  vorstehende  näher  zu  begründen  und 
anschaulicher  zu  machen. 

Favorlang  (Formosa). 

Über  das  Favorlang  auf  Formosa  habe  ich  vor  mir  die  arbeit  von 
H.  C.  von  der  Gabelen tz  (lieber  die  formosanische  Sprache  und  ihre 
Stellung  im  malaiischen  Sprachstamm,  Leipzig  1 858).  Dise  spräche  ist, 
wie  der  genante  forscher  schlagend  dar  tut,  in  irem  grammatischen 
baue  mit  den  sprachen  der  Philippinischen  Inseln  (Taga lisch,  Bisayisch, 
Pampangisch  u.  s.  f.)  zunächst  verwant.  Das  Favorlang  verhält  sich  in 
dem  uns  hier  beschäftigenden  puncto  natürlich  eben  so  wie  das  Tagali  - 
sehe  (s.  o.).    Einige  aufszüge  mögen  hier  platz  finden. 

Das  nomen  hat  einen  bestirnten  artikel  a,  ja,  für  nomina  propria 
ta;  o,  in  gewissen  fällen  nof  bezeichnet  besonders  den  genitiv  und  ac- 
cusativ  (§  1 5).  Es  gibt  keine  Casusbezeichnung  aufser  durch  praeposi- 
tionen  (§  16).  Der  plural  ist  dem  singular  gleich,  oder  er  wird  durch 
reduplication  aufs  gedrükt.  Die  nahe  verwantschaft  der  adjeetiva  und 
der  so  genanten  verba  ligt  klar  zu  tage  (§§  18  —  20);  bao  a  idac  (bao 
jung,  neu;  a  artikel)  heifst  sowol  'das  neue  des  mondes  als  'der  mond 
ist  neu . 

Die  persönlichen  pronomina  sind  ina  ich,  jo  du,  icho  er,  ja  (vgl. 
den  artikel)  es.  Dise  formen  gelten  zugleich  für  die  obliquen  casus; 
z.  b.  (s.  29)  ina  papagcha  jo  ich  werde-schlagen  dich;  papagcha  ist  der 
durch  reduplication  (§31)  gebildete  futurstamin  one  bezeichnung  von 
person  und  numerus. 

Die  so  genanten  verbalformen ,  die ,  wie  das  oben  an  gefürte  bei- 
spil  zeigt,  keinen  aufsdruck  für  die  personalbeziehung  besitzen,  drücken 
die  tempusbeziehung  durch  gewisse  praefixe  oder  infixe  oder  durch 
reduplication  oder  auch  gar  nicht  aufs  (vgl.  oben  bao  'neu  und  'er  ist 
neu).  So  wird  z.  b.  behufs  der  bildung  des  praesens  activi  nach  dem 
an  lautenden  consonanten ,  zu  denen  auch  der  Spiritus  lenis  (d.  h.  der 
mit  der  aufssprache  eines  an  lautenden  vocals  verbundene  explosivlaut) 


576  Aug.  Schleicher,  dik  Unterscheidung  von  [80 

zu  rechnen  ist/)  das  infix  -umm-  gesezt;  z.  b.  chachcho  lauge,  ch-umm- 
achcho  ich  wasche  mit  lauge;  ' -umm-achol  ich  lege  bei  seite  von 
'achol  u.  s.  f.  Ein  geschobenes  -in-  bezeichnet  das  praeterilum  (§  30), 
reduplicalion  des  anlautes  der  praesensforui  mit  a  das  futurum  (auch  in 
disera  falle  gilt  der  Spiritus  lenis  als  consonant) ;  z.  b.  cha-ch-umm-achcho 
ich  (du,  er)  werde  mit  lauge  waschen,  *a- -umm-achol  ich  werde  bei 
seite  legen  u.  s.  f.  Ma  bildet  verba  neutra  (§§  32.  33);  z.  b.  bachas 
Irockenheit,  davon  ma-bachas,  praeterit.  m-in-a- bachas  (infix  im  praefix), 
futur.  ma-ma-bachas ;  pa  bildet  causativa  (§§  34  —  36),  z.  b.  praes.  pa- 
9achol  bei  seite  legen  lafsen  (vgl.  oben  *  umm-achol) ,  praeterit.  p-in-a- 
yachol9  futur.  pa-pa-achol  (hierher  gehört  auch  das  oben  an  gefürle  pa- 
pagcha  ich  werde  schlagen)  u.s.  f.  Die  bildung  der  äufserst  merkwürdigen 
passivstämme  übergehen  wir  hier,  etwas  specifisch  verbales  ist  inen 
keinesweges  eigen. 

Neuseeländisch. 

Über  das  Neuseeländische  steht  mir  nur  zu  geböte  der  kurze  'Ab- 
riss  der  Neuseeländischen  Grammatik  u.  s.  f.  nach  dem  englischen  Ori- 
ginal von  Mr.  Norris  übersetzt  von  A.  Hoefer  (in  dessen  Zeitschrift  für 
die  Wissenschaft  der  Sprache  I,  s.  187 — 202)  nebst  Sprachproben  I, 
202—206  und  III,  301  —  309. 

In  diser  spräche  sind  die  grammatischen  beziehungsformen  fast 

nur  in  den  pronominibus  und  in  den  partikeln  entwickelt.    Wärend  so 

genante  nomina  und  verba  keiner  abänderung  nach  zal,  casus,  modus 

und  person  unterworfen  sind,    werden  beim  pronomen  die  zalunter- 

schide  bezeichnet.    Das  persönliche  pronomen  lautet: 

Singular.  Dual.  Plural. 

I.  hau,  nach  andern     nach  gewissen    maua  ich  und  matou  =  Ising. 
au,  auch  ahau  (I,       partikeln  ku        ein  anderer        +  III  plur. 
196  III,  303)                                      (I-hlll) 

taua  ich  u.  du  tatou  =  I  sing. 
(|+H)  +  II  piur. 

II.  koe  u  korua  kolou 

III.  ia  na  raua  tatou 

Deutlich  ist  in  einigen  fällen  der  beziehungsunterschid  von  Singu- 
lar und  plural  als  ein  bedeutungsunterschid  gefafst,  d.  h.  singular  und 


')  Der  Herr  Verf.  fafsl  difs  etwas  anders;  vgl.  §§  39.  31. 


g 


81]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautligben  Form.  577 

plural  sind  wurzelhaft  verschiden,  sind  zwei  verschidene  worte,  nicht 
durch  grammatische  abänderung  eines  und  des  selben  Stammes  geson- 
dert (also  nicht  wie  equus,  equa,  sondern  wie  pferd,  stute).  Difs  ist  der 
fall  bei  te  bestirnter  artikel  im  Singular,  nga  bestirnter  nrtikel  im  plural 
(warscheinlich  auch  bei  na,  raua;  hau,  matou  s.  o.).  Unbestimter  artikel 
ist  he.  Aufserdem  gibt  es  noch  demonstrativa. 

Die  so  genanten  nomina  sind ,  nach  den  sprachproben  zu  urteilen, 
daran  kentlich,  dafs  ein  artikel,  ein  demonstrativum,  oder  ein  possessi- 
vum  (lo-ku  oder  la-ku  mein;  to-u  oder  la-u  dein;  to-na  oder  ta-na  sein, 
ir;  dual  to-maua  oder  ta-maua  u.  s.  f.;  plur.  a-ku  oder  o-ku;  a-u  oder 
o-u;  a-na  oder  o-na,  stäts  mit  a,  o  anstatt  ta,  to  des  Singulars)  vor  inen 
steht.  Die  so  genanten  verba,  ebenfals  unveränderlich  nach  zal  und 
person,  kent  man  an  den  sie  begleitenden  partikeln.  Die  personen  wer- 
den nur  durch  die,  wie  es  scheint,  stäts  nach  gesezten  selbständigen 
pronomina  aufs  gedrükt.  Als  verbalformen  werden  (s.  198)  zusammen 
estelt: 

Activ  Passiv 

ka  tango  neme,  nam*)  ka  tango-hia 

tango  ana  neme,  nam  tango-hia  ano  (=  ana) 

e  tango  wird  nemen  e  tango-hia 

e  tango  ana  nemend ;  ist,  war  nemend    e  tango-hia  ana 
kua  tango  hat  genommen  kua  tango-hia 

ka  tango  ai  wird  nemen  ka  tango-hia  ai 

kia  tango  ai  dafs  (er)  neme  kia  tango-hia  ai 

kia  tango  zu  nemen  kia  tango-hia 

tango-hia  nim 
kam  e  tango  nim  nicht. 

Mittels  zusatz  der  partikeln  kann  fast  jedes  wort  verbal  gebraucht 
werden  (I,  s.  200,  §  35). 

Und  nun  noch  einige  beispile  aufs  den  sprachproben,  aufs  gewillt 
von  mir,  um  an  inen  die  in  diser  spräche  nicht  volzogene  Scheidung 
von  nomen  und  verbum  auf  zu  zeigen,  ko  nga  mea  whaka-pono  (111, 
s.  303);  ko  demonstrative  partikel;  nga  bestirnter  artikel  im  plural;  mea 
ding,  dinge;  whaka-pono  glauben;  whaka  (andere  Schreibung  waka)  bil- 


*)  Eigentlich  nicht  zu  übersetzen,  da  im  Neuseeländischen  die  person  nicht  be- 
zeichnet ist. 

Abhaodl.  d.  K.  S.  Gescllfcli.  d.  Wiueoscb.  X.  39 


578  Act   -ViLEXitm,  me  L^tdl^th 

d*_-t  c«*u^at.:*a:  />/»/>  warhe;t:  d*r  ^atz  U:-d-ut»"-t  a  >*"»:  «J-^*  •<■       - 
ben?:   »z1*  mk'jLa-j^mo  Miu^e  des  2!«jub^n>     Lat   o:of-T 
br^ucL'lche  gonitiv-[iart.k?l  *  oder  o    z.  b.  in  fc>  ik«    tmtre    j    1 
erebM^  des  ffO»>s  >.  30*:  /*  wihine  frau   o  //>-*   dein.   >-  o.      *  i 
deines  nächsten  ».  303  ond  auf^erdf-m  s^r  oft  .    Hi^r*    /  -?r— " 
uh'ika-pouh  a!>  D/rurro  zu  faf>en.    AU  verbum  ersch^ioi   •-:-■=! 
dagegen  in  folgendem  satze:  *  irhako-jnm»  *m  mhmm      ich     *-?    i 
A/H4I  ich  e!aube  ao  ßotr;  hier  sind  *  —  a*a  so  irewnle  w-/v 
s.  o.  die  Zusammenstellung  der  verbalformen.    Die    s^lr>?   \-i 
e  —  ana  gilt  aber  auch  als  participium ,    z.  b.  Luc.  I  ,    I  t     s.  -  i 
ikite-d  r  iVi  te  anahera  o  te  Ariki  e  tu  ana  ki  matau  o  te  Mia  **  t*  • 
ra;  a  und:  ka  verba!partiLel :  kite-a  gesehen,  passivaoi  zu  i  :*.  * 
bei;  ia  pron.  der  DI.  sing.:  te  sing,  des  bestirnten  artikeis:    :     I 
engl  angel;  ©  oder  a  genitivpartilel :  Ariki  Lord:  e  tu  *ma  s>.v£- ■--: 
In  stehen;  ki  bei,  zqo.s.  f.,  wörtlich  also:  and  was    seen   ly  . 
aoirel  of  the  Lord  slandini:  to  rieht  of  the  altar  of  the  thim?  s\%  eet-> 
OKf&Tt  di   avrfß.  icYjÜAz  ffrp/or,  ianvz  ix  <fe£/&r  tot  &t'*M€c<jTT ,. 
JHiuuuftroz.    III.  304:  e  ikora  ana  die  sich  versehen    eeteen  od> .  ! 
fals  participiai.  Man  beachte  auch  Wendungen  wie  Luc.  I.  £0 :  n>. : 
kahore  koe  i  traka-pono  ki  aku  kupu ;  no  von ;  te  artikel :  mem  ding :  * : 
negation,  nicht;  koe  du;  i'in,  to,.at.  from.  whilst,  than .  und  shL 
den  Verbis .  wenn  kein  Nominativ  da  ist  oder  wenn  ein  solcher  v  - 
geht*  I,  204;  waka-pono,  s.o.,  glauben;  ki  bei.  zo;  akm  possessive  I 
I.  pers.  plur.;  kupu  wort,  also :  from  the  cause  not  tbou  in  beJierr. 
my  words ,  aitif  <ow  oru  irriOTtvöft*  roi*  loyoi*  fiov. 

Das  adjectivum  steht  one  weitere  bezeichnung  nach  dem  smI-- 
tivum  z.  b.  nga  mea  katoa  the  things  all.  Luc.  I.  3   I.  s.  203  ;  77"/' 
tangaia  pai  rava  Theophilus  tlie  man  good  very,  ibid.;  te  mea  kakm  ;. 
thing  sweet-scented  I,  204  ;  te  mea  waka-haurangi  the  thing  cause-dru 
kenness,  d.  i.  a'xcya,  Luc.  I,  15;  te  tcatrua  tapu  the  spiril  boly  o  k/ 

Ein  verbum  substantivum  scheint  es  nicht  zu  geben,  z.  b.  III  >(l- 
ko  Ihotca  ahau  ko-tou  Atua;  ko  demonstrativ,  eine  art  stärkeren arti^- 
ahm  ich;  to~u  possessivum  II.  sing.:  Jehovah  ich  (bin)  der  dem  & 
Eben  so  an  andern  stellen. 

Wenn  also  auch,  so  weit  meine  auf  einigen  wenigen  lesestfcw- 
beruhende  ser  beschränkte  einsieht  in  dise  spräche  es  erkennt  ^ 
im  Maori  in  der  regel  zu  bemerken  ist,  ob  man  ein  wort  als  nomen  od* 


>31  NOMBN  UND  VERBUM  IN  DER  LAUTLICHEN  FORM.  579 

lls  verbum  übersetzen  soll,  so  siht  man  dennoch,  tlafs  namentlich  das, 


<»  » 


-       4 


*      .  ~    *      - 


:  fc  was  wir  participium  nennen,  vom  verbum  finitum  nicht  geschiden  ist 
^  .  und  dafs  ferner  nur  das  als  ganz  selbständiges  wort  bei  gesezte  prono- 
.±  :  men  dem  die  stelle  des  verbum  vertretenden  worte  die  beziehung  auf 
eine  bestirnte  person  verleiht.     Eine  wirkliche  Scheidung  von 


— •  .» 


"verbum  und  nomen  ist  in  diserser  einfachen,  sozusagen 
*•'  <j*  • 

kindlichen  spräche  nicht  vorhanden.    Rechnet  man  partikeln, 

"/"    artikel ,  pronomina  als  völlig  getrente  worte  —  und  nichts  spricht  für 
*  •  *'^  »• 

das  gegenteil  —  so  sind  nomina  und  verba  im  Neuseeländi- 


. «-»'s  i  • 


sehen    unveränderlich    in    irer  form  und  völlig  einander 
gleich. 

Melanesische  Sprachen. 


V    '  < 


«     « 


4~'  ii-»"  -* 


^'  "? 


*      -  -  - .  , 


v      •  * 


Kentnis  der  melanesischen  sprachen  (sprachen  der  schwarzen  rasse 
der  inselweit),  soweit  die  bisherigen  fast  nur  in  Übersetzungen  von  re- 
ligionsschriflen  u.  dergl.  bestehenden  hilfsmittel  eine  solche  verstatten, 
verdanken  wir  Herrn  H.  C.  von  der  Gabelentz  (Die  melanesischen  Spra- 
?  :  *~  l*. *    chen  nach  ihrem  grammatischen  Bau  und  ihrer  Verwandtschaft  unter 
-  *  h.     sich  und  mit  den  malaiisch  -polynesischen  Sprachen  untersucht  von  H. 
*-  -  '^i     C.  von  der  Gabelentz.    Aus  dem  VIII.  Bande  der  Abhandl.  der  Königl. 
Sächsischen  Gesellsch.  der  Wissensch.,  Leipzig  1860). 

Im  algemeinen  stehen  dise  sprachen  den  polynesischen  ser  nahe 
(§  533,  s.  266).    '  Die  Substantiva  haben  in  den  meisten  melanesischen 
Sprachen  einen  Artikel ,  der  verschieden  ist ,  je  nachdem  er  vor  einem 
:*.:::• --.i      nora.  propr.  oder  vor  einem  nom.  comm.  steht*  (§  515,  s.  255).   'Die 
I  /;  I ; ..       Bezeichnung  der  casus  erfolgt  in  den  melanesischen  Sprachen ,  wie  in 
den  polynesischen,  durch  vorgesetzte  Partikeln*  (§  516,  s.  256).    Auch 
im  Melanesischen  ist  das  pronomen  besonders  reich  entwickelt.   '  Das 
Verbum  ist  wie  das  Nomen  in  allen  melanesischen  Sprachen  flexionslos 
und  hat  meistens  nur  sehr  unvollkommene  Mittel  Tempus  und  Modus 
auszudrücken  (§  526,  s.  262).    Kino  scheid ung  von  nomen  und 
.         ■         verbum  ist  also  in  den  melanesischen  sprachen  eben  so 
wenig  vorhanden,  als  in  den  inen  nahe  stehenden  poly- 
nesischen. 

Als  belege  zu  dem  gesagten  mögen  einige  formen  aufs  disen  spra- 
chen hier  eine  stelle  finden. 


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580  Aig.  Schleiche«  ,  die  Unterscheiding  vox  [Si 

#  Fidschi. 

Von  den  melanesischen  sprachen  steht  die  Fidschisprache  den 
polynesischen  sprachen  am  nächsten,  sie  bildet  'gewissermassen  den 
Ucbergang  von  den    polynesischen  zu  den  melanesischen  Sprachen' 

(§  9,  s.  9). 

Hier  lautet  der  arlikel,  der,  wenige  fälle,  die  vi! leicht  als  eine  art 
Zusammensetzung  zu  fafsen  sind,  aufs  genommen,  (§  36)  vor  den  nomi- 
nibus  steht,  fco,  o  für  nomina  propr.,  für  andere  substantiva  na,  a  (§  34) ; 
o,  a  sind  als  Verflüchtigungen  von  ko,  na  zu  betrachten.  Nur  durch  den 
artikel  wird  das  nomen  als  solches  kentlich ,  nur  durch  das  pronomen 
und  die  verbalpartikeln,  die  noch  dazu  teilweise  in  gewissen  fällen  feien 
können  (§  61,  s.  39).  das  verbum.  Ab  gesehen  von  disen,  durchweg 
als  selbständige  worte  geltenden  elementen,  ist  kein  unterschid  zwi- 
schen nomen  und  verbum  vorhanden.  Z.  b.  a  lako  das  gehen,  a  tiko 
der  sitz  (§  22,  s.  20;  §  51,  s.  36),  aber  (§§  46.  47,  s.  31)  praesens  au 
sa  lako  ich  gehe  (au  ich,  vgl.  das  Neuseeland.;  sa  praesenspartikel). 
o  sa  lako  du  gehst,  sa  lako  oder  e  lako  (auch  e  ist  praesenspartikel, 
wenn  kein  pronomen  vorher  geht)  er  geht.  Wir  haben  also  auch  hier, 
wie  so  oft,  die  dritte  person  one  personalbezeichnung  (vgl.  §  81,  s.  46); 
keirau  sa  lako  wir  beide  (den  an  geredeten  aufs  geschlolsen)  gehen, 
kedaru  sa  lako  wir  beide  (den  an  geredeten  mit  ein  geschlolsen)  gehen, 
und  so  fort  mit  allen  fünfzehn  pronominalformen  (singular,  dual ,  trial, 
plural;  inclusiv  den  an  geredeten  und  exclusiv;  I.  II.  III.  person).  Prae- 
teritum  kau  a  lako  (kau  eine  andere  form  für  au  ich ,  vgl.  neuseeländ. 
hu;  a  zeichen  des  praeteritum)  ich  bin  gegangen  u.  s.  f. ;  futurum  au  na 
lako  ich  werde  gehen ;  conjunct.  meu  (me  dafs)  lako  dafs  ich  gehe ,  me 
lako  dafs  er  gehe  (aber  auch  rzu  gehn'  infinit. );  iroperat.  lako,  mo 
lako  geh. 

Ein  eigentliches  verbum  substantivum  feit  im  Fidschi  (§  65,  s.  40); 
'die  blosse  Copula  liegt  in  den  Verbalpartikeln ,  die  auch  mit  Nomen, 
Pronomen  oder  Adverbium  verbunden  zum  Ausdruck  derselben  dienen, 
d.  h.  doch  wohl  nichts  anderes,  als  dafs  jedes  wort  gewissermaßen 
zum  verbum  wird,  wenn  im  eine  verbalpartikel  zur  seile  tritt,  so  wie 
wir  das  verbum  zum  nomen  werden  sahen ,  wenn  im  der  artikel  vor 
gesezt  wird ;  z.  b.  sa  lekaleka  na  (artikel)  noda  (unsere)  gauna  es  (ist) 
kurz  unsere  zeit. 


85]  Nomen  und  Verbdm  in  der  lautlichen  Form.  581 

Annatom  und  andre  Neu-Hebridische  Sprachen. 

i 

Die  spräche  der  insel  Annatom ,  der  südlichsten  der  Neu-Hebriden 
(§  123,  s.  65),  deren  bau  der  verf.  nach  einer  Übersetzung  des  Lucas 
vor  legt,  zeigt  die  bereits  bekanten  erscheiuungen. 

Der  bestirnte  artikel ,  in-  vor  consonanten,  n-  vor  vocalen ,  wird 
praefigiert ;  er  allein  reicht  aufs ,  am  ein  verbum  zum  substantivum  zu 
machen  (§  144,  s.  88),  doch  steht  er  nicht  stäts  am  nomen  (§  165, 
s.  1 00  f.).  Überhaupt  sind  substantiva,  adjectiva,  vcrba,  adverbia  nicht 
in  irer  form  verschiden  (§  1 46,  s.  89).  Auch  hier  findet  sich  eine  reiche 
entwickelung  des  pronomens  (§  148,  s.  90).  Beim  verbum,  das  an  sich 
unveränderlich  ist,  werden  die  beziehungen  der  person  und  des  nume- 
rus durch  die  pronomina,  die  temporalen  und  modalen  beziehungen 
aber  durch  elemenle,  die  ans  pronomen  treten,  aufs  gedrükt  (§  155, 
s.  93),  z.  b.  ek  (praesensform  des  pronomens  der  I.  sing.,  für  sich  ainyak 
lautend)  asaig  ich  sage ;  et  asaig  er  sagt  (aien  er) ;  eru  asaig  sie  zwei 
sagen  (arau  sie  zwei) ;  era  asaig  sie  (plur.)  sagen  (ara  sie)  u,  s.  f.  Im 
praeterit.  im  per  f.  lauten  dise  personen  I.  ekis  asaig  ich  sagte;  III.  sing. 
is  asaig;  III.  dual,  erus  asaig;  III.  plur.  eris  asaig  u. s. f.;  praeterit.  per- 
fectum  ek  mun  asaig  ich  habe  gesagt  u.  s.  f.;  futurum  ekpu  asaig  ich 
werde  sagen  u.  s.  f.  Asaig  kann  auch  one  pronomen  imperativ  sein 
(§  165).   Auch  hier  gibt  es  kein  verbum  'sein  (§  173,  s.  106). 

Die  übrigen  neu-hebridischen  sprachen  bieten  wesentlich  das  selbe 
bild  (das  §  237  aufs  einer  handschriftlichen  grammatik  über  das  ver- 
bum des  Erromango  mit  geteilte  lautet  auf  fallend).  Ja  sogar  es  findet 
sich  in  der  spräche  von  Erromango  fdas  Verbum  in  seiner  einfachen 
Gestalt  und  ohne  weitern  Zusatz  als  Praesens,  Praeteritum,  Futurum, 
Participium,  Imperativ  und  Infinitiv  gebraucht'  (§  238,  s.  1 40),  z.  b.  neni 
er  ifst,  er  afs,  ifs;  nemettet  sie  fürchteten  sich,  fürchte  dich  u.  s.  f.  Im 
Ta na  feit  sogar  ein  eigentlicher  artikel  (§  258,  s.  1 50),  der  doch  in  di- 
sen  sprachen  meist  das  nomen  als  solches  zu  bezeichnen  pflegt. 

Duauru. 

Die  Duaurusprache  auf  Baladea  oder  Neu-Caledonia  (§  400, 
s.  21 4  flg.)  steht  so  zimlich  auf  dem  standpuncte  völliger  nichtunter- 
Scheidung  der  redeteile,  denn  sie  hat  keinen  artikel  (§  412,  s.  222),  die 
nomina  haben  auch  sonst  keine  für  sie  cbaracteristische  form  (§  41 0, 


582  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [86 

s.  222)  und  dem  verbum  feien  auch  fast  alle  partikeln  (§  421,  s.  225), 
doch  bezeichnet  hier  das  vor  gesezte  pronomen  personale  die  person ; 
z.  b.  inggo  (ich)  ve  ich  gehe ,  ich  gieng ,  ich  werde  geben ;  inggu  (oder 
nggu,  ngo  du)  ve  du  gehst,  giengst  u.  s.  f.,  auch  'geh'  imperat. 

Bauro. 

Bis  auf  das  Vorhandensein  eines  artikels  steht  die  spräche  der  insel 
Bauro,  eine  der  Salomonsinseln  (§  447  flgg.),  auf  der  selben  stufe 
wie  das  Duauru. 

Hier  sind  wir  bereits  bei  sprachen  an  gelangt,  die  sich,  was  den 
lautlichen  aufsdruck  der  beziehung  betritt,  durchaus  nicht  wesentlich 
von  den  im  folgenden  zu  erwähnenden  sprachen  Ostasiens  unterschei- 
den.  Von  disen  sind  mir  folgende  mer  oder  minder  bekant. 

Bodo. 

Kentnis  der  grammatischen  bildung  der  Bodo  und  Dhimäl, 
zweier  sprachen,  die  Max  Müller  (Letter  to  Chevalier  Bunsen  on  the 
Classification  of  the  Turanian  languages  by  Max  Müller,  M.  A.,  p.  109 
flg.)  zu  den  Lohitic  Dialects  der  Bhotlya  Class  (deren  hauptrepräsentant 
das  Tibetische  ist)  rechnet  und  die  demnach  im  Brahmaputra-  (Lohita-) 
gebiete  (Assam  u.  s.  f.)  gesprochen  werden,  verdanken  wir  Hrn.  Hodgson 
(Essay  the  First :  on  the  Kocch,  Bodo  and  DhimAI  Tribes  in  three  parte 
etc.  By  B.  H.  Hodgson,  Esq.  B.  C.  S.  Calcutta:  printed  by  J.  Thomas, 
Baptist  Mission  Press  1847,  mit  zalreichen  handschriftlichen  nachtragen 
und  berichtigungen  vom  hrn.  verf.).*) 

Im  Bodo  findet  die  declination  mittels  nach  gesezter  elemente  statt. 
Z.  b.  hiwä  a  man ;  hiwä  ni  of  a  man ;  hiwä  Ingo  with  a  man  u.  s.  f.    Plu- 


*)  Leider  ist  es  mir  zur  zeit  nicht  möglich ,  mich  in  die  verwickelten  gramma- 
tiken  des  Väyu  und  des  Bähing  (eines  dialectes  des  Kiräuti)  ein  zu  studieren,  wel- 
che, nach  den  mir  vom  verf.  gütigst  mit  geteilten  zimlich  umfangreichen  und  von  im 
selbst  aufs  sorgfältigste  handschriftlich  verbesserten  abzügen  zu  schliefsen,  in  dem 
Journal  of  the  Asiatic  Society  of  Bengal,  warscheinlicb  vom  jare  4  858,  s.  4  —  262 
(corr.  270)  stehen.  Die  Väyu  (s.  249,  corr.  257)  cvulgarly  called  Häyus,  inhabit  the 
central  Himälaya.  —  They  are  subjeets  of  Nepal*.  Das  selbe  gilt  von  den  Kiränti  oder 
Kiräti,  zu  denen  die  Bähing  gehören.  Hoffentlich  kann  ich  künftig  einmal  in  form  ei- 
nes nachtrags  zu  diser  onebin  ser  lückenhaften  skizze  das  jezt  versäumte  nach  holen. 


87]  Nomen  und  Verbum  in  der  lautlichen  Forh.  583 

raus  eben  so,  nur  mit  dem  pluralzeichen  vor  der  postposition ,  also: 
hiwä  phür,  hiwä  phür  ni,  hiwä  phür  lago  u.  s.  f. 

Die  pronomina  personalia  sind:  I.  sing,  äng  I,  genit.  ang  m ,  in- 
strum.  (oder  comitativ)  ang  lago  u. s.  f.;  I.  Plur.  jong  wo,  jong  ni,  jong 
lago  u.  s.  f. 

II.  sing,  nang  thou;  II.  plur.  nang  chür  ye. 

III.  sing,  bi  he,  she,  it;  plur.  bi  chür  they ;  Übrigens  ganz  wie  bei 
den  andern  nominibus. 

So  genantes  verbum.  Z.  h.thäng  go;  praesens:  sing.  I.  ang  thäng-ö, 

II.  nang  thäng-ö,  III.  bi  thäng-ö.    Plur.  I.  jong  thäng-ö,  II.  nang  chür 
thäng-ö,  III.  bi  chür  thäng-ö. 

Eben  so  praeteritum:  äng,  nang,  bi  u.  s.  f.  thang-ä  oder  (häng  bai; 
futurum  äng,  nang  u.  s.  f.,  thäng  nai  u.  s.  f.  Das  selbständige  getrente 
pronomen  personale  ist  also  allein  für  sich  stehend  aufsdruck  des  sub- 
jects  beim  so  genanten  verbum;  es  braucht  jedoch  nicht  unmittelbar  an 
lezterem  zu  stehen,  z.  b.  äng phä-rou  thäng-nai,  wörtlich  ich  dorf-zu 
gehen-werden ,  I  shall  go  to  the  village. 

DhimU 

Das  Dhimäl  zeigt  wesentlich  den  selben  sprachcharacter  wie  das 
Bodo.  Die  gedrängte  darlegung  des  selben  genügt  auch  hier  als  be- 
antwortung  der  uns  beschäftigenden  frage. 

Nomen.  Z.  b.  wäval  a  man;  wäval  ho  of  a  man;  wäval  öng  to  a 
man;  wäval  dosa  with  a  man  u.  s.  f.  Plural:  wäval  galai  men;  wäval 
galai  ko9  väval  galai  eng  u.  s.  f. 

Pronomina.  I.  sing,  kä  I,  aber  häng  ho  of  me;  hang  dosa  wilh  me, 
heng  (warschein lieh  aufs  *ka  eng  zusammen  gezogen)  to  me,  me  u.  s.  f.; 
I.  Plur.  kyel  we;  aber  hing  ho  of  us;  hing  äng  to  us;  hing  dosa  with  us. 

II.  sing,  nä  thou;  aber  genit.  nang  ho;  dat.  und  accus,  ning  (wol 
auch  hier,  wie  bei  I,  aufs  *nä  öng)  u.  s.  f.;  II.  plur.  nyel;  genit.  ning  ho; 
dat.  accus,  ning  eng  u.  s.  f. 

III.  sing,  wä  he,  she,  it;  genit.  ö-hö,  wäng-hö;  dat.  acc.  weng  (wol 
wie  bei  I.  und  II.  zu  erklären);  instrum.  (od. comitativ)  wang dosa  u. s. f ; 

III.  plur.  übal  they,  übal  ho,  übal  eng  u.  s.  f. 

Verbum  (so  genantes).  Hier  spilen  die  'auxiliaries'  eine  rolle ,  de- 
ren es  merere  gibt  (hhi,  nhi,  hi,  äng);  sie  treten  zu  andern  wurzeln  hin- 
zu, um  das  tempus  an  zu  deuten  (vgl.  die  Bäntuspracheo  Africas,  z.  b. 


584  Aug.  Schleicher,  die  Unterscheidung  von  [M 

das  praesens  des  Zulu).    Das  pronomen  steht  in  den  I.  und  II.  personen 
zwei  mal ,  in  den  III.  nur  ein  mal.    Z.  b. 

Singular. 
I.  kd  hade  (gehen)  khi  (auxiliare)  -kä  I  go 

II.  nä  hade  khi-nd  thou  goest 

III.  wd  hade  khi  he  goes. 

Plural. 

I.  kyel  liade  khi  kycl  vve  go 

II.  nyel  hade  khi  nyel  ye  go 
III.  übal  hade  khi  they  go. 

Eben  so  kd  hade  hi-kd  I  went;  kd  hade  dng  kd  I  will  go  u.  s.  f. ; 
hade  II.  imper.  go! 

Auch  hier  ergeben  die  sprachproben ,  dafs  das  pronomen  keines- 
weges  an  die  das  verbum  vertretenden  wurzeln  und  stamme  gebunden 
ist,  auch  braucht  es  nicht  stäts  in  den  I.  und  II.  personen  doppelt  zu 
stehen,  z.  b.  (s.  1 28) :  kd  derata  hade -dng  I  to-the-village  shall-go. 

Tibetisch. 

Im  Tibetischen  gibt  es  ebenfals  keine  personalendungen ;  nomi- 
nalformen und  verbalformen  sind  hier  nicht  geschiden. 
].  J.  Schmidt  (Grammatik  der  Tibetischen  Sprache,  St.  Petersburg  1 839, 
§  \  1 5)  sagt :  '  In  keinem  Tempus  eines  Yerbi  gibt  es  eine  Endung  oder 
sonst  ein  Zeichen,  das  auf  den  Unterschied  der  Personen  hindeutete; 
diese  müfsen  aus  dem  vorhergehenden  Nomen,  Pronomen  oder  aus 
dem  Zusammenhange  überhaupt  erkannt  werden.  Das  Tibetische  Ver- 
bum und  dessen  Gonjugation  basirt  sich  übrigens  auf  eine  Anzahl  un- 
persönlicher und  daher  unbestimmter  Ausdrücke  und  Redeformen,  welche 
durch  die  Participia  Praesentis,  Praeteriti  und  Futuri  gebildet  werden . 

Kassia. 

Im  Kassia  (H.  C.  von  der  Gabelentz,  Grammatik  und  Wörterbuch 
der  Kassia  -  Sprache ,  Leipzig  4  858,  aus  den  Berichten  über  die  Ver- 
handlungen der  Königl.  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften) 
scheidet  nur  der  vor  das  nomen  tretende  artikel  dises  vom  verbum. 
Lezteres  ist  durch  das  vor  gesezte  pronomen  und  andere  elemente  kent- 
lich.  Der  imperativ  enträt  des  pronomens,  z.  b.  shim,  bdm  nemet,  efset ; 
dise  formen  können  auch  iufinitive  sein.    Der  stamm  selbst ,  oder  vilmer 


&Q]  Nomen  und  Verb  gm  in  der  lautlichen  Form.  585 

die  einzelnen  wurzeln,  die  hier,  wie  im  Chinesischen,  durchaufs  unver- 
änderlich sind ,  kennen  eben  so  wenig  unterschide  in  der  form ,  wie  im 
Chinesischen;  z.  b.  mon  wollen,  wille;  lih  weife,  weifs  sein.  Nur  durch 
andere,  ebenfals  selbständige  wurzeln  (worte)  wird  eine  nähere  bestim- 
mung  der  beziehung  ermöglicht.  Indes  ist  nicht  in  abrede  zu  stellen, 
dafs  auf  disem  wege  im  Kassia,  bis  auf  wenige  bestirnte  falle,  eine  Schei- 
dung der  als  nomina  fungierenden  wurzeln  von  den  als  verba  gelten- 
den vorhanden  ist.  Nur  ist  natürlich  dise  scheidung  nicht ,  wie  im  In- 
dogermanischen,  mittels  wirklicher  Wortbildung  erreicht,  da  es  eine 
solche  in  sprachen  dises  baues  überhaupt  nicht  gibt. 

Chinesisch. 

Das  Chinesische  besteht  bekantlich  aufs  lauter  unveränderlichen 
wurzeln ,  die  als  worte  jeder  art  fungieren.  Stellung  u.  s.  w.  leren ,  ob 
wir  eine  wurzel  mittels  eines  verbums,  eines  nomens  oder  eines  adver- 
biums  in  unseren  sprachen  wider  zu  geben  haben. 

Annamitisch,  Siamesisch,  Barmanisch. 

Vom  Annamitischen  und  Siamesischen,  die  villeicht  mit 
dem  Chinesischen  stamverwant  sind ,  gilt  das  selbe  wie  vom  Chinesi- 
schen ,  so  weit  ich  mich  diser  sprachen  von  früheren  Studien  her  erin- 
nere ;  gegenwärtig  sind  mir  keine  hilfsmittel  für  die  selben  zur  hand. 
Vgl.  Schott  (chinesische  Sprachlehre,  Berlin  1S57,  s.  1):  'Die  sprachen 
von  Annam  (An-nan)  und  Siam  könnten  ihrem  character  nach  wahre 
Schwestern  des  Chinesischen  sein.  Übrigens  ist  nach  Schott  das  Anna- 
mitische dem  Chinesischen  slamfremd  (Schott,  zur  Beurtheilung  der  an- 
namitischen  Schrift  und  Sprache;  Abhandl.  der  Königl.  Akad.  der  Wis- 
sensch.  zu  Berlin,  1855,  II,  s.  4  46:  'aber  bald  überzeugen  wir  uns  von 
der  Unmöglichkeit,  eine  nähere  oder  auch  nur  entferntere  verwantschaft 
beider  sprachen  [des  Annamitischen  und  des  Chinesischen]  nachzuwei- 
sen)'. Auch  im  Barmanischen  findet  keine  bezeichnung  der  person 
beim  so  genanten  verbum  statt.*)    Vgl.  jedoch  die  Zusammenstellung 


*)  Durch  die  gute  meines  gelerten  freundes  Prof.  Dr.  Rost  in  Canterbury  lernte 
ich  Donner  Augustus  Chase  Anglo-Burmese  Hand-book  or  a  guide  to  a  practical  know- 
ledge  of  the  Burmese  Language,  Maulmain  4  862,  klein  4°,  kennen.  Die  in  merfacher 
beziehung  merkwürdige  Barmanische  spräche  hat,  wie  das  Chinesische,  die  morpho- 

* 


586     Aug.  Schleicher,  die  Unterschbiouhg  v.  Nomen  o.  Verbum  etc.       [90 

chinesischer,  barmariischer,  siamesischer  und  tibetischer  worte  bei  Max 
Müller,  Classification  of  the  Turanian  laoguages.  p.  434  flg.;  über  die 
verwantschaft  von  Barmanisch  und  Tibetisch  s.  Schiefher,  tibetische 
Studien,  St.  Petersburg  1851,  s.  SO. 

Namaqua. 
Im  Namaqua.  einem  dialecte  des  Hottentottischen,  dessen 
kentnis  Wallmanns  Formenlehre  der  Namaquasprache,  Berlin  1857,  er- 
möglicht hat,  gibt  es  keine  conjugation.  Entweder  bleibt  die  wurzel 
ganz  unverändert  und  die  person  völlig  unbezeichnet ,  oder  sie  nimt  ein 
Personals uffix  an,  gerade  so,  wie  difs  bei  den  die  andern  redeteile  er- 
setzenden wurzeln  und  Wurzelverbindungen  auch  geschiht;  z.  b.  ti-ta 
(ego)  ma  (dare)  ich  gebe,  oder  auch,  in  gleicher  function,  ma-ta,  das 
also  völlig  so  gebildet  ist,  wie  jenes  ti-ta.  Das  eine  übersetzen  wir  als 
verbum  (do),  das  andere  als  nomen  (ego).  Ein  gegensatz  von 
nomen  und  verbum  findet  also  nicht  statt.*) 


logischen  formen  Ä  (auch  A+Jt),  Ä+r  (ser  hüufig)  und  r-t-R  (a  und  la,  verscbidener 
function,  treten  nicht  selten  vor  die  bauptwurael,  dosgleichen  die  negation  ma). 
Auch  im  Bannaniseben  finden  sieb  ansalze  zur  ilexion  (Chase  §  65,  s.  39),  indem  in- 
transitiv* durch  aspiration  des  an  lautenden  consonanten  zu  transitiven  werden  z.  b 
tut  lobe  free,  aber  Mut  to  release ;  tiot  to  be  torn,  aber  kuot  to  lear,  rend.  Auch  fin- 
det sich  zusammenziehung  zweier  Elemente  in  eines,  z.  b.  (§  70,  s.  *3)  'leim  IV  be- 
zeichnet den  tight  aocenl]  future  affix  ;  from  lay  an  euphonic  and  an  [n  bezeichnet  ein 
anfo  lautendes  m;  §  9,  s.  6] ;  hkyay,  combined  witb  an  becomes  AAyeAn'  (§  90,  s.  Sil. 
*;  Leider  feien  für  die,  nach  allem  was  darüber  bekant  ward,  nicht  nur  in  pho- 
netischer Beziehung  höchst  interessante  Sprache  der  so  genanten  Bosjesiaans  oder 


Alphabetisches  Register 

der  in  der  vorstehenden  abbandlung  in  betracht  gezogenen  sprachen. 


Abcbasiscb 555 

Aegyplisch  s.  Koptisch. 
Africanische  sprachen,  s.  Südafri- 

caniscb,  Bantusprachcn,  Koptisch 

und  Namaqua. 

Americanische  sprachen 661 

Annamitisch 585 

Annalom SSI 

Arabisch  s.  Semitisch. 

Awarisch 653 

Bäntusprachen 668 

Barmanisch S86 

Baskisch 561 

Bauro 681 

Bodo 582 

Burjatisch 545 

Chinesisch 685 

Cree 561 

Dakota 566 

Dbiraäl 583 

Drawidisch  s.  Tamuiisch. 

Duauru 581 

Brromango 681 

Formosa  {Farorlang) 675 

Fidschi 680 

Finnisch 519 

Georgisch 656 


Jakutisch 540 

Jenisseiiscb  (Jenissei-Osljakiscb)     .  650 

Kassia ,184 

Koptisch 510 

Magyarisch 515 

Haiayisch $71 

Mandschu 547 

Maori,  s.  Neuseeländisch. 

Nelanesiscbe  sprachen 579 

Uexicanisch 568 

Mongolisch,  s.  Burjatisch. 

Namaqua 586 

Neu-Caledooia,  s.  Duauru. 

Neu  Heb  rid  en 58  t 

Neuseeländisch 576 

Ostjakisch 53i 

Salomonsinseln,  s.  Bauro. 

Samojedisch 636 

Semitisch 514 

Siamesisch sgs 

Südafrikanisch 568 

Südseesprachen 67t 

Taoa 581 

Tamuiisch 548 

Thusch 551 

Tibetisch 584 

Tscherokesisch 563 

Tschetschenisch S61 

Tungusisch 544 

Türkisch,  s.  Jakutisch. 

Cdisch 554 

Yoruba 51t 

Zulu 569 


ÜBER 


DIE  LADE  DES  KYPSELOS 


VON 


J.  OVERBECK. 


WW^^^^VWN*W^%'- 


MIT  EINER  TAFEL. 


Abhanill.  d.  K.  S.  GetelUch.  d.  WiMeiuch.  X.  40 


1. 


Litterarische  Uebersicht. 


Seitdem  im  Jahre  1770  Heyne  als  der  Erste  die  Lade  des  Kypselos 
oder  vielmehr  ihre  Beschreibung  bei  Pausanias  einer  ausführlicheren 
Untersuchung  unterworfen  hatte ')  t  ist  dieses  interessante  und  kunstge- 
schichtlich in  hohem  Grade  wichtige  Kunstwerk  nie  wieder  ganz  vom 
Schauplatze  der  gelehrten  Forschung  und  Erörterung  verschwunden, 
vielmehr  hat  sich  eine  Anzahl  der  tüchtigsten  und  gediegensten  Vertreter 
der  archaeologischen  Wissenschaft  mehr  oder  weniger  eindringlich  mit 
demselben  beschäftigt,  und  die  Lösung  des  Problems,  wie  die  zahlreichen 
Figuren,  mit  denen  nach  Pausanias'  Beschreibung  die  Lade  geschmückt 
war,  anzuordnen  oder  angeordnet  gewesen  zu  denken  seien,  in  der 
einen  oder  der  anderen  Weise  versucht.  Allerdings  datirt  die  nächst  der 
Heyne'schen  älteste  Arbeit  über  die  Kypseloslade ,  diejenige  von  Seb. 
Giampi2)  um  ganze  44  Jahre  später,  aus  dem  Jahre  1814,  da  aber 


1 )  Ueber  den  Kasten  des  Cypselus  ein  altes  Kunstwerk  zu  Olympia  mit  erhobenen 
Figuren,  nach  dem  Pausanias.  Eine  Vorlesung  in  der  kön.  deutschen  Gesellschaft  zu 
Göttingen  d.  24.  Febr.  4770.  Heynes  Bezugnahme  auf  » Andere a  nach  denen  die 
3.  X^Qa  des  Pausanias  als  die  Hinterseite  zu  betrachten  wäre,  während  sie  Heyne 
selbst  als  den  Deckel  fasst ,  kann  sich  nur  auf  die  älteren  Herausgeber  beziehen ,  von 
denen  z.  B.  Sylburg  die  3.  X<*>Qa  aJs  arcae  tergum  erklärt,  während  Ciavier  die  fünfte 
als  le  dessus  du  coffre  übersetzt.  Winckelmann  hat  die  Kypseloslade  nur  einige  Male 
(Versuch  e.  Allegorie  §.  27  u.  41  ,  G.  d.  K.  9.  1.  4.)  angeführt  ohne  auf  die  Ge- 
sammtheit  der  Figuren ,  mit  denen  sie  verziert  war ,  einzugehn ,  vielmehr  nur  Einzel- 
nes gelegentlich  anführend. 

2)  Descrizione  della  cassa  di  Cipselo  tradolla  dal  Greco  di  Pausania,  Pisa  1814. 

40* 


592  J.  OVBRBECK,  [4 

Heynes  Aufsatz  auch  mittlerweile  nicht  unbeachtet  geblieben  ist,  und  bei 
den  spateren  Bearbeitern  fast  immer  berücksichtigt  wird ,  so  darf  man 
trotz  dieser  Pause  von  einer  Gontinuität  der  Bearbeitung  des  Problems 
der  Kypseloslade  reden.  Ein  Jahr  nach  Ciampis  Descrizione  erschien 
die  Bearbeitung  der  Lade  des  Kypselos  in  Quatremere  de  Quincy:  Le 
Jupiter  Olympien,  Par.  1815  S.  124  ff.,  an  welche  sich  drei  Jahre  später 
die  wichtigste  unter  den  älteren  Arbeiten,  die  von  Welcker3)  anschloss, 
zunächst  Bericht  erstattend  über  Quatremere  de  Quincy  und  diesen  be- 
richtigend ,  dann  aber,  namentlich  an  der  zweiten  der  genannten  Stellen 
selbständig  und  tiefer  als  Heyne  und  der  Franzose  in  die  Compositions- 
principien  der  Figurengruppen  eindringend.  Demnächst  sind  die  mehr 
vereinzelten  Bemerkungen  von  Sie-belis4)  und  Thiersch5)  anzuführen 
sowie  die  ziemlich  oberflächliche  Behandlung  von  H.  Meyer6),  der  im 
Wesentlichen  nur  Heynes  Resultate  wiedergiebt.  Selbständiger  fasste 
das  Problem  0.  Müller7),  von  dem  der  von  Anderen  hier  und  da 
wiederholte,  mehrfach  aber  bestrittene  Gedanke  ausging,  die  Lade  sei 
von  elliptischer  Form  gewesen.  Ueber  die  Inschriften  sprach  sich  in 
seinem  1 831  von  0.  Müller  herausgegebenen  archaeologischen  Nachlass 
S.  158  Völkel  kurz  aber  richtig  aus.  Nächst  dem  Welcker'schen  Auf- 
satze gebührt  der  Ehrenplatz  einer  Arbeit  von  0.  Jahn  aus  dem  Jahre 
18458),  welche  von  um  so  grösserer  Bedeutung  ist,  als  sie  ein  von  dem 
in  den  bisher  genannten  Arbeiten  ganz  abweichendes  Herstellungsprincip 
freilich  nicht  zuerst  aufstellte ,  denn  dieses  Verdienst  gebührt  Visconti 9) 
und  nach  ihm  0.  Müller10),  der  Visconti  nicht  erwähnt,  also  wohl  selb- 
ständig zu  demselben  Resultat  gelangt  zu  sein  scheint,  wohl  aber  zuerst 


Ich   kenne   diese  Arbeit  nicht  selbst,  doch  scheint  sie   nach  dem  Urteil  Welckers, 
Zeitschr.  f.  Gesch.  u.  Ausl.  d.  alten  Kunst  S.  279  ganz  unbedeutend  zu  sein. 

3)  In  der  genannten  Zeitschrift  für  Geschichte  und  Auslegung  der  alten  Kunst 
4818  S.  270  ff.  u.  S.  536  ff. 

4)  In  Böttigers  Amalthea  1822  2.  S.  257  ff.,  vgl.  dens.  zu   Pausan.  5.  47.  4. 
Bd.  2.  S.  246  seiner  Ausgabe. 

5)  Epochen  d.  bild.  Kunst  4  829  S.  4  69  f.  Noten. 

6)  Gesch.  d.  bild.  Künste  b.  d.  Griechen  4824  S.  45  f.  mit  Note  20,  2.  S.  46ff. 

7)  Wiener  Jahrbücher  d.   Litleratur  4  827,   38.  S.  26  4,  vgl.  desseu  Handb.  d. 
Archaeol.  §.  57.  2. 

8)  Archaeologische  Aufsätze  S.  3  ff. 

9)  Museo  Pio-Clementino  vol.  4.  zu  tav.  34.  p.  65.  Note  b. 
10)   Wiener  Jahrbb.  a.  a.  0.  S.  264. 


5]  Über  i>ib  Lade  des  Kypselos.  593 

durchzuführen  bestrebt  war,  und  damit  den  Reigen  der  neueren  Be- 
strebungen für  die  Restauration  der  Kypseloslade  eröffnet.  Demselben 
Jahre  wie  der  Jahn'sche  Aufsatz  gehört  ein  solcher  von  Bergk11),  der 
aber,  später  als  jener  geschrieben,  auf  denselben  hauptsächlich  Rücksicht 
nimmt12),  jedoch  besonders  durch  das  Bestreben,  eine  mehr  ideelle  und 
gegenständliche  als  räumliche  und  künstlerische  Entsprechung  unter  den 
dargestellten  Scenen  nachzuweisen,  eigentümlich  ist.  Der  Erste  da- 
gegen, welcher  auf  den  räumlichen  und  künstlerischen  Parallelismus  in 
der  Composition  der  Darstellungen  auf  der  Kypseloslade  principiell  und 
tiefer  einging,  war  Brunn13),  dessen  Aufsatz  zwei  Jahre  nach  dem- 
jenigen Bergks  (1 847)  erschien.  Nachdem  ferner  Jahn  in  der  Archaeolo- 
gischen  Zeitung  v.  1850,  Mai,  S.  191  f.  einige  kurze  Bemerkungen  über 
die  Chronologie  und  die  Gesammtgestalt  der  Lade  mitgetheilt  hatte,  er- 
hob Ruhl  in  der  Zeitschrift  für  die  Altertumswissenschaft  desselben 
Jahres  Heft  4,  Nr.  39  S.  305  ff.  eine  Opposition  gegen  die  von  Jahn  zu- 
erst begründete,  von  andereD  Archaeologen  gebilligte  Anordnungsweise, 
indem  er  im  Wesentlichen  zu  der  älteren  von  Heyne  und  Welcker  ver- 
tretenen zurückkehrte.  Nachdem  sodann  wiederum  zwei  Jahre  später 
Prell  er  in  der  Archaeologischen  Zeitung  v.  1854  S.  292  ff.  besonders 
über  die  Chronologie  des  Kunstwerkes  gehandelt  hatte,  trat  1857  in 
seiner  Uebersetzung  des  Pausanias  Bd.  1  S.  389  Schubart  als  Ruhls 
philologischer  Secundant  auf,  während  ein  Jahr  später  Jahn  in  den  Be- 
richten der  königl.  sächsischen  Gesellschaft  d.  Wissenschaften  v.  1858 
S.  99  ff.  sein  Anordnungsprincip  gegen  Ruhl  vertheidigte,  worauf  Ruhl 
in  der  Archaeologischen  Zeitung  v.  1860  S.  27  ff.  entgegnete  und  auch 
Schubart  in  den  N.  Jahrbüchern  für  Philol.  u.  Pädag.  v.  1861  Heft  5 
S.  301  ff.  vom  rein  philologischen  Standpunkte  aus  sein  früher  kurz  ab- 
gegebenes Votum  näher  begründete.  Im  Vorbeigehen  darf  ich  dann 
wohl  auch  meiner  eigenen  im  Jahre  1 857  publicirten  Bemerkungen  u) 
gedenken,  weil  auf  sie  namentlich  Mercklin  Rücksicht  genommen  hat, 
welcher  in  der  Archaeologischen  Zeitung  v.  1860  S.  101  ff.  besonders 


11)  Archaeologiscbe  Zeitung  v.  1845  S.  150  ff. 

12)  Wie  ebenfalls  eine  ausführliche  Anzeige  der  Jahn'schen  AufsStze  von  Bergk 
in  der  Hall.  Allg.  Litt.  Zeitung  v.  1847.  Nr.  284  ff. 

13)  Ueber  den  Parallel ismus  in  der  Composition  altgriechischer  Kunstwerke,  im 
N.  Rhein.  Museum  5  (1847)  S.  321  und  S.  335  ff. 

14)  Geschichte  d.  g riech.  Plastik  I.  S.  70  f. 


594  J.  Oveubkck,  r»l 

die  Inschriften  der  Kypseloslade  näher  prüfte,  und  durch  deren  Anord- 
nung die  Richtigkeit  der  von  mir  gegebenen  Anordnung  der  Scenen  in 
den  einzelnen  Feldern  zu  erhärten  suchte. 

Seit  der  Zeit  oder  seit  der  Publication  von  Ruhls  Duplik  gegen  Jahn 
und  Schubarts  reinphilologischer  Revision  der  Frage  hat  nun  die  Sache 
geruht.  Und  das  ist  ziemlich  natürlich.  Denn  es  ist  in  der  That  von  der 
einen  und  von  der  anderen  Seite  so  ziemlich  Alles  gesagt,  was  zu  sagen 
war ;  sämmtliche  Archaeologen ,  welche  sich  über  das  Problem  ausge- 
sprochen haben  sind  in  der  Hauptsache  einig  und  durch  des  Künstlers 
(Ruhl)  und  des  Philologen  (Schubart)  Einwendungen  in  ihrer  Ansicht  un- 
erschüttert ,  während  es  ihnen  nicht  gelungen  ist ,  auch  die  Gegner  von 
deren  Richtigkeit  zu  überzeugen. 

Das  wird  auch  wenigstens  bei  dem  Einen  derselben,  dem  Künstler, 
durch  Worte  kaum  zu  erwirken  sein,  wie  er  selbst 15)  ausgesprochen  hat, 
er  werde  nur  durch  eine  gelungene  gezeichnete  Lösung  des  Problems  sich 
von  der  Richtigkeit  der  Ansichten  der  Archaeologen  überzeugen  lassen. 
Uebereinstimmung  über  das  hier  vorliegende  Problem  in  weiteren  Kreisen 
als  denen ,  in  welchen  sie  bereits  herrscht ,  herzustellen ,  giebt  es  soviel 
ich  sehe  nur  einen  Weg ,  denjenigen  des  Versuchs  der  von  Ruhl  gefor- 
derten graphischen  Reconstruction ,  des  so  zu  sagen  thatsächlichen  Be- 
weises der  Möglichkeit  und  Richtigkeit  des  einen  oder  des  anderen  Prin- 
cips  der  Anordnung  der  von  Pausanias  aufgezählten  Gruppen  und  Figuren. 
Eine  solche  graphische  Reconstruction  der  Kypseloslade  hat,  wie  er 
selbst  mehrmals  ausgesprochen,  Ruhl  gemacht ,  und  es  wäre  gewiss  nur 
in  hohem  Grade  wttnschenswerth ,  dass  er  sie  auch  veröffentlicht  hätte 
oder  dass  er  dies  noch  jetzt  thun  möchte.  Da  dies  aber  bisher  nicht  ge- 
schehen ist,  und  so  lange  bis  es  geschehen  sein  wird,  bleibt  denen, 
welche  von  der  Unrichtigkeit  der  Ruhr  sehen  Anordnungsprincipien ,  da- 
gegen von  der  Richtigkeit  der  zuerst  von  Jahn  durchgeführten  überzeugt 
sind,  wenn  sie  überhaupt  noch  Etwas  in  der  Sache  thun  wollen,  Nichts 
übrig,  als  den  Versuch  zu  wagen,  ihrerseits  den  thatsächlichen  Beweis 
anzutreten.  Dass  ich  dies  unternehme  hat  seinen  individuellen  Grund 
darin,  dass  sich  mir  ein  hiesiger  junger  Künstler,  welcher  sich  in  meinen 
Vorlesungen  über  griech.  Kunstgeschichte  von  der  Richtigkeit  meiner 
Principien  der  Restauration  überzeugte,  freiwillig  zu  der  Anfertigung 


15)  Zeitschrift  für  d.  Alterth.  Wiss.  a.  a.  0.  S.  307. 


7]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  595 

einer  Zeichnung  nach  eben  diesen  Principien  erbot.  Freilich  ist  derselbe 
durch  andere  Arbeiten  verhindert  worden ,  sein  Vorhaben  auszuführen ; 
ich  aber,  der  ich  in  der  Herbeischaffung  von  Parallelmonumenten  und 
Unterlagen  der  Zeichnung  eine  Menge  Vorarbeiten  gehabt  und  bei  dieser 
Gelegenheit  die  ganze  Frage  im  Einzelnen  nochmals  durchgeprüft  hatte, 
konnte  und  mochte  diese  erneute  Anregung  nicht  in  Nichts  verlaufen 
lassen .  und  habe  es  deshalb  gewagt ,  mit  Hilfe  eines  anderen  Zeichners 
die  Arbeit  zu  vollenden.  Indem  dieser  nun  in  die  eigentlichen  wissen- 
schaftlichen Seiten  des  Problems  nicht  eingeweiht  war,  wie  jener,  ent- 
ging mir  freilich  der  grosse  Vortheil  eines  selbständig  künstlerischen  Bei- 
raths ,  den  ich  mehr  als  ein  Mal  schmerzlich  entbehrt  habe ,  und  dessen 
Mangel  sich  auch  mir  an  mehr  als  einer  Stelle  der  Arbeit  fühlbar  genug 
macht.  Mein  Zeichner  hat  mir  eine  fast  nur  mechanische  Beihilfe  ge- 
wahren können ,  und  ich  war  für  alles  Weitere  auf  mich  allein  ange- 
wiesen. Ich  bin  daher  vollkommen  überzeugt,  dass  sich  die  Aufgabe  in 
höherem  Sinne  künstlerisch  würde  lösen  lassen ;  vielleicht  aber  hat  meine 
Lösung  eben  deswegen  den  Vorzug  einer  specifischen  archaeologischen 
und  nebenbei  den  anderen ,  die  Richtigkeit  der  Principien  der  Lösung 
um  so  nachdrücklicher  zu  erweisen,  weil  nach  denselben  ein  blosser 
Archaeolog  unter  der  nur  mechanischen  Assistenz  eines  wissenschaftlich 
nicht  eingeweihten  und  interessirten  Zeichners,  die  Restauration  auch 
graphisch  vollenden  konnte.  Ob  dies  nun  freilich,  und  wäre  es  auch  nur 
der  Hauptsache  nach,  gelungen  ist,  darüber  haben  Andere  zu  entscheiden. 
Ich  aber  habe  geglaubt,  meine  Tafel  nicht  an  und  für  sich  oder  nur  mit 
den  nothwendigsten  Bemerkungen  begleitet  herausgeben  zu  dürfen, 
sondern  diese  Gelegenheit  ergreifen  zu  sollen ,  um  das  ganze  Problem 
der  Kypseloslade  und  alle  Fragen,  welche  sich  an  dieses  Kunstwerk 
knüpfen,  einer  einganglichen  Revision  zu  unterwerfen. 


2. 
Geschiolite  der  bisherigen  Herstellungsversuche. 


Ueber  die  Ungenauigkeit  und  Unbestimmtheit  der  räumlichen  An- 
gaben und  Bezeichnungen  des  Pausanias  bei  seinen  Beschreibungen 
umfang-  und  figurenreicher  Kunstwerke  ist  schon  oft  nur  zu  sehr  be- 
rechtigte Klage  geführt  worden,  so  z.  B.  mit  allem  Nachdruck  von  Wel- 


596  J.  Ovehbeck,  [8 

cker  in  seiner  grundlegenden  Arbeit  über  die  polygnotischen  Gemälde 
in  der  Lesche  von  Delphi16),  deren  Reconstruction  durch  eben  jenen 
Mangel  in  Pausanias'  Beschreibung  so  unendlich  erschwert,  und  nur 
durch  eine  freiere,  auf  Erwägung  aller  Umstände  und  Möglichkeiten  so 
wie  der  künstlerischen  Füglichkeit  gestützte  Interpretation  der  Angaben 
des  Periegeten  über  die  räumliche  Vertheilung  und  Anordnung  der  Fi- 
guren und  Gruppen,  wie  sie  eben  Welcker,  im  Ganzen  gewiss  zu  allge- 
meiner Ueberzeugung  geübt  und  durchgeführt  hat,  möglich  geworden 
ist.  Aber  kaum  bei  einem  einzigen  der  von  Pausanias  beschriebenen 
Kunstwerke,  die  Leschengemälde  und  den  Thron  in  Amyklae  kaum  aus- 
genommen ,  ist  diese  Klage  berechtigter ,  als  bei  der  Lade  des  Kypselos. 
Denn  nicht  allein,  dass  Pausanias  in  seiner,  drei  Capitel  seines  fünften 
Buches  füllenden  und  in  der  Hauptsache  gewiss  als  genau  und  vollstän- 
dig anzuerkennenden  Beschreibung  keinerlei  Angabe  über  die  Grösse 
der  Lade  und  der  dieselbe  schmückenden  Figurengruppen ,  wenigstens 
keine  directe  und  ausdrückliche  macht 17) ,  wodurch  uns  viel  Rathen  und 
Streiten  erspart  worden  wäre,  schlimmer  noch  als  dies  ist  es,  dass  er 
sich  zur  Bezeichnung  der  figurengeschmückten  Stellen  an  der  Lade  fast 
wie  geflissentlich  eines  Ausdrucks ,  des  Wortes  %to$a  bedient ,  den  er  im 
ganzen  hier  verwendbaren  Worlvorrathe  der  griechischen  Sprache  kaum 
unbestimmter  hätte  wählen  können.  Es  folgt  daraus  für  uns  die  Pflicht, 
bei  der  weiteren  Behandlung  des  Problems  im  Deutschen  einen  ähnlich 
neutralen  Ausdruck  zur  Wiedergabe  von  x°>qcc  zu  wählen ,  als  welchen 
sich  »  Feld «  schon  deswegen  am  meisten  empfiehlt,  weil  dies  Wort,  wel- 
ches in  der  That  über  die  Stellen  an  der  Lade,  wo  die  „Felder41  zu 
suchen  sind,  Nichts  aussagt,  nicht  allein  von  0.  Jahn  "*),  sondern  auch  von 
Schubart  in  seiner  Uebersetzung  des  Pausanias  gebraucht  wird,  also  von 
dem  Philologen,  welcher  gegen  die  archaeologische  Restauration  der  Lade 
Opposition  macht.  Für  die  Geschichte  der  Reconstruction  der  Kypselos- 
lade  aber,  dass  ich  mich  kurz  so  ausdrücke,  hat  die  Unbestimmtheit  des 
von  Pausanias  gebrauchten  Ausdruckes  x™Qa  die  Folge  gehabt,  dass  sich 
über  die  Frage,  was  unter  xtoqa  zu  verstehen  sei,  und  wo  man  an  der 

46)  Abhandlungen  der  berliner  Akademie  v.  Jahre  1848.  S.    13  f.   des  Eiuzel- 
abdrucks. 

*  17)   Möglich,  dass  dergleichen  in  dem  lückenhaften  Anfange  stand,  wie  Schubart 
a.  a.  0.  S.  304.  Note  t  annahm,  aber  behaupten  möchte  ictTdas  nicht. 

4  8)  Archaeolog.  AuXsfttze  a.  a.  0. 


9]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  597 

Lade  die  fünf  x^9al  des  Periegeten  zu  suchen  habe,  zwei  einander 
entgegenstehende  Ansichten  ausgebildet  haben ,  auf  deren  Durchführung 
die  beiden  streitenden  Grundprincipien  der  Anordnung  der  Figuren 
beruhen. 

Wenn  man  von  einem  Kasten,  einer  Kiste  oder  Lade  liest,  und  nur 
mit  einem  dieser  drei  Worte  lassen  sich  die  beiden  Ausdrucke ,  welche 
unsere  antiken  Zeugen  "von  dem  Monumente  gebrauchen,  Xaqvat  bei 
Pausanias,  xißiorog  bei  Dio  Chrysost.  orat.  11.  p.  1G3  übersetzen,  so 
ist  es  ohne  Frage  am  natürlichsten  und  am  nächsten  liegend ,  dabei  an 
ein  irgendwie  gestaltetes,  d.  h.  sei  es  mehr  oblonges,  sei  es  mehr  kubi- 
sches, und  wiederum  gradwandiges  oder  schräg  wandiges ,  aber  immer 
vierseitiges  Geräth  zu  denken ,  und  wenn  man  ferner  von  fünf  Feldern 
an  diesem  Geräthe  liest,  welche  mit  zahlreichen  Figuren  in  Relief  be- 
deckt und  geschmückt  waren.,  so  liegt  ebenso  wieder  am  nächsten,  dabei 
zuerst  an  die  vier  Seiten  und  den  Deckel  der  Kiste  oder  Lade  zu  denken. 

Das  ist  denn  auch  von  Heyne  bis  auf  Visconti,  Müller  und  Jahn  ge- 
schehen, und  das  geschieht  noch  heutigen  Tages  von  Schubart  und 
namentlich  von  Ruhl,  dessen  ganze  Opposition  gegen  die  Archaeologen 
a\if  dieser  Vorstellung  beruht. 

Dem  gegenüber  sind  nun  zuerst  von  Visconti,  dann  von  Müller  und 
nach  Jahns  weiterem  Vorgange  von  allen  Archaeologen,  die  sich  bis  jetzt 
Über  die  Kypseloslade  haben  vernehmen  lassen,  mehr  oder  weniger  aus- 
drücklich die  xwqcu  des  Pausanias  als  fünf  über  einander  liegende  Felder 
oder  Streifen  betrachtet  worden,  welche  die  Wandungen  des  Kastens 
oder  der  Lade  umgaben ,  während  der  Deckel  dabei  ganz  ausser  Frage 
bleibt,  und  als  nicht,  wenigstens  mit  keinen  der  von  Pausanias  angeführ- 
ten Gompositionen,  geschmückt  betrachtet  wird. 

Die  eine  und  die  andere  dieser  beiden  Grundansichten  tritt  nun 
aber  bei  den  einzelnen  Bearbeitern  in  so  mannigfachen  Modificationen 
auf,  dass  es  sich  der  Mühe  verlohnt ,  dieselben  in  diesen  Modificationen 
zusammenzustellen,  wobei  zugleich  auf  die  verschiedenen  Ansichten 
über  die  Grösse  und  Gestalt  der  Lade  wie  über  die  Vertheilungsart  der 
Gompositionen  auf  deren  Flächen  oder  Feldern  berichterstattend  einzu- 
gehen ist ,  also  auf  Fragen ,  welche  demnächst  kritisch  zu  erörtern  sein 
werden. 

Heyne  a.  a.  0.  S.  10  meint,  man  könne  sich  von  der  Gestalt  der 
Lade  keine  andere  Vorstellung  machen ,  als  dass  es  eine  längliche  Kiste 


598  J.  0 VERBECK,  [10 

oder  Truhe,  »etwa  wie  ein  Sarg«,  gewesen  sein  müsse,  mit  zwei 
schmalen ,  zwei  langen  Seiten  und  einer  Oberfläche ,  welche  den  Deckel 
ausmachte,  obgleich  Pausanias  einen  solchen  nicht  ausdrücklich  erwähne, 
sondern  nur  von  fünf  Seiten  rede.  Auf  der  Titelvignette  seines  Aufsatzes 
hat  Heyne  die  Lade  in  der  Gestalt,  welche  er  hier  angiebt,  bemerkens- 
werther  Weise  auf  einem  ziemlich  hohen  Untersatze  stehend ,  abbilden 
lassen.  In  Betreff  der  Grösse  sagt  er  S.  1 1 ,  es  sei  kein  Grund  anzu- 
nehmen, dass  die  Lade  von  merklicher  Grösse  gewesen  sei,  und  wenn 
man  bedenke,  dass  die  Figuren  von  Gold  und  Elfenbein  waren,  so  könne 
man  kaum  voraussetzen,  dass  die  Länge  über  vier  Fuss  betragen  habe. 
Für  die  Breite  der  schmalen  Seiten  nimmt  er  die  Hälfte  an.  Die  Bild* 
werke  auf  der  Lade  denkt  sich  Heyne  S.  1 2  f.  auf  die  fünf  Flächen  (Wan- 
dungen und  Deckel)  so  vertheilt ,  dass  jede  einzelne  von  Pausanias  ge- 
nannte Gruppe  (Scene ,  »  Geschichte «  sagt  Heyne)  ein  eigenes  Feld  ein- 
genommen habe.  Für  die  erste  Seite  berechnet  er  fünf  Felder  Schnitz- 
werk, für  die  zweite  deren  zwölf,  desgleichen  für  die  vierte,  für  die  fünfte 
wieder  fünf  wie  für  die  erste.  Die  dritte  enthalte  nur  eine  Vorstellung, 
aber  eine  weitläufige ,  eine  Schlacht.  Indem  er  nun  die  erste  Fläche  als 
die  Schmalseite  betrachtet,  welche  den  in  den  Tempel  Tretenden,  man 
sieht  nicht  ein  warum ,  »  zuerst  entgegenstiess « ,  findet  er  Nichts  natür- 
licher als  die  Annahme  die  erste  und  fünfte  Seite  oder  Fläche  sei  durch 
die  Schmalseiten  der  Lade  gebildet  worden ,  die  zweite  und  vierte  seien 
als  die  Langseiten  zu  betrachten,  während  er  die  dritte  Fläche,  nicht  ohne 
das  Gezwungene  und  Willkürliche  dieser  Annahme  gegenüber  den 
Worten  des  Pausanias ,  der  die  fünfte  Fläche  als  die  oberste  bezeichnet» 
zu  fühlen ,  auf  den  Deckel  des  Kastens  verlegt.  Da  er  nun  den  Längs- 
seiten ,  welche  12»  Felder «  enthalten ,  4  Fuss  Länge  gegeben  hat ,  so 
berechnet  er  für  jedes  »  Feld «  vier  Zoll  Länge.  Hieraus  geht  hervor, 
was  Heyne  nicht  ausspricht ,  und  was  sich  auch  aus  seiner  Zeichnung 
nicht  klar  ersehen  lässt,  dass  er  sich  die  verschiedenen  »Felder«  neben 
einander  gereiht,  nicht  in  verschiedenen  Streifen  übereinander  angebracht 
gedacht  hat.  lieber  das  von  ihm  angenommene  Höhenmaass  der  Figuren 
ist  nirgend  eine  Angabe  zu  finden  und  über  den  Umstand,  dass  diese 
Figurenhöhe  bei  4  Zoll  Grundlinie  jedes  »  Feldes  oder  Sujets  «  nicht  mehr 
als  ein  paar  Zoll  Höhe  gehabt  haben  könne,  dass  sich  folglich  das  ge- 
sammte  Schnitzwerk  wie  ein  schmales  Reliefband  um  den  Kasten  ge- 
zogen haben  müsste ,  scheint  sich  Heyne  nicht  Rechenschaft  gegeben  zu 


11]  Über  dir  Lade  des  Kypselos.  599 

haben ,  wie  denn  sein  ganzer  Aufsatz  in  hohem  Grade  an  dem  Mangel 
einer  künstlerischen  ja  nur  räumlichen  Anschauung  leidet. 

Dies  Letztere  kann  man  nicht  im  gleichen  Maasse  von  der  Recon- 
struction  von  Quatrem&re  de  Quincy  sagen,  dem  Einzigen ,  beiläufig  ge- 
sagt ,  von  Allen ,  die  sich  mit  dem  Problem  beschäftigt  haben ,  welcher 
dessen  Lösung  überaus  leicht  gefunden  und  p.  131  ausgesprochen  hat: 
» rien  de  plus  facile  que  de  suivre  en  dessin  la  döscription  de  Pausanias «. 
Seine  Anschauung  von  der  Gesammtform  der  Lade  verdankt  de  Quincy 
einem  Aufenthalt  in  Niedersachsen  während  der  ersten  französischen 
Revolution,  er  zeichnet  sie  dieser  Anschauung  gemäss  in  der  Form  jener 
grossen  Koffer  oder  Kisten ,  in  denen  unsere  Knechte  und  Mägde  ihre 
Kleider  und  Wäsche  aufbewahren ,  als  einen  oblongen  Kasten  mit  flach- 
gewölbtem Deckel 19).  Die  x&QM  des  Pausanias  sind  auch  ihm  die  vier  Sei- 
ten und  der  Deckel  der  Lade,  jedoch  gilt  ihm  als  die  erste  #co(>a  die  eine 
Langseite  (düt  6tre  le  cot£  antörieur  et  principal) ,  für  welche  Annahme 
er  » le  nombre  et  l'£tendue  des  sujets  «  als  Grund  angiebt.  Die  zweite  £co(>a 
ist  ihm  die  links  anliegende  Schmalseite,  die  dritte  die  hintere  Langseite, 
die  vierte  die  zweite  Schmalseite  und  die  fünfte  der  Deckel.  Als  Maasse 
nimmt  de  Quincy  p.  131  approximativ  6Fuss  Länge  zu  4Fuss  Breite  und 
gleicher  Höhe  an,  den  Figuren  giebt  er  etwa  einen  Fuss  Höhe.  Um  die- 
selben aber  bei  diesen  Maassen  auf  die  4  resp.  6  Fuss  langen  Seiten  der 
Lade  anbringen  zu  können  sieht  er  sich  genöthigt ,  dieselben  in  dreien 
Streifen  übereinander  zu  ordnen,  welche  er,  übrigens  sehr  verständig, 
durch  stehen  gelassene  Zwischenleisten  von  einander  absondert.  Den 
unter  Bäumen  gelagerten  Dionysos  der  vierten  x®(?a  verlegt  er  in  das 
Tympanon  des  Deckels  über  der  vierten  Seite ,  die  Figuren  der  fünften 
XWQa  in  mehren  Streifen  auf  die  Fläche  des  Deckels  selbst  (planche  3). 

Welcker,  dessen  Aufsatz  durch  eine  Berichterstattung  über  das  Werk 
des  Quatremere  de  Quincy  hervorgerufen  wurde,  stimmt  (a.  a.O.  S.  537) 
mit  diesem  insofern  überein,  dass  auch  er  als  die  erste  x™Qa  die 
»vordere«  Längenseite,  als  die  zweite  die  Querseite  links,  als  die  dritte 
die  hintere  Längenseite ,  als  die  vierte  die  zweite  Querseite  betrachtet, 
während  er  ebenfalls  (S.  544)  den  Deckel  als  die  fünfte  x™Qa  auf- 


4  9)  Thiersch  a.  a.  0.  S.  4  68  nennt  das  eine  barokke  Meinung  und  betrachtet  es 
als  »ein  merkwürdiges  Beispiel  von  Abenteuerlichkeit  der  Vorstellungen,  die  durch 
kein  gründliches  Studium  altertümlicher  Dinge  und  durch  kein  unbefangenes  Urteil 
im  Zaume  gehalten  werden  « . 


600  J.   OvERBKCK,  [** 

fasst20).  Ueber  die  Grösse  und  Gesammtgestalt  der  Lade  sagt  er  (S.  548}, 
die  Nebenseiten  dürften  kaum  mehr  als  die  Hälfte  der  Längenseiten  ge- 
habt haben ,  und  danach  würde  auch  die  ganze  Lade  eine  Gestalt  ge- 
wonnen haben,  wie  ausgesucht  um  ein  Kind  hineinzulegen;  „nach  die- 
sem und  keinem  anderen  Maassstabe  möchte ,  wenn  einmal  vom  Unge- 
wissen die  Rede  sein  solle,  auch  die  Grösse  zu  schätzen  sein41,  die  Wel- 
cker  demnach  viel  geringer  nicht  allein  als  Quatremere  de  Quincy,  son- 
dern auch  als  Heyne  annimmt.  Was  die  Anordnung  der  Figuren  auf 
diesen  Flächen  anlangt  tritt  er  (S.  546)  de  Quincy s  Zerstückelung  der 
in  einer  #«(>«  zusammen  genannten  in  drei  übereinander  liegende  Reihen 
oder  Streifen  mit  sehr  bestimmten  Worten  entgegen  und  fordert  für  die- 
selben eine  ununterbrochene  Folge.  So  richtig  dies  nun  auch  ist,  und  so 
gute  Gründe  Welcker  dafür  (a.  a.  0.  u.  S.  549)  entwickelt,  wird  man 
doch  nicht  umhin  können  von  ihm  zu  sagen,  was  von  Heyne  gesagt 
werden  musste,  dass  ihm  die  rechte  räumliche  Anschauung  abging;  denn 
ganz  gewiss  wird  Jeder,  der  es  versucht,  es  als  bare  Unmöglichkeit 
empfinden  die  Figuren  einer  x®Qa  in  fortlaufender  Reihe  anders  als  in 
einem  schmalen  Reliefbande  auf  je  einer  Seite  der  Lade  anzubringen21); 
vollends  dies  Reliefband  in  gleicher  Breite  über  die  4  Seiten  fortzuführen 
und  die  in  der  2.  und  4.  x*»Qa  genannten  Figuren  auf  den  Schmalseiten 
des  Kastens  unterzubringen ,  dies  kann  durch  kein  Mittel  der  Abkürzung 


20)  Die  Worte:  »nur  geht  uq^u^vu)  di  uvaoxouetöx^at,  xdroj&fv  nicht  auf  die 
einzelnen  Seiten  oder  Reihen  der  Figuren  (wie  b.  Quatremere  de  Quincy),  auch  nicht, 
wie  Heyne  will  auf  die  schmale  Seite,  die  dem  Eintretenden  zuerst  entgegen gestossen, 
sondern  auf  den  Deckel,  welcher  auch  hiernach  zu  schiiessen  zuletzt  beschrieben 
wirdtt,  die  wir  b.  Welcker  S.  279  lesen,  sind  nicht,  wie  Siebeiis  Amalth.  a.  a.  0. 
S.  264  meinte,  ein  Versehen,  sondern  nur  ein  leicht  missverständlicber  dunkler  Aus- 
druck und  sollen  heissen:  die  Betrachtung  beginnt  unten,  d.  h.  mit  den  Seiten  des 
Kastens,  folglich  kommt  der  Deckel  zuletzt. 

2 1 )  Wenn  die  von  Quatremere  de  Quincy  auf  3  Streifen  übereinander  angebrach- 
ten Figuren  in  einer  und  derselben  Reihe  fortlaufen  sollen ,  so  ist  nur  folgende  Alter- 
native möglich.  Soll  die  Figurenhöhe  dieselbe  bleiben,  so  muss  die  Breite  der  Fläche, 
auf  der  sich  die  Figuren  befinden ,  auf  das  Dreifache  wachsen ,  soll  dagegen  die  Breite 
der  Fläche  (Seite)  des  Kastens  dieselbe  bleiben ,  so  müssen  die  Figuren  entsprechend 
verkleinert  werden.  In  meiner  Restauration  hat  die  unterste  £ft>pa  bei  4  Zoll  hoben 
Figuren  eine  Länge  von  pp.  9  Fuss ;  Quatremere  de  Quincy  giebt  der  vordersten  Seite 
des  Kastens  6  Fuss,  was  bei  continuirlicher  Ausdehnung  der  %f*Qa  eme  Figurenhöhe 
von  2%  Zoll  geben  würde,  Welcker  nimmt  bedeutend  geringere  Dimensionen  an, 
folglich  würden  nach  seiner  Ansicht  die  Figuren  kaum  2  Zoll  Hohe  gehabt  haben. 


13]  Über  die  Ladk  des  Kypselos.  601 

und  nur  andeutenden  Darstellung ,  wovon  bei  Welcker  ziemlich  viel  die 
Rede  ist,  jemals  gelingen.  Es  ist  mathematisch  unmöglich.  In  der  Zu- 
weisung der  %co{jai  an  die  4  Seiten  und  den  Deckel  stimmt  Siebeiis  a.  a. 
0.  S.  261  vollkommen  mit  Welcker  überein;  zuletzt,  meint  S.,  kommt 
Pausanias  zu  dem  Deckel,  und  da  heisst  es  denn  naiv  genug:  »davon  ge- 
braucht er  hier  den  Ausdruck  ij  ävtorarw  %6()ay  aber  VI.  9.  3  das  Wort 
tu  ini{h][ia.<t  So  nahe  war  man  der  Entdeckung,  dass  die  fünfte,  oberste 
%wQa  nicht  der  Deckel  sein  könne!  In  Betreff  der  Grösse  stimmt  S.  S.257 
mit  Quatremere  de  Quincy  gegen  Heyne  überein ,  indem  er  mehre  litte- 
rarische Beispiele  von  grossen  IdQvaxeg,  unter  anderen  die  jüdische 
Bundeslade  anführt,  die  dritthalb  Ellen  Länge  und  1l/2  Ellen  Breite  und 
Höhe  gehabt  habe. 

H.  Meyer  (a.  a.  0.  Anm.  S.  1 6)  verlegt  ganz  wie  Heyne  die  erste  und 
fünfte  £co(>a  auf  die  Schmalseiten,  die  zweite  und  vierte  auf  die  Langseiten 
und  die  dritte  auf  den  Deckel,  ohne  dabei  etwas  Anderes  zu  bemerken  als 
dies:  ,,in  Hinsicht  auf  Angabe  der  Darstellungen  an  den  verschiedenen 
Seiten  und  auf  dem  Deckel  des  Kastens  haben  wir  uns  einige  Freiheit 
in  der  Eintheilung  erlaubt,  wie  sie  der  kunstgemässen  Anordnung  des 
Ganzen  am  besten  zu  entsprechen  scheint'.  Das  ist  doch  nur  ein  sehr 
dünner  Schleier,  welcher  über  die  zu  Nichts  führende  Willkür  ge- 
breitet ist. 

Von  dieser  Zeit  an  verschwand  die  Vorstellung,  die  fünf  %(oqou  des 
Pausanias  seien  die  Seiten  und  der  Deckel  der  Lade  gewesen ,  aus  der 
gelehrten  Discussion,  bis  Ruhl  1852  dieselbe  wieder  erweckte  und  neu 
zu  begründen  suchte.  Freilich  geschieht  dies  in  einer  Weise ,  welche 
eine  genaue  Berichterstattung  über  Ruhls  Ansicht  aus  doppeltem  Grunde 
sehr  erschwert ,  und  die  Gefahr  des  Irrthums  nur  zu  nahe  legt.  Denn 
einmal  wendet  sich  Ruhl  speciell  gegen  Jahns  Reconstructionsversuche 
und  seine  Arbeit  besteht  der  Hauptsache  nach  aus  dem  Bestreben ,  eben 
diese  Reconstructionsversuche  als  räumlich  unmögliche  zu  erweisen. 
Dabei  bezieht  sich  Ruhl  auf  Jahns  Arbeit  in  den  Archaeolog.  Aufsätzen, 
in  welcher  der  Verf.  sämmtliche  Bildwerke  in  den  fünf  übereinander 
liegenden  x&qai  oder  Zonen  auf  die  Vorderfläche  der  Lade  allein  ver- 
legt hatte.  Diese  Ansicht  hat  nun  Jahn  in  seinem  späteren  Aufsatz  (in 
den  Berichten  der  k.  sächs.  Ges.  d.  Wiss.  v.  1 858)  selbst  dahin  modifi- 
cirt,  dass  er  auch  die  anliegenden  Neben-  oder  Schmalseiten  der  Lade 
für  das  Bildwerk  in  Anspruch  nimmt ,  und  die  Figuren  jeder  #©(>«  oder 


602  '  J.  OVERBECK,  [" 

Zone  auf  diese  drei  Seiten  vertheilt.  Indem  nun  hierdurch  die  Länge  der 
Vorderseite  um  den  Betrag  der  Länge  beider  Nebenseiten  an  Ausdeh- 
nung verliert,  können  wir  die  Bemerkungen  Ruhls  gegen  die  früher  von 
Jahn  angenommene  ungebührliche  Ausdehnung  der  Vorderseite  und 
gegen  die  Schmucklosigkeit  der  Nebenseiten  als  erledigt  betrachten ,  so 
dass  wir  es  nur  mit  den  Bemerkungen  zu  thun  haben,  welche  Ruhl 
gegen  Jahns  neue  Position  richtet.  Aber  auch  diese  Bemerkungen  wer- 
den besser  an  einem  anderen  Orte ,  bei  der  Besprechung  der  Zonen- 
theorie zu  berücksichtigen  sein ,  hier  kommt  es  hauptsächlich  darauf  an, 
Ruhls  eigene  Ansicht  hervorzukehren.  Das  aber  ist  deswegen  nicht 
leicht,  weil  der  Verfasser  dieselbe  nirgend  im  Zusammenhange  entwickelt 
oder  präcis  ausgesprochen  hat ,  indem  er  vielmehr  nur  einzelne  Andeu- 
tungen fallen  lässt,  und  sich  fortwährend  auf  seine  Zeichnungen  bezieht, 
die  wir  nicht  kennen,  auch  selbst  ausspricht,  er  könne  seine  Ansicht  ohne 
Publication  dieser  Zeichnungen  nicht  beweisen.  Um  so  erwünschter  ist 
es  unter  diesen  Umständen,  dass  wir  durch  Schubart T1)  kurz  und  positiv 
über  Ruhls  Ansicht  unterrichtet  werden.  Es  müsste  nämlich  Alles  täu- 
schen ,  wenn  sich  die  Worte :  » leider  giebt  uns  Pausanias  keine  Andeu- 
tung über  die  Gestalt  der  Lade,  wenn  nicht  in  der  Lücke  davon  die  Rede 
gewesen  ist;  wir  haben  also  die  Wahl,  ob  wir  einen  »Schrank«23)  an- 
nehmen wollen,  an  welchem  auf  Einer  Fläche  die  fünf  Felder  überein- 
ander angebracht  waren ,  oder  einen  Kasten,  an  welchem  die  Darstel- 
lungen auf  den  vier  Seiten  und  dem  Deckel  vertheilt  waren.  Für  beide 
Annahmen  lassen  sich  Gründe  aufstellen ,  »doch  scheinen  die  für 
letztere  überwiegend  zu  sein«,  es  müsste  Alles  täuschen,  wenn 
sich  diese  Worte  nicht  auf  Ruhls  gezeichnete  Reconstruction  bezögen, 
deren  Publication  vorher  als  ein  wahrer  Gewinn  der  Arcbaeologie  ge- 
priesen wird.  Also  die  vier  Seiten  und  den  Deckel  hätten  wir  wieder; 
aus  den  Bemerkungen  in  der  Archaeol.  Zeitung  v.  1860  S.  30  aber  geht 
hervor,  dass  Ruhl  die  erste  %w^a  als  die  vordere  Langseite,  die  dritte  als 
die  Rückseite  betrachtet;  in  einer  Note  zu  S.  290  der  Zeitschrift  für  d. 
Alterth.  Wissens  eh.  v.  1 852  findet  R.  die  von  Siebeiis  angenommenen 


2S)  Uebersetzung  des  Pausanias  a.  a.  0.  vgl.  N.  Jahrbb.  a.  a.  O.  S.  308  Note  7. 

23)  Diesen  Ausdruck  hat  Mercklin  a.  a.  O.  S.  106  Note  4  0  gebilligt,  Schubart 
selbst  aber  nimmt  ihn  zurück  und  weist  die  Unthunlicbkeit  der  Annahme  einer  Schrank- 
form der  Lade  mit  guten ,  aber  freilich  auf  flacher  Hand  liegenden  Gründen  nach  in 
Jahns  Jahrbb.  a.  a.  0.  S.  305. 


45]  Über  die  Lade  des  Eypselos.  603 

Maasse  (6'  X  4'  und  Figurenhöhe  zu  \')  »nicht  unwahrscheinlich«,  in 
der  Arcbaeolog.  Zeitung  a.  a.  0.  S.  32  aber  meint  er  die  Dimension  der 
Figuren  sei  nicht  unter  5  Zoll  herabzusetzen24),  was  ihm  eine  Länge  der 
xmqa  von  6'  2"  ergiebt.  An  dieser  Stelle  aber  erfahren  wir  das  Wich- 
tigere und  in  der  That  Entscheidende,  nämlich,  dass  Ruhl,  wie  dies 
Quatremere  de  Quincy  gethan  hatte ,  die  Bildwerke  einer  und  derselben 
X<opa  in  mehre  übereinander  liegende  Felder  vertheilt.  Denn  anders 
sind  die  Worte :  »mit  Polvdeukes  und  den  Zuschauenden  endet  in  meiner 
Zeichnung  der  unterste  Streif«  und:  »mithin  gehört  Alles  was  Pausanias 
auf  der  ersten  Seite  zahlt,  vom  Gespanne  des  Pelops  bis  zu  Phineus  und 
den  Boreaden  auf  die  unterste  Zone,  die  in  meiner  Zeichnung  nur  da- 
durch abgekürzt  ist ,  weil  die  Wettkampfe  für  Pelias  und  was  noch  von 
Vorstellungen  folgt,  in  die  zweite  Reihe  (oder  Streifen)  aufgenom- 
men sind«  nicht  zu  verstehen,  so  schwer  es  auch  begreiflich  sein  mag, 
wie  man  in  einem  Athem  sagen  kann ,  Alles  gehöre  in  die  unterste  Zone 
und  diese  werde  dadurch  abgekürzt ,  dass  man  die  Hälfte  in  eine  zweite 
Reihe  aufnimmt25).  Mindestens  zwei  Reihen,  Streifen  oder  Zonen  über 
einander  also  muss  Ruhls  gezeichnete  Reconstruction  haben ,  und  somit 
stellt  sich  sein  Reconstructionsprincip  mit  dem  de  Quincys  in  Reihe,  und 
was  von  jenem,  gilt  auch  von  diesem.  Wie  aber  Ruhl  mit  2  Reihen  von 
Figuren  von  5"  Höhe  und  den ,  auch  von  ihm  verstandiger  Weise  ange- 
nommenen26) Zierleisten  zwischen  den  Reihen  die  nöthige  Höhe  der 
Lade  herausbekommt,  das  bleibt  für  die  ein  Räthsel,  welche  seine  Zeich- 
nungen nicht  gesehen  haben.  Ich  brauche  wohl  kaum  zu  sagen ,  dass 
mir  Nichts  ferner  liegt,  als  Ruhl  mit  diesen  Bemerkungen  zu  nahe  treten 
zu  wollen ,  um  so  weniger ,  da  er  schreibend  nicht  mit  den  ihm  natür- 
lichen Waffen  kämpft ;  ich  weiss  vollkommen  zu  würdigen,  wie  erwünscht 
der  Archaeologie  die  so  seltene  Betheiligung  von  Künstlern  an  der  Lösung 


24)  Vergl.  Zeitschr.  für  d.  Alt.  Wiss.  a.  a.  0.  S.  309. 

15)  Auch  in  der  Zeitschr.  f.  d.  A.  W.  a.  a.  0.  S.  307  heisst  es:  »was  in  die 
unterste  Reihe  (jpopa)  gehört,  davon  kann  Nichts  abgebrochen  oder  in  die  folgende 
herübergenommen  werden«,  so  dass  man  in  der  That  zweifelhaft  wird,  was  dem 
gegenüber  die  Worte  » in  die  zweite  Reihe  (oder  Streifen)  aufgenommen  sind «  be- 
deuten sollen.  Uebrigens  darf  hier  nicht  unbemerkt  bleiben,  dass  R.  an  dieser  Stelle 
die  %MQai  als  »Reihen«  behandelt  (»die  unterste  Reihe,  gui^a«)  während  er  in  der 
Arch.  Ztg.  die  xmqm  consequent  durch  »Seiton«  übersetzt. 

26)  Ztschr.  f.  A.  W.  a.a.O.  S.  309  »Zierleisten,  welche  sicher  nicht  fehlten«. 


604  J.  OVRRBECK,  [16 

ihrer  Probleme  ist27),  allein  ich  habe  die  Erfahrung  gemacht,  wie  schwer 
es  uns  Archaeologen  ist,  uns  mit  Künstlern  durch  Worte  zu  verständigen. 
Hier  aber  liegen  nur  solche  vor  und  wir  haben  uns  an  dieselben  zu  halten. 

Auf  die  Argumente  des  letzten  Verfechters  der  Theorie  der  vier 
Seiten  und  des  Deckels ,  auf  diejenigen  Schubarts  wird  besser  an  einem 
späteren  Orte  eingegangen  werden,  insofern  dieselben  wesentlich  pole- 
misch gegen  die  verschiedenen  Vertreter  der  Zonen-  oder  Streifentheorie 
gerichtet  sind.  Positiv  vertritt  Seh.  (a.  a.  0.  S.  308  Note  7)  die  »mit 
ausgebildetem  Kunstsinn  und  feinem  Verständniss  der  Antike  nach  vielen 
Versuchen  hergestellte  «  Restauration  seines  Freundes  Ruhl ,  »  die ,  her- 
ausgegeben, ein  Prachtwerk  sein  würde«,  die  er  uns  aber  leider  weder 
in  den  angenommenen  natürlichen  Maassen ,  noch  in  Betreff  der  Anord- 
nung der  Figuren  näher  beschreibt.  Warum  er  das  unterlässt  ist  schwer 
zu  sagen,  seine  Bestreitung  der  Streifentheorie  hatte  dadurch  nur  an 
Nachdruck  gewinnen  können. 

Wenden  wir  uns  zu  dieser,  so  ist,  wie  am  Eingange  gesagt  worden, 
Visconti  der  Erste,  welcher  dieselbe,  und  zwar  schon  1 778,  8  Jahre  nach 
Heyne  aufstellte ,  freilich  nur  in  den  kurzen  Worten :  »La  famosa  arca  di 
Cipselo,  monumento  delle  arti  primitive,  avea  i  suoi  bassirilievi  distribuili  in 
cinque  fasce.  Paus.  ELI.  19.  /  tradutlori  non  hanno  cio  ben  compreso«, 
aus  denen  wir  nicht  entnehmen  können,  wie  V.  sich  die  Vertheilung  des 
Bildwerks  auf  die  Seiten  der  Lade  dachte. 

Auch  0.  Müller  (Wiener  Jahrbb.  a.  a.  0.)  spricht  sich  nur  kurz, 
aber  bestimmt  aus,  und  zwar  zunächst  H.  Meyer  gegenüber,  dessen  Ver- 
fahren auch  er  als  Willkür  bezeichnet.  Pausanias,  behauptet  Müller, 
rede  »ganz  deutlich«  von  fünf  Streifen  (xioquiq)  übereinander,  und 
seine  Beschreibung  gebe  keinen  Anlass ,  sich  den  Kasten  viereckig  vor- 
zustellen, vielmehr  gehe  daraus,  dass  keine  Ecken  und  Seiten  daran  er- 
wähnt werden ,  die  Wahrscheinlichkeit  hervor ,  dass  er  von  elliptischer 
oder  ovaler  Form  gewesen  sei. 

Diesen  letzteren  Gedanken  bestritt  zuerst  Thiersch  a.  a.  0.  S.  1 68,  der 
ihn  »ganz  müssig«  nennt,  demnächst  0.  Jahn  Arch.  Aufs.  S.  5,  Gerhard  in 
s.  Etrusk.  Spiegeln  I.  S.  69,  de  Witte,  Ann.  19.  S.  227;  in  neuerer  Zeit 
scheint  derselbe  mit  Recht  so  ziemlich  aufgegeben  worden  zu  sein2*). 


37)  Wie  dies  auch  Jahn  anerkennt  und  hervorhebt,  Berichte  der  k.  s.  Ges.  d. 
Wiss.  a.  a.  0.  S.  99. 

28)  Es  wiederholen  ihn  Hettner  in  s.  Vorschule  d.  bild.  Kunst  b.  d.  Alten  1 848 


*•■ 


*?]  Über  die  Lade  des  Kvpselos.  605 

Folgenreicher  war,  wie  ebenfalls  bereits  bemerkt,  die  erste  gründ- 
liche Durchführung  der  Streifentheorie  bei  Jahn  in  den  Archaeol.  Aufsätzen 
Pausanias,  sagt  Jahn,  fängt  seine  Beschreibung  mit  den  Worten  an  (5. 17. 4) 
äQJtafiivw  de  ävaon<m6$a%tou  nuxTto&w  roadde  im  rijg  XaQvaxog  17  ttqcottj 
naqexerai  £<»(><*,  dann  folgt  die  Erwähnung  der  zweiten,  dritten,  vierten 
Xwqccj  und  endlich  heisst  es  (19.  2)  17  de  dvwrdrco  %d>Qa.  Damit  könne 
nichts  Anderes  gemeint  sein,  als  dass  diese  fünf  Fei  de  rüber  ein  ander  be- 
findlich waren.  Heynes  Annahme,  dass  die  vorderste  und  hinterste  Fläche 
durch  xdr(o&€v  und  avoardro)  bezeichnet  seien,  sei  sprachlich  falsch,  aber 
auch  jene  Deutung,  welche  ndroi&ev  auf  die  Vorderseite  des  Untertheils 
und  dvcordrco  auf  den  Deckel  beziehe ,  scheine  ihm  irrig,  wenn  sie  die 
übrigen  Flächen  auf  den  Seiten  des  Untertheils  des  Kastens  suche.  Denn, 
wenn  P.  fünf  Flächen  anführe,  bei  der  ersten  bemerke,  er  fange  von  un- 
ten an,  und  bei  der  letzten  anführe,  es  sei  die  oberste,  so  sei  das  Natur- 
gemässe,  dass  diese  Felder  eins  über  dem  andern  befindlich  waren,  wie 
dies  auch  Müller  angenommen  habe.  Für  die  vierseitige  Gestalt  des  Ka- 
stens und  die  Yertheilung  des  Bildwerks  auf  sei  es  nur  die  Vorderseite 
oder  drei  Seiten  derselben,  streitet  Jahn  (S.  5)  mit  dem  aus  dem  wechseln- 
den rechts  und  links  Herumgehn  des  Pausanias  entnommenen  Argumente. 
Die  Bildwerke  geben  hiezu  keinen  Anlass,  und  blosse  Laune  sei  auch 
nicht  anzunehmen,  das  Verfahren  aber  das  natürliche,  wenn  P.  nicht 
rund  um  den  Kasten  ging,  sondern  nur  an  einem  Theile  desselben  vorbei, 
wenn  also  der  Kasten  nicht  ringsherum,  sondern  nur  an  der  Vorderseite 
oder  nur  an  drei  Seiten  mit  Bildwerken  verziert  und  mit  der  Rückseite 
an  die  Wand  gestellt  war.  Als  Analogien  werden  Sarkophage  angezo- 
gen ,  welche  theils  auf  der  Vorderseite  allein ,  theils  auf  drei  Seiten  mit 
Reliefen  geschmückt  sind.  Einen  bestimmten  Grund,  um  zu  entscheiden, 
ob  das  Eine  oder  das  Andere  bei  der  Kypseloslade  der  Fall  war ,  giebt 
Jahn  an,  nicht  aufzufinden;  das  Wort  neyiodoe,  dessen  Pausanias  sich 
bediene,  könne  man  nicht  geltend  machen,  da  dasselbe  nicht  ein  Rund- 
herumgehn,  sondern  wie  neQirjyelo&ai  und  ähnliche  Wörter  eine  genaue, 
schrittweise  Beschreibung  des  Einzelnen  bezeichne.  In  einer  dann  fol- 
genden Prüfung  des  Einzelnen  der  Beschreibung  des  Pausanias,  der 
höchst  dankenswerthe  Nachweisungen  von  Parallelbildwerken  in  den 


S.  4  34,  Weiske,  Prometheus  u.  sein  Mytbenkreis  S.  408.  und  noch  Guhl  und  Koner, 
das  Leben  der  Griechen  u.  Römer  nach  ant.  Bildwerken  dargestellt  4  860,  4.  S.  4  45. 
Abhtndl.  d.  K.  8.  GeMlUch.  d.  Wiiienich.  X.  44 


606  J.  OvEHBECK,  [18 

Noten  beigefügt  sind,  sucht  Jahn  darzuthun,  dass  die  verschiedene  Figu- 
renzahl der  einzelnen  xcopai,  die  Hauptstütze  der  Theorie  der  zwei  langen 
und  zwei  kurzen  Seiten  des  Kastens,  durchaus  der  Vertheilung  in  fünf  Strei- 
fen nicht  entgegenstehe,  indem  die  figurenreicheren  Darstellungen  sich 
als  zusammengezogen,  die  weniger  figurenreichen  dagegen  als  weiter 
ausgeführt  vollkommen  denken  lassen.  Die  in  der  That  schlagende  Ana- 
logie der  Frangoisvase  konnte  Jahn  damals  noch  nicht  benutzen,  hat  dies 
aber  mit  desto  grösserem  Nachdruck  in  seinem  späteren  Aufsatz  (4  858) 
gethan ,  worauf  zurückzukommen  sein  wird.  Vollkommene  Zustimmung 
fand  Jahn  bei  Bergk  in  der  schon  angeführten  Recension  der  Archaeolog. 
Aufsätze  in  der  hallischen  Allg.  Litteraturzeitung  v.  1 847.  No.  284  ff. 
Ruhl  dagegen  meinte  (Zeitschr.  fr.  d.  Alt.  Wiss.  1 852.  S.  307)  die  Ver- 
schiedenheit der  Figurenzahl  (er  berechnet  42  für  die  1 .,  32  für  die  2., 
36  [conjectural]  für  die  3.,  36  für  die  4.  und  i  9  für  die  5.  #©>(>«,)  sei  zu  gross, 
um  die  Reliefe  auf  fünf  gleich  lange  Streifen  angebracht  zu  denken ;  solche 
Ungleichheit  verliere  sich  bei  einer  kritischen  [philologischen]  Beweis- 
führung zwischen  den  Zeilen  und  entschlüpfe  hier  leicht  der  Aufmerk- 
samkeit des  Lesers,  solle  aber  die  Sache  gezeichnet  werden,  so  entstün- 
den bedeutende  Schwierigkeiten,  und  dieser  Widerspruch  gegen  das 
Gesetz  der  Compositum  gebe  einen  positiven  Beweis  gegen  die  von  Jahn 
vorgeschlagene  Anordnung  der  Bilder29).  Nicht  eher  werde  er  eine  an- 
dere Ueberzeugung  erlangen ,  als  bis  ihm  die  Anschauung  einer  wohl- 
gelungenen Verwirklichung  dieser  dem  Bette  des  Prokrustes  gleichenden 
Aufgabe  zu  Theil  werde.  —  So  manche  richtige  Bemerkung  nun  das 
Folgende  auch  z.  B.  in  Betreff  der  Bedingtheit  der  Höhe  der  Figuren 
durch  die  Breitenausdehnung,  und  umgekehrt,  enthalt,  können  wir  doch 
hier  über  die  weiteren  Bemerkungen  Ruhls  hinweggehn ,  weil  sie ,  wie 
schon  bemerkt,  sich  gegen  die  Annahme  einer  ausschliesslichen  Oma- 
mentirung  der  Vorderseite  richten ,  die  neuestens  von  Jahn  aufgegeben 
ist.  Naiv  klingt  für  uns,  die  wir  R's  Zeichnungen  nicht  kennen,  die  Be- 
merkung, er  lege  bei  der  Berechnung  der  Longe,  die  nach  der  Streifen- 
theorie die  Larnax  gehabt  haben  würde»  »das  Bestehende«,  nämlich  das 
Maass  seiner  Zeichnungen  zum  Grunde;  dass  er  danach  ein  Monstrum 


29)  Der  nun  folgende  angeblich  analoge  Fall  der  Aufgabe,  fünf  ganz  verschieden 
lange  Verse  bei  gleicher  Buchstabendistanz  auf  fünf  gleich  lange  Zeilen  zu  schreiben, 
der  uns  Buchstabenmenschen  die  Sache  klar  machen  soll ,  ist  so  unglücklich  ausge- 
dacht, dass  man  am  besten  davon  schweigt. 


*  9]  Über  die  Lade  des  K ypselos.  607 

von  einer  Larnax  von  1 3'  7"  respective  1 8'  7"  Länge  bei  2*  6"  Höhe 
herausbringt,  kann  natürlich  Niemanden  anfechten. 

Gehn  wir  deswegen  ohne  Weiteres  auf  die  neuere  Phase  der  Dis- 
cussion  zwischen  Jahn  und  Ruhl  über.  In  seiner  erneuten  Behandlung 
des  Problems  (Berichte  d.  k.  s.  Ges.  d.  Wiss.  1858.  S.  99—107)  hebt 
Jahn ,  wie  schon  bemerkt ,  zunächst  die  Wahrscheinlichkeit  hervor ,  dass 
die  Figuren  com  positionen  auf  drei  Seiten  der  Lade  vertheilt  gewesen  seien, 
weist  für  die  Form  und  Grösse  der  Larnax  auf  mehre  Vasenbilder  hin, 
welche  Danae,  Thoas,  Tennes  und  Hemithea  in  Kasten  stehend  oder 
sitzend  zeigen,  und  welche  in  den  mythologischen  Berichten  als  Xagraxtg 
bezeichnet  werden,  und  verweist,  was  die  Hauptsache  ist,  gegenüber 
der  Behauptung  Ruhls,  dass  sich  die  42,  32,  36,  36  und  19  Figuren  der 
fünf  %toQui  nicht  in  gleich  lange  Streifen  einordnen  lassen,  auf  die  Analo- 
gie der  Fran$oisvase 30).  Auch  die  Fran^oisvase  hat  5  Streifen  von  we- 
sentlich gleicher  Länge  und  in  diesen  Figurencompositionen,  bei  denen 
die  Verschiedenheit  der  Anzahl  derjenigen  auf  der  Kypseloslade  so  ziem- 
lich gleich  komme,  nämlich  in  der  obersten  Reihe  54  Figuren,  in  der 
2.  23  F.,  in  der  3.  48  F.,  in  der  4.  30  F.,  in  der  5.  (Pygmaeen  und  Kra- 
niche am  Fusse)  32  Figuren.  Hieraus  ergebe  sich,  wie  misslich  das  blosse 
Abzählen  von  Figuren  sei,  besonders  wenn  Ansprüche  an  Anordnung 
und  Darstellung  hinzukommen,  welche  überhaupt  den  Werken  der  alte» 
sten  Kunst  gegenüber  nicht  zulässig  seien.  Das  Räthsel  löse  sich  einfach 
durch  das  naive  Verfahren  des  alten  Künstlers,  hier  auszudehnen ,  dort 
zusammenzuziehen,  was  dann  im  Einzelnen  an  der  kalydonischen  Eber- 
jagd und  dem  theseüfschen  Reihentanz  nebst  dem  Schiffe  an  der  Fran^ois- 
vase ,  weiter  an  den  verschiedenen ,  bald  gedehnten ,  bald  abbrevirten 
Kentaurendarstellungen  auf  alten  Vasen,  endlich  an  einer  der  ausgeführ- 
testen Scenen  auf  der  Kypseloslade,  dem  Abschiede  des  Amphiaraos  und 
ihrer  Parallele  in  dem  alten  Vasenbilde  bei  Micali  Storia  delP  Italia  avanti 
il  dominio  dei  Romani  tav.  95  (s.  m.  Gall.  heroischer  Bildwerke  Taf.  3. 
No.  5)  nachgewiesen  wird.  Schliesslich  wird  auf  die  Art  aufmerksam 
gemacht ,  wie  die  Accessorien ,  die  Ruhl  eine  vermehrte  Schwierigkeit 
zu  machen  schienen  (Amphiaraos*  Haus,  der  Tempel  bei  Idas  und  Mar- 
pessa  u.  a.),  auf  eben  der  Frangoisvase,  obgleich  sorgfältig  im  Einzelnen 
durchgeführt,  wenig  Raum  einnehmend  gebildet  sind,  wie  namentlich  die 


30)  Moo.  d.  Inst.  4.  64—58,  Arcbaeol.  Zeitung  v.  4  850  (8)  Taf.  23,  24. 

41  • 


608  J.  OVERBECK,  [20 

Höbe  des  Streifens  durch  diese  Dinge  so  wenig  alterirt  wird,  wie  durch 
die  in  der  Wirklichkeit  sehr  verschiedene  Höhe  sitzender,  stehender, 
reitender  und  auf  Wagen  fahrender  Personen.  Diese  Gleichmässigkeit 
(Isokephalie ,  welche  sich  übrigens  in  den  Friesen  der  besten  Zeit,  am 
Parthenon,  am  Tempel  der  Nike  und  in  Phigalia  wiederfindet)  wird  rich- 
tig aus  dem  überwiegend  ornamentalen  Charakter  der  Bildwerke  abge- 
leitet, für  welche,  wiederum  mit  Recht,  eine  Höhe  von  5"  als  völlig  hin- 
reichend angesprochen  wird,  indem  die  Wirkung  der  Bildnerei  doch 
gewiss  darauf  berechnet  gewesen  sei,  dass  der,  welcher  sich  mit  dem 
allgemeinen  ornamentalen  Charakter  des  Ganzen  nicht  beruhigte,  auf- 
merksam das  Einzelne  in  der  Nähe  betrachten  sollte. 

Ruhls  Duplik  in  der  Archaeolog.  Zeitung  von  1 860  S.  27  ff.  behan- 
delt zunächst  die  Form  und  Grösse  der  Lade,  sodann  die  Anordnung  der 
Bildwerke.  Was  den  ersteren  Punkt  anlangt,  wird  die  Aufstellung  mit  der 
einen  Langseite  an  der  Wand,  wodurch  die  Verzierung  mit  Schnitzwerk 
sich,  was  wenigstens  den  Körper  der  Lade  anlangt,  auf  drei  Seiten  redu- 
ciren  muss,  als  die  für  ein  Hausgeräth  unzweifelhaft  entsprechendste  an- 
erkannt. Allein  R.  ist  im  Zweifel,  ob  die  von  Pausanias  gesehene  und 
beschriebene  Lade  die  echte  d.  h.  das  Erbstück  der  Labda  war,  in  dem 
Kypselos  gerettet  worden  sein  soll,  oder  ein  diese  repräsentirendes  Weih- 
geschenk des  Kypselos,  und  ob  sie  deswegen  im  Tempel  zu  Olympia 
ebenso  wie  die  alte  Lade  im  Hause  der  Labda  aufgestellt  gedacht  wer- 
den könne.  Ruhl  gesteht,  dass  man  über  diese  Frage,  auf  welche  wir 
zurückkommen  werden,  nicht  entscheiden  könne,  neigt  aber  doch  zu  der 
zweiten  Annahme  und  leitet  aus  derselben  die  weitere  Vermuthung  ab, 
die  Lade  sei  bei  ihrer  veränderten  Aufstellung  im  Tempel  nachträglich 
auch  an  der  Hinterseite  verziert  worden,  und  zwar  mit  der  Schlacht 
(#«pa.3),  die  ihm  unter  den  übrigen  Bildwerken  fremdartig  scheint.  Für 
die  Form  und  Grösse  der  Xd$va£  acceptirt  R.  das  von  Jahn  gegebene 
Beispiel  derDanaelarnax31),  deren  Dimensionen  er  nach  dem  Maasse  des 
daneben  stehenden  Mannes  (Akrisios)  zu  Sf  8y2"  Höhe  auf  4'  4"  Länge 
berechnet.  Das  gebe  eine  Deckelfläche  von  24  DFuss  12  DZoll,  d.  h.  eine 
Dimension,  die  ihm,  besonders  wenn  man  den  meist  beengten  Raum  des 
griechischen  Wohnhauses  bedenke,  wenig  wahrscheinlich  vorkommt32). 

34)  Berliner  Winkelmannsprogramm  von  4  854  (von  Gerhard). 
32)  Seltsam  ist  hierbei,  dass  die  von  Ruhl  (s.  oben  S.  4  5)  adoptirten  Maasse,  die 
Siebeiis  verschlug,  6X4'  genau  ebenfalls  S4  oFuss  Deckelfläche  abgeben. 


24]  Ubeb  die  Ladr  des  Etpselos.  609 

Reducire  man  aber  auch  das  Maass  auf  das  Wahrscheinliche,  so  bliebe 
immer  nicht  annehmbar,  dass  ein  sinnvoller  Künstler  die  grosse  und  am 
meisten  sichtbare  Deckelfläche  ohne  nennenswerthe  Verzierung  gelassen 
habe,  um  alles  Figurenornament  auf  die  namentlich  in  ihren  unteren 
Theilen  schwerer  sichtbaren  Seitenflächen  zu  häufen.  Was  sodann  die  An- 
ordnung der  Figuren  betrifft,  meint  Ruh],  Pausanias  lasse  freilich  in 
Zweifel ,  wo  er  seine  Beschreibung  beginne ,  doch  sei  aus  der  Zählung 
der  Vorstellungen  der  ersten  »Seite«  (d.  h.  xtoga)  deutlich,  dass  P.  die 
Vorderseite  meint.  Wenn  Jahn  nun  annehme,  dass  das  Bildwerk  auf  drei 
Seiten  vertheilt  gewesen,  so  lasse  sich  leicht  nachweisen ,  dass  die  Rei- 
henfolge der  Scenen  dieser  Eintheilung  nicht  entspreche.  Hier  könne  er 
das  freilich  nicht  (ohne  Zeichnung),  er  wolle  aber  darauf  hinweisen,  dass 
Pausanias  hervorhebe,  es  seien  5  »Seiten«.  Wo  man  diese  fünfte  »Seite« 
suchen,  ob  etwa  annehmen  wolle,  die  letztbeschriebene  »Seite«  habe 
eine  »Zone«  mehr  gehabt,  als  die  andern?  Da  dies  ein  Unsinn  ist,  muss 
gleich  hier  bemerkt  werden,  dass  Ruh!  die  von  Jahn  u.  A.  angenommene 
Anordnung  wenigstens  an  dieser  Stelle  gar  nicht  aufgefasst  hat,  und  dass 
er  hier  mit  seinen  Worten  höchst  inconsequent  verfährt,  indem  er  x®Qa 
bald  mit  »Seite«,  bald  mit  »Zone«  (»eine  Zone  mehr«)  übersetzt.  Nach 
der  »Streifentheorie«  sind  die  xtogai  des  Pausanias  überhaupt  nie  die  »Sei- 
ten« der  Kiste,  sondern  fünf  gleichartige,  um  drei  Seiten  des  Kastens  über 
einander  herumlaufende  Zonen.  Da  Ruhl  dies  an  anderen  Stellen  seines 
Aufsatzes  gefasst  zu  haben  scheint,  hätte  er  die  oben  erwähnte,  Alles 
verwirrende  Frage  sich  ersparen,  und  überhaupt  nicht  von  »Seiten«  (für 
X&Qai)  sprechen  sollen,  ohne  dabei  festzuhalten,  dass  diese  Seiten  seiner, 
nicht  unserer  Theorie  entsprechen.  Und  doch  geschieht  das  mehrfach, 
sogleich  im  unmittelbaren  Verfolg ,  wo  behauptet  wird ,  dass ,  wenn  die 
Lade  mit  einer  Seite  an  der  Tempelwand  gestanden  hätte,  Pausanias  bei 
seiner  Beschreibung  nicht  von  einem  Herumgehn  sprechen  konnte;  ihm, 
Ruhl,  sei  eine  solche  Aufstellung  wegen  der  Gebilde,  mit  denen  die  dritte 
»Seite«  (d.  h.  x®(>a)  verziert  war,  nicht  wahrscheinlich.  Hierbei  hat  er 
vergessen,  dass  uns  die  3.  xtyct  nicht  die  hintere  »Seite«  ist,  und  dass 
man  um  einen  Gegenstand  an  drei  Seiten  herumgehn  kann,  ohne  rings  um 
ihn  herumzugehn,  ja  dass  eben  darauf  auch  unsere,  von  Jahn  zuerst 
ausgesprochene ,  Rechtfertigung  für  das  abwechselnde  rechts  und  links 
»herumgehn«  des  Pausanias  beruht,  eines  Umstandes,  den  R.  überhaupt 
nicht  erwähnt.   Anlangend  nun  die  von  Jahn  aufgestellte  Analogie  der 


610  J.  0 VERBECK,  [M 

Frangoisvase  stösst  sich  Ruhl  zunächst  an  dem  Stil,  den  er,  augenschein- 
lich raissverständücb ,  wie  das  schon  Gerhard  in  einer  Note  angedeutet 
hat,  und  eben  so  gewiss  irrig,  für  »geflissentlich  roh«  hält.  Ueberhaupt 
sei  in  solchen  Producten  manufacturartiger  Praxis  kein  Vorbild  für  Kunst- 
arbeiten zu  suchen,  am  wenigsten  solcher,  die  einer  ganz  anderen  Tech- 
nik angehören.  Dies  Letztere  wendet  R.  dann  in  weiterer  Ausführung 
gegen  die  Bemerkungen  Jahns ,  die  Frangoisvase  zeige ,  wie  eine  solche 
naive  Kunst  nach  Bedarf  zusammenzurücken  und  auszudehnen  und  ver- 
schiedene Figurenzahlen  auf  denselben  Raum  in  der  Länge  zu  bringen 
verstehe.  Das  sei  wohl  Air  den  Maler,  nicht  aber  für  den  Toreuten  mög- 
lich, da  jener  Näheres  und  Ferneres  auf  ebener  Fläche  darstelle,  im  Re- 
lief aber  jeder  Figur  ein  gewisses  Maass  von  Erhabenheit  zukomme.  Wolle 
ein  Bildhauer  sich  vornehmen,  fünf  Läufer  in  perspectivischer  Ansicht 
darzustellen,  so  würde  er  nothwendig  jede  dem  Vordergrunde  sich  nä- 
hernde Figur  im  Vergleich  zu  der  ferneren  aus  dem  Grunde  mehr  her- 
vortreten lassen  müssen.  Dadurch  erhielte  die  erste  nun  eine  Körperlich- 
keit, welche  das  durchzuführende  Prinzip  des  Basreliefe  an  dieser  Stelle 
aufheben  und  den  Künstler  nöthigen  würde,  seine  Gestalten  bis  zum 
Hochrelief  zu  steigern.  —  Auf  diesen  Einwand  wird  weiterhin  näher  ein- 
zugehen sein  mit  specieller  Rücksichtnahme  auf  die  Ky pseloslade ,  hier 
kann  ich  nicht  umhin  gegenüber  den  ganz  allgemeinen  Behauptungen 
von  Ruhl  über  das  was  im  Relief  möglich  und  nicht  möglich  sein  soll, 
mein  Erstaunen  auszusprechen,  dass  der  eifrige  Mann  z.  B.  den  Par- 
thenonfries und  die  Art  ganz  vergessen  konnte,  wie  in  diesem  die  Auf- 
gabe, die  bis  zu  zwölf  Figuren  perspectivisch  vertieften  Glieder  der  Rei- 
terei in  Relief,  Flachrelief  darzustellen,  gelöst  ist. 

Schliesslich  glaube  ich  noch  erwähnen  zu  müssen,  dass  Ruhl  ange- 
sichts der  Frangoisvase  zuerst  auf  die  einfachste  aller  Aushilfen  zur  Aus- 
gleichung der  Differenz  in  der  Figurenzahl  bei  gleicher  Länge  der  Stand- 
linie aufmerksam  gemacht  hat,  auf  die  ungleiche  Höhe  der  Streifen  näm- 
lich, deren  auf  der  Frangoisvase  der  zweite  um  ein  Vierttheil  schmäler 
sei  als  der  erste.  Allein,  fügt  er  hinzu,  für  die  Ky  pseloslade  sei  auf  dies 
Auskunftsmittel  von  Haus  aus  zu  verzichten,  denn  die  Tektonik  der  Lade 
fordere  fünf  gleich  breite  um  drei  Seiten  umlaufende  —  Streifen  denkt  man, 
ei  bewahre ,  sondern  für  alle  »vier  Seiten«  eine  Gleichheit  der  Einthei- 
lung,  und  diese  nothwendige  Symmetrie  (gleich  hober  Seiten  des  Ka- 
stens) lasse  sich  nicht  nach  Bedürfhiss  der  vorkommenden  Darstellungen 


23]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  61 1 

in  der  Weise ,  wie  es  die  Ergotimosvase  zeigt ,  abändern ,  wo  von  den 
umlaufenden  Streifen  der  eine  Figuren  von  grösserer,  der  andere  von 
kleinerer  Dimension  enthalten  könne.  —  Da  wir  nach  der  Streifentheorie 
die  %&qai  nicht  als  »Seiten«  fassen,  die  natürlich  gleich  hoch  sein  müs- 
sen, sondern  als  um  drei  Seiten  »umlaufende  Streifen«,  so  müsste  uns  die 
Einsicht  in  die  Gründe,  warum  diese  »umlaufenden  Streifen«  auf  der 
Kypseloslade  nicht  von  ungleicher  Breite  sein  konnten,  wie  sie  es  an  der 
Frangoisvase  sind,  höchlich  interessiren.  Vielleicht  hat  Ruhl  solche  Gründe 
in  petto,  ausgesprochen  hat  er  sie  nicht,  vielmehr  hier  wiederum  seine 
»Seiten«  mit  unseren  »Streifen«  zusammengewirrt.  So  sind  wir  denn  in 
diesem  Punkte  abermals  auf  uns  selbst  angewiesen. 

So  weit  ist  nun  also  bis  heute  die  Discussion  zwischen  der  »Strei- 
fentheorie«, wie  sie  die  Gegner  nennen,  und  der  »Seiten-  und  Deckel- 
theorie«, wie  ich  wohl  zum  Entgelt  sagen  darf,  gediehen;  auf  die  Argu- 
mente für  die  Streifentheorie,  welche  aus  der  Composition  der  Bildwerke 
sich  ergeben  und  die  Einwendungen  der  Gegner  ist  erst  weiterhin  ein- 
zugehn.  Hier  sei  zunächst  der  Versuch  gemacht  durch  wahrscheinliche 
Feststellung  der  Gestalt  und  Grösse  der  XaQvai  festen  Boden  unter  die 
Füsse  zu  bekommen. 


3. 
Gestalt  und  Grösse  der  Lade. 


Pausanias  gebraucht  von  der  Kypseloslade  wiederholt  das  Wort 
XaQvai  und  Dio  Chrysostomus  (XI.  163)  nennt  sie  Kißcorog.  Ueber  die 
Bedeutung  beider  Ausdrücke  kann,  wie  schon  bemerkt,  im  Allgemeinen 
kein  Zweifel  sein,  am  wenigsten  nach  den  Erörterungen  von  Jahn33) 
und  Schubart34).  Die  Worte  Xdgva^  und  xißcorog  wie  neben  ihnen  die 
epischen  ;pfAöc  und  (pco^m/uog  bezeichnen  Kisten,  Kasten,  Truhen  oder 
Laden  aller  Art,  bestimmt  zu  verschiedenem  Gebrauche  und  demgemäss 
auch  von  verschiedener  Grösse,  immer  aber  von  viereckiger  Gestalt35). 


33)  Arcbaeolog.  Zeitung  v.  4850S.  * 92,  Berichte  der  k.  s. Ges.  d.Wiss.  a.a.O. 
S.  4  00. 

34)  Jahns  Jahrbb.  a.  a.  0.  S.  305  f. 

35)  Dies  kann  nur  für  xtßanog  ganz  im  Allgemeinen  dadurch  zweifelhaft  werden, 
dass  Pausanias  4  0.  28.  3  angiebt,  in  dem  Gemälde  des  Polygnot  in  Delphi  habe  die 


612  J.  0 VERBECK,  [24 

So  finden  wir  sie  häufig  in  Vasengemälden  dargestellt,  bald  klein,  trag- 
bar, ja  auf  einer  Hand  getragen  als  Behälter  für  Schmucksachen,  Speze- 
reien ,  Salbflaschen ,  bald  grösser ,  so  dass  man  sie  als  wesentlich  zum 
Feststehen  bestimmt  betrachten  muss,  und  sie  als  Sitze  benutzt  findet, 
endlich  anwachsend  zu  solcher  Ausdehnung,  dass  eine,  ja  dass  zwei  er- 
wachsene  Personen  darin  geborgen  oder  hineingesperrt  werden  können. 
Die  folgende  kleine  Auswahl ,  welche  ich  auch  in  Rücksicht  auf  die  Art 
der  Ornamentirung  zusammengestellt  habe ,  wird  genügen  um  die  An- 
schauung zu  vermitteln. 

1)  Bei  Guhl  und  Koner,  das  Leben  der  Griechen  Fig.  194b;  2)  da- 
selbst f ;  3)  Millingen,  Anc.  uned.  Monum.  I.  pl.  35 ;  4)  Meine  Gallerie  he- 
roischer Bildwerke  Taf.  12.  No.  9;  5)  daselbst  Taf.  13.  No.  1;  6)  da- 
selbst Taf.  2.  No.  11;  7)  daselbst  Taf.  12.  No  8;  8)  Guhl  und  Koner 
a.  a.  0.  a;  9)  Thoaslarnax,  Ann.  d.  Inst.  1847.  tav.  d'agg.  M;  10)Da- 
naelarnax,  berliner  Winkelmannsprogramm  von  1854;  11)  Danaelarnax, 
Ann.  e Mon.  d.  Inst.  1 856.  tav.  8;  1 2)  Tenneslarnax,  Mus.  Borbon.  vol.  2. 
tav.  30. 

In  Betreff  der  Gestalt  dieser  Kisten  und  Kasten  ist  zu  bemerken, 
dass  sie  sich  in  sofern  ändert,  als  bei  einigen  Beispielen  die  Seitenwan- 
dungen schräge  gestellt  sind ,  so  dass  sich  die  Truhen  nach  oben  erwei- 
tern ,  allerdings  in  verschiedenem  Maasse  (No.  9 — 1 2) ,  während  bei  an- 
deren die  Wandungen  lothrecht  aufsteigen  (No.  1 — 8);  auch  sind  einige 
Exemplare  mehr  oblong  (No.  5.  11.  12),  andere  dagegen  von  ganz  oder 
nahezu  quadratischer  Grundfläche  (No.  1 — 4,  6 — 10,  12),  kein  einziges 
aber  ist  so  lang  gestreckt,  dass  dadurch  Heynes  Vergleich  »wie  ein  Sarg« 
oder  Schubarts  Aeusserung  (a.  a.  0.  S.  305)  die  Kypseloslade  habe  etwa 
die  Form  eines  Sarkophags  gehabt,  gerechtfertigt  und  eine  so  bedeu- 
tende Differenz  in  der  Erstreckung  der  Längen-  und  der  Nebenseiten  be- 
gründet würde,  wie  sie  bei  dem  modernen  Sarge  und  dem  antiken  Sar- 
kophage stattfand.  Alle  diese  Kasten  und  Laden  haben  einen  flachen  Deckel, 
der  sich  in  Scharnieren  bewegt  und  aufklappen  lässt,  und  der  in  mehren 
Beispielen  halb  oder  ganz  offen  dargestellt  ist.  Dass  diese  Beispiele  unsere 


Kleoboia  auf  den  Knieen  xißcorov,  onolag  noisTaftai  vo/ii£ovoi  Jr\\iT[tqi  gehabt,  insofern 
die  mystische  Kiste  der  Demeter  von  runder  oder  ovaler  Gestalt  zu  sein  pflegt.  Für  die 
von  Pausanias  als  laqva%  bezeichnete  xißmzog  des  Kypselos  aber  bleibt  dabei  Alles 
beim  Alten. 


25]  Ober  die  Lade  des  Kypselos.  613 

Phantasie  bei  der  Vorstellung  der  Kypseloslade  zu  leiten  und  zu  bestim- 
men haben,  wird  Niemand  bestreiten,  und  ebenso  wird  den  Meisten  wohl 
ohne  weitere  Auseinandersetzung  einleuchten,  dass  die  Gewinnung  eines 
bestimmten  Bildes  von  der  Gesammtgestalt  der  Lade  für  die  Anordnung 
der  Bildwerke  an  derselben  von  Bedeutung,  ja  von  ziemlich  weit  rei- 
chender Bedeutung  sei.  Allerdings  giebt  es  kein  Mittel,  zu  entscheiden, 
ob  die  Kypseloslade  lothrecht  aufsteigende  oder  schräge  Wandungen  ge- 
habt habe,  es  ist  das  aber  auch  von  untergeordneter  Wichtigkeit,  da  die 
Neigung  der  Seiten  bei  keinem  der  vorliegenden  Beispiele  so  bedeutend 
ist,  dass  eine  für  eine  gradwandige  Kiste  gemachte  und  als  möglich  er- 
wiesene Anordnung  der  Bildwerke  hinfällig  würde,  wenn  sich  erweisen 
liesse,  die  Lade  des  Kypselos  habe,  wie  etwa  die  des  Thoas  (Nr.  9)  oder 
die  der  Danae  (Nr.  !  0),  schräge  Wandungen  gehabt. 

Von  ungleich  grösserer,  ja  von  in  der  That  sehr  grosser  Bedeutung 
ist  dagegen  die  Frage  nach  der  muthmasslichen  Grösse  der  Lade,  und 
hier  ist  leider  von  vorn  herein  und  unumwunden  einzugestehn,  dass  wir 
zu  einer  festen  Entscheidung  zu  gelangen  die  Mittel  nicht  besitzen,  wie 
denn  auch  alle  bisher  aufgestellten  Maassannahmen  durchaus  nur  conjec- 
tural,  respective  willkürlich  sind.  Nur  das  Eine  glaube  ich  sagen  zu  dür- 
fen, dass  kein  Grund  vorliegt,  der  Lade  eine  so  bedeutende  Grösse  zu 
geben,  wie  gewöhnlich  angenommen  wird,  d.  h.  6'x4'  wie  Siebeiis  und 
Ruhl  wollten,  oder  »so  gross,  dass  nicht  blos  ein,  sondern  zwei  erwach- 
sene Menschen  in  derselben  Raum  finden«  wie  Jahn,  Berichte  u.  s.  w. 
a.  a.  0.  S.  100  sagt,  wenn  sich  diese  Worte  in  der  That  auf  die  Kypse- 
loslade beziehen  sollen,  was  nicht  ganz  klar  ist.  Der  Umstand,  dass  die 
Larnax  ein  Erbstück  der  Labda  war,  die  nach  Paus.  5.  1 8.  7  ein  ttqö- 
yovog  des  Kypselos  hatte  machen  lassen,  gestattet  keinerlei  Schluss  auf 
die  Grösse,  da  ein  so  prachtvoll  und  kostbar,  mit  Gold  und  Elfenbein 
verziertes  Geräth  auch  bei  geringer  Grösse  ein  bedeutendes  und  wer- 
thes  Erbstück  abgiebt ;  zu  welchem  Gebrauche  die  Lade  im  Gemache, 
dem  ehelichen  Thalamos  der  Labda  stand,  was  man  als  wahrscheinlich 
wird  annehmen  dürfen,  ob  sie  in  derselben  ihre  prächtigeren  Gewänder 
bewahrte,  wie  Od.  15.  104  Helena  die  ihrigen  in  ihren  (pwpta/uoiotv,  oder 
auch  noch  andere  Dinge,  Geschmeide,  Geschirre  u.  dgl.  wie  das.  8.  424, 
438  Arete  %r{kbv  aqmqbnia  und  TieQixcdXea  mit  den  goldenen  Geschenken 
der  Phaeaken  und  ausserdem  mit  cpäyog  und  %itv>v  anfüllt,  oder  wie  11. 
16.  121  Thetis  dem  Achilleus  eine  ähnliche  g^Aoc  xaXtj  dcudaXtrj  mitge- 


614  J.  OVEBBECK,  [26 

geben  hat,  iv  nhqoaaa  %iwhviav  %kaw<xwv  re  ovkmv  re  raTtfjrwp,  in  der 
er  ausserdem  seinen  kostbaren  Becher  aufbewahrte,  darüber  erfahren 
wir  Nichts.  War  aber  die  Kypseloslade  auch  eine  Kleidertruhe,  in  der 
neben  den  Gewändern  andere  Habe  bewahrt  wurde,  was  immerhin  als 
das  Wahrscheinlichste  wird  gelten  dürfen,  so  ist  doch  damit  noch  keines- 
wegs über  eine  bedeutende  Grösse  ausgesagt,  sofern  Arete  in  der  Odyssee 
die  mit  den  Phaeakengeschenken  und  den  ihrigen  angefüllte  Lade  eigen- 
händig igecptQtv  öcdd/uoio.  Endlich  zwingt  uns  auch  der  Umstand,  dass 
Labda  den  Kypselos  als  Kind  in  dieser  Lade  barg  und  vor  den  verfol- 
genden Bakchiaden  versteckte,  durchaus  nicht,  dem  Geräth  die  Grösse 
zu  geben,  welche  angenommen  wurde;  ja  man  könnte  sich  angesichts 
der  Worte  des  Herodot  5.  92.  4,  q>egovaa  xaraxQVTrrei  ig  tö  äqyaaro- 
rarov  oi  itpaivero  elvcu,  ig  xvy&tjP  geneigt  fühlen,  sich  das  Geräth 
nicht  eben  all  zu  gross  zu  denken,  denn  je  kleiner  es  war,  desto  weni- 
ger  wahrscheinlich  musste  es  sein,  dass  Labda  ihr  Kind  hinein  verbor- 
gen habe 36),  je  grösser  es  war,  desto  leichter  musste  die  List  entdeckt 
werden.  Aber  auch  solche  Erwägungen  führen  zu  nichts  Positivem,  und 
nur  diejenige  einiger  nebensächlicher  Erwähnungen  im  Berichte  des 
Pausanias  können  uns  zu  einem  einigermassen  angenäherten  Resultate 
bringen,  obgleich  auch  nicht  weiter  als  dahin.  Schubart  hat  die  hier  zur 
Berechnung  zu  ziehenden  Umständeta.  a.  0.  S.  309  f.  sorgfältig  zusam- 
mengestellt; ich  glaube,  mich  ihm  im  Wesentlichen  anschliessen  zu  kön- 
nen, und  thue  dies  um  so  lieber,  da  Schubart  auf  der  Gegenseite  kämpft, 
und  ganz  andere  Consequenzen  zieht,  als  die  ich  billigen  kann.  Schu- 
bart also  stellt  folgende  Gesichtspunkte  auf,  die  ich  mit  einigen  Bemer- 
kungen begleiten  muss.  1)  »Die  Lade  war  ....  ein  Möbel  mit  zwei 
Lang-,  zwei  Schmalseiten  und  einem  [flachen]  Deckel«;  einverstanden,  nur 
dass  man  den  Unterschied  der  Lang-  und  der  Schmalseiten  nicht  zu  gross 
setze  (s.oben  S.  24).  2)  »Da  die  Bestimmung  derselben  [wenigstens  wahr- 


36)  Scbubart  bemerkt,  a.  a.  0.  S.  306  :  „ob  sich  das  Kind  durch  Schreien  verrieth, 
ob  es  in  dem  geschlossenen  Rasten  erstickte,  das  macht  der  Sage  keine  Sorge";  das 
Letztere  ist  vollkommen  richtig ,  und  auch  uns  braucht  diese  Sorge  nicht  zu  veran- 
lassen, den  Kasten  zu  vergrössern ;  was  das  Erstere ,  das  Schreien  anlangt,  bat  Win- 
kelmann,  Versuch  einer  Allegorie  §290  aus  einer  allerdings  nicht  fertigen  Erzählung  bei 
Plutarch,  Gonviv.  VII  Sap.  t.  7.  p.  573  —  574  (Reiske)  auf  eine  Mitwirkung  des  Posei- 
don (Apollon)  zur  Rettung  des  Kypselos  geschlossen ,  indem  der  Gott  die  Frösche  so 
laut  habe  schreien  lassen,  dass  sie  das  etwaige  Schreien  des  Kindes  übertönten.  Was 
daran  richtig  oder  falsch  sei,  kann  uns  hier  freilich  nicht  berühren. 


27]  Ober  die  Lade  des  Kypselos,  615 

scheinlich]  war,  Kleider  oder  sonstige  (?)  Gerätschaften  aufzunehmen,  so 
raussten  die  Grössenverhältnisse  nothwendig  der  Art  sein,  dass  sie  dem 
angegebenen  Zweck  entsprachen,  keinesfalls  aber  denselben  unmöglich 
machen  durften.  Stand  also  die  Lade  ohne  allen  Untersatz  [warum  die- 
ses?37)] und  ohne  die  bei  einem  solchen  Prachtstücke  so  wahrschein- 
lichen Zierfüsse  [wiederum  frage  ich :  warum  dies  ?  die  Fasse,  die  auch 
ich  annehme  und  die  schwerlich  fehlten,  sind  nach  Maassgabe  der  Danae- 
und  Tenneslarnax  oben  S.  24  nur  etliche  Zolle  hoch  zu  denken,  fallen  hier 
also  schwerlich  sehr  in's  Gewicht]  auf  dem  Erdboden,  so  durfte  deren  In- 
neres nicht  tiefer  sein,  als  dass  man  mit  Bequemlichkeit  die  aufbewahr- 
ten Gegenstände  vom  Grunde  aufheben  konnte«;  vollkommen  einverstan- 
den !  »Die  Höhe  der  Seitenwände  ....  durfte  also,  reichlich  angenom- 
men (?)  2V2,  höchstens  3  Fuss  nicht  überschreiten«.  Für  die  Höhe  von 
2V2  Fuss  sehe  ich  kein  Motiv,  mehr  als  3  Fuss  nehme  auch  ich  nicht  an ; 
meine  Reconstruction  giebt  aber  auch  nicht  mehr,  im  Gegentheil  noch  ein 
kleines  Bisschen  weniger.  Wenn  wir  aber  3  Fuss  praeter  propter  als  die 
wahrscheinliche  Höhe  annehmen  dürfen,  so  giebt  uns  das  nach  Maassgabe 
der  Thoas-,  Danaö-  und  Tenneslarnax  wenigstens  einigen  Anhalt  zur 
Berechnung  der  Länge  und  Breite. 

Es  verhält  sich  die  Höhe  zur  unteren  und  oberen  Breite 

bei  der  Thoaslarnax  wie  2  Vi:  3y4:  4y4; 

bei  der  Tenneslarnax  wie  \x/%\  2  Vi:  26/8; 

bei  der  DanaSlarnax  endlich  wie  1 3A :  28/i :  3 ; 
das  heisst,  wenn  wir  jedesmal  die  Höhe  als  3'  annehmen,  so  ist  die 
Thoaslarnax  unten  4y3  Fuss,  oben  52/s  Fuss  breit,  die  Tenneslarnax  un- 
ten 5  Fuss  oben  5l/4  Fuss  breit,  die  Danaelarnax  endlich  unten  45/7Fuss, 
oben  5V7  Fuss  breit38).   Nehmen  wir  hieraus  das  Mittel  ftlr  die  Kypse- 


37)  Ruhl  stellt  (Arcbaeol.  Zeitg.  4  860,  S.  29,  wie  das  ähnlich  schon  Heyne  getban 
hatte  (s.  oben  S.  10)  der  bequemeren  Betrachtung  wegen  den  Kasten  in  Olympia  auf 
einen  Untersatz  von  zwei  Stufen ;  ohne  Zweifel  richtig,  aber  warum  er  im  Hause  der 
Labda  als  Prachtstück  nicht  ebenso  gestanden  haben  sollte ,  vermag  ich  nicht  einzu- 
sehen ;  auch  da  mochten  die  Stufen,  wenn  man  sie  nicht  erstieg,  die  Betrachtung  der 
unteren  Theile  erleichtern,  die  man  sich  schwerlich  versagt  haben  wird,  so  lange  das 
Stück  im  Besitze  der  Familie  war ,  und  andererseits  mochten  diese  Stufen  beim  Ge- 
brauche der  Truhe,  wenn  man  ihren  Deckel  zu  öffnen  hatte,  bestiegen  werden. 

38)  Ruhl  berechnet  in  der  Archaeol.  Zeitung  von  1860  S,  29  die  Dimensionen 
der  Dana<*larnax  zu  2'  8%"  Höhe  und  4'  4"  Breite. 


616  J.  Ovehbeck,  [28 

loslade  unter  der  Annahme,  sie  sei  gradwandig  gewesen,  so  wird  sich 
für  die  Breite  ihrer  Langseite  42/*  —  höchstens  (die  oberen  Breiten  ge- 
rechnet) 5V.3  Fuss  ergeben.  Nun,  in  meiner  Reconstruction  hat  die  Lade 
3'  9"  Breite  der  Langseite  bei  2'  %x/*  Breite  der  Schmalseite  und  2*  i  \h/% 
Höhe.  Ich  denke  das  passt  so  ziemlich !  Aber  fahren  wir  in  der  Prü- 
fung der  Schubart'schen  Erwägungen  fort.  3)  »Es  mussten  auf  den  so 
bestimmten  Flächen  die  Darstellungen  so  vertheilt  sein,  dass  sie  den 
künstlerischen  Anforderungen  entsprachen,  sie  durften  also  eben  so  we- 
nig die  obere  wie  die  untere  Grenzlinie  unmittelbar  berühren,  vielmehr 
mussten  sie  über  und  unter  sich  einen  freien  Raum  haben«.  Einen  freien 
Raum  ?  den  wohl  am  allerwenigsten,  eine  oben  und  unten  das  Ganze  ab- 
schliessende und  umfassende  Zierleiste  allerdings  ohne  Zweifel;  die 
habe  ich  angebracht.  4)  »Sollten  die  Darstellungen  auf  einer  Fläche  in 
verschiedenen  Streifen  über  einander  angebracht  sein,  so  mussten  auch 
diese  Streifen  durch  leere  Zwischenräume  geschieden  werden«.  Durch 
leere  Zwischenräume?  schwerlich,  das  würde  sehr  unfertig  ausgesehn 
haben38);  Ruhl  fordert  wiederholt  trennende  Zierleisten,  welche  Jahn  wie 
ich  glaube  mit  Unrecht  anzweifelt40),  denn  sie  müssen  nach  meiner  An- 
sicht schon  nach  Maassgabe  der  Technik  vorhanden  gewesen  sein ;  gut, 
ich  habe  sie  in  meine  Zeichnung  aufgenommen.  5)  »Die  Beschreibung 
der  einzelnen  Kunstgebilde  bei  Pausanias  gestattet  durchaus  nicht  an 
mikroskopische  Arbeit  zu  denken,  vielmehr  ist  die  Annahme  völlig  be- 
rechtigt, dass  nicht  allein  die  Compositionen  im  Ganzen,  sondern  auch 
die  einzelnen  Figuren  in  ihren  Theilen  und  die  Inschriften  gross  genug 
waren,  um  ohne  Anstrengung  der  Augen  einen  Totalanblick  zu  gewäh- 
ren und  zugleich  für  die  einzelnen  Theile  eine  ausdrucksvolle  Bearbeitung 
zu  gestatten.  Zeigte  ja  (19.  6)  die  Ker  grimmige  Zähne  wie  ein  wildes 
Thier  und  hatte  gebogene  Krallen !  Konnte  man  doch  genau  Panther- 
thier  und  Löwen  (19.  5),  ja  (!)  Weinreben,  Apfel-  und  Granatbäume 
(1 9.  6)  unterscheiden !«  Dies  Alles  ist  richtig  und  zuzugestehn ;  an  mi- 
kroskopische Arbeit  hat  aber  auch  meines  Wissens  Niemand  gedacht; 


39)  Vgl.  die  Zeichnung  bei  Quatremere  de  Quincy. 

40)  Berichte  a.  a.  0.  S.  4  07,  freilich  nur:  »insofern  für  diese  eine  gewisse  Selb- 
ständigkeit und  ein  solcher  Umfang  in  Anspruch  genommen  wird,  dass  sie  auf  die  ge- 
sammten  Raumverhältnisse  einen  erheblichen  Binfloss  geäussert  haben  mussten« ;  wo- 
mit man  im  Ganzen  einverstanden  sein  kann,  nur  dass  der  Einfluss  auf  die  Gesammt- 
höbe  dennoch  in's  Gewicht  fällt. 


89]  Übkb  die  Lade  des  Kypselos.  61 7 

wie  vieles  und  mannigfaltiges  Detail  bei  beschranktem  Maassstabe  bequem 
erkennbar  und  ausdrucksvoll  gearbeitet  sein  könne,  lehrt  beispielsweise 
die  Francoisvase,  deren  einzelne  Streifen  in  der  Zeichnung  in  den  Mo- 
numenten des  Instituts  folgende  Höhen  haben,  l.asä'/i",  2.=  33/4", 
3.  =  4%",  4.  =  4",  5.  =  37/s".  6.  (Pygmaeen  und  Kraniche)  «■  15/s";  der 
Bildstreifen  der  Kylix  der  Glaukytes  und  Archikles  (Mon.  d.  I.  4.  49) 
hat  in  der  Zeichnung  nur  \ 7/ie"  Höhe,  und  zeigt  dennoch  nicht  weniges  De- 
tail, welches  man  allenfalls  auch  in  Schnitzerei  dargestellt  denken  könnte. 
Allein  ich  bin  nicht  der  Meinung,  dass  wir  für  die  Kypseloslade  auf  so 
geringe  Maasse  herabzugehn  haben,  und  zwar  aus  einem  Grunde,  den 
Schubart  anfuhrt.  Er  fahrt  nämlich  fort:  »Am  schlagendsten  aber  spricht 
(19.  4)  die  Darstellung  des  Agamemnon  für  ein  grösseres  Maass  der  Figuren. 
In  einer  Gruppe  ist  der  Heros  dargestellt ;  auf  seinem  Schilde  ist  löwen- 
köpfig  der  Phobos  und  die  Inschrift  eines  Hexameters;  mag  diese  auch 
im  Kreise  geschrieben  gewesen  sein  [etwas  Anderes  ist  einfach  undenk- 
bar], sie  war  ohne  Schwierigkeit  lesbar  [wo  sagt  Pausanias  dies?  er,  der 
klagt,  die  Inschriften  seien  geschrieben  iXiyfiotg  avfißaUa&at  xfaUnotg], 
und  verlangte  eine  gewisse  (!)  Grösse  des  Schildes,  die  uns  dann  weiter 
eine  Folgerung  auf  die  Grösse  der  Figur  und  weiter  der  Composition 
gestattet«. 

Diese  letztere  Behauptung  ist  mit  einer  gewissen  Einschränkung, 
auf  die  ich  gleich  zurückkomme,  einleuchtend  richtig,  nur  muss  man  nicht 
bei  so  unbestimmten  Ausdrucken,  wie  »eine  gewisse  Grösse«  stehn  blei- 
ben, vielmehr  fragen,  welche  Grösse 
des  Schildes  ist  erforderlich,  um  auf 
denselben  im  Kreise  um  den  löwen- 
köpfigen  Phobos  einen  Hexameter  zu 
schreiben,  in  Buchslaben,  die  gross  ge- 

Inug  sind,  um,  meinetwegen  ohne  An- 
strengung der  Augen,  lesbar  zu  sein, 
und  um  als  in  Gold  eingegelegt  gedacht 
zu  werden?  denn  diese  Art  der  Tech- 
nik der  Inschriften  halte  ich  für  die 
allein  annehmbare,  woraufich  zurück- 
komme. Nun,  auch  hier  ist  wohl  nur 
durch  den  Versuch  zu  entscheiden.  Ich  habe  den  hierneben  stehenden  ge- 
macht, von  dem  man  schwerlich  bestreiten  wird,  dass  die  Buchstaben  zu 


618  J.  Ovmibeck,  [30 

klein  und  zu  dünne  seien,  um  den  erwähnten  Voraussetzungen  zu  entspre- 
chen ;  ja  ich  glaube  sogar,  dass  man  die  Buchstaben  noch  um  x/%  kleiner 
machen  dürfte,  wenn  darauf  Etwas  ankäme,  und  dass  sie  immer  noch  den 
Voraussetzungen  entsprechen  würden.  Nun  ist  der  hier  gegebene  Schild 
2V2  Zoll  im  Durchmesser;  die  zu  ihm  gehörige  Figur  berechnet  sich  nach 
Maassgabe  zahlreicher  Vasenmalereien  zu  5  Zoll.  Mein  vierter  Streifen 
aber,  dem  dieser  Agamemnon  angehört,  hat  573  Zoll  Höhe.  Ich  denke, 
es  wird  hiernach  einleuchten  mit  welchem  Unrecht  Mercklin  (Arch.  Zei- 
tung 1860  S.  106  Note  10)  aus  der  Aufschrift  auf  dem  Schilde  des 
Agamemnon  auf  eine  Dimension  der  Figuren  »viel  grösser  als  5  Zoll« 
geschlossen  hat.  Mit  Ruhl  aber  (Arch.  Zeitung  a.  a.  0.  S.  32)  und  Schu- 
bail  (a.  a.  O.)  treffe  ich  in  der  Annahme  des  Maasses  filr  die  Figuren  die- 
ses Streifens  zusammen.  Dass  zwei  meiner  Streifen,  der  erste  und  der 
Alnfte  etwas  schmäler,  zwei  dagegen,  der  2.  und  3.  breiter  sind,  beruht 
auf  anderen,  später  zu  entwickelnden  Gründen ;  das  kann  uns  hier  aber 
nicht  berühren,  am  wenigsten  wird  man  aus  den  beigegebenen  Inschrif- 
ten behaupten  dürfen,  auch  der  unterste  und  oberste  Streifen  müsse 
grade  5"  Höbe  gehabt  haben.  Denn  im  untersten  Streifen  sind  nur  Na- 
men beigeschrieben  für  die  überflüssig  Raum  ist,  im  obersten  fehlen  alle 
Inschriften.  Nehmen  wir  aber  einmal  eine  durchgängige  oder  durch- 
schnittliche Höhe  der  Streifen  zu  5"  an,  und  ich  vermag  kein  Motiv  zu 
erkennen,  um  dies  Maassverhältniss  irgend  wesentlich  zu  überschreiten, 
während  die  überaus  kostbare  Technik  des  Kastens,  namentlich  die  Ver- 
Wendung  von  Gold  und  Elfenbein  uns  warnen  muss,  die  Dimensionen  der 
Figuren  nicht  unnölhig  zu  vergrössern41),  so  begreife  ich  nicht,  wie  Schu- 
bart seine  Auseinandersetzung  schliessen  konnte  mit  den  Worten :  »Fas- 
sen wir  alle  diese  Punkte  zusammen,  so  sehe  ich  nicht  ein,  wie  es  mög- 
lich sein  wird,  die  Theorie  der  5  Streifen  über  einander  durchzufahren, 
mag  man  nun  diese  Streifen  auf  eine  Langseite  beschränken  oder  die 
beiden  Nebenseiten  noch  hinzuziebn«.  Für  die  Gesammthöhe  der  Seiten 
des  Kastens  nimmt  Schubart  selbst  2l/2  bis  3  Fuss  =  30  —  36  Zoll  an ; 
5  Streifen  zu  5  Zoll  Höhe  geben  25  Zoll  Gesammthöhe  der  Bildwerke, 
so  dass  nach  der  ersteren  Annahme  von  30  Zoll  Gesammthöhe  noch 
5  Zoll  für  die  trennenden  Zierleisten,  nach  der  anderen  von  36"  Gesammt- 


41)  Wie  dies  schon  Heyne  anerkannt  und  hervorgehoben  hat,  s.  oben  S.  f  0. 


31]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  619 

höhe  1 1"  für  die  Schubart'schen  »leeren  Zwischenräume«  übrig  bleiben. 
Für  die  Höhe  also  fällt  alle  Unmöglichkeit  nicht  allein,  sondern  alle  Schwie- 
rigkeit weg ;  wie  sich  die  Lange  der  Lade  nach  der  Höhe  berechnen  lasse, 
haben  wir  gesehn,  wie  es  aber  möglich  sei  in  die  Streifen  von  gegebe- 
nen Dimensionen  die  von  Pausanias  beschriebenen  Bildwerke  hineinzu- 
zeichnen, das  wird,  so  hoffe  ich  wenigstens,  meine  Tafel  lehren. 

Allein,  wenn  auch  schon  durch  das  bisher  Gesagte  und  durch  meine 
Tafel  die  von  den  Gegnern  bestrittene  Möglichkeit  der  Streifentheorie 
erwiesen  sein  dürfte,  so  ist  damit  doch  noch  nicht  gesagt,  dass  dieselbe 
in  der  Tbat  die  richtige  sei.  Es  ist  also  demnächst  zu  prüfen,  welche 
Gründe  sich  für  dieselbe  und  gegen  die  Seiten-  und  Deckeltheorie  auf- 
stellen lassen  und  es  ist  hierbei  mit  Pausanias'  Beschreibung  zu  beginnen. 


4. 
Nähere  Prüfung  der  beiden  Herstellungsprincipien. 

Wir  Anhänger  der  Streifentheorie  also  behaupten,  um  darüber  kei- 
nerlei Zweifel  übrig  zu  lassen:  die  von  Pausanias  angeführten 
Xwqcci,  ihrer  fünf  an  der  Zahl,  sind  gleichartige  Streifen, 
welche  die  Kypseloslade  über  einander  auf  einer  Lang- 
seite und  den  beiden  anliegenden  Schmalseiten  umgaben, 
und  die  Bildwerke  jeder  %^Qa  laufen  in  einer  Reihe  fort. 

Bei  der  Prüfung  dessen,  was  philologisch  hiefllr  spricht  und  was 
die  Gegner  hiergegen  eingewendet  haben,  dürfte  es  am  geratensten  sein, 
sich  an  Schubart  zu  halten,  nicht  allein,  weil  er  der  neueste  Verfechter 
der  Seiten-  und  Deckeltheorie,  sondern  weil  er  Philologe  ist,  folglich 
philologischer  Argumentation  zugänglicher  als  der  Künstler  Ruhl. 

Nun  sagt  Schubart  a.  a.  0.  S.  307:  »Die  Yertheidiger  der  Streifen- 
theorie, welche  Jahn  am  bündigsten  vertritt,  stützen  sich  hauptsächlich 
auf  das  »von  unten  anfangen«  (17.  6)  und  auf  »die  oberste  jfcopa,  denn 
es  sind  fttaf  (19.7).  Was  die  erste  Stelle  betrifft :  ägtafievw  araoxoneiad-cu 
narco&tv,  so  kann  ich  dieser  kein  grosses  Gewicht  beilegen,  da  sie  nach 
der  einen  und  der  anderen  Auffassung  gedeutet  werden  kann«.  Hiezu 
muss  ich  bemerken,  dass  nach  der  Seiten-  und  Deckeltheorie,  der  also 
die  erste  x&qa  eine  »Seite«  des  Kastens  ist,  gleichviel  welche,  diese  Deu- 
tung nur  unter  der  einen  Voraussetzung  möglich  ist,  dass  es  erlaubt  sei,  die 


630  J.  Ovbrbeck,  [32 

Bildwerke  einer  %wqu  in  mehre  Streifen  über  einander  zu  zerlegen. 
Denn  erstens,  waren  die  Bildwerke  der  x™Qa  nicht  in  mehren  Reihen 
über  einander  angebracht,  so  hat  das  Beginnen  der  Betrachtung  von  unten 
an  keinerlei  Sinn,  oder  es  hat  den,  dass  man  bei  den  Füssen  der  Figuren 
anfange,  um  bei  ihren  Köpfen  aufzuhören;  zweitens  wäre,  wenn  die 
Bildwerke  einer  %ÜQa,  diese  als  »Seite«  verstanden,  in  einer  Reihe  fort- 
liefen nur  eine  doppelte  schon  oben,  S.  12  Note  20  näher  erörterte  Mög- 
lichkeit gegeben ;  entweder  nämlich  müsste  die  Länge  der  Seite  so  viel 
Mal  mit  sich  selbst  multiplicirt  werden,  wie  die  Zahl  der  Streifen  beträgt, 
die  über  einander  angeordnet  waren,  oder  aber  die  Figuren  müssten  um 
den  Betrag  der  gleichen  Proportion  verkleinert  werden.  In  beiden  Fäl- 
len aber  würde  jede  Seite  nur  mit  einem  einzigen  verhältnissmässig 
schmalen  Reliefbande  geschmückt  sein,  von  dem  man  nicht  weiss,  ob 
man  es  als  Sockel-  oder  Friesornament  denken,  oder  auf  die  Mitte  der 
Fläche  verlegen  soll.  Bei  der  von  Ruhl  und  Schubart  angenommenen 
Figurenhöhe  von  durchschnittlich  5"  und  der  von  ihnen  statuirten  Kasten  - 
grosse  von  6x4  Fuss  aber  stellen  sich  beide  Annahmen  als  unmöglich 
heraus;  die  von  Pausanias  in  der  untersten  x<*Qa  genannten  Figuren 
lassen  sich  bei  einer  Höhe  von  5"  in  einer  Reihe  nicht  auf  eine  Standlinie 
von  6  Fuss  bringen,  das  ist  eine  mathematische  Unmöglichkeit;  sollen 
sie  aber  auf  eine  Standlinie  von  6  Fuss  gebracht  werden,  so  können  sie 
nicht  5"  hoch  bleiben,  das  ist  ebenso  mathematisch  unmöglich,  sondern 
müssen,  wie  oben  dargethan  ist,  auf  22/3"  zusammenschrumpfen.  Aus 
diesen  Gründen  machen  denn  auch  die  Anhänger  der  Seiten-  und  Deckel- 
theorie die  Annahme,  die  Figuren  jeder  einzelnen  x™Qa  (»Seite«)  seien  in 
mehren  (wie  vielen  ist  nirgend  bestimmt  ausgesprochen)  Reihen  über 
einander  angeordnet  gewesen42). 

Diese  Annahme,  welche  auch  Quatrem&re  de  Quincy  machte,  und 
die  schon  Welcker  bekämpfte,  ist  aber  durch  und  durch  falsch,  die  Figu- 
ren jeder  einzelnen  gcopa  liefen  allerdings  in  einer  Reihe  fort,  und  nirgend 
lässt  sich  das  so  bestimmt  aus  Pausanias  selbst  zeigen,  wie  bei  der  ersten 
X<o(?ct.  Pausanias  beginnt  seine  Beschreibung  mit  Oivo/uaog  Sicokwv  Ile- 
Xona ;  dann  folgt :  i£rj$  de  y/jucpiaqccov  rj  oixia  und  die  sämmtlichen  Fi- 
guren die  Pausanias  nennt  bis  zu  dem  von  Baton  gezügelten  Gespann 
des  Helden.   Nun  bezeichnet  igiJG  so  bestimmt  wie  nur  immer  möglich 


42)  S.  oben  S.  4  5. 


33]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  621 

das  Nebeneinander  in  einer  Reihe  fort,  was  ich  Schubart  and  anderen 
Philologen  nicht  zu  beweisen  brauche43).  Also  bis  hieher  ist  die  eine 
und  selbe  Reihe  erwiesen.  Nun  folgt  (17.  9)  fxerä  de  rov  'sJfMpiaQiiov 
rijv  oixiav  der  dywv  im  ITeh'a,  der  nach  Pausanias  bis  inclusive  Iolaos 
auf  einem  Viergespanne  reicht  (17.  11).  Merd  mit  Accusativ  aber  heisst 
von  örtlicher  oder  räumlicher  Aufeinanderfolge  eben  so  bestimmt  wie  i£i]Q 
in  einer  Richtung  folgend,  nachher,  hinterher,  und  kann  ganz  unmöglich 
»über«  bedeuten ;  innerhalb  der  in  sich  zusammenhangenden  Darstellung 
des  aywv  enl  Thliu  aber  abzubrechen,  um  einen  Theil  derselben  über 
den  andern  zu  setzen,  ist  durch  Nichts  im  Texte  des  Pausanias  zu  recht- 
fertigen, und  aus  sachlichen  Gründen  entschieden  unerlaubt44).  Bis  zu 
Iolaos  also  geht  das  Bildwerk  nach  Pausanias'  eigenen  Ausdrücken  ent- 
schieden in  einer  Richtung  fort.  Bleibt  noch  Herakles,  der  die  Hydra  er- 
schiesst,  sammt  Athene  und  der  durch  die  Boreaden  von  den  Harpyien 
befreite  Phineus  nach.  Bei  Erwähnung  dieser  Darstellungen1  giebt 
Pausanias  keinen  Wink  über  die  Art  der  Abfolge,  aus  Pausanias  also 
können  wir  den  Gegnern  nicht  beweisen,  dass  sich  dieser  Rest  nicht  in 
einem  höheren  Streifen  befand.  Allein  dass  dem  nicht  so  gewesen  sein 
könne  ergiebt  sich  aus  der  Zahl  der  Figuren.  Es  sind  ihrer  genau  ge- 
zählt (einschliesslich  der  Hydra)  8 ;  die  gesammte  Figurenzahl  der  ersten 
Xcoqcc  aber  berechnet  Ruhl  zu  42;  ziehn  wir  davon  8  ab,  so  bleiben  34. 
Diese  34  laufen  in  einer  Reihe  fort,  das  ist  bewiesen:  ist  es  nun  denkbar, 
dass  die  übrig  bleibenden  acht  in  einer  oberen  Reihe  angeordnet  gewesen 
seien?  Dazu  kommt  noch  ein  Anderes.  Uebereinstimmend  haben  Brunn 
(N.  Rhein.  Mus.  5.  S.  335  f.)  und  Schubart  (Uebers.  des  Pausanias  1. 
S.  391.  Note)45)  angenommen,  dass  Pausanias  sich  in  Betreff  des  Iolaos 
geirrt  habe,  sofern  er  ihn  mit  zum  dytov  enl  Tlekia  rechnet,  wahrend  er 
wahrscheinlich  zu  dem  Herakles  mit  der  Hydra  gehörte,  woftir  erhaltene 
Kunstwerke  (Vasenbilder)  angeführt  werden.  Ich  schliesse  mich  dieser 
Ansicht  vollkommen  an46).   Ist  sie  aber  begründet,  gehört  Iolaos  zu  der 


43)  Freilich  ist  in  dieser  Beziehung  bei  Schubart  a.  a.  0.  S.  313  nicht  Alles  in 
Ordnung. 

44)  Vgl.  was  schon  Welcker  a.  a.  0.  S.  546  f.  ausgeführt  hat. 

45)  Dieser  nimmt  seine  Vermuthung  in  Jahns  Jahrbb,  a.  a.  0.  S.  34  3  zurück. 

46)  Wie  Pausanias  zu  seinem  Irrthum  gekommen,  begreift  sich  um  so  leichter, 
wenn  man  erfährt,  dass  wie  Schubart  a.  a.  0.  bemerkt  hat,  nach  Hygin  Fab.  273. 
Iolaos  Sieger  im  Viergespann  bei  den  Leichenspielen  des  Pelias  war;    wusste  dies 

Abb« ndl.  d.  K.  S.  GeaelUch.  d.  Wiiseusch.  X.  42 


622  J.  OVBRBECK,  %[34 

Scene  des  Kampfes  mit  der  Hydra,  während  Pausanias  ihn  zu  dem  in 
einer  Reihe  fortlaufenden  äywv  knl  FhXia  rechnet,  so  ist  damit  bewiesen, 
dass  auch  der  Hydrakampf  in  derselben  Reihe  mit  dem  dycov  eni  lldia 
fortlief.  Bleibt  für  eine  obere  Reihe  Phineus  mit  den  Boreaden  und  Har- 
pyien.  Wer  den  Streifen  um  den  Betrag  dieser  5  Personen  kürzen  und 
diese  in  eine  obere  Reihe  setzen  will ,  dem  kann  ich  nur  zu  seinem  Un- 
ternehmen Glück  wünschen. 

Bei  der  Beschreibung  der  übrigen  xwpa*  giebt  Pausanias  über  die 
Abfolge  der  Bildwerke  keine  Andeutungen  ausser  ein  Mal  (1 9.  8)  in  der 
obersten  #w(>cc,  wo  nach  dem  Cheiron  i£iJQ  xal  inmav  owai^ideg  eiaiv] 
es  wird  aber  wohl  Jeder  zugeben ,  dass  was  von  der  ersten  #«(/«  gilt 
auch  für  die  übrigen  angenommen  werden  muss.  Ist  es  nun  nach  dem 
oben  Gesagten  unmöglich  die  Figuren  der  ersten  Ghora  in  einer  Reihe, 
wie  der  Text  des  Pausanias  es  fordert,  auf  einer  »Seite«  der  Lade  anzu- 
bringen, so  bleibt  Nichts  übrig,  als  sie  nach  unserer  Theorie  in  einem 
Streifen  auf  die  drei  Seiten  des  Kastens  zu  vertheilen.   Q.  e.  d. 

Aber  zurück  zuSchubarts  Auseinandersetzung;  derselbe  fährt  fort: 
»  Die  Betrachtung  und  Beschreibung  einer  grossen  Composition  wird  von 
irgend  einer  Seite  beginnen  müssen;  bei  der  zweiten  %ü<>a  fängt  er 
(Pausanias)  bei  der  linken  fcn ,  hier  von  unten ;  weder  Sprache  noch  der 
Sinn  an  sich  werden  dagegen  Etwas  einzuwenden  haben  «.  Ich  dächte 
doch ;  eine  grosse  Gomposition  kann  man  allerdings  je  nach  den  Um- 

Pausanias  und  fand  er  den  lolaos  auf  der  Kypseloslade  zunächst  der  Darstellung  des 
dyatv  im  IJfX/a  auf  einem  Viergespann ,  so  lässt  sich  sehr  wohl  denken ,  dass  seine 
stark  entwickelte  mythologische  Gelehrsamkeit  sein  schwach  entwickeltes  künstleri- 
sches Apperceptions vermögen  hinreichend  überwogen  habe,  um  ihn  zu  veranlassen, 
gegen  den  blossen  Augenschein  lolaos  zu  der  vorhergehenden  anstatt  zur  folgenden 
Scene  zu  rechnen.  Wie  Pausanias  sein  mythologisches  Wissen  mit  seiner  Beschreibung 
verquickt ,  und  zwar  grade  in  der  Besprechung  des  aywp  im  Iltkiq. ,  davon  hat  Schu- 
bart S.  3H  das  Beispiel  angeführt,  dass  P.  17.  9.  4  0  zu  den  Namen  das  Pisos,  Aste- 
rion, Euphemos,  Mopsos  u.  s.  w.  die  Namen  der  Väter  anführt,  die  natürlich  in  den 
Inschriften  des  Kastens  sich  nicht  fanden.  Man  vergleiche  aber  ferner  solche  Notizen 
wie  4  7.8:  Asios  habe  auch  Alkmene  zu  einer  Tochter  des  Amphiaraos  u.  d.  Eriphyle 
gemacht;  17.  9  ,  Asterion  der  Sohn  des  Kometes  sei  Argonaut  gewesen,  ibid.  Euphe- 
mos sei  nach  der  Dichter  Erzählungen  Poseidons  Sohn  und  ebenfalls  mit  Iason  nach 
Kolchis  gefahren;  4  7.  4  0  wer  Eurybotas  sei,  wisse  er  nicht  anzugeben,  jedenfalls  ein 
berühmter  Diskobol,  ibid.  Iphiklos  möge  wohl  des  mit  gen  Ilion  gefahrenen  Protesilaos 
Vater  sein  (tn?  a?) .  Hat  sich  aber  in  allen  diesen  Fällen  wie  Schubart  vermulhet, 
Pausanias  auf  die  Büchelchen  der  olympischen  Exegeten  verlassen,  was  ihm  allerdings 
ähnlich  genug  ist,  so  wird  sein  irrthum  in  Betreff  des  lolaos  um  so  leichter  erklärlich. 


35]  Über  die  Labe  dE6  Kypselos.  623 

ständen  unten  oder  oben ,  links  oder  rechts  zu  beschreiben  beginnen, 
vielleicht  auch  in  der  Mitte,  wie  z.  B.  eine  Giebelgruppe;  hier  aber  han- 
delt e6  sich  um  eine  Anzahl  Gruppen ,  welche  (nach  der  Seiten-  und 
Deckeltheorie)  in  mehren  (wenigstens  zwei)  Reihen  übereinander  liegen, 
denn,  dass  sie  nicht  in  einer  Reihe  liegen  können,  ist  erwiesen ;  eine  Reihe 
von  Figuren  kann  man  aber  nicht  entweder  von  links  oder  rechts,  oder  von 
unten  oder  oben  her  zu  beschreiben  beginnen,  sondern  nur  entweder  von 
links  oder  von  rechts  her,  wie  es  Pausanias  mit  den  %(oqai ^-Streifen  nach 
unserer  Theorie  thut.  Liegen  aber  mehre  Figurenstreifen  übereinander,  so 
kann  man  deren  Beschreibung  ebensowenig  ad  libitum  entweder  von  unten 
oder  oben  oder  von  rechts  oder  links  anfangen,  sondern  nur  entweder  von 
unten  oder  von  oben,  indem  man  entweder  die  Figuren  der  oberen  oder 
die  der  unteren  Reibe  zuerst  nennt,  nicht  aber  von  links  oder  rechts, 
wo  man  mehre  Gruppen  zugleich  nennen  müsste47).  Sollte  das  ftlr 
einen  Philologen  noch  nicht  an  und  für  sich  klar  sein ,  so  müsste  es  ihm 
einleuchten,  wenn  er  Pausanias'  Worte  (18.  1)  in's  Auge  fasst:  rijg  %v>- 
yag  di  ml  rjj  XctQvaiu  rijg  devTt'gag  ig  äytareyiHv  fiiv  yivoiro  av  ij  d^XV 
rijg  neyiodov.  Oder  was  wäre  das  für  eine  neyiodog,  welche  an  der 
linken  Seite  einer  Kasten  wand  begönne  um  an  der  rechten  zu  enden. 
Es  hat  freilich  Jahn  (Archaeol.  Aufss.  S.  6)  wie  oben  S.  17  ohne  einen 
Einwand  zu  machen  bemerkt  wurde ,  für  negiodog  den  Sinn  einer  ge- 
nauen, schrittweisen  Beschreibung  in  Anspruch  genommen,  und  Schubart 
hat  an  der  genannten  Stelle  des  Pausanias  übersetzt:  „beim  zweiten 
Felde  an  der  Lade  könnte  man  „die  Beschreibung"  von  der  Linken 
anfangen",  allein  in  Jahns  Jahrbb.  a.  a.  0.  S.  308  Note  6  nennt  er  es 


47)  Schubart  selbst  macht  S.  308  darauf  aufmerksam,  dass  Pausanias  bei  der 
Beschreibung  der  Leschengemälde  des  Polygnol ,  bei  denen  es  sich  in  der  That  um  in 
verschiedenen  Hohen  angebrachte  Figuren  handelt,  da  wo  er  hinauf  oder  hinunter 
verweist,  die  Ausdrücke  gebraucht :  aytoyatt,  awidowi,  imoßltxpavci  u  anldoig,  ferner 
avoiTtfo),  vtiZq  und  wro,  ixvw&ev  u.  s.  w.,  während  sich  bei  der  Beschreibung  der 
Kypseloslade  kein  dergleichen  Ausdruck  finde.  S.  selbst  fügt  hinzu ,  an  beiden  Orten 
möge  sieb  Pausanias  wohl  sachgemäss  ausgedrückt  haben.  Gewiss!  Waren  aber  in 
jeder  einzelnen  ga>(>a  mehre  Streifen  oder  Felder  übereinander ,  so  hätte  Pausanias, 
diese  von  rechts  oder  von  links  her  beschreibend  sagen  müssen:  in  der  oberen 
(obersten)  Zone  ist  dies ,  darunter  dann  jenes,  oben  wieder  dies  u.  s.  w. ,  also  hätte 
er  auch  hier  sein  cmSovti,  anoßkt'yctvri,  vni(p  und  vnb  u.  s.  w.  gebrauchen  müssen 
wenn  er  sieb  sach gemäss  ausdrücken  wollte.  Dass  er  es  nicht  thut,  beweist ,  dass  er 
in  einer  Reihe  fort  von  rechts  nach  links  oder  von  links  nach  rechts  beschreibt. 

4«f 


624  J.  OvERBECK,  [36 

eine  Art  von  Ironie,  dass  er  so  übersetzt  habe,  und  daselbst  im  Text 
widerlegt  er  Jahns  Ansicht  namentlich  durch  Verweisung  auf  (19.  i) 
das  *£  d(jf<jr^(jcci:  ntytovn ,  »  welches  nicht  allein  für  sich ,  sondern  auch 
für  neyiodos  ein  Herumgehen  (S.  hat  das  Wort  selbst  gesperrt  drucken 
lassen)  feststellen  dürfte«48).  Ganz  gewiss  ist  dem  so;  nun  aber  ziehe 
man  doch  die  Consequenzen  oder  vielmehr,  man  verläugne  sie  einfach 
nicht.  Die  Gonsequenz  aber  ist,  dass  Pausanias  zunächst  bei  der  Be- 
schreibung der  zweiten  und  vierten  x®Qa  bei  der  er  die  erwähnten  Aus- 
drücke gebraucht  um  den  Kasten  herumgeht,  und  dass  folglich  sich  die 
zweite  und  vierte  #a)pa  über  mehr  als  eine  Seite  der  Lade  erstreckte.  Wie 
man  sich  diesem  Schlüsse  entziehen  will  geht  über  meine  Fassung;  er- 
streckte sich  aber  die  zweite  und  vierte  xtaqa  über  mehr  als  eine  Seite,  so 
ist  damit  bewiesen,  dass  xf,k)a  nic^  »Seite«  bedeuten  könne.  Damit  aber 
ist  in  die  Seiten-  und  Deckeltheorie  ein  grosses,  ja  ein  irreparabeles  Loch 
gestossen ;  es  bleibt  nur  noch  der  Deckel  übrig,  auf  den  wir  gleich  kom- 
men werden.  Schubart  nämlich  fährt  fort:  »Weit  schwerer  fällt  die 
andere  Stelle  in  das  Gewicht,  und  ich  gestehe,  dass  sie  allein  mich  bis- 
her abgehalten  hat,  unbedingt  mich  der  Ansicht  anzuschliessen ,  welche 
zuletzt  von  meinem  Freunde  Buhl  nicht  allein  vertheidigt,  sondern  auch 
sorgfältig  künstlerisch  ausgeführt  worden  ist.  Die  dpondrto  #wpa  an  sich 
würde  mir  weniger  Bedenken  machen ;  so  konnte  auch  die  Deckelfläche 
bezeichnet  werden  [was  ich  sehr  bestimmt  in  Abrede  stelle] ,  aber  der 
Zusatz  »denn  es  sind  fünf«  [nevte  yciQ  dgi&fiop  hgi)  ist  jedenfalls 
störend  (!)  und  begünstigt  nach  unbefangener  Auslegung  mehr  die 
Jahn'sche  als  die  Buhl'sche  Auflassung«.  Wenn  Schubart  sich  hier  die 
Unbefangenheit  bewahrt  hätte,  wenn  hier  nur  der  Philologe  aus  ihm 
redete,  so  hätte  er  sich,  glaube  ich,  noch  präciser  ausgedrückt,  und  nicht 
noch  folgende  Worte  geschrieben ,  denen  man  das  Geängstigte  und  Ge- 
schraubte ohne  weiteres  Zuthun  ansieht :  „Wäre  Jahns  Erklärung  die 
einzig  mögliche,  so  wäre  die  Sache  ziemlich  (ziemlich?!)  entschieden; 
allein  der  Zusatz  kann  (die  Sperrung  des  Drucks  von  Seh.)  auch  be- 
deuten, freilich  sonderbar  ausgedrückt  (das  habe  ich  sperren 
lassen) ,  dass  noch  eine  fünfte,  nämlich  die  Deckelfläche  vorhanden  und 
mit  Darstellungen  geschmückt  sei.    Sonderbare  Ausdrucksweisen  dürfen 


4  8 )   Eben  so  richtig  sind  Schubarts  Bemerkungen  gegen  Jabns  Annahme,  niQtodoq 
könne  schlechtweg  Beschreibung,  etwa  wie  ntQtypjOie,  heissen. 


37]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  625 

aber  bei  Pausanias  nicht  überraschen*4.  Und  sonderbare  Ausflüchte  bei 
den  Vertheidigern  einer  unhaltbaren  Hypothese  noch  viel  weniger.  Eine 
sonderbare  Ausflucht  aber  ist  dies;  durch  die  Worte  r)  de  aviorano  ^capa, 
nivre  yag  rov  agt&fjtov  etat  werden  die  fünf  %toQai  so  klar  wie  möglich 
als  gleichartig  bezeichnet,  von  fünf  gleichartig  um  die  Lade  umlaufenden 
Zonen  gebraucht  ist  der  Ausdruck  correct  und  untadelhaft,  von  vier 
Seitenflächen  und  einer  Deckelfläche  gebraucht  ist  er  nicht  blos  sonder- 
bar, sondern  ungeschickt  und  verkehrt,  und  kein  halbwegs  vernünftiger 
Mensch,  der  einen  Kasten  mit  Deckel  zu  beschreiben  hat,  und  in  der 
Wahl  seiner  Ausdrücke  unbeschränkt  ist,  wird  je  von  ihm  sagen:  es 
seien  an  ihm  fünf  Felder  und  dabei  unter  dem  obersten  Felde  den  Deckel 
verstehn49).  Eine  philologische  Interpretationsmethode  aber,  die  einer 
vorgefassten  Meinung  wegen  den  Wortsinn  eines  Schriftstellers  nicht  so 
auslegt,  wie  er  natürlich  und  vernünftig  lauten  müsste,  sondern  so,  dass 
nur  nicht  gradezu  evidenter  Unsinn  herauskommt,  ist  sehr  unglücklich 
und  erinnert  nur  zu  lebhaft  an  Goethe's :  legt  ihr's  nicht  aus,  so  legi  was 
unter.  Die  vorgefasste  Meinung  aber  bei  Schubart  ist  die,  welche  er 
schliesslich  ausspricht ,  und  die  er  bei  Ruhl  geschöpft  hat  *°) :  »  dass  der 
Deckel  schmucklos  gewesen  sei ,  wird  wohl  nicht  leicht  Jemand  anneh- 
men «.  Ich  deprecire,  und  werde  demnächst  meine  Gründe  angeben,  aus 
welchen  ich  nicht  glauben  kann,  der  Deckel  der  Kypseloslade  sei  anders 
als  etwa  mit  einem  und  dabei  leichten  Ornament  geschmückt  gewesen. 
Zwischen  der  Behauptung,  sonderbare  Ausdrücke  bei  Pausanias  dürften 
uns  nicht  wundern  und  derjenigen ,  der  Deckel  müsse  ornamentirt  ge- 
wesen sein ,  stehn  nun  bei  Schubart  noch  folgende  Worte ,  es  sei  nicht 
mit  Stillschweigen  zu  übergehn ,  »  dass  nach  der  Streifentheorie  der  Zu- 

49)  Schubart  ist  S.  307  freilich  anderer  Ansicht,  er  meint,  dass  die  Flächen  der 
vier  Seiten  und  des  Deckels  x&Qai  nicht  allein  genannt  werden  können,  was  ich  nicht 
bestreite,  sondern  dass  dieses  in  unserem  Falle  die  nächstliegende  Bedeutung  sei.  Das 
kann  ich  nur  insofern  zugestehn ,  wie  ich  dies  schon  oben  S.  9  gethan  habe ,  nämlich 
insofern  man  bei  fünf  Flächen  an  einer  Deckellade  zuerst  an  die  Seiten  und  den  Deckel 
denkt.    Dass  dies  aber  richtig  sei ,  und  dass  man  dabei  stelin  bleiben  müsse ,  läugne 

*  

ich.  Schubarl  meint  ferner  das.  dass  der  Umstand,  dass  Pausanias  bei  der  Erwähnung 
der  ersten  vier  %u>Q<xi  beifüge  :  rrjg  kccgvaxog,  im  ttj  Aa(jpaxt,  während  bei  der  5.  £0>(>a 
dieser  Zusatz  fehle,  sei  nicht  bedeutungslos,  vielmehr  der  Deckeltheorie  günstig.  Wie 
künstlich !  Da  Pausanias  das  Wort  ini&tjfjia  für  Deckel  kennt,  was  sollte  ihn  wohl  ab- 
gehallen haben  die  fünfte  £u>'(>a  mit  diesem  Worte  zu  bezeichnen,  wenn  sie  de** 
Deckel  war? 

50)  S.  Archaeol.  Zeitung  1860  S.  29. 


626  J.  Overbkck,  [38 

satz  (ne'rrc  yaQ  top  ägi&fiov  cioi)  völlig  überflüssig  sein  würde4 \  welche 
schwer  zu  begreifen  sind,  da  ja  durch  sie  Pausanias  uns  grade  angiebt, 
was  für  die  Streifentheorie  von  entscheidender  Wichtigkeit  ist,  nämlich, 
dass  er  von  fünf  gleichartigen  Flächen  redet.  Schubart  selbst  ist  grade 
durch  diese  Worte  in  seiner  Anschauung  »gestört«,  und  hier  behandelt 
er  sie  als  irrelevant. 

Was  wir  also  bisher  gewonnen  haben  ist  dies :  die  fünf  %m$cu  des 
Pausanias  sind  fünf  um  den  Kasten  umlaufende  gleichartige  Flächen,  Fel- 
der oder  Zonen.  Damit  ist  aber  noch  nicht  der  ganze  Inhalt  unserer  Be- 
hauptung erwiesen,  welche  ferner  dahin  geht :  diese  Zonen  oder  Streifen 
laufen  nicht  um  den  ganzen  Kasten  herum  und  sind  eben  so  wenig  auf 
die  eine  Langseite  desselben  beschränkt ,  sondern  umgeben  ihn  auf  der 
Langseite  und  den  beiden  anliegenden  Schmalseiten. 

Den  Hauptbeweis  hieftlr  hat  Jahn  schon  in  den  Archaeolog.  Auf- 
sätzen S.  5  ausgesprochen,  er  liegt  darin,  dass  Pausanias  bei  seiner  Be- 
schreibung abwechselnd  von  der  Rechten  zur  Linken  und  von  der  Lin- 
ken zur  Rechten  um  den  Kasten  herumgeht  (vgl.  oben  S.  17),  ein 
Verfahren,  zu  dem,  wie  Jahn  bemerkt  in  den  Bildwerken  kein  Grund  ab- 
zusehn  ist,  welches  sich  eben  so  wenig  erklären  lässt,  wenn  man  an- 
nimmt, P.  sei  bei  seinen  Umgängen  jedesmal  den  Kasten  ganz  um- 
schreitend, bis  zu  seinem  Ausgangspunkte  zurückgelangt,  während  es 
das  natürliche  und  völlig  gerechtfertigte  ist,  wenn  er  nur  drei  Seiten 
umschreitet  und  umschreiten  kann.  Den  Grund  hiefür,  dass  nämlich  die 
Lade  mit  der  Hinterseite  an  die  Wand  gestellt  war  giebt  Ruhl  (Archaeol. 
Zeitung  1860  S.  28)  insofern  als  unzweifelhaft  zu,  als  er  eine  solche 
Aufstellung  für  ein  Hausrathstück  die  entsprechendste  nennt51).  Seine 
Vorstellung,  die  Lade  sei  in  Olympia  anders  aufgestellt,  sie  sei  an  der 
Hinterseite  nachträglich  mit  der  Schlacht  der  3.  xwqci  geschmückt  wor- 
den, ja  die  in  Olympia  aufgestellte  Lade  sei  möglicherweise  gar  nicht  die 


54)  Schubart  S.  306  ist  anderer  Ansicht;  er  meint,  im  Begriffe  eines  Schrankes 
Hege  es  freilich ,  an  die  Wand  gestellt  zu  werden ,  eine  gleiche  Nothwendigkeil  mache 
sich  bei  einer  Prachtlade  nicht  geltend.  Das  muss  man  zugeben,  allein  damit  wird  nicht 
aufgehoben ,  was  Ruhl  sagt ,  eine  solche  Aufstellung  sei  die  natürliche  und  ent- 
sprechendste. Was  noch  folgt  bei  Seh.  es  scheine  ihm ,  dass  wenn  Jemand  eine  Re- 
stauration vorschlüge ,  welche  nur  eine  Vorderseite  und  eine  Nebenseite  in  Anspruch 
nehme,  er  eben  so  berechtigt  sein  würde,  eine  Aufstellung  in  einer  Ecke  anzunehmen, 
wie  man  ein  Anrücken  an  die  Wand  beliebt  habe ,  das  wollen  wir  uns  als  Scherz  ge- 
fallen lassen. 


39]  Über  dik  Lade  des  Kypselos.  627 

ursprüngliche,  sondern  ein  späteres,  das  Original  repräsentirendes  Weih- 
geschenk ,  das  Alles  ist  pures  Phantasiegebilde ,  zu  dem  um  so  weniger 
Grund  vorliegt,  als  lange  und  mehrfach  erwiesen  ist,  wie  füglich  man 
im  Besitze  der  Labda  der  Bakchiadin  ein  solches  Prachtmöbel  voraus- 
setzen dürfe. 

Bin  zweiter  Grund  für  die  Yertheilung  der  Bildwerke  auf  die  drei 
Seiten  der  Lade  liegt  in  der  Unmöglichkeit ,  dieselben  auf  der  Langseite 
allein  unterzubringen  selbst  wenn  man  dieser  eine  Länge  von  6  Fuss 
giebt.  Da  wir  diese  (oben  S.  27  f.)  als  unwahrscheinlich  erkannt  haben, 
und  auf  das  bescheidene  Maass  von  weniger  als  4  Fuss  zurückgegangen 
sind,  so  wächst  damit  die  Unmöglichkeit  und  die  Hinzuziehung  der 
beiden  Nebenseiten  wird  um  so  nothwendiger. 

Der  dritte  Grund,  ein  sehr  schwerwiegender,  sobald  die  Streifen- 
theorie als  solche  feststeht ,  liegt  in  der  Responsioü  in  der  Compositum 
der  Bildwerke,  sofern  sich  diese  nur  über  die  mittleren  Theile  jeder 
%(oqu  erstreckt,  an  den  Enden  aber  aufhört.  Danach  sind  die  respon- 
direnden  Theile  der  Composition  der  Langseite  zuzusprechen ,  wahrend 
die  nicht  respondirenden  Anfangs  -  und  Endstücke  auf  die  Nebenseiten 
zu  verweisen  sind.   Doch  darauf  ist  zurückzukommen. 

Einen  vierten  Grund  für  die  Yertheilung  der  Bildwerke  auf  die 
Haupt-  und  die  Nebenseiten ,  und  zwar  genau  in  der  von  mir  in  meiner 
Geschichte  der  griech.  Plastik  vorgeschlagenen,  jetzt  auf  meiner  Tafel 
durchgeführten  Weise,  diesen  Grund,  den  Mercklin  (Archael.  Zeitung 
1 860.  S.  1 04)  aus  den  Inschriften  ableitete,  kann  ich  nur  sehr  bedingter- 
massen  anerkennen.  Doch  auch  auf  den  ist  zurückzukommen,  wo  von 
den  Inschriften  zu  handeln  ist. 

Schliesslich  muss  aber  noch  an  die  wesentliche  Unterstützung  er- 
innert werden ,  welche  der  ganzen  Streifentheorie  bei  der  Kypseloslade 
aus  der  Analogie  anderer  aller  Kunstwerke  fliesst.  Jahn  hat  bereits 
(Berichte  u.  s.  w.  a.  a.  0.  S.  tOI)  darauf  hingewiesen,  dass  uns  eine  ahn- 
liche reihenweise ,  mehrstreifige  Verzierung  wie  wir  sie  fUr  den  Kypse- 
loskasten  statuiren,  bei  den  ältesten  Kunstwerken,  den  Schilden,  welche 
Homer  und  Hesiod  beschreiben ,  und  den  alten  Vasenbildern  ebenfalls 
entgegentritt.  Ueber  die  Schildbeschreibungen  ist  auch  in  neuerer  Zeit 
Mancherlei  geschrieben  worden,  das  dazu  bestimmt  ist,  die  betreffenden 
Dichterstellen  als  Beschreibungen  überhaupt  zu  verdächtigen.  Ich  will 
mich  hier  nicht  auf  diesen  Gegenstand  einlassen ,  stehe  aber  nicht  an, 


628  J.   OVERBECK,  [40 

auszusprechen,  dass  nach  meiner  Ueberzeugung  das  auch  von  mir  bei 
der  Restauration  dieser  Schilde  adoptirte  Verfahren  im  Prinzip  durch 
die  neueren  Aeusserungen  nicht  erschüttert  ist.  Was  die  Vasenbilder  an- 
langt, so  sind  es  bekanntlich  die  ältesten,  s.  g.  orientalisirenden,  welche, 
in  grosser  Zahl ,  hier  in  Frage  kommen ,  und  als  deren  jüngste  eine  die 
Frangoisvase  ein  Hauptanalogon  zur  Kypseloslade  abgiebt,  während 
andere  Vasen  derselben  chronologisch  noch  näher  kommen  mögen. 

Endlich  will  ich  nicht  versäumen,  hier  noch  auf  eine  andere  bedeu- 
tungsvolle Analogie  aufmerksam  zu  machen.  Bei  den  in  Vasengemälden 
dargestellten  kdyvcmg  nämlich  ist  eine  Verzierung  der  Seitenflächen  die 
gewöhnliche,  und  unter  diesen  Seitenverzierungen  tritt  diejenige  mit 
streifenförmig  über  einander  geordneten  Ornamenten  auffallend  häufig 
hervor  (s.  oben  S.  24  Nr.  2,  3,  5,  besonders  6,  vergl.  noch  Guhl  und 
Koner  a.  a.  0.  F.  194.  c.  d.  g.).  Sollte  man  das  für  blossen  Zufall  er- 
klären wollen?  Eine  ähnliche  Verzierung  der  oberen  Fläche  des  Deckels 
ist  nirgend  nachweisbar,  nur  die  Ränder  der  Deckel  und  die  oberen 
Flächen  derselben  zeigen  sich  mit  Ornamentbändern  eingefasst;  das 
kann  Zufall  sein ,  weil  wir  überhaupt  in  nur  wenigen  Darstellungen  der 
Deckel  deren  Ansicht  von  oben  her  vorfinden;  dass  aber  hie  und  da  die 
Deckel  benutzt  werden,  um  sich  darauf  zu  setzen,  darf  nicht  ganz  ausser 
Anschlag  bleiben.  Deckel  mit  denen  solches  geschieht,  haben  sicher  kein 
nennenswerthes  Ornament. 

Und  auch  das  sei  noch  erwähnt,  dass,  wie  schon  Thiersch  (a.  a.  0. 
S.  \  67)  und  wieder  Schubart  (a.  a.  0.  S.  305)  hervorgehoben  haben, 
schon  jene  #*/A6e  äQinentjg  und  7rt()imM.i]s  (Od.  8.  424,  438)  der  Arete 
und  nicht  minder  die  x^Aos  naXt]  dcudaketj  des  Achilleus  II.  16.  221,  un- 
zweifelhaft schon  Prachtmöbel  waren,  wie  die  Xaqvaj;  der  Labda  der 
Bakchiade,  wenngleich  wir  darauf  verzichten  wollen,  ntQixcdArjs  mit 
Thiersch  durch  »ringsherum  schön«  zu  übersetzen  und  daraus,  indem 
wir  das  betonen,  für  die  nach  unserer  Anschauung  ornamentirte  Kypse- 
loslarnax  Kapital  zu  machen. 

s. 

Das  Datum  der  Kypseloslade. 

Ich  habe  oben  die  Frangoisvase  neben  anderen  der  ältesten  Thon- 
gefösse  als  Hauptanalogon  zu  der  Kypseloslade  angesprochen ;  um  das- 
selbe in  seinem  ganzen  Werthe  ausnutzen  zu  können  wird  es  nöthig 


*4]  Ober  die  Lade  des  Kypselos.  629 

• 

sein,  sich  über  das  chronologische  Verhältniss  beider  Kunstwerke  so  viel 
wie  möglich  zu  orientiren.  Ohnehin  darf  hier  an  der  Frage  nach  dem 
Datum  der  Kypseloslarnax  nicht  vorbeigegangen  werden ,  da  es  sich  in 
den  Ansichten  verschiedener  Gelehrten  um  den  Unterschied  eines  Zeit- 
raumes von  mehr  als  40  Olympiaden,  fast  200  Jahren,  handelt. 

Die  Ueberlieferung  braucht  als  bekannt  nur  kurz  berührt  zu  wer- 
den. Pausanias  (1 7.  5)  bezeichnet  ohne  den  geringsten  Zweifel  die  von 
ihm  in  Olympia  gesehene  Lade  als  diejenige ,  in  welcher  Labda  ihr  Kind 
vor  der  Verfolgung  der  Bakchiaden  verborgen  habe,  also  als  dasselbe 
Möbel,  welches  bei  Herodot  (5.  92)  erwähnt  wird,  und  welches  nach 
Paus,  i  8.  7  ein  nQoyovog  des  Kypselos  (ob  von  väterlicher  oder  mütter- 
licher Seite  wird  nicht  bestimmt  gesagt ,  dass  aber  das  Erstere  gemeint 
sei  ist  aus  dem  Verfolg  wahrscheinlich  **) )  als  ein  Kty/ua  habe  machen 
lassen.  Ferner  giebt  er  an  (1 9.  10),  die  Inschriften  auf  der  Lade  könne 
freilich  auch  ein  Anderer  verfasst  haben,  ihn  selbst  aber  führe  seine  Ver- 
muthung  stark  auf  Eumelos  den  Korinthier ,  und  zwar  sowohl  aus  an- 
deren Gründen  als  namentlich  durch  eine  Vergleichung  des  von  Eumelos 
verfassten  Prosodion  auf  Delos.  Nach  Dio  Chrysostomos  11,  p.  163 
wäre  die  Lade  von  Kypselos  selbst  nach  Olympia  geweiht. 

Wir  haben  es  also  mit  zwei  Argumenten ,  der  von  Pausanias  ge- 
glaubten Sage  und  seiner  kritischen  Vermuthung  über  den  Verfasser  der 
Inschriften  zu  thun,  die ,  wie  schon  lange  bemerkt  worden  **) ,  eigens  für 
die  Bildwerke  gemacht,  nicht  aus  einem  Gedichte  entnommen  und  auf 
die  Bildwerke  angewendet  worden  sind,  deren  Alter  folglich  über  das- 
jenige der  Bildwerke  mit  bestimmt. 

Was  nun  zunächst  die  Sage  anlangt,  die  in  Olympia  von  den  Nach- 
kommen des  Kypselos  geweihte  Lade  sei  die  echte  im  Besitze  der  Labda 
gewesen,  so  bezweifelt  dieselbe  Heyne  (S.  5),  aber  aus  keinem  besseren 
Grunde ,  als  weil  es  ihm  nicht  wahrscheinlich  vorkommt ,  Labda  habe 
ein  so  kostbares  Stück  besessen.  Hierauf  ist  bereits  geantwortet;  es 
lässt  sich  nicht  absehn,  warum  die  Bakchiade  Labda  oder  ein  tiqo- 
yovog  ihres  Mannes ,  der ,  wenn  auch  nicht  Bakchiade ,  darum  noch  kein 
geringer  und  armer  Mann  war ,  ein  solches  Stück  nicht  sollte  besessen 


52)  Vgl.  Preller,  Archaeol.  Zeitung  4  854  S.  292. 

53)  Von  Thiersch,  Epochen  S.  4  68  Note  66.  Die  Wendungen  :  "Atkag  ovtog, 
ovtog  re  K6(üv  ,  ovtog  piv  <t>6ßog  y  Aaxotdag  ovxog ,  'Egpciag  Öde  beweisen  hier  ganz 
gewiss. 


630  J.  Ovbebeck,  [« 

haben  M).  Tiefer  fasst  die  Sache  Welcker55),  der  allerdings  die  Möglichkeit 
zugesteht ,  allein  darauf  hinweist ,  die  ganze  Geschichte  von  der  Rettung 
des  Kypselos  in  einer  xinptbj  könne  gar  leicht  aus  dem  Namen  des  Kypse- 
los  gemacht  sein,  wofür  es  an  Analogien  nicht  fehle36).  Das  verdient 
gewiss  alle  Beachtung,  obwohl  man  Welckers  weiterem  Argumente  nicht 
eben  sonderliches  Gewicht  beilegen  wird.  Er  meint  nämlich,  dass  Hero- 
dot,  hätte  man  zu  seiner  Zeit  schon  ein  solches  Denkmal  wie  Pausanias 
beschreibt  auf  jene  Geschichte  bezogen,  den  erzählenden  Korinther  (H. 
legt  bekanntlich  dem  Korinther  Sosikles  die  Kypselosgeschichte  in  den 
Mund)  wahrscheinlich  der  xtnpütj  ein  Beiwort  hätte  geben  lassen,  wie 
z.  B.  kunstreiche,  in  unserem  (?)  Heraeon  aufbewahrte  Kiste  oder  der- 
gleichen. Das  hätte  Herodot  freilich  thun  können,  allein  noth wendig  war 
es  nicht ,  und  W.  scheint  ttbersebn  zu  haben ,  dass  er  mit  diesem  Argu- 
mente nicht  sowohl  die  Sage  bestreiten  würde,  die  Larnax  sei  im  Besitze 
der  Labda  gewesen,  als  vielmehr  die  Ueberlieferung,  die  in  Olympia  auf- 
gestellte sei  dahin  von  den  Kypseliden  geweiht,  an  der  noch  Niemand 
gezweifelt  hat57).  Denn  auch  dies  ist  natürlich  lange  vor  Herodot  ge- 
schehe —  Thiersch  (a.  a.  0.  S.  4  67)  spricht  sich  unbedingt  für  den 
Glauben  an  die  von  Pausanias  überlieferte  Sage  aus,  die  zu  bezweifele 
kein  Grund  vorliege,  und  welche ,  indem  sie  in  sich  selbst  nichts  Wider- 
sprechendes, wohl  aber  in  den  homerischen  Gesängen  einen  bestimmten 
Halt  und  Hintergrund  habe  (in  den  Laden  der  heroischen  Zeit  als  Ana- 
logien der  Kypseloslade),  in  und  durch  sich  selbst  hinlänglich  gesichert 
sei.  Jahn  berührt  in  s.  Archaeolog.  Aufsätzen  und  in  den  Berichten  der 
k.  s.  Ges.  d.  Wiss.  a.  a.  0.  die  Zeitfrage  nicht,  und  verzichtet  in  der  Ar- 
chaeolog. Zeitung  v.  1850  S.  192  darauf,  jetzt  noch  zu  entscheiden,  ob 
Pausanias1  Sagenüberlieferung  glaubhaft  sei  oder  nicht,  weist  jedoch 
darauf  hin ,  dass  zwischen  der  Sage  und  der  Angabe ,  Eumelos  habe  die 
Inschriften  verfasst,  kein  Widerspruch  bestehe58).  Ruhls  Zweifel  sind 
schon  berührt,  bestimmte  Gründe  ftlr  dieselben  fehlen. 

54)  Vgl.  Siebeiis  Amalth.  2.  S.  259  und  Schubart  a.  a.  0.   S.  302,   der  Heyne* 
Bemerkung  »etwas  hausbackene  nennt. 

55)  Zeitschrift  für  Gesch.  u.  Ausl.  d.  a.  Kunst  S.  272.  Die  Schrift  von  Schubring, 
de  Cypselo  Corinthiorum  tyranno,  Gotting.  4  862  habe  ich  nicht  gesehn. 

56)  Vgl.   Kreuzer,    Commentatt.   Herod.   *.  p.  62  sq.,    welcher  orientalische 
Analogien  zu  der  Kypselossage  beibringt. 

57)  Ausser,  wie  es  scheint,  Schubart  a.  a.  0.  S.  302. 

58)  Wie  Markscheffel,    Hesiodi,  Eumeli  cett.  fragmenta   p.  220  angenommen 


13]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  631 

0.  Müller  hatte59)  ein  Argument  gegen  die  von  Pausanias  ange- 
deutete Datirung  der  Lade  aus  den  ersten  zehn  Olympiaden  in  dem  Kostüm 
des  Herakles  zu  finden  geglaubt ;  Herakles  nämlich  habe  auf  der  Lade 
bereits  seine  gewöhnliche  Tracht,  die  er  erst  nach  Ol.  30  erhielt,  durch 
Peisandros  nämlich,  welcher  (Ol.  33 — 40)  dem  Herakles  seine  Tracht, 
Löwenhaut  und  Keule  geschaffen  habe,  wie  ihn  hernach  die  bildende 
Kunst  darstellte. 

G^gen  diese  Argumentation  wandte  sich  Preller,  Archaeol.  Zeitung 
v.  1854  S.  292  ff.,  in  einem  Aufsatze  der  die  erste  gründliche  Bearbei- 
tung der  Chronologie  der  Kypseloslade  enthält.  Preller  glaubte  Müllern 
gegenüber  aus  Paus.  17  a.  E.  u.  19.  9  ^  erweisen  zu  können  ,  Herakles 
sei  auf  der  Lade  noch  garnicht  mit  Löwenhaut  und  Keule  gebildet  ge- 
wesen ,  also  nicht  in  dem  Peisandrischen  Kostüm ,  sondern  einfach  als 
roioTtjs,  und  eben  dies  sei  das  oxijfia  an  welchem  man  ihn  ohne  In- 
schrift erkannt  habe ,  denn  eben  dies  sei  die  'OfitiQixij  ardktj  des  Hera- 
kles, wie  sie  im  Gegensatz  zu  der  ihm  von  den  Dichtern  seit  Stesichoros 
und  Peisandros  gegebenen  Tracht  bei  Athen.  1 2  p.  51 3  genannt  werde. 
Ja,  meint  Preller,  man  werde  wohl  weiter  gehn  dürfen  bis  zu  der  Be- 
hauptung, dass  Herakles  auf  der  Kypseloslade  nur  mit  Pfeil  und  Bogen, 
noch  nicht  mit  Löwenhaut  und  Keule  abgebildet  war,  da  dieses  Merk- 
mal einer  späteren  Zeit  sonst  höchst  wahrscheinlich  (?)  von  Pausanias 
hervorgehoben  worden  wäre ;  dadurch  erhalte  das  höhere  Alterthum  der 
Lade  eine  positive  Stütze.  In  der  That  komme  Herakles  ausser  mit  dem 
Bogen  nur  noch  mit  dem  Schwert  vor,  in  dem  Abenteuer  mit  Atlas 
(18.  4),  wo,  meint  Preller,  wieder  die  Erwähnung  der  Löwenhaut  und 
Keule  (?  er  hat  ja  das  Schwert),  wenn  Pausanias  sie  gesehn  hätte,  un- 
vermeidlich ( ! )  gewesen  wäre. 

Wenn  man  nur  dem  ehrlichen  Pausanias  nicht  gar  zu  viele,  zu 
subtile  und  allezeit  praesente  Gelehrsamkeit  zutraute !  Wer  sagt  uns 
denn,  dass  sich  Pausanias  so  genau  des  Datums  bewusst  gewesen,  seit 
welchem  Herakles  mit  Löwen  feil  und  Keule  erscheint?   Und  wer  sagt 


hatte.     Vgl.  auch  Bergk,  Arch.  Zeitung  1845  S.   4  69  Note  1*.    Schubart  a.  a.  0. 
S.  303  Note  4. 

59)  Handb.  d.  Archaeol.  §.  57.  2.  vgl.  77.  4.,  Dörfer  4,  S.  446  der  3. Ausgabe. 

60)  4  7.  44  :  ixte  di  xov  'HqaxXtovq  ovxog  ovx  iyvciavov  xov  xe  ä&Xov  %i.^v  xai 
int  reo  o  ff  pari.  4  9.  9 :  to&vovta  di  awdoct  KtvtctvQOvq  ....  dijka  'H^axkf'a  ic 
top  roltvovca  xai  'ÜQaxXtovg  tlvai  zo  tQyov. 


632  J.  Overbeck,  [44 

uns ,  wie  ich  dies  schon  früher 61)  bemerkt  habe ,  dass  Peisandros  diese 
Tracht  des  Herakles,  die  er  in  die  Kunstpoesie  einführte,  aus  sich  erfun- 
den habe,  dass  sie  nicht  in  örtlichen  Sagen  und  Gesängen  lange  vor 
Peisandros  vorhanden  war,  und  danach  auch  in  ältesten  Kunstwerken 
vorhanden  sein  konnte  ?  Löwenfell  und  Keule  waren  bei  Herakles  etwas 
so  überaus  Gewöhnliches ,  dass  man  eher  behaupten  dürfte ,  hätte  Pau- 
sanias  den  Helden  an  der  Kypseloslade  ohne  Löwenfell  gesehn  —  denn 
die  Keule  hatte  er  in  der  That  nicht,  weil  er  zwei  Mal  mit  dem  Bogen  und 
ein  Mal  mit  dem  Schwerte  kämpft ,  das  vierte  Mal  beim  aywv  int  fFeh'a 
(17.  9)  thronend  ruhig  zuschaute  und  wohl  mit  dem  Scepter  zu  denken 
sein  wird  — ,  so  würde  er  dies  Abweichende ,  Ausnahmsweise  hervor- 
gehoben haben,  obgleich  ich  auch  nicht  einsehe,  warum  das  in  dem 
knappen  Text  »unvermeidlich«  gewesen  sein  sollte.  Ich  selbst  habe 
früher  (a.  a.  0.)  an  die  Richtigkeit  von  Prellers  Argumentation  geglaubt; 
indem  ich  diese  Zustimmung  hier  zurücknehme,  ziehe  ich  mich  auf  die 
Annahme  zurück,  dass  Herakles  freilich  die  Leontis  in  den  Bildwerken 
der  Kypseloslade  gehabt  habe,  dass  dies  aber  keinen  Grund  gegen  ihr 
Alter  und  ihre  Hinaufdatirung  über  Peisandros  abgebe. 

Im  weiteren  Verfolge  seiner  Untersuchung  bringt  nun  Preller  be- 
achtenswerte Gründe  gegen  die  Annahme  der  Sage  in  ihrem  ganzen 
Bestände,  namentlich  gegen  die  Bezüglichkeif  der  Bildwerke  auf  der 
Lade  zu  der  Familiengeschichte  der  Vorfahren  des  Kypselos82).  Hier 
unterschreibe  ich  namentlich  was  Preller  S.  295  über  Pausanias'  Erklä- 
rung der  dritten  jwpa  und  der  in  ihr  dargestellten  Schlacht  bemerkt. 
Seine  Annahme ,  dass  in  dieser  Schlacht  weit  eher  der  Kampf  der  Pylier 
und  Arkader  bei  Pheia  aus  II.  7.  135  dargestellt  gewesen  sei,  als  die 
andere  Geschichte,  die  Pausanias  beibringt,  ist  richtig  und  gut  begründet, 
und  nicht  minder  ist  es  die  Bemerkung,  dass  somit  auch  dieser  Vorgang 
der  mythischen  Sagengeschichte  angehöre,  dass  er  folglich  sein  schein- 
bar Fremdartiges  unter  den  übrigen  Darstellungen  der  Kypseloslade  ver- 
liere. Auf  Prellers  Bemerkungen  über  die  Inschriften  komme  ich  zurück; 
wenn  er  aber  schliesslich  S.  296  f.  zu  dem  Resultate  gelangt,  die  Lade 
möge  wohl  älter  als  Kypselos  und  seine  Eltern,  aber  von  einem  seiner 


61)  Geschichte  d.  griech.  Plastik.  1.  S.  480.  Note  5.  Damit  stimmt  Schubart  a.  a. 
0.  S.  303  überein. 

62)  Eine  solche,  wie  sie  Müller  (Handb.  a.  a.  0.)  behauptete,  hat  auch  schon 
Bergk,  Archaeol.  Zeitung  1845  S.  4  52  in  Abrede  gestellt. 


45]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  633 

Vorfahren  nicht  sowohl  bestellt,  als  vielmehr  fertig  gekauft  worden  sein, 
etwa  von  einem  aeginetischen  (?)  oder  korinthischen  Künstler,  so  habe 
ich  keine  Ursache,  dem  zu  widersprechen. 

Und  somit  bleibt  mir  nur  noch  übrig,  auf  die  Argumentation  Schu- 
barts  ein  paar  Streiflichter  zu  werfen.  Derselbe  glaubt  a.  a.  0.  S.  302 
nicht  an  die  Echtheit  und  das  Alter  der  Lade,  und  behandelt  die  Sage, 
wie  sie  Pausanias  berichtet  als  Erfindung  der  Exegeten  von  Olympia, 
denen  er,  im  Allgemeinen  wohl  mit  Recht,  Mangel  an  Kritik  vorwirft. 
Anlangend  die  in  Olympia  aufgestellte  Lade  meint  er,  dass  dieser  Pracht- 
kasten kein  gewöhnliches  Hausgeräth,  sondern  ein  Prunkstück  einer  rei- 
chen und  vornehmen  Familie  gewesen  sei,  habe  man  eingesehn ;  es  sei 
also  nur  darauf  angekommen,  irgend  eine  namhafte  Lade  ausfindig  zu 
machen,  um  sie  mit  der  in  Olympia  zu  identificiren,  und  da  schwerlich 
eine  grosse  Auswahl  gewesen  sei,  so  habe  sich  der  durch  Herodots  Er- 
zählung hinlänglich  bekannte  Kasten  des  Kypselos  bequem  dargeboten. 
Zwar  wisse  Herodot  Nichts  davon,  dass  die  Lade,  in  welche  Labda  ihr 
Knäbchen  barg,  ein  ausgezeichnetes  Kunstwerk  gewesen,  die  Unwahr- 
scheinlichkeit  der  ganzen  Geschichte,  das  Alter  des  Kunstwerks  (wer 
sagt  uns  denn,  dass  dieses  nicht  durchaus  zutreffend  war?),  der  Nach- 
weis, wie  grade  ein  Korinther  dazu  gekommen  sein  sollte,  das  Geräth 
nach  Olympia  zu  stiften,  alles  dies  habe  den  Exegeten  keine  Sorge  ge- 
macht, und  die  Annahme  habe  ihnen  um  so  zuverlässiger  erscheinen 
mögen,  da  schwerlich  ein  Kasten  aufzutreiben  war,  der  seine  Ansprüche 
gründlicher  hätte  erhärten  können.  Herodot  scheine  weder  von  dem 
kunstreichen  Geräth  in  Olympia  noch  von  dessen  erlauchter  Herkunft 
Etwas  zu  wissen  (möglich;  indessen,  wer  sagt,  dass  Herodot  Alles  was 
er  wusste  auch  sagen  musste,  vollends  in  einer  Rede,  wie  die,  worin  die 
Sache  vorkommt),  Pausanias  aber  habe,  wie  in  unzähligen  andern  Fällen 
die  Tradition  ohne  weitere  Prüfung  angenommen  u.  s.  w. 

Hiezu  will  ich  besonders  nur  bemerken,  dass  wenn  es  Schubart 
mehr  als  den  Exegeten  in  Olympia  Sorge  macht,  wie  »ein  Korinther«, 
d.  h.  Kypselos  oder  ein  Kypselide  dazu  gekommen  sei,  ein  solches  Weih- 
geschenk grade  nach  Olympia  zu  stiften,  er  erstens  nicht  in  Anschlag 
gebracht  hat,  dass  Olympia  und  Delphi  die  Nationalheiligthümer  von 
Griechenland  waren,  wohin  ein  Weihgeschenk,  das  man  von  Vielen  gesehn 
wissen  wollte,  zu  stiften,  ziemlich  nahe  lag,  und  dass  er  zweitens  über- 
sehen hat,  dass  auch  der  vielberühmte  ganz  goldene  Zeuskoloss  als 


634  J.  OVERBKCK,  [46 

Kxnpthdwv  dvdihjfia  grade  in  Olympia  stand 63).  Dass  dieses  für  die  Wahr- 
scheinlichkeit stark  in's  Gewicht  falle,  dass  dieselben  Kypseliden,  Peri- 
andros  oder  wer  sonst,  nach  Olympia  auch  eine  Prachtlade  gestiftet  haben, 
an  welche  sich  eine,  meinetwegen  unbegründete,  aber  im  Volke  geglaubte 
und  das  Ansehn  der  Kypseliden  erhöhende  Sage  knüpfte,  das  wird  wohl 
Schubart  selbst  nicht  verkennen.  Und  wenn  wir  deshalb  seinen  Grundsatz, 
wir  seien  an  Pausanias'  Aussagen  nur  so  weit  gebunden,  wie  wir  denselben 
mit  Gründen  zu  folgen  im  Stande  sind,  im  Allgemeinen  adoptiren.  so  wird 
er  uns  ohne  Zweifel  mit  gutem  Willen  zu  der  Erwägung  dieser  Gründe  fol- 
gen, die  namentlich  in  dem  liegen,  was  Pausanias  über  die  Inschriften  sagt. 
Es  ist  Mancherlei  geschrieben  worden,  um  Pausanias'  Ausspruch, 
ihm  sei  aus  verschiedenen  Gründen  wahrscheinlich,  dassEumelos  der  Ver- 
fasser der  Epigramme  sei,  zu  verdächtigen.  Dass  wir  hier  zu  keiner  ab- 
soluten Gewissheit  gelangen  können,  ist  zuzugestehn.  So  hat  Welcker 
(a.  a.  0.  S.  273)  gewiss  Recht,  wenn  er  behauptet,  die  Alterlhümlich- 
keit  der  Inschriften  nöthige  uns  nicht,  bis  in  den  Anfang  der  Olympiaden 
hinaufzugehn54);  und  wenn  übereinstimmend  Preller  a.  a.  0.  S.  296  und 
Schubart  a.  a.  0.  S.  303  annehmen,  Pausanias  sei  zu  seinem  Schlüsse 
auf  diesem  Wege  gelangt :  die  Lade  stammt  aus  Korinth  und  aus  der 
Familie  der  Bakchiaden,  folglich  wird  wohl  ein  korinthischer  Dichter 
der  Verfasser  der  Epigramme  sein,  ein  solcher  und  obendrein  selbst 
ein  Bakchiade  ist  Eumelos,  folglich  mag  der  wohl  die  Epigramme  ge- 
dichtet haben,  so  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  eine  solche 
Folgerung  zu  den  anderen  Gründen  des  Pausanias  (äXXtov  re  tvexa)  gehört 
haben  mag,  die  er  nicht  näher  angiebt.  Als  besonderen  Grund  aber  führt 
er  die  Vergleichung  des  Prosodion  auf  Delos  an  (xal  rov  TtQoeodiov 
fiaktora  o  vnoitjotv  ig  ^/ijXov).  Hier  kann  ich  nur  wiederholen  was 
ich  früher05)  ausgesprochen  habe:  es  ist  mir  nicht  klar  mit  welchem 
Rechte  Preller  (a.  a.  0.  S.  296)  behaupten  will,  Pausanias,  der 
überhaupt  kein  übler  Kenner  alter  Poesie  ist,  und  der  4.  4.  4  die  mei- 
sten sonst  auf  Eumelos  zurückgeführten  Poesien  als  unecht  verwirft, 
während  er  das  delische  Prosodion  nebst  den  Inschriften  der  Kypselos- 
lade  allein  für  echt  anerkennt,  habe  sich  grade  hier  durch  eine  verkehrte 


63)  Vgl.  Preller  a.  a.  0.  S.  893  f. 

64)  In  seiner  Götterlehre  4.   S.  301   erkennt  W.  den  Eumelos  als  Verfasser  der 
Inschriften  an  der  Kypseloslade  an. 

65)  Geschichte  d.  griech.  Plastik  {.  S.  4  80  Note  5. 


47]  Ober  die  Lade  des  Kypselos.  635 

Combination  beirren  lassen.  Schubart  (a.  a.  0.  S.  303  f.)  sieht  ein,  dass 
da  die  Folgerung  sich  nicht  aus  dem  Inhalte  ableiten  Hess,  sie  lediglich 
aus  der  Form  abgeleitet  sein  könne;  der  Dialekt,  metrische,  vielleicht 
auch  sprachliche  Eigentümlichkeiten  möchten  die  Kriterien  gewesen 
sein.  Er  meint  aber  dann,  dieser  Boden  sei  überaus  schlüpfrig,  die  paar 
Verszeilen,  was  hätten  die  für  Anhalt  bieten  können.  Nun,  ich  meine, 
darüber  dürfte  es  uns,  die  wir  das  Prosodion  auf  Delos  nicht  besitzen, 
doch  noch  etwas  schwieriger  abzusprechen  sein,  als  dem  Pausanias,  und 
die  paar  Verszeilen  der  Kypseloslade  bieten  Eigentümlichkeiten  genug, 
um  ihnen  ein  charakteristiches  Gepräge  zusprechen,  sie  z.  B.  für  weder 
homerisch  noch  hesiodeisch  halten  zu  dürfen.  Schubart  freilich  behaup- 
tet weiter,  die  Hexameter  auf  der  Lade  seien  der  Art,  dass  sie  uns  nicht 
nötbigen,  einen  namhaften  Dichter  für  sie  auszuforschen,  was  zugege- 
ben werden  kann,  der  Künstler,  der  die  reiche  Lade  verfertigte  sei  ohne 
Zweifel  (?)  auch  im  Stande  gewesen,  ein  paar  solche  Hexameter  zu- 
sammenzusetzen. Wohl  möglich.  Allein  würde  man  angesichts  der 
Verse  in  der  Lesche  von  Delphi  (Paus.  10.  27.  4) 

r^a\pe  IloXvyvanos,  Oaaiog  yevog,  y/lykao(p6bvTOS 
'Tiög  7i6()i}o/uev)]v  Iklov  dxQonoktv 
nicht  grade  dasselbe  zu  sagen  berechtigt  sein?  Sind  diese  Verse  so 
schön,  so  erhaben,  so  bedeutend  oder  geistreich,  dass  sie  uns  nöthi- 
gen  würden,  wenn  wir  von  ihrem  Verfasser  Nichts  wttssten,  flir  sie  nach 
einem  eigenen,  namhaften  Dichter  zu  forschen?  Würden  wir  nicht  etwa 
sagen  dürfen,  Polygnot,  der  das  prachtvolle  grosse  Gemälde  vollendet, 
sei  auch  im  Stande  gewesen,  ein  solches  Distichon  zusammenzusetzen, 
ohne  dafür  den  Simonides  und  keinen  Geringeren  zu  bemühen?  Nun, 
und  wenn  Polygnot  gleichwohl,  was  als  Thatsache  doch  wohl  noch  nicht 
bestritten  ist,  den  Simonides  in  Anspruch  nahm,  soll  da  der  Künstler  der 
Kypseloslade  nicht  in  ähnlicher  Weise  den  Eumelos  in  Anspruch  genom- 
men haben  ?  Ja,  sollte  es  nicht  möglich  sein  hieftlr  noch  ein  Motiv  zu 
ahnen?  Schubart  macht  darauf  aufmerksam,  dass  die  Inschriften  dem 
Räume  angepasst  werden  mussten,  und  schliesst  daraus,  der  Künstler 
werde  ihre  Abfassung  darum  um  so  weniger  einem  Andern  übertragen 
haben.  Mir  scheint  im  Gegentheil,  dass  je  schwieriger  durch  das  An- 
passen in  den  Raum  die  Abfassung  der  Verse  wurde,  der  Künstler  um 
so  mehr  Ursach  hatte,  dieselbe  von  einem  gewandten  Dichter  zu  erbit- 
ten, der  zugleich  sein  Product  mit  seinem  Namen  zu  decken  im  Stande 


636  J.   OvKRBECK,  [** 

war.  Allein  ich  weiss  —  all  zu  scharf  macht  schartig  und  verzichte  auf 
die  Fortführung  solcher  Untersuchungen ;  ich  kann  aber  nicht  umhin  auch 
jetzt  noch  zu  bekennen,  dass  mir  Pausanias'  Erwägungen  mehr  Gewicht 
zu  haben  scheinen,  als  die  seiner  modernen  Gegner,  und  dass  ich  eben 
wegen  dieser  Erwägungen  des  Pausanias  in  Betreff  der  Inschriften  auch 
heute  noch  geneigt  bin,  die  Kypseloslade  als  ein  Kunstproduct  der  ersten 
zehn  Olympiaden  anzuerkennen.  Sollte  man  aber  trotz  allem  hier  Gesag- 
ten an  der  Echtheit  der  in  Olympia  aufgestellten  Lade  zweifeln,  und  vor- 
ziehn  zu  glauben,  wofür  noch  nicht  der  Schalten  eines  Grundes  beige* 
bracht  ist,  sie  sei  ein  die  Originallade  vertretendes,  aber  prächtigeres  ad 
hoc  gefertigtes  Weihgeschenk,  so  bleibt  sie  als  KvyeXtdtov  aväthj/ia  — 
und  dass  sie  selbst  dieses  nicht  sei,  wird  wohl  kein  Zweiter  so  leicht  mit 
Schubart  annehmen  —  ein  hochaltes  Kunstwerk.  Denn86)  Kypselos  ge- 
langte Ol.  31.  2  (v.  Chr.  655)  zur  Herrschaft  und  diese  blieb  im  Hause 
der  Kypseliden  insgemein  73  Jahre  und  6  Monate;  01.49.  2 (v.Chr.  582) 
ist  also  der  äusserste  Termin,  vor  welchem  die  Lade  in  Olympia  geweiht 
sein  muss,  und  bis  zu  diesem  äussersten  Termin  herabzugehn  hat  sehr 
Weniges  für,  wohl  aber  sehr  Vieles  gegen  sich.  Für  die  Annahme  eines 
jüngeren  Datums  der  Kypseloslade  wttsste  ich  nur  zwei  Erwägungen 
anzuführen.  Erstens  nämlich  ist  uns  das  Vorhandensein  der  Chrysele- 
phantintechnik  in  der  weitesten  Bedeutung  des  Wortes  vor  Smilis  und  der 
Schule  des  Dipoinos  und  Skyllis  in  den  60er  Olympiaden 87)  nicht  über- 
liefert. Wie  unsicher  aber  jeder  hierauf  zu  bauende  Schluss  sei,  wird 
Jeder  fühlen ;  er  ist  es  um  so  mehr,  da  wir  bis  in  die  60er  Olympiaden 
mit  der  Kypseloslade  in  keinem  Falle  ohne  Willkür  herabgehn  dür- 
fen ,  und  als  uns  in  der  Kunst  der  heroischen  Zeit  die  Bearbeitung  des 
Elfenbeins  bereite  entgegentritt68).  Die  zweite  Erwägung  wäre  diese. 
Unter  den  Darstellungen  der  Kypseloslade  treten  uns  Scenen  entgegen, 
welche  durch  die  Poesien  des  epischen  Cyclus  erhöhten  Glanz  erhiel- 
ten, so  der  Zweikampf  des  Achilleus  und  Memnon  durch  Arktinos'  Ae- 
thiopis  (aus  den  ersten  7  Oll.),  Peleus  und  Thetis  und  wiederum  das 
Parisurteil  durch  Stasinos'  Kyprien  (aus  Ol.  30),  und  so  fort.  Liesse  sich 
nun  erweisen,  dass  der  Bildner  der  Kypseloslade  eben  diese  Poesien  vor 
Augen  und  im  Sinne  gehabt  habe,  als  er  seine  Reliefe  verfertigte,  so 

66)  Vgl.  Preller  a.  a   0.  S.  297  f. 

67)  Vgl.  m.  Gesch.  d.  griech.  Plastik  1.  S.  83  f. 

68)  H.  Gesch.  d.  PI.  a.  a.  O.  S.  59. 


49]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  637 

wäre  damit  zugleich  bewiesen,  dass  die  Lade  jünger  sein  müsse,  als  die 
30.  Olympiade.  Allein  so  wenig  man  Peisandros  als  den  Erfinder  der 
Heraklestracht  anerkennt,  eben  so  wenig  wird  man  Arktinos  oder  Sta- 
sinos  als  den  Erfinder  dieser  Sagenzüge  betrachten;  denn  zu  den 
nachweislich  diesen  Dichtern  eigentümlichen  Bereicherungen  der  Sage 
gehören  sie  nicht.  In  der  Sage  waren  sie  lange  vor  diesen  Dichtern  vor- 
handen 69) ;  aus  dieser  aber  konnte  der  Verfertiger  der  Kypseloslade  so 
gut  vor  Ol.  7  wie  nach  Ol.  30  schöpfen.  Für  den  ganzen  Zeitraum  aber 
innerhalb  dessen  man  das  Datum  der  Kypseloslade  vernünftigerweise 
suchen  kann,  d.  h.  von  der  ersten  Hälfte  des  8.  bis  zur  zweiten  Hälfte 
des  7.  Jahrhunderts  v.  Chr.,  haben  wir  für  dieselbe  keine  besseren  Ana- 
logien in  erhaltenen  Kunstwerken,  als  die  ältesten,  s.  g.  orientalisirenden, 
reihenweise  mit  Bildwerken  verzierten  Yasen ;  je  jünger  man  die  Lade 
ansetzt,  desto  näher  rückt  sie  ihrem  Datum  nach  ihrer  artistischen  Haupt- 
analogie, der  Frangoisvase.  Das  Datum  der  Frangoisvase  ist  freilich 
eben  so  wenig  wie  dasjenige  der  Kypseloslade  gegeben ;  allein  wenn 
Jahn  in  der  Einleitung  zu  seinem  münchener  Vasenkatalog  S.  GLVII  über 
das  aus  den  Inschriften  der  Frangoisvase  vollständig  herzustellende  Al- 
phabet sagt,  es  sei  das  älteste  attische,  welches  bis  gegen  die  80.  Olym- 
piade im  Gebrauch  war,  so  glaube  ich  nicht,  dass  er  damit  hat  sagen 
wollen,  die  Frangoisvase  sei  in  so  späte  Zeit  herabzusetzen,  oder,  sollte 
dies  der  Fall  sein,  dass  wir  nöthig  hätten,  ihm  hierin  zu  folgen.  Man 
braucht  nicht  die  bekannten  Grundsätze  Ludwig  Ross'  über  Chronologie 
der  Yasen  und  Vaseninschriften  zu  theilen,  um  dennoch  der  Ansicht  zu 
sein,  dass  kein  Grund  vorliege,  jede  Vaseninschrift  so  tief  herab  zu  dati- 
ren  wie  es  nach  Maassgabe  des  officiellen  Gebrauchs  des  in  derselben  ver- 
wendeten Alphabets  nur  immer  möglich  ist.  Die  zweite  Hälfte  der  70er 
Olympiaden  würde  also  in  diesem  Falle  der  äusserste  Termin  sein,  nach 
welchem  die  Frangoisvase  nicht  gemalt  sein  kann ;  erwägt  man  aber  was 
wir  von  der  freilich  höchst  fragmentarischen  Geschichte  der  griechischen 
Malerei  vor  Polygnot  wissen,  zumal  was  uns  von  der  Erfindung  des  Eu- 
maros  (qui  marem  feminamque  discrevit,  durch  die  Farbe  nämlich 70)  und 
des  Kimon  von  Kleonae  überliefert  wird  (qui  rugas  et  sinus  invenit) 71) ; 


69)  In  Betreff  des  Parisurteils  verweise  ich  aufWelckersEp.  Cyclus  B.  S.S.  H3ff. 

70)  Vgl.  Brunns  Küiistlergesch.  S.  S.  8,  Jahn  a.  a.  O.  S.  CL1X  f. 

71)  Das  heisst  wörtlich  und  muss  wörtlich  verstanden  werden:  der  Bausche  und 

Abhandl.  d.  K.  S.  Geldlich,  d.  Wiuentdi.  X.  43 


638  J.  Oveueck,  [50 

findet  man  dann  auf  der  Fran^oisvase  die  Weiber  allerdings  weiss  ge- 
malt72), von  Falten  und  Bauschen  dagegen  selbst  in  den  bewegtesten 
Gewändern  noch  keine  Spur,  so  wird  man  sich,  sofern  man  überhaupt 
eine  Parallelentwickelung  der  Keramographie  mit  der  übrigen  Malerei 
und  eine  Einwirkung  dieser  auf  jene  anerkennt,  genöthigt  sehn,  die  Ent- 
stehung der  Frangoisvase  deren  echt  hochalterthümlichen  Stil  Alle  an- 
erkennen und  hervorheben,  die  über  dieselbe  geschrieben  haben ,  zwi- 
schen Eumaros  und  Kimon  von  Kleonae  anzusetzen.  Eumaros  datirt 
Brunn  a.  a.  0.  S.  9  zwischen  Ol.  60  und  70,  indem  er  einen  nahen 
Schulzusammenhang  zwischen  ihm  und  Kimon,  qui  inventa  eius  exco- 
luit,  wie  Plinius  sagt,  statuirt;  es  ist  aber  aus  verschiedenen  Gründen 
sehr  fraglich,  ob  dies  Datum  nicht  zu  jung  sei,  und  ob  wir  deswegen 
nicht  auch  die  Frangoisvase  bis  in  den  Anfang  der  60er,  ja  bis  in  die 
50er  Olympiaden  werden  hinaufsetzen  dürfen.  Auch  so  trennt  sie  frei- 
lich noch  ein  weiter  Zeitraum  von  dem  wahrscheinlichen,  wenngleich 
nicht  von  dem  spat  est  möglichen  Datum  der  Kypseloslade ;  allein  da  sich 
im  Kreise  des  Handwerks  und  untergeordneter  Arten  der  Technik  das 
Alterthümliche  länger  erhält,  als  in  der  selbständigen  Kunst,  so  darf  uns 
der  Zeitraum,  der  vermuthlich  zwischen  dem  Kypseloskasten  und  der 
Frangoisvase  liegt,  nicht  an  den  mancherlei  Analogien  irre  machen,  wel- 
che beide  Kunstwerke  darbieten,  so  wenig  wir  uns  einreden  dürfen,  den 
Stil  der  Bildwerke  an  der  Larnax  des  Kypselos  nach  demjenigen  der 
Fran$oisvase  genau  bestimmen  zu  können. 

6. 
Die  Compositionsprincipien  der  Bildwerke. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  einer  Prüfung  der  Principien,  nach  denen 
die  einzelnen  Gruppen  innerhalb  der  Zonen-  oder  Streifen-£ai(>a#,  von 


Falten  der  Gewandung  erfand,  nicht,  wie  Brunn  a.  a.  O.  S.  H  wollte,  der  Bausche 
und  Falten  durchbildete,  was  noch  kaum  Polygnot  gethan  hat. 

72)  Meines  Wissens  ist  dies  freilich  in  der  ganzen  Litteratur  über  die  Frangoisvase 
nirgend  bestimmt  ausgesprochen  und  meine  Erinnerung  über  diesen  Punkt  war,  grade 
wie  diejenige  mehrer  gelehrten  Freunde,  bei  denen  ich  deshalb  anfragte,  nicht  ganz 
sicher;  Herr  Prof.  Michaelis  aber  theilt  mir  mit,  dass  er  sich  wenigstens  die  Atalante 
in  der  kalydonischen  Jagd  positiv  als  weiss  notirt  habe,  wodurch  in  Verbindung  mit 
dem  was  Brunn,  Bull.  v.  1863  p.  4  90  und  492  sagt  und  mit  sonstigen  Umständen  die 
Sache  wohl  als  entschieden  gelten  darf. 


54]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  639 

denen  wir  fortan  wohl  werden  reden  dürfen,  angeordnet  oder  compo- 
nirt  waren. 

Der  Erste,  welcher  auf  das  System  der  Composition  geachtet  hat, 
ist  Welcker  (Zeitschrift  f.  a.  Kunst  S. 537 ff.);  klar  in's  Licht  gesetzt  aber 
hat  er  dasselbe  noch  nicht.  Beginnend  mit  der  ersten  %o^a  sondert  er 
die  Leichenspiele  für  Pelias  als  Hauptvorstellung  aus,  macht  auf 
deren  räumliche  und  innerliche  Symmetrie  mit  Herakles  und  Akastos  an 
den  Enden  als  den  Kampfrichtern  und  den  zwischen  diese  verlegten 
Kampfergruppen  aufmerksam,  und  versucht  einen  ähnlichen,  wenigstens 
räumlichen  Parallelismus  in  den  je  zwei  Anfangs-  und  Endvorstellungen 
nachzuweisen.  Auch  für  die  zweite  x&qa  hebt  Welcker  vor  Allem  den 
räumlichen  Parallelismus  hervor.  Die  Scenen  von  Idas  und  Marpessa 
bis  zu  Peleus  und  Thetis  sondert  er  als  »Hauptreihe  in  der  Mitte«  aus 
und  findet  für  diese  wieder  ein  grösseres  Mittelbild  in  Iasons  und  Me- 
deias  Hochzeit,  zu  der  er  Apollon  und  den  Chor  der  Musen  hinzurech- 
net, und  zwar  als  zu  beiden  Seiten  der  Hauptgruppe  vertheilt73);  die  drei 
einzelnen  Paare  (Idas  und  Marpessa,  Zeus  und  Alkmene,  Menelaos  und  He- 
lena links,  Atlas  und  Herakles,  Enyalios  und  Aphrodite,  Peleus  und  The* 
tis  rechts)  gruppiren  sich  um  dies  Hauptbild  in  offenbarer  Regelmassig- 
keit, und  werden  durch  die  figurenreiche  Mitte  in  ein  Ganzes  auch  für 
das  Auge  verknüpft,  hinlänglich  um  die  noch  übrigen  Vorstellungen  an 
den  Enden  als  Beiwerk  von  eigentbümlichem  Sinne  auffassen  zu  können, 
das  sich  raumlich  aufwog. 

Für  die  vierte  xwqu  statuirt  W.  ein  anderes  Princip ;  hier  lässt  er 
das  Ganze  aus  zwölf  gleichen  Gliedern  bestehn,  deren  Anordnung  die 
Abwechselung  von  a)  Liebesgeschichten  und  b)  Heldenabenteuern  zum 
Grunde  liege74);  untergeordnete  Beziehungen  des  Einzelnen  aufeinan- 


73)  Dass  diese  von  Welcker  sehr  stark  betonte  Annahme,  der  Andere,  wie  Brunn 
(s.  unten)  gefolgt  sind,  unmöglich  sei,  bat  Scbubart  a.  a.  0.  S.  315  aus  der  Inschrift 
bewiesen;  denn  die  Inschrift  zu  Apollon  und  den  Musen  hätte  ja  über  die  ebenfalls  mit 
einem  Hexameter  versehene  Gruppe  des  lason  hinweg  geschrieben  worden  sein  müssen, 
was  in  keiner  Weise  denkbar  ist.  Uebrigens  soll  nicht  vergessen  werden,  dass  schon 
Jahn,  Aren.  Aufes.  S.  9.  Note  18  sich,  wenngleich  aus  anderen  Gründen,  gegen  die 
Welcker' sehe  Combi nation  ausgesprochen  hat. 

74)  Nämlich:  t .  a.  Boreas  und  Oreithyia,  8.  b.  Herakles  und  Geryon,  3.  a.  The- 
seus  und  Ariadne,  4.  b.  Achi Ileus  und  Memnon,  5.  a.  Moilanion  und  Atalante,  6.  b. 
Aias  und  Hektor,  7.  a.  Dioskuren  und  Helena,  S.  b.  Koon  und  Agamemnon,  9.  a.  Pa- 
risurteil ,  dem  die  Artemis  zugezählt  wird,   10.  b.  Eteokles  und  Polyneikes,   H,  a. 

43* 


640  J.  Ovbbbeck,  [W 

der  will  er  nicht  annehmen,  nur  darin  könne  eine  künstlerische  Absicht 
liegen,  dass  die  sechs  Vorstellungen,  welche  etwas  Zusammengesetztes 
haben,  zwischen  drei  und  drei,  die  dem  Auge  weniger  darbieten,  in  die 
Mitte  gestellt  seien. 

In  der  obersten  xtoQa  stellt  Welcker  die  Nereidengespanne  nebst 
Cheiron  und  das  Maulthiergespann  der  Nausikaa  in  Contrapost ;  das  Bin- 
dende sei  im  Aeusserlichen  gelegen,  in  den  Thieren,  ein  Grund  der  An- 
ordnung und  Auswahl,  den  auch  die  ausgebildetste  Kunst  nicht  ver- 
schmäht habe.  Die  beiden  anderen  Vorstellungen  (Odysseus  und  Kirke 
—  Herakles  und  die  Kentauren)  seien  durch  den  Gontrast  verbunden, 
denn  bei  dieser  leisen  Art  der  Verkettung  erreiche  der  Gontrast  dasselbe, 
was  die  Aehnlichkeit  und  Uebereinstimmung ;  dort  sehn  wir  den  Helden 
in  Ruhe  und  Ueppigkeit,  hier  in  That,  auch  dürften  die  Weiber  dort, 
Kentauren  hier  den  Gontrast  verstärkt  haben. 

So  wenig  nun  auch  hiedurch  die  Frage  erledigt,  so  Manches  auch 
erweislich  irrig  ist,  so  ist  doch  dieser  Versuch  voll  feiner  und  treffender 
Bemerkungen,  die  ihren  Werth  auch  heute  noch  behalten  haben;  jeden- 
falls steht  er  ungleich  höher  als  derjenige  Bergks 7ö),  welcher,  wesentlich 
nur  den  von  ihm  nicht  ohne  Scharfsinn  aufgespürten  geistigen  und 
ideellen  Beziehungen  der  einzelnen  Darstellungen  zu  einander  nach- 
gehend, dabei  das  für  die  bildende  Kunst  ungleich  maassgebendere  Räum- 
liche aus  den  Augen  verlierend  und  künstliche  Responsionsschemata  der 
Poesie  und  Musik  auf  dies  Werk  der  bildenden  Kunst  übertragend,  zu 
einem  ganz  falschen  Resultat  gelangt.  Ich  habe  dies  schon  vor  vielen 
Jahren  ausgesprochen 76),  und  da  ich  kaum  glauben  kann,  dass  nach  allem 
dem  was  seit  1845  über  die  Composition  der  Bildwerke  an  der  Kypse- 
loslade  und  über  den  Parallelismus  als  Compositionsprincip  der  bildenden 
Kunst  geschrieben  ist,  der  treffliche  Bergk  noch  heute  an  seinem  System 
festhält,  oder  dass  sich  sonst  irgend  Jemand  zu  demselben  bekennen 
sollte,  so  halte  ich  eine  erneute  Polemik  gegen  dasselbe  hier  für  über- 
flüssig und  glaube  ihm  mit  dieser  Erwähnung  genug  gethan  zu  haben. 

Aias  und  Kassandra  (bei  Pausanias  vor  1 0) .  Man  sieht,  schon  hier  stimmt  nicht  Alles 
(s.  7,  9,  11);  dass  sich  aber  12.  bei  Dionysos  unter  Bäumen  gelagert  weder 
der  eine  nocli  der  andere  Gedanke  anwenden  lasse,  hat  W.  selbst  gesehn,  der  dies 
eine  mit  nichts  Anderem  zusammenhangende  Vorstellung  nennt,  von  der  er  annimmt, 
sie  sei  aus  irgend  einem  besonderen  Anlass  der  Zeit  oder  des  Ortes  beigefügt  worden. 

75)  Archaeol.  Zeitung  1845  S.  150  ff. 

76)  N.  Rhein.  Mus.  (1850)  S.  435. 


53]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  641 

Genauer  ist  auf  Brunns  Bearbeitung  der  Responsionsfrage 77)  einzu- 
gehn,  welche,  an  diejenige  Welckers  anknüpfend,  als  deren  Fortführung 
bezeichnet  werden  darf,  und  sich  vor  jener  theils  durch  die  festgehaltene 
Voraussetzung  der  Streifentheorie,  theils  durch  eine  noch  consequentere 
Betonung  des  rein  Räumlichen  auszeichnet,  und  hauptsächlich  nur  an 
dem  Mangel  der  Unterscheidung  der  drei  Seiten  leidet.  Auch  Brunn  be- 
ginnt, wie  das  kaum  anders  möglich  ist,  mit  dem  »Mittelbilde  des  unter- 
sten Streifens«,  d.  h.  dem  äytov  bii  LleXicc ;  »hier  entsprechen  sich ,  sagt 
er,  an  beiden  Enden  Herakles  und  Akastos,  ihnen  zunächst  fünf  Zweige- 
spanne und  fünf  Männer  im  Wettlauf.  Was  etwa  die  ersteren  im  Räume 
vor  den  letzteren  voraus  hatten,  wiewohl  wir  die  Gespanne  theilweise 
einander  deckend  denken  können,  glich  sich  durch  die  grössere  Beglei- 
tung und  die  Kampfpreise  auf  Seite  des  Akastos  aus,  denn  den  Töchtern 
desselben  (vielmehr  des  Pelias)  setzt  P.  (bei  Herakles)  nur  eine  Flöten- 
spielerin entgegen«.  Wie  sich  die  Gespanne  und  die  Läufer  fast  genau 
einander  ausgleichend  denken  lassen,  zeigt  meine  Zeichnung,  auf  die  ich 
weiterhin  näher  zurückkomme,  ebenso,  wie  die  Endgruppen  einander 
aufwiegen.  »Zwischen  den  erwähnten  Gruppen  waren  ferner  zwei 
Faustkämpfer,  zwei  Ringer,  neben  diesem  noch  ein  Diskuswerfer,  der 
aber  räumlich  durch  einen  Flötenspieler  zwischen  den  Faustkämpfern  auf- 
gewogen ward.  Die  &ewfievoi  rovg  aycoviaräg,  wenn  es  nicht  Herakles 
und  Akastos  [nebst  den  Peliastöchtern  und  der  Flötenspielerin]  sind 
[wovon  ich  überzeugt  bin] ,  können  wir  uns  entweder  in  halber  Figur 
über  den  Kämpfern  hervorragend  oder  auf  Tribunen  zu  beiden  Seiten 
gleich  vertheilt  denken«.  Beides  scheint  mir  wegen  Ueberladung  des 
Reliefe  unmöglich  und  ich  denke,  Brunn  würde  diese  Yermuthung  wohl 
unterdrücken,  wenn  er  die  Sache  zu  zeichnen  versucht  hätte.  Ganz  ein- 
verstanden mit  ihm  bin  ich  aber,  wenn  er  alle  Gruppen  zu  einem  schö- 
nen Ganzen  vollkommen  abgeschlossen  nennt,  und  den  alle  Symmetrie 
aufhebenden  Iolaos  zu  der  Gruppe  mit  Herakles  und  der  Hydra  rech- 
net"). Wenn  nun  aber  Brunn  glaubt,  für  die  End Vorstellungen  (Pelops 
und  Oinomaos,  Amphiaraos'  Abschied  rechts  und  Herakles  im  Hydra- 
kampfe, Phineus  links)  ein  Gleichgewicht  voraussetzen  zu  dürfen,  wenn 


77)  Ueber  den  Parallelismus  in  der  Compositum  altgriechischer  Kunstwerke,  im 
N.  Rhein.  Mus,  v.  «847  (V.)  S.  335  ff. 

78)  S.  oben  S.  33  Note  46  u.  vgl.  unten  §.9. 


612  J.  OvEmrs.  r^ 

wir  an'h  ni'ht  im  ^tan-!e  .^.^n  A'+^'A**  na*h7nw*:**»n  >o  kann  ich  ihm 
n«V*h»  b*itret*n:  %irr!nrK*hr  g!auhe  in.  da^s  ef^n  diese  Darstellungen  die 
>eben**rten  gefallt,  und  da»5  wir  nach  einem  Gleichgewicht,  einer 
Entsprechung  unter  ihnen  deswegen  gar  nicht  zu  snchen  haben,  weil 
*ie  nicht  sleichzeitu?  übersehbar  waren,  a.ler  Paralleltsmos  also,  wäre  er 
%  ortenden  gewesen,  ohnehin  verloren  c^^san^en  wäre.  Dieser  Grund- 
*atz  gilt  mir  auch  für  die  folgenden  zf^u^  tind  nach  ihm,  der  alle  Schwie- 
rigkeit hebt,  welche  ans  der  NieMresponsion  der  Anfangs-  ond  Enddar- 
Mellnniren  fliegst,  habe  ich  schon  früher  die  Vertbeilons  auf  die  drei  Sei- 
ten  vorgeschlafen  and  habe  ich  >ie  non  in  der  Zeichnung  durchgeführt. 

Aach  für  die  zweite  jwpa  schliesst  sich  Brunn  Welckern  last  geoao 
an:  indem  er  »die Hochzeit  '?  derMedeia  ond  den  hochzeitlichen'?1  Chor 
de*  Apollon  and  der  Musen  als  grössere  Darstellung  in  der  Mitte«  auf- 
fegst, erstreckt  sich  ihm  der  ParaDelismus  auf  die  Gruppen  von  Idas  ond 
Marpessa  bis  zu  Peieus  ond  Thetis.  Die  drei  mehr  allegorischen  Grup- 
pen, Nacht  mit  Schlaf  und  Tod.  Dike  and  Adikia  und  die  Phannakeotrien 
werden  abgesondert  and  dem  von  den  Gorgonen  verfolgten  Perseus  ent- 
gegengestellt. Eine  Responsion  anter  diesen  Gegenbildern  nachzuweisen 
hat  Brunn  nicht  versacht,  das  wäre  auch  vergeblich  und  unnütz  gewe- 
sen,  sie  sind  nicht  parallel  weil  sie  den  Nebenseiten  angehören.  Trennt 
man  aber  Apollon  and  die  Musen  von  Jasons  und  Medeias  Liebesvereini- 
gung durch  Aphrodite,  wie  dies  der  Inschrift  wegen  unbedingt  geschehn 
muss,  so  wird  man  schwerlich  umhin  können,  auch  die  Gruppe  Peieus 
und  Thetis,  welche  Brunn  als  die  Eckgruppe  rechts  des  Mittelfeldes  mit 
Idas  und  Marpessa  als  derjenigen  links,  übrigens  gewiss  passend,  in  Contra- 
post stellt,  auf  die  rechte  Nebenseite  zu  verlegen,  und  nun  herüber  und 
hinüber  zu  verbinden :  Idas  und  Marpessa  —  Enyalios  und  Aphrodite, 
Zeus  und  Aikmene  —  Atlas  und  Herakles,  Menelaos  und  Helena  —  Apol- 
lon und  die  Musen,  so  dass  Iason.  Aphrodite  und  Medeia  als  Mittelbild, 
wenn  auch  von  geringerem  Umfange,  übrig  bleiben.  Wie  sich  hierbei 
der  räumliche  Parallelismus  herstellt  zeigt  meine  Tafel,  auch  die  ideelle 
Entsprechung  ist,  zum  Theil  wenigstens,  nicht  schwer  nachzuweisen,  tritt 
jedoch  gegen  die  Bedeutung  der  räumlichen  zurück. 

Für  die  vierte  %<o(>a  weicht  Brunn  stärker  von  Welcker  ab,  was  ich 
nur  billigen  kann,  da  er  es  nach  dem  Grundsatz  der  strengen  räumlichen 
Entsprechung  thut.  Der  Vorstellungen  sind  13  sagt  Brunn,  die  7.  also 
ist  die  mittelste:  Helena  mit  Aethra  und  den  Dioskuren.    Wie  diese, 


OOJ 


Über  die  Lade  des  Kypselos.  643 


welche  auf  den  ersten  Blick  den  anderen  ziemlich  gleich  zu  sein  scheint, 
sich  als  grösseres  Mittelbild  aussondert,  wenn  man  den  Dioskuren,  höchst 
wahrscheinlicher  Weise,  ihre  Rosse  beigegeben  denkt,  hat  Brunn  gut 
ausgeführt  und  habe  ich  in  meiner  Tafel  zu  veranschaulichen  versucht. 
Für  die  Endvorstellungen :  links  Boreas  und  Oreithyia,  rechts  Dionysos 
unter  Bäumen  gelagert  verzichtet  B.  auf  den  Nachweis  des  Parallelis- 
mus, der  nur  in  Ideenverbindung  zu  suchen  sein  könne,  welche  festzu- 
stellen die  Haltpunkte  fehlen.  Da  diese  Endvorstellungen  jedenfalls  den 
Nebenseiten  zufallen,  kann  uns  ihr  Nichtentsprechen  nicht  stören.  Für 
die  folgenden  Gruppen  (v.  I.  u.  r.  her) :  Herakles  und  Geryon  und  Eteo- 
kles  und  Polyneikes  sucht  B.  einen  Parallelismus  als  möglich  nachzuwei- 
sen; ich  gebe  die  Möglichkeit  zu,  kann  aber  auf  dieselbe  kein  Gewicht 
legen,  weil  ich  überzeugt  bin,  dass  auch  diese  Gruppen  auf  die  Neben- 
seiten gelegt  werden  müssen79).  Für  den  Rest  der  Gruppen,  die  auch  ich 
auf  die  Vorderseite  verlege,  gelingt  Brunn  der  Nachweis  der  Entspre- 
chung, wie  mir  scheint,  sehr  gut;  wobei  freilich  Artemis  mit  Panther 
und  Löwe  und  das  Parisurteil  den  Platz  weehselq  müssen.  Wie  füglich 
hier  eine  kleine  Unordnung  in  der  Abfolge  bei  Pausanias  angenommen 
werden  kann,  hat  Br.  ausgeführt,  dass  er  Recht  habe,  ist  auch  meine 
Ueberzeugung ;  man  zeichne  die  Sache,  und  die  Notwendigkeit  der  Um- 
stellung ergiebt  sich  von  selbst. 

Am  wenigsten  weit  ist  die  Entscheidung  für  die  oberste  %<»Qa  gediehen, 
und  zwar  allen  Bearbeitern,  nicht  nur  Brunn  und  mir.  Die  durch  den 
Mangel  der  Inschriften  bewirkte  Unsicherheit  des  Pausanias  mag  hier 
einen  Theil  der  Schuld  tragen,  ja  ich  bin  noch  nicht  einmal  gewiss,  dass 
P.  uns  alle  Figuren  genannt  hat,  die  er  sah.  Wenn  Brunn,  etwas  künst- 
lich, einen  Parallelismus  der  Endvorstellungen  nachzuweisen  sich  be- 
müht, so  halte  ich  das  für  verlorene  Arbeit,  da  ich  natürlich  diese  Vor- 
stellungen (Herakles  und  Kentauren,  Odysseus  und  Kirke)  auf  den  Ne- 
benseiten suchen  muss,  wo  mir  ihre  Nichtentsprechung  keine  Scrupel 
macht.    Anders  verhält  es  sich  mit  den  beiden  mittleren  Vorstellungen 


79)  Beiläufig;  wenn  Brunn  darauf  hinweist,  dass  in  mehren  Yasen  von  dem  drei- 
leibigen  Geryon  der  eine  Leib  bereits  als  gefallen  dargestellt  werde,  und  hierin,  unter 
der  Annahme  das  sei  ähnlich  an  der  Kypseloslade  gewesen,  einen  Parallelismus  mit 
dem  auf  das  Knie  gefallenen  Polyneikes  findet,  so  passt  das  nicht  recht  zu  den  Wor- 
ten des  Pausanias,  der  19.  \  den  Geryon  so  bezeichnet :  TQilg  de  avÖQeg  rtjQvovqg 
elaiv  akkrjkoig  TtQOVt%6n£voi. 


G44  J.   0 VERBECK,  [56 

von  so  sehr  ungleicher  Ausdehnung.  Wenn  hier  Brunn  meint,  die  klei- 
neren Nereidengespanne  finden  in  dem  grösseren  Maulthiervvagen  der 
Nausikaa  ihr  Gegengewicht,  so  will  ich  nicht  grade  widersprechen, 
auch  wenn  er  Thetis  und  Hephaestos  als  in  der  Mitte  stehend  fasst,  ent- 
spricht das  meiner  Anordnung ;  allein  für  Cheiron ,  den  auch  Brunn  als 
zu  der  Scene  der  Waffenübergabe  an  Thetis  gehörend  betrachtet,  fehlt 
mir  der  rechte  Contrapost  und  die  geringe  Ausdehnung  der  Nausikaa- 
darstellung  wird  um  so  fühlbarer,  je  mehr  man  die  andere  Darstellung 
ausdehnt.  Ob  bei  Nausikaa  Pausanias  nicht,  wie  schon  Welcker  meinte, 
die  (zu  Fusse)  begleitenden  Dienerinnen  zu  erwähnen  vergessen  hat,  und 
ob  nicht  deren  Voraussetzung  ein  grösseres  Gleichgewicht  herzustellen 
geeignet  sein  würde ,  will  ich  dahinstehn  lassen ;  ich  habe  auf  die  An- 
wendung dieses  Mittels  verzichten  zu  müssen  geglaubt. 

Brunn  verkennt  zum  Schlüsse  nicht  die  Schwierigkeiten ,  die  sich 
vielfältig  bei  der  Durchführung  des  Einzelnen  in  den  beiden  letzten  Reihen 
ihm  entgegenstellten,  und  meint,  es  werde  sich  vielleicht  Manches  ein- 
facher herausstellen,  \yenn  wir  einmal  im  Stande  sein  sollten,  den  Ideen- 
zusammenhang des  Ganzen  genügend  nachzuweisen.  Er  verzichtet  auf 
den  Versuch,  weil  wir  über  die  Veranlassung  der  Weihung  [vielmehr 
der  Anfertigung  der  Lade]  im  Dunkeln  sind,  die  doch  von  dem  Künstler 
bei  der  Wahl  seiner  Gegenstände  zunächst ,  sei  es  auch  auf  noch  so  ein- 
fache und  indirecte  Weise,  gewiss  berücksichtigt  worden  sei.  Auch  mir 
scheint  die  Zeit  noch  nicht  gekommen ,  wo  es  uns  gelingen  kann ,  wenn 
es  uns  jemals  gelingen  wird ,  den  Ideenzusammenhang  aller  Bildnereien 
an  der  Kypseloslade  nachzuweisen.  An  ein  blosses  gleichsam  zufälliges 
Zusammenwürfeln  von  Gegenständen  glaube  ich  indessen  nicht,  und 
wenn  Preller  (a.  a.  0.  S.  296  f.)  uns  auf  ein  solches  hinweist,  weil  es 
bisher  auch  noch  nicht  gelungen  ist,  den  Ideenzusammenhang  der  Bilder 
an  der  Frangoisvase  genügend  darzuthun ,  so  urteile  ich  hierüber  heute 
nicht  anders  als  früher M),  wo  ich  aussprach,  solche  Probleme  sollten  als 

• 

Gegenstand  der  Forschung  immer  aufs  Neue  hingestellt,  und  nicht,  weil 
sie  bisher  ungelöst  sind ,  durch  eine  negative  Kritik  bequemer  Weise  bei 
Seite  geschoben  werden.  Einstweilen  glaube  ich ,  dass  die  Hauptarbeit 
in  dem  Nachweis  des  rein  räumlichen  Parallelismus  zu  bestehen  hat,  und 
in  Beziehung  auf  diesen  hoffe  ich  noch  heute,  wie  früher  (a.  a.  0.)  einen 


80)   Geschichte  d.  griech.  Plastik  a.  a.  0. 


57]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  645 

Theil  der  Schwierigkeiten ,  auf  welche  Brunn  stiesß ,  hinweggeräumt  zu 
haben  durch  die  Vertheilung  der  Bildwerke  auf  drei  Seiten  der  Lade, 
welche  aus  anderen  Gründen  für  mich  feststeht  (s.  oben  S.  38  f.).  Ge- 
billigt hat  meinen  Gedanken  und  ihn  zu  begründen  versucht  Mercklin  in 
der  Archaeol.  Zeitung  von  1860  S.  101  ff.;  da  M.  aber  seine  Gründe 
auf  die  von  ihm  zuerst  gründlicher  behandelten  Inschriften  stützt,  so 
haben  wir  diese  zunächst  zu  prüfen  und  was  über  sie  zu  sagen  ist ,  zu- 
sammenzustellen . 

7. 
Die  Inschriften. 

Was  Pausanias  über  die  Inschriften  sagt  ist  dies:  (17.  3)  rmv  de 
inl  rfj  kaQvcau  ijnygdfifuxra  Znemi  roig  nkeioai  yqafifiaai  roig  aqxaioig 
yeyQa/i/uva '  %al  ra  ftiv  ig  ev&v  avrwv  e%ei  9  axijfuxra  di  akka  rwv  yqa^ 
fidrtov  {miyQafifidnov?)  ßovoTQoepTjddv  %ccXov<jip"EXXt]V€S  .  •  •  yeyqaTtrai 
di  eni  rfj  Xdqva%i  xal  äXk&g  ra  irny^dfifiara  ikiyfioig  avfißaXeo&cu  jfafc- 
notg.  Weiterhin  im  Laufe  seiner  Beschreibung  unterscheidet  Pausanias 
einzelne  Namen  und  Verse.  Die  Auslegung  der  eben  mitgetheilten  Worte 
des  Pausanias  ist  in  einzelnen  Punkten  nicht  ganz  unbestritten ,  scheint 
mir  aber ,  wenn  man  nur  alle  Willkür  fern  hält ,  einfach  genug.  Ueber 
die  alte  Form  der  Buchstaben  zu  reden  ist  unnöthig,  die  versteht  sich 
bei  diesem  Kunstwerke  von  selbst ,  wichtiger  ist  die  Richtung  der  Epi- 
gramme. Pausanias  unterscheidet  dreifach,  rä  füv  ig  evfrv  avrwv  tx*<, 
also  sind  in  einer  Richtung,  gleichviel  in  welcher,  gradeaus  geschrieben, 
andere  sind  bustrophedon  geschrieben,  noch  andere  ikiypoig  avpßak-o&ai 
Xcdenolg.  Was  ßovarQO(ptjd6v  sei  erklärt  Pausanias  (and  rov  ne^arog  rov 
tnovg  i7Tior()6(p€i  rtav  inwv  ro  devregov  wo7ieQ  iv  diavkov  dpo/up)  und  das 
ist  bekannt  und  unzweifelhaft ;  bleiben  die  ikiy/iol  ov/jßcdeo&ai  xaUnoi. 
Hier  ist  Zweifel ;  Schubart  behauptet  in  einer  Note  zu  seiner  Uebersetzung 
(S.  390.  87)  die  »schwer  zu  entziffernden  Windungen«  können  sich  eben 
so  wohl  auf  die  Züge  der  einzelnen  Buchstaben  beziehn  wie  auf  die 
Windungen  der  Zeilen;  Mercklin  widerspricht  S.  102,  wie  ich  nicht 
zweifle ,  mit  Recht.  Von  den  y^d/i/iaai  hat  Pausanias  anfangend  gesagt, 
dass  sie  alt  seien ;  was  er  weiter  aussagt  bezieht  sich  auf  die  SmyQa/i- 
futra%x)%  so  nach  seinem  Wortlaut  {jhziyQ.  ineari  ye/Qafifuva  •  %ai  ra  fuv 

84)  So  hat  schon  Völkel,  Archaeol.  Nachiass  S.  4  58  mit  Verweisung  auf  das 
samothrakische  Relief  richtig  erklärt. 


646  J.  Ovebbeck,  [58 

avrcop  x.  r.  A.  .  .  aXka  twp  \int\yqamiwtfAV  ßov<5T()0<pi{döv  xakovai 

yiyqamai  di  inty^afifiara  ekty/uoig  etc.)  und  so  nach  dem  allein  mög- 
lichen Sinne,  was  namentlich  daraus  hervorgeht,  dass  einzelne  Buch- 
staben nicht  bustrophedon  geschrieben  werden  können ,  weswegen  das 
yga/Afidrow  auch  wohl  in  miygafi/Lidrcov  zu  ändern  sein  wird.  Auch 
heisst  Gv/ußcdto&ai  #ttA«ro/s  nicht  wörtlich  «schwer  zu  entziffern« ,  son- 
dern schwer  zusammenzuzählen,  zusammenzusuchen  oder  zusammenzu- 
lesen, was  sich  nur  auf  die  Windungen  der  Zeilen  beziehn  kann.  Auch 
an  Beispielen  solcher  in  ikiyfioig  avfißakea&ai  xaXenoh  geschriebenen 
alten  Inschriften  fehlt  es  bekanntlich  nicht ,  sie  finden  sich  zunächst  auf 
vielen  Vasenbildern  der  ältesten  Art82),  dann  auch  in  Steinschriften  welche 
aber ,  da  sie  nicht  mit  Figurendarstellungen  verbunden  sind ,  hier  nicht 
in  Frage  kommen  können  **) ;  endlich  mögen  hier  auch  die  Aufschriften 
auf  Schilden 84)  mit  eingerechnet  werden85).  —  Was  nun  aber  die  Unter- 
scheidung der  drei  Arten  von  Inschriften  auf  der  Ky pseloslade ,  näm- 
lich der  gradeaus ,  der  bustrophedon  und  der  in  Windungen  geschrie- 
benen anlangt,  hatMercklin  S.  102  behauptet,  die  gradeaus  geschriebenen 
Bpigrammata  seien  die  einzelnen  Verszeilen,  die  bustrophedon  geschrie- 
benen die  Doppelhexameter,  die  in  Windungen  geschriebenen  mit  einer 
Ausnahme  (des  Hexameters  auf  Agamemnons  Schilde,  der  möge  iv  ikiy- 
/wie  geschrieben  sein  S.  106),  die  einzelnen  Namen.  Das  aber  ist  bare 
Willkür  und  nichts  Anderes,  und  Schubart  hat  ganz  Recht,  wenn  er 
S.  31 1  die  üiy/uol  auch  für  die  Verszeilen  und  ganz  besonders  für  diese 
in  Anspruch  nimmt.  In  Wahrheit  ist  keine  Art  der  Inschriften ,  Namen, 
einfache  und  doppelte  Verszeilen  von  der  Schreibung  iv  iXiyfwh  ausge- 


82)  Nur  beispielsweise  will  ich  auf  folgende  besonders  charakteristische  ver- 
weisen ,  in  denen  sich  die  meisten  iktypol  meiner  Beischriften  wiederfinden.  Mon.  d. 
Inst.  I.  24  (Sosiasschale),  39  (Gespräch,  um  Palmetten  geschrieben),  II.  4  4  (im  Kreise 
um  das  Bild),  24  (Gespräch,  der  Schwalbe  Rückkehr),  44.  A.  (O)ivenerndte)  und  B. 
(nach  derselben,  Gespräch),  IV.  54 — 57  (Francoisvase),  59  (Kylix  des  Glaukytes  u. 
Archikles,  auch  b.  Gerhard,  Auseri.  VB.  3.  235—36),  V.  10;  VI.  4  4,  15,  19,  22, 
33.  Gerhard,  Auserlesene  Vasenbb.  I.  6,  20 — 24,  22,  25,  62;  II.  90,  92,  403,  107, 
121  ;  III.  168,  488,  490—94,  492,  206,  223  und  227. 

83)  Auf  die  Inschriften  des  bekannten  samothrakischen  Reliefs  mit  Agamemnon, 
Thalthybios  und  Epeios  ist  schon  von  Anderen  (Völkel,  Siebeiis,  Mercklin)  hingewiesen 
worden. 

84)  z.  B.  Paus.  5.  4  0.  4;  25.  4  0.    Vgl.  Mercklin  a.  a.  O.  S.  4  06  Note  4  0. 

85)  Richtig  subsumirt  Schubart  S.  34  4  die  bustrophedon  geschriebenen  Bpigram- 
mata unter  die  in  Windungen  geschriebenen,  und  zwar  des  nal  äkktag  wegen. 


59]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  647 

schlössen,  wenngleich  wir  die  einzelnen  opo/iara  von  der  Schreibung 
bustrophedon  auszuschliessen  haben.  Nicht  ganz  so  willkürlich,  aber 
eben  so  verkehrt  ist  Mercklins  Annahme  S.  406  die  Verse  hatten  unter 
den  zugehörigen  Bildwerken  gestanden,  was  er  daraus  schliessen  will, 
dass  es  von  einem  Hexameter  (19.  4)  heisst,  er  stehe  vitty  rov  'Tipido- 
juavTog  vexqov.  Auch  auf  diesem  Punkte  ist  er  durch  Schubarts  Ausein- 
andersetzung S.  314  f.,  die  ich  hier  nicht  wiederholen  will,  zurückge- 
wiesen. Ueber  dem  Leichnam  des  Iphidamus  stand  der  Vers  wie  in 
Vasen  über  anderen  Gefallenen  der  Name  steht86),  aus  dieser  Angabe 
folgt  für  die  Stellung  der  übrigen  Inschriften  gar  Nichts,  sie  stehn,  wie 
Personennamen  und  Künstlerinschriften  in  Vasenbildern  und  wie  die  drei 
Namen  auf  dem  samothrakischen  Relief,  wo  Platz  war,  und  eben  des- 
wegen ,  weil  sie  den  von  den  Figuren  freigelassenen  Platz  zu  occupiren 
hatten,  waren  sie  iv  iXiy/uoig  geschrieben. 

Inschriften,  sagt  Pausanias,  stehn  zu  den  meisten  (toig  nteioai)  der 
Darstellungen  auf  der  Kypseloslade,  nicht  zu  allen.  Er  selbst  giebt  aus- 
drücklich das  Fehlen  derselben  an  zunächst  für  die  ganze  5.  #*)(>«,  dann 
folgt  es  aus  des  Beschreibers  Worten  für  die  ganze  dritte ,  wo  P.  nicht 
im  Zweifel  über  den  Gegenstand,  über  die  Bedeutung  der  Schlacht  hotte 
sein  können,  wenn  auch  nur  ein  Name  beigeschrieben  gewesen  wäre. 
Für  die  übrigen  drei  xcopa*,  welche  Beischriften  hatten,  giebt  Pausanias  das 
Fehlen  derselben  bei  einzelnen  Figuren  direct  an  im  ersten  Felde ;  hier 
hatte  keine  Beischrift  die  Alte ,  welche  den  kleinen  Ampbilochos  trug, 
die  Flötenspielerin  hinter  Herakles  im  aytiv  int  /7*A*a87),  ferner  dieser 
selbst,  ebenso  der  Flötenbläser  zwischen  den  Faustkämpfern  Mopsos  und 
Admetos,  sodann  die  Töchter  des  Pelias  mit  Ausnahme  der  Alkestis8*) 
und  endlich  der  Herakles  im  Hydrakampfe.  In  den  beiden  übrigen  mit 
Inschriften  versehenen  Feldern  [i  u.  4)  erwähnt  Pausanias  nur  für  den 
Herakles  mit  Atlas  im  zweiten  (1 8. 4)  das  Fehlen  der  Beischrift  ausdrücklich. 


86)  Vgl.  nur  z.  B.  Gerhard,  Auserl.  Vasenbb.  3.  192,  205,  223,  m.  Gall.  Taf. 
28.  3. 

87)  Denn  sieber  ist  hier  zu  lesen  Tavttjg  ttjg  yv*cu*bg  ijtlyQa/Afia  ixneoti*  rpiq 
iori,  nicht  intaxt. 

88)  Tb  di  ovofia  im  ty  '4kxq<jrtdt  yiyQvntai  popy  n.  H .  Wenn  dazu  Schu- 
bart a.  a.  0.  S.  3H  bemerkt:  »die  übrigen  waren  ohne  Zweifel  durch  die  Betschrift 
&vyccztQtg  TliXlov  kenntlich  gemacht«,  so  sehe  ich  nicht  ein,  wo  das  Unzweifelhafte 
einer  solchen  Annahme  stecken  soll,  die  mir  sehr  unwahrscheinlich  vorkommt. 


650  J.  Overbbck,  [68 

Pelops  und  Oinoroaos  mag  man  es  wegen  der  von  Pausanias  hervorge- 
hobenen Flügel pferde  des  Pelops  glauben,  für  Phineus  mit  den  Harpyien 
desgleichen ,  allenfalls  auch  noch  bei  Peleus  und  Thetis ,  bei  Boreas  und 
Oreiihyia ;  leicht  bei  Herakles  und  Geryon,  ja  es  wäre  wunderlich  genug, 
wenn  man  hier  eine  Beischrift  bei  Herakles  für  nöthig  gefunden  hätte, 
während  sie  drei  Mal  bei  ihm  als  fehlend,  weil  überflüssig,  hervorgehoben 
wird.  Auch  bei  dem  unter  Bäumen  gelagerten  Dionysos  mag  das  gelten, 
und  allenfalls  bei  Achilleus  und  Memnon  mit  ihren  Müttern  und  bei 
Eteokles  und  Polyneikes.  Schwer  glaublich  aber  ist  dies  bei  Zeus  und 
Alkmene ,  Menelaos  und  Helena ,  Theseus  und  Ariadne ,  Meilanion  und 
Atalante,  Aias  und  Hektor,  Artemis,  der  geflügelten,  oder  gar  Dike  und 
Adikia!  Erklärten  sich  diese  Personen  und  Scenen  von  selbst,  nun,  so 
ist  nicht  abzusehn ,  warum  überhaupt  e  i  n  Name  beigeschrieben  worden 
wäre ,  und  vollends ,  wenn  auch  die  Kämpfer  in  den  Leichenspielen  des 
PeUas  nicht  benannt  worden  wären.  Erwägt  man  dieses,  und  bedenkt 
man,  wie  zahlreich  in  den  alten  Vasen  die  Beischriften  nicht  nur  zu  Per- 
sonen, sondern  selbst  zu  Gegenständen  sind,  so  wird  man  schwerlich  umhin 
können,  sich  für  die  Alternative  zu  entscheiden,  die  Mercklin  vorgezogen 
hat,  dass  die  Namen  standen,  wo  Pausanias  sie  nicht  als  fehlend  be- 
zeichnet. Allein  auch  dieses  mit  einer  Einschränkung.  In  den  Scenen, 
wo  Pausanias  nur  den  Namen  einer  Person  angiebt :  bei  Enyalios  und 
Aphrodite,  Perseus  und  den  Gorgonen,  Eteokles  und  Polyneikes  ist  es 
immerhin  vorsichtiger,  das  Fehlen  der  Beischrift  bei  den  anderen  Per- 
sonen anzunehmen,  als  das  Gegentheil ;  am  wenigsten  kann  ich  Schubart 
beitreten,  wenn  er  S.  312  meint,  die  Perseus  verfolgenden  Gorgonen 
hätten  die  Beischrift  adeXyai  Medovotje  gefllhrt.  Aus  einem  eben  schon 
angedeuteten  Motive  kann  ich  auch  nicht  glauben,  dass  Herakles  im 
Kampfe  mit  Geryon  inschriftlich  benannt  gewesen  sei. 

Was  nun  hiernach  die  Vertheilung  der  Beischriften  auf  die  einzelnen 
Theile  des  Bilderschmucks  der  ka$va£  anlangt,  glaubt  Mercklin  S.  104 
folgende  Ergebnisse  der  Untersuchung  hinstellen  zu  können.  1 .  »Hexa- 
metrische Zeilen  und  einzelne  Namenangaben  treffen  nirgend  zusam- 
men, sondern  schliessen  sich  gegenseitig  aus«.  Diesen  Satz  muss  ich  in 
dem  Sinne,  in  welchem  Mercklin  ihn,  wie  der  weitere  Zusammenhang 
zeigt,  verstanden  hat,  bestimmtest  in  Abrede  stellen.  Es  ist  ja  ganz  ein- 
fach Thatsache,  dass  im  2.  und  4.  Felde  Verse  und  einzelne  Namenbei- 
schriften mit  einander,  wenn  auch  ohne  Regelmässigkeit,  abwechseln. 


63]  Ober  die  Lade  des  Ktpselos.  651 

Nur  darüber  könnte  Zweifel  sein ,  ob  in  einem  Bilde ,  wo  nicht  alle  an* 
wesenden  Personen  ohnebin  im  Verse  genannt  waren,  den  einzelnen 
Personen  die  Namen  beigeschrieben  waren,  wie  ich  glaube,  oder  nicht. 

2.  »Die  Namenangaben  sind  von  keinem  Theile  der  Bildflachen  aus- 
geschlossen,   die  hexametrischen  Zeiten  finden  sich  dagegen  nie 

zu  Anfang  und  Ende  der  Streifen,  sondern  nur  in  der  Mitte«. 

Diese  Beobachtung  ist  eben  so  augenscheinlich  richtig,  wie  die 
erstere  falsch  ist,  auch  hat  Schubart  sie  anerkennen  müssen,  obwohl  er 
S.  312  gegen  den  Schluss,  den  Mercklin  aus  derselben  zieht  allerlei  Ein- 
wendungen macht,  die  mir  zu  den  wenigst  gelungenen  Stücken  seines 
Aufsatzes  zu  gehören  scheinen.  Mercklin  nämlich  schliesst,  dass  durch 
die  nur  ihnen  beigegebenen  Hexameter  die  Bilder  der  Vorderseite  aus- 
gezeichnet und  gegen  die  nur  mit  Namenbeischriften  versehenen  Bilder 
der  Nebenseiten  unterschieden  werden  sollen.  Er  glaubt  durch  diese 
Bemerkung  die  von  mir  getroffene  Vertheilung  der  Bilder  auf  Haupt-  und 
Nebenseite  überhaupt  und  auch  gegenüber  der  abweichenden  Anordnung 
Brunns  rechtfertigen  zu  können,  und  führt  das  im  Einzelnen  durch. 

So  willkommen  mir  nun  auch  eine  solche  Unterstützung  meiner  An- 
ordnung sein  würde,  und  so  gern  und  bereitwillig  ich  anerkenne,  dass 
in  der  That  in  der  Beigabe  von  Versen  ein  Auszeichnen  und  Hervorheben 
(schon  für  das  Auge  und  ganz  besonders  für  dieses)  der  mit  ihnen  ver- 
sehenen Bilder  liege8*),  welches  den  auch  nach  andern  Gründen  auf 
der  Vorderseite  befindlichen  zu  Gute  kam ,  so  kann  ich  Mercklins  Ver- 
muthung  doch  für  mich  nicht  utiliter  acceptiren.  Erstens  nämlich  kann 
er  durch  seine  Annahme  nicht  beweisen ,  was  er  doch  will  (bei  Peleus 
und  Thetis) ,  dass  ein  Bild  ohne  Vers  nicht  auf  die  Vorderfläche  gehöre ; 
denn  dergleichen  sind  hier  gar  nicht  selten,  und  zweitens  sind  die  Verse 
mit  einer,  anscheinend  wenigstens,  so  vollkommenen  Systemlosigkeit 
räumlich  über  die  Fläche  sowohl  innerhalb  der  einzelnen  %to^ai  wie 
wiederum  auf  diese  in  ihrer  Gesammtheit  vertheilt ,  dass  es  höchst  un- 


89)  Sehr  unwillig  muss  doch  auch  Schubart  das  anerkennen;  denn  wenn  er 
S.  312  sagt:  »will  man  für  den  Umstand,  dass  wirklich  die  hexametrischen  Inschrif- 
ten nur  in  der  Mitte  der  Bilder  erwähnt  werden,  einen  Grund  suchen  —  der  Zufall  ist 
bfos  Nothbehelf  —  so  konnte  ja  der  Künstler  bei  den  ausgiebigeren  Inschriften  in  der 
Mitte  die  Absicht  haben ,  grade  hier  eine  grössere  Fülle  zu  concentriren  und  dadurch 
dem  Bilde  einen  in  die  Augen  fallenden  Mittelpunkt  zu  schaffen«,  so  ist  das  ja  in  der 
That  eine  Bestätigung  von  Mercklins  Annahme. 


652  J.  Ovekbeck,  [R* 

wahrscheinlich  wird ,  sie  haben  räumlich  wirken  sollen ,  und  seien  des- 
wegen angebracht.  Was  immer  der  Grund  ihrer  Anbringung  gewesen 
sein  mag,  dass  es  kein  künstlerischer  oder  wenigstens  zunächst  kein 
künstlerischer  war,  das  wage  ich  bestimmt  zu  behaupten.  Damit  aber 
fällt  für  meine  auf  rein  räumlichen  und  künstlerischen  Motiven  beruhende 
Restauration  die  Benutzbarkeit  der  Mercklin'schen  Beobachtung  hinweg. 
In  Beziehung  auf  die  Inschriften  bleibt  uns ,  so  viel  ich  sehe  nur 
noch  eine  Frage  zu  berühren ,  die  Schubart  ganz  zum  Schlüsse  S.  31 5 
aufwirft ;  nämlich :  »wie  waren  die  Inschriften  eingelegt ,  mit  Gold  oder 
Elfenbein?  oder  wie  sonst  hat  man  sich  das  Technische  zu  denken?« 
Eine  positive  Antwort  auf  diese  Frage  ist  der  Natur  der  Sache  nach 
nicht  wohl  möglich ,  allein  ich  denke  doch ,  dass  man  sich  für  die  An- 
nähme,  dass  die  Inschriften  in  goldenen  Buchstaben  eingelegt  waren,  als 
für  die  wahrscheinlichste  entscheiden  wird.  Aus  dem  Holze  geschnitzt, 
wie  ein  Theil  der  Bilder,  konnten  sie  nicht  wohl  sein,  denn  das  hätte  ihre 
Lesbarkeit  in  übertriebenem  Maasse  erschwert ;  waren  sie  aber  aus  einem 
vom  Grunde  verschiedenen  Stoffe  eingelegt,  oder  auch  in  Relief,  erhaben, 
aufgeheftet,  so  ist  ihre  Herstellung  aus  dem  spröden,  schwer  zu  ver- 
arbeitenden und  leicht  zerstörbaren  Elfenbein  gewiss  unwahrscheinlicher 
zu  nennen  als  ihre  Verfertigung  aus  Gold.  Dies  um  so  mehr,  je  mehr 
sie  sich  dem  Charakter  des  Ornaments  näherten,  und  je  wahrscheinlicher 
man  sich  grade  das  Ornamentale  in  den  einzelnen  Bildern  als  aus  Gold 
gebildet  zu  denken  hat. 

8. 

Die  Technik  der  Bildwerke. 

Wir  gelangen  damit  überhaupt  zu  den  technischen  und  artistischen 
Fragen ,  an  denen  ich  nicht  glaube  vorbeigehn  zu  dürfen ,  obwohl  ich 
hier  doppell  bescheiden  aufzutreten  wünsche ,  sintemal  ich  mit  Pindar 
sagen  muss :  ovx  avÖQiavronoios  ufit. 

Die  Lade  ist  aus  Gedernholz  gemacht,  Xdqvai  ned^ov  neTioiijrcu  sagt 
Pausanias  17.  5.  Aber  wie?  Die  Untersuchungen  über  die  Holzart,  wie 
sie  sich  bei  Heyne  und  Siebeiis  finden90),  scheinen  mir  ziemlich  unerheb- 
lich ,  nicht  so  ganz  diejenigen  über  die  Tektonik  der  Lade.  Wir  haben 
derselben  eine  Ausdehnung  von  3  Fuss  Höhe,  3  Fuss  9  Zoll  Länge 

90)  Heyne  a.  a.  0.  S.  9,  Siebeiis  Amahh.  a.  a.  0.  S.  «58. 


65]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  653 

und  2  Fuss  8y2  Zoll  Breite  gegeben;  dass  sie  aus  einem  massiven  Stamm 
gearbeitet  gewesen ,  wie  es  kleinere  Kasten  auch  noch  heute  sind ,  ist 
dabei  wohl  unmöglich  anzunehmen.  Da  demgemäss  wohl  ein  Zusammen- 
fügen aus  verschiedenen  Brettern  statuirt  werden  muss,  über  deren  Zu- 
sammenheften an  den  Enden  und  Kanten  der  Lade  ich  keine  Conjectur 
vorzutragen  weiss ,  so  fragt  es  sich ,  ob  nicht  in  diesen  der  Länge  nach 
über  einander  zusammengefügten  Brettern  das  Grundschema  der  ganzen 
Streifenornamentik  schon  gegeben  war,  und  zwar  so,  dass  die  Höhe 
(Breite)  je  eines  Brettes  den  Raum  einer  ^oopa  hergab,  während  die  Fugen 
in  die  trennenden  Ornamentleisten  fielen?  So  mochten  die  xüqcu  einzeln 
geschnitzt  und  fertig  gearbeitet  und  sodann  zum  Ganzen  verbunden 
werden. 

Die  Bildwerke  auf  der  Lade  nämlich  waren  theils  von  Elfenbein, 
theils  von  Gold ,  einige  aber  auch  aus  dem  Holze  des  Kastens  selbst  ge- 
schnitzt, sagt  Pausanias91).  Halten  wir  uns  genau  an  diesen  Wortlaut, 
so  werden  wir  annehmen  müssen ,  dass  das  Elfenbein  und  Gold  in  den 
Bildnereien  das  Holz  überwog;  zunächst  aber  ist  noch  zu  bemerken, 
dass  an  zwei  Stellen  explicite  noch  ein  vierter  Stoff,  wenigstens  eine 
vierte  Farbe ,  nämlich  Schwarz  erwähnt  wird ;  die  Nyx  der  2.  x®Qa  hat 
einen  weissen  Knaben  (Schlaf)  und  einen  schwarzen  (Tod)  in  den  Armen 
(18.  1)  und  in  der  4.  ^capa  ist  (19.  3)  die  unter  Helenas  Ftisse  getretene 
Aethra  mit  einem  schwarzen  Gewände  angethanw).  Ob  diese  schwarzen 
Theile  aus  Ebenholz  gefertigt  waren,  was  ich  für  wahrscheinlicher  halten 
muss ,  oder  nur  schwarz  gebeizt,  ist  zu  wissen  weniger  wichtig,  als  das 
Andere ,  worauf  leider  auch  keine  Antwort  möglich  ist,  ob  die  schwarze 
Farbe  auf  diese  beiden  Stellen  beschränkt  oder  auch  sonst  noch  ange- 
wendet war,  wo  Pausanias  es  nicht  sagt.  Ich  gestehe,  dass  ich  Ersteres 
nicht  recht  glauben  kann,  werde  mich  aber  wohl  hüten,  mit  Vermuthun- 
gen  über  weitere  Anwendung  der  schwarzen  Farbe  ein  unnützes  Spiel 
zu  treiben. 

Leider  giebt  nun  aber  Pausanias  auch  über  die  Anwendung  der 
drei  anderen  Materialien,  des  Goldes,  Elfenbeins  und  Holzes  auf  die  ein- 
zelnen Theile  der  Bildwerke  nur  höchst  unzulängliche  Andeutungen.  Von 


9  \ )  £(j)dia  Öl  itiyavtoq  tri  avrtjg ,  rd  dl  %qvoov  ,  ra  dl  xai  *'£  airrfjg  iativ  ttQ- 
yaoptva  tfjg  xtdgov. 

92)  Schubart  hat  hierauf  S.  304  zuerst  auftnerksaro  gemacht. 

Abhandl.  d.  K.  S.  Gesellich.  d.  Wiitentcb.  X.  44 


654  J.  OVBBBBCK,  [«• 

dem  Holze  spricht  er  gar  nicht  wieder;  weiss,  also  doch  wohl  aus  Elfen- 
bein gefertigt ,  nennt  er  den  einen  Knaben  (Schlaf)  in  den  Annen  der 
Nyx  (18.  I),  und  als  golden  bezeichnet  er  19.  6  den  Becher  des  lagern- 
den Dionysos  und  1 9.  8  die  Flügel  der  Nereidenrosse.  Das  ist  Alles ; 
aber  auch  aus  diesem  höchst  Wenigen  wird  sich  wenigstens  Einiges  fol- 
gern lassen.  Beginnen  wir  mit  dem  Golde,  so  ergiebt  sich  aus  Pausa- 
nias'  Erwähnung  desselben,  dass  es  auf  einzelne  Theile  angewendet  war, 
und  dass  es  unter  diesen  wenigstens  bei  dem  emw/ta  des  Dionysos  den 
natürlichen  Stoff  wiedergab.  Wenn  ich  nun  annehme,  dass  dem  gemäss 
auch  sonstige  xQv<**a  von  Gold  gefertigt  waren,  wie  namentlich  die  Hals- 
bänder der  Eriphyle  und  der  Alkmene,  der  Becher,  den  Zeus  eben  dieser 
Alkmene?  neben  dem  Halsbande  darbot,  ferner  die  Preisdreifilsse,  sodann 
die  Hesperidenäpfel  in  Atlas'  Hand,  und  etwa  die  Sterne  auf  dem  von  ihm 
getragenen  Polos  oder  Uranos,  so  fürchte  ich  hiergegen  keinen  Wider- 
spruch. Aber  ich  frage  weiter :  ergiebt  sich  nicht  aus  Pausanias'  Anfüh- 
rungen indirect ,  dass  nur  Theile  der  Figuren ,  nicht  ganze  Figuren  aus 
Gold  gefertigt  waren?  wie  es  aus  den  Eingangsworten  Cqbiia  .  .  .  rd  di 
XQvoov ioriv  eiQyaafieva  scheinen  könnte ;  ist  es  überhaupt  an- 
nehmbar ,  dass  in  dieser  Technik  ganze  Figuren  mit  Haut  und  Haar  aus 
Gold  gefertigt  waren?  und  wenn  dies  schwerlich  bejaht  werden  wird, 
ist  es  da  nicht  das  bei  weitem  Wahrscheinlichste,  dass  aus  Gold  bestanden 
1.  Schmucksachen,  2.  Waffen  oder  wenigstens  Waffen  theile,  namentlich 
Schilde,  Panzer,  Schwerter,  oder  3.  Waffenornamente«  zumal  Schild- 
zeichen ,  dann  aber  auch  Kleiderornamente  besonders  Säume  und  Ver- 
brämungen, endlich  4.  etwa  noch  Pferdezttgel,  etliche  Wagen,  wenn 
nicht  alle,  die  Früchte  an  den  Bäumen  um  den  lagernden  Dionysos? 

Mich  dünkt  dies  ist  die  rationelle  und  im  Geiste  der  griechischen 
Kunst  gehaltene  Anwendung  des  Goldes,  das  übrigens  leicht  verschieden, 
glänzend  oder  matt  gehalten,  und  dadurch  noch  stärker  mimetisch  sein 
konnte ;  mich  dünkt  aber  auch ,  dass  eine  so  ausgedehnte  Verwendung 
des  Goldes  Pausanias  berechtigte,  mit  freilich  nicht  streng  genauen»  Aus- 
drucke zu  sagen :  £<pdia  .  .  .  ra  de  %qvgov  .  .  .  ioriv  tiQyaa/ieva*  Dass 
das  Gold  dünn  ausgetrieben,  atpvQrjkwrov,  und  dann  dem  Holze  mit  Nieten 
oder  Stiften  aufgeheftet  war,  scheint  mir  die  nächstliegende,  fast  unver- 
meidliche Annahme. 

Wir  kommen  zum  Elfenbein.  Aus  diesem  Stoffe  war  allerdings  eine 
ganze  Figur,  der  Schlaf  in  den  Armen  der  Nacht,  allein  das  ist  nicht  eine 


67]  Über  die  Lids  des  Kypselos.  6Ö5 

Figur  wie  alle  anderen,  sondern  ein  nackter  Knabe,  wahrend  die  übrigen 
Figuren  grösstenteils  bekleidet  oder  gerüstet  waren.  Sollte  sich  hieraus 
in  Verbindung  mit  dem  über  die  Verwendung  des  Goldes  Gesagten  nicht 
als  das  Wahrscheinlichste  ergeben  —  und  nur  frageweise  mag  ich  auch 
hier  meine  Vermuthungen  aussprechen  — ,  dass  aus  Elfenbein  auch  im 
Uebrigen  das  Nackte  hergestellt  war,  und  zwar  nicht  bei  allen  Figuren, 
sondern  bei  denen,  welche  nach  Maassgabe  der  Vasenmalerei  die  nächsten 
Analoga  zudem  Knaben  bieten93),  bei  den  Weibern  nämlich?  Ist  es  nicht 
ferner  nach  Maassgabe  derselben  einzigen  Analogie  die  wir  haben ,  der 
Vasenmalerei,  anzunehmen,  dass  ausser  den  Weibern  hie  und  da,  viel- 
leicht sogar  in  regelmässigem  Wechsel  mit  dunkel  (ans  Holz)  dargestell- 
ten, ein  Pferd94),  dass  ferner  (wie  speciell  an  der  Frangoisvase)  bauliche 
Einzelheiten  z.  B.  am  Hause  des  Amphiaraos,  an  dem  Tempel  oder  der 
diesen  vertretenden  Säule  bei  Idas  und  Marpessa,  dass  die  Kiine  des 
Odysseus  und  der  Kirke,  die  vorkommenden  Throne  u.  dgl.  m.  weiss, 
d.  h.  aus  Elfenbein  gebildet  gewesen?  Für  das  Holz  bliebe  auch  so 
noch  Manches  übrig,  namentlich  das  Nackte  der  Männer,  manche  Pferde, 
die  verschiedenen  Hohlen  u.  dgl. ;  allein  bei  dem  Überwiegenden  Ein- 
druck des  Goldes  und  Elfenbeins  scheint  das  nicht  zu  Viel  zu  sein ,  um 
Pausanias'  Ausdruck  zu  rechtfertigen ,  der  die  aus  dem  Holze  der  Lade 
selbst  geschnitzten  Theile  zuletzt  und  mit  ra  dl  %al  anführt. 

Mag  aber  Viel  oder  Wenig  aus  dem  Holze  des  Grundes  geschnitzt 
gewesen  sein ,  in  jedem  Falle  bedingte  dies  die  Art  der  Beliefbildnerei 
auch  für  die  aus  Gold  und  Elfenbein  geformten  Theile.  In  welchem 
Grade  erhoben  das  Relief  an  der  Kypseloslade ,  ob  es  flach  oder  halb- 
erhoben war,  denn  an  Hochrelief  wird  wohl  kaum  Jemand  denken,  kön- 
nen wir  nicht  sagen,  obgleich  mir  die  Annahme  eines  flachen  Reliefe, 
wie  wir  es  z.  B.  an  der  samothrakischen  Platte  kennen,  wahrscheinlicher 
vorkommt,  als  ein  stärker  erhobenes.  Behaupten  aber  können  wir,  dass 
wenn  das  Relief  aus  der  Masse  des  Holzes  der  Lade  gewonnen  wurde, 
schon  dadurch  das  Stehenbleiben  von  Stegen  und  Leisten  bedingt  ist, 
von  denen  die  letzteren  zugleich  als  die  Standflächen  der  Figuren  dienten. 
Dass  ich  in  dieser  Ueberzeugung  mit  Ruhl,  dem  Künstler»  zusammentreffe 


93)  Vgl.  Gerhard,  Auserl.  Yasenbb.  3.  Taf.  223. 

H)  z-  B.  die  Nereidenpferde  wie  dasjenige  des  Poseidon  bei  Gerbard  a.  a.  0.  4. 
Taf.  10. 

44* 


656  J.  0 VERBECK,  [68 

gereicht  mir  zur  besonderen  Genugthuung  und  giebt  mir  ein  Gefühl  von 
Sicherheit. 

Die  Leisten  zwischen  den  einzelnen  Feldern  focopais)  aber,  welche 
ich  als  leere  Flächen  nicht  zu  denken  vermag,  sondern  nur  als  mit  Orna- 
ment gefüllt  mir  vorstellen  kann,  dienten  auch  noch  einem  anderen  wich- 
tigen Zwecke ,  welchen  ich  jedoch  im  Zusammenhange  mit  meinem  ge- 
sammten  Restaurations versuche  zu  entwickeln  vorziehe. 


9. 

Rechtfertigung  des  Herstellungsversuchs  in  der  beigegebenen 

TafeL 

Es  bleibt  mir  nämlich  nun  noch  übrig,  meinen  in  der  beigegebenen 
Tafel  gemachten  Restaurationsversuch  im  Ganzen  .und  im  Einzelnen  zu 
rechtfertigen  und  über  die  zu  demselben  benutzten  Quellen  und  Vorbil- 
der Rechenschaft  abzulegen. 

Ueber  die  Gestalt  und  die  Dimensionen  der  Lade  habe  ich  früher 
(s.  oben  S.  23  ff.)  mitgetheiit  was  ich  darüber  zu  sagen  hatte,  und  will  hier 
nicht  darauf  zurückkommen.  Der  Einfachheit  der  Zeichnung  zu  Liebe 
habe  ich  die  Lade  als  gradwandig  behandeln  lassen ,  wie  es  die  kleine- 
ren ,  allerdings  nicht  die  grösseren  Larnakes  sind ;  ich  denke  aber  dass 
Jeder  ohne  specielleren  Beweis  einsehn  wird,  dass  ich  an  meinen  Zeich- 
nungen nichts  Wesentliches  zu  ändern  brauche,  um  sie  einer  Larnax  mit 
etwas  schrägen  Wänden  wie  etwa  derjenigen  des  Tennes  und  der  He- 
mithea  anzupassen,  und  dass,  wenn  es  möglich  gewesen  ist,  die  von 
Pausanias  angeführten  Scenen  und  Figuren  auf  einer  gradwandigen 
Larnax  anzubringen,  es  nicht  unmöglich  sein  kann,  dieselben  auch  in  den 
Raum  der  schrägwandigsten  die  wir  kennen,  die  des  Thoas  einzupassen. 

Für  die  Anordnung  der  x™Qai  hat  mir  hauptsächlich  die  Frangois- 
vase  und  haben  nächst  dieser  andere  alte  streifen-  oder  reihenweise  ver- 
zierte Vasen05)  als  Vorbilder  gedient.    So  wie  auf  allen  diesen  Vasen 


95)  Nur  als  Beispiele  will  ich  folgende  Vasen  anführen:  bei  Gerhard,  Auserl. 
Vasenbb  2.  95  u.  96;  405  u.  106;  127;  5.  170;  185;  220;  223;  dass  bei  den 
meisten  dieser  Vasen  die  Echtheit  der  Alterthümlichkeit  zweifelhaft  (und  mehr  als  dies) 
ist,  weiss  ich ,  das  ist  hier  aber  gleichgiltig ,  da  in  dieser  Frage  die  Nachahmung  den- 
selben Werth  hat,  wie  das  Original ;  echt  alte  Vasen,  wie  z.  B.  diejenigen  von  Korinth 
und  Capua  mit  den  Eberjagden  (Denkm.  d.  a.  Kunst  1.18,  d'Hancarville  4. 44)  u.  A. 


69]  Übeb  die  Lade  des  Kypselos.  657 

die  Streifen  von  verschiedener  Breite  sind,  so  habe  ich  die  Streifen  in 
meiner  Restauration  der  Kypseloslade  von  verschiedener  Breite  ange- 
ordnet. 

Ruhl  hat  auf  eine  derartige  Anordnung  als  auf  das  nächstliegende 
Auskunftsmittel  zur  Unterbringung  einer  verschiedenen  Anzahl  von  Fi- 
guren in  mehre  gleich  lange  Streifen  verwiesen ;  allein  in  meiner  Restau- 
ration ist  die  verschiedene  Streifenbreite  nicht  ein  Ergebniss  der  leidi- 
gen Noth wendigkeit,  sondern  meiner  Überzeugung,  dass  die  Sache  sich 
auf  dem  Original  so  Verhielt,  nicht  Nothbehelf,  sondern  freie  Wahl.  Das 
wird  dem  aufmerksamen  Beobachter  die  Zeichnung  selbst  beweisen. 
Allerdings  m  usste  ich  die  unterste  x®Qa  schmaler  nehmen  als  die  zweite, 
dritte  und  vierte,  namentlich  als  die  zweite  und  vierte,  um  die  Figuren, 
die  Pausanias  nennt,  hineinzubringen ,  allein  den  zweiten ,  dritten  und 
vierten  Streifen  ungleich  breit  zu  machen  konnte  mich  kein  äusserer 
Zwang  bewegen,  diese  drei  Streifen  in  gleicher  Breite  vorzulegen  bin  ich 
jeden  Augenblick  bereit.  Und  vollends,  den  fünften  Streifen  wieder  so 
schmal  zu  nehmen  wie  den  ersten,  konnte  mich  am  wenigsten  das  Ver- 
hältniss  der  Figurenzahl  nöthigen,  denn  hier  sind  ja  grade  die  wenigsten 
Figuren96).  Wäre  die  Figurenzahl  ftlr  die  Breite  der  Streifen  maassgebend 
gewesen,  so  hätten  die  Streifen  sich  folgendermaassen  abstufen  müssen: 
1 )  am  schmälsten  der  unterste,  2)  dann  der  vierte,  3)  der  zweite  und  am 
breitesten  der  oberste.  Das  hätte  aber  eine  überaus  monströse  Ornamen- 
tik abgegeben. 


zeigen  bekanntlich  genau  dieselbe  Erscheinung,  nur  waren  mir  hier  dergleichen  nicht 
in  grosserer  Zahl  zur  Hand;  vgl.  übrigens  noch  Mon.  d.  Inst.  1.  51  und  2.  38  B.,  Ar- 
chaeol.  Zeitung  4  858  Taf.  114.  2.  Auch  in  Vasen  späterer  Stilarten  ist  das  Princip, 
mit  einem  grösseren  Hauptbilde  schmalere  Sockel-  und  Friesbilder  mit  Figuren  ganz 

■ 

anderer  Proportionen  zu  verbinden  noch  oft  nachweisbar,  wenngleich  die  gegensei- 
tigen Verhältnisse  der  einzelnen  Bilder  hier  andere  sind ;  aus  hunderten  von  Beispie- 
len vgl.  nur  Gerhard  a.  a.  0.  2.  138 ;  1.  14,  2.  11  I ;  122  u.  123;  ja  dieselbe  Er- 
scheinung lässt  sich  bis  in  den  schönen  und  reichen  Stil  verfolgen,  wie,  um  wiederum 
nur  ein  paar  Beispiele  statt  vieler  anzuführen,  die  Vasen  in  der  Archaeol.  Zeitung  von 
4850  Taf.  24  u.  v.  4860  Taf.  139  u.  440  zeigen. 

96)  Ich  darf  wohl  noch  anführen,  dass  mein  Zeichner  ursprünglich  den  5. 
Streifen  in  der  Breite  des  2.  gezeichnet  hatte  (ich  besitze  die  Zeichnung  noch)  und 
dass  er  erst  dann  auf  die  von  mir  geforderte  geringe  Breite  herabging,  als  er  sich 
selbst  überzeugte,  wie  ungeschickt  lastend  ein  breiter  oberster  Streifen  aussehe.  Dass 
ich  aber  nicht  aus  Zwang,  sondern  aus  Wahl  den  obersten  Streifen  schmal  habe 
machen  lassen,  wird  hierdurch  gewiss  bewiesen. 


658  J.  Ovehseck,  [70 

Der  ornamentale  Gedanke,  der  mich  geleitet  hat,  \vo!>ei  ich  die 
Anordnung  der  Fran$oisvase  zum  Vergleich  20g,  soweit  sich  eine  Vase 
mit  unterschiedenem  Fuss  und  Hals  und  ein  Kasten  ohne  diese  Gliederung 
Oberhaupt  vergleichen  lassen,  ist  dieser. 

Der  unterste  und  oberste  Streifen  bilden  Sockel  und  Fries  und  sie 
mussten  aus  diesem  Grunde,  um  ihre  ornamentale  Idee  klar  auszusprechen, 
am  schmälsten  gehalten  werden.  Auch  an  der  Frangoisvase  sind  die 
Streifen  am  Fuss  und  am  Halse  die  schmälsten,  jener  nur  13/4  Zoll  (in  der 
Zeichnung  der  Monumenti  d.  Inst.,  die  hier  ohne  nach  der  Grösse  des 
Originals  zu  fragen  benutzt  werden  kann,  weil  es  sich  um  relative  Maasse 
handelt),  dieser  23/s  Zoll  breit. 

Der  Hauptstreifen  an  der  Frangoisvase  dagegen .  der  mitteiste  am 
Bauche  (und  Halse)  des  Gefesses,  ist  4ls/ie  Zoll  breit  Als  Hauptsireifen 
aber  giebt  er  sich  abgesehn  von  seiner  Breite  dadurch  zu  erkennen, 
dass  er  nur  eine  um  den  ganzen  Bauch  des  Gefässes  umlaufende  Dar- 
stellung, Peleus'  und  Thetis'  Hochzeit  und  den  Gölterzug  zu  derselben 
enthält,  während  die  übrigen  Streifen  am  Gefässe  selbst  (ausgenommen 
hievon  ist  der  Fuss  mit  den  Pygmaeen  und  Kranichen,)  je  zwei  auf  Avers 
und  Revers  vert heilte  Gegenstände  enthalten.  Nun  findet  ja  etwas  ganz 
Aehnliches  auf  der  Kypseloslade  statt;  alle  %^9at  enthalten  eine,  freilich 
ungleiche,  Mehrheit  von  Darstellungen ,  der  unterste  deren  ö  (nach  mei- 
ner Anordnung  an  der  Vorderseite  nur  eine  wie  der  Streifen  am  Fusse 
der  Frangoisvase),  der  zweite  12,  der  vierte  13,  der  oberste  und  fünfte 
4  (nach  meiner  Anordnung  auf  der  Vorderseite  2 ,  die  für  eine  gelten 
können),  nur  der  mittelste,  dritte  enthält  eine  einzige  Gesammtdarstel- 
lung.  Es  ist  das  eben  jene  Schlacht ,  die  Pausanias  wesentlich  nur  als 
solche  anführt.  Auf  den  ersten  Blick  kann  es  nun  freilich  sehr  sonderbar 
und  grillenhaft  erscheinen,  wenn  ich  diese  Darstellung,  auf  deren  Detail 
Pausanias  so  wenig  eingeht,  die  mehren  der  neueren  Bearbeiter  der 
Kypseloslade  so  fremdartig  erschien ,  die  Ruhl  als  einen  späteren  unor- 
ganischen Zusatz  auf  die  Rückseite  der  Lade  verlegte,  wenn  ich  diese 
Darstellung  für  die  Hauptdarstellung  erkläre,  und  ihr  ein  räumlich  be- 
trächtliches Uebergewicht  über  die  anderen  xuiqui  gebe.  Allein  bedenken 
wir  doch,  dass  Pausanias'  kurze  Behandlung  einzig  und  allein  daher 
stammt,  dass  es  ihm  an  einer  bestimmten  Erklärung  des  Ganzen  und  des 
Einzelnen  fehlte ,  dass  folglich  Pausanias'  Behandlungsart  für  die  that- 
sächliche  Bedeutung  und  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  in  keiner  Weise 


74]  Über  die  Lade  drs  Kypselos.  659 

maassgebend  ist ,  und  eben  so  wenig  oder  noch  weniger  der  Grad  des 
Interesses,  den  die  moderne  Forschung  an  dieser  jf&tya  genommen.  Be- 
denken wir  ferner,  dass  wir  in  den  ideellen  Zusammenhang  sämmtlicher 
Bildnereien  an  der  Kypseloslade  noch  so  wenig  tief  eingedrungen  sind, 
dass  es  uns  sehr  schlecht  ansteht,  über  die  ideelle  oder  poetische  Wich* 
tigkeit  der  einen  oder  der  anderen  Darstellung  abzusprechen.  Vergessen 
wir  nicht,  dass  Pausanias'  Ausspruch,  diese  Schlacht  könne  wohl  die  der 
Pylier  und  Arkader  bei  Pheia  und  am  Iardanosflusse  (IL  7.  \  33  ff.)  sein, 
also  ein  vergleichsweise  geringfügiger  heroischer  Gegenstand,  Nichts  ist, 
als  die  Conjectur  Einiger,  der  die  Conjecturen  Anderer  entgegenstanden, 
welche  hier  die  Aetoler  mit  Oxylos  und  die  alten  Eleer  erkannten ,  und 
noch  Anderer,  des  Pausanias  selbst ,  welche  da  meinten ,  es  könne  ein 
Heereszug  der  Vorfahren  des  Kypselos  dargestellt  sein.  Es  ist  allerdings 
von  Preller97)  erwiesen,  dass  die  Geschichte,  auf  die  Pausanias  hier  an- 
spielt, füglich  nicht  so  dargestellt  worden  sein  kann,  wie  uns  der  Perieget 
ahnen  lässt,  dass  sie  in  der  That  dargestellt  war.  Allein,  was  bedeutet  eine 
falsche  Conjectur  des  Pausanias?  Und  wenn  nun  Pausanias  grade  in  die- 
sem Streifen  Beziehungen  zu  der  Geschichte  des  erlauchten  Hauses  des 
Kypselos  sucht,  lässt  er  nicht  dadurch  ahnen ,  dass  auch  ihm  diese  %d>Qa 
wichtiger  schien  als  die  anderen  ?  Und  wiederum ,  wenn  alle  bisher  zur 
Erklärung  der  Schlacht  von  den  alten  Interpreten  vorgetragenen  Ver- 
muthungen  irre  gehn,  liegt  es  denn  so  überaus  fern,  zu  glauben,  sie  haben 
einen  viel  wichtigeren  etwa  episch-heroischen  Gegenstand  nicht  erkannt? 
liegt  es  so  ganz  ausserhalb  des  Bereichs  der  Möglichkeit  hier  z.  B.  an 
eine  Hauptschlacht  der  Ilias  zu  denken,  und  in  den  avayvQOQiovvTes  dXktj- 
Kövs  Diomedes  und  Glaukos  zu  erkennen,  so  dass  dann  um  dies  home- 
rische Bildwerk  sich  die  anderen  epischen  oder  sagenhaften  Scenen  grup- 
piren  würden?  Aber  lassen  wir  das  bei  Seite;  dass  ich  selbst  auf  solche 
Möglichkeiten  kein  Gewicht  lege,  brauche  ich  wohl  kaum  zu  sagen ;  hal- 
ten wir  uns  vielmehr  an  das  unzweifelhaft  Thats&chliche.  Dies  unzwei- 
felhaft Thatsächliche  aber  ist,  dass  die  dritte  jfrapa  einzig  und  allein  von 
einer  grossen  Gesammtdarstellung  erfüllt  war.  Nun  zeichne  man  diese  wie 
man  will,  breit  oder  schmal,  immer  und  in  allen  Fallen  wird  sie  gegen 
die  vielgetheilten  anderen  x&qoli  sich  abheben,  immer  sich  mit  ihrer 
einen,  langen  Gesammtmasse  gegenüber  den  Feldern  und  Felderchen 


97)  Arcbaeolog.  Zeitung  1854.  S.  295. 


660  J.  OVEBBECK,  [7* 

der  andern  Streifen  auszeichnen ,  immer  sich  als  eine  Hauptdarstellung 
fühlbar  machen.  Darauf  gründe  ich  mein  Recht,  diesen  Streifen,  den  ich 
zeichnen  konnte  wie  ich  wollte,  nach  Maassgabe  der  Frangoisvase,  als  den 
Hauptstreifen  anzuordnen,  und  ihm  ein  raumliches  Uebergewicht  über  alle 
übrigen  zu  geben.  Und  täuscht  mich  mein  Auge  nicht,  bin  ich  nicht  zu 
sehr  von  meiner  Ueberzeugung  eingenommen ,  so  bekommt  die  ganze 
Bildermasse  durch  dieses  energische  Hervorheben  der  Mitte,  durch  die 
so  entstehende  Gliederung  einen  Halt  und  einen  Rhythmus,  der  bei  einer 
verschiedenen  Disposition  wegfallen  oder  sehr  leiden  würde. 

Für  die  Breite  der  zweiten  und  vierten  jfwpa  war  mir  wesentlich  die 
Frangoisvase  maassgebendes  Vorbild ;  die  untere  ist  hier  29/ie<  die  obere 
23/ie  Zoll  breit ,  ähnlich  verhalten  sich  meine  zweite  und  vierte  %f»Qa  zu 
einander  und  wiederum  zum  Mittelstreifen.  Die  vierte  x&qa  etwas  schma- 
ler zu  zeichnen  als  die  zweite  bewog  mich  ausser  dem  genannten  Vor- 
bilde auch  noch  das  Streben,  die  Gesammtornamen tirung  der  Lade  nach 
oben  hin  zu  erleichtern.  Ich  glaube  dadurch  den  schon  berührten  Rhyth- 
mus  der  ganzen  Fläche  nach  richtigen  Principien  der  Ornamentik  geglie- 
dert zu  haben. 

Die  zweite  wichtige  Frage  in  Beziehung  auf  die  Anordnung  der 
Bildwerke  ist  die  nach  der  Vertheilung  derselben  auf  die  Vorder-  und 
die  beiden  Nebenseiten  der  Lade.  Bei  dieser  mussten  zwei  Rücksichten 
leiten,  erstens  diejenige  auf  die  Gestalt  der  Lade  und  das  Verhältniss  der 
Breite  der  Seiten  zu  einander ,  und  zweitens  diejenige  auf  eine  sachge- 
mässe  und  kunstgerechte  Trennung  der  einzelnen  Bildwerke  von  einan- 
der, wozu  sich  unterstützend  die  Wahrnehmung  des  Parallelismus  in  den 
Compositionen  gesellte.  Pausanias  erwähnt  keine  Ecken  und  sagt  direct 
Nichts  von  der  Vertheilung  der  Bildwerke  auf  drei  Seiten,  dass  diese 
gleichwohl  nothwendig  sei,  ist  früher  nachgewiesen ;  gleichwohl  hat  sie 
neuerdings  namentlich  Schubart  a.  a.  0.  S.  313  Bedenken  erregt,  der 
freilich  mit  vollem  Rechte  gegen  Mercklin  bemerkt,  die  Ausdrücke  ££}$» 
fierä  di  und  ro  änö  rovrov ,  die  Pausanias  in  der  ersten  xwqci  gebraucht, 
lassen  sich  nicht  zur  Begründung  der  Dreiseitentheorie  verwenden,  der 
dann  aber  weiterhin  Aufklärung  darüber  verlangt,  wie  man  sich  das 
zweimalige  Umbiegen  auf  andere  Flächen  zu  denken  habe?  und  durch 
welche  Mittel  der  Künstler  es  erreichte ,  die  Einheit  seiner  Darstellung 
anschaulich  zu  machen,  namentlich  bei  der  dritten  xcü(mz,  welche  eine 
einzige  geschlossene  Scene  enthielt?  Nun,   wie  man  sich  das  zwei- 


73]  Ober  die  Lade  des  Kypselos.  661 

malige  Umbiegen  zu  denken  habe ,  wird  ihm  jetzt  wohl  meine  Tafel  zei- 
gen ;  hier  sehe  ich  in  der  That  keine  Schwierigkeit ;  wie  es  aber  komme, 
dass  Pausanias  die  Ecken  nicht  erwähnt,  erklärt  sich  meiner  Ansicht 
nach  leichter  als  manche  sonstige  Uebergehung  bei  diesem  Schriftsteller, 
dadurch,  dass  die  Enden  der  Seiten  mit  den  Enden  von  Darstellungen 
zusammenfielen.  Das  ist  nach  meiner  Restauration  thatsächlich  überall 
der  Fall,  ausgenommen  in  der  dritten  #o>(>a,  deren  Darstellung  ein  Gan- 
zes bildet.  Und  somit  kann  sich  auch  Schubarts  zweite  Frage,  durch 
welche  Mittel  der  Künstler  es  erreichte,  die  Einheit  seiner  Darstellungen 
anschaulich  zu  machen,  nur  auf  die  dritte  %ä$a  beziehn ,  da  in  den  an- 
deren x&qais  die  Darstellungen  nicht  einheitlich ,  sondern  vielfältig  wa- 
ren. Was  aber  die  Mittel  anlangt,  die  Darstellung  der  dritten  x®Qa  a^s  e'n 
Ganzes  zur  Anschauung  zu  bringen,  so  giebt  es  deren  so  viele,  dass  man 
bei  der  Antwort  in  embarras  de  richesse  gerät h.  Möge  Schubart  sich  bei- 
spielsweise einmal  den  Cellafries  des  Parthenon  ansehn,  der  doch  gewiss 
ein  Ganzes  bildet ;  nun  hier  ist  bei  dem  Uebergange  von  der  Ost-  auf  die 
Süd-  und  Nordseite  die  Verbindung  ausser  durch  die  Continuität  der  Be- 
wegung in  einer  Richtung  durch  die  Stellung  der  Eckfigur  hervorgehoben. 
Ferner  ist  der  Fries  des  Niketempels  zu  vergleichen,  dessen  beide  Lang- 
seiten mit  der  zwischen  ihnen  liegenden  westlichen  Schmalseite,  wie  ich 
bewiesen  zu  haben98)  glauben  darf,  ein  Ganzes,  die  ideale  Darstellung 
der  Schlacht  von  Plataeae,  bilden.  Hier  ist  die  Einheit  hauptsächlich 
durch  die  Gegenbewegung  in  den  beiden  Langseiten  und  durch  die 
exacte  Responsion  in  denselben  bewirkt  oder  hervorgehoben.  Weiter 
vergleiche  man  ausser  dem  Friese  von  Phigalia  die  Ära  Albani  mit  dem 
iepög  ya/iog")9  den  bakchischen  Sarkophag  in  den  Denkm.  d.  a.  Kunst 
2.  No.  422,  den  Hauptstreifen  der  Frangoisvase  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Hier 
liegen  viele  Antworten  auf  die  eine  Frage. 

Für  die  Restauration  der  Eypseloslade  gab  den  Anhalt  zur  Verkei- 
lung auf  die  3  Seiten  die  unterste  xcopa  her,  bei  welcher  im  Ernst  ge- 
ringer Zweifel  walten  kann,  welche  ihrer  Bildwerke  auf  die  Neben- 
weiches auf  die  Vorderseite  zu  versetzen  sei ,  wenn  überall  die  Verkei- 
lung als  nothwendig  erkannt  ist.  Der  aycw  ml  üekia  bildet  so  sehr  eine 


98)  Geschichte  der  griech.  Plastik  4.  S.  283,  besonders  aber  in  No.  6  meiner 
kuDstgeschichtlichen  Analekten  in  der  Zeitschrift  f.  d.  Alterth.  Wissensch.  v.  4  857. 

99)  Welcker,  Alte  Denkmäler  2.  Taf.  4, 


jmrrhlossene  Emheit  der  Paralkftsmu«  in  iLm  ist  so  srfcvf . 
aber  md  seine  Endes  durch  die  beiden  Prefericfcter  n.it  iirer 
so  bestimmt  marfcirt .  das»  in  der  Thal  hier  Nichts  ate*fcroefaen 
kann,  wahrend  es  andererseits  die  gegebene  Einheit  mntbwKg 
ren  beissen  würde-  wenn  man  hier  noch  zusetzen  wölke.  Eben  an 
gezwungen  aber,  wie  sich  der  ifw  rri  fteJa  aaf  <fie  Votdeitoche 
nen  Besä,  fassen  sich  die  vier  übrigen  Scenen  aaf  die  beiden 
rert heilen,  auf  denen  sie  in  zwanglosester  Weise,  rieicteasn  von 
den  gegebenen  Raum  ausfüllten. 

In  der  zweiten  £'*(**  haben  schon  frahere  Bearbeiter.  Welcher, 
Bronn  u.  A.  die  drei  allegorischen  Gruppen,  mit  denen 
▼on  dem  Uebrigen  abgetrennt ;  mit  ihnen  die  unke  Nebenseile  zn 
konnte  nicht  angestanden  werden.  Dabei  stellte  sich  frcflfch  <fie  Seimig- 
rigkett  heraus,  dass  erstens  jede  entsprechende  antike  Vortage  fehlte,  and 
dass  zweitens  unsere  moderne  Phantasie  nicht  ausrichte,  am  ohne  sol- 
ches Vorbild  die  drei  Gruppen  so  zn  componiren.  dass  die  von  Amen  be- 
setzten Felder  nicht  eine  gewisse  Leere  den  andern  gegenüber  zeigten. 
Ich  habe  meinerseits  geglaubt,  hier  aaf  einem  Punkte  durch  die  der  Nacht 
gegebenen  Flöge!  nachhelfen  zn  dürfen,  die  ja  antik  belegbar  sind10*  ; 
aber,  will  man  sie  mir  anfechten,  so  bin  ich  der  Letzte,  zn  behaupten, 
sie  seien  nicht  ein  Nothbehelf  Will  man  aber  aas  dem  Umstand ,  dass 
mir  ond  meinem  Zeichner  aaf  diesem  Pankte  eine  ganz  gleichförmige 
Erftiflcmg  des  gegebenen  and  geforderten  Raumes  nicht  gehingen  ist, 
Waffen  gegen  mich  schmieden ,  so  will  ich  Niemandem  dies  Vergnügen 
stören ;  glaubt  man  durch  solche  Schwachen  meiner  Bestaoration ,  die 
wesentlich  ich  Nichtkünstler  habe  machen  müssen ,  meine  ganze  Arbeit 
in  ihren  in  dieser  Abhandlung  dargelegten  Principien  timstossen  zu  kön- 
nen, so  versuche  man  es ! 

Für  den  Rest  der  Darstellungen  in  dieser  jw(x*  gab  der  Paralleüs- 
mds  der  Compositionen  das  Kriterium  der  Veitheilung  auf  die  Vorder- 
und  die  rechte  Nebenseite  ab.  Dass  Apollon  mit  den  Musen  von  der 
Sceue  mit  lason  und  Medeia  noth wendig  getrennt  werden  müsse,  hat 
Schubart  erwiesen  (s.  oben  S.  51);  aus  diesen  beiden  Scenen  konnte 
also  ein  Mittelbild  nicht  gemacht  werden,  folglich  blieben  neun  Vorstel- 


100)  Euripid.  Orest»  176.  nhna  Au£,  vnvodoTapn pike  ttut&irtpo?  c€t. ; 

Aristoph.  Av.  (ed.  Dind.)  695  tixth  ...  Ni$  lulavimqfog  yo*. 


75]  Ober  die  Lade  des  Kypselos.  663 

lungen  übrig.  Unter  diesen  boten  nun  aber  zwei  mehr  als  alle  anderen 
einen  stricten  Parallelismus :  Idas  die  Marpessa  und  Enyalios  die  Aphro- 
dite an  der  Hand  führend ;  war  die  erstere  dieser  Scenen  die  erste  links 
auf  der  Vorderseite,  so  musste  die  zweite  die  letzte  rechts  sein.  Thetis  und 
Peleus  und  Perseus  mit  den  Gorgonen  fielen  der  Nebenseite  zu.  Von 
den  übrigen  Scenen  bilden  Zeus  und  Alkmene  links ,  Herakles  und  Atlas 
rechts  eine  gute,  räumlich  genaue  Parallele ;  nicht  ganz  so  günstig  wir- 
ken Menelaos  und  Helena  links  und  Apollon  und  die  Musen  rechts ,  ob- 
wohl auch  diese  Bilder  raumlich  einander  genau  aufheben.  Aber  Ittugnett 
l&sst  sich  nicht,  dass  das  Feld  rechts  dichter  angefüllt  ist,  folglich  schwe- 
rer fllr  das  Auge  wiegt,  als  dasjenige  links.  Macht's  besser!  Endlich 
bleibt  die  Scene  übrig,  von  der  es  im  beigeschriebenen  Verse  heisst : 

M^dnav  *Iaomv  ya^ht  HeXerat  «T  'sfq>(>odita, 
bei  der  also  die  Namen  den  einzelnen  Personen  nicht  beigeschrieben 
gewesen  sind.  Nun  lässt  freilich  Pausanias  Medeia  thronen,  Aphrodite  zu 
ihrer  Linken,  Iason  zur  Rechten  stehn ;  allein  mein  Zeichner  behauptete, 
das  könne  er  nicht  machen ,  damit  den  Inhalt  des  Verses  nicht  aus- 
drücken, sondern  nur,  indem  er  Aphrodite  auf  den  Thron  setzte  und  sie 
das  Brautpaar  zusammengeben  Hesse.  Was  sollte  ich  dagegen  machen? 
Vielleicht  kommt  uns  hier  Ruhl  mit  einer  besseren  Zeichnung  zu  Hilfe. 

Peleus  und  Thetis  und  Perseus  mit  den  Gorgonen ,  beide  nach  an- 
tiken Vorlagen  gezeichnet  (s.  unten),  füllen  die  rechte  Nebenseite  bequem 
und  wie  mir  scheint,  kunstgerecht.  Sollte  man  mir  sagen,  Pausanias  er- 
wähne die  Athene  und  den  Hermes  in  der  Scene  mit  Peröeus  und  den 
Gorgonen  nicht,  so  antworte  ich ,  dass  diese  Götter  in  den  alten  Vasen 
mit  dieser  Scene  so  überwiegend  häufig  anwesend  sind,  dass  dabei  ihre 
Anwesenheit  durch  den  Mythus  so  wohl  motivirt  ist,  dass  ich  glaube,  sie 
seien  auch  an  der  Eypseloslade  dabei  gewesen,  ohne  dass  Pausanias  sie 
der  Gewöhnlichkeit  der  Erscheinung  wegen  zu  nennen  brauchte.  Wer  mir 
das  bestreitet ,  dem  will  ich  mit  Vergnügen  eine  andere  Zeichnung  vor- 
legen, wo  sie  fehlen,  und  welche  gleichwohl  den  Raum  eben  so  gut  erfüllt, 
wie  die  von  mir  gegebene.  Denn  Figuren ,  namentlich  Gorgonen  dies66 
Stils  sind  dehnbar. 

Für  die  vierte  %wqu  ist  schon  von  Anderen  (besonders  Brunn)  der 
Parallelismus  zwischen  folgenden  Scenen  : 

links  Theseus  und  Ariadne,  rechts  Aias  und  Kassandra, 

links  Achill  u.  Memnon  u.  d.  Mütter,     rechte  Parisurteil 


664  J.  OvERBECK,  [76 

links  Meilanion  und  Atalante,      rechts  Artemis  mit  Panther  u.  Löwe 

links  Hektor  und  Aias,  rechts  Eoon  und  Agamemnon, 

hervorgehoben  worden ,  welche  in  ihrer  Mitte  das  Bild  der  Dioskuren, 
Helena  und  Aethra  Übrig  lassen ,  welches  namentlich  dann ,  wie  Brunn 
bemerkt  bat,  sein  räumliches  Uebergewicht  fühlbar  macht,  wenn  man  den 
Dioskuren  ihre  Rosse  beigegeben  denkt. 

Ich  habe  an  diesem  von  Brunn  entworfenen  und  im  Einzelnen, 
auch  in  der  nöthigen  Umstellung  der  Artemis  und  des  Parisurteils,  mo- 
tivirten  Schema  der  Responsion  nicht  zweifeln  können ,  um  so  weniger, 
je  kräftiger  und  klarer  dasselbe  in  der  Zeichnung  hervortrat.  Indem  ich 
also  mit  diesen  Scenen  die  Vorderseite  füllte,  blieb  mir  für  die  Neben- 
seite links :  Boreas  und  Oreithyia ,  Herakles  und  Geryon ,  für  diejenige 
rechts :  Eteokles  und  Polyneikes  und  der  unter  Bäumen  in  einer  Höhle 
gelagerte  Dionysos ,  Scenen ,  von  denen  wenigstens  für  die  erste  und 
letzte  die  Nichtresponsion  unbedingt  gewiss  ist.  Hier  bin  ich  denn  frei- 
lich in  dem  Kampfe  des  Herakles  mit  Geryon  genöthigt  gewesen,  nach 
Maassgabe  des  Yasengemäldes  in  Gerhards  Auserlesenen  Vasenbildern 
2  Taf.  105  und  106  die  Ochsen  des  Gervon  zuzusetzen,  welche  Pausa- 
nias  nicht  nennt,  um  die  Länge  des  Streifens  zu  füllen ;  allein  ich  habe 
das  mit  ziemlich  ruhigem  Gewissen  gethan,  da  einerseits  die  Nichter- 
wähnung der  Ochsen  nicht  die  schlimmste  Auslassung  bei  Pausanias  ist, 
und  da  andererseits  die  Ochsen  derart  obligat  zu  Geryon  und  zu  Hera- 
kles' Kampf  gegen  Geryon  gehören 101),  dass  sie  in  künstlerischer  Dar- 
stellung des  letzteren  eigentlich  nur  da  ausgelassen  werden  dürfen ,  wo 
der  Raum  ihre  Anbringung  nicht  gestattete.  Der  Hirt  Eurytion  und  der 
Hund  Orthros,  die  ich  übrigens  für  den  Raum  nicht  nöthig  hatte,  gehö- 
ren mit  zu  den  Ochsen ;  dass  freilich  Athene  anwesend  ist,  wie  auf  dem 
Vasenbilde,  das  uns  als  Vorlage  diente,  und  das  wir  möglichst  treu  copirt 
haben,  mag  gegen  Pausanias'  Zeugniss  sein,  der  sie  hier  wohl  nicht 
unerwähnt  gelassen  hätte.  Will  sie  mir  Jemand  positiv  abstreiten,  so 
rücke  ich  die  Ochsen  weiter  aus  einander,  und  es  ist  Alles  wieder  in 
Ordnung. 

Zu  dem  in  einer  Höhle  unter  Bäumen  gelagerten  Dionysos  auf  dem 
anderen  Ende  der  %diQa  habe  ich  nur  dies  zu  bemerken.  Dass  Pausanias 
angiebt,  die  Bäume  seien  Apfelbäume,  Granatbäume  und  Reben,  beweist, 


4  04)  Vergl.  Prellers  Griech.  Mythol.  ältere  Ausgabe  *,  S.  4  42  und  4  46  f. 


7?]  Über  die  Lade  des  Eypselos.  665 

dass  sie  mit  einer  gewissen  Ausführlichkeit,  wenn  auch  noch  so  sehr 
stilisirt  behandelt  waren ;  ich  glaube ,  dass  mir  dies  ein  Recht  gab ,  sie 
so  zeichnen  zu  lassen,  wie  ich  es  gethan  habe;  ohne  Weiteres  brauchbare 
Vorbilder  gingen  uns  dabei  freilich  ab,  die  Art  aber,  wie  Baume  z.  B.  in 
folgenden  alten  Vasen  mit  schwarzen  Figuren  behandelt  sind :  Gerhard, 
Auserl.  Vasenbilder  Taf.  132  und  133,  Mon.  d.  Inst.  2.  44.  A.,  dazu  die 
Zeichnung  der  Baumzweige  in  den  Händen  der  Kentauren  auf  der  Fran- 
Coisvase  begründeten  weiter  das  Recht  meiner  Zeichnung,  in  welcher 
ich  soviel  thunlich  jenen  ornamentalen  Charakter  bewahren  zu  lassen 
suchte,  den  die  oft  wiederkehrenden  Zweige  in  namentlich  bakchischen 
Vasengemaiden  des  alten  Stils  haben. 

Auch  für  die  oberste  %<b(>a  ergab  sich  die  Eintheilung  ziemlich  von 
selbst ;  denn  hier,  wie  es  vor  mir  von  Anderen  gethan  ist ,  je  eine  der 
vier  Darstellungen ,  links  Herakles  und  die  Kentauren ,  rechts  Odysseus 
mit  Kirke  und  den  Dienerinnen  auf  die  Nebenseiten  zu  setzen ,  dürfte 
ohne  weitere  Begründung  gerechtfertigt  sein.  Auch  entsprechen  sich 
diese  Darstellungen  entschieden  nicht. 

Für  die  Scene  mit  Odysseus  und  Kirke  waren  wir,  Pausanias' 
Winke  in  Betreff  der  Dienerinnen  (1 9.  7  reaca^s  re  yaQ  eictv  ai  ywaU 
%€Q  nal  &QYa£ovrai  rd  egya  ä  iv  roig  tTteoip'O/^tj^og  eiQijKev)  folgend,  auf 
die  Odyssee  angewiesen,  und  haben  versucht  in  dem  einmal  angenom- 
menen Stil  zu  zeichnen,  was  Homer  Od.  10.  348 — 359  berichtet. 

Für  die  Ausdehnung  der  Scene  des  Kentaurenkampfes  gab  Pausa- 
nias' Bemerkung,  dass  einige  der  Kentauren  bereits  getödtet  seien  (rovg 
de  £f  avrwv  dnemovora),  die  vollkommene  Berechtigung  her ;  denn  wenn 
einige  getödtet  sind,  ist  es  höchst  unwahrscheinlich,  dass  nicht  noch 
mehre  andere  am  Leben  sein  sollten.  Hatten  wir  uns  die  Scene  in's  Enge 
gezogen  zu  denken,  so  würde  ein  getödteter  Kentaur  hingereicht  haben, 
um  auszudrücken,  was  ausgedrückt  werden  sollte.  Dass  ich  die  Scene 
bei  Pholos  gewählt  habe ,  ist  allerdings  Willkür ,  mich  veranlasste  dazu 
ein  Wink  oder  eine  Vermuthung  Brunns  m) ;  für  die  Erfüllung  des  Rau- 
mes war  das  gleichgiltig,  ein  galoppirender  Kentaur  mehr  hätte  mir  die- 
selben Dienste  gethan. 

Für  die  beiden  Bilder  der  Vorderseite  habe  ich  ohne  besondere 
Vorlage  aus  Pausanias'  Worten  zu  machen  gesucht  was  sich  machen 


102)  Rhein.  Mus.  a.  a.  0.  S.  339. 


666  J.  Qvkrbeck,  [78 

liess,  und  mich  dabei  so  streng  wie  möglich  an  den  Text  gebunden. 
Bequemer  wäre  es  gewesen ,  der  Nausikaa  noch  ein  paar  Dienerinnen 
zu  Fusse  beizugeben,  die  sich»  wie  schon  Welcker103)  bemerkt  hat,  ans 
Homers  Berichte  (Od.  6.  84)  entnehmen  Hessen;  da  sie  aber  Pausa- 
oks  nicht  nennt,  glaubte  ich  besser  sie  weglassen  zu  müssen.  Dass  ich 
dafür  des  Hephaestos  Werkstatt  mit  Gussofen  und  Ambos  ausgestattet 
und  dadurch  charakterisirt  habe,  wird  man  mir  hoffentlich  verzeihen; 
zu  erwähnen  brauchte  Pausanias  diese  hier  ganz  natürlichen  Parerga  am 
wenigsten. 

Hier  dürfte  es  nun  auch  am  Orte  sein  noch  ein  Wort  über  die  Or- 
namentleisten zu  sagen,  durch  welche  ich  die  einzelnen  Felder  trennen 
zu  müssen  geglaubt  habe.  Warum  dieselben  technisch  nothwendig  seien, 
habe  ich  schon  früher  (S.  67)  angedeutet,  sie  haben  aber  weiter  den 
wichtigen  Zweck,  in  ihrer  gteichmüssigen  und  ununterbrochenen  Er- 
streckung über  alle  drei  Seiten  der  Lade  die  sämtlichen  Bildnereien 
jeder  zwischenliegenden  x<ä$a  in  Eins  zusammenzufassen.  Ich  habe  des- 
halb für  dieselben  Ornamentschemata  ausgesucht,  welche,  wie  die  Wellen- 
reihe, die  Maeandertaenie ,  das  geflochtene  Band  u.  s.  w.  ein  ununter- 
brochenes Fortlaufen  und  Zusammenhalten  darstellen.  Diese  Ornament- 
blinder,  welche  die  Längendimension  energisch  hervorheben,  begründen 
zugleich,  dass  und  warum  die  Kypseloslade  an  den  Ecken  aufstrebende 
Pfeiler  oder  aufrechte  Ränder,  oder  eine  jede  Seite  abschliessende  Um- 
rahmung nicht  gehabt  habe,  wie  sie  die  Thoas-  Tennes-  und  Danaälar- 
nax  und  mehre  der  kleineren  Kasten,  nicht  alle  (s.  S.  24.  No.  3  u.  6)  zeigen. 
Die  schon  angeführten  Tempelfriese,  Altarreliefe  und  Vasenbüder  bieten 
eine  ganz  analoge  Erscheinung ,  welche ,  das  werden  mir  Sachverstän- 
dige wohl  zugestebn,  auf  einem  eben  so  richtigen  wie  notwendigen 
tektonischen  und  ornamentalen  Princip  beruht. 

Ehe  ich  mich  nun  zu  einer  Nachweisung  der  zu  den  einzelnen  Bil- 
dern gebrauchten  Vorbilder  und  dazu  wende  ,  die  Bilder  meiner  Tafel 
mit  noch  einigen  Bemerkungen  zu  begleiten ,  seien  mir  ein  paar  Worte 
über  den  Stil  erlaubt,  in  den»  ich  die  Darstellungen  halten  zu  müssen 
glaubte. 

Wir  haben  fast  durchgängig  naoh  Vasenbildern  des  ältesten  Stils 
gearbeitet,  denn  in  altem  Stil  mwete  die  Sache  gehalten  werden.  Das 


103)  Zeitscbr.  für  a.  Kunst  a.  a.  0.  S.  54*. 


79]  Über  die  Laue  »es  Kypselos.  667 

ist  keine  blosse  Spielerei.  Allerdings  sagt  Welcker104)  »bei  der  (etwa  ein- 
mal vorzunehmenden)  Ausführung  mUsste  der  Künstler  gänzlich  darauf 
verzichten,  auch  nur  die  ungefährste  Vorstellung  von  dem  Stil  eines 
höheren  Alterthums  geben  zu  wollen«.  Wohl  habe  ich  diesen  Ausspruch 
einer  so  grossen  und  von  mir  so  hoch  verehrten  Autorität  lange  bin  und 
her  erwogen,  endlich  aber  bin  ich  zu  der  UeherzeugUQg  gelangt,  dass  es 
unmöglich  sei,  sich  ihm  zu  unterwerfen.  Denn  es  ist  eine  unbestreitbare 
Thatsacbe,  dass  Vieles,  ja  das  Meiste»  was  in  einer  Stilart  vollkommen 
möglich,  in  einer  anderen  Stilart  eben  so  unmöglich  sei«  Und  das  gilt 
hier  nicht  minder,  als  bei  den  mancherlei  künstlerischen  Herstellungs- 
versuchen des  homerischen  und  des  besiodischen  Schildes;  es  ist  ihrer 
keine  auch  nur  halbwegs  gelungen,  und  es  konnte  keine  gelingen,  weil 
mm  immer  an  dem  Stil  der  besten ,  resp.  der  späteren  Epoche  für  die 
Figuren  und  Gruppen  festgehalten  hat.  Dass  die  Kypseloslade  sich  im 
alten  Stil  herstellen  lasse,  hoffe  ich  gezeigt  zu  haben ,  dass  sie  sich  im 
Stil  der  späteren  Zeit,  dem  alle  jene  Naive  tat  der  ältesten  Kunst  abgeht, 
nun  und  nimmermehr  wird  herstellen  lassen ,  ist  meine  wohlerwogene 
Ueberzeugung. 

Wie  Welcker  zu  seinem  Ausspruch  gekommen  ist,  scheint  mir  ziem- 
lich klar  vorzuliegen,  durch  eine  ganz  berechtigte  Polemik  nämlich  gegen 
die  Verfratzung  eines  angeblich  alten  Stils  in  dem  Restaurationsversucbe 
bei  Quatremere  de  Quincy  und  gegen  die  irrigen  und  widerwärtigen 
Ansichten,  welche  dieser  über  den  ältesten  Stil  der  griechischen  Kunst 
ausspricht.  Quatremere  de  Quincy  erhob  den  Anspruch,^  mit  seinen  ver- 
zerrten Figuren  wenigstens  einigermaßen  den  wirklichen  Stil  der  Bild- 
nereien  an  der  Kypseloslade  seinen  Lesern  vor  die  Augen  zu  stellen. 
Ein  ähnliches  Streben  liegt  mir  fern ;  die  Figuren  an  der  Kypseloslade 
sind  meiner  Ansicht  nach  noch  ungleich  altertümlicher  gewesen,  als  die- 
jenigen in  meiner  Restauration;  den  wirklichen  Stil  der  Kypseloslade 
darzustellen  hätten  vielleicht  die  ältesten  Zeichnungen  der  s.  g.  orienta- 
Ksirenden  Vasen  nicht  ausgereicht.  Nicht  also,  um  zugleich  ein  Bild  vom 


4  01)  Zeitschr.  für  alte  Kunst  S.  550.  In  seiner  Abhandlung  über  Polygnot  (Bert. 
Akad.  4  848)  S.  7  spricht  W.  gegenüber  den  Zeichnungen  von  Riepenheusen  etwas 
andere  über  den  Stil  Polygnots,  wie  er  auch  für  diese  Zeichnungen  wünschenswert!* 
gewesen  sein  möchte.  Nur  seien  die  Künstler  noch  nicht  über  den  Standpunkt  der 
Uebersetzer  früherer  Zeit  hinaus,  die  es  nicht  lassen  konnten,  ihren  eigenen  Geist  und 
Geschmack  in  die  Nachbildung  zu  legen. 


668  J.  Overbbck,  [80 

Stil  des  Kypseloskastens  zu  geben,  habe  ich  die  Figuren  so  viel  thunlich 
im  Stil  der  Frangoisvase  zeichnen  lassen,  sondern  um  mir  in  dem  Fest- 
halten an  den  Freiheiten  und  Naivetaten  dieses  Stils  die  Möglichkeit  der 
Restauration  dieser  Compositionen  zu  schaffen. 

Auch  dass  ich  in  die  Zeichnung  die  Inschriften  wirklich  und  nicht 
blos  scheinbar  in  stellvertretenden  Kritzeleien  eingetragen  habe,  ist  keine 
Spielerei,  sondern  hat  den  mehrfachen  Zweck,  erstens  zu  zeigen,  dass 
auch  für  diese  noch  Raum  sei,  und  zweitens,  dass  und  wie  sie  zur  Raum- 
erfüllung mit  beitragen,  drittens,  zu  vergegenwärtigen,  wo  sie  sich  nach 
meiner  oben  S.  60  ff.  entwickelten  Ansicht  befanden,  wo  nicht,  was  na- 
mentlich der  Mercklin'schen  Theorie  gegenüber  nicht  so  ganz  gleicbgil- 
tig  sein  dürfte.  Auch  dass  ich  die  Inschriften  in  einem  alten  Alphabet,  dem 
ältesten  auf  Yasen  vorkommenden,  welches  dem  eigentümlich  korin- 
thisch-kerkyraeischen  entspricht 105),  geschrieben  habe,  ist  nicht  nur  zum 
Scherz  geschehn,  sondern  mit  deswegen,  weil  spätere  Schrift  den  Raum 
anders  füllt  als  diese  frühe.  Auf  dialektologische  Conjecturen,  wie  etwa 
rccQvFovag,  FiokaFoe  für  rtjQvovtjg,  'lokaog  glaubte  ich  mich  dagegen 
nicht  einlassen  zu  sollen. 

Es  bleibt  mir  jetzt  schliesslich  noch  übrig ,  einige  Worte  über  die 
als  Vorbilder  meiner  Zeichnungen  gebrauchten  Monumente  und  über  die 
Art  ihrer  Benutzung  gegenüber  dem  Texte  des  Pausanias  zu  sagen. 
Wesentlich  erleichtert  wurde  die  Auswahl  durch  die  schöne  Zusammen- 
stellung von  Parallelbildwerken,  mit  denen  Jahn  in  seinen  Archaeol. 
Aufsätzen  S.  6  ff.  die  Besprechung  der  Bilder  auf  der  Kypseloslade  be- 
gleitet bat,  andererseits  stellte  mir  die  Lückenhaftigkeit  unserer  Univer- 
sitätsbibliothek ,  von  der  nicht  oft  genug  öffentlich  gesprochen  werden 
kann,  wieder  Schwierigkeiten  in  den  Weg,  da  mir  mehr  als  ein  von  Jahn 
angeführtes  Buch  unzugänglich  blieb. 

Erstes  Feld. 

\.  Oinomaos,  Pelops  verfolgend.  Eine  brauchbare  directe 
Vorlage  eben  dieses  Gegenstandes  fehlte,  war  aber  auch  entbehrlich ,  da 
rasch  fahrende  Wagen  in  dem  gesuchten  Stil  nicht  selten  sind.  Für  die 
Flügelrosse  des  Pelops  wurde  das  veliterraner  Relief  Museo  Borbon.  tom. 
1 0.  tav.  1  \  und  das  Vasenbild  bei  Gerhard,  Auserl.  Vasenbb.  1 .  Taf.  \  0.  be- 
nutzt ;  dieselben  für  die  Flügelrosse  der  Nereiden  in  der  fünften  gcopa. 


4  06)  Jahn,  Einleitung  in  den  münchener  Vasenkatalog  S.  CXLVII. 


84]  Über  die  Lade  des  Kypselos.  669 

2.  Amphiaraos'  Ausfahrt.  Für  die  gesammte  Vorstellung 
wurde  das  schon  von  Jahn  (a.  a.  0.  S.  7.  vgl.  S.  154  ff.)  als  schlagende 
Parallele  angeführte  Vasengemftlde  bei  Micali,  Pltalia  av.  il  dorn.  d.  Rom. 
tav.  95  (wiederholt  in  m.  Gall.  heroischer  Bildww.  Taf.  3.  No.  5)  be=^ 
nutzt ;  für  des  Amphiaraos  oixia  bot  das  Stadtthor  von  Troia  und  das 
Thetideion  auf  der  Frangoisvase  (Mon.  d.  Inst.  4.  tav.  54. 55)  die  Muster; 
zu  der  Amme  mit  dem  kleinen  Amphilochos  wurden  mehre  Vasen  (Ger- 
hard A.  V.  1 .  55,  56,  m.  Gall.  Taf.  3.  No.  6)  verglichen. 

3.  Leichenspiele  des  Pelias.  Hier  will  ich  vor  allen  Dingen 
bemerken,  dass  ich  nach  meiner  feststehenden  Ueberzeugung ,  die  bei 
Pausanias  (17.  9)  genannten  Öetö/uwor  rovg  ayaviorag  seien  keine  An- 
deren, als  Herakles,  Akastos  und  die  Peliastöchter,  allenfalls  noch  die 
Flötenspieler106),  mir  gar  nicht  die  Mühe  habe  geben  wollen,  noch  wei- 
tere Zuschauer  anzubringen 107)^  Für  den  thronenden  Herakles  fehlte  das 
Vorbild;  Akastos,  die  Peliastöchter  nebst  den  Preisdreifilssen  wurden 
nach  Figuren  der  Fran$oisvase  gezeichnet.  Zu  den  Kämpfern ,  nament- 
lich den  Wettläufern ,  Ringern ,  Faustkämpfern  und  dem  Diskobol  sind 
allbekannte  und  in  populäre  Sammelwerke108)  übergegangene  panathe- 
naeische  Vasen  benutzt  worden.  Für  die  Zweigespanne  aber,  welche  in 
den  gleichen  Raum  hineinzuzeichnen  waren,  den  die  fünf  Wettläufer  ein- 
nehmen, musste  ein  anderes  Vorbild  gesucht  werden.  Denn,  wenn  Ruhl 
(s.  oben  S.  22)  behauptet  halte,  fünf  Wettläufer  liessen  sich  wohl  in  Ma- 
lerei, nicht  aber  im  Relief  so  darstellen ,  dass  sie  nicht  viel  mehr  Raum 
einnähmen,  als  ihrer  zwei,  wie  viel  mehr  würde  das  von  fünf  rennenden 
Zweigespannen  gelten,  wenn  es  überhaupt  richtig  wäre ,  was  es  nicht 
ist.  Allein  mit  einem  gemalten  Vorbilde  durfte  ich  hier  doch  nicht  kom- 
men, wenn  ich  nicht  unfruchtbaren  Widerspruch  und  lange  Debatten 
hervorrufen  wollte;  denn  allerdings  konnte  ich  nur  durch  ein  starkes 
Zusammenrücken  der  Gespanne  meinen  Zweck  erreichen,  die  fünf  Zwei- 
gespanne die  fünf  Läufer  auf  der  anderen  Seite  aufwiegend  darzustellen. 


106)  Schon  Brunn  Rhein.  Mus.  a.  a.  0.  S.  335  stellt  eine  solche  Ansicht,  aller- 
dings nur  als  Alternative  hin. 

4  07)  Die  vonO.  Jahn  a.  a.  0.  S.  7.  Note  9  und  früher  schon  vom  Herzog  v.  Luy- 
nes  (Nouv.  Ann.  2.  S.  262)  mit  dieser  Vorstellung  verglichene  Vase  in  Inghirami, 
Vasi  fittili  tav.  301  ff.  war  mir  unzugänglich. 

1  08)  Panofka,  Bilder  antiken  Lebens  Taf.  2.  No.  1,3,4,7,  Krause,  Agonistik  und 
Gymnastik  Taf.  6.  Fig.  14,  T.  11.  F.  33,  T.12.F.  34,  Taf.  13.  F.  47,  T.  22.  F.  68 u. 59. 
Abhandl.  d.  K.  8.  Geielbch.  d.  Witfeueh.  X.  46 


670  h  Oveubce,  !* 


Das  ist  natürlich  ohne  viele  und  starke  Uebergcbneidnngen  nicht  möglich, 
und  diese  hätte  man  mir  für  die  Reliefe  der  Kypseloslade  bestreiten  kön- 
nen, wenn  ich  eine  gemalte  Vorlage  gebraucht  hätte ;  ob  man  es  zock 
jetzt  thun  wird,  wo  ich  nach  Relief  habe  zeichnen  und  nicht  eine  einzige 
Ueberschneidung  mehr  habe  anbringen  lassen,  als  die  meine  Vorlage  bot, 
will  ich  abwarten.  Als  Vorlage  aber  dienten  die  schon  angeführten  alten 
Thonreliefe  von  Velletri,  Mus.  Borbon.  tomo  40.  tav.  10  u.  12  "•);  freilich 
keine  griechische  Arbeiten  und  nicht  so  alt  wie  die  Kypseloslade,  aber, 
und  das  ist  jedenfalls  die  Hauptsache,  Reliefe.  Die  Art,  wie  die  Wed- 
fahrer, bis  auf  den  weiter  vorgerückten  Sieger ,  zu  je  zwei  näher  zu- 
sammengruppirt  sind,  entspricht,  glaube  ich ,  einer  Andeutung  des  Pau- 
sanias,  der  je  zwei  und  zwei  Namen  zusammen  nennt,  nicht  weil  die 
Kämpfer,  wie  Welcker  (a.  a.  0.  S.  537  f.)  annahm  und  schon  Jahn  (a.  a. 
0.  Note  1 0)  widerlegt  hat ,  je  paarweise  auf  einem  Gespanne  standen, 
sondern  weil  ihre  Gespanne  sich  paarweise  am  nächsten  waren. 

4.  Herakles  und  die  Hydra.  Ueber  die  Zuziehung  des  Ioiaos 
zu  dieser  Scene  anstatt  zum  aytov  inl  /lekict  ist  oben  S.  33  f.  zur  Genüge 
gehandelt ;  nur  den  einen  Zusatz  will  ich  hier  noch  machen ,  dass  Pao- 
sanias'  Irrthum  wohl  auch  dadurch  begünstigt  wurde ,  dass  sich  an  der 
Kante  des  Kastens,  also  zwischen  beiden  Scenen,  wie  ich  sie  unter- 
scheide, hier  so  wenig  wie  in  den  folgenden  £a>(Mut  eine  Trennungsleiste 
vorfand.  Als  Vorlage  dienten  die  Vasen  Mon.  d.  Inst.  3.  46,  Gerhard, 
A.  V.  2.  Taf.  95  ta.  112,  doch  glaubte  ich  die  Hydra  etwas  vereinfachen 
zu  müssen.  Die  Worte  des  Pausanias :  ttjv  vöqqlp,  tö  h  t$  wnafui  tjj 
'sä/ivfuorri  &tj()iop  halte  ich  nur  fUr  eine  mythologische  Notiz,  nicht  für 
eine  Hindeutung  auf  die  Anwesenheit  einer  Amymone* 

5.  Phineus  mit  Boreaden  und  Harpyien.  Eine  im  Stil 
brauchbare  Vorlage  fehlte;  benutzt  wurden  die  Vasen  Millingen  Anc. 
uned.  monum.  1.15  und  Mon.  d.  Inst.  3.  49 ;  für  die  Harpyien  das  Mo- 
nument von  Xantbos,  ohne  dass  ich  damit  behaupten  will,  die  Harpyien 
der  Kypseloslade  seien  in  der  That  entsprechend  gebildet  gewesen ;  nur 
waren  die  sonst  zur  Verfügung  stehenden  zu  neu  im  Stil,  und  wir  wuss- 
ten  uns  mit  den  Gewändern  nicht  zu  helfen 110). 


409)  Vergl.  ferner  die  alte  Bronzevase  von  Caput,  Mon.  d.  in*.  5.  Tav.  95. 
HO)  Ob  ich  in  der  Beischrift  den  Harpyien  nicht  die  Eigennamen  Okypete  und 
▲ello  hätte  geben  aollen,  darüber  will  ich  nicht  streiten. 


83]  Über  die  Lade  des  Ktpselos.  671 

Zweites  Feld. 

1.  2.  3.  Nyx  mit  Thanatos  und  Hypnos;  Dike  u.  Adikia; 
die  Pharmakiden.  Dass  wir  hier  componiren  mussten,  ist  schon 
oben  S.  74  gesagt,  wo  auch  über  den  Nothbehelf  mit  den  Flügeln  der 
Nyx  gesprochen  worden.  Als  Muster  der  Flügel  dienten  die  der  Eos  in 
der  alten  Vase  bei  Millingen  Anc.  uned.  mon.  1 .  pl.  5.  Auf  die  dieorQafi- 
fiivoi  nodeg  (Paus.  18.  1 .)  habe  ich  mich  in  der  Zeichnung  nicht  ein- 
lassen mögen. 

4.  Idas  und  Marpessa.  Für  diese  Scene  wie  für  die  ent- 
sprechende 10.  Enyalios  und  Aphrodite  wurde  die  gewöhnlich 
als  Menelaos  und  Helena  erklärte  Vase  bei  Gerhard,  A.  V.  3.  169.  (m. 
Gall.  12.  4)  mit  den  nothwendigen  Veränderungen  benutzt.  Für  den 
Tempel  bei  Idas  und  Marpessa  schien  mir  eine  Säule  vollkommen  hinzu- 
reichen, um  so  mehr,  als  Pausanias  nicht  wie  beim  Hause  des  Amphia- 
raos  sagt  nmoltjrai  wog,  sondern  der  Tempel  nur  in  dem  beigeschrie- 
benen Verse  vorkommt.  Ja  ich  glaube ,  dass  ich  hiernach  berechtigt  ge- 
wesen wäre,  auch  die  Säule  wegzulassen,  doch  schien  sie  mir  das 
Gleichgewicht  nicht  zu  stören. 

5.  Zeus  und  Alkmene  waren  nach  Figuren  der  Frangoisvase  zu 

componiren. 

6.  Menelaos  und  Helena.    Für  diese  Scene  liegen  zweierlei 

Darstellungen  in  Vasen  vor,  eine  jüngere  (m.  Gall.  26.  4,  11,  12.  vgl. 
S.  360  f.)  und  eine  ältere  (das.  No.  3  vgl.  S.  626  f.).  Ich  zweifelte  nicht, 
die  letztere  vorziehn  zu  sollen ,  um  so  weniger ,  da  sie  Pausanias'  Wor- 
ten: Mev&aoc,  .  .  .  e%^v  £i(pog  ineiaiv  'EXemjv  anomelvou  genauer 
entspricht ,  als  die  jüngere  (auf  Lescbes  zurückzuführende) ,  wo  er  das 
Schwert  fallen  lässt  und  die  fliehende  Helena  verfolgt. 

7.  Iason  und  Medeia  mit  Aphrodite,  musste  componirt 
werden;  über  die  Art,  wie  es  geschehen  ist  s.  oben  S.  75. 

8.  A  pol  Ion  und  die  Musen.  Nach  Figuren  der  Frangoisvase 
und  Gerhard,  A.  V.  1 .  Taf.  1 3.  Dass  nur  drei  Musen  angenommen  wur- 
den, was  der  Responsion  wegen  nothwendig  war,  ist  schon  von  Andern, 
und  zwar  der  Mehrzahl  derer ,  die  über  die  Sache  gehandelt  haben  m), 


4  4  4)  Welcker  S.  544  (unentschieden,  eher  für  9 Musen),  Jahn  Arch.  Aufss.  S.  4  0 
Note  46  (drei  wahrscheinlicher),  Bergk,  Archaeol.  Zeitung  4845.  S.  470.  Note  H, 
Allg.  Hall.  Ltt.  Ztg.  4  847.  S.  4 193. 

45» 


672  J.  OVBRBECE,  [H4 

vertheidigt112).  Dass  die  Musen  als  singende  (qdovacu)  keine  Instrumente 
gehabt  haben,  hat  Jahn  (a.  a.  0.  S.  10.  Note  18)  bemerkt;  seine  Vor- 
stellung, dieselben  haben  sich  bei  den  Händen  fassend  im  Tanzschritt 
bewegt ,  ist  ansprechend .  aber  nicht  zwingend ;  auch  dass  meine  Musen 
den  Apollon  nicht  im  strengen  Wortsinn  umgeben  glaube  ich  dadurch 
rechtfertigen  zu  können,  dass  das  d/ucp  airov  nur  in  dem  beigeschriebe- 
nen Verse  steht,  während  Pausanias  nur  nach  einander  aufzählt  (1 8.  4) : 
nanoirjVTcu  di  xai  qdovocu  Movocci  xal  ylnokXwv  G%d(>%t0V  rfjc  (pdrjg  was 
eher  ein  Gegenüber  voraussetzen  lässt. 

9.  Atlas  und  Herakles.  Für  den  Atlas  glaubte  ich  von  dem 
sehr  altertümlichen  Sisyphos  oder  Tantalos  in  Gerhards  A.  V.  2.  Taf. 
86.  Gebrauch  machen  zu  dürfen.  Für  den  Herakles  lagen  verschiedene 
Muster  vor. 

10.  Enyalios  und  Aphrodite  s.  oben  zu  4. 

11.  Peleus  und  Thetis.  Verschiedene  Vasen  in  m.  Gall.  Taf.  7, 
besonders  No.  3,  5  u.  6  dienten  als  Vorlagen. 

12.  Perseus  und  die  Gorgonen  wurde  nach  mehren  Vasen- 
bildern, namentlich  nach  Ann.  d.  Inst.  1S51  tav.  d'agg.  P.  und  Gerhards 
A.  V.  3  Taf.  216  gezeichnet;  über  die  Zuftigung  von  Athene  und  Her- 
mes s.  oben  S.  75. 

Drittes  Feld. 

Um  die  Schlacht  in  ihren  verschiedenen  Scenen  nicht  zu  modern 
zu  erfinden  hielten  wir  uns  an  folgende  schwarzfigurige  Vasen :  Gerhard, 
A.  V.  Taf.  138,  5,  190  u.  191,  130,  227,  225,  Mon.  d.  Inst.  1.  tav.  51. 
(m.  Gall.  23.  1.)  und  m.  Gall.  18.  2.  Dass  der  Stil  der  Figuren  nicht 
durchweg  homogen  sei  weiss  ich  am  besten. 

Viertes  Feld. 

1.  Boreas  und  Oreithyia.  Der  schlangen  Rissige  Boreas  ist 
dem  Eypseloskasten  eigenthümlich,  aber  nicht  blos  für  diesen  Punkt, 
sondern  ftir  die  ganze  Gestalt  fehlte  die  archaische  Vorlage,  sie  musste 


1 14)  Wenn  Schubart  (a.  a.  O.  S.  304)  behauptet,  auf  die  mythologische  Ansicht 
des  Eumelos  über  die  Zahl  der  Musen  sei  hier  Nichts  zu  geben,  so  stimme  ich  ihm  bei, 
wenn  er  aber  behauptet ,  Eumelos  widerspreche  sich  selbst  in  diesem  Betracht  in  den 
Fragmenten  15  u.  16  (Marksch.  S.  405),  so  muss  doch  bemerkt  werden,  dass  Bergk 
(Archaeol.  Zeitung  v.  1845  S.  170  Note  12)  das  eine  Fragment  mit  den  9  Musen  des 
Dialekts  wegen  für  unecht  erklärt  hat. 


85]  Über  dir  Lade  des  Etpselos.  673 

also  erfunden  werden,  wobei  aus  den  Vasen  des  schönen  Stils  mit  diesem 
Gegenstande  nur  die  gesträubten  Haare  entnommen  wurden.  Für  die 
Grösse  der  Schlangenbeine  wurde  die  Vase  bei  Gerhard,  Auserl.  Vasenbb. 
3.  Taf.  237  benutzt.  Die  Oreithyia  ist  nach  der  Polyxena  der  Frangois- 
vase  gezeichnet. 

Möglich,  dass  Pausanias'  Worte  (19.  1)  Bo^mg  iorlv  tj^nawog  'Jl. 
eine  andere  Gruppirung  andeuten ,  doch  wusste  ich  eine  solche  nicht  im 
Sinne  des  gewählten  Stils  anzugeben. 

2.  Herakles  und  Geryon.  Nach  Gerhard,  Auserl.  Vasenbb.  2. 
Taf.  1 05  u.  106;  für  die  Rinder  s.  auch  Mon.  d.  Inst.  5.  25. ;  vgl.  oben 
S.  76. 

3.  TheseusundAriadne;  nach  der  Frangoisvase,  Mon.  d.  Inst. 
4  lav.  56.  57,  oberster  Streifen. 

4.  Achill  eus  und  Memnon.  Nach  den  Vasen  bei  Gerhard  a.  a. 
0.  2.  Taf.  117  u.  118,  130,  m.  Gall.  Taf.  22.  No.  3. 

5.  Meilanion  und  Atalante,  M.  nach  Figuren  der  Frangoisvase, 
A.  unter  Berücksichtigung  der  Artemis  an  dem  korinthischen  Peristomion. 

6.  Aias  und  Hektor,  nach  Vasen  mit  Zweikämpfen. 

1     7.  Dioskuren  mit  Helena  und  Aethra;  die  Dioskuren  nach 
Mon.  d.  Inst.  2.  22;  Helena  und  Aethra  waren  zu  componiren. 

8.  Koon  und  Agamemnon,  nach  Gerh.  a.  a.  0.  3.  Taf.  192. 

9.  Artemis  nach  der  Frangoisvase,  Mon.  d.  Inst.  4.  tav.  58. 

10.  Parisurteil,  nach  den  Vasen  in  m.  Gall.  Taf.  9.  Fig.  4.  6.  7. 
lieber  die  Anwesenheit  des  Paris  habe  ich  nach  Maassgabe  der  Worte 
'slXei&vdQfp  delxrvGi  (1 9.  5)  keinen  Zweifel. 

11.  Aias  und  Kassandra,  nach  der  ältesten  vorliegenden  Vase 
in  Gerhards  Etrusk.  u.  Campan.  Vasenbb.  Taf.  22. 

12.  Eteokles  u.  Polyneikes,  nach  Gerhard,  Auserl.  Vasenbb« 
2.  123,  die  Ker  nach  Mon.  d.  Inst.  3.  24. 

13.  Dionysos.  Für  den  liegenden  Gott  wurde  der  Herakles  bei 
Gerhard,  Auserl.  Vasenbb.  2.  Taf.  108  benutzt;  auch  für  die  ihn  zunächst 
umgebenden  Reben  gab  diese  Tafel  das  Vorbild ;  für  die  beiden  anderen 
Baume  wurden  diejenigen  bei  Gerhard  a.  a.  0.  Taf.  1 5,  98,  1 32  u.  1 33 
ferner  Mon.  d.  Inst.  1.  7,  2,  44.  A.,  6.  19,  Archaeol.  Zeitung  1863  Taf. 
1 75  benutzt,  wobei  wir  bestrebt  waren,  der  gemalten  Darstellung  gegen- 
über eine  solche  zu  geben,  die  als  in  Holz  geschnitzt  gelten  darf.  Uebri- 
gens  vergl.  oben  S.  77. 


674  J.  OVBRBBCK,  DIE  LaDE  DES  KyPSELOS.  [86 

Fünftes  Feld. 

1.  Odysseus  bei  Kirke.  Vgl.  oben  S.  77.  Für  die  einzelnen 
Figuren  hielten  wir  uns  an  die  Francoisvase ;  die  lange  Kline  wird  durch 
Bilder  wie  z.  B.  Panofka  Bilder  ant.  Lebens  Taf.  12.  No.  1.  zu  recht- 
fertigen sein.  Den  Schemel  fügten  wir  nach  der  alten  Vase  in  m.  Gall. 
Taf.  3.  No«  4.  bei;  vergl.  auch  Mon.  d.  Inst.  Vol.  5.  tav.  33. 

2.  Waffenttbergabe  an  Thetis.  Gheiron  nach  bekannten 
Mustern,  wie  Gerhard,  Auserl.  Vasenbb.  3.  119,  120,  183,  227  u.  dg!. 
Ueber  die  Nereidengespanne  s.  oben  S.  80,  Thetis,  Hephaestos,  der 
Schmiedegesell  oomponirt,  der  Ofen  nach  der  in  Welckers  Trilogie  Pro- 
metheus zu  S.  261  mitgetheilten  alten  Vase  und  der  bekannten  Schale 
mit  der  Erzgiesserei  in  Berlin,  Gerhard,  Trinkschalen  Taf.  12.  13.  Er 
vertritt  hier  zugleich  die  Scheidung  der  Scenen,  weswegen  hier  die 
Trennungsleiste  weggelassen  wurde. 

3.  Nausikaa.  Theils  nach  Gerhard,  Auserl.  Vasenbb.  3.  Taf. 217, 
thetis  nach  Panofka,  Bilder  ant.  Lebens  Taf.  17.  No.  2. 

4.  Herakles  und  die  Kentauren.  Nach  der  Fran$oisvase  und 
nach  Gerhard,  Auserl.  Vasenbb.  2.  Taf.  119  u.  120.   Vgl.  oben  S.  77. 


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