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Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
1847.
Abhandlungen
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Königlichen Irene 7
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
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Aus dem Jahre
1847.
z=anunoreoeooaououoeserıoeonn
Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie
der Wissenschaften.
1849.
In Commission bei F, Dümmler.
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Bemerkung. Diese Verbesserungen sind in den Band der Abhandlungen von 1847 (ed. 1849) einzuheften.
Verbesserungen.
Seite 270 Zeile 15 von unten lies: dafs jener für dafs jeder.
» 37» 46 » » » den südeuropäischen Scirocco.
DD ee a ERGE en GEXE
21 Be ee ie » vom 17. Oct. für am 17. Oct.
» 32 » 41 » oben » 37a C. für 35a. C.
» 39 » 9 » unten » 9 und 10 Uhr für S und 9 Uhr.
» 354 » 12 » » » bei Constantinopel für bis Constantinopel.
2 » » » Vredeland für Urdeland.
1» » » 4808 für 1818.
De ee » » Leuchtregen für Luftregen.
3 » oben » in 300, 356 und 380 Meilen für 380, 356 und 380 Meilen.
9 » unten » Algen für Alpen.
Den u a » als fester Boden für als festen Boden.
» Mi » 8 » oben » XII. für XI.
» 47 » Aa » » XIV. für XIII.
» 420 » 4 » unten » März für Mai.
» Mh » 3» nn. xkısıg?* für —#ısag? +
» 420 Asien.
Arabien Palaestina Klein Asien Persien Indien
und Syrien mit Armenien (Nebelgebirg;)
p. C. 570 2.C. 910 1348 a. C. 950 1056 p- C. 1076 p. C. 1272 1833?
1065 332 1546 p.C. 358 1110 1680 1837
1365 p.C. 100 1637 860 1194 1810 1846
1680 610 897
1825 929
Verbesserungen.
Seite 450 Zeile 15 von oben lies: kornartigen Crystall für kronartigen
454
»
3
1
4
10
»
»
»
unten
oben
unten
oben
»
La Verpilliere für Labillardiere.
Lithostylidium sulcatum für L. falc.
Campylodiscus.
Nodosaria.
sexangularis.
glatten Art für platten Art.
die farblosen leer für die farbl. sind.
als Kreuz für im Kreuz.
Lithochaeta.
amphioxys.
Sporangium sexloculare.
Surirella Entomon.
Ala Dipteri.
Lithostylidium Cassis für L. Cassia.
Fibra spiralis.
Particula fibrosa für Fibra fıbrosa.
Pilus fasciculatus für P. fasciatus.
Inhalt.
Historische Humlerkın DES ee ed a AT NEN ETEINE BOTEN ORT
NVerzeichuilssden Mitaliedenider Nkademierer en. 2 ne
Physikalische Abhandlungen.
V NEUMANN über ein allgemeines Princip der mathematischen Theorie inducirter
; elektrischer Ströme ....... A I a ZU E BD Eu 1
VHErmann KARsTEn: Die Vegetationsorgane der Palmen, eine vergleichend - ana-
tomisch-physiologische Untersuchung... .. 2... cr. .00.-
“ YMöLLer über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten .... 2.2... 20.
Derselbe: Bemerkung über die Fufsknochen des fossilen Gürtelthiers, G/yptodon
ERTTES U SE E Dnc ao rDnn 100.00 6.08.00 0:0 re
VW EHRENBERG: Passatstaub und Blutregen. Ein grofses organisches unsichtbares
Mebengtngderg Am aspharerz gegen
Mathematische Abhandlungen.
NV = s ER
SEINGKE"über die Asträa. aaa ee ee ee Re
“ VSTEINER: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, und über einige damit
in Beziehung stehende Eigenschaften der Kegelschnitte.......
Philologische und historische Abhandlungen.
VBEKKER: Der Roman von Aspremont, Altfranzösisch, aus der Handschrift der K.
Bibliothek (Ms. Gall. 49 48) abgeschrieben .............
“H. E. Diesen über die, durch die griechischen und lateinischen Rhetoren ange-
wendete, Methode der Auswahl und Benutzung von Beispielen
romisch- rechtlichen Inhalts nn see sro: SB rn
“ WELCKER: Die Composition der Polygnotischen Gemälde in der Lesche zu Delphi
“N. E. Dieksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus und die alte Glosse
der. Ruriner Institutionen Handschrift. ra
Seite I
EXT
Seite 1
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- 237
- 266
- 269
Seite 1
Seite 1
“Pertz über ein Bruchstück des 98 ten Buchs des Livius 2 2222222200. Seite 221
V'TRENDELENBURG über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme ... - 241
VNEANDER über Matthias von Janow als Vorläufer der deutschen Reformation und
Repräsentanten des durch dieselbe in die Weltgeschichte einge-
ITBIENLENENEUEN WELEHE N ee. - 263
SCHOTT über das Altai’sche oder Finnisch - Tatarische Sprachengeschlecht . . . . . - 281
‘ Jacoß GRIMM über Marcellus Burdigalensis......... VE een - 429
\GERHARD über Agathodämon und Bona Dea ........ a. no ER: |
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D. öffentliche Sitzung zur Feier des Jahrestages des Königs Fried-
richs II. am 28. Januar wurde durch die Anwesenheit Sr. Majestät
des Königs und Sr. Königl. Hoheit des Prinzen von Preulsen geehrt.
Der vorsitzende Secretar Hr. v. Raumer vertheidigte in seiner ein-
zeln im Druck erschienenen Einleitungsrede Friedrich II. gegen neuere
Angriffe und theilte hiernächst die im abgelaufenen Jahre bei der
Akademie vorgekommenen Personalveränderungen mit. Sodann trug
Hr. Encke die Einleitung zu seiner Abhandlung über die Entdeckung
und erste Bahnbestimmung der Asträa vor. Diese Einleitung ent-
wickelte, nach dem geschichtlichen Gange, den Antheil, den fast jeder
Theil der praktischen Astronomie an der Entdeckung der sechs Pla-
neten, Uranus, Geres, Pallas, Juno, Vesta und Asträa gehabt hat. Die
Vervollkommnung der optischen Instrumente führte die Entdeckung
des Uranus herbei, die Genauigkeit und methodische Anordnung der
Meridianbeobachtungen die der Geres, die genaueste Bekanntschaft
mit dem gestirnten Himmel die der Pallas, die Vervollkommnung
der graphischen Hülfsmittel die der Juno, und eine noch mehr ge-
steigerte Vervollkommnung derselben Karten die der Asträa, wäh-
rend vorher eine kühne, aber einsichtsvoll verfolgte Hypothese zu
der Auffindung der Vesta geführt hatte. Die für die Astronomie so
wichtige Verbindung der Theorie mit der Praxis hat durch die Ent-
deckung des Neptun fast den Kreis der Möglichkeiten abgeschlossen.
11
Es lälst sich indessen vermuthen, dafs dieser letzte Weg auch in Zu-
kunft seltner zu der Entdeckung eines neuen Planeten führen wird,
da die günstigsten Umstände, welche bei dem Neptun, auch für eine
weniger sorgfältige Untersuchung als die des Hrn. le Verrier war,
denselben Erfolg zu erreichen möglich machten, in den nächsten Zeit-
perioden schwerlich wieder eintreten werden. Am Schlusse bemerkte
Hr. Encke noch, dals die von Hrn. d’Arrest mit Rücksicht auf die
Störungen berechnete Ephemeride die Wiederauffindung der Asträa
ungemein leicht gemacht und die Richtigkeit seiner Bahnbestimmung
bestätigt hat. Am frühesten ward sie m Pulkowa am 4. November
aufgefunden, nachdem sie sechs Monate von den Sonnenstrahlen ver-
deckt gewesen war.
Die öffentliche Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahres-
tages am &. Juli eröffnete Hr. Böckh als vorsitzender Secretar mit
einem einleitenden Vortrage, welcher im Berichte über die Verhand-
lungen der Akademie im Jahre 1847 gedruckt ist. Demnächst hielt
Hr. Dieterici als neuerwähltes Mitglied seine Antrittsrede, welche von
Hrn. Böckh beantwortet wurde; beide Vorträge sind ebendaselbst be-
kannt gemacht. Sodann berichtete der Secretar der physikalisch-
mathematischen Klasse, Hr. Encke, über die Preisfragen, welche an
diesem Tage zur Entscheidung kamen. Im Jahre 1844 hatte die Klasse
eine sorgfältige Discussion der sämmtlichen Beobachtungen des am
22. November 1843 von Hrn. Faye in Paris entdeckten Cometen ver-
langt, um daraus die wahren Elemente der Bahn mit Berücksichtigung
der Störungen herzuleiten. Hierauf ist keine Beantwortung eingegan-
gen, und da die Untersuchungen über diesen merkwürdigen Himmels-
körper inzwischen von mehreren Seiten aufgenommen, zum Theil auch
schon bekannt gemacht worden sind, so hatte die phys.-math. Klasse
keine Veranlassung, die Aufgabe zu wiederholen, welche folglich zurück-
III
genommen wurde. Im Jahre 1845 hatte die Klasse für das Jahr 1847
aus dem Cothenius’schen Legate einen Preis von 300 Rthlrn. auf die
Lösung folgender Aufgabe ausgesetzt: „Anatomische Untersuchung des
„Flachses, besonders der Bastfaser desselben zu verschiedenen Zeiten
„seiner Entwickelung in Bezug auf seine Güte, verbunden mit einer
„Untersuchung der chemischen und mechanischen Veränderungen, wel-
„che er während des Röstens und welche die Bastfaser desselben bei
„der Verarbeitung zu Leinwand und der Leinwand zu Papier erleidet.”
Es sind zur Beantwortung dieser Preisaufgabe zwei Schriften einge-
gangen. Die erste mit dem Motto: „adspectione propria” enthält in
Bezug auf die anatomische Untersuchung des Flachses nur eine kurze
Aufzählung der Theile desselben ohne gehörige Rücksicht auf ihre
Entwickelungsgeschichte, und was die chemische Untersuchung betrifft,
weder hinreichende einzelne Beobachtungen noch eine klare Darstel-
lung der Untersuchungsmethoden. Es konnte dieser Schrift der Preis
daher nicht zuerkannt werden. Die zweite Abhandlung mit dem Motto:
„Wohin der Blick des Naturforschers dringt, ist Leben oder Keim
zum Leben verbreitet” ist eine gründliche Untersuchung der Structur
und eine umfassende Entwickelungsgeschichte des Flachses. Der Verf.
hat hierbei die besten Instrumente benutzt, und, mit den Untersu-
chungen der neueren Zeit bekannt, diese Arbeit mit eben so viel Ge-
schicklichkeit, als Ausdauer und Fleils durchgeführt. Die Beobachtun-
gen sind genau und ausführlich beschrieben und durch eine sehr
grolse Anzahl von Zeichnungen erläutert. Diese Zeichnungen erfüllen
zwar den von dem Verf. beabsichtigten Zweck, sind aber nicht mit
der Genauigkeit ausgeführt, die man jetzt bei botanischen Abhand-
lungen verlangen kann und an welche man gewöhnt ist. Es ist zu
bedauern, dals nach seiner eigenen Äufserung besondere Umstäden
den Verf. gehindert haben, über die botanische Untersuchung hinaus-
b
IV
zugehen, und selbst in dieser hat er Einiges unausgeführt lassen müs-
sen, z. B. was die Krankheiten des Flachses betrifft. Da er indessen
die Entwickelungsverhältnisse der Bastfasern des Flachses für techni-
sche Zwecke, den Anforderungen gemäls, gründlich nachgewiesen und
mühsam dargestellt, er also durch diese Arbeit in ökonomischer Be-
ziehung etwas Förderndes geleistet hat, so beschlols die Akademie,
ihm den Preis aus dem Legate, welches für wissenschaftliche Unter-
suchungen über ökonomische Gegenstände im Allgemeinen gestiftet
worden ist, zu ertheilen, und hofft, dals der Verf. durch diese öffent-
liche Anerkennung veranlalst werde, seine Untersuchungen fortzusetzen
und sie besonders auf die speciellen Forderungen der Preisfrage, näm-
lich auf die chemischen und mechanischen Veränderungen des Flachses
und der Leinwand auszudehnen; aulserdem hält sie es für nothwen-
dig, dals er für den Druck aus der grolsen Anzahl von Zeichnungen
die wichtigsten wähle, sie noch einmal mit dem Gegenstande selbst
vergleiche, und ihnen eine grölsere Vollendung gebe. Als Verfasser
der gekrönten Preisschrift fand sich bei Eröffnung des versiegelten
Zettels Hr. Aloys Pollender, Doctor der Medicin und Chirurgie,
prakt. Arzt, Operateur und Geburtshelfer in Wipperfürth. Hierauf ver-
kündete Hr. Böckh eine neue Preisfrage der philos.-histor. Klasse,
aus dem von Hrn. v. Miloszewski gestifteten Legat. Diese lautet wie
folgt: Die letzte Schule der griechischen Philosophie, die neuplatonische,
verschmelzt mit ihrer platonischen Richtung und ihrer orientalischen
Anschauung Elemente von Systemen, welche sonst in ihrem Ursprunge
gegen dieselben einen Gegensatz bilden, namentlich peripatetische und
stoische Elemente. Schon der erste Neuplatoniker, Ammonius Sakkas,
suchte recht eigentlich den Plato und Aristoteles in Übereinstimmung
zu setzen, und einer der letzten, Simplicius, schrieb gelehrte Commen-
tare zum Aristoteles. Das Verhältnils «les Neuplatonismus zum Ari-
Vv
stoteles ist einer genauern Untersuchung werth, da eine solche die
Mischung der Elemente in dieser Lehre aufklären, das Verständnils
derselben fördern und zugleich einen wichtigen Beitrag zur Geschichte
des Aristotelismus geben wird. Indessen beschränkt die Akademie
diese Aufgabe zunächst auf den Plotin, und wünscht dadurch zu
veranlassen, dals jene allgemeine Untersuchung eine specielle Grund-
lage empfange. Plotin hat den Aristoteles studirt. Bald nimmt er still-
schweigend Elemente von ihm auf, bald führt er seine Lehren prü-
fend an. Bis in seine Terminologie und seine Sprache hinein erkennt
man diese aristotelischen Spuren. Daher wird zur schärferen Auffas-
sung des Plotin und selbst zur Kritik seiner Schriften eine Unter-
suchung wichtig sein, welche darauf ausgeht, das Verhältnifs des Plotin
zum Aristoteles nach allen Seiten hin aufzufinden und möglichst zu
erschöpfen. Anfänge dieser Untersuchung finden sich in den letzten
Arbeiten auf diesem Gebiete. Die Akademie stellt hiernach folgende
Preisfrage: „Wie falst und beurtheilt Plotin den Aristoteles? und welche
„aristotelische oder peripatetische Elemente lassen sich in seiner Lehre
„und seiner Darstellung erkennen? Diese Fragen sind so zu beant-
„worten, dafs Plotin in diesen Beziehungen zugleich einer Kritik unter-
„worfen wird.” Die ausschlielsende Frist für die Einsendung der Be-
antwortung dieser Aufgabe, welche nach der Wahl der Bewerber in
deutscher, lateinischer oder französischer Sprache geschrieben sein
kann, ist der 1. März 1850. Jede Bewerbungsschrift ist mit einem
Motto zu versehen und dieses auf dem Äulfsern des versiegelten Zet-
tels, welcher den Namen des Verfassers enthält, zu wiederholen. Die
Ertheilung des Preises von 100 Ducaten geschieht in der öffentlichen
Sitzung am Leibnizischen Jahrestage im Monat Juli des gedachten
Jahres. Endlich hielt Hr. Müller einen ausführlichen wissenschaft-
lichen Vortrag über den fossilen Hydrarchos des Hrn. Koch, mit
b2
VI
Vorzeigung mehrerer Stücke des versteinerten Skelets; worüber das
Genauere theils in dem Monatsbericht der Akademie, theils in den
später erscheinenden Abhandlungen derselben enthalten ist.
Die öffentliche Sitzung zur Nachfeier des Geburtstages Sr. Ma-
jestät des Königs am 21. October wurde von dem vorsitzenden
Secretar Hrn. Encke mit einer Einleitungsrede eröffnet. Nachdem
er die Veranlassung der Feier hervorgehoben hatte, behandelte er die
Frage von der Öffentlichkeit wissenschaftlicher Vereine. Die bei der
Akademie schon bestehende Einrichtung heise in dieser Beziehung
eine Änderung des Bestehenden überflüssig und nicht rathsam er-
scheinen, da die unmittelbare Einwirkung einer solchen auf Wahl
des Gegenstandes und Form der Darstellung, für die Fächer, welche
in das Gebiet der Akademie gehören, weniger geeignet sein werde,
und die vielfachen Berufsthätigkeiten der Mitglieder aufserhalb der
Akademie, ein angemessenes Eingehen auf die Bedürfnisse und For-
derungen der Zeit an sich schon sicherten. Eine Besorgnils, dals die
Wissenschaften dadurch an Geltung verlieren möchten, könne in un-
sern Verhältnissen nicht stattfinden, und es sei reiflich zu erwägen,
ob die Abhängigkeit, welche das Heraustreten aus dem angewiesenen
Kreise mit sich führe, im Verhältnils stehe zu dem Nutzen, der sich
dadurch erreichen lasse. Am Schlusse ward eine Übersicht der Thä-
tigkeit der Akademie in dem verflossenen Jahre gegeben, durch eine
kurze Zusammenstellung der gelesenen Abhandlungen und Vorträge,
und der Fortschritte in den grölseren Unternehmungen, welche un-
ter der Leitung der Akademie stehen. Hierauf las Hr. J. Grimm
über das Pedantische in der deutschen Sprache, welches er zunächst
in der Abweichung unserer höfischen Anredeformen von dem ein-
fachen naturgemälsen Ausdruck nachwies, dann auch in der Ungunst
des deutschen Artikels, gegenüber dem der romanischen Sprachen,
vo
bestätigt fand. Hierauf wurde das Streben neuerer Grammatiker ge-
tadelt, welche eine der glänzendsten Eigenschaften unserer Sprache,
das ablautende Verbum verkennend, bemüht sind, dessen schöne Ge-
stalten, durch die angeblich regelmälsigeren einer Verbalbildung zwei-
ten Ranges zu verdrängen. Nicht minder pedantisch scheint die lä-
stige Häufung der uns ausgestorbene Verbalformen ersetzen sollenden
Hülfswörter. Vor den allzu leichtsinnig vervielfachten, zusammen-
gesetzten Wörtern wurde im ganzen den abgeleiteten der Vorzug zu-
erkannt, obgleich auch in der Ableitung es nicht ohne Milsgriffe ab-
gegangen ist, wie das Beispiel der zahlreichen Verba auf ieren dar-
thut. Dann kam die Rede auf unsere heutige Schreibung, welcher
der Vorwurf pedantischer Barbarei nicht erspart werden kann, wie
zumal die Milshandlung unserer Eigennamen an den Tag legt, noch
mehr die grundlose Auszeichnung der Substantiva durch grofse Buch-
staben. Der Vortrag schlols mit einer Erwägung, in wiefern es im
Vermögen der Akademie früher lag, noch liegt, und künftig liegen
kann, über der deutschen Sprache zu wachen.
Zu wissenschaftlichen Zwecken hat die Akademie in diesem
Jahre folgende Summen bewilligt:
400 Rthlv. an Hrn. Prof. Dr. Franz für die Bearbeitung des Cor-
pus Inseriptionum Graecarum.
300 » zur Anfertigung und Erwerbung von Zeichnungen des
Hydrarchus des Hrn. Koch unter Leitung des Hrn.
Joh. Müller.
100 » zur Unterstützung der von Hrn. Dr. Gerhardt in Salz-
wedel unternommenen Herausgabe der mathematischen
Abhandlungen von Leibniz.
VIII
Hr
100 Rithlr. an Hrn. Dr. Rammelsberg zur Untersuchung der Li-
150
200
175
200
300
thion - Verbindungen.
zu kleinen Ausgaben bei der Sammlung des Corpus
Inseriptionum Latinarum.
an Hrn. Prof. Dr. Koch zur Ausführung der Zeich-
nung seiner Karte vom Kaukasischen Isthmus. +
an den Prof. Dr. Winckelmann zum Behufe der Ver-
gleichung von Handschriften des Plutarch.
an Hrn. Prof. Bonitz in Stettin für die Anfertigung
des Index zur akademischen Ausgabe des Aristoteles.
an Hrn. Prof. Schwartze hierselbst zu einer Reise nach
London, um dortige Coptische Codices zu kopiren.
Personal-Veränderungen im Jahre 1847.
Gestorben sind:
. J. G. Hoffmann, ordentliches Mitglied der philosophisch - histo-
rischen Klasse.
F. Jacobs in Gotha, auswärtiges Mitglied der philosophisch - hi-
storischen Klasse.
Rühle von Lilienstern in Berlin, Ehrenmitglied der Akademie.
Alexandre Brongniart in Paris, corresp. Mitglied der physikalisch-
mathematischen Klasse.
von Linde in Warschau
Graf de Clarac in Paris
Geijer in Upsala
corresp. Mitglieder der philoso-
phisch--historischen Klasse.
Finn Magnussen in Kopenhagen
Ausgeschieden sind:
Hr. F. C. Eichhorn, ordentliches Mitglied der philosophisch - histo-
Sir
Hr.
rischen Klasse, in Folge der Verlegung seines Wohnsitzes von
Berlin nach Ammern bei Tübingen, wurde aber zugleich zum
auswärtigen Mitgliede der philosophisch -historischen Klasse er-
nannt (s. unten).
F. v. Raumer, ordentliches Mitglied der philosophisch - histori-
schen Klasse und Secretar der Klasse, in Folge seiner Erklä-
rung vom 22. März 1847.
Erwählt wurden:
. Trendelenburg, ordentliches Mitglied der philosophisch - histo-
rischen Klasse, zum Secretar derselben Klasse am 31. Mai und
bestätigt durch die Königl. Kabinets-Ordre vom 12. Juli 1847.
Dieterici zum ordentlichen Mitgliede der philosophisch - histori-
schen Klasse am 17. December 1846 und bestätigt durch die
Königl. Kabinets-Ordre vom 20. Januar 1847.
F. C. Eichhorn in Ammern bei Tübingen, bisher ordentliches
Mitglied der philosophisch-historischen Klasse, zum auswärtigen
Mitgliede derselben Klasse, am 15. April 1847.
Garabad Artin Davoud-Oghlou in Constantinopel zum Ehren-
mitgliede der Akademie am 10. Juni und bestätigt durch die
Königl. Kabinets -Ordre vom 24. Juli 1847.
J. M. C. Duhamel in Paris
H. Milne Edwards in Paris zu corresp. Mitgliedern
Hugo von Mohl in Tübingen der phys.-math. Kl.
Rooderick Impey Murchison in London| am 15. April 1847.
H. V. Regnault in Paris
'. A. J. C. A. Dureau de la Malle in Paris]zu corresp. Mitgliedern der
G. F. Grotefend in Hannover philos.-histor. Klasse
E. Sarti in Rom am 15. April 1847.
Visconde de Santarem in Paris
P. A. Munch in Christiania zu corresp. Mitgliedern derselben
C. Bartholmes in Paris Klasse am 10. Juni 1847.
F. Ravaisson in Paris
T——— NNNNIINE
Verzeichnils
der Mitglieder der Akademie
am Schlusse des Jahres 1847.
nmannmmmnmannnnn
Il. Ordentliche Mitglieder.
Physikalisch-mathematische Klasse.
Herr Grüson, Yeeran ....
A.®v. Humboldt ...
Eytelwein, Neteran . . .
v. BucaA u Mr. 1806 März 27.
Erman, Newan., .... 15806 März 27.
Lichtenstein Veteran „ . 1814 Mai 14.
Weis .. . . 1815 Mai3.
VE A a etrri.c 1815 Juli 15.
Mitscherlich. ..... 1822 Febr. 7
Karsten. N... . 1822 April 18.
Encke, Secear . 2... 1825 Juni 21.
Dirksen (E.
Be
Datum der Königl.
Bestätigung
———
1798 Febr. 22.
1800 Aug. 4.
1803 Jan. 27.
1825 Juni 21.
Ehrenberg, Seceu@r . . 1827 Juni 18.
Crelle
v. Savigny,
Böckh, Veteran. Secretar „
Bekker....
Ritter
Bopp »
Lachmann .
Ranke
v. Schelling
...
Jac. Grimm
Zumpt
1827 Aug. 23.
Herr Klug
Kunth . .
Dirichlet
Steiner
Jacobi
v. Olfers
Dove
ll she) allen ie
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Philosophisch-historische Klasse.
Veteran
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. . 1811 April 29.
. 1814 Mai 14.
1815 Mai 3.
. 1822 April 18.
1822 April 18.
1830 Juni 11.
1830 Juni 11.
1832 Febr. 13.
1832 Mai 7.
1832 Mai 7.
. 1835 März 12.
Herr Gerhard
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Neander. .
von der Hagen... .
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Trendelenburg, Secretar
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XI
Datum der Königl.
Bestätigung.
1830 Jan. 11.
Jan. 11.
Febr. 13.
Febr. 13.
Juli 16.
Juli 16.
Juli 16.
April 5.
Jan. 4.
Jan. 4.
Febr. 4.
Jan. 27.
Juni 28.
Juni 28.
März 12.
April 5.
März 14.
März 9.
März 9.
März 9.
März 9.
1843 Jan. 23.
1846 März 11.
. 1847 Jan. 20.
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N. Auswärtige Mitglieder.
Physikalisch-mathematische Klasse.
Herr Gaufs ın. Göttingen. .....:.20 een ee
- Freih. v. Berzelius in Stockholm ...........
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- Robert Brown in London ..... N NEN: 2
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Sir John Herschel in Hawkhurst in der Grafschaft Kent
Herr Faraday in London
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As: Norlaie, ın, fahre Pate lei .ulkeiitutn ud Lied
-0Gay-Lussac in ‚Paris\ sro ...2 0 2 ad.
Sir David Brewster in Edinburg
Philosophisch-historische Klasse.
Herr Gottfr. Hermann in Leipzig ......... C . . 1820 Sept. 3.
06. Ritter intGöftingen. .... 1 ee 1832 Febr. 13.
- Eichhorn in Ammern bei Tübingen ......... 1832 Febr. 13.
us. Betronne mW Barisenart te Sa b . 1832 Mai 7.
1. Gousiryin „Parisv nahe ae ee DRIN ER: 1832 Mai 7.
= Lobeck: in. Königsberg: %...2.%. ee 1832 Mai 7.
- H. H. Wilson in Oxford
- Guizot in Paris
- Welcker in Bonn
De u JR 3 Din SIsO En PO oe ee
Me a, nie a Ne we) ae, im Sohle 8 BLU
Datum der Königl.
Bestätigung.
1810 Juli 18.
1825 Juni 28.
1828 Jan. 4.
. 1834 März 20.
1836 April 5
1839 Febr. 4
1842 Juni 28.
1842 Juni 28.
. 1846 März 11.
1839 April 21.
1840 Dec. 14.
1846 März 11.
1846 März 11.
II. Ehren-Mitglieder.
Datum der Königl.
Bestätigung.
Herr /Imbert Delonnes in Paris ............ 1801 Oct. 22.
- Graf v. Hoffmansegg in Dresden... .. ... 1815 Mai 3.
- William Hamilton nLondon.......... 1815 Juni 22.
Fresken MioRdon. 222.272 RER. Eh et: 1815 Juni 22.
- General-Feldmarschall Freih. v. Müffling in
Berlinik v. en HE MIESBER ne a1 1823 Juni 23.
- ». Hisinger auf Skinskatteberg bei Köping in
SChweden ne 2 2 BUT EL METER. . 1828 Jan. 4.
- Freiherr ®. Zindenau in Altenburg... ..... 1828 Jan. 4.
- Bunsen in London ...... I ENG Al 1835 Jan. 7.
- Duca di Serradifalco in Palermo ........ 1836 Juli 29.
- Freiherr Prokesch von Osten in Athen... ... 1839 März 14.
- Duc'de Zuynes in Paris .. +...» vo... 1840 Dec. 14.
- Carl Lucian Bonaparte Prinz von Uanıno in
BIOVENZ. .. 2 euer. AREA ERS 1843 März 27.
- HWheaton in New-York . 2... c.»s..... 1843 Sept. 30.
= MerianiintBasel u. ..u.n: AR Bere. 1845 März 8.
- Garabed Artin Davoud-Oghlou in Constanti-
MODEIR eu. = nase nem en en. AR eh REEHRNE 1847 Juli 24.
c2
xXIn
XIV
IV. Correspondirende Mitglieder.
Für die physikalisch-mathematische Klasse.
Datum der Wahl.
Herr Agassiz in Neuenburg. .... . 1836 März 24.
Biddell Airy in Greenwich . . . 1834 Juni 5.
Amıcinm Blorenz eu . . 1836 Dec.1.
Argelander n Bom ....... 1836 März 24.
v. Baer in St. Petersburg ..... . 1834 Febr. 13.
Becquerel in Paris ....... . 1835 Febr. 19.
P..Berthier.n Paris ..... . . 1829 Dec. 10.
Biot. ın „Paris .rel.d. 2. a1 unzer.
Brandt in St. Petersburg ..... . 1839 Dec. 19.
Adolphe Brongniart in Paris . .. 1835 Mai 7.
Bunsen in Marburg ....... 1846 März 19.
Garlima in) Mallandean eur 1826 Juni 22.
Carus, in. Dresdenu.!. ‚a. 1827 Dec. 13.
Chevreul, in) Parıs ser u: 1834 Juni 5.
®. Dechen in Bonn ....... 1842 Febr. 3.
Döbereiner in Jena ....... 1835 Febr. 19.
Dufrenoy in Paris ........ 1835 Febr. 19.
Duhamel cm Paris) ven an a 1847 April 15.
DNB DumasıınWDarisa 1834 Juni 5.
Elie de Beaumont in Paris ... . 1827 Dec. 13.
Eschricht in Kopenhagen ... . 1842 April 7.
Fechner in Leipzig ........ 1841 März 25.
F. E. L. Fischer in St. Petersburg 1832 Jan. 19.
Gotthelf Fischer in Moskau ..... 1832 Jan. 19.
Klauti in Neapel... ..... » ... 1829 Dec. 10.
Kuehs, in München@. m... 1834 Febr. 13.
Gaudichaud in Paris ....... 1834 Febr. 13.
Gergonne in Montpellier ..... 1832 Jan. 19.
C. G. Gmelin in Tübingen ....... 1834 Febr. 13.
L. Gmelin in Heidelberg ....... 1827 Dec. 13.
Göppert in Breslau ........ 1839 Juni 6.
Datum der Wahl.
Herr Thom. Graham in London... .. . 1835 Febr. 19.
- Haidinger in Wien .:... “2.2.0. 1842 April 7.
Sir W.R. Hamilton in Dublin ..... . 1839 Juni 6.
Herr Hansen in Gotha ......... . . 1832 Jan. 19.
- Hansteen in Christiania ....... . 1827 Dec. 13.
- Hausmann in Göttingen ....... 1812
Sir W. J. Hooker in Kew........ . . 1834 Febr. 13.
Herr Jameson in Edinburg ......... 1820 Juni 1.
ER KOM ZEINBDJOTDIat 2 ee ee 1841 März 25.
- Kummer’ in Breslau . !. 2... . . 1839 Juni 6.
SER ANENIN? Parist nur Pu OEM EUpS ER. ZRIE, 1838 Dec. 20.
- m. Ledebour in Dorpat ........ 1832 Jan. 19.
me Werrier ın“ Paris? see SNENSAGHDec.lT.
ee Grat Prbronin Paris) Nasa Janzıy.
- Freiherr ®. Liebig in Gielsen....... 1833 Juni 20.
MEMAIEP IMNEORAON*. U. ur ee. . 1834 Febr. 13.
WE Eiouptllern. Parse ont. REINE ER ER 1839 Dec. 19.
9.2 Martıus in% München ı.. "a N 1832 Jan. 19.
= MellonesinuINeapelen rasen. N 1836 März 24.
- Milne Edwards’ in ‘Paris... 1847 April 15.
- Möbius in Leipzig ..... Sergio 1829 Dec. 10.
- Hugo v. Mohl in Tübingen ...... 1847 April 15.
#8 Morun Netzer een N, 1839 Juni 6.
- "Moser in Königsberg... ........ 1843 Febr. 16.
Se Yen mW Ütrechteie Emo 1845 Jan. 23.
Sir Roderick Impey Murchison in London . 1847 April 15.
Herr Naumann in Leipzig.......... 1346 März 19.
- F.E. Neumann in Königsberg .... . 1833 Juni 20.
- Oersted in Kopenhagen... ...... 1820 Nov. 23.
Se Ohr NUrDberet ee 1839 Juni 6.
- R. Owen in London... ..... . . 1836 März 24.
Se delPambourn" Paris ma asien ale . 1839 Juni 6.
ur EN LE Were koesfeer 1812
AN N a NL es are 1832 Jan. 19.
SEWPOTLCEIEL INT DArIS? N ee iR am 1832 Jan. 19.
- "de Pontecoulant in Paris... .. .... 1832 Jan. 19.
EP TESCNIYDTACH. > RR SEN NE BE ERS IEER 1838 Mai 3.
SBNPruinkinfe in "Breslau... 20 Memaur BE! 1832 Jan. 19.
Se @nerelee im. Brüssel 4 3 2.0 RR DE 1832 Jan. 19.
XV
xXVI
Herr Rathke in Königsberg... . .
Regnault in Paris ......:
Retzius in Stockholm... ..
Achille Richard in Paris...
Richelot in Königsberg ..... »
de la Rive in Genf ......
Aug. de Saint-Hilaire in Paris ..
Jul. Cesar de Sayigny in Paris
v. Schlechtendal in Halle ..
Schumacher in Altona ....
Seebeck in Dresden... .....
Marcel de Serres in Montpellier .
v. Siebold in Freiburg ......
Struve in St. Petersburg ...
‚Studen ın "Bern Ylayicy a ai
Sturm nt Paris ra acer
Tenore in Neapel ...... -
Thenard m Paris... .....
Tiedemann in Heidelberg ..
Tilesius in Leipzig ......
Datum der Wahl.
. 1834 Febr. 13.
1847 April 15.
1842 Dec. 8.
1835 Mai 7.
. 1842 Dec. 8.
.
1835 Febr. 19.
1834 Febr. 13.
1826 April 13.
. 1834 Febr. 13.
1826 Juni 22.
1845 Jan. 23.
1826 April 13.
. 1841 März 25.
1832 Jan. 19.
1845 Jan. 23.
1835 Febr. 19.
1812
1812
1812
. 1812
Treriramus ın Bonn. » 2 unnrsc
Aug. Valenciennes in Paris .
Rud. Wagner in Göttingen .
Wahlenberg in Upsala....
Wallich in Caleutta .....
1834 Febr. 13.
. 1836 März 24.
1841 März 25.
. 1814 März 17.
E. H. Weber in Leipzig.......
W.Weber in Leipzig ....
Wöhler in Göttingen .......
1832 Jan. 19.
1827 Dec. 13.
. 1834 Febr. 13.
1833 Juni 20.
Für die philosophisch-historische Klasse.
. . 1812
1845 Febr. 27.
. . 1847 Juni 10.
. 1845 Febr. 27.
. 1846 März 19.
1845 Febr. 27.
1836 Juni 23,
. 1832 April 12.
Avellino in Neapel ........
Baneroft in London .........
Bartholmes in Paris .......
Bergk in Marburg... ..... 2
Bernhardy in Halle........
Böhmer in Frankfurt a..M. .....
Graf Borghesi in St. Marino.....
Brandis in'Bonn '. ..% yretench
Braun in Rom... ereskr
1843 Aug. 3
Herr Burnouf in Paris ....:.....
Cavedoni in Modena ......»».»
de Chambray in Paris .. 2...»
Chmel in Wien ......... 00%.
Charl. Purton Cooper in London ..
Dahlmann in Bonn.........
Delbrück in Bonn........--
Diezsın"Bonne 2 2 ec ao Rn e
W. Dindorf in Leipzig ..... + -
Dureau de la Malle in Paris.....
w. Frähn in St. Petersburg... .. -
Freytag in Bom ....... +.
Del Furia m Florenz... ......-
Geel in Leyden .... cr...
Gervinus in Heidelberg ..... . - .
Göttling in Jna...... +... - 2
G. F. Grotefend in Hamover ....
Guerard ın Paris... 0 . Eu er er
Freih. v. Hammer-Purgstall in Wien
Hasetin. Paris. = 2. c „ein. ren
Sir Graves Chamney Hauglhıton in London
Herr Haupt in Leipzig... cr ..
C. F. Hermann in Göttingen. ....
Hildebrand in Stockholm... ... -
o. Hormayr in München ......-
Kormnard ın. Paris eek nen eat
Stanisl. Julien in Paris ...:.-- Bi:
Kemble in London ......... E
Kopp in BKuzernr. 2 Reese
Kosegarten in Greifswald... ....
Labus in Mailand ..........-
Lajard in Paris ... ee rr 00.
Lappenberg in Hamburg .. . . - =
Tassen. ın Boun . » 0.00 002 Alehak
Leemans in Leyden......- lb aER
Lehrs in Königsberg... . . ER:
Lenormant in Paris .......-..»
Lepsius in Berlin, .. . 2 0. ewdh.i-
Töbell mn Bonn... ..... mas:
Dautm der Wahl.
—
1837 Febr. 16.
1845 Febr. 27.
1333 Juni 20.
1846 März 19.
1836 Febr. 18.
1845 Febr. 27.
1812
1845 Febr. 27.
1846 Dec. 17.
1847 April 15.
1834 Dec. 4.
1829 Dec. 10.
1819 Febr. 4.
1836 Juni 23.
1845 Febr. 27.
1844 Mai 9.
1847 April 15.
1845 Febr. 27.
1814 März 17.
1812
1837 Febr. 16.
1846 März 19.
1840 Nov.5.
1845 Febr. 27.
1829 Febr. 12.
1821 Aug. 16.
1842 April 14.
1845 Febr. 27.
1846 März 19.
1829 Dec. 10.
1843 März 2.
1846 Dec. 17.
1845 Febr. 27.
1846 Dee. 17.
1844 Mai 9.
.. 1845 Febr. 27.
1845 Febr. 27.
1844 Mai 9.
1846 Dec. 17.
xVu
XVII
Datum der Wahl.
Herr J. J. da Costa de Macedo in Lissabon . . 1838
- Madvig in Kopenhagen .......... 1836
- NMachnı Rom... ee ee el. are n1822
- Graf della Marmora in Genua ...... 1844
4 Merer un’ Halle nu.und.. Asa. Kraus 1824
- Molbech in Kopenhagen .......... 1845
- Münch an Christiania oe 22 SEE. u 1847
AeMusto scıdes, na Vorfu.. u 1815
- C. F. Neumann in München ..... . . 1829
- Constantin Oekonomos in Athen... ... 1832
- ta N Orelluhn, Zürich. EUR ee 1836
=NOrt > Manara an Verona 22 Rene 1842
-,t Balackyin Prag... ERENTO 1845
Sir Francis Palgrave in London ........ 1836
Hertz Ama Reyzor un lurin. We. ee 1836
Sir Thomas Phillipps in Middlehill....... 1845
Herr! Prescottän Boston EmD.erl. Dr Daten 1845
ZRH N OuntmerneneiinBarise.n one Ve he 1812
- Rafn in Kopenhagen... .......... 1845
— Raoul=Rochette.in Paris... .. 0: 1832
=/I Rayarsson, inYBarısı m Mnleke - ELBA
- w. Reiffenberg in Brüssel ......... 1837
- ‚ohatschläini Bonn% . ass. ME var: 1845
A Hojskanalklallei. 230.0. em lt 1836
= de WSantarem in Paris, all. en 1847
At Sant, a0 MRoOmın ee ee 1847
-H1 Schaffariksin. Drag, » .... #160. Are 1840
8 Schmelleriin München‘... . .I.k..d.o.. 1836
- Schömann in Greifswald... ....... 1824
-MiSeechräin IRomı.......:. HEULEN 1846
- Sparks in Cambridge bei Boston... ... 1845
- \Spengel‘iin Heidelberg ... ... . ..u.. si: 1842
t Stäln sn lStutigartı 3. nue.tl. el 1846
-uSterzeliinsBreslau..... ....... 2 seie Ku: 1845
= Kiihierschihn: München. . sn 1825
1% Uhländ\in: Tübingen»... Brauner 1845
-e Korst anWlRKönissberg 1.) ER. ne. 1846
= ,Mkaitzuani Göttingen, . ..... Ulla: 1842
wldeYattehin Paris... u. 20... 6 Me 1845
> 7 17:2 22250
Febr. 15.
Juni 23.
Febr. 28.
Mai 9.
Juni 17.
Febr. 27.
Juni 10.
Juni 22.
Dec. 10.
Dec. 13.
Juni 23.
Dec. 22.
Febr. 27.
Febr. 18.
Febr. 18.
Febr. 27.
Febr. 27.
Febr. 27.
April 12.
Juni 10.
Dee. 7.
Febr. 27.
Febr. 18.
Juni 10.
April 15.
Febr. 13.
Febr, 18.
Juni 17.
März 19.
Febr. 27.
Dec. 22.
Dee. 17.
Febr. 27.
Juni 9.
Febr. 27.
Dee. 17.
April 14.
Febr. 27.
Physikalische
Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
a
Aus dem Jahre
1827.
aaa onen
Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie
der Wissenschaften.
1849.
In Commission in F. Dümmler’s Buchhandlung.
D'
Inhalt.
NEUMANN über ein allgemeines Princip der mathematischen Theorie inducirter
elektrischers Strömen men nee ee ER Bee al ne
HERMANN KARSTEN: Die Vegetationsorgane der Palmen, eine vergleichend - ana-
tomisch -physiologische Untersuchung... .........2.0.
MÜLLER über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten... ...... der
Derselbe: Bemerkung über die Fulsknochen des fossilen Gürtelthiers, Glyptodon
CIGB DES ONE > en on olakie er ableiten ehe ef ehr
EHRENBERG: Passatstaub und Blutregen. Ein grofses organisches unsichtbares
Leben in der Atmosphäre... .. are
Seite 1
73
237
Be len Be Ba
f} i
2 Fed %)
1
Über
ein allgemeines Princip der mathematischen
Theorie inducirter elektrischer Ströme.
on
H” F. NEUMANN.
mmnnnannnannnmun
[Vorgelegt in der Akademie der Wissenschaften am 9. August 1847.]
k meiner Abhandlung über die mathematischen Gesetze der inducirten
elektrischen Ströme (!) habe ich die Fälle von linearen Induktionen behan-
delt, in welchen die gegenseitige Lage der Elemente der bewegten Stücke
unverändert bleibt, diese also nicht ihre Form, nur ihre Lage verändern,
die Stücke mochten übrigens dem inducirten Leiter-System oder dem indu-
eirenden Strom-System angehören. In der vorliegenden Abhandlung findet
in Beziehung auf die Bewegung der Elemente eines jeden der beiden Systeme
keine andere Beschränkung statt, als die, welche für das Zustandekommen
von indueirten Strömen überhaupt nothwendig ist, nemlich dafs die Ele-
mente eines jeden der beiden Systeme während ihrer Bewegung unter einan-
der in leitender Verbindung bleiben. Diese weitere Entwickelung des in der
frühern Abhandlung zum Grunde gelegten Induktions - Gesetzes hat zu einem
so einfachen und allgemeinen Theorem geführt, dafs dieses jetzt als ein Prin-
eip der mathematischen Theorie der inducirten elektrischen Ströme angesehn
werden kann.
Dies Theorem läfst sich so aussprechen:
Wird ein geschlossenes, unverzweigtes, leitendes Bo-
gensystem A, durch eine beliebige Verrückung seiner
Elemente, aber ohne Aufhebung der leitenden Verbin-
(') Die mathematischen Gesetze der inducirten elektrischen Ströme von F. E. Neumann.
Aus den Schriften der Berlin. Akad. d. W. von 1845 besonders abgedruckt. Reimer 1846.
Phys. Kl. 1847. A
[80]
NEUMANN über ein allgemeines Princip
dung derselben, in ein anderes A, von neuer Form und
Lage übergeführt, und geschieht diese Veränderung von
A,in A, unter dem Einflufs eines elektrischen Strom-
Systems B, welches gleichzeitig durch eine beliebige
Verrückung seiner Elemente eine Veränderung in Lage,
Form und Intensität von B, in B, erfährt, so ist die Summe
der elektromotorischen Kräfte, welchein dem leitenden
Bogensystem durch diese Veränderungen indueirt wor-
den sind, gleich dem mit der Induktions-Oonstante e
multiplieirten Unterschied der Potentialwerthe des Stro-
mes B,in Bezug auf A, und des Stroms B, in Bezug auf A,,
wenn A, und A,von der Strom-Einheit durchströmt ge-
dacht werden.
Der vorstehende Ausdruck des Theorems setzt voraus, dafs das indu-
eirte Leiter-System ohne Verzweigungen ist, und dem indueirten Strome
also nur eine ungetheilte Bahn bietet. Hat das Leiter-System Verzweigun-
gen, so mufs man dasselbe sich in geschlossene unverzweigte Umgänge zer-
legt denken, und auf jeden dieser Umgänge, als wäre er nur allein vorhan-
den, das Theorem anwenden. Dadurch erhält man die Summe der in jedem
dieser einfachen Umgänge inducirten elecktromotorischen Kräfte, und dies
ist diejenige Gröfse, deren Kenntnifs nöthig und hinreichend ist um, wenn
die Leitungswiderstände gegeben sind, die Stärke des inducirten Stromes
in jedem Theile des Leiter-Systems zu bestimmen. In dieser Erweiterung
giebt das vorstehende Theorem unmittelbar den Ausdruck der eleetromoto-
rischen Kräfte in allen Fällen von linearen Induktionen, welche durch Ver-
änderungen der Stromstärke und der relativen Lage der Strom-Elemente in
Bezug auf die Elemente eines beliebig verzweigten Leiter-Systems in diesem
erregt werden, die Fälle nicht ausgeschlossen, in welchen durch Verrückung
von Stromstücken oder Stücken des Leiter-Systems Elemente aus der Bahn
des inducirenden oder des inducirten Stromes heraustreten, oder eintreten.
Die Gesetze der Magneto -Induktion sind als ein besonderer Fall in dem
Theorem enthalten. Nicht unter diesem Theorem begriffen sind die Fälle,
wo ein so rascher Wechsel der inducirenden Ursache stattfindet, dafs in dem
indueirten Strom keine gleichförmige Strömung angenommen werden darf,
wie z. B. bei den elektrischen Entladungen.
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 3
Der Potentialwerth eines geschlossenen elektrischen Stromsystems in
Bezug auf ein anderes geschlossenes Stromsystem ist die negative halbe Summe
der Produkte der Bahnelemente des einen Systems mit den Bahnelementen
des andern, jedes Produkt zweier Elemente mit ihren Intensitäten und dem
Cosinus ihrer Neigung gegeneinander multiplieirt, und durch ihre gegensei-
tige Entfernung dividirt. (1)
Es sei Dr, ein Element der inducirenden Strombahn B, in der An-
fangsposition ihrer Elemente, i, die Stromstärke in Dr,; es sei ferner Ds, ein
Element des inducirten Leiter- Umgangs A, in seiner Anfangsposition und
(Dr,. Ds,) bezeichne die Neigung von Dr, gegen Ds,,, so wie r, die gegen-
seitige Entfernung dieser Elemente. Durch Q(s,. s,) werde der Potential-
werth des Stromes B, in Bezug auf den von der Strom -Einheit durchström-
ten Umgang A, bezeichnet. Für die Endpositionen B, und A, sollen i
02)
Dr,, Ds,, r, die entsprechende Bedeutung haben. Dann ist
Ole ee en
T,
os, e; $,) — Tr z $37, er - 20 Dr, Ds,
Tu
worin die mit S und 3 bezeichneten Integrationen auf alle Elemente Ds des
indueirten Leiterumganges und alle Elemente Dr des inducirenden Strom-
systems auszudehnen sind.
Die Summe der elektromotorischen Kräfte, welche während die Strom-
und Leiter-Elemente aus ihren Anfangszuständen in ihre Endzustände über-
gegangen sind, inducirt worden sind, ist nach dem vorstehenden Theorem
e 100, 8,) — 92. 5)} (4)
wofür ich auch schreibe
rurgs [= ADE: 2 TDr Ds (2)
r
worin die Klammer [ ]’ die Differenz der Werthe bezeichnen soll, welche
die von ihr eingeschlossene Gröfse in den Endpositionen der Strom- und
Leiter-Elemente und in den Anfangspositionen besitzt. Diese Grenz-Po-
sitionen werden durch die der Klammer oben und unten zugefügten Indices
angedeutet.
(') Siehe hinten die der Abhandlung beigefügte Note.
4 Neumann über ein allgemeines Princip
Aus dem vorstehenden Ausdruck für die inducirte elektromotorische
Kraft kann man leicht einen eben so allgemeinen Ausdruck für den in dem
Leiter- Umgang A inducirten Strom ableiten. Zu diesem Ende betrachten
wir als Anfangs- und Endposition der Strom- und Leiter- Elemente zwei
sehr wenig von einander-verschiedene Positionen derselben, welche zur Zeit
tz und Z+09: stattfinden, wo 92 das Zeitelement bezeichnet. Die während
dieses Zeitelements inducirte elektromotorische Kraft ist nach (2)
2 +0:
1 icos (Ds. Ds)
— 4.53 | —| Ds Dr
und dafür kann man schreiben
(3) es pn,
Das Produkt dieser elektromotorischen Kraft mit dem reciproken Lei-
tungswiderstand € des inducirten Leiters giebt den zur Zeit £ vorhandenen
inducirten Differentialstrrom D. Wird dieses Produkt zwischen ? =,
und ?=1, integrirt, so erhält man’ den in dem Zeitraum Z, — t, inducirten
Integralstrom J. Man hat also:
(4) D=—4e Sy ee) Di DE
Fer f ; a. i cos (Ds..Dr) Ds Ds
(5) I=—zefüte 262 a2
Wenn die Verrückungen der Elemente des Leiters keine merkliche Verän-
derung des Leitungwiderstandes des inducirten Stroms herbeiführen, also €’
konstant ist, oder so angesehn werden kann, so hat der inducirte Integral-
strom den Ausdruck:
7
(6) J=—7zeS3 ga |2> Ps
7
und dieser verwandelt sich, wenn der inducirende Strom unverzweigt ist in
F L,,
(7) J,= —+2182 [9°] Ds De
t
’
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. b}
Die Ausdrücke der Stromstärken (4), (5), (6) und (7) setzen einen ein-
fachen d. h. unverzweigten indueirten Leiter- Umgang voraus. Ist der indu-
eirte Leiter verzweigt so müssen die Stromstärken in den einzelnen Zweigen
nach den Sätzen von Kirchhoff mittelst des Ausdrucks (3) bestimmt wer-
den, welcher dann auf die einzelnen einfachen Umgänge, die aus den Zwei-
gen gebildet werden können, angewandt werden mufs, und die in ihnen
während des Zeit-Elements entwickelte elektromotorische Kraft giebt.
Die Absicht der vorliegenden Abhandlung ist die Ableitung des eben
ausgesprochenen Theorems über die inducirte elektromotorische Kraft aus
dem in meiner frühern Abhandlung zum Grunde gelegten Induktions- Gesetz.
Ich habe dieselbe in fünf $$ getheilt.
$. 1. behandelt die Induktionsfälle, in welchen die Leiter -Elemente unter
dem Einflufs eines ruhenden konstanten Stroms bewegt werden.
$. 2. behandlt die Fälle in welchen in einem ruhenden Leiter durch die
Bewegung von Strom -Elementen Ströme indueirt werden.
$. 3. behandelt die durch gleichzeitige Bewegung der Strom- und Leiter-
Elemente erregten Induktionen.
$. 4. handelt von den durch Veränderungen der Stromstärken und gleich-
zeitige Bewegungen der Strom- und Leiter - Elemente inducirten Strö-
men.
$. 5. untersucht in wieweit Übereinstimmung stattfindet zwischen dem oben
ausgesprochenen Theorem und den neuen Grundsätzen über die Wir-
kung bewegter Elektrieität in der Ferne, welche W. Weber in sei-
nen elektrodynamischen Maafsbestimmungen (!) gegeben hat.
1.
In diesem $ soll der Ausdruck für die Intensität der Ströme entwik -
kelt werden, welche in einem linearen geschlossenen Leiter inducirt werden,
wenn die Elemente desselben unter dem Einflufs eines ruhenden konstanten
Stroms auf eine beliebige Weise aus einer Lage in eine andere geführt wer-
den. Auf diesen Induktionsfall läfst sich unmittelbar derjenige zurückfüh-
(‘) Electrodynamische Maasbestimmungen von W. Weber. Leipzig 1846. Besonders
abgedruckt a. d. Schriften der Königl. Sächsischen Academie.
6 Neumann über ein allgemeines Princip
ren, in welchem aufser den Leiter-Elementen auch die Strom - Elemente
eine Bewegung besitzen, wenn diese von der Beschaffenheit ist, dafs die ge-
genseitige Lage der Strom-Elemente dadurch nicht geändert wird. Man
kann in diesem Falle dem Strom- und Leiter-System eine solche gemein-
schaftliche Bewegung geben, dafs der Strom ruht. Diese, beiden Systemen
gemeinschaftliche Bewegung erregt keine Induktion.
Es seien Do und Ds Elemente der inducirenden Stromcurve und in-
ducirten Leitercurve; die Coordinaten dieser Elemente seien £, n, & und x,
Y, 2, ihre gegenseitige Entfernung r, wo also
a ar I an Sa
Die Winkel welche # mit Ds und Dr macht sollen mit $ und $ bezeichnet
werden, und der Winkel unter welchen diese Elemente gegeneinander ge-
neigt sind, sei n. Die Geschwindigkeit, mit welcher Ds fortgeführt wird,
sei v, sein Weg o, dessen Element do, so dafs v = = wo of das Element
der Zeit bezeichnet. Die Geschwindigkeit v ist eine Funktion von s und £.
Nach dem in meiner frühern Abhandlung aufgestellten Induktions-
Princip ist die während 02 in dem Element Ds durch den Strom, unter des-
sen Einflufs es bewegt wird, inducirte elektromotorische Kraft EDs ausge-
drückt durch
(1) EDs = — evC Ds dt
worin CDs die nach do zerlegte Wirkung bezeichnet, welche der Strom auf
das Element Ds ausübt, dieses von der Strom -Einheit durchströmt gedacht,
und e die Induktions - Konstante ist.
Nach Ampere’s Gesetz hat die Wirkung welche das Strom - Element
Dr auf Ds ausübt, die Richtung von 7, und ihr Werth ist, wenn j die Strom-
stärke von Dr bezeichnet:
Ds Ds
r?
—j fcosy— — c0s 4 cos It
Das negative Vorzeichen ist dieser Wirkung gegeben, weil sie die Entfer-
nung der Elemente zu verkleinern strebt. Der vorstehende Ausdruck läfst
sich, wie Ampere gezeigt hat, durch partielle Differentialquotienten von r
nach s und r ausdrücken, und verwandelt sich dadurch in:
. Ds Dr A d’r ı dr dr
J TE ds ds as Nde
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 1
Diese Gröfse ist nun, um die Componente der Wirkung von Dr auf Ds
nach do zu erhalten, mit dem Cosinus des Winkels zu multiplieiren, unter
welchem do gegen r geneigt ist, d.i. (?) mit u Die Summe dieser Com-
ponenten in Beziehung auf alle Dr giebt die in (1) mit CDs bezeichnete
Gröfse. Ich setze zunächst voraus, dafs sowohl der inducirende Strom als
der inducirte unverzweigt ist. Die Fälle in welchen dieselben verzweigt
sind, werde ich am Schlusse dieses $ berücksichtigen. In dem vorausge-
setzten Falle hat j in jedem Dr denselben Werth, und man hat also:
CDs=jDs2%lr en +2 214 (2)
Substituirt man diesen Werth von C in (1) und nimmt hierauf die
Summe von EDs in Beziehung auf alle Ds, so erhält man die zur Zeit £
während des Elements di in dem ganzen Leiter s inducirte elektromotorische
Kraft. Diese Summe mit dem reciproken Leitungswiderstand € des Leiters
multiplieirt giebt, da der Leiter unverzweigt ist, den in ihm indueirten Dif-
ferentialstrom D, und dieser, in Beziehung auf £ von Z, bis £, integrirt,
giebt den in dem Zeitintervall Z, — , indueirten Integralstrom J. Dem-
nach ist also
Ds Ds d?r dr dr dr
BEISTUER Y >23 Pa Tine mierı k
Hr efwejsz r? ! FETTE = do 3)
oder
ach
wenn
n, Ds Ds d?r dr dr dr =
u = See a ed f
E= ef 82 a r® [, ds ds as =} do L (2)
gesetzt wird. Ich bemerke dafs der Ausdruck von J in (3) oder (4) nur den
durch die Verrückung der Leiter -Elemente inducirten Strom giebt, von wel-
chem in diesem $ überall nur die Rede ist. Es wird nemlich, wenn j eine
Funktion der Zeit ist, aufser diesem noch ein Strom durch die Veränderung
von j inducirt, von welchem später in 9.4. die Rede sein wird. Wenn €
und j unabhängig von der Zeit sind, so ist J=eejE; es ist E also die
Summe der elektromotorischen Kraft, welche in dem Zeitraum von Z, bis
(') Die partiellen Differentiationen werden in dieser Abhandlung immer durch die
Charakteristik @ bezeichnet werden.
b) Neumann über ein allgemeines Princip
i,, wenn der inducirende Strom innerhalb desselben konstant und der Ein-
heit gleich ist, in dem ganzen Leiter inducirt wird. Die durch den kon-
stanten Strom von der Intensität j inducirte elektromotorische Kraft jE
werde ich in der Folge durch F bezeichnen. Ich bemerke noch, dafs, da
in dem Zeit-Element 0 durch die Verrückung der Leiter-Elemente die
elektromotorische Kraft j = 0 inducirt wird, j mag variabel oder konstant
sein, die in dem Zeitintervall von Z, bis Z, inducirte elektromotorische Kraft
£
4 SAT PENE Mc .
allgemein ausgedrückt ist durch u dtj—,. Die nähere Ermittelung der
h
Gröfse E, welche ich, so lange kein Mifsverständnifs zu fürchten ist, schlecht-
weg die indueirte elektromotorische Kraft nennen werde, aus welcher, wie
man sieht, durch einfache Differentiation und Integration sowohl die Summe
der jedesmal wirklich indueirten elektromotorischen Kraft als der Differen-
tial- und Integralstrom abgeleitet werden können, ist die vorzüglichste Ab-
sicht des Folgenden.
Die durch $ in (5) bezeichnete Integration ist auf alle Dr der ge-
schlossenen Bahn des inducirenden Stroms auszudehnen. Dasselbe gilt zwar
von der durch ‚$ bezeichneten Integration in Beziehung auf die geschlossene
Bahn des inducirten Stroms, aber diese zerfällt, wegen der Diskontinuität
der bewegten Stücke, in mehrere kontinuirliche Leiterstücke, deren Gren-
zen von der Zeit abhängen können. Die durch $ bezeichnete Integration ist
demnach ein Aggregat von Integralen, deren jedes sich auf ein kontinuirliches
Leiterstück bezieht. Um diese Bemerkung deutlicher durchführen zu können,
werde ich der allgemeinen Betrachtung die eines speciellen Falls vorangehn
lassen. Ich werde zuerst den Fall betrachten, in welchem ein Theil der Bahn
des inducirten Stroms ruht, und der andere, ein kontinuirliches Leiterstück
bildend, bewegt wird. Die Grenzen dieses bewegten Stücks sollen zunächst
unabhängig von der Zeit sein d.h. sie sollen durch dieselben Elemente wäh-
rend der ganzen Dauer der Bewegung gebildet werden. Um die Vorstellung
zu fixiren, stelle Fig. 1 einen solchen Fall vor, wo adcd die Bahn des indu-
cirten Stroms zur Zeit 2 bezeichnet. Die Induktion ist dadurch hervorge-
bracht dafs das Leiterstück 5 ce d aus seiner anfänglichen Lage d, c, d, in die
Lage 5, c, d, fortgeführt ist, und zwar so dafs dieselben Elemente 5 und d
mit den Unterlagen 5, 5, und d, d, in leitender Verbindung geblieben sind,
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 9
wobei die Form des bewegten Stücks eine beliebige Veränderung erlitten ha-
ben kann. Die durch $ bezeichnete Integration bezieht sich in diesem Falle
allein auf das bewegte Stück 5 c d, weil für die übrigen Theile der Bahn des
inducirten Stroms v = o ist.
Ich setze in (5) statt v seinen Werth . wodurch
do Ds Ds d’r dr dr\| dr
ee Si ee San en
f S2 r? Ir ds ds 2 ds ds| © (6)
wird, und integrire das erste Glied rechts partiell nach s. Dadurch verwan-
delt sich dieser Ausdruck in
Sr
al dr dr
—ef3 go Ds r "do "ds (N
Ey
do Dr Ds dr ı dr dr dr
Sy Ka re ee TI uni a ee,
+ej/23S r? a eg as lie:
Sr
dr
worin I- = — =] die Differenz der Werthe bezeichnet, welche die einge-
schlossene Größse in den Endpunkten des bewegten Leiterstücks welche
durch s, und s, bezeichnet sind, d.i. nach der Figur in d und 5 besitzt.
Durch partielle Integration des Gliedes
2
E Su ODER ar dr
r dods ds
in der vorstehenden Gleichung nach o verwandelt sich dieselbe in
Sn
—: [200.Ds nn — (8)
’
On
+28 Ds Ds | —- —
do Ds Ds d’?r dr dr | dr
ae —— Ir — + ee
r do ds do ds| ds
ara
wo |-£ en ae Differenz der Werthe bezeichnet, welche die einge-
schlossene Größe in der End- und Anfangs -Position des bewegten Leiter-
Phys. Kl. 1847. B
10 Neumann über ein allgemeines Princip
stücks besitzt d.i. in der Lage 5, c,d,und d,c,d,.. Es sind o, und o, die
Grenzen des Weges, welchen Ds beschrieben hat.
In diesem Ausdruck für E integrire ich endlich partiell nach & das
erste Glied unter dem dreifachen Integralzeichen
:fz g9 Dr Ds DsDs d?r dr
7 do ds ds
Ich lasse, behufs spätern Gebrauchs, die Grenzen dieser Integration
zunächst unbestimmt, und bezeichne sie mit «, und o,. Die Gleichung (8)
verwandelt sich dadurch in
1; dr d x
0) ef 00 Dr 7 "do. 3
Oy
Amdared;
+.2SDeDs are
r ds ds
0,
dr dr
— Si00:Ds.h —
ef do ds
a,
do Ds Dr d?r ı dr dr | ar
€ Ser ia an Ts Een re
> DER 1 ds ds 2 ds def &
worin die Bedeutung der Klammer mit den Indices , und ro, schon aus dem
Vorhergehenden klar ist.
Addirt man diesen Ausdruck für E zu demjenigen in (5) so verschwin-
den die Glieder welche von dreifachen Integrationen abhängen, und man er-
hält den Werth von E durch sechs Doppelintegrale ausgedrückt:
07]
” B=—-+efz0oDr [5]
Ss,
Oy
1NHarr dr;
++:.2$5 DrDs | - — —
> r ds ds
0,
— 4: ef S%o Ds Es)
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 11
In dem vorliegenden Falle, wo die Integration nach r auf die ganze,
geschlossene Bahn des inducirenden Stroms ausgedehnt werden mufs, wo
also 7, und r, zusammen fallen, verschwinden die beiden letzten Integrale,
und man hat hier also
Oy
E= +:82DsDr |- (11)
—4e/300D | 7 7
67
Dieser Ausdruck für die elektromotorische Kraft E, welche durch die
Fortführung des Leiterstücks aus der Lage 5, c, d, in die Lage 5, c,, d,, erregt
ist, zeigt dafs dieselbe von den Wegen, welche seine Theile beschrieben ha-
ben, unabhängig ist, und also unabhängig von den Formen, welche seine
Curve während der Bewegung gehabt hat. Die elektromotorische Kraft E
hängt allein von der Lage und Form des bewegten Leiterstücks in seiner An-
fangs- und End-Position ab und von den zwei Curven auf welchen seine
Endpunkte fortgeführt sind. Nennen wir p die Peripherie des Cnrven -Vier-
ecks 5,5, c,d,d,c,, welches von dem bewegten Leiterstück in seiner Anfangs-
und Endposition und den zwei Curven, welche seine Endpunkte beschrieben
haben, gebildet wird, und Dp ein Element dieser Peripherie, so kann man
statt (11) schreiben
Beim un (12)
wo die Integrationen nach Dr und Dp respektive auf die ganze Bahn des in-
ducirenden Stroms r und die ganze Peripherie p des bezeichneten Ourven-
vierecks ausgedehnt werden müssen. Die Richtung, in welcher man bei der
»
Integration nach Dp, als der positiven fortzuschreiten hat, ist die positive
des bewegten Leiterstücks in seiner Endposition. Integrirt man das Integral
in (12) Bau nach «, nachdem man unter dem Integralzeichen statt -_
dr? hr
gesetzt hat — 58° erhält man
Ip
27]
1 dr? aan
ag! EB: Sr
a es Dp | +4283- 57, Dr Dp
12 Neumann über ein allgemeines Princip
und dieser Ausdruck reduzirt sich, weil «, und 7, in der geschlossenen indu-
cirenden Stromcurve zusammenfallen, auf
Dr}
ee ei)
R Ip
r drd
Aus r’= (x — &)’ + (y— 9)’ + (2 —{)” erhält man
d?r? = u d.xdE + dydy + dza?
dsdp ds dp
= — 2cos (Dr, Dp)
wo (Dr, Dp) den Winkel bezeichnet, unter welchen die Elemente Dr und
Dp gegeneinander geneigt sind. 6:
FR f d?r?. h i
Substituirt man diesen Werth von Er in E so wird sein Ausdruck:
Ds Dp
r
(13) E=—-4t:S3 cos (Dr, Dp)
Hieraus geht hervor dafs die durch die Fortführung des Leiterstücks
inducirte elektromotorische Kraft E gleich ist dem mit e multiplieirten Poten-
tial der inducirenden Stromcurve in Bezug auf das Curven-Viereck, welches
die von dem Leiter beschriebene Fläche begränzt, die Stromcurve sowohl als
dies Viereck von der Strom-Einheit durchströmt gedacht, nnd zwar letzteres
in der positiven Richtung des bewegten Leiterstücks in seiner Endposition.
Bei der Ableitung der Gleichungen (12) und (13) aus (11) ist das be-
wegte Leiterstück als ein unverzweigtes vorausgesetzt d.h. von der Beschaf-
fenheit dafs man von seinem einem Ende zu seinem andern nur auf einem
Wege gelangen kann. Ohne diese Voraussetzung kann man nicht von einem
Curvenviereck sprechen. Unter dieser Voraussetzung aber ist das Potential
des inducirenden Stroms in Bezug auf das bezeichnete Curvenviereck die Dif-
ferenz der Werthe welche das Potential der Stromeurve in Bezug auf die
ganze Bahncurve des inducirten Stroms in ihrer End- und Anfangs -Position
besitzt, diese Curven von der Strom -Einheit durchströmt gedacht. Nennen
wir s, die Bahn des inducirten Stroms in ihrer Anfangsposition, s, in ihrer
Endposition, und s die Bahn des inducirenden Stroms, und bezeichnen wir
durch P(s, s,) und P(s, s,) die Potentialwerthe von s in Bezug auf s, und s,,
so ist
(14) E =: {$P(s, s,) —P (5, s,)}
der mathematischen Theorie indueirter elektrischer Ströme. 13
Die Formel (11) ist, wenn die Bedeutung der Grenzen s,, s,, 0,, 0, ge-
hörig berücksichtigt wird, der allgemeine Ausdruck für die elektromotori-
sche Kraft, welche durch einen ruhenden Strom in einem bewegten Leiter-
stück indueirt wird. Aus ihr ergaben sich die Sätze, welche durch die Glei-
chungen (12), (13) und (14) ausgedrückt sind, unter der Annahme, dafs das
bewegte Stück in denselben End -Elementen während seiner Bewegung mit
dem ruhenden Theile der Bahn des inducirten Stroms in leitender Verbin-
dung bleibe. Ich werde jetzt nachweisen dafs diese Sätze auch gelten wenn
nach und nach andere Elemente des bewegten Stücks mit dem ruhenden
Theile des Leiters in leitende Verbindung treten.
Es sei in Fig.2, welche einen solchen Fall andeuten soll, a d, d, der
inducirte Leiter in seiner Anfangs-Position, und a B, d, in seiner End-Posi-
tion. Die Induction ist durch die Fortführung der Elemente des Leiterstücks
bd aus der Lage 5, d, in die Lage 5, d, erregt; bei dieser Fortführung des
Stücks dd wobei seine Form sich auf eine beliebige Weise verändern kann,
sind nach und nach andere Elemente desselben mit den ruhenden Unterlagen
b, b, und d, d, in leitende Berührung gebracht, so dafs z.B. die Elemente in
R und d, welche im Anfang der Bewegung aufserhalb der Bahn des indueirten
Stroms sich befanden, erst am Schlusse derselben eingetreten sind.
Bei der Anwendung des allgemeinen Ausdrucks für E in (5) oder in
(6) auf diesen Fall, ist zu bemerken dafs die Integration S, welche sich auf
die bewegten Elemente Ds bezieht, zwischen den Grenzen 5 und d zu neh-
men ist, welche jetzt Funktionen der Zeit # sind, oder, wenn o wiederum
den Weg bezeichnet, auf welchem Ds fortgeführt wird, Funktionen von o.
Man kann die hieraus sich ergebende Reihenfolge der Integrationen nach
Ds und do vermeiden. Zu dem Ende ist für alle Elemente des bewegten
Leiterstücks, welche sich von Anfang bis zum Ende ihrer Bewegung inner-
halb der Schliefsung des indueirten Stroms befinden, die Integration nach
02 in (5) von £, bis Z, oder die Integration nach do in (6) von o, bis 0, auszu-
dehnen, wenn Z,, Z, und o, und o, die Grenzen respektive der Zeit und der
Bahn ihrer ganzen Bewegung sind, für die Elemente Ds aber, welche sich
nur auf einem Theile ihrer Bahn innerhalb der Schliefsung des inducirten
Stroms befinden ist die Integration nach oo auf diesen Theil zu beschränken,
und die Integration nach 0% in (5) auf die Zeit, während welcher sie diesen
Theil ihrer ganzen Bahn beschrieben haben.
44 Neumann über ein allgemeines Princip
Der einfachern Darstellung wegen will ich annehmen ein solches Ele-
ment Ds trete, nachdem es den Weg von o, bis g durchlaufen hat, in die
Schliefsung des inducirten Stroms ein, und bleibe nun bis zum Schlusse der
Bewegung innerhalb derselben, beschreibe also innerhalb der Schliefsung
den Weg von g bis o,. Die Betrachtung eines solchen speciellen Falles ist
hinreichend um die zusammengesetztern Fälle zu beurtheilen, wo dasElement,
ehe es das Ende seiner Bahn erreicht, aus der Schliefsuug wieder heraustritt,
oder wo dieser Eintritt und Austritt sich wiederholt.
Mit Berücksichtigung der vorstehenden Bemerkung verwandelt sich
der Ausdruck von E in (11) im vorliegenden Falle in
Oy
dr dr
(15) E= 4:82 DD |
ds dr
+4.SYDsDs I-=&]
ds ds
—+ef300Ds [2]
S,
Das erste Glied dieses Ausdrucks für E bezieht sich auf alle Elemente Ds,
welche sich während der ganzen Dauer ihrer Bewegung innerhalb der Schlie-
{sung des inducirten Stroms befinden, das zweite umfafst diejenigen Ele-
mente Ds welche erst nachdem sie den Weg von o, bis q durchlaufen haben,
in diese Schliefsung eintreten, und nun darin bleiben. In dem dritten Gliede
bezeichnen s, und s, die Stellen der Grenzelemente des bewegten Leiter-
stücks, welche, nachdem sie den Weg von o, bis g durchlaufen haben, in
die Schliefsung des inducirten Stroms eingetreten sind.
Nach der Bedeutung der Klammern [ ] st das zweite Glied in (15)
q
gleichbedeutend mit
r ds do ds ds
0, q
(16) 4283 DsDs (ZZ) 4:83 Ds Ds (-—
wo die den Parenthesen als Indices zugefügten Gröfsen o, und q die Stellen
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 15
der Bahn von Ds bezeichnen, an welchen sich dieses Element bei den nach
Ds auszuführenden Integrationen befinden soll. Der erste Theil dieses Aus-
drucks kann mit dem ersten Gliede rechts in (15) zusammengefafst werden,
so dafs dann in diesem die Integration nach Ds ebenso auf alle Elemente
des bewegten Leiterstücks, welche sich am Schlusse der Bewegung in der
Schliefsung befinden, auszudehnen ist, wie auf diejenigen, bei welchen dies
im Anfang der Bewegung der Fall ist.
Der zweite Theil des vorstehenden Ausdrucks (16) bezieht sich auf
die End-Elemente von s welche, nachdem sie den Weg g bis o, durchlaufen
haben, in die Schliefsung eintreten; auf dieselben Elemente beziehen sich die
Integrationen S in dem dritten Gliede in (15). Zieht man das zweite Glied
aus (16) mit dem dritten Gliede in (15) zusammen, so erhält man sowohl
für die Elemente Ds in s, als für die in s, einen Ausdruck von der Form
1 Ds dr dr do dr dr
—+ ex DofS rd ds + [= do z
worin man statt S das Zeichen f setzen kann. Dadurch verwandelt sich die
Summe des dritten Gliedes in (15) und des zweiten in (16) in
—-ze2 Do (| “Ds + 7.00) ©
Die Entfernung r des Strom-Elements Dr von den Elementen Ds, auf welche
in diesem Ausdruck sich die Integration f bezieht ist eine Funktion von s und
o;, sie kann aber auch als eine Funktion des Curven-Bogens angesehn wer-
den, welchen die Enden des bewegten Leiterstücks beschreiben. In Fig. 2
sind dies die Bogen 5,55, und d,dd,. Bezeichnen wir diese Curven, welche
ich die Leit-Curven nenne, durch Z, und ihre Elemente durch 9, so ist
dr dr dr
zt=—,Ps+z90
Dies in den vorstehenden Ausdruck gesetzt verwandelt ihn in
x f'Ds 2-2 25
und man erhält durch diese Betrachtung aus (15) für E den Ausdruck:
S,
16 Neumann über ein allgemeines Princip
On
Tr ds ds
(7) E= +:8SzsDD | =]
— 41:2 /Dr 2[-%
677
Derselbe wird identisch mit demjenigen in (11) wenn von den Elementen des
bewegten Leiterstücks keines während der Bewegung aus der Schliefsung des
inducirten Stroms heraustritt, und keines hinein, denn alsdann fallen die
Leitcurven Z mit den Bahnen o der Endelemente Ds des bewegten Stücks
zusammen.
Bezeichnet man mit p wiederum die Peripherie des Curvenvierecks wel-
ches von dem bewegten Leiterstück in seiner End- und Anfangs-Position
und den zwei Curven welche seine variabeln End - Elemente beschrieben ha-
ben d.i. von seinen Leit-Curven, begrenzt wird, und durch Dp ein Element
dieser Peripherie, so ergiebt sich, wie oben der Ausdruck (12) aus (11),
hier aus (17) der Ausdruck
(18) a dr dr
r do dp’
die Integrationen & und S ausgedehnt auf den ganzen inducirenden Strom
und das ganze Curvenviereck. Die positive Richtung von Dp wird durch die
positive Richtung des bewegten Stücks in seiner Endposition bestimmt.
Aus (18) ergiebt sich auf demselben Wege, auf welchem (13) aus (12)
abgeleitet wurde
(19) I ee I
Ta
cos (De, Dp)
die Integrationen gleichfalls auf die ganze Stromcurve und das ganze Viereck
ausgedehnt. Das Glied dieser Gleichung rechts ist das mit e multiplieirte Po-
tential der Stromeurve in Bezug auf das Curvenviereck welches von dem be-
wegten Leiterstück in seinen Grenzpositionen und seinen Leit-Curven gebil-
det wird. Dies Potential ist, da das bewegte Stück als unverzweigt voraus-
gesetzt wird, der Unterschied der Potentialwerthe des inducirenden Stroms
in Bezug auf die ganze Bahn des inducirten Stroms in ihrer End- und An-
fangs-Position. Bezeichnen wir diese wiederum hurch s, und s, so erhalten
wir, wie in (14), auch hier
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 17
E=efP(s, s,)) — Ps, s,)} (20)
wo P(s, s,) und P(e, s,) die Potentiale von s in Bezug auf s, und s, sind. Den
Beweis für die Richtigkeit dieser Gleichung auch in den Fällen, wo ein wie-
derholter Ein- und Austritt eines Theiles der bewegten Elemente aus der
Bahn des inducirten Stroms stattfindet, hier noch besonders zu führen scheint,
da dieselben Betrachtungen nur ein wenig zu verallgemeinern sind, über-
flüßsig.
Nach Behandlung dieses speciellen Falles, wo die Elemente eines zu-
sammenhängenden Leiterstücks unter dem Einflufs eines inducirenden Stroms
bewegt werden, während der übrige Theil der Bahn des inducirten Stroms
ruht, wende ich mich zur allgemeinen Betrachtnng des Werthes von E in
(6). Aus (6) ist durch partielle Integration der Ausdruck für E in (11) ab-
geleitet; bei gehöriger Berücksichtigung der Grenzen, auf welche diese par-
tiellen Integrationen zu beschränken sind, ist dieser Ausdruck für E in (11)
ebenso allgemein als der in (6). Diese Grenzen werden auf eine doppelte
Weise bestimmt, einmal durch die Stellen, wo die in (11) unter den Inte-
gralzeichen stehenden Gröfsen in Beziehung auf das Argument, nach welchem
integrirt ist, sprungweise eine endliche Veränderung erleiden, und dann durch
die Stellen, in welchen ein Element des Leiters in die Schliefsung des indu-
eirten Stroms eintritt und austritt.
Betrachten wir zuerst das zweite Glied des Ausdrucks für E in (11).
Dasselbe ergab sich aus dem, wegen einer hinzuzufügenden Willkührlichen
unbestimmten, durch partielle Integration nach Ds entstandenen Integral
Dsdo dr dr . R %
>> J Le a indem dies auf das Intervall zwischen s, und s, ausgedehnt
7 3” [72
wurde. Die nach Ds auszuführende Integration in (6) ist auf die ganze
Bahn des inducirten Stroms auszudehnen, das Intervall von s, bis s, mufs
aber auf die Theile derselben beschränkt werden, innerhalb deren die Gröfse
Asar! dr n ö . er & 5
— 7 7. De do keine sprungweise Veränderung erleidet. Hieraus geht her-
r ds do
Dsodo dr dr E B :
vor, dafs das Integral Ef. 72 x uf die ganze Bahn des indueirten
7° Or oO
o S 1 dr dr n . o
Stroms auszudehnen ist, wenn — TE Dr do an keiner, oder nur an einer
r 3, o
Stelle derselben einen Sprung erfährt, in welcher Stelle dann Anfang und
Ende des Integrals liegen mufs, dafs aber, wenn die partielle Integration
von (6b) ein auf alle Fälle anwendbares Resultat geben soll, statt dieses In-
Phys. Kl. 1847. E
18 Neumann über ein allgemeines Princip
tegrals ein Aggregat solcher Integrale in dem Ausdrucke von E in (11) statt .
seines zweiten Gliedes zu setzen ist, von denen jedes sich auf ein Intervall
von s bezieht, welches von zwei aufeinander folgenden Stellen, in welchen
2 dr dr
73 dr "do
sichtlich, dafs — — De an keiner Stelle von s einen Sprung in seinem Werthe
Droo gs wlörliehe Veränderung erleidet, begrenzt ist. Nun ist er-
erfahren kann, u s die geschlossene Peripherie eines Vielecks ist, dafs dies
aber bei - do, wofür man var setzen kann, der Fall ist. Diese Gröfse
erfährt einen solchen Sprung an den Stellen von s, in welchen zwei aufein-
anderfolgende Elemente Ds einen endlichen Unterschied in der Richtung
oder Gröfse ihrer Geschwindigkeiten besitzen. Diese Stellen, in welchen
die Elemente eines Drathstücks über den Elementen eines andern Drath-
stücks, der leitenden Verbindung wegen unter einen gewissen Druck, fort-
gleiten, oder in welchen die Drathenden in einer Quecksilberrinne fortge-
führt werden, nenne ich, der Kürze wegen, die Gleitstellen des Leiters,
und die Abschnitte desselben zwischen zwei aufeinander folgende Gleitstel-
len Leiterstücke.
In dem ersten Gliede des Ausdrucks von E in (11), welches durch
partielle Integration nach do aus (6) abgeleitet Ve ist die Ausdehnung
dieser Integration nicht durch Sprünge der Gröfse ak — Ds Dr, da solche
für keinen Werth von o stattfinden, beschränkt, en durch die Stellen
des von Ds beschriebenen ganzen Weges, in welchen dies Element in die
Bahn des indueirten Stroms eintritt und austritt. Dieser Eintritt und Aus-
tritt aus der indueirten Strombahn kann nur in den Gleitstellen stattfinden.
ganzen Bewe-
5
gung innerhalb der Schliefsung des indueirten Stroms befinden unterschei-
Man mufs also, die Elemente Ds, welche sich während ihrer
5
den von den Elementen der Gleitstellen, bei welchen im Allgemeinen dies
nur während eines Theils ihres beschriebenen Weges der Fall sein wird.
Für die erstern bleibt, wenn, wie oben, durch o, und o, der Anfang und
das Ende des von Ds HESCHIBCHEREN Weges bezeichnet wird, das Glied
Ararmdı ir . E
4:2$S3DsDr |- es “ unverändert, in Bezug auf die Elemente Ds der
r ds 7
[2]
’
Gleitstellen aber hat man statt dessen, wenn g,, 9,, 9,» 9, etc. die auf ein-
ander folgenden Stellen des von diesen Elementen beschriebenen Weges
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 19
bezeichnen, in welchen sie in die inducirte Strombahn ein- und austreten,
zu Setzen:
In Inn
& dr dr 1 dr d
42$3DsDr n ++:853DsDr Fe SE.
r ds ds ds
9
Im
Aus diesen Bemerkungen ergiebt sich nun, dafs man auf dem Wege
der partiellen Integration, auf welchem (11) aus (6) abgeleitet worden ist,
zu einem allgemein gültigen Ausdruck von E gelangt, wenn man diese par-
tiellen Integrationen in Beziehung auf die einzelnen Leiterstücke und in Be-
ziehung auf die Theile der von ihren Elementen beschriebenen Wege, in
welchen diese Elemente innerhalb der Schliefsung des inducirten Stroms
sich befanden, ausführt, und dann die Summe dieser Integrale in Bezie-
hung auf alle Leiterstücke, welche die inducirte Strombahn enthält, bildet.
Es sei E, der Theil von E, welcher sich auf das n“ Leiterstück bezieht,
so ist
On
1 dr dr
E,=4:3$5DoDs I-£=
r ds ds
+ +:3S$5DrDs a + etc. (21)
— 4: = /Dsoo 2] ’
und
E=E,+E,+...E, (22)
wenn z die Anzahl der Leiterstücke der Bahn des inducirten Stroms ist.
Diese Gleichungen enthalten den allgemeinsten Ausdruck für die elektro-
motorische Kraft, welche von einem ruhenden Strom, dessen Stärke der
Einheit gleich ist, in einem unverzweigten linearen Leiter, dessen Elemente
beliebig verrückt werden, inducirt wird.
In Beziehung auf die Gleitstellen müssen die Fälle, in welchen die
Unterlagen, auf welchen die Gleitung stattfindet, ruhen, unterschieden wer-
den von den Fällen, wo diese Unterlagen selbst bewegt werden. Von den
Leiterstücken, deren Enden auf ruhenden Unterlagen fortgleiten, befindet
sich jedes unter solchen Umständen, die wir oben als specielle Fälle behan-
delt haben. Besteht also die inducirte Strombahn aus einer beliebigen An-
C2
20 Neumann über ein allgemeines Princip
zahl von Leiterstücken, jedes derselben mit ruhenden Unterlagen, so folgt
aus den vorstehenden Untersuchungen, dafs die durch eine beliebige Ver-
änderung der Lage und Form dieser Bahn inducirte elektromotorische Kraft,
wenn diese Veränderung unter dem Einflufs eines konstanten, inducirenden
Stroms stattgefunden hat, gleich ist dem mit e multiplieirten Unterschied
des Potentials des inducirenden Stroms in Bezug auf die von der Einheit
durchströmte indueirte Strombahn in ihrer End- und Anfangs - Position.
Die Beurtheilung der Fälle, wo die Unterlagen in den Gleitstellen eine
Bewegung haben, erfordert eine etwas weitläufige Darstellung, wenn sie
aus (21) und (22) abgeleitet werden soll. Ich werde deshalb diese Fälle
durch eine indirekte Betrachtung auf die erstern, in welchen die Unterlagen
ruhen, zurückführen. Es wird genügen diese Betrachtung in dem speciel-
len Falle, wo nur eine Gleitstelle mit bewegter Unterlage vorhanden ist,
durchzuführen, da sich dieselbe leicht auf die Fälle, wo eine beliebige An-
zahl solcher vorhanden ist, ausdehnen läfst. Es sei in Fig. 3 die inducirte
Strombahn abed; sie zerfällt in drei Leiterstücke ad, bc, cda, von denen
das letztere ein ruhendes ist; durch die gleichzeitige Fortführung der bei-
den andern ab und dc, welche ich der Kürze wegen mit « und ® bezeich-
nen will, aus ihren anfänglichen Lagen « und ß, in ihre Endlagen «, und IE),
wird die Induktion erregt. Die Gleitstellen dieser Bahn sind in a, 5, c, von
denen die in 5 eine Gleitstelle mit bewegter Unterlage ist. Nach (5) erhält
man die inducirte elektromotorische Kraft, wenn man das Integral
92 > a Be en,
“ 3) 3 z= [ ds ds 2 ds ds
mit ed£ multiplicirt, und nach ot integrirt. Ich werde den Werth, welchen
das vorstehende Doppelintegral zur Zeit Z, in Bezug auf « besitzt durch 4,
und in Bezug auf ® durch B, bezeichnen; in Bezug auf das dritte Leiter-
stück ist, weil hier v= o ist, sein Werth gleich Null. Die Veränderungen,
welche A, und B, erleiden, wenn Z, um den Zeitraum Z wächst, rühren von
zwei von einander unabhängigen Ursachen her, einmal von den Ortsverän-
derungen, welche die Elemente von « erfahren, und dann von den Orts-
veränderungen der Elemente von @. Bezeichnet man durch A und B die
Werthe des vorstehenden Doppelintegrals zur Zeit z,-+ 2 in Bezug auf « und
ß, so ist, wenn £ sehr klein ist
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 2
A=A+At+ A;t
B=B-+ B,t+ B;t
wo A,t den Theil des Zuwachses von A,, welcher von der Ortsveränderung
der Elemente von « herrührt, bezeichnet, und A;? den andern Theil, den
die Verrückungen der Elemente von ß hervorbringen. Die entsprechende
Bedeutung besitzen B, und B,. Bildet man hieraus e f 8 A+e ft B,
so erhält man die elektromotorische Kraft E, welche durch die gleichzeitige
Verrückung von « und $, welche während des kleinen Zeitraums r stattge-
funden hat, inducirt worden ist d. i.
E=er$A,+B++(4.+4;+B,+B;) r}. (24)
Es ist nun leicht nachzuweisen, dafs eine gleiche elektromotorische Kraft
inducirt wird, wenn dieselben kleinen Verschiebungen von « und ß nicht
gleichzeitig, sondern nach einander stattfinden. Es möge « auf dieselbe
Weise wie vorher verschoben werden, während ® ruht. Das Doppelinte-
gral in (24) hat nur in Bezug auf « einen Werth, und dieser ist zur Zeit
1,+1:4A,+ A,t; die durch die Verschiebung von «, wenn sie dieselbe
Weite wie vorher erreicht hat, inducirte elektromotorische Kraft ist also
er $A,+-A,r}.
Jetzt werde ß verschoben. Das Integral in (23) hat nun nur in Bezug auf ®
einen Werth, und dieser ist zur Zeit +7, wo seine Verschiebung beginnt:
B,+B,r, und zur Zeit, -#r+t2:B,+B,r-+DB;t. Hieraus erhält man
€ S Bat als die durch die Verschiebung von ® inducirte elektromotorische
Kraft, wenn diese Verschiebung so grofs als sie vorher in der gleichzeitigen
Verschiebung mit « war:
er $B+-; (2B,+B,) r}.
Die Summe der durch die beiden auf einander folgenden Verschiebungen
von « und $ inducirten elektromotorischen Kräfte ist also
er$A,+B+- (A, +2B,+ B,) rt}
Wäre die Reihenfolge der Verschiebungen umgekehrt gewesen, und zuerst
92 Neumann über ein allgemeines Princip
ß@ und dann « um dieselben Stücke verschoben worden, so hätte als Summe
der inducirten elektromotorischen Kräfte sich ergeben
er$A,+B+5 (A.+24;, + B;) r}.
Nun ist es aber gleichgültig, welche von den beiden Verschiebungen zuerst
stattfindet, es wird dieselbe elektromotorische Kraft erregt, weil diese in
dem einen und dem andern Falle gleich ist der mit e multiplieirten Verän-
derung, welche das Potential des indueirenden Stroms in Bezug auf die in-
ducirte von der Strom-Einheit durchströmte Strombahn durch beide Ver-
schiebungen erfährt. Hieraus folgt:
A,=B::
Dies in (24) gesetzt, zeigt, dafs dieselbe elektromotorische Kraft indueirt
wird, die kleinen Verschiebungen der beiden Leiterstücke mögen gleichzeitig
oder auf einander folgend stattfinden, und dafs also dieselbe der Veränderung
proportional ist, welche das Potential der inducirenden Strombahn in Be-
zug auf die inducirte dadurch erfährt. Da dies Resultat für alle kleine Ver-
schiebungen gilt, zu welcher Zeit sie stattfinden, so gilt es auch für beliebig
grofse Verschiebungen. Dafs dies Resultat auch richtig ist, wenn die indu-
cirte Strombahn eine beliebige Anzahl Gleitstellen mit bewegten Unterlagen
besitzt, ergiebt sich auf demselben Wege der Betrachtung, weshalb ich die
weitere Ausführung unterlasse.
Aus der bisher geführten Untersuchung ergiebt sich, dafs die Glei-
chung für E in (20) allgemeine Gültigkeit hat, wie grofs auch die Anzahl
der Gleitstellen in der indueirten Strombahn ist, die Unterlagen derselben
mögen ruhen oder bewegt werden, sie setzt nur noch voraus, dafs sowohl
die inducirende als die inducirte Strombahn ohne Verzweigung sei. Aus
dieser Gleichung folgt, wenn j die Intensität des inducirenden Stroms ist,
und F=jE die durch ihn inducirte elektromotorische Kraft, wenn ferner
sein Potential in Bezug auf die von der Strom -Einheit durchströmte indu-
cirte Bahn durch Q (ss) =7jFP (s, s) bezeichnet wird, dafs
(25) F=:10(«s)—- 2 s)}-
Diese Gleichung enthält folgenden Satz:
Wenn ein geschlossener unverzweigter linearer Leiter
unter dem Einflufs eines ruhenden, konstanten unverzweigten
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 23
elektrischen Stroms die Veränderung erlitten hat, dafs ein
Theil seiner Elemente oder sämmtliche aus ihrer ursprüngli-
ch'en Lage in eine zweite auf beliebigen Wegen fortgeführt sind,
wobei es gleichgültigist, ob ein Theil dieser Elemente aus dem
geschlossenen Umgang des Leiters herausgetreten ist, oder an-
dere eingetreten sind, so ist die durch diese Veränderung indu-
eirte elektromotorische Kraft gleich dem mit e multiplieirten
Unterschied der Potentialwerthe des inducirenden Stroms in
Bezug auf den geschlossenen Umgang desLeiters in seinem End-
und Anfangs-Zustand, diesen Umgang von der Strom -Einheit
durchströmt gedacht.
Die bisher gemachte Voraussetzung, dafs der Leiter dem inducirten
Strome nur einen Weg seines Umgangs biete, ist gleichgültig in Beziehung
auf die Theile der Strombahn, welche keine Veränderung in Lage und Form
erfahren; diese können auf eine beliebige Weise verzweigt sein, ohne dafs
der Ausdruck des vorstehenden Theorems dadurch eine Änderung erfährt.
Anders verhält es sich, wenn die Theile der inducirten Strombahn ver-
zweigt sind, durch deren Verrückungen die elektromotorische Kraft erregt
wird. Zunächst ist zu bemerken, dafs es in diesem Falle nicht hinreichend
ist, um die Stärke der inducirten Ströme zu bestimmen, die Summe der
elektromotorischen Kräfte, welche in dem ganzen inducirten Leiter in einem
bestimmten Zeitmoment erregt sind, zu kennen, sondern dafs man diese
Summe für jeden der geschlossenen Umgänge, welche die Zweige der
Strombahn bilden, kennen mufs. Nun erhält man aber die in jedem ein-
zelnen Umgang indueirte elektromotorische Kraft, wenn man die Integra-
tionen in (6) dieses $. auf ihn beschränkt, oder, was dasselbe ist, die Glei-
chungen in (21) und (22) auf diesen Umgang, als wäre er nur allein vorhan-
den, anwendet. Hieraus geht hervor, dafs das vorstehende Theorem,
dessen Ausdruck eine unverzweigte inducirte Strombahn vor-
aussetzt, wenn diese verzweigt ist, für jeden ihrer geschlosse-
nen Umgänge gilt.
Gehn wir jetzt zu dem Falle über, wo der inducirende konstante
Strom auf eine beliebige Weise verzweigt ist. Ein solcher verzweigter
Strom kann als ein Aggregat von über einander gelagerten einfachen Strom-
Umgängen angesehen werden. Ich bezeichne diese einfachen Strom - Um-
24 Neumann über ein allgemeines Princip
gänge durch «, @, ete., ihre Strom-Stärken durch j., ja, ete. Diese Strom-
Stärken werden mittelst der Ohmschen Gesetze aus den Leitungswiderstän-
den des Stromsystems und der elektromotorischen Kraft der Erreger be-
stimmt. Nennt man die Gröfse, welche oben in (1) und (2) mit C bezeich-
net wurde, in Bezug auf die einfachen Umgänge «, ß, etc., d.h. wenn die
Integration 3 in (2) auf diese bezogen wird: C,, C,, ete. und behält für C
die ursprüngliche Bedeutung, die nämlich, welche dieser Buchstabe in (1)
hat, bei, so ist
C=C,+0;+...
Substituirt man diesen Werth in (1) und verfährt auf dieselbe Weise, wie
man (3) erhalten hat, so wird
(26) I= fa: (i.-E. +2; Es+--)
wo E,, E,, etc. durch dasselbe Integral als E in (5) ausgedrückt sind, in
welchem aber jetzt sich die Integration 3 respektive auf die Umgänge «, ß,
etc. bezieht. Es sind also einerseits j,E,, j,E;, etc. die durch die einzel-
nen Umgänge inducirten elektromotorischen Kräfte, wofür wir setzen re-
spektive F
«I
F;, etc., anderseits ist ihre Summe, wie aus (26) erhellt, die
von dem ganzen Strome inducirte elektromotorische Kraft, welche mit 7
bezeichnet wird, so dafs
F=F,+R,-+...
Seizt man hierin für F, F;, etc. ihre Werthe, so erhält man
(27) F=ej,{$P (a. s,) — P («. s,)}
+:j; $P (R. s,)— P (R. s)} + etc.
worin P (a. s) das Potential der Strom - Einheit in dem Umgange « in
Bezug auf die Strom-Einheit in dem Umgange s bezeichnet. Die mit dem
gemeinschaftlichen Faktor e multiplicirte Gröfse ist die Differenz des Poten-
tials des ganzen inducirenden, beliebig verzweigten Stroms in Bezug auf die
Strom-Einheit in dem indueirten Leiterumgang s in der End- und Anfangs-
position seiner Elemente. Nennen wir den ganzen inducirenden Strom wie
oben s, und bezeichnen das Potential von s in Bezug auf die Strom-Einheit
ins durch Q (s. s), so kann die Gleichung (27) so geschrieben werden:
(28) F=e{Q («s,)— 0 (e s)}.
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 35
Diese Gleichung zeigt, dafs das oben aus (25) abgeleitete Theorem
eben so gut gilt, der inducirende Strom mag einfach sein, oder
auf eine beliebige Weise verzweigt.
Mit Rücksicht auf die vorstehende Gleichung verwandelt sich (26) in
ge Sts50« s) (29)
wenn man bei der Bildung des Differentialquotienten - Q (s.s) allein s als
Funktion der Zeit betrachtet, und j,, ja, etc. als konstant.
2.
Es sollen in diesem $. die Ausdrücke für die elektromotorische Kraft
entwickelt werden, welche in einem ruhenden linearen Leiter, der dem in-
ducirten Strom einen geschlossenen Umgang darbietet, dadurch erregt
wird, dafs die Elemente eines indueirenden Stroms aus ihren ursprüngli-
chen Lagen auf beliebigen Wegen in andere fortgeführt werden. Im Allge-
meinen wirken in dieser Klasse von Induktionen zwei an sich von einander
unabhängige Ursachen gleichzeitig Strom erregend, einmal die Ortsverände-
rung der Strom-Elemente, und dann die durch diese Ortsveränderung her-
vorgebrachte Intensitäts - Veränderung des Inducenten. Es soll hier, wenn
eine solche Intensitäts- Veränderung gleichzeitig stattfindet, nur der Theil
der elektromotorischen Kraft bestimmt werden, welcher von der Orts-Ver-
änderung der Strom-Elemente herrührt; der durch die Intensitäts- Verände-
rung indueirte Antheil wird in $. 4 in Betracht gezogen werden. Wenn
aufser den Strom -Elementen auch der inducirte Leiter eine Bewegung hat,
aber eine solche, wobei die relative Lage seiner Elemente unverändert bleibt,
so kann beiden Systemen, dem Strom- und Leiter- System eine gemein-
schaftliche Bewegung ertheilt werden, welche keine Induktion erregt und
den Erfolg hat, dafs der Leiter an seinem Orte bleibt, wodurch dieser Fall
auf den in diesem $. zu behandelnden zurückgeführt wird.
Ich bezeichne wieder die Strom- und Leiter-Elemente respektive
durch Dr und Ds, das Element des Weges aber, auf welchen Dr fortge-
führt wird, durch dw, so dafs die Geschwindigkeit v= — ist. Ich setze zu-
nächst die Bahn sowohl des inducirenden als inducirten Stroms ohne Ver-
Phys. Kl. 1847. D
96 NEUMANN über ein allgemeines Princip
zweigung voraus. Das aus dieser Voraussetzung hervorgehende Resultat
wird später auf die Fälle ausgedehnt werden, wo diese Bahnen ver-
zweigt sind.
Die durch die Bewegung von Dr während des Zeitelements df in dem
Leiter s inducirte elektromotorische Kraft EDr ist nach meiner frühern
Abhandlung bestimmt durch die Gleichung:
(1) EDs=— evTDrot
wo T De die nach der Richtung von dw zerlegte Wirkung ist, welche die in-
ducirte Strombahn, von der Strom-Einheit durchströmt gedacht, auf Ds
ausübt.
Die Wirkung, welche Ds auf Dr ausübt, ist dieselbe, welche Dr
auf Ds ausübt, nur der Richtung nach entgegengesetzt, und also, wenn 7
die Stromstärke in Dr bezeichnet:
. Ds Ds
= fcosy —z c08.9 cos 9}
oder
. Ds Ds 5: d?r ı dr dr
Ir ds ds 2 ds ds
wo 9, 9, 9 und r dieselbe Bedeutung haben, welche ihnen im Anfange des
vorigen $. gegeben ist. Der vorstehende Ausdruck mit dem Cosinus der
Neigung von r gegen dw d. i. mit — multiplieirt, und nach Ds in Bezug
auf die ganze inducirte Strombahn integrirt, giebt den Werth von T Dr,
also
(2) TDsr=jDr Ss = [ 2 ii ah =} &
ds ds 2 ds ds da“
Nimmt man von (1) das Integral nach Dr, und dehnt dieses auf die ganze
inducirende Strombahn aus, so erhält man die durch den Strom in dem
Leiter zur Zeit 2 während 02 inducirte elektromotorische Kraft. Dieses In-
tegral giebt den inducirten Differentialstrom, wenn es mit dessen recipro-
ken Leitungswiderstand € multiplieirt wird; der Differentialstrom, nach 9£
zwischen Z, und Z, integrirt, giebt den in diesem Zeitintervall inducirten Inte-
gralstrom J. Man hat also, da e' unabhängig von { ist, und j, weil der
Strom unverzweigt angenommen wird unabhängig von ec:
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 97
I= [ti (3)
Ds Dr d’r ı dr dr ar
EB=-ef380: 77 a 4)
Die Gröfse E ist die Summe der in dem ganzen Leiterumgang wäh-
worin
rend des Zeitraums von Z, bis £, inducirten elektromotorischen Kraft, wenn
die inducirende Stromstärke innerhalb dieses Zeitraums konstant und gleich
der Einheit ist; diese Summe ist /E wenn j die konstante Stromstärke ist,
£,
und wird S tz 2 wenn die Stromstärke j variabel ist. Die Gröfsen E
z
und S 017 — werde ich im Folgenden durch F bezeichnen. Statt (4) kann
; ; du .
man schreiben, weilv= — ist:
dw Ds Dr d? dr dr di
B=-efss Fr +2 (5)
Dies dreifache Integral, wodurch E bestimmt wird, unterscheidet sich von
demjenigen in (6) des vorigen $. nur darin, dafs hier dw eine Funktion von
s ist, während dort do eine Funktion von s war. Da aber zwischen dem
bewegten c hier und dem in $. 1 bewegten s kein weiterer Unterschied vor-
handen ist, so kann man die Diskussion des Integrals (6) $. 1 unmittelbar
auf das vorliegende anwenden, und erhält, mut. mut. dies Theorem:
Wenn ein konstanter, unverzweigter elektrischer Strom
die Veränderung erlitten hat, dafs ein Theil seiner Elemente,
oder sämmtliche aus ihrer ursprünglichen Lage in eine zweite
auf beliebigen Wegen fortgeführt sind, gleichgültig, ob ein
Theil dieser Elemente aus der Strombahn ausgetreten ist, oder
andere eingetreten, soist die durch diese Ortsveränderung der
Elemente in einem in der Nähe des Stroms ruhenden einfachen
Leiter- Umgang inducirte elektromotorische Kraft gleich dem
mite multiplicirten Unterschied der Potentialwerthe des indu-
eirten Leiterumgangs, ihn von der Strom-Einheit durchströmt
gedacht, in Bezug auf den konstanten inducirenden Strom in
der End- und Anfangs-Position seiner Elemente.
D2
28 Neumann über ein allgemeines Princip
Bezeichnen wir durch s, und s, die inducirende Strombahn in der
End- und Anfangs-Position ihrer Elemente, durch s die indueirte, und
durch P (s,. s) und P (s,.s) die Potentiale der Strom -Einheiten in s, und s,
in Bezug auf die Strom-Einheit in s, nennen endlich j die konstante Inten-
sität des inducirenden Stroms, und F die durch ihn inducirte elektromoto-
rische Kraft, so ist
(6) F=:j $P (s.s) —P (s. s)}.
Wenn der inducirte Leiter Verzweigungen besitzt, so gilt dieses Theo-
rem für jeden einfachen Umgang, welcher aus seinen Zweigen gebildet wer-
den kann, und giebt also die in den einzelnen Umgängen erregten elektro-
motorischen Kräfte, deren Kenntnifs erforderlich und hinreichend ist um
die Stromstärke in jedem Zweige des inducirten Leiters zu bestimmen.
Das vorstehende Theorem gilt auch für beliebig verzweigte induci-
rende Ströme, unter der Bedingung, dafs die Stromstärke in jedem der ge-
schlossenen Umgänge, welche aus den Stromzweigen gebildet werden kön-
nen, durch die Verrückung der Strom-Elemente keine Veränderung erlei-
det. Der verzweigte Strom ist nemlich als ein Aggregat von einfachen
Strom - Umgängen anzusehn; einer derselben werde durch v bezeichnet,
und zwar durch v, und v, in der Anfangs- und End-Position seiner Ele-
mente; j, sei seine konstante Stromstärke, und F, die durch ihn in dem
ruhenden Leiter- Umgang s indueirte elektromotorische Kraft. Bezeichnen
wir wieder durch P (v. s) das Potential der Strom -Einheit in v in Bezug auf
die Strom -Einheit in s, so ist
F,=e7,.$P Ws), RS
Die elektromotorische Kraft, welche durch den ganzen inducirenden Strom
erregt wird, ist die Summe der Kräfte, welche durch seine einzelnen com-
ponirenden Umgänge inducirt werden, bezeichnen wir sie mit F, so ist
(7) #-—-€©.7, r (v„s) —P (,.s)t,
wo durch & eine Summe bezeichnet wird, die auf alle einfache Umgänge,
welche den gegebenen Strom zusammensetzen, auszudehnen ist. Diese
Summe ist aber die Potential-Differenz der Strom-Einheit in dem Leiter-
Umgang s in Bezug auf den ganzen indueirenden Strom in der End- und
Anfangs-Position seiner Elemente. Nennen wir s den indueirenden, belie-
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 29
big verzweigten Strom und Q (s. s) sein Potential in Bezug auf die Strom-
Einheit in s, so kann die vorstehende Gleichung so geschrieben werden:
F=:{Q(.)-QC- 9. (8)
Die Bedingung der Unveränderlichkeit der Stromstärke in jedem der
einfachen Umgänge der verzweigten inducirenden Strombahn erfüllt sich
bei konstanten Strom-Erregern von selbst, wenn die Bahn keine Gleitstel-
len besitzt, weil dann der Strom-Widerstand und seine Vertheilung in den
Zweigen unverändert bleibt. Diese Bedingung kann aber auch bei beson-
dern Anordnungen, wenn Gleitstellen vorhanden sind, erreicht werden. In
Fig. 4 tritt der inducirende Strom in a ein, theilt sich in « in zwei Zweige
«aß und ayß, die sich in ® wieder vereinigen, und tritt bei 5 aus. Die Strom-
Theilungsstellen « und ß sind zugleich Gleitstellen. Die Fortführung des
Zweiges aß aus seiner Anfangs -Lage a,ß, in die Endlage «, ß, erregt nem-
lich in einem in der Nähe befindlichen Leiter- Umgang die Induktion. Der
verzweigte Strom läfst sich auf verschiedene Weise in zwei einfache Umgänge
zerlegen, ich zerlege ihn in die Umgänge aaßd und a«yß, welche ich durch
« und y der Kürze wegen bezeichne; die Stromstärken in ihnen seien j, und
j,. Nennt man ws den Leitungswiderstand in dem Zweige aß und w in dem
Zweige ayß und setzt u=Aw, so ist, — Nun kann man leicht
a8.
ir ade
Anordnungen treffen, dafs, an welcher Stelle seines Weges sich auch der
bewegte Zweig «aß befinde, sowohl j, als A denselben Werth behält. Diese
Anordnungen vorausgesetzt, erhält man für die durch die Verschiebung von
aß in einem Leiter-Umgange s inducirte elektromotorische Kraft F den
Ausdruck:
F=ej, $P (ae,.s)—P (ea, s)} (9)
+:,,$P@&.)—-P@. 9}.
Dieser Ausdruck reduzirt sich übrigens, wie man leicht sieht, wenn durch
” die Peripherie «, a,ß@,ß, der vom bewegten Zweige beschriebenen Fläche
bezeichnet wird, auf folgenden:
F=e(j,—],)P (es),
dessen Richtigkeit aus der Bemerkung erhellt, dafs nach unserer Zerlegung
des Inducenten in einfache Umgänge j, — j, die konstante Stromstärke des
bewegten Zweiges «3 bezeichnet.
30 Neumann über ein allgemeines Princip
Im Allgemeinen treten bei inducirenden Strömen mit Gleitstellen,
gleichzeitig mit der Verrückung ihrer Elemente, Intensitäts- Veränderungen
ein, diese treten nur dann nicht ein, wenn die Veränderungen der Leitungs-
Widerstände und ihrer Vertheilung, welche durch die Verschiebungen der
Bahnstücke hervorgebracht werden, sich gegenseitig compensiren. Bahn-
stück nenne ich jeden zwischen zwei auf einander folgenden Gleitstellen
liegenden Theil der Strombahn. Es sei der inducirende Strom unverzweigt
und seine Intensität j, welche er zur Zeit / besitzt, verändere sich, in Folge
der Fortführung seiner Bahnstücke, in dem Zeitintervall von Z, bis £, aus 7,
inj,. Wäre die Intensität / während der Zeit von Z, bis £ konstant gewesen,
so würde in diesem Zeitraum eine elektromotorische Kraft inducirt sein,
deren Werth ist
ej$P (&.s)—P6.s)}.
Die Intensität j ist aber nur zur Zeit £ vorhanden gewesen, da ihr Werth
zur Zeit 2+0£ schon j+ zı 0 war. Man kann aber j während 0 als kon-
stant ansehn, da der Zuwachs unendlich klein ist, und erhält dann für die
während 0% inducirte elektromotorische Kraft
ejat _P (es).
Nimmt man hiervon das Integral nach 0% zwischen , und Z,, so erhält man
die durch die Verschiebung der Strom-Elemente in dem Zeitraum von £,
bis Z, inducirte elektromotorische Kraft 7, nemlich:
[77
(10) F=: [aj Ps).
£,
Diese Gleichung erhellet übrigens unmittelbar aus (3), wenn berücksichtigt
s dE d.P(s.s) .
wird, dafs m
det, wenn der inducirende Strom verzweigt ist, auf jeden seiner einfachen
st. Die hier eben angestellte Betrachtung fin-
Umgänge Anwendung. Daher verwandelt sich für den in Fig. 4 dargestell-
ten Fall die Formel (9), wenn j, und j, während der Verschiebung der Ele-
mente von « variabel sind, in
(11) F=e/ a. Pas) ref ji, & Ps)
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 31
und der allgemeine Ausdruck in (7) für die durch die Verschiebung der Ele-
mente eines beliebig verzweigten Stroms in einem Leiter-Umgang inducirte
elektromotorische Kraft, wird bei variabeler Stromstärke:
F=:& f%j, —Pe.s), (12)
wo die Summe © alle einfachen Umgänge, welche den gegebenen Strom
zusammensetzen, umfafst.
Die Gleichungen (10) (11) (12) zeigen, dafs bei variabeler Strom-
stärke die durch die Verschiebung der Strom-Elemente inducirte elektro-
motorische Kraft nicht ihr Maafs in dem dadurch hervorgebrachten Zuwachs
des Potentialwerthes des inducirenden Stroms in Bezug auf den von der
Strom-Einheit durchströmten Leiterumgang hat, wir werden aber im Fol-
genden sehen, dafs dies wieder der Fall ist, wenn der durch die gleichzei-
tige Intensitäts - Veränderung inducirte Antheil der elektromotorischen Kraft
berücksichtigt wird.
|. 3.
In meiner frühern Abhandlung über die inducirten Ströme wurden
drei Klassen von Induktions-Fällen unterschieden, nemlich zuerst Induktio-
nen durch geschlossene Ströme in geschlossenen Leitern, und dann Induk-
tionen durch geschlossene Ströme in ungeschlossenen Leitern oder durch
ungeschlossene Ströme in geschlossenen Leitern, und endlich Induktionen
durch ungeschlossene Ströme in ungeschlossenen Leitern. Ich bemerke,
dafs bei dieser Eintheilung immer die Bahnen, sowohl der inducirenden als
indueirten Ströme, oder deren bewegten Theile als feste Systeme voraus-
gesetzt wurden. Die Vorstellung, welche mit der zweiten und dritten Klasse
verbunden wurde, bedarf noch einer kurzen Erklärung. Man denke sich
einen Theil der inducirten Strombahn, den ich a nennen will, während der
andere durch 5 bezeichnet werden möge, durch Isolatoren mit einem Theile
« der indueirenden Strombahn verbunden, der andere Theil dieser Bahn
soll ® heifsen. Die verbundenen Theile a und « werden bewegt, während
die Theile 6 und @ ruhen. Hier findet eine Induktion durch die Bewegung
des ungeschlossenen Stromstücks « in dem ungeschlossenen Leiterstück 5
statt. Diese Induktion ist ein Fall der dritten Klasse. Eben so gehört die
32 NEUMANN über ein allgemeines Prineip
Induktion, welche in dem ungeschlossenen Leiterstück a, das sich unter dem
Einflufs des ungeschlossenen Stromstücks ß bewegt, erregt wird in die dritte
Klasse. Umfafste a die ganze inducirte Strombahn, und wäre also 5= 0,
so würde in dem geschlossenen Leiter a die Induktion durch das unge-
schlossene Stromstück 8 erregt; dieser Fall gehörte in die zweite Klasse;
dasselbe würde der Fall sein, wenn « den ganzen inducirenden Strom um-
fafste und = 0 wäre.
Diese Eintheilung ist nach dem Standpunkt der vorliegenden Betrach-
tung nicht erschöpfend, sie ist aber auch an sich unzweckmäfsig. Die Tren-
nung, um in der eben gebrauchten Bezeichnung weiter mich auszudrücken,
der Induktion, welche in & durch « erregt wird von derjenigen, die in «
durch ß hervorgebracht wird, statt die Untersuchung zu erleichtern, er-
schwert dieselbe; beide Induktionen, wie sie gleichzeitig in der Wirklichkeit
vorhanden sind, müssen auch gleichzeitig in Betracht gezogen werden. In
der gegenwärtigen Abhandlung mufs mit der Voraussetzung, dafs die Strom-
bahnen oder ihre bewegten Theile wie starre feste Curven bewegt werden,
zugleich die Eintheilung in geschlossene und ungeschlossene Bahnen aufge-
geben werden. Wir können hier nur so theilen: entweder findet die In-
duktion durch einen ruhenden Strom in einem geschlossenen Leiter statt,
dessen Elemente eine Ortsveränderung erfahren, oder in einem ruhenden
Leiter durch einen Strom, dessen Elemente beliebig verschoben werden,
oder endlich die Induktion wird durch eine gleichzeitige Verschiebung der
Leiter- und Strom-Elemente erregt. Die Bewegung der Elemente ist in
allen drei Fällen so weit unbeschränkt, dafs durch dieselbe die leitende Ver-
bindung in den Strombahnen nicht aufgehoben wird. Die beiden ersten
Fälle sind in den beiden vorhergehen 8S. behandelt, der dritte soll der Ge-
genstand des gegenwärtigen sein. Zu ihm gehört, als ein ganz specieller
Fall, der, welcher eben als eine Induktion eines ungeschlossenen Leiter-
stücks durch ein ungeschlossenes Stromstück bezeichnet wurde. Das Spe-
cielle dieses Falles besteht darin, dafs die Bewegung der Elemente in « und
a von der Art ist, als gehörten diese Elemente einem festen Körper an.
Ich werde, um der Vorstellung ein bestimmteres Bild zu geben, die
Untersuchuug mit der Betrachtung eines besondern, hieher gehörigen Falls
beginnen, und dann zeigen, wie sich diese verallgemeinern läfst. Der in-
ducirende Strom sei unverzweigt, und bestehe aus zwei Bahnstücken, welche
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 33
in Fig.5 durch « und @ bezeichnet sind, « soll ruhen, die Elemente von ß
aber werden auf beliebigen Wegen aus der Position ß, in die Position ß, fort-
geführt. Gleichzeitig mit dieser Fortführung geschieht in dem inducirten
Leiter-Umgang, der gleichfalls aus zwei Leiterstücken, mit a und 5 in der
Figur bezeichnet, besteht, die Verschiebung der Elemente von 2, so dafs sie
in derselben Zeit aus der Position in 5, in die von d, gelangen. Es soll die
durch diese gleichzeitigen im Übrigen von einander unabhängigen Verrückun-
gen der Elemente in ß@ und in d, in dem Leiterumgang a+5 inducirte elek-
tromotorische Kraft bestimmt werden.
Ich bezeichne ein Element des ruhenden Bahnstücks @ durch Da, des
ruhenden Leiterstücks a durch Da, und die Elemente der beweglichen Stücke
ß und 5 durch D® und Dd. Den ganzen Strom-Umgang «+ werde ich
durch v, und ein Element desselben, wenn nicht unterschieden werden soll
ob es zu «a oder ß gehöre durch Dr bezeichnen. Ebenso nenne ich den gan-
zen Leiter-Umgang a-+Ö5, und ein Element desselben ohne Unterschied ob
es zu a oder 5 gehört, Ds. Der Strom in « habe die konstante Intensität j.
Die Wege, auf welchen Da und Da fortgeführt werden, seien dw und do,
die Geschwindigkeiten dieser Elemente also =. und —. Das Zeitintervall,
während dessen die gleichzeitigen Verrückungen stattfinden liege zwischen
t, und Z,.
Die während 92 in dem Leiterumgang s inducirte elektromotorische
Kraft ist, wenn C und T in dem Sinne genommen werden, welcher für diese
Buchstaben im Anfange des $1 und $ 2 festgesetzt wurde
do du
— ed SC Ds — dt ST De.
Nimmt man hiervon das Integral nach d£ zwischen Z, und /, um die in diesem
Zeitintervall inducirte elektromotorische Kraft zu erhalten, bezeichnet diese
mit F, macht F=jE, und setzt für C und T ihre Werthe aus (2) $1 und
(2) $2, so wird
DD d? dr d dr d
E=-: due Tr 4 u Ei Or
r db ds db ds| do dt (4)
2 2
Bug LE e dr h.. 1 dr dr | dr dw
r dßds aß ds| au at
Von den beiden durch 3 und $ bezeichneten Integrationen, die im Allgemei-
Phys. Kl. 1847. E
34 Neumann über ein allgemeines Princip
nen auf die ganzen Umgänge respektive r und s auszudehnen sind, beschränkt
sich & in dem zweiten Gliede auf die Elemente von £, weil für die Elemente
des Theils @« der Faktor a = oist, und Sim ersten Gliede auf die Elemente
von d, da für die Elemente von a hier 22 = oist; aus diesem Grunde ist in
diesen Gliedern respektive statt Dr und Ds geschrieben worden D£ß und Db.
Ich werde das in dem ersten Gliede des vorstehenden Ausdrucks von
E unter dem Integralzeichen S stehende Doppel-Integral durch B bezeich-
nen, und in dem zweiten Gliede durch B, so dafs
Ds Db d’r ı dr dr| dr do
: Be WE +22
2) DRDs(_ a®r ı dr dr) dr dw
B = 38 ——- Ir —— — 4 — —ı — —
daß ds aß ds| dw at
(3) E=-efütB-efütB
Die Integration in dem Ausdruck von B nach Dr erstreckt sich auf alle Ele-
mente welche zur Zeit {in dem Umgange r enthalten sind, die nach Dd ist
von5=b, bis 5b = b, auszudehnen, wo 5, und 5, die zur Zeit zZ in den Gleit-
Stellen liegenden Enden des bewegten Stücks 5 sind. Die Integration in B
nach Ds ist auf alle zur Zeit Z in s vorhandene Elemente auszudehnen, die
nach DR bezieht sich nur auf die zwischen ß, und £, liegenden Elemente,
wo ß, und £, die Gleitstellen des bewegten Stücks ß zur Zeit £ bezeichnen.
Es sind also sowohl die Anzahl der Elemente nach welchen in Bund B zu
integriren ist, als die Lage derselben und defshalb auch und dessen Diffe-
rentialquotienten Funktionen der Zeit, und somit auch B und B. Diese
Funktionen B und B sind in (3) nach 0£ zwischen £, und Z, zu integriren.
Ich werde annehmen das Zeitintervall /, — 2,=r, sei sehr klein, so
dafs, wenn man f, +7 = setzt, wo r zwischen o und 7, liegen soll, man die
Funktionen B und B nach den Potenzen von r entwickeln kann, und nur
die ersten Glieder dieser Entwickelung zu berücksichtigen braucht. Ich setze
B= B, + Br
B=B-+B;
Hierin ist B, der Werth welchen B zur Zeit z, besitzt. Der Zuwachs wel-
chen B zur Zeit {,+r erfahren hat, rührt von zwei von einander unabhän-
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 33
gigen Ursachen her, einmal weil die Lage und Anzahl der Elemente des
Leiterstücks 5 sich geändert hat, und dann weil dasselbe in Beziehung auf
die Elemente der Strombahn r stattgefunden hat. Ich werde um die Wir-
kung dieser beiden Ursachen zu unterscheiden, setzen
BiEHBLNB:
wo B, den Theil von B, bezeichnen soll, welcher von der Veränderung der
Zahl und Lage der Elemente in 5 herrührt, und B, von der Veränderung
der Elemente in re.
Ebenso besteht B, aus zwei von einander unabhängigen Theilen, der
eine rührt von der Verschiebung der Elemente des Bahnstücks £ her, und
dieser soll mit B, bezeichnet werden, der andere von der Veränderung
welche der Leiterumgang s erlitten hat, und dieser soll B, genant werden,
so dafs
B,=B, +B;
Setzt man diese Werthe in (3) und integrirt, nachdem man dr statt d£ ge-
schrieben hat, nach dr zwischen o und 7, so erhält man für die in dem klei-
nen Zeitintervall 7, inducirte elektromotorische Kraft E den Ausdruck
E=-—er,$B+B+7z(B,+B,+B,-+B;) r} (4)
Ich werde jetzt nachweisen, dafs dieselbe elektromotorische Kraft in-
ducirt wird, wenn man dieselben Verrückungen der Elemente der induci-
renden und inducirten Strombahn nicht gleichzeitig sondern nach einander
erfolgen läfst.
Es sollen die Elemente von ß in Ruhe bleiben, und die von 5 ver-
&s . du
rückt werden; dann ist wegen _ —=oauchB=o und
B= B, + B, T
Die jetzt inducirte elektromotorische Kraft, welche ich E, nenne, hat den
Ausdruck
E,=-—er$B+75zB,r}
worin, da die Verrückung der Elemente von 5 eben so grofs sein soll wie
vorher, r, denselben Werth als in (4) besitzt. Jetzt, nachdem die Ver-
schiebung von 5 vollendet ist, sollen die Elemente von $ fortgeführt wer-
den. Diese Fortführung geschieht in dem Zeitraum von Z, + 7, bis t,+ 27,.
E2
36 NEUMANN über ein allgemeines Princip
Zur Zeit +7, hat B den Werth B,+B, r, und zur Zeit ,-+7,+ 7 ist also
B=B +B,r,+B;r
RE a f a i
während in dieser Periode B = o ist weil in ihr — = 0. Nennt man die
in dieser Periode inducirte elektromotorische Kraft E,, so ist
E, = — er, fB, + (eB, +B,) 7}
und demnach die Summe der in beiden Perioden inducirten elektromotori-
schen Kraft
(5) E, +E, = ET, {B+B +5 (B,+:2B,+B;) 7}
Wäre die Ordnung in welcher die Elemente der Stücke 5 und ß
fortgeführt sind, die umgekehrte gewesen, und wäre also zuerst @ und dann
d verschoben worden, so hätte man, wenn die in der ersten Periode indu-
eirte elektromotorische Kraft durch E,;, die der zweiten Periode durch E,
bezeichnet wird, erhalten:
E; = — er, $B, + B,) ri}
E,=—er,$B+4(2B,++B,) r}
und also die Summe der in beiden Perioden inducirten elektromotorischen
Kraft
E;+E,= — er $B+B++(B;+:2B,+B,) r}
Nun mufs aber E,+E,=E, +E, sein, weil jede dieser Gröfsen
dem Unterschied der Werthe gleich ist, welche das Potential von « in Be-
zug auf s in den End- und Anfangs-Positionen der Elemente dieser zwei von
der Strom-Einheit durchströmten Curven hat, und es in Beziehung auf die-
sen Unterschied gleichgültig ist, ob die Elemente von 5 zuerst und dann die
von ß, oder ob umgekehrt zuerst die Elemente von ß und hierauf die von 5
fortgeführt worden sind. Hieraus folgt aber B=B, oder
2B, = B,+ B,
Setzt man diesen Werth von B, in (5) und vergleicht diese Gleichungen mit
(4) so sieht man dafs
E= E, + E,
und dafs es also bei kleinen Verschiebungen der Strom- und Leiter-Elemente
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 37
gleichgültig ist in Beziehung auf die inducirte elektromotorische Kraft, ob
diese Verschiebungen gleichzeitig oder aufeinander folgend stattfinden. Be-
zeichnet man die Curven s und r zur Zeit £, durch s, und s, zur Zeit 4, +7,
durch s, und s, und durch P(s.s) wieder das Potential von s in Bezug auf's,
beide Curven von der Strom-Einheit durchströmt gedacht, so kann man
statt (4) schreiben
E=: {P (5, . s,,) ; P«6s, ® s)}
Wenn die Verschiebung, und also auch 7, unendlich klein — dt ist, so ist
P(s,.s,)—P(s,.s,) der mit d2 multiplieirte nach { genommene Differentialquo-
tient von P(s,.s). Mit Weglassung der Accente ar s und s hat man also für
die während 97 inducirte elektromotorische Kraft den Ausdruck
eu P(s.s)
Hierbei ist die Stromstärke des Inducenten der Einheit gleich gesetzt, ist diese
7 so ist die inducirte Kraft
edtj— =P@: s) (6)
woraus folgt, dafs wenn j konstant ist, auch die in jedem endlichen Zeitin-
tervall von £, bis £, inducirte elektromotorische Kraft F ausgedrückt ist durch
= ej $P(@,.s,) —P(:s)} (N
wo s,, 5, und s,, s, die Curven s und s in der Lage ihrer Elemente bezeichnen,
die sie zur Zeit Z, und Z, besitzen.
Durch die vorstehende Betrachtung ist die Summe der beiden drei-
fachen Integrale in (1) auf die Differenz zweier Doppel-Integrale zurück-
geführt, nemlich, indem für P(r.s) sein Werth gesetzt wird
Ds, Ds,
F=Ej= 7.35 —— cos (Dr,.Ds,)
Ds, Dr
(8)
— 47285 —2 cos (De,. Ds,)
worin durch die den Elementen und dem r aa Strichelchen die Lage
und Entfernung derselben im Anfang und am Ende ihrer Verrückungen be-
zeichnet sind. Die Integrationen sind auf die ganzen geschlossenen Umgänge
auszudehnen.
38 Neumann über ein allgemeines Princip
Wir haben bis jetzt einen speciellen Fall, wie er in Fig. 5. vorgestellt
ist, vorausgesetzt, nemlich dafs die inducirende Strombahn aus einem ru-
henden und einem bewegten Bahnstücke bestehe, und ebenso der indueirte
Leiter nur ein ruhendes und ein bewegtes Leiterstück besitze. Die vorste-
hende Betrachtung erleidet aber dadurch keine Veränderung, dafs wir sowohl
der inducirenden als inducirten Strombahn, wenn nur beide unverzweigt blei-
ben, eine beliebige Anzahl Bahn- und Leiterstücke ertheilen. Wir brau-
chen nur unter « alle ruhenden Stromelemente, wenn solche vorhanden sind,
verstehen, und unter @ alle bewegten, und ebenso unter a alle ruhenden Ele-
mente der inducirten Bahn und unter d alle bewegten. Die Gleichungen (7)
und (8) gelten also allgemein für alle unverzweigten Strom- und Leiterum-
gänge. Ist die indueirte Strombahn verzweigt, so gelten sie für jeden ge-
schlossenen Umgang, der aus ihren Zweigen gebildet werden kann. Ist der
indueirende Strom verzweigt, und bleibt die Stromstärke in jedem Zweige
ungeachtet der Verrückung der Strom-Elemente, ungeändert, so gelten die
Gleichungen (7) und (8) für jeden der einfachen Strom-Umgänge, aus wel-
chen der Inducent zusammengesetzt gedacht werden kann. Es sei v einer
dieser Umgänge, die in ihm fliefsende Stromstärke sei j, und der Antheil
der inducirten elektromotorischen Kraft, welcher ihm zukömmt werde durch
F', bezeichnet, so ist nach (7)
F,=:j, {P(@,.s,)— P(,.s)}
und die ganze indueirte elektromotorische Kraft also
(9) F=:&j, {Po,.s)—P@,.s)}
wo © dieselbe Bedeutung wie in (7) des vorigen $ hat, wofür man, wenn
Q(s.s) das Potential des inducirenden, beliebig verzweigten Stroms s in Be-
zug auf die Strom-Einheit in s bezeichnet man schreiben kann
(10) MEILE, 3, QLs,.5)%
Durch diese Gleichung ist das neue, im Eingang dieser Abhandlung aufge-
stellte Induktions-Prineip so weit bewiesen, als in dem Inducenten keine
Veränderungen in der Stromstärke vor sich gehn.
Ist die Stromstärke 7 variabel, und der Inducent unverzweigt, so er-
hält man aus (6) für die in dem Zeitintervall von Z, bis Z, inducirte elektro-
motorische Kraft den Ausdruck
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 39
F=efajz Pr .s) (11)
Ist der Inducent verzweigt, und seine Stromstärke veränderlich, so erhält
man hieraus statt der Gleichung (9) die folgende
F=:6./3j, 0.9) (12)
4.
Es bleibt noch übrig diejenige elektromotorische Kraft auszudrücken,
welche, ohne dafs eine Orts-Veränderung der Elemente eines inducirenden
Stroms eintritt, durch die Veränderung seiner Stromstärke erregt wird, oder,
wenn eine solche Ortsveränderung vorhanden ist, den Antheil der inducirten
elektromotorischen Kraft zu bestimmen, welcher von der gleichzeitig einge-
tretenen Intensitäts-Veränderung herrührt. Dies ist der Gegenstand dieses $.
Der Ausdruck für die in Rede stehende elektromotorische Kraft kann
nicht aus den Principien, welche den vorigen $$ zum Grunde liegen, abge-
leitet werden, da diese sich nur auf die Orts-Veränderungen der Strom- und
Leiter-Elemente beziehen. In meiner frühern Abhandlung aber wurde ich
durch Analogie auf ein anderes Princip geführt, durch welches die vorlie-
gende Frage beantwortet werden kann, und das sich durch die Beobachtung
als richtig bewährt hat. Dieses Princip habe ich an dem angeführten Orte so
ausgesprochen: wenn in einem ruhenden geschlossenen Strom « die Intensi-
tät 7, sich in j, verändert, so ist die in einem in seiner Nähe befindlichen ein-
fachen Leiter- Umgang s dadurch inducirte elektromotorische Kraft
e(„—)J)P(e.9) (1)
d.i. proportional mit der Potential-Differenz des Inducenten r in seinen
zweierlei Intensitäts- Zuständen 7, und j,in Bezug auf die Strom-Einheit in
dem Leiter- Umgang s.
Der Grundsatz auf welchem dies Prineip beruht ist der, dafs die Induk-
tion in einem ruhenden geschlossenen Leiter allein durch die Veränderung
der Wirkung des Inducenten nach Aufsen hervorgebracht wird, und dafs die
in einer bestimmten Zeit inducirte elektromotorische Kraft allein von dem
Anfangs- und Endzustand dieser Wirkung abhängt, nicht von der Art und
40 Neumann über ein allgemeines Princip
Weise, wie der letztere aus dem erstern hervorgegangen ist. Ist z.B. der
Endzustand dieser Wirkung gleich dem Anfangszustand, so ist die Summe
der inducirten elektromotorischen Kraft immer gleich Null. Wenn dieselbe
Veränderung in der Wirkung eines Stromes nach Aufsen, welche durch eine
Veränderung seiner Intensität eingetreten ist, durch eine Verschiebung seiner
Elemente hervorgebracht werden kann, so hat man in dem Ausdruck der
durch diese Verschiebung inducirten elektromotorischen Kraft zugleich den
für die durch die Intensitäts- Veränderung erregte. Die Veränderung der
Stromstärke von 7, in 7, eines ruhenden Inducenten bringt dieselbe Variation
in seiner Wirkung nach Aufsen hervor, als wäre zu dem ursprünglichen
Strom j, ein anderer von derselben Configuration mit der Intensität 7, — J,
aus unendlicher Ferne hinzugeführt und über ihn gelegt worden. Die durch
den hinzugeführten Strom inducirte elektromotorische Kraft it =
&(j„— J,) P(e.s), und dies ist der in (1) gegebene Ausdruck für die durch
die Intensitäts-Veränderung 7, — j inducirte elektromotorische Kraft. — Ich
werde diesen Grundsatz noch durch ein zweitesBeispiel erläutern, und dazu den
in G 2 behandelten Induktionsfall, auf welchen sich Fig. 4. bezieht, wählen.
Ich behalte die a. O. gebrauchte Bezeichnung bei, und füge der dort gemach-
ten Bestimmung dals j, und A konstant sein sollen noch die hinzu, dafs A ver-
schwindend klein sei. Alsdann fliefst der ganze inducirende Strom in dem
Umgang aaßd, da jetzt die Intensität j, in dem Zweige «yß unendlich klein
ist. Führt man nun das bewegliche Bahnstück «aß aus seiner Anfangs-Lage
«,ß, in der Richtungnach «,ß, so weit, bis es bei y ganz aus der leitenden Ver-
bindung mit der Strombahn heraustritt, so ist die inducirte elektromotorische
Kraft ej, P(r.s), wo r die Curve «,a, yß,ß, bezeichnet, auf welcher die
Enden des bewegten Bahnstücks fortgleiteten. Die Veränderung die in dem
inducirenden Strom hervorgebracht ist, ist aber keine andere als die, welche
durch das Eintreten des Stroms 7, in die mit r bezeichnete Curve, inwelcher im
Anfange kein Strom flofs, hervorgebracht wird. Das Eintreten eines Stromes
von der Intensität 7, in die Bahn ? inducirt also in dem Leiterumgang s eine
elektromotorische Kraft, deren Ausdruck ej,P(*.s) oder wenn für P(r.s)
sein Werth gesetzt wird, und statt j, der Buchstabe j gebraucht wird
(2) EN NE Bu, cor (Ds. Dr)
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 41
wo die Integrationen auf die geschlossene Curven = und s auszudehnen sind.
Da dieser Ausdruck gilt, welche Formen auch = und s haben, so schliefst
man hieraus dafs jedes Strom-Element Dr in jedem Leiter-Element Ds,
so fern diese Elemente geschlossenen Umgängen angehören, dadurch dafs die
Stromintensität des Umganges zu welchem Dr gehört, von o bis j wächst,
eine elektromotorische Kraft inducirt, welche den Ausdruck:
1
—igie]
.Ds Dr
r
cos (Ds. Dr) (3)
hat. Statt des Ausdrucks in (2) kann man, zufolge der Nachweisung welche
in $ 1 bei Ableitung der Gleichung (13) aus (12) gegeben ist, schreiben
Ds Dr dr dr
alas Fa = (4)
4+:j 83
und also auch als elementare Wirkung der Induktion durch Intensitätsverän-
derung setzen
4 erg dr dr
2 a (5)
Die Absicht der Ausdrücke in (3) und (5) für die elementare Induktion durch
Intensitäts- Veränderung ist durch sie den Antheil zu bestimmen, welchen
ein gegebener Theil der Strombahn z an der durch die ganze Bahn inducir-
ten elektromotorische Kraft hat, oder den Theil derselben, welcher in einem
gegebenen Stück des geschlossenen Leiterumganges erregt ist. Man erhält
diese Theile der elektromotorischen Kraft, wenn man die Integrationen in
(2) und (4) auf die in Rede stehenden Stücke der Curven r= und s be-
schränkt.
Aus dem Vorstehenden folgt, dafs, wenn in einem Strom-Element
Dr die Stromstärke j während 07 einen Zuwachs I u erhält, dadurch in
dem Element Ds eines geschlossenen Leiterumgangs s eine elektromotori-
sche Kraft erregt wird, welche den Werth
Ds Ds
— Zelt =
cos (Ds. Dr). . (6)
hat, und dafs die durch den ganzen Strom-Umgang in dem ganzen Leiter-
umgang während 0% inducirte elektromotorische Kraft
eu P(e.) (7)
Phys. Kl. 1847. F
42 Neumann über ein allgemeines Princip
ist; die Summe derselben welche in dem Zeitraum von t, bis Z,, erregt ist,
erhält man durch Integration dieses Ausdrucks nach 0/ zwischen £, und Z,,
und ist also
(8) fuPe.9
Hierin kann P(r.s) eine Funktion der Zeit sein, entweder weil die Lage
der Elemente von s oder die Lage der Elemente von r von dieser Gröfse
abhängen oder weil beide Curven zugleich mit der Zeit sich verändern.
Die vorstehenden Ausdrücke in (7) und (8) gelten wenn der Leiter
verzweigt ist für jeden einfachen Umgang desselben, und wenn der induci-
rende Strom verzweigt ist, für jeden seiner einfachen Umgänge, aus welchen
er zusammengesetzt gedacht werden kann.
Ich werde jetzt nachweisen dafs wenn eine Intensitäts-Veränderung in
Folge der Verrückung der Strom-Elemente eintritt, die ganze inducirte elek-
iromotorische Kraft, von der ein Theil durch die Verrückung der Elemente
der andere durch die Variation ihrer Strom-Intens itäterregt ist, gleich ist dem
mit e multiplieirten Unterschied der Werthe welche das Potential des indu-
cirenden Stroms in dem End- und Anfangszustand seiner Elemente in Bezug
auf den von der Strom -Einheit durchströmten Leiter-Umgang hat. Ich
werde dies zuerst in einigen einfachen speciellen Fällen thun, von welchen
aus sich das Resultat leicht verallgemeinern lassen wird.
Es sei der indueirende Strom ohne Verzweigung, und er bestehe aus
einem ruhenden Bahnstück @ und einem bewegten ß. Die Fortführung die-
ses Stücks geschehe in dem Zeitraum von Z, bis 2, und wirke inducirend auf
einen ruhenden Leiter-Umgang s. Das Verhältnifs der Leitungswiderstände in
« und ® sei so, dafs die Stromstärke j durch die Fortführung des Bahnstücks
ß sich von j, in j, verändert. Die von « und ß gebildete geschlossene Bahn
nenne ich s und bezeichne sie durch s, und s, in der Anfangs- und Endposi-
tion von .
Der Antheil der elektromotorischen Kraft, welcher durch die Fort-
führung der Elemente von £ inducirt wird, hat nach (10) $2 den Ausdruck
(9) fi P@:s)
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 43
und der durch die Veränderung der Stromstärke inducirte Antheil ist nach
(8) dieses $:
fuPre.)% (10)
wo die Integrationen in beiden Ausdrücken auf das Intervall von z, bis Z, aus-
zudehnen sind. Die Summe 7’ dieser beiden Antheile, d.i. die ganze indu-
eirte elektromotorische Kraft ist also
F= ft -jP(e.s)
= e77,P(%-3)- 1,6.s% (11)
dei.
Dies ist für den speciellen vorliegenden Fall der Satz, welcher bewiesen wer-
den sollte. Mann sieht aber sogleich dafs man zu demselben Resultat gelangt,
wenn man den Strom aus einer beliebigen Anzahl Bahnstücken bestehend
voraussetzt, dafs man ihren Gleitstellen ruhende oder bewegte Unterlagen
geben kann, dafs man endlich die Elemente des Leiterumgangs gleichzeitig
mit den Strom-Elementen beliebig verschieben kann, ohne dafs der Aus-
druck für Fin (11) dadurch eine Veränderung erleidet, wenn nur Strom- und
Leiterumgang unverzweigt ist. Denn da in allen diesen Fällen der durch die
Verschiebung der Elemente erregte Theil der elektromotorischen Kraft durch
(9), der durch die Intensitäts-Veränderung erregte Antheil durch (10) ausge-
drückt ist, und F die Summe dieser beiden Theile ist, so gilt die Gleichung
(11) überhaupt für einfache Strom- und Leiterumgänge, mufs nun aber, in
dieser Verallgemeinerung, so geschrieben werden:
P= 847, °(6,.3,) u BC.%- (12)
Es ergiebt sich ferner, dafs, wenn der inducirte Leiter verzweigt ist, da in
diesem Falle (9) und (10) die eben bezeichneten Theile der elektromotori-
schen Kraft, welche in jedem einzelnen Umgang der aus seinen Zweigen ge-
bildet werden kann, erregt wird, ausdrücken, die Gleichung (11) für jeden
solchen Umgang gilt, und durch sie die in ihm inducirte elektromotorische
Kraft bestimmt wird.
Behufs der Beurtheilung der Induction durch beliebig verzweigte In-
ducenten, werde ich zuerst wieder ein einfaches hieher gehöriges Beispiel
behandeln. Fig. 6 stelle den inducirenden Strom dar, er besteht aus den
F2
44 NEUMANN über ein allgemeines Princip
drei Zweigen «, ß@, y, von denen, während « und y ruhen, ß aus der Lage
ß, in die Lage £, fortgeführt wird, wodurch in einem in der Nähe befindli-
chen Leiterumgang s die elektromotorische Kraft F inducirt wird. Diesen
verzweigten Strom sehe ich als aus zwei einfachen Strömen zusammengesetzt
an, von denen der eine seine Bahn in dem aus « und @ gebildeten Umgang
hat, der andere in dem aus « und y gebildeten. Die Stromstärke in dem er-
stern Umgang werde ich durch j; in dem andern durch j, bezeichnen. Die
Anfangs-und Endwerthe dieser Gröfsen sollen Jar; und Ja, )y, sein. Ebenso
sollen «, 8, y in ihren Anfangs- und Endzuständen bezeichnet werden. Das
Integral- 53 ——-
zen Leiterumgang s und beschränkt in Bezug auf Dr respektive auf die Bahn-
stücke «, ß, y will ich durch P («.s), P(®.s), P(y. s) bezeichnen. Das Poten-
tial des ganzen inducirenden Stroms, den ich durch s bezeichne, in Bezug auf
die Strom-Einheit in s soll Q(s.s) sein, so dafs
(13) 06.)=j, $Pa.s + PB.st + 7j,{P(e.s) + P(y.s)}.
Die durch die Verschiebung der Strom - Elemente in s inducirte elek-
tromotorische Kraft F’ ist die Summe derjenigen, welche von jedem der ein-
cos (Dr. Ds), ausgedehnt in Bezug auf Ds auf den gan-
fachen Umgänge, in welche der Inducent zerlegt ist, erregt wird. Also hat
man mit Rücksicht auf das in (11) in Beziehung auf einfache Umgänge erhal-
tene Resultat:
e$j,,(Pa,.s) + P(®,.s)) — js,(P @,.s) + P(®,.s))}
F=
(14) +:1j,,P@,.s) + PR9,3)) — 7], P@.s) + P&.9)}
worin in dem vorliegenden Falle wo der aus « und y gebildete Umgang un-
verändert bleibt
P(a,.s) + P%,.s) =P(«e,.s) + P(ß,.s).
Statt (14) kann man mit Rücksicht auf (13) schreiten
(15) F= :$0cs,.5) — 06.9}
wodurch der Satz, welcher nachgewiesen werden sollte, erreicht ist.
Jede andere Zerlegung des gegebenen Stromes z. B. in die zwei Um-
gänge, welche durch aß und yß gebildet werden, führt zu demselben Re-
sultat. Ich werde, obwohl gar keine Schwierigkeit dabei ist, die Betrachtung
für diese Zerlegung noch durchführen. Ich werde die Stromstärke in dem
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Siröme. 45
Umgang aß jetzt durch j, und in dem Umgang 8y durch j, bezeichnen. Die
Gröfse j, ist dieselbe wie vorher; dies ergiebt sich daraus, dafs in jedem
Zweige, also auch in y dieselbe Stromstärke vorhanden sein mufs, auf wel-
che Art die Zerlegung auch vorgenommen wird; aus demselben Grunde ist
auch j,, die jetzige Stromstärke in «@ gleich j, +7, , welches nach der ersten
Art der Zerlegung die Stromstärke in diesem Zweige war. Die Summe der
von den beiden einfachen Strömen j, und j, inducirten elektromotorischen
Kraft ist
F= e$j.,(Pca,.s) + P(ß,.9) — je, (P@,.s) + P(&,.9))} 6
+ :{y,(P@&..9) — P(®,.9) - u, P&-9) — P(£,.))}. )
Es ist in dem Gliede, welches sich auf den Strom j, bezieht, dem
P(@.s) das negative Vorzeichen gegeben, weil die Richtung, nach welcher
das durch diese Gröfse bezeichnete Integral zu nehmen ist, entgegengesetzt
ist derjenigen, nach welcher dasselbe Integral in dem Gliede genommen ist,
welches sich auf den Strom j, bezieht.
Der vorstehende Ausdruck reducirt sich, wie man sogleich sieht, auf
F=2{06..) — 06.9}
er verwandelt sich übrigens in den Ausdruck (14), wenn man die Relationen
Te» = Jen + In» Je, = JB, + Jv, berücksichtigt.
Man übersieht leicht, dafs wenn wir bei dem in Fig. 6. dargestellten
Induktionsfall bleiben, aber während der Fortführung des Bahnstücks £, dem
aus «, y gebildeten Umgange eine beliebige Formveränderung erfahren lassen,
an der Gleichung für F (15) dadurch nichts verändert wird, dafs aber, weun
der inducirte Leiterumgang nicht ruht, vielmehr seine Elemente eine belie-
bige Verschiebung erfahren, die Gleichung (15) sich verwandelt in
F= :{06,.) — 06. s)}- (16)
Nach dieser Diskussion eines Beispiels eines verzweigten Inducenten
variabeler Intensität, wird es leicht sein die Betrachtung allgewein anzustel-
len. Es sei ein beliebig verzweigter Strom gegeben, dessen Elemente belie-
big verschoben werden, diese Verschiebung und die dadurch hervorgebrachte
Intensitäts-Veränderung inducirt in einem in der Nähe befindlichen einfachen
Leiterumgang, dessen Elemente gleichfalls eine beliebige gleichzeitige Ver-
schiebung erfahren, einen Strom, es soll die Summe der inducirten elektro-
46 NEUMANN über ein allgemeines Princip
motorischen Kraft bestimmt werden. Es werde der inducirende Strom in
die einfachen Ströme zerlegt, aus deren Uebereinander - Lagerung er entstan-
den gedacht werden kann, ihre Umgänge seien «a, ß, .. v ..., und ihre Strom-
stärken j,, ja --J, --- Die Anfangs- und Endzustände sollen wieder durch
beigefügte Strichelchen bezeichnet werden. Den ganzen inducirenden Strom
nenne ich s und in seinem Anfangszustand und Endzustand: s, und s,. Die
entsprechende Bedeutung haben s, s, s, für den indueirten Leiterumgang.
Das Potential von s in Bezug s, diesen Umgang von der Strom-Einheit durch-
strömt gedacht, ist Q(s.s), so dafs
(17) 06.)=j.PAe.s) + j;P(®ß.s)+..=6j,P#.s)
wo das Summenzeichen © auf alle einfachen Umgänge, in welche der Indu-
cent zerlegt ist, sich bezieht.
Die von dem Umgange v indueirte elektromotorische Kraft ist nach (12)
€ $j,P@, . s,,) DR J»,P.@, 2 s,)}
Die von dem ganzen Inducenten erregte Kraft F ist die Summe der von sei-
nen einfachen Umgängen inducirten elektromotorischen Kräfte, also
(15) F=eE@.$7,,P(w.s)— j.,B0,.s)%
oder nach (17)
(19) F= e$0(s,.s,) — 0(s,.5)}.
Durch diese Gleichung ist der Satz, welcher im Eingange dieser Abhandlung
als ein neues Princip der mathematischen Theorie der Induktion aufgestellt
ist, in seiner ganzen Allgemeinheit bewiesen.
Ich will hier nur noch einem Bedenken begegnen, welches bei der
Herleitung, die ich eben für diese Gleichung gegeben habe, entstehen könnte.
Dies Bedenken bezieht sich auf den Fall, wo die Anzahl der einfachen Strom-
Umgänge, in welche der Inducent zu zerlegen ist, vor und nach der Verrük-
kung seiner Elemente verschieden ist. Die Diskussion eines einzelnen sol-
chen Falls wird hinreichen zu zeigen, dafs dieser Umstand, wenn er eintritt,
ohne Kinflufs auf die Gleichung (19) ist. Unter Anzahl von Umgängen, in
welche der Strom zu zerlegen ist, ist die kleinste, durch welche dies gesche-
hen kann, verstanden; dies ist eine durch die Verzweigung des Stromsystems
vollkommen bestimmte, und gleich der Anzahl von Wegen, welche das
der mathematischen Theorie indueirter elektrischer Ströme. 47
Stromsystem gestattet, um von einem Punkte desselben aus zu ihm zurück-
zukehren, ohne einen Theil des Weges doppelt zu gehn. Anschaulicher
wird die kleinste Anzahl von Strom-Umgängen, in welche ein verzweigter
Strom zerlegt werden kann, wenn man sich die Strombahn mit ihren Ver-
zweigungen in eine Ebene, oder eine andere Fläche so gelegt denken kann,
dafs die Zweige sich in keinen andern Punkten als in den Stromtheilungs-
stellen schneiden. Dadurch wird in dieser Fläche ein Stück begrenzt, das
Stromgebiet, innerhalb dessen alle Stromzweige liegen, und dasselbe in
Stromfelder theilen. Die Anzahl dieser Stromfelder ist dann das Mini-
mum der Anzahl von einfachen Umgängen in welche das Stromsystem zerlegt
werden kann. Jeder dieser Strom-Umgänge kann wieder auf verschiedene
Weise zerlegt werden z. B. kann jeder als ein Aggregat von Strömen in der-
selben Bahn angesehen werden. Nach dieser allgemeinen Bemerkung wende
ich mich zu dem speciellen Fall.
Es sei Fig. 7. der indueirende Strom dargestellt, er besteht aus dem
Stamm aßy und den Zweigen @dey und Buy. Die Induktion wird durch
die Fortführung des Bahnstücks By in die Lage By, erregt. Vor der Fort-
führung des Bahnstücks besteht das Stromgebiet aus drei Feldern, nach der
Fortführung aus vier, vor der Fortführung mufs der Strom also wenigstens
in drei, nach derselben in vier einfache Umgänge getheilt werden. Es hin-
dert aber Nichts den Inducenten auch schon vor der Fortführung des Stücks
Ay in vier Stromumgänge zu zerlegen, und diese so zu wählen, dafs sie den-
jenigen nach der Fortführung entsprechen. Ich zerlege nach der Fortführung
in die Umgänge «aß,y,a, adxy,a, ade« und aua, nenne diese respektive ß, x,
ö und a, und die Stromstärken in ihnen j,, j,, etc. Vor der Verrückung
fallen die beiden Umgänge ß und x zusammen, und bilden den einen Umgang
a@y, den ich « nennen will, in welchem also ein Strom von der Intensität
Ja + J. =). flielst. Die Anwendung der Formel (15) auf den vorliegenden
Fall giebt
Be 7 2178, PX.) 7, B (x, -3,) 493, P48,.8,) Tyan P(u,..s,)%
= $j3,P (8, .5,) + J», P(#,. 5) + 75, P (8,.5,) + J», P (u, .s,)$
worin man, da P(ß,.s,) = P@es) = Blazs)rund joy, je ist, statt
je» P (B,-5)) + j»,P (x,.s,) setzen kann J«, P(a,.s,). Hieraus ergiebt sich, dafs
für die Anwendung die vermittelnde Betrachtung, nach welcher j, vor der
48 Neumann über ein allgemeines Princip
Verrückung des Bahnstücks in j, und j, zerlegt wurde, unnöthig ist, welches
auch schon daraus erhellt, dafs der vorstehende Ausdruck für F von dem in
(19) nicht verschieden ist.
g.5.
W. Weber hat in seiner Abhandlung: elektrodynamische Maafs-
bestimmungen u.s.w. den Weg gebahnt, welcher über die Kluft in unse-
rer Kenntnifs der elektrostatischen und elektrodynamischen Wirkung der
Elektrieität führen wird. Er zeigt wie die Ampere’schen Gesetze für die
Wirkung zweier Strom -Elemente aus der Wirkung der positiven und nega-
tiven Elektrieität des einen Elements auf die beiden Elektrieitäten des andern
abgeleitet werden können. Diese Analyse der Ampere’schen Gesetze führte
zu dem Grundgesetz für die Wirkung zweier elektrischen Mas-
sen, nach welchen diese nicht allein von ihrer relativen Entfernung, sondern
auch relativen Geschwindigkeit und deren Veränderung abhängig ist. Dieses
Grundgesetz erklärt zugleich, wie Weber gezeigt hat, die Induktions-Er-
scheinungen und giebt ihre Gesetze. Der Gegenstand dieses $ ist nachzu-
weisen, wie weit die im Vorhergehenden erhaltenen Resultate mit den aus
Weber’s Grundgesetz der elektrischen Wirkuns abgeleiteten Induktionsge-
setzen übereinstimmen.
Bezeichnet man mit n, und e, zwei elektrische Massen, jede in einem
Punkt concentrirt gedacht durch r ihre Entfernung zur Zeit /, so hat die
Wirkung von n, auf e, nach Weber’s Grundgesetz die Richtung von r und
ihre Gröfse ist ausgedrückt durch
A) a ag Dr >):
worin f und a Zu en sind, “- die relative Geschindigkeit der Mas-
sen 9, und & und © 9 das ee dieser Geschwindigkeit. Diese Wir-
kung ist BT wenn 7, und e, gleiche Vorzeichen besitzen, und anzie-
hend bei entgegengesetzten Vorzeichen.
Um hieraus die Wirkung, welche zwei Strom-Elemente auf einander
ausüben, abzuleiten, denkt man sich jedes von gleicher Menge positiver und
negativer Elektrieität in entgegengesetzter Richtung durchströmt, und sum-
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 49
mirt die vier Wirkungen, welche die zwei Elektricitäten des einen Elements
auf die zwei des andern ausüben. Ich nenne Dr und Ds die Strom -Ele-
mente und bezeichne durch #7Ds und + eDs ihre Elektricitätsmengen, wo
+ und te die Produkte aus den Dichtigkeiten in die Querschnitte der
Strom -Bahn sind. Die Geschwindigkeiten mit welchen +4Ds und — yDe
in der Strombahn o sich bewegen sind + — und |, und ebenso sind
die Geschwindigkeiten mit welcher #eDs sich in der Strombahn s bewegen
+7. Die Stromstärken sind mit den durch jeden Querschnitt der Strom-
bahn durchströmenden Elektrieitätsmengen proportional, so dafs wenn öi und
j die Stromstärken in Dr und Ds bezeichnen, und # und u die Stromge-
schwindigkeiten bis auf einen konstanten Faktor, den man = 1 setzen kann,
en jzet = (2)
ist.
Die Entfernung der Strom-Elemente Ds und Ds werde ich durch
(n.e) bezeichnen, wenn sie sich auf die in ihnen fliefsenden + und + e be-
ziehn soll, durch (— n.e) wenn sie sich auf —n und + e beziehn soll u. s. w.
Diese Unterscheidungen von r in (&n.#e) ist erforderlich, weil diese Grös-
sen, obwohl alle vier gleich z sind, doch ungleiche Differentialquotienten in
Bezug auf die Zeit besitzen. Sie soll auch nur für die Bezeichnung dieser
Differentialquotienten angewandt werden.
Die Wirkung der beiden Strom-Elemente Dr und Ds ist die Summe
von folgenden vier Ausdrücken
fine Pepe ze an Ze,
ann =. hf 3 (( d(e. =) ye e Ace) N
TEE ng
Aue ef ld N
Die Summe der beiden ersten Ausdrücke giebt die Wirkung des Elements
Dr d.i. seiner beiden Elektricitäten auf die positive Elektrieität des Ele-
ments Ds, die Summe der beiden andern Ausdrücke die Wirkung von Dr
Phys. Kl. 1847. ®
mn
.
[80]
50 Neumann über ein allgemeines Princip
auf die negative Elektrieität in Ds. Mit der Differenz dieser beiden Sum-
men ist die Kraft proportional, welche die beiden Elektricitäten in dem Ele-
mente Ds in der Richtung von r zu trennen strebt. Multiplieirt man diese
Differenz mit dem Cosinus des Winkels, unter welchem r gegen das Element
Ds geneigt ist, 'so erhält man den Theil dieser Kraft, welcher die Trennung
der beiden Elektricitäten in Ds in der Richtung von Ds zu bewirken strebt
d.i. die elektromotorische Kraft, welche das Element Ds auf das
Element Ds ausübt.
Die Summe der beiden ersten Ausdrücke in (3) ist, wenn der Kürze
wegen statt af gesetzt wird g:
„PrDs len d(e.r) ED Yin ee Di u a? (8: ") _ le. a}
und die der beiden letzten:
ne en (> — .E de 2 a ei —n) _ eu „) —
Die Summe beider vorstehenden Ausdrücke giebt die elektrodynamische
Wirkung von Dr auf Ds, und führt in ihrer weitern Entwickelung zu den
Ampereschen Gesetzen. Die Differenz derselben mit einer Konstanten A
multiplieirt und mit dem Cosinus der Neigung von r gegen Ds d. i. mit Z,
giebt die elektromotorische Kraft, welche Dr auf Ds ausübt. Ich bezeichne
diese mit E, Dr Ds, und setze gh=a?, so wird:
IN 2) + > I (er =») (=: .—1)
= —_——
(4 ) 167° *) a1“ (er) ‘6 d?(—e.r) d?(e.—r) Be ds
dt? dı* dt? dt?
Um diese Formel sogleich auf den allgemeinsten Induktionsfall anzuwenden,
nenne ich » und o die Wege auf welchen die Elemente der Strombahnen
Ds und Ds fortgeführt werden, dw und do bezeichnen die Elemente dieser
Wege, so wie = und — die Fortführungs- Geschwindigkeiten.
Die Entfernung r der Electrieitäten in den beiden Bahn-Elementen Dr
und Ds ist eine Funktion der vier von einander unahhängigen Gröfsen r, s,
w, o, die ihrerseits Funktionen der Zeit Z sind, so dafs
dr dr ds dr ds dr dw dr do
du dr da ds dt da dt do dt
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 51
und
a ds (d?r Ga d?r ds d’r dw d?r do
Data zart dods dt
d?r a ds d’r dw d?r do
+ dsds dt + dt duds dt r do ds dt
d’r BE 2 d’r ds d’r dw + d’r do
+ Ara? deu dw? dt dodu dt
+ do d’r ds d’r ds d’r dw et do
dt \drdo dt + dsdo dt dudo dt do? dt
dr d’r dr d?s dr d?w dr d?o
TI ge ds dt? du dt do dt?
Man erhält hieraus die ersten und zweiten DT PER RENEn von (e.r)
wenn man beide omeingeschwentdigkeiten und — undihre Differentialquo-
d’s ds
tienten “und ® BE - positiv nimmt, diejenigen von e. 7) ve dem —, und
d?s
€ das negative Vorzeichen gegeben wird, während © — und 7 , positiv bleibt.
Allgemein erhält man diese beiden Ditterentilquoticuen, von (de. +n) wenn
dr ds d?s ds ds
man in ve Ausdrücken von “ und 7 = sta N ne
2 nn op, u dt ’ at?’ ar?’ dr?
spektive setzt 4 — ee ee und & + Zr. ‚Dies giebt
(2er 2: (2 a goyz (===9)
dr do dr du dr ds
ET Da ana ara
und
d?(e.r) d?’(—e.r) d?(e.—+) d’(—e.—r)
di? dt? dı? dt?
5 d?r do d?r du) dr dr d?s
aaa arte 2 ds dı?
Diese Werthe in (4) substituirt geben:
(r d?r ı dr dr dr dw
E aten ds ds du 2 ds d ds di ,
me r? lat dr _ , dr dr\ dr do 0)
+(r — — +7 27)7 2
ds do ds doJ ds dt
Kr 1 a?en dr dr d’s
2 r ds dsd:
d ;
oder, wenn nach (2) 1 =i gesetzt wird und
52 . Neumann über ein allgemeines Princip
?r i
(6) A:
dt? dt
und zugleich statt a’e der Buchstabe e eingeführt wird,
(7 d’r ı dr =) du
ds du 2 do du “| dr
7a E = ei
de 2 +(r d?r ı dr & “| ds
dsdo *°dsr ad) ad
in Ar ler dı man da
2 r dtdod”
Man ersieht aus diesem Ausdruck für E,, dafs die elektromotorische Kraft,
welche das Strom-Element Dr auf Ds ausübt, unabhängig ist von der Strom-
geschwindigkeit in Ds oder von der Stromstärke dieses Elements, defshalb
denken wir uns diese = o und nennen Ds das Leiter-Element, im Gegen-
satz von Dr, welches das Strom-Element genannt wird.
Die von dem Stromstück r in dem Leiterstück s in dem Zeitraum von
t, bis £, indueirte elektromotorische Kraft, welche ich mit F bezeichne, er-
hält man durch die Integration von E, Ds Dsot nach De, Ds und 91 zwischen
den Grenzen der Stücke o, s und des Zeitintervalls 7,-z,. Es ist also-
(7) — 3S/B,DrDs dt.
Der einfachste Fall ist ersichtlich der, wo weder die Strom- noch die Leiter-
Elemente eine Orts-Veränderung erleiden, also = —=0 und = = ep ist,, die
Induktion demnach allein durch eine Intensitäts-Veränderung des Stroms in
5 hervorgebracht wird. In diesem Falle wird
== r ds ds d
(8) F=4:2S/[ 220 DrDsar
Es sei o ein einfach geschlossener Strom-Umgang, so dafs ö innerhalb
desselben konstant, allein von z abhängt; die nach 04 ausgeführte Integration
giebt dann, wenn ;, und i, die Stromstärken von o zur Zeit Z, und Z, bezeich-
nen
(9) F=+e(,—i)2S1@@ DrDs,
wofür man nach der Auseinandersetzung, welche in $ 1 bei Ableitung der
Gleichung (13) aus (12) gemacht ist, setzen kann
der mathemalischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 53
F=—+e(,—i) 38 -—cos(Dr.Ds) Dr Ds. (10)
Ist der Inducent ein verzweigter Strom, so zerlegen wir ihn in einfache
Umgänge; einer dieser Umgänge sei v, der in ihm fliefsende Strom habe die
Stärke z,, und zur Zeit Z, und Z, sei diese z,, und ö,,. Die durch v in s indu-
cirte elektromotorische Kraft ist:
F=--eW- i,)2S—cos(Dv..Ds) DvDs
und die durch den ganzen Iuducenten inducirte:
F=—-+:6. (,—i,)3S—cos (Dv. Ds) Dv Ds (11)
wo die durch ©. bezeichnete Summe über alle einfachen Umgänge, welche
den Inducenten zusammensetzen, auszudehnen ist.
Da s, sofern ein inducirter Strom zu Stande kommen soll, ein ge-
schlossener Umgang ist, irgend einer derjenigen, welche, wenn der indueirte
Leiter verzweigt ist, aus seinen Zweigen gebildet werden könneu, so kann
man statt (10) schreiben
F=e(i,—i)P(s.s) (12)
und statt (11)
F=:&.(i,,—i,) P(.s) = 2$Q(,.s) — 0&..)} (13)
wo P(s.s) das Potential von s in Bezug auf s bezeichnet, beide Umgänge von
der Strom-Einheit durchströmt gedacht, und Q(s,.s) und Q(s,.s) das Po-
tential des Inducenten im Anfangs- und Endzustand in Bezug auf den von
der Strom-Einheit durchströmten Leiterumgang s.
Betrachten wir jetzt den Fall, wo die Induktion allein durch Ortsver-
änderung der Leiter-Elemente Ds erregt wird, die unter dem Einflufs eines
a s di
ruhenden und konstanten Stroms stattfindet. Da in diesem Falle — —=0 und
du
v2
die nach do eingeführt wird:
a DsDs d’r dr dr| ar:
F = >; sfü ®. a . 44
: co Tr 1 ds do 2 ds dof| ds “ .
Durch das entsprechende Verfahren, mittelst dessen in $ 1 aus der
Gleichung (6) die Gleichung (10) abgeleitet wurde, erhält man hieraus, wenn
=0, so erhält man aus (7a) und (75), wenn statt der Integration nach df
54 Neumann über ein allgemeines Princip
die Grenzen der Integration nach do, Ds und Dr respektive mit o,, o,, s,, $,,
und o,, o,, bezeichnet werden
= zeis/ |- = az
Oy
(15) + +e28| 27 ]DsDr
dr,d.
0,
1 1 dr dr
Zus en
eis | 2]P° 20
wo die Klammern [ ] dieselbe Bedeutung haben als in (7) $1.
Da der ruhende Inducent keine Gleitstellen besitzt, so ist die Inte-
gration nach Der über den ganzen Strom - Umgang auszudehnen, sei es, dafs
dieser für sich den Inducenten bildet, oder, dafs er einer der ihn zusammen-
setzenden Strom-Umgänge ist. Es fällt also hier immer c, mit o, zusammen,
und daher
F= zei38[- ä = ]DrDs
ds d
(16) 0,
Sur
Aanadn,
1.2.9
— Z:iN = Der elek
e Ef‘ r ds N 0
77
Erinnert man sich, dafs die inducirte elektromotorische Kraft F unter der
Voraussetzung, dafs z= 1 ist, durch E in $ 1 bezeichnet wurde, so sieht man
dafs die vorsichöidl Gleichung mit der in (11) $1 völlig übereinstimmt, und
sie also auch identisch mit der in (27) daselbst ist d.i. mit
(17) F=eSQ(s.s,) — Q(s.5)}.
Gehen wir jetzt zur Betrachtung eines dritten Falls, in welchem der
indueirte Leiter ruht, und die Induktion durch die sierung. der Ele-
do
mente eines konstanten Stroms erregt wird. Da hier 7m und =, so
erhält man aus (7a) und (75), wenn, wie ich zunächst annehme, der häuser
unverzweigt ist,
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme 95
ds dw 2 ds duf| ds
u ei28füu DsDelr ul Seen (18)
Dies dreifache Integral läfst sich wie das entsprechende in (14) auf ein Ag-
gregat von Doppel-Integralen zurückführen, welches man aus (15) erhält,
wenn darin statt 0, 0, o, gesetzt wird w, w, w,; aus diesem Aggregat ver-
r ds dw
schwindet das Glied — zei Ef [- N =, Dedu, weil die Integration nach
s)
Ds in (18) auf den geschlossenen Umgang s auszudehnen ist, da in ihm als
einem ruhenden Umgang keine Gleitstellen vorhanden sind. Demnach er-
giebt sich aus (18)
W,
F= Hei! == DsDs
y r ds d.
w,
(19)
n +1as/[-52]P sow.
Dieser Ausdruck verwandelt sich, wenn in « De Gleitstellen vorhanden
sind, weil dann c, mit r, zusammenfällt, in
mei ı=s[- = “]DzDs (20)
ds ds
W,
was gleichbedeutend ist mit
F=e{Q(s,.5) — Q(s,.s)}. (21)
Zu demselben Resultat gelangt man, wenn der Inducent auf beliebige Weise
verzweigt ist, unter der Voraussetzung, dafs er keine Intensitätsveränderung
erleidet und keine Gleitstellen besitzt. Man hat ihn in diesem Falle in ein-
fache Umgänge zu zerlegen, für jeden derselben gilt die Gleichung (20) und
die Summe dieser Gleichungen giebt den Ausdruck (21).
Die Übereinstimmung der Formeln (13), (17) und (21) mit denen in
den früheren $$ ist vollständig. Anders verhält es sich mit der Gleichung
(19), welche die von einem einfachen Strom - Umgang inducirte elektromo-
torischen Kraft unter der Annahme ausdrückt, dafs derselbe aus einem be-
wegten Leiterstück mit den Grenzen co, und r, und einem ruhenden besteht.
Die dieser Gleichung entsprechende, wie sie aus meinem Induktions - Gesetz
56 Neumann über ein allgemeines Princip
sich ergiebt, wird aus der Gleichuug (5) in $2 abgeleitet, indem diese auf
Doppel -Integrale zurückgeführt wird. Man erhält aus derselben:
Bu 2s[: # #]p- oDs
u,
+ /Lz= De
Die Vergleichung dieses Ausdrucks für E mit dem von F=iFE in (19) zeigt
den wesentlichen Unterschied, dafs die beiden letzten Doppel-Integrale das
(22)
entgegengesetzte Vorzeichen haben. Dieser Unterschied tritt am reinsten
hervor, wenn man die beiden Formeln auf solche Induktionsfälle anwendet,
in welchen die von den Strom-Elementen durchlaufene Wege geschlossene
Bahnen sind, d.h. wo jedes Strom-Element zur Zeit Z, sich an demselben
Ort befindet, von welchem es zur Zeit Z, ausging; dann fallen w, und w, zu-
sammen und man hat nach (19)
(3) F=zS/],z jo
dagegen nach (22)
(24) H=iE = tusfE 5 2]pei=
Es ist also die Summe der elektromotorischen Kraft, welche während
des Umlaufs der Elemente des Inducenten erregt wird, nach beiden Formeln
dieselbe, die Richtung des inducirten Stroms aber die entgegengesetzte. Die
Beobachtung entscheidet für die Formel (24). Es mufs also untersucht wer-
den, worin bei Ableitung der Formel (23) aus Weber’s Grundgesetz gefehlt
worden ist. Der Umstand, dafs der in Rede stehende Widerspruch nur bei
Inducenten mit Gleitstellen eintritt, führt die Betrachtung sogleich auf diese.
Hier treten neue Elemente in die Strombahn ein, oder heraus, in welchen
also die Stromstärke sich innerhalb einer sehr kurzen Zeit von o bis z oder
von i bis o verändert, und die durch diese ihre Intensitäts-Veränderung einen
indueirenden Effekt ausüben, welcher in meinen Formeln schon enthalten
der mathemalischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 57
ist, der aber bei der Anwendung des Weber’schen Grundgesetzes noch be-
rücksichtigt werden mufs.
Um den Erfolg dieser Berücksichtigung in einem einfachen Beispiel
kennen zu lernen, werde ich die elektromotorische Kraft bestimmen, welche
hiernach zu dem durch (19) gegebenen Werth von Fin dem in Fig. 8. dar-
gestellten Induktionsfall noch hinzuzufügen ist. Hier stellt «@y den induci-
renden Strom vor, die Induktion wird durch Fortführung des Bahnstücks
Qy aus der Anfangsposition By, in die Endposition B,y, erregt, wobei die
Intensität des Stroms z unverändert bleiben soll. Die End-Elemente dieses
bewegten Stücks bei ® und y sollen dieselben bleiben, sie gleiten auf den
ruhenden Unterlagen ß,ß, und y,y, und bringen deren Elemente nach und
nach in die Strombahn. In jedem dieser Elemente wird in dem Augenblick
seines Eintritts in diese Bahn ein Strom erregt, der in einer äufserst kurzen
Zeit die Intensität 2 erreicht. Ich werde die Elemente von ß,ß8, durch Iß
und die von y,y, durch dy bezeichnen. Die elektromotorische Kraft, welche
durch die Srom-Veränderung des Elements 08 von o bis iin dem Leiter s
indueirt wird, ist oBfs E,02.Ds, worin der Werth von E, aus (7a) zu setzen
SEE rn. le d d 3 Laub:
ist mit Rücksicht darauf, dafs — =0 und z =oist. Dies giebt
0BfSE, Ds = +0 fS- EZ UDs
rasaß a
oder, indem die Integration nach di ausgeführt wird
= 4e00S- Ds.
Vertauscht man hierin 8 mit y, so erhält man den Ausdruck für die elektro-
motorische Kraft, welche in s durch die Strom-Veränderung des Elements dy
von o bis i erregt wird. Von diesen Ausdrücken sind die Summen nach 98
zwischen ®, und ß, und nach dy zwischen y, und y, zu nehmen, um die durch
die Unterlagen 8,ß, und y,y, inducirte elektromotorische Kraft zu erhalten;
hiebei ist angenommen, dafs der inducirende Strom in dem bewegten Bahn-
stück von ß nach y fliefse, und er also die erste Unterlage nach der Richtung
von ß, nach ß,, die zweite in der Richtung von y, nach y, durchströme. Diese
Summen müssen zu dem in (19) für F’ gegebenen Werthe noch hinzuaddirt
werden. Dies giebt
Phys. Kl. 4847. H
58 NEumAnn über ein allgemeines Princip
De +ezS|- = a «Ds
ds ds
Sy
(25) ++es/f = = [Du
5,
Yın
1 dr dr 1.dr ar
Ar if) ui 0@Ds — 4ei Se PEN —0y.Ds
Yı
und hieraus erhält man
Wr
1 dr dr
w,
da die übrigen Glieder Sen zerstören. Denn indem man das Zeichen [] auf-
löst, ist s/[-z 2] dw
=5fl* a =) D> Ss =) Dr 0
und hierin ist dw in dem ersten a: das Element PR Weges, welchen das
Ende o,, durchläuft, in dem zweiten Gliede ist dw das Element des Weges,
auf welchem das untere Ende o, des bewegten Bahnstücks Ey bewegt wird.
Diese Wege-Elemente sind aber respektive identisch mit dy und 0$, so dafs
Ty
man auch schreiben kann s/|- ei =] Dsow
ds d
ao,
ES Dedys she ER
r ds dy r ds dß
Setzt man diesen Werth in (25), so ergiebt sich die Gleichung (26). Wen-
den wir diese Gleichung auf den oben behandelten Fall an, in welchem die
Elemente des bewegten Bahnstücks geschlossene Bahnen durchlaufen, so fin-
den wir für die elektromotorische Kraft, welche während eines ganzen Um-
laufs des Bahnstücks in s erregt wird, statt des Ausdrucks in (23) diesen:
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 59
da jetzt für alle Elemente Dr gleichzeitig w, mit w, zusammenfallen.
Zwischen den dreierlei Ausdrücken für die in einem bestimmten Falle
inducirte elektromotorische Kraft in (23), (24) und (27) mufste durch die
Erfahrung entschieden werden. Ich sagte bereits, dafs diese zu Gunsten
meiner Formel in (24) entschieden habe. Ich werde, obgleich ich die Be-
schreibung von Experimenten aus dieser Abhandlung ausgeschlossen habe,
in diesem Falle, wegen seiner Wichtigkeit, die Vorrichtung, deren ich mich
zur Prüfung der in Rede stehenden Formeln bedient habe, in kurzen Umris-
sen angeben.
In Fig. 9 ist ein Theil des Schliefsungsdraths einer galvanischen Kette
« ringförmig Qyd gebogen; das Ende & dieses Ringes reicht sehr nahe an
seinen Anfang £, ohne mit ihm in leitender Verbindung zu stehen. Eine im
Mittelpunkt des Ringes senkrecht auf seiner Ebene stehende rotirende Axe
en führt das bewegliche Bahnstück ey mit sich im Kreise herum und zwar
so, dafs sein Ende in y auf dem Ringe schleifend fortgeführt wird. Der in-
ducirende Strom tritt, von « kommend, bei ® in den Ring und bei y aus ihm
heraus in das bewegliche Bahnstück, aus diesem in die leitende Axe e7, bei
9 kehrt er durch die ruhende Drathleitung nZ nach @ zurück. Diese Rich-
tung des Stroms ist durch die Pfeile in der Figur angedeutet. Concentrisch
um den Ring liegt ein kreisförmiger Leiter cd, in welchem durch die Be-
wegung des Bahnstücks ey ein Strom indueirt wird. Wenn das bewegliche
Bahnstück von 8 über y bis d fortgeführt ist, kann die Bahn desselben, we-
gen der geringen Entfernung von d bis £, als geschlossen angesehn werden,
und defshalb können die in (23), (24), (27) gegebenen Formeln zur Bestim-
mung der während eines Umlaufs entwickelten elektromotorischen Kraft an-
gewandt werden. In Beziehung auf die Formeln in (23) und (24) mufs man
bemerken, dafs das mit «, bezeichnete Ende des beweglichen Bahnstücks ye
das Ende e, welches in der rotirenden Axe en liegt, ist, in Beziehung auf wel-
ches also d(u=oist. Demnach verwandelt sich (23) in
Ale 1 dr dr
en eisf = Dsdu (28)
und meine Formel in (24) in
ARE: dr dr c
F= ei — uam Ps dw (29)
60 NEUMANN über ein allgemeines Princip
während die Formel (27) F=0 giebt. In den vorstehenden Integralen ist
dw das Element des Ringes @yd, und die Integration nach diesem Element
ist auf den ganzen Ring auszudehnen. Aus der Formel (29), welche für
F das mit e multiplieirte Potential des vom Strome ö durchströmten Ringes
ß@yd in Bezug auf den von der Strom-Einheit durchströmten Leiter giebt,
folgt eine negative Richtung des indueirten Stroms dcd, dessen positive Rich-
tung in demselben Sinne wie bei dem inducirenden Strome, nemlich von 6
nach c gerechnet, dagegen (28) zwar dieselbe elektromotorische Kraft, aber
die entgegengesetzte Stromrichtung giebt. Um Richtung und Gröfse des in-
dueirten Stroms zu beobachten, war folgende Einrichtung getroffen. Der
inducirte kreisförmige Leiter war bei 5 unterbrochen, und hier mit zwei Fort-
sätzen e und f versehen, von denen einer unmittelbar mit dem einem Ende
des Multiplikatordraths in Verbindung stand, der andere aber zu einer Me-
tallfeder ging, welche in schleifender Berührung mit einer Metall-Hülse stand,
die isolirt auf die rotirende Axe ey gesteckt war. Der inducirte Strom ging
also durch diese Feder in die Hülse, trat aus dieser durch eine zweite gegen
sie drückende Metallfeder wieder heraus, und ging aus dieser zu dem andern
Ende des Multiplikatordraths. Die Hülse hatte einen Ausschnitt, der mit
Holz ausgefüllt war, auf welche die eine Feder in dem Augenblick lag, als
das bewegliche Bahnstück ys bei d den Ring 8yd verliefs, um bei & von
Neuem mit ihm in leitender Verbindung zu treten. In diesem Augenblick
nemlich wird die Schliefsung des Inducenten unterbrochen, und wieder her-
gestellt, es verschwindet sein Strom, und er tritt wieder auf, dadurch wird
aber in dem Leiter keine Induktion erregt, weil er ihr, nach der eben ange-
gebenen Vorrichtung, keine geschlossene leitende Bahn darbietet. Zum
Multiplikator gelangt also nur der durch die Bewegung des Bahnstücks ye
inducirte Strom, und läfst, da er bei fortgesetzter Drehung der Axe ey im-
mer in derselben Richtung fliefst, Richtung und Intensität beobachten. Die
Beobachtung zeigte gegen die Formel (27) einen indueirten Strom, und, was
die Richtung desselben betrifft, gab sie dieselbe, so wie meine Formel in (29)
es fordert. Um zu beweisen, dafs durch diese Formel nicht blofs die Rich-
tung, sondern auch die Stärke des inducirten Stromes richtig ausgedrückt
wird, wurde auf folgende Weise verfahren. Die Feder, welche die leitende
Verbindung in der inducirten Strombahn unterbrach, wurde soviel höher
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 61
gestellt, dafs sie den mit Holz ausgefüllten Ausschnitt der Hülse, durch den
eben die Unterbrechung bewirkt wurde, nicht mehr traf. Den inducirten
Strömen wird jetzt immer eine geschlossene Bahn geboten. Zum Multipli-
kator gelangen, bei fortgesetzter rascher Drehung der Axe en drei Ströme
innerhalb sehr kurzer Zeit, nemlich der durch die Bewegung des Bahnstücks
yeinducirte, dann der durch das Verschwinden des indueirenden Stroms in-
dueirte, in dem Moment wo das bewegliche Bahnstück den Ring bei ö ver-
läfst, und endlich der durch sein Wiederauftreten inducirte, sobald das Stück
den Ring in £ wieder erreicht. Die Kraft, welche von diesen drei Strömen
während der kurzen Dauer eines Umlaufs des Bahnstücks ye auf die Magnet-
nadel des Multiplikators ausgeübt wird, ist mit der Summe ihrer elektromo-
torischen Kräfte proportional; je nachdem das Vorzeichen dieser Summe
positiv oder negativ ist, wird die Nadel auf der einen Seite oder der anderen
des Meridians ihre beinahe feste Stellung nehmen, oder sie wird, wenn jene
Summe = 0 ist, in ihrer Stellung im Meridian verharren.
Den Ausdruck für die durch das Verschwinden des Stroms inducirte
elektromotorische Kraft erhält man aus (9) wenn darin z,—=0 i,=i gesetzt, dies
giebt
1 dr dr
Bein Se D
eye
z Eıs IE „Dr Ss
Dieselbe Gleichung (9) wenn darin i,—i und = 0 gesetzt wird, giebt die
durch das Wiederauftreten des inducirenden Stroms erregte elektromotori-
sche Kraft
In dem ersten Ausdruck ist die Integration nach Dr über die ganze induci-
rende Strombahn, einschliefslich ihres ringförmigen Theils auszudehnen, in
dem zweiten ist dieser ringförmige Theil auszuschliefsen. Daher giebt die
Summe dieser beiden Ausdrücke ein entsprechendes Doppelintegral, in wel-
chem die Integration nach Dr auf die Elemente des Ringes @yd zu beschrän-
ken ist. Setzt man, um dies zn bezeichnen, in dieser Summe statt Dr und
3 respektive dw und S so ist dieselbe
175 1 dr di
— zei sSy-Z.Dsdu. (30)
62 Neumann über ein allgemeines Princip
Addirt man diese elektromotorische Kraft zu derjenigen, welche durch die
Bewegung eines Umlaufes des Bahnstücks ye erregt ist, so geben die For-
meln (23), (24) und (27), als Summe der elektromotorischen Kräfte der drei
aufgeführten Ströme, wenn diese Summe durch , bezeichnet wird, respek-
tive
ISsarrar
VW
! ds d Ds2
a
i dr dr
„= — 4eiS[ = — — Dsow
r ds da
Die Beobachtung zeigt dafs, wenn die Drehung rasch geschieht, die Nadel
im Meridian bleibt, also F,—= 0, wodurch die Richtigkeit meiner Formel in
(24) sowohl in Beziehung auf die Richtung als die Stärke des inducirten
Stroms erwiesen ist, da aus Beobachtnngen anderer Art die Richtigkeit des
Ausdrucks (30) fesigestellt ist.
Webers Grundgesetz der elektrischen Wirkung hat sich in so vielen
und verschiedenartigen Fällen bewährt, dafs dasselbe durch die vorstehenden
Bemerkungen nicht zweifelhaft gemacht werden kann, vielmehr mufs die Art,
wie es auf den vorliegenden Fall zur Anwendung gebracht ist, in Zweifel ge-
zogen werden. Bei weiterer Reflexion über diese Anwendung, erregt der
Gebrauch, welcher von der Gleichung (2) in (6) gemacht worden ist, Ver-
dacht.
Folgende Betrachtung, die aber weniger durch ihre Evidenz, als durch
ihren Erfolg gerechtfertigt wird, führt dahin, den Theil dieser Gleichung rech-
ter Hand zu verdoppeln, wenn sie auf die Elemente in den Gleitstellen ange-
wandtwird. Während des Zeit-Elements 02, in welchem ein Element der Gleit-
stelle in die Bahn des inducirenden Stroms eintritt, erlangt seine Elektrieität
den endlichen Zuwachs an Geschwindigkeit von o bis #. Dieser Zuwachs
mus angesehen werden als wäre er der Elektrieität des Elements stetig er-
theilt, so dafs derselbe 2 nach Verlauf von -.d/ ist, weil nach 0% erst der
nte Theil des Elements der Gleitstelle in die Strombahn eingetreten ist. Die
Elektrieität dieses Elements kann also angesehen werden, als durchliefe sie
während 02 den Weg 4304. Die Stromstärke desselben Elements erfährt
während 0 den endlichen Zuwachs von o bis i. Dieser Zuwachs ist propor-
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 63
tional mit der während 0% durch das Element durchgeströmten Elektrieitäts-
menge, dividirt durch 9%, oder proportional mit dem durch 04 dividirten
Wege, welchen die Elektrieität des Elements während 04 durchlaufen hat.
Diesen Weg fanden wir Z 302, also iti= ns =4n Ei Demnach ist in
der Gleichung (5), so fern sie auf Elemente in den Gleitstellen angewandt
wird, statt der Gleichung (6) zu setzen: — en
Bringt man diese Bemerkung zur Anwendung auf den oben behandel-
ten in Fig. 8 dargestellten Induktions-Fall, so ist in (25) der Theil der elek-
tromotorischen Kraft, welcher von der Intensitäts-Veränderung der Elemente
der Unterlage herrührt, zu verdoppeln. Dies trifft die Glieder dieser Glei-
chung, welche unter den Integralzeichen die partiellen Differentiale von r
nach £ und y haben. Dadurch entsteht aus (25) statt der Gleichung (26)
die folgende
N +eizS|- = © Den
” \ y (31)
+48 Sn Z0eDs— ei Ds
B, Yı
welche, da
B, Yur
ufst tan fl %ordn
yY
= — +:s/ [- & joa
ist, mit meiner Formel in (22) identisch ist, und also als durch die Erfah-
rung bestätigt augesehn werden kann.
Macht man bei der Bildung des allgemeinen Ausdrucks für die indu-
eirte elektromotorische Kraft von der Bemerkung Gebrauch, welche der Glei-
chung (31) zum Grunde liegt, so kömmt dies darauf hinaus, dafs in (7«)
statt des letzten Gliedes, welches den Faktor — enthält, in allen den Fällen,
64 Neumann über ein allgemeines Prineip
wo dasselbe sich auf die Elemente bezieht, welche in den Gleitstellen nach
und nach in die indueirende Strombahn eintreten oder heraustreten, dessen
doppelter Werth gesetzt werden mufs. Geschieht dies, so wird eine voll-
ständige Übereinstimmung zwischen den Iuduktions-Formeln, die sich aus
dem cher Grundgesetz der elektrischen Wirkungen ableiten, und
meinem allgemeinen Induktions-Theorem herbeigeführt. Diese Behauptung
soll noch gerechtfertigt werden.
Betrachten wir den in Fig. 8 vorgestellten Induktions-Fall mit der Er-
weiterung, dafs bei der Eortführung des Bahnstücks @y nach und nach mehr
Elemente dieses Stücks in die Strombahn eintreten, und hierauf, wie ich der
Einfachheit annehme, darin bleiben. Dann ist in (25), wenn das Glied
Wr
ei [7 = =] DsDs alle die Elemente des bewegten Bahnstücks um-
fafst, welche vom Anfange bis zum Ende ihrer Bewegung innerhalb der Strom-
bahn sich befinden, zu diesem Gliede noch in Beziehung auf die Elemente
dieses Stücks @y, welche erst, nachdem sie den Weg w beschrieben haben,
in die Strombahn eintreten, zu addiren die Gröfse:
12777
++ei2S| ar — Pr Ps
ds ds
(0)
und, wegen der Strom-Erregung in ihnen,
te
ds ds
Die Summe dieser beiden Gröfsen ist:
+ui3s(- I DsDs + —ei2 Ss a mn
ds ds
w),,
Die Parenthesen () mit ihren Indices w, und w bezeichnen, dafs die Elemente
Dr, auf welche die eingeschlossene Gröfse sich bezieht, respektive in ihren
Endpositionen sich befinden, oder eben die Gleitstellen erreicht haben. Ad-
dirt man zu dem vorstehenden Ausdruck das zweite Glied in (25), nemlich
der mathematischen Theorie indueirter elektrischer Ströme. 65
4 zeisf” -= er =] Dodu und nennt = und dr die Unterlage der Gleitstelle
und ihr Element, so erhält man
+ei2S(- —)PrDs + +&s/ | Ep
ds r ds dr
[27
Wird hierzu endlich. der doppelte Werth der beiden letzten Glieder in (25),
nemlich
Bu
Ir 08 Ds — iin Ds
= — “sf[-22]per
Wr
a {
und das erste Glied daselbst —ei3 >s[--] Ds Ds in der vorher ange-
w,
gebenen Beschränkung addirt, so erhält man
w)r
Fz zei2S[- 7] DsDs
ds d.
w,
eek al 2
1277
1 dr dr
worin nun in zs|- | Dr Ds alle Elemente Dr begriffen sind, welche
bei der Anfangsposition des Bahnstücks @y und bei seiner Endposition sich
innerhalb der inducirenden Strombahn befinden. Diese Gleichung ist iden-
tisch mit
F=7j$P(e,.s)—£(0,.5)}-
Zu derselben Formel gelangt man, wenn die End-Elemente des be-
wegten Bahnstücks wiederholt in die Strombahn eintreten und heraustreten.
Sie giebt überhaupt den Werth der elektromotorischen Kraft welche durch
Phys. Kl. 1847. I
66 Neumann über ein allgemeines Princip
einen Strom, dessen Bahn aus einem ruhenden und einem bewegten Bahn-
stück besteht, inducirt wird, ist aber, wie leicht ersichtlich, unmittelbar
auf einen Inducenten anwendbar, der aus einer beliebigen Anzahl Bahn-
stücken zusammengesetzt ist, wenn die Unterlagen in den Gleitstellen ruhen.
Durch dieselben indirekten Betrachtungen, welche in $2 und $ 3 angestellt
sind, läfst sich aus der vorstehenden Formel der Werth von F in allen übri-
gen Fällen, nemlich in den Fällen wo die Unterlagen in den Gleitstellen be-
wegt werden, und in denen wo eine gleichzeitige Bewegung der Strom- und
Leiter-Elemente stattfindet, ableiten, und diese führt natürlich zu den dort
erhaltenen Resultaten.
Anmerkung.
Über den Werth des Potentials zweier geschlossenen
elektrischen Ströme in Bezug auf einander.
Das Potential eines Systems von Kräften in Bezug auf einen Punkt
definire ich als diejenige Funktion der Coordinaten dieses Punktes, welche
in ihren negativen nach diesen Coordinaten genommenen partiellen Diffe-
rentialquotienten die mit ihnen parallelen Componenten der Wirkung der
Kräfte auf diesen Punkt darstellt. Diese Componenten sind positiv gerech-
net wenn sie die Richtung der positiven Coordinaten haben. Wenn die
Kräfte als Wirkungen von Massentheilen auf Massentheilen gedacht werden,
wie z.B. die magnetischen und elektrostatischen, so wird angenommen, dafs
diese, je nachdem sie gleichartig oder ungleichartig sind, d.h. mit gleichen
oder entgegengesetzten Vorzeichen behaftet sind, sich abstofsen oder anziehen.
Das Potential eines Systems von Kräften in Bezug auf ein festes Sy-
stem von Punkten ist eine Funktion der sechs Gröfsen, durch welche der
Ort und die Lage dieses festen Systems bestimmt wird. Um diese Funktion
zu definiren nehme ich an, dafs der Ort des festen Systems durch drei recht-
winkliche Coordinaten a, db, c irgend eines zu dem Systeme gehörigen Punk-
tes A bestimmt sei, und seine Lage durch die Richtung einer durch den
Punkt 4 gehenden geraden Linie B welche mit dem System fest verbunden
ist, und durch den Winkel ®, welche eine durch B gelegte mit dem System
fest verbundene Ebene mit einer unveränderlichen mit B parallelen Ebene
bildet. Die Richtung der Linie B sei durch « und Q bestimmt. Das Poten-
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 67
tial eines Kräfte-Systems in Bezug auf das in Rede stehende feste System
ist diejenige Funktion der sechs Elemente a, 5, c, «, 9, $, deren negative
partielle Differentialgnotienten nach den Coordinaten a, 5, ce die Summe
der mit diesen parallelen Componenten der Wirkung geben, welche die
Kräfte auf das System ausüben, und deren negativer partieller Differential-
quotient nach $ das Drehungs-Moment der Kräfte um die Axe B darstellt.
Bezeichnet man durch o und s die geschlossenen Bahnen zweier elek-
irischen Ströme, durch Dr, Ds ihre Elemente und durch (Dr. Ds) den Win-
kel unter welchem diese Elemente gegeneinander geneigt sind, so hat, wenn
iund 7 die Intensitäten der Ströme r und s sind das Potential P des einen
Stroms in Bezug auf den andern diesen Ausdruck:
P=r4152y DM) n,Dr A)
worin
= (22 + (4 - N +@— 8) (2)
und x, y, zund £, n, 2 die Coordinaten von Ds und Dr sind. Die Integra-
tionen in (1) beziehen sich auf alle Elemente der geschlossenen Umgänge s
und r. Bei unverzweigten Strömen treten ö und j aus den Integralzeichen
heraus, weil sie hier unabhängig von s und s sind, während sie bei verzweig-
ten Strömen Funktionen der Zweige sind. Die letztern können aber immer
in einfache Umgänge von konstanter Intensität zerlegt, und die Integrationen
auf diese ausgedehnt gedacht werden. Dies ist bei den partiellen Integratio-
nen im Folgenden geschehen. Ich werde zunächst beweisen, dafs, wenn X,
Y, Z die Summe der mit den Coordinatenaxen parallelen Componenten der
Wirkung von o auf s sind, und der Ort und die Lage von s durch a, b, c, a,
ß, & bestimmt sind, man hat
Nach den Ampere’schen Formeln hat man, wenn durch jX,Ds, jY,
Ds, jZ,Ds die Componenten der Wirkung von 7 auf das Element Ds be-
zeichnet werden
4 Ih Kr —mM)DE— (x«— DDr} Dy
XEDs— ol 0 2 I
. S@—-2)DE—- («— E)DA D:
Paz; « 5 < z) D°s
r
68 NEUMANN über ein allgemeines Prineip
wofür, wie leicht zu ersehen ist, man schreiben kann
aa at De
x.D=—+2il „De +,Dy+ = D=} DE
+ ı cos(Ds.Dr) Ds Dr
oder
za ae
X=— en us) _ — cos (Ds.De) De}
Ebenso erhält man
N Y=-—- lee Dy — eos (Ds.Dr) Dz}
De a
RETTET r r
1,=- en 25 P& — — eos (Ds. De) De}
Bildet man jetzt den Werth von X=SjX, Ds, das Integral nach den einfa-
chen geschlossenen Umgängen von s genommen, und berücksichtigt, dafs in-
nerhalb dieser Grenzen
d
S32-DsDf=> [:]»: =L
wo die Klammer [] die Differenz der Werthe bezeichnet, welche die von
ihr eingeschlossene Gröfse in den durch die beigefügten Indices angedeute-
ten Grenzen, zwischen welchen integirt ist, besitzt, so ergiebt sich
Rn SZij cos (Ds.Dr) Ds Dr
wofür man schreiben kann, wnına=a+x, y=b+y, 3=c+3z, ge-
setzt wird:
X=1283 MO n,De
oder in Rücksicht auf (1)
x aP
=.
Auf dieselbe Weise ergiebt sich Y= — = Indiz 2.
o ap
Um zu beweisen, dafs — 5 das Drehungs-Moment der Wirkung von
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 69
co auf s in Bezug auf die Axe B ist, welche Lage diese auch hat, ist es hin-
reichend dies für die Fälle nachzuweisen, wo B mit einer der Coordinaten-
axen parallelist. Ich werde, je nachdem B mit der x, y oder z Axe paral-
lel ist den Buchstaben $ mit A, x oder v vertauschen, und $ nur für den all-
gemeinen Fall beibehalten. Die Drehungs-Momente in Bezug auf die durch
den Punkt A gehenden mit x, y oder z parallelen Axen seien Z, M, N.
Es sei B parallel mit der zAxe, so ist
N=Sj$(®—a)Y,— (y—b)X,t Ds
und hierin die Werthe für Y, und X, aus (3) gesetzt:
N=— +s27l@- — DENE DeDr
a
dy
+1 83ijeos(Ds.Dr)[(@— a) - (79%; }DsDr
Man erhält aber, wenn man partiell nach Ds innerhalb eines einfachen ge-
schlossenen Umgangs integrirt
sz{@- a) = —(y— DENE DeDr
worin, weil s, und s, zusammenfallen, der von S freie Theil verschwindet.
Demnach wird
N= +82j1{E& — 2 #1 DsDr (4)
r ds ds ds ds
+-S%ij cos (Ds. Dr) C _ Se — (y—b) “.}DsDr.
JE X
Diese Gleichung ist identisch mit
N=+#82j“ =D) DDr.
2
Dies ergiebt sich aus folgender Betrachtung.
0 Neumann über ein allgemeines Princip
Man hat
a da“ dty data
vw dadaav ydb“ dd
und, weil
dE dx dy dy dd di
os(Ds.D —_ 7 —— ——
8 s( ® °) ds ds ds ds ds ds’
so ist:
d. dE d. dx dr d.dy de d. dz
@ eos (Ds.Dr) ren RE
dv cos ( . °) ds ds dv ds ds dv ds ds dv
und hieraus, da
ergiebt sich:
so dafs also
d. ..cos (Ds.
EIS: rer rd
dv 53 7 r
DI) De 2 E1DsDr
las das ds bs
1
dz
dx
+ SYij cos (Ds. Dr) [e- — (y—b) \DsDr
wodurch die Gleichung (5) erwiesen ist, für welche man auch schreiben kann
ap
N=--,-
Giebt man der Axe B die Richtung von y oder x so erhält man auf
dem entsprechenden Wege
Bildet die Axe B mit x, y, z die Winkel Z, m, n so ist, wenn das
Drehungs-Moment in Bezug auf dieselbe jetzt mit AR bezeichnet wird, nach
einem bekannten Satze
R= Lcos!+ Mcosm-+N cosn.
der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Siröme. 71
Nennt man 0X, du, do die drei Drehungen um die durch den Punkt
A gelegten x, y, z Axen welche die Drehung 0 um die Axe B ersetzen,
so dafs
gaA=dbcosl du=ddcosm Ww=dhcosn
und setzt hieraus die Werthe von cos/, cosm, cosn, so wie die vorher gefun-
denen Werthe für Z, M, N in den vorstehenden Ausdruck für A, so erhält
man
nn _ fra, au apa
ar ap " dudp " dv dp
des
aP
R=——.
dp
Ich benutze diese Gelegenheit um einige Sinn entstellende Druckfeh-
ler in meiner früheren Abhandlung: die mathematischen Gesetze der inducir-
ten Ströme etc. 1845 anzugeben.
Die Formel (4) pag. 65 mufs heifsen:
Ss Wr
et Leej (== +D,y-+ ==] ar 38[ > + DD, + =
r r
S, w,
wo die Klammer [ ] immer die Differenz der Werthe bezeichnet, welche die
eingeschlossene Gröfse an den Stellen besitzt, welche durch die der Klam-
mer beigefügten Indices bezeichnet sind.
Die Formel (5) pag. 65 mufs heifsen:
ww
5 DED.: D,D D2Dz
J=— _ ej2s[ == IF]
w,
und (6) p. 67:
Sr
. DEdx + Dydy + D£d:
Pk | Sc UV e)
1 1.uj3 [pers nun mal
$,
n
ner
W
x
au
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2 ”
Ne TI
| en Sl
Zur Abhandlung des Hrn. Neumann
uber ein allg: Frincip der math: Theorie inducırt: elektr.Ströme. Phys.
Abhdl:von 1817.
“
“
tn u
Die Vegetationsorgane der Palmen,
eine vergleichend - anatomisch- physiologische Untersuchung
g
von
H”- HERMANN KARSTEN.
annannnnnaN vn
[Gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 1. März 1847.]
Die Keimung.
D as unbefruchtete Eichen aller Palmen, die ich zu untersuchen Gelegen-
heit hatte (verschiedene Arten der Gattungen Chamaedorea, Oenocarpus,
Iriariea, Geonoma, Bactris, Guilielma, Cocos, Klopstockia und Martinezia)
enthält, in dem von einer einfachen Hülle umgebenen Kern, einen Keimsack,
der zur Zeit der Befruchtung den gröfsten Theil des Kernes einnimmt und
mit einer Flüssigkeit angefüllt ist. An den Wandungen dieses Keimsackes
beginnt die Bildung von Zellen, wodurch die Höhlung mit einem Gewebe
ausgekleidet wird, das durch fortdauernde Vermehrung diese immer mehr
einengt, bei den meisten Arten sie endlich ganz ausfüllt. Zu der Zeit des
Eintretens des Pollenschlauches in dies Gewebe ist die Haut des Keimsackes
nicht mehr deutlich zu erkennen, sie liegt zwischen dem Gewebe des Kernes
und dem jetzt neu entstandenen Gewebe des sich bildenden Eiweifses. Die
Vermehrung dieses letztern geschieht durch das wiederholte Entstehen von
Zwillingszellen im Innern der Zellenhöhle. Sehr deutlich sah ich dies bei
einer Frucht der Iriartea praemorsa Kl. in der das Wachsthum der Gewebe
verlangsamt zu sein schien. Auf der ersten Tafel habe ich dies Gewebe (1.d')
gezeichnet, es hält hier mit der fortdauernden Bildung von Zellen das Wachs-
thum der schon gebildeten nicht gleichen Schritt, man sieht aus diesem
Grunde, und weil die in den Zellen abgesonderte Flüssigkeit durchsichtiger
ist wie gewöhnlich bei den sogenannten Zellkernen, mehrere Generationen
5
von Zellen zu zweien in einander eingeschachtelt.
Phys. Kl. 1847. K
74 H. Karsten:
Der Pollenschlauch, der bei den Palmen die an beiden Seiten mit
Zellgewebe belegte Haut des Keimsackes durchwachsen mufs, um in das In-
nere desselben zu gelangen, vergröfsert sich sehr langsam durch Vermehrung
der in seiner Spitze gebildeten Zellen, umgeben von dem mit einer hellen
Flüssigkeit angefüllten Gewebe des Eiweilses(!). Man erkennt noch lange
das hintere in dem Gewebe des Kernes liegende Ende des Pollenschlauches,
das allem Anscheine nach sich unmittelbar in das keulenförmig angeschwol-
lene Ende, die Anlage des Keimlings, verlängert. Bei der Taf.I. Fig.1. ge-
zeichneten Frucht vermehrt sich das Gewebe des Keimlings nicht so gleich-
förmig wie das mehr lockere, der Keimsackflüssigkeit zugänglichere, von die-
ser vielleicht gleichförmiger durchtränkte Gewebe des Eiweifses; es enthal-
(') Schon bevor ich diese Untersuchung begann, glaubte ich mich durch Beobachtun-
gen der Veränderungen des Pollenschlauches von Pflanzen aus den verschiedensten Fami-
lien, z. B. an der Monoclea Forsteri Hook., Langsdorffia Moritziana Kl. et Kart., An-
thurium tovarense Kl. et Kart., Mangifera indica L., Zamia muricata W illd. etc. über-
zeugt zu haben, dals der Keimling, wie Schleiden es zuerst angab, unmittelbar aus dem
in demselben entstehenden Zellgewebe sich hervorbilde. Vergebens verwendete ich viele
Zeit darauf, auch von den Palmen die noihwendige Reihe der Entwickelungsstufen der
ersten Anlage des Keimlings zu erhalten, da die Verhältnisse für diese Beobachtung hier
besonders ungünstig sind; es kam mir indels bei diesen Untersuchungen nichts vor, das
eine andere Auffassungsweise dieser Erscheinungen nothwendig gemacht hätte.
Erst nach Beendigung dieser Arbeit zeigte mir mein Freund Klotsch seine
Zeichnungen über die Befruchtung der Orchideen, die allerdings zu Gunsten der von
Brongniart, Amici, Robert Brown u.A.m. vor Schleiden ausgesprochenen An-
sicht entscheiden, wie es auch bald darauf von Amici und Mohl in der botanischen Zei-
tung gleichfalls dargelegt wurde. Die Beobachtungen dieser verschiedenen Forscher würden
mich für die Palmen über die Entstehung des Keimlings zweifelhaft machen können, wenn
ich nicht bei Pflanzen anderer Familien mich von der Richtigkeit der Schleiden’schen
Beobachtungen überzeugt hätte. ä
Soviel ist durch alle diese Beobachtungen gewils, dafs nur in Folge der Wechsel-
wirkung der Pollen- und Keimsack-Zelle sich die Anlage des Keimlings bilden kann. Auf
meine eigenen Beobachtungen und auf die Gründlichkeit der genannten Anatomen vertrau-
end, scheint es mir, dals Meyen den richtigen Punkt getroffen hat, indem er an die Ähn-
lichkeit der Copulation der Gonferven mit dem Vorgange der Befruchtung der vollkomm-
neren Gewächse erinnert und dafs seine Beobachtungen von wirklicher Verwachsung der Pol-
len- und Keimsack-Zelle und Vereinigung ihrer Höhlungen den Mittelpunkt aller verschie-
denen Erscheinungen bilden, von dem abweichend, bei nicht erfolgender so vollständiger
Vereinigung, einerseits in der Pollenzelle, anderseits in dem Keimsacke, je nach der che-
mischen Beschaffenheit ihres Inhaltes, die Anlage der jungen Pflanze erzeugt wird; was denn
für jede einzelne Art oder Gattung oder Familie durch die Beobachtung festzustellen wäre. —
die V egetationsorgane der Palmen. 75
ten hier einzelne Zellen eine einfache Tochterzelle, Zellkern, in der ein oder
mehrere Bläschen sich befinden, während andere danebenliegende zwei, vier
und wie es scheint auch drei Tochterzellen bergen, die mit einer körnigen,
Bläschen enthaltenden Flüssigkeit gefüllt sind. Fig. 1 /’ stellt dies Zellge-
webe der Anlage des Keimlings der Iriartea praemorsa in 250 facher Ver-
gröfserung dar.
Die stärkste Zellenvermehrung dauert an der Spitze dieses Körpers
fort, wobei es dort, wo ein grundständiger Keimling vorkommt, wie bei
Oenocarpus, Iriartea, Klopstockia, Cocos etc. Regel zu sein scheint, dafs die-
jenige Seite der Spitze, die der Blumenaxe zugewendet ist, vor der nach
aufsen gewendeten bevorzugt ist, durch welche einseitige Bildung ein allmäh-
liges Überwachsen derselben über die nach dem Umkreise Eertiete Seite
hervorgebracht wird; der auf diese Weise überwachsene, dann sehr in der
Entwickelung zurückbleibende Theil der Anlage des Keimlings besteht aus
einem kleinzelligen Gewebe, dessen sehr zarte und durchsichtige Häute eine
gelblich gefärbte trübe Flüssigkeit einschliefsen, während der stärker sich
ausdehnende Theil sich in ein Parenchym mit festeren Häuten umändert und
nur an der Oberfläche, besonders an der Spitze in der Zellenvermehrung
verharrt. Es stellt dieser so durch stärkere Entwickelung der Axenseite der
Keimenlage gebildete Theil das erste blattartige Organ der jungen Pflanze
dar, dessen Entstehen und dessen Ausbildung jedoch nicht immer so deut-
lich zu erkennen ist, wie ich es zuweilen sahe und Taf. 4. Fig. 2 f’ gezeich-
net habe. Zu dieser Zeit enthielt der halbausgewachsene Keimling durchaus
keine Spiralfasern oder sonstige Andeutungen des Holzgewebes, doch war
die Grundlage desselben, eine cambiale Schicht, die von der Gegend des
ersten Erscheinens des Saamenlappens d. h. von seiner jetzigen Basis, bis in
die Spitze desselben, ein mittleres Parenchym von einer geringen Rinden-
schicht trennte, vorhanden. (In Taf. I. Fig.3f’. y. dieselbe Schicht, doch
schon mit Spiralfasern). In diesem Zustande ist der Keimling rings von Ei-
weils umgeben, von dem Rest des Pollenschlauches ist nichts mehr zu ent-
decken. Die Eihaut, aus verdickten gestreckten Zellen bestehend, ist über
ihm zusammengewachsen, an der Stelle des Eimundes, nur eine sehr kleine
Öffnung in der Gegend des künftigen Würzelchen lassend, wie bei der Cha-
maedorea: oder hier in dem Umkreise derselben abgesondert von den übri-
gen Zellen verholzend und so eine kleine Scheibe bildend, die von dem spä-
K2
76 H. Kansten:
ter beim Keimen hervordringenden Würzelchen als Deckelchen abgestofsen
wird, wie bei der Bactris, ähnlich dem bei einigen Aroideen und Seitamineen
schon von Gärtner beschriebenen Vorgange. Die Höhlung des Keimsackes
ist zu dieser Zeit bei der Iriartea, wie bei allen übrigen untersuchten Gat-
tungen mit Ausnahme von Cocos, gänzlich durch Gewebe ausgefüllt, das dem
Keimling zunächst angrenzende besteht aus Zellen mit durchsichtigen Häuten,
die einen klaren, flüssigen Inhalt mit kleinen, sehr scharf begrenzten, undurch-
sichtigen Kernen einschliefsen Taf. I. Fig.2. d‘. Durch wässerige Jodlösung
wie durch Eisenchloridlösung wird die Flüssigkeit feinkörnig und dunkler
gefärbt. Etwas weiter von dieser Stelle entfernt finden sich sehr durchsich-
tige Bläschen innerhalb sehr zarter Tochterzellen, in der etwas vergröfserten
Mutterzelle, welche Bläschen fast nur nach Hinzufügung von Jod- und Eisen-
chloridlösung deutlich hervortreten, indem sie durch ersteres gelb, durch
letzteres grünlich-schwarz gefärbt worden, ihr Inhalt also wahrscheinlich eine
gerbsäurehaltige Flüssigkeit ist. An diese Zellen grenzen andere von drei-
bis vierfacher Gröfse deren Wandungen punctirt verdickt sind; zum Theil
sind die sogenannten Porenkanäle durch dieselben Mittel noch dunkel zu fär-
ben, durch die jene, in der Tochterzelle enthaltenen Bläschen gefärbt wer-
den; es sind darnach auch hier wahrscheinlieh diese Bläschen die Ursache
einer theilweisen Verdickung der Zellhaut, der sie ankleben. Diese Häute,
die im reifen, trocknen Saamen sehr hart werden und dem Gewebe des Ei-
weifes die Eigenschaften des „hornigen” ertheilen, werden weder durch Jod-
noeh durch Eisen-Lösungen, noch durch verdünnte Schwefelsäure gefärbt,
noch ruft Jod nach Einwirkung der Schwefelsäure die blaue Farbe hervor. —
Auf der dem Saamenlappen entgegengesetzten Seite des Keimlings in
seinem unteren dem Eimunde zugewendeten Ende, findet gleichfalls eine
Sonderung der Gewebe statt; doch hier nicht bei gleichzeitig vorherrschendem
Wachsthum einer Stelle der Oberfläche unterhalb der Spitze, sondern allein
durch Umbildung des mittleren Cambium’s und der oberflächlichen Schicht
desselben in Parenchym, wodurch in diesem Gewebe von dem Cambium nur
ein diese beiden Schichten trennender Kegelmantel übrig bleibt. Auf diese
Weise ist die Anlage zur ersten Wurzel gegeben, die durch Neubildung von
Zellen in der Spitze des cambialen Kegelmantels vergröfsert wird. Vor die-
ser Spitze findet sich in dem reifen Saamen eine Zellengruppe, die durch
Form und Inhalt an ein Gewebe erinnert, das sich an der Rindenseite des
die Vegetationsorgane der Palmen. 77
Holzeylinders in dem Stamme der Monoecotylen dort bildet, wo die Anlage
einer Wurzel entsteht. Diese Schicht überdeckt wie ein Schirm die Spitze
des Cambium Kegels der noch in dem Eiweifs (Chamaedorea) oder wenig-
stens innerhalb der Saamenschale enthaltenen Wurzelanlage, sie besteht aus
weiten Zellen, die in einer hellen Flüssigkeit, die durch Jod gelb gefärbt
wird, einen scharf begrenzten Zellkern enthalten; fast immer ist sie noch
von einer geringen Zellenschicht, die als Fortsetzung des Saamenlappen be-
trachtet werden kann, bedeckt und dadurch don dem Eiweifs und der Saa-
menschale getrennt, welche Zellenschicht bei dem Keimen des Saamens
durchbrochen wird, sich gleichzeitig mehr oder weniger ausdehnt und dann
die Wurzel als Scheide (coleorhiza) umgiebt. Nur drei Palmen sind mir
bisher bekannt geworden, bei denen sich dies Verhältnifs nicht findet, wo
diese zur Wurzel gehörende Zellengruppe unmittelbar die Oberfläche des
Keimlings bildet und sich seitwärts in das Gewebe des Saamenlappens fort-
setzt, so dafs bei der Keimung dies nicht durchwachsen wird und keine Wur-
zelscheide entsteht, es sind dies die Gattungen Sabal, Phoenix und Hyphaene,
ausgezeichnet durch die bedeutende, Verlängerung des Saamenlappenstieles
während der Keimung; doch werden sich bei einer genaueren Beachtung
dieses Gegenstandes gewifs noch mehrere hierin diesen dreien ähnliche Pal-
men finden (!). Wir werden später, bei der Betrachtung der ausgewachse-
nen Wurzel, Thatsachen kennen lernen, die es wahrscheinlich machen, dafs
dasjenige Gewebe derselben, dem ich diese äufserste Zellengruppe des Wür-
zelchen vergleiche, dazu diene, die Aufnahme der Nahrungsstoffe aus der
unorganischen Natur zu vermitteln; bei der Keimung des Saamens hat wohl
diese eben betrachtete Zellengruppe eine ähnliche Bedeutung für die Ernä-
herung des Keimlings, höchst wahrscheinlich wird durch die eigenthümliche
Thätigkeit dieser Zellen die Verflüssigung und Aufsaugung der vor dem
Würzelchen befindlichen Gewebe möglich gemacht, so wie die innerhalb der
Rinde entstehenden Wurzeln ähnlich auf das Gewebe dieser wirken. (siehe
Taf. IV. Fig. 6.7.8.).
In dem reiferen Saamen der S. 73 genannten Palmen finden wir also
einen Keimling, dessen Spitze überwachsen ist von einer seitlich sich von
(‘) Kunth macht in seinem Lehrbuch der Botanik p.109 schon darauf aufmerksam,
dals nicht allen Monocotylen die coleorrkiza zukommt.
78 H. Karsten:
seiner Oberfläche erhabenden Wulst, dem Saamenlappen, während das ent-
gegengesetzte Ende sich in das Würzelchen verlängert; sowohl’in diesem
Würzelchen, wie in dem Saamenlappen ist das parenchymatische Gewebe
durch eine cambiale Zellenschicht in Mark und Rinde gesondert. In der
Wurzel endet die Spitze dieser, einen Kegelmantel bildenden Cambiumschicht
in ein grolszelliges Gewebe, das nur zum Theil zur Zellenvermehrung bei-
trägt; in dem Saamenlappen fällt die Spitze dieses Cambium-Kegels mit der
Spitze des Saamenlappens selbst zusammen. Von der ursprünglichen Spitze
des Keimlings aus, an der sich inzwischen noch einigemal ähnliche Vorgänge
wie die Bildung des Saamenlappens wiederholten, nehmen Spiralfasern ihren
Anfang, die aus den Zellen der Cambium-Kegel sich bildend, in dem Um-
kreise dieser zerstreut, sowohl in dem Würzelchen, wie in dem Saamenlap-
pen einzeln stehen und die Grundlage von Holzbündeln geben, die sich spä-
ter in diesen Organen finden. In dem Saamenlappen laufen diese Holzbün-
del nicht immer parallel, sondern verzweigen sich häufig dort, wo der Um-
fang desselben gröfser wird. Während der Keimung vergröfsert sich der
Saamenlappen nun immer mehr durch Bildung neuer Zellen in seiner cam-
bialen Spitze und durch Umformung derjenigen Zellen des Cambium -Ke-
gels, die nicht den Holzbündeln sich anreihen, in grofszelliges Parenchym.
Dies letztere enthält in einiger Entfernung von dem Orte seiner Bildung, in
der Mitte des ganzen Organs, einen flüssigen klaren Inhalt, dessen Farbe
durch Jod nicht verändert wird und einen deutlich sichtbaren Zellkern mit
Kernkörperchen und die Zwischenzellräume sind mit Luft angefüllt, während
in der Nähe des Cambiums die Parenchymzellen, sowohl Stärke enthalten,
wie eine körnige Flüssigkeit, die sich durch Jod gelb färbt. Während die-
ser bei der Keimung erfolgenden Vergröfserung des Saamenlappens werden
die Zellen des Eiweilses gänzlich verändert. Statt der früher stark verdickten
punctirten Wandungen, sieht man jetzt hier sehr helle, zarte Zellhäute die,
während der Ausdehnung des Saamenlappens, der endlich ganz die Stelle des
Eiweifses einnimmt, gleich den Epidermial- und Epithelial-Zellen des thieri-
schen Organismus plattenartig zusammengeprefst und auch wohl zum Theil
aufgelöst werden, wofür die geringe Anzahl dieser Zellenreste im Vergleich
mit den früher im Eiweifs vorhandenen spricht. Der Zwischenraum zwischen
den, noch in der eigenthümlichen Form bestehenden Eiweifszellen und dem
immer mehr sich vergröfsernden Saamenlappen ist mit einer Schicht solcher
die V egetationsorgane der Palmen. 79
zusammengeprefsten, ihres Inhaltes und ihrer verdickten Membranen beraub-
ten Zellen ausgekleidet. Die zunächst diese Schicht begrenzenden Zellen
des Eiweiflses besitzen noch fast die frühere Form; doch sind sie weniger
scharf eckig, wefshalb sie nicht mehr so eng aneinander liegen, sondern sich
Zwischenzellräume gebildet haben, die mit Saft angefüllt sind. Die Zell-
wand selbst hat an Dicke sehr abgenommen, je nach der Entfernung von dem
Saamenlappen mehr oder weniger. Die Haut der Tochterzelle isı von der
äufseren Zelle getrennt und hat sich zusammengezogen (Taf.I. Fig. 4. d'),
hier ist diese letztere noch etwas verdickt, doch es sind keine Porenkanäle
mehr zu erkennen; dieser Zustand, wie der der benachbarten Zellen, spricht
dafür, dafs hier nicht nur die zweite (innere), sondern auch die erste (äufsere)
Zellhaut verdickt ist, was auch mit den durch chemisch wirkenden Stoffe
hervorgerufenen Erscheinungen übereinstimmt. Auch der sogenannte Zell-
kern scheint während dieser Verflüssigung des Zelleninhaltes und der Wan-
dung thätig zu sein, vielleicht zu dieser Stoffumwandlung durch sein Wachs-
thum mit beizutragen, es vergröfsert sich diese dritte Zelle jetzt etwas und
füllt sich überdies mit einer trüben, feinkörnigen Flüssigkeit, die durch Jod
eine ähnliche dunkelgelbe Farbe annimmt, wie es bei fetten Ölen und Har-
zen der Fall ist.
In dem Saamenlappen der Alopstockia sind die Zellen zu dem „lungen-
förmig” genannten Gewebe geordnet, nur die Oberhaut bildet eine zusam-
menhängende Schicht und grenzt an die entleerten, plattenförmig -zusammen-
gedrückten Zellen des Eiweiflses, auf welche die noch unveränderten, strah-
lich nach dem Mittelpunkte des Saamens gerichteten Eiweifszellen senkrecht
stehen. Aus dem Verflüssigungsprodukte dieses hornigen Gewebes bildet sich
also das lungenförmige Parenchym des Saamenlappens durch Vermittlung der
Epidermialschicht desselben, in deren Zellen eine schleimig-gummiartige
Flüssigkeit enthalten zu sein scheint, sie wird durch Jod gelb, durch Ammo-
niak grün gefärbt, ähnlich wie die später zu beschreibenden Zellen der Wur-
zelmütze; sie enthalten ferner Öl- und Stärke-Bläschen. Der flüssige Inhalt
der Zellen des lungenförmigen Parenchyms wird durch die angegebenen Re-
agentien nicht gefärbt. In dem Saamenlappen der Phoenix finden sich gleich-
falls grolse Zwischenzellräume, doch hier in Form von Kanälen; später, nach-
dem die Zellen selbst von Flüssigkeit entleert sind und Kohlensäure enthal-
so H. Karsten:
ten, findet sich in diesen Zwischzellräumen eine Luftart, die durch Ammo-
niak- und Baryt-Lösung nicht aufgesogen wird. —
Bei der Keimung des Saamens verlängert sich nun das untere dem
Saamenmunde zugewandte Ende des Keimlings, in welchem das Keimknösp-
chen und die Anlage zum Würzelchen sich beflndet, wodurch beide aus der
Saamenschale hervorgedrängt werden, und ein längerer oder kürzerer Stiel
gebildet wird (der z.B. bei der Hyphaene Petersiana Kl. eine Länge von
einem Fufs und darüber erreicht), aus dessen Spitze die erste Wurzel
(Pfahlwurzel der Dicotylen) hervorbricht bei der Iriartea, Oenocarpus, Ge-
onoma, Bactris, Chamaedorea, Cocos, Martinezia oder sich unmittelbar in
diese verlängert, wie es bei der Sabal, Hyphaene und Phoenix(!) beobachtet
wurde: während aus der seitlichen Öffnung dieses Stieles, dem eigentlichen
Grunde des Saamenlappens, das sich entfaltende Keimknöspchen hervorwächt.
Schon vor der Keimung zeichnet sich in dem Grunde der Keimknospe,
ähnlich wie nach den beiden Enden des Keimlings hin, in der Mitte des Wür-
zelchens und des Saamenlappens ein parenchymatisches Zellgewebe aus, das
von dem Cambium-Kegel beginnend, die Mitte desselben einnimmt. In die-
sem Gewebe verharren nun einzelne Reihen des Cambium in diesem Zustande,
wodurch die cambiale Schicht der Keimknospe und die unterdefs entstande-
nen jungen Blattenlage mit jenem Cambium-Kegel in Verbindung gesetzt
werden. Während der Keimung beginnt nun gleichfalls in diesen Cambium-
Bündeln, ebenso wie früher in den Cambium-Kegeln des Würzelchens und
Saamenlappens, von dem Knospengrunde aus, die Bildung von Spiralfasern,
die sich nach der Spitze der Keimknospe hin in die Blattanlagen hineinver-
längern mit denen die Cambiumbündel in Verbindung stehen. Nach dem,
durch die Verlängerung des Saamenlappenstiels bewirkten Austritt des Keim-
knöspchen aus der Saamenschaale wird die Bildung dieser Spiralfasern be-
deutend beschleunigt. Auch der Rand des Saamenlappens, der die hervor-
tretende Keimknospe umgiebt, verlängert sich nach dem Hervorbrechen aus
der Saamenschaale; in ihm enden zum Theil die Spiralfasern, die in dem
(') Das Wachsthum des durch eine kleine Gruppe von Cambium-Zellen angelegten
Würzelchens beginnt hier erst, nachdem der Saamenlappen sich schon um mehrere Zolle
verlängert hat und die Ausbildung des von dem Saamenlappen umhüllten Keimknöspchens
bedeutend vorgeschritten ist. —
die Vegetationsorgane der Palmen. 51
stets sich vergröfsernden Saamenlappen, wie früher beschrieben, sich ver-
breiten.
Alle Holzbündel der ersten Blätter nehmen von diesem Knospengrunde
ihren Anfang, während aus der Spitze des von ihm sich erhebenden Kegel-
mantels von Cambium-Gewebe die Anlagen neuer Blätter gebildet werden.
Bei den verschiedenen Arten ist es verschieden, wie lange die Blattbildung
der jungen Pflanze in der Nähe des Knospengrundes ohne Verlängerung der
Zwischenknoten fortbesteht, bei der Iriartea tritt diese bald ein, wodurch
die Blätter von einander entfernt werden und die Stammbildung eingeleitet
ist: bei allen übrigen Palmen, die ich in der Entwickelung beobachtete, dau-
ert die Bildung neuer Blätter ohne Ausdehnung der Zwischenknoten sehr
lange fort, die Stammbildung ist natürlich auch hier eingeleitet, doch durch
die Kürze der Zwischenknoten derselbe von so unbedeutender Länge, dafs
er sich nicht über die Erdoberfläche erhebt. Es nimmt indessen mit jedem
neuen Blatte sein Durchmesser zu, wodurch er bei diesen Pflanzen anfangs
die Form eines umgekehrten Kegels annimmt, die erst dann in die Cylinder-
form übergeht, wenn er den dem Stamme eigenthümlichen Durchmesser er-
halten hat, während bei der Iriartea jeder Zwischenknoten einen fast eylin-
drischen sehr langen umgekehrten Kegel bildet, wodurch schon die jungen
Pflänzchen einen Stamm erhalten, der natürlich auch hier mit jedem spätern
Knoten an Dicke zunimmt. Dieser Zunahme des Durchmessers des jungen
Stammes der Iriartea entspricht eine aus den Knoten stattfindende Wur-
zelbildung. Mit jedem Auftreten einer neuen Wurzel nimmt auch der ober-
halb derselben befindliche Stammtheil zu, so erscheint der untere Theil des-
selben bei der Iriartea fast als Cylinder, während er bei den übrigen genann-
ten Palmen fast scheibenartig oder als schr stumpfer Kegel auftritt. Bei letz-
tern entstehen die meistens nicht sehr dicken Wurzeln (1”” bis 3” Durchmes-
ser haltend) unterhalb der Bodenoberfläche, bei der Iriartea dagegen nehmen
schon die ersten, aus dem Stamme entstehenden Wurzeln in einiger Höhe
oberhalb der Erde ihren Anfang und wachsen in schräger Richtung in den
Boden, wodurch die von den verschiedenen Seiten gebildeten, wie die Stüt-
zen des senkrechten Stammes erscheinen. Bei den verschiedenen Arten der
Iriartea ist in der Stammhöhe eine Grenze, oberhalb welcher nur ausnahnıs-
weise noch Wurzeln gebildet werden; aus dieser Gegend entstehen dann in
der Regel alle nach den verschiedenen Seiten gerichteten Wurzeln des er-
Phys. Kl. 1847. P
52 H. Karsıer:
wachsenen Stammes. Bei der Iriartea praemorsa Kl., deren Stamm einen
Durchmesser von 3 Zollen besitzt, befindet sich diese Ursprungsstelle der
0.5 bis 1/0 dicken Wurzeln gegen 3 Fufs von dem Boden; bei der Jriartea
excelsa dagegen, die ich auf den Bergen, die das Thal von Valenzia von der
Küste trennen, fand, deren Stamm bei einer Höhe von 80’ fast einen Fufs im
Durchmesser besitzt: nehmen die 2-3” dicken Wurzeln in einer Höhe von
6-10 Fufs von dem Boden ihren Anfang und tragen so auf ihrer Spitze, den
die übrigen Bäume des Gebirgskammes oft weit überragenden, der Gewalt
der stärksten Winde trozenden Stamm (!).
Eine sehr merkwürdige Erscheinung in dem Wachsthume der jungen
Palmen bietet die Klopstockia dar, indem hier, durch einseitige stärkere Ver-
mehrung des Gewebes der Zwischenknoten und Blattstiele, die Gipfelknospe
des Stammes nicht aufwärts, sondern abwärts gerichtet ist; sie steht immer
an einer Seite des Endes des nach unten wachsenden Stammes, an dessen
entgegengesetzter Oberfläche die Wurzeln hervorkommen. Da die Blätter
nun, trotz dieser Wendung des Stammes nach unten, aufwärts gerichtet sind,
so krümmen sich alle, bald nach ihrer Trennung vom Stamme, in dieser Rich-
tung und die abwäts sich ausdehnende Knospe durchbricht die eine Seite al-
ler Blattstielbasen. Vergebens bemühte ich mich bisher irgend ein abweichen-
des Verhältnifs in dem Baue der Gewebe aufzufinden, das als Fingerzeig für
den Grund dieser merkwürdigen Erscheinung hätte dienen können; es wird
wohl der Zeit aufbehalten sein hierüber Vermuthungen aufzustellen, der eine
gründlichere Bekanntschaft mit den chemisch verschiedenen Stoffen des Pflan-
zenkörpers zu Gebote steht, wie sie uns überliefert ist und diese wird erst
dann zu hoffen sein, wenn eine richtigere Ansicht über die Assimilations -
und Wachsthumserscheinungen der einzelnen Zellen und der einfachen Ge-
webe verbreitet ist wie sie jetzt noch sich geltend macht. — Ganz denselben
Vorgang wie bei der Klopstockia beobachtete ich bei der Sabal minor und
5
von der Sabal mexicana hat Martius schon in seinem schönem Werke
(') Man erkennt hieraus das Irrthümliche der Ansicht derjenigen, die da glaubten,
diese Ursprungsstelle der Wurzeln der erwachsenen Palmen sei anfangs die auf dem Bo-
den ruhende Stammbasis und durch später erfolgte Ausdehnung dieser Wurzeln in die
Höhe gehoben. Diese Beobachter übersahen die von dem dicken Stamme nach unten ge-
hende dünnere Verlängerung desselben, die mit ihren kleineren Wurzeln meistens auch
bei ausgewachsenen Palmen noch sich vorfindet.
die V egetationsorgane der Palmen. 83
über die Palmen diese auffallende Bildung beschrieben und durch ausgezeich-
nete Abbildungen Taf. 5 Fig. 1-7 veranschaulicht. —
Bau des Palmenstammes.
Die ersten Untersuchungen über den Bau des Palmenstammes von
Daubenton 1791 waren es, die lange Zeit sowohl über die Wachsthums-
weise dieser Pflanzenfamilie eine irrige Ansicht verbreiteten, wie auch die
späteren Beobachter der verwandten Familien verleiteten dort ähnliches zu
sehen. Desfontaines wie Decandolle wurden durch diesen Irrthum und
die darauf gestützte entsprechende Theorie über das Wachsthum der Mono-
cotylen Pflanzen zu einer Eintheiluug des Gewächsreiches veranlafst, die erst
durch Mohls berühmtes Werk: „de palmarum structura 1830” als unhalt-
bar nachgewiesen wurde. Mohl zeigte in diesem zuerst, durch umfassende
und genaue Untersuchungen des Palmenstammes, dafs die von Doubenton
und Desfontaines geltend gemachte Ansicht, die Holzbündel des Stammes
der Palmen und derübrigen Monoecotylen entständen im Mittelpunkt des Mar-
kesund verliefen von dort nach oben und aufsen in die Blätter, in der Natur
nicht begründet sei; er zeigte, dafs vielmehr die Holzbündel, wenn man sie
von den Blättern aus in das Mark verfolgt habe, von dort wiederum abwärts
verlaufend sich nach dem Umkreise des Blattes wendeten und unterhalb der
Rinde sich ihr Ende befinde. Da ihm nur trockene Abschnitte von älteren
Stämmen und ganz junge lebende Exemplare zur Untersuchung zu Gebote
standen, gerieth er in den Irrthum, dafs das untere Ende der Holzbündel
bei den erwachsenen Pflanzen ebenso abwärts bis in die Basis des Stammes
sich verlängere, wie er es bei den jungen Pflänzchen gefunden hatte. Den
beiden fleifsigen Forschern Meneghini und Mirbel war es vorbehalten das
richtige Verhältnifs zu erkennen. Meneghini, der gründlichste Untersu-
cher des Stammes der Monocotylen, gab zuerst in seiner gehaltvollen Schrift
(Ricerche sulla structtura del caule nelle piante monocotiledoni. Padova 1836)
ein klares und richtiges Bild über den Verlauf der im Mark befindlichen Holz-
bündel, die auch er zur Oberfläche des Stammes verfolgte und unter der
Rinde enden sieht, wo sie oft bei den Monocotylen netzartig anastomosiren,
was er auch bei den Palmen zu finden glaubte.
Wenn auch seine Angaben über die Entwickelung des Blattes und seine
Theorie über die Bildung der Holzbündel nicht mit der Natur übereinstim-
L2
84 H. Karsten:
men, so ist doch das, was er in dieser Arbeit, wie in einer neueren: „intorno
alla struttura del tronco delle Monocotiledoni” über den scheinbar unregel-
mäfsigen Verlauf der Holzbündel sagt das Beste, was wir über diesen Ge-
genstand jetzt besitzen.
Mirbel in seiner Untersuchung über die Dattelpalme (comptes rendus
1843) stellte Betrachtungen über die eylindrische Form des Palmenstammes
an, die wohl nicht dafür spräche, dafs alle in den oberen Blättern und in dem
benachbarten Stammtheile befindlichen Holzbündel in die Basis des Stam-
mes sich verlängerten, da dieser dadurch eine Kegelform annehmen müsse,
was nicht der Fall sei. Durch Zählung und Berechnung der Menge von
Holzbündeln in allen Blättern einer Palme, wie in dem unteren Stammende,
suchte er seine Meinung zu bekräftigen. Wenn nun auch Mohl (Vermischte
Schriften 1846) gegen diese Gründe Mirbels einwendet, dafs, wie er schon
früher gefunden, das untere Ende der Holzbündel sich bedeutend verdünne,
daher nicht eine so grofse Verdickung des Stammes veranlassen könne: so
giebt er doch die Richtigkeit der von Mirbel aufgestellten Behauptung zu,
indem er zugleich das anatomische Verhältnifs, das uns abhalten mufs, an
eine Verlängerung des Holzbündels aus den oberen Theilen des Stammes in
die Basis desselben zu glauben, aufdeckt. Es ist dies der Umstand, dafs man
bei der Untersuchung alter Stämme unterhalb der Rinde nur alte verholzte
Gewebe, keine cambiale Holzbündel findet, wie es doch stattfinden mülste,
wenn hier die Bildung neuer Theile fortdaure.
Bevor ich näher angebe, wie ich die Entwickelung und den Bau des
Stammes gefunden habe, sei es mir erlaubt, noch einmal das Ergebnifs der
wmitgetheilten Beobachtungen des Keimens mit wenigen Worten zu wieder-
holen. Den ersten Anfang eines Gegensatzes von Stamm und Blatt finden
wir zu der Zeit, wenn von dem cambialen Gewebe des noch ungetheilten
Keimlings an dem vorderen Ende sich seitlich, etwas unterhalb der Spitze,
eine Schicht wulstig erhebt, indem die Spitze weniger rasch sich vergröfsert
und zwischen jenem Wulst und dem Körper des Keimlings das Cambium in
Parenchym umgeändert wird. Die so getrennte äufsere Schicht vergröfsert
sich durch innere Zellenbildung an seinem Umfange zum Cambium-Kegel,
überwächst die ursprüngliche Spitze der Keimknospe, während sich in sei-
nem Kern jenes Parenchym bildet, das sich aus den innern Schichten des
Cambiums vermehrt. Diese seitliche Erhebung und deren Überwachsung
die V egetationsorgane der Palmen. 85
über die Spitze des Keimlings ist das erste Blatt, der Saamenlappen. Ein
ähnlicher Vorgang hat inzwischen an einer andern Stelle des Umfangs eben
dieser gleichfalls durch innere Zellenbildung sich vergröfsernden Schicht des
Keimlings begonnen, wodurch die Anlage zum zweiten Blatte gegeben ist,
dem bald das dritte und vierte folgt. An der dieser Spitze entgegengesetz-
ten Seite des Keimlings in seinem untern dem Eimunde zugewendeten Ende
findet gleichfalls eine Sonderung der Gewebe statt; doch hier nicht bei gleich-
zeitig vorherrschendem Wachsthume einer Stelle der Oberfläche unterhalb der
Spitze des Keimlings, sondern allein durch Umbildung des mittleren und der
oberflächlichen Schicht des Cambiums in Parenchym, wodurch in diesem Ge-
webe von dem Cambium nur ein diese beiden Schichten trennender Kegel-
mantel übrig bleibt. Auf diese Weise ist die Anlage zur ersten Wurzel ge-
geben, die durch Neubildung von Zellen in der Spitze des cambialen Kegel-
mantels innerhalb einer Parenchymschicht vergröfsert wird.
In dem eigentlichen, mittleren Körper des Keimlings, dessen Oberfläche
mit Blattanlagen bedeckt ist, tritt ebenso eine Umbildung des Cambiums, in Pa-
renchymzellen ein, wodurch die Basis von der weiter fortwachsenden Spitze
getrennt wird. Hierdurch wird auch in der Keimknospe ein cambialer Ke-
gelmantel gebildet der ein Parenchym umgiebt in welchem einzelne Cambium
Bündel von dem Knospengrunde nach den an der Spitze desselben befindlichen
Blattanlagen verlaufen, die Anfänge der später vorhandenen Holzbündel: wäh-
rend auch an der Oberfläche des Cylindermantels die fernere Ausbildung der
Blätter und die Umbildung des Cambiums in Parenchym eintritt. Das Letz-
tere giebt, dem Cambiumeylinder zunächst, die Rinde, durch ihn, der sich
später in einen Holzeylinder umändert, von dem mittleren Markparenchym
getrennt. Mitder vorschreitenden Entwickelung des Blatteshältauch die Bildung
von Parenchym an der innern Seite des Cambium-Kegels gleichen Schritt, wo-
durch sowohl die eigenthümliche Spitze der Keimknospe wie die jungen Blatt-
anlagen von dem Knospengrunde getrennt werden. Bald schreitet dann auch
diese Sonderung des Cambiums in Gewebe bis zur Basis des Blattes vor, wo-
bei das Blatt von der Mittellinie der Knospe immer mehr entfernt wird, und
die in seiner Basis endenden cambialen Holzbündel gleichfalls von der Mitte
der Knospe seitwärts sich verlängern. Gleichzeitig mit diesem seitlichen Wachs-
thume und als die erste Ursache desselben findet das Hervorwachsen eines fol-
genden Blattes seitwärts von der Spitze der Knospe statt, von dem Orte des
s6 H. Kazster:
ersten Erscheinens des vorhergehenden Blattes ungefähr 120° entfernt; zu
ihm wenden sich gleichfalls als Anlagen späterer Holzbündel Reihen von Cam-
bium-Zellen von dem Knospengrunde und dessen Seiten aus nach der Mitie
der Knospenspitze hin, daher die von hier gleichzeitig seitwärts sich wenden-
den des nächst vorhergehenden Blattes, die sich in derselben Höhe befinden,
kreuzend. Ebenso geht es mit der Entwickelung des dritten Blattes, das von
den beiden ersten fast 120° entfernt ist. Alle diese Holzbündelanlagen neh-
men wie gesagt vom Knospengrunde ihren Anfang, verlaufen eine Strecke
in der, die Grenze von Mark und Rinde bildenden, Camhium - Schicht oder
ihr nahe auf der inneren Seite, und wenden sich dann nach den, an der Spitze
der Knospe befindlichen Blattanlagen, mit deren vorschreitenden Entwicke-
lung und Entfernung von der Mittellinie der Knospe nach deren Oberfläche
sie gleichfalls nach dem Umkreise sich wiederum wenden, und die Richtung
der zu jüngeren Blattanlagen gehörenden, neben ihnen verlaufenden Bündel
durhekreuzen, in der Spizte der Knospe scheinbar ein vorworrenes Flecht-
werk bildend.
Fassen wir zuförderst die Basis der jungen Pflanze ins Auge, als den
Ort, von dem die Bildung der Spiralen dieser Cambium-Bündel ihren An-
fang nimmt, es ist dieselbe Gegend, aus der auch die in den Saamenlappen
und das Würzelchen verlaufenden Holzbündel beginnen. Diese Cambium-
Schicht ist der Mittelpunkt der Lebensthätigkeit der jungen Keimpflanzen,
hier vereinigen sich die, durch die Wurzel und den Saamenlappen herzuge-
führten Flüssigkeiten und von hier nimmt die bildende Thätigkeit, einerseits
in das Keimknöspchen zur jungen Pflanze, anderseits in die neu sich bilden-
den Wurzelfasern ihren Anfang. Die Schicht cambialer Zellen wird, nach-
dem die Bildung der Spiralfasern begonnen hat, von einem bunten Flecht-
werk von Spiralzellen und Spiralfasern durchzogen und später, wenn die
bildende 'Thätigkeit dieses Gewebes erloschen ist, werden die Wandungen
seiner Zellen punctirt verdickt. Es nehmen dann die Holzbündel des jun-
gen Stammes in dem cambialen Gewebe des vom Knospengrunde aus sich
erhebenden und verlängernden Kegelmantels ihren Anfang, dem spätern
Holzeylinder, von dem früher die Verlängerungen der in dem Knospengrunde
beginnenden Holzbündelanlagen sich trennten. In diesem Kegelmantel, der
durch Verlängerung die Gylinderform annimmt, dauert nun die Vermehrung
8
des Cambiums noch einige Zeit fort, bei gleichzeitiger Umänderung der
die V egetalionsorgane der Palmen. 87
äufsern und besonders der innern Oberfläche in Parenchym, während ein-
zelne verdickte Reihen cambialer Zellen sich 'gleichfalls mit diesem Paren-
chym von der Zellen bildenden Schicht trennen und so die in der äufsern
Parenchymschicht, der Rinde und dem innern Parenchym-Kegel, dem Marke,
verlaufenden Holzbündelanlagen geben (!). In diesen Zellenreihen dauert
je nach dem Orte ihrer Entstehung gleichfalls die bildende Thätigkeit fort,
wodurch sowohl eine Vermehrung des Parenchyms, als auch des künftigen
Holzgewebes hervorgebracht wird. Von dem Alter und der Kraft des Wuch-
ses der Pflanze ist sowohl die Anzahl der in der Bildung begriffenen Blätter,
wie das damit zusammenhängende Vorhandensein von Holzbündelanlagen in
der Stammspitze abhängig. Bei einer Saamenpflanze folgt die Anlage der
Blätter nicht so rasch aufeinander und es stehen dieselben in einem gröfseren
Winkel von einander entfernt, wie bei einer kräftig wachsenden alten Pflanze:
während bei einer keimenden Wachspalme 2-3 faserlose Blattanlagen, in
fast 4 Spirale stehend, in der Knospe zu finden sind, besitzt ein 40’ hoher
Stamm, deren gegen 20 die die Kuppe des Gipfeltriebes, in fast 5 oder ;;
Spirale geordnet, bedecken. In der Endknospe einer Saamenpflanze werden
daher in einer Höhe der Axe die Anlagen der Holzbündel von nur zwei bis
drei Blättern sich durchkreuzen und gleichzeitig sich umbilden, während bei
einer ausgewachsenen Pflanze eine grofse Anzahl derselben von dem Um-
kreise nach den der Mitte nahe stehenden Blattanlagen und von der Mitte
des Marks nach den etwas älteren, dem Umfange näher stehenden Blättchen
verlaufend, in derselben Höhe des Stammes gleichzeitig angelegt, sich durch-
kreuzen, und jedes seiner ferneren Umbildung entgegengeht.
(') Da die Anfänge der Holzbündel immer in diesem Cylinder sich befinden, der in
dem erwachsenen Stamme das Mark und die Rinde trennt: so kann man weder wit Des-
fontaines annehmen, dafs die für die oberen Blätter bestimmten Bündel innerhalb die-
ses Cylinders, im Marke, entstehen, noch mit Schleiden (Grundzüge ete. Il. p. 144)
behaupten, dafs sie aulserhalb desselben sich bilden. Die Wahrheit liegt meines Erach-
tens in der Mitte. Die Anfänge aller Holzbündel liegen neben oder ühereinander zu
einem mehr oder minder vollständigen Cylinder vereinigt, in dessen Gewebe die Wech-
selwirkung der die Rinde und das Mark tränkenden Nahrungsflüssigkeit stattfindet, deren
Folge eine dauernde Zellenbildung und Gewebevermehrung sein würde, wenn die chemi-
schen Mischungsverhältnisse dieser verschiedenartigen Säfte eine ähnliche wäre, wie bei
den Dicotylen, wo ohne Zweifel das Zusammentreffen der im Mark und Holze betindli-
chen Flüssigkeit mit den von dem Rindergewebe aus der Atmosphäre aufgenommenen
Stoffen zum Fortwachsen des Holzeylinders nach Aufsen Veranlassung giebt. —
s8 H. Karsten:
Aufser von der Kräftigkeit des Wachsthums des Individuums hängt es
auch von der gröfseren oder geringeren Verlängerung der Zwischenknoten
der Art ab, wie grofs die Anzahl der gleichzeitig in derselben Höhe des Stam-
mes in der Entwickelung begriffenen Holzbündel ist. In den rasch sich ver-
längernden Zwischenknoten der rohrartigen Palmen werden in derselben
Höhe nicht so viele Holzbündel sich durchkreuzen wie bei den Stämmen der
Dattel- und Cocos-Palmen, die dicht mit Blättern besetzt sind. Auf einem
Querschnitt des dünnen Stammes jener, an deren Spitze nur wenige Blätter
gleichzeitig sich entwickeln, werden daher nicht so viele zu verschiedenen
Blättern gehende Holzbündel angetroffen werden, wie auf einem Querschnitte
des Stammes einer erwachsenen Dattelpalme.
Macht man diesen Querschnitt in der Gipfelknospe unterhalb der Kuppe
des Cambiumkegels, dort wo das Gewebe desselben gerade im Begriff ist, sich
in Parenchym und Holzbündelanlagen zu sondern, so trifft man von innen
nach aussen gehend diese neu entstandenen Bündel, von Blättern sehr ver-
schiedenen Alters. Während die im Mittelpunkte des Stammes sichtbaren, sich
nach aussen wendenden, für das sich aus dem Cambium hervorbildende Blatt
von mittlerem Alter bestimmt sind, ihr unteres Ende schon mehrere Zwischen-
knoten durchzieht bis es die Gegend ihres Entstehens im Cambium-Cylinder
erreicht, wo es zuerst sich von diesem sonderte: so schreitet die Sonde-
rung der nächst äusseren aus der Spitze des Cambiumkegels, theils noch nach
der Mittellinie des Stammes hin vor, wo die jüngste Blattanlage sich befin-
det um erst nachdem jene erreicht ist nach der, dann mehr seitwärts befind-
lichen zugehörigen Blattanlage sich zur Oberfläche zu wenden: theils sind es
die schon aus den unteren Gegenden des Stammes gekommenen, von dem Mit-
telpunkte des Markes zurückkehrenden Holzbündel, die hier sich aus dem Cam-
bium weiter verlängern in die ältere Blattanlage. Die am Umfange der Cambi-
umspitze endlich befindlichen, von demneugebildeten Parenchym gesonderten
Holzbündel sind theils die nach dem Mittelpunkt sich wendenden ersten Anfänge
für die jüngsten oder vielleicht noch nicht im Werden begriffenen Blattanla-
gen, theils sind es die das Markparenchym verlassenden, aufserhalb des Cam-
bium-Cylinders durch die Rinde sich verlängernden, cambialen Holzbündel
des zunächst aus dem Cambium sich hervorbildenden Blattes. —
Dafür das stengelum fassende Palmenblatt sich Holzbündel aus dem gan-
8
zen Umkreise des Cambiumkegels absondern, so finden die Durchkreuzungen
die V egetationsorgane der Palmen. 89
der zu den älteren und nächst jüngeren Blättern verlaufenden Bündel auch in
den verschiedensten Gegenden des Umfanges eines Querschnittes des Stam-
mes statt. Diese Durchkreuzungslinien werden dadurch noch verschlunge-
ner, dafs nicht jedes Holzbündel senkrecht von seinem Ursprungsorte wie-
der zum Umkreise des Stammes zurückkehrt, sondern die nicht in der Schei-
tellinie des Blattstielgrundes gebildeten, aufser der vertikalstehenden Krüm-
mung noch einen wagerechten Bogen nach der Basis des Blattstiels hin zu
machen haben. Denn in die Blattscheiden verlängern sich nur einzelne die-
ser grofsen Holzbündel des Markes, meistens erhalten sie, wie auch die
äufseren Rindenschichten des Blattstiels nur die kleineren, von der äufseren
Oberfläche des Cambium - Cylinders gesonderten, in der Rinde befindlichen
Bast- und Holz -Bündel.
Entwirft man sich ein Bild aller dieser, in den verschiedensten Rich-
tungen sich durchkreuzenden Holzbündel, so hält es schwer mit Meneghini
anzunehmen, es seien Saftströmungen, durch das Auftreten der jungen Blät-
ter hervorgebracht, die Ursache der Richtung dieser Holzbündel. Es beruht
vielmehr in dem Zusammenwirken der fortdauernden Zellenbildung jedes
einzelnen von dem ursprünglichen Bildungsorte, dem Cambium-Kegel, ge-
trennten Zellenbündels und in der längere Zeit fortgesetzten Sonderung von
Parenchym von denselben, durch Umänderung der Cambiumzellen ihrer
Oberfläche, so wie einer ähnlichen Thätigkeit der cambialen Stammspitze
selbst, sowohl die Verlängerung der Holzbündel- Anlagen, wie der Verlauf
derselben durch das Gewebe des Markes. Es ist nicht etwa das Markparen-
chym früher vorhanden und in ihm entstehen dann später, als Folge bestimmt
geordneter Saftströmungen die Anlagen der Holzbündel, sondern beides ent-
steht gleichzeitig oder vielmehr: durch das Aufhören der Neubildung im In-
nern gewisser Cambiumzellen tritt die Form der Parenchymzellen innerhalb
der Cambiumschicht auf, wodurch die Cambiumoberfläche als Holzbündel-
anlage von derselben getrennt wird.
Wollen wir ein einzelnes Holzbündel in seiner Entwickelung betrach-
ten und durchschneiden zu diesem Zwecke die Gipfelknospe in senkrechter
und wagerechter Richtung, so finden wir in dem ersten Querschnitte unter-
halb der Kuppe des Cambiums-Kegels die Andeutungen der Holzbündel in
dem eben gebildeten Parenchym als kleine Zellengruppen, die sich auf dem
Längenschnitte als die obern Enden von Bogen zu erkennen geben, deren
Phys. Kl. 1847. M
90 H. Karsten:
untere Enden mit dem Umkreise eben jener Cambium -Spitze des Stammes
in Verbindung stehen. Andere Bündel in ihrer Nähe trennen sich etwas un-
terhalb derselben von dem Cambium -Cylinder, oberhalb dieser Trennungs-
stelle durch eine diekere Schicht parenchymatöser Zellen von diesem Cam-
bium-Gewebe entfernt, daher der Mitte des Stammes genährt und dieser
Mittellinie nahe mit der Cambium-Kuppe zusammenhängend und zwar in
der Gegend, wo an der äufsern Oberfläche derselben die Anlage eines Blat-
tes sichtbar ist. Noch andere dieser Bündel, deren unteres Ende noch wei-
ter abwärts mit dem Cambium-Cylinder in Verbindung steht, ist durch ein
noch bedeutenderes Parenchymgewebe von demselben in den höheren Thei-
len getrennt, daher der Mittellinie des Stammes noch näher gebracht und
sein oberes Ende nähert sich einer älteren Blattanlage. Alles deutet darauf
hin, dafs seit der ersten Trennung dieses Cambium-Bündels eine Vermeh-
rung des Parenchyms in seiner Umgebung stattgefunden und die Übergänge
der Zellenformen, die sich zwischen dem ausgebildeten Parenchym und so-
wohl diesen Bündeln wie dem Cambium-Oylinder finden, machen es höchst
wahrscheinlich, dafs die Zellen des Cambiumgewebes die kugeligen, locker
nebeneinander liegenden Parenchymzellen hervorbildeten, während die Neu-
bildung in deren Höhle aufhörte. Bei den noch tiefer abwärts in dem Cam-
biumeylinder des Stammes beginnenden Bündeln, die zu schon weiter aus-
gebildeten, mehr von der Mitte der Knospe entfernten Blattanlagen sich wen-
den, verändert sich die Richtung ihres Verlaufes in dem oberen Theile, da
sie gleichfalls von der Mitte sich nach Aufsen wenden, nach der Gegend der
Blattanlage. Diese Blattanlage umfafst bei ihrem ersten Auftreten den ganzen
Umkreis des innersten Kernes der Knospe gleichförmig; doch sehr bald dehnt
sich die eine Seite bedeutend mehr wie die übrigen Theile dieses ringförmigen
Wulstes aus, sie bildet eine kegelförmige Erhebung, die fortwährend an Höhe
zunimmt, während die übrigen Theile des ursprünglichen Ringes um so we-
niger sich vergröfsern, je weiter sie von diesem Kegel entfernt sind. —
In dieser kegelförmigen Erhebung nun, der künftigen Blattstielbasis,
wo die kräftigste Zellenbildung stattfindet, sondern sich die später im Blatt-
stiele befindlichen Holzbündel ab, und zwar in der Weise, dafs zuerst der ein
mittleres Parenchym umgebende Holzbündel-Kreis (oder -Cylinder) von dem
noch in der Zellenbildung verharrenden äufseren Cambium sich trennt. Dies
sind die Verlängerungen derjenigen Bündel des Stammes, die mit der noch
die Vegetaiionsorgane der Palmen. 91
ziemlich der Mittellinie desselben nahe stehenden Blattanlage zusammentref-
fen, die daher an dem ausgewachsenen Blatte den gröfsten senkrechten Bo-
gen beschreiben d. h. diejenigen, die die Mitte des Markgewebes durchziehen.
Während dieser Absonderung der mittleren Holzbündel des Blattstiels und der
nothwendiger Weise gleichzeitig stattfindenden Parenchymbildung in dieser
Blattanlage ist dieselbe durch die in dem inneren und oberen Theile des Stam-
mes fortdauernde Gewebe-Bildung und -Vergröfserung von der Mittellinie des
Stammes mehr entfernt; die jetzt wiederum von der inneren Seite des Cam-
bium-Gewebes desBlatitstieles an dessen unteren Oberfläche als Halbkreis sich
absondernden Bündel, beschreiben daher nicht mehr einen so grofsen senk-
rechten Bogen wie die zuerst auftretenden, und es hängt von dem Alter der
Pflanze ab, ob sie noch das Markparenchym durchziehen, oder nur in der
Rinde verlaufen. Bei den Blättern eines ausgewachsenen Palmen-Stammes
ist das erstere der Fall, ja es folgt noch ein dritter Halbkreis von Holzbündeln
ehe diejenigen, die, von der Rindenseite des Holzeylinders sich trennend, nur
das Rindengewebe durchziehen, als die der Oberfläche nächsten in den Blatt-
stiel eintreten.
Schon oben bemerkte ich, dafs aufser der auf diese Weise hervorge-
rufenen Krümmung der Holzbündel in senkrechter Richtung auch noch ein wa-
gerechter Bogen von ihnen während ihres Verlaufes im Marke gebildet würde.
Dieser Bogen wird dadurch hervorgerufen, dafs die jüngste Blattanlage, eine
wulstige Erhebung des Gewebes unterhalb der eigentlichen Stammspitze, an-
fangs den ganzen Umfang dieser Spitze gleichmäfsig umgiebt. Daher sind die,
von der innern Seite des cambialen Gewebes der Kegelspitze sich trennenden
Cambiumbündel von dem Umfange des Stammes, dem künftigen Holzeylinder,
alle nach der Mitte hin gerichtet, wo sie dort mit der Kuppe des Cambium-
kegels zusammenhängen, wo an der Oberfläche desselben der gleichmäfsig
hervorwachsende Ring der jüngsten Blattanlage sich befindet. Sobald
nun an einem Punkte dieses ringförmigen Wulstes die bildende Thätigkeit
vermehrt wird, ändert sich gleichfalls die Richtung der aus der innern, in
Parenchym und Cambiumbündel sich sondernden Cambium -Schicht her-
vorgebildeten Holzbündel-Anlagen: diejenigen die in der Hälfte des Stammes
sich befinden, an der die Vermehrung des Blattgewebes eintritt verlassen den
Radius in welchem ihr zuerst gebildetes Ende liegt, und wenden sich seitwärts
nach dem Punkt der stärksten bildenden Thätigkeit, natürlich weil von die-
M2
92 H. Karsten:
sem Orte, wo die meisten Zellen gebildet wurden, auch die Sonderung der-
selben in die verschiedenen Gewebe ausgehen mufs. Diese seitliche Biegung,
die in die Zeit fällt, wann die Blattanlage anfängt dem Umkreise sich zu nä-
heren ist der wagerechte, bei den von dem Blattstielgrunde zu dem sie sich
wenden am weitesten entfernten Bündeln, über 90° betragende Bogen, des-
sen gröfste Krümmung der Mittellinie des Markes zunächst liegt('). Es sind
dies die zuerst im Blattstiele sich sondernden in der Mitte desselben in einen
Cylinder geordneten Bündel die auch wie oben gezeigt wurde, den gröfsten
senkrechten Bogen während ihres Verlaufes im Marke zu beschreiben haben.
Das seitliche Fortrücken der Blattanlage von dem Mittelpunkte der
Stammspitze nach dem Umkreise derselben wird hervorgebracht durch eine
fortdauernde Zellenbildung in dem cambialen Gewebe dieser Spitze. Es
wird jetzt von den meisten Anatomen zugegeben, dafs die Vermehrung des
Zellgewebes dadurch hervorgebracht wird, dafs in einer vorhandenen Zelle
die Bildung von mehreren neuen stattfindet. Lassen wir hier jetzt die Frage
unberührt, ob diese Erzeugung neuer Zellen in einer Bildung von Bläschen
o°
in dem flüssigen Inhalte oder in einer Bildung von Häuten um einen festen
5
Inhalt oder in einer Theilung der vorhandenen Zellen mittelst hineinwach-
sender Scheidewände entsteht: so ist doch gewifs, dafs in allen diesen Fällen
die Form des neuen Gewebes und des dadurch gebildeten Organes von der
gegenseitigen Lage der jungen Zellen und ihrer Wachsthumsrichtung abhängt.
Vor dem Auftreten von Spiralfasern ist nur die Lagerung der Zellen die Ur-
sache der Ausdehnung des Gewebes in die Länge und Breite, es werden, wie
(') In dem Stamme der Chamaedorea gracilis Willd. verfolgte ich ein, in ein Blatt
tretendes Holzbündel durch 7 Zwischenknoten, wo es aus der Mitte des Stammes zur
Rinde+ zurückkehrend, in dem Holzeylinder sich befand; vielleicht jedoch noch nicht en-
dete. Es lagen hier der beobachtete Anfang und Endpunkt in einem Winkel von 95°. —
Martius (Über die Struktur des Palmenstammes. Gelehrte Anzeigen. München 1845)
hat sich bei der Euzerpe oleracea entschieden davon überzeugt, dafs gewisse Fasern nicht
auf der Seite, wo sie in das Blatt treten, sondern auf der diametral entgegenliegenden
ihr unteres Ende haben, ebenso wie Mirbel bei Phoenix es fand. Ich kann diese Anga-
ben dieser beiden Beobachter durchaus nicht bestätigen, da ich immer fand, dafs die dem
Blattstiel diametral gegenüber entstehenden Bündel sich nur sehr wenig seitwärts biegend,
in den dort befindlichen "Theil der Blattstielbasis, in die Blattscheide, eintreten; nie fand
ich, dafs dieselben, wie Mirbel und Martius angeben, in den gegenüberstehenden Blatt-
stiel sich verlängern.
die V egetationsorgane der Palmen. 93
dies meistens im jüngsten Cambium stattzufinden scheint die im Innern der
alten zu vieren entstehenden jungen Zellen tetraedrisch geordnet, wodurch eine
allseitige Ausdehnung des Gewebes hervorgebracht wird. Erst später nach
dem Auftreten der ersten Spiralfasern im Stamme findet man in einer Mut-
terzelle, die dann gleichzeitig mehr oder weniger in die Länge gestreckt ist,
die jungen Zellen in ihr in senkrechter Lage übereinandergereiht. Die er-
ste Sonderung im Innern des gleichförmigen Cambium-Gewebes der Holz-
bündel- Anlage ist nach meinen Beobachtungen immer durch das Erscheinen
einer abrollbaren Spiralfaser bezeichnet, die zuerst in dem unteren Theile
des Bündels sichtbar wird und sich von hier nach oben durch die Länge des-
selben in die Blattanlage hinein verlängert. Erst nach dem Erscheinen dieser
Spiralfaser bemerkt man die Ausdehnung einer oder einiger vertikalen Zellen-
reihen, die Anfänge der weiten Kanäle, in der Nähe der Spiralen und eine ver-
mehrte Längenausdehnung der äufseren Zellen des Cambium-Bündels, beson-
ders an der der Stammoberfläche zngewendeten Seite. Der Inhalt dieser
engen langgestreckten Zellen des Umkreises wie jener bald sehr weiten Cy-
linderzellen der Mitte des Bündels, in deren Nähe bald noch andere, doch we-
niger weite Zellenreihen sich von dem übrigen Gewebe absondern wird durch-
sichtig und klar, ebenso der Inhalt der einfachen, endogenen Zelle, des soge-
nannten Zellkerns, der bald ganz unsichtbar wird (!), während die in der Mitte
des Bündels befindlichen Zellen noch längere Zeit eine trübe Flüssigkeit ent-
halten. Die langgestreckten Zellen des Umkreises der cambialen Holzbün-
del nehmen bald eine spindelförmige Gestalt an, es sind diejenigen, die spä-
ter verdickte Wandungen bekommen, und von Moldenhawer, Link, Mohl
und anderen Bast genannt werden. Die Höhlung der äufsersten an das Pa-
renchym grenzenden findet man noch sehr häufig mit senkrecht an einander
gereiheten, runden Zellen (sogenannten Zellkernen) angefüllt, deren Wan-
dungen verdickt sind; es sind dies Hemmungsbildungen von Parenchymzellen
die auch jetzt noch, unter geeigneten Verhältnissen, in diese Zellenform über-
zugehen vermögen. Die, durch Vereinigung der weitesten Zellenreihen ge-
(') Ohne jedoch gänzlich zu verschwinden. Es treten unter Umständen nicht nur
die der Mutterzelle anliegenden Ränder des zusammengefallenen Bläschens deutlicher her-
vor, sondern es kann durch geeignete Verhältnisse das Wachsthum desselben von neuem
angeregt werden und nimmt dann gewils den gröfsten Antheil an der Bildung der in der
Mutterzelle entstehenden Absonderungsstoffe.
94 H. Karsten:
bildeten Fasern besitzen gleichfalls in alten Holzbündeln verdickte Häute. Mohl
nannte sie, wegen der netzförmigen Verdickung der letzteren „netzförmige Ge-
fäfse”. In den unteren Theilen des Holzbündels findet sich immer nur eins
dieser netzförmigen Gefäfse; der Mitte des Stammes näher treten zwei der-
gleichen auf, sie bilden auf Querschnitten des Bündels, dann mit der einen
oder den wenigen Spiralfasern ein Dreieck, dessen nach der Mitte des Stam-
mes hin gewendeten Winkel die Spiralfasern einnehmen, während in den
beiden nach dem Umkreise gerichteten die netzförmigen Gefäfse stehen. In
den Zellen der Mitte des Bündels endet mit diesen Umformungen gleichfalls
die Zellenbildung, es ist das Gewebe das Mohl „eigene Gefäfse” nennt wegen
des trüben flüssigen Inhaltes, der an die gewöhnlich mit ähnlichen Flüssigkei-
ten erfüllten Milchsaftgefäfse erinnert. Diejenigen dieser Zellen, die den
Spiralfasern und den sehr erweiterten künftigen netzförmigen Gefäfsen zu-
nächst liegen, erhalten indessen gleichfalls einen klaren Inhalt, während sie
sich erweitern und ihre Häute später gleichfalls sich verdicken, wodurch sie
zu Holzzellen werden. Es verharrt dann nur das, vor den weiten Netzge-
fäfsen befindliche, von den Holz und Bastzellen umgebene Gewebe in dem
ursprünglichen Zustande der eigenen Gefäfse Mohls.
Ich habe hier die Folge der Entwicklung der verschiedenen Elementar-
bestandtheile des Palmen-Holzbündels gegeben, das jedoch nicht überall in
seiner ganzen Länge alle diese Theile beisammen enthält. Mohl machte schon
in seiner vortrefllichen Schrift: „de palmarum structura pag vı” auf das rich-
tige Verhältnifs aufmerksam, er wies nach, dafs während des Verlaufes des
Holzbündels durch die äufseren Theile des Stammes bis in das Mark und
von hier bis zum Eintritte in das Blatt die Menge des Bastgewebes immer mehr
abnimmt, die Anzahl der Holzfasern und der eignen Gefäfse sich dagegen ver-
mehrt.
Mirbel stellte sich bei seiner Untersuchung der Dattelpalme die Frage,
ob die Holzbündel von den Blättern aus abwärts wachsen, oder von den un-
tern Theilen des Stammes sich nach oben hin verlängern, angeregt durch die
abweichenden Ansichten früherer Anatomen über diesen Gegenstand. Er
untersuchte zur Entscheidung dieser Frage die Gipfelknospe des Stammes ei-
ner Palme und fand hier, dafs die zahllosen, durchsichtigen, sehr zarten Fa-
sern (Cambium-Bündel), die das Gewebe der Knospe durchziehen, an dem
obern Ende nicht früher verhärteten wie an dem unteren, woraus er schlofs,
die Vegetationsorgane der Palmen. 95
dafs sie nicht die älteren, zuerst entstandenen Theile sein könnten. Mohl
wendet gegen diesen Schlufs mit Recht ein, dafs die Verholzung mit dem Alter
eines Gewebes nicht gleichen Schritt halte, und macht darauf aufmerksam,
wie bei den allmählig aus den Blattscheiden hervorwachsenden Zwischenkno-
ten der Gräser, Nelken, Ephedra etc. sogar die obern Enden zuerst erhärten,
ja wie bei den Palmen selbst die oberen Theile des Blattstieles grün und ver-
holzt seien, während die unteren noch weich und ungefärbt gefunden würden.
Mohl führt indessen dies nur gegen die Ansicht an, dafs die Verholzung ein
Erkennungszeichen des Alters eines Gewebes sei, ohne der Annahme Mirbels,
dafs die Entwickelung des oberen Theiles der Holzbündel von unten nach oben
vorschreite, der Ursprung desselben im Stamme nicht im Blatte zu suchen sei,
was auch andere Anatomen gleichfalls bestätigen, zu widersprechen.
Das was hier Mohl von dem oberen Theile eines Holzbündels zugiebt,
dessen Entwickelung von unten nach oben, behauptet Mirbel von der Ent-
wickelung des ganzen Bündels, indem er versichert, dafs er in den Palmen
Holzbündel gefunden habe, deren unteres in der Peripherie des Stammes ent-
springendes Ende bereits verholzt, in der Mitte halb erhärtet, dem Splinte
ähnlich und zu gleicher Zeit an der Spitze noch in der Entstehung begriffen
gewesen sei. Mohl (Vermischte Schriften p. 181.) zweifelt an der Richtig-
keit dieser Angaben (!), indem erstens zufolge seiner Beobachtungen das
Holzbündel einer Palme, dessen unterer Theil verholzt ist, nicht zu einem
Blattrudimente, wie er sich ausdrückt, sondern zu einem in der Entwicke-
lung schon vorgeschrittenen Blatte sich erstrecke: zweitens die Bildung der
Gefäfse neuer Wurzeln und der sich entwickelnden Knospen deutlich zeige
dafs dieselbe in beiden Fällen in den neuen Organen beginne und sich dann
über die Holzmasse des Stammes verbreite. Nach diesen Thatsachen und in
(') Ich vermuthe, dafs diese Angaben Mirbel’s zum Theil darin ihren Grund ha-
ben, dafs er nicht die Gipfelknospe des Stammes frisch untersuchte, sondern erst nach-
dem die Palme längere Zeit umgehauen und vielleicht der ausgewachsenen Blätter be-
raubt, gelegen hatte. Mirbel sagt nämlich, er habe die Stammspitze, die er Phyllophor
nennt, abgeplattet und in der Mitte concav vertieft gefunden; es palst diese Beschreibung
nicht auf die Gipfelknospe einer gesunden, regelmälsig ernährten, im kräftigen Wachs-
thume begriffenen Palme, wo dieselbe nicht concav, sondern eonvex geformt ist, wohl aber
auf solche Stämme die längere Zeit wuchsen, nachdem ihnen die Blätter abgeschnitten
waren oder bei denen der Zuflufs des Nahrungssaftes durch die Wurzeln gehemmt war. —
96 H. Karsten:
Folge einer Erscheinung die sich an Überwallungen eines verwundeten Stam-
mes der Yucca zeigte „ist es wohl gerechtfertigt”, sagt Mohl Vermischte
Schriften p.183, „wenn ich die Angabe Mirbels, dafs die Gefäfsbündel der
Palmen von unten nach oben wachsen, für eine mit den Erscheinungen des
Wachsthums der Monocotylen im Widerspruch stehende Meinung erkläre
und es im Gegentheil für wahrscheinlich erachte, dafs der untere Theil die-
ser Gefäfsbündel sich in der Richtung von oben nach unten entwickele”. —
Ich gestehe, dafs ich über Mohls eigentliche Meinung, trotz dieser Er-
klärung, nicht zur Gewifsheit gekommen bin, da er hier offenbar gegen Mir-
bel ein Abwärtswachsen der Faserbündel vertheidigt, obgleich er einige Sei-
ten früher (p. 176) gegen Moldenhawers Beobachtung behauptet man finde
nie eben in der Bildung begriffene Fasern unter der Rinde, wodurch er die
Ansicht des Abwärtswachsens der Holzbündel der obern Blätter bis in die
Wurzeln beseitigen will. Diese letztere Angabe kann ich durchaus nur be-
stätigen, wodurch ich denn zugleich die erstere verneine, auch ich fand nie
ein Abwärtswachsen der in dem Stamme befindlichen Holzbündel des Blat-
tes; ich kann Mirbel nur beistimmen wenn er angiebt dafs die Entwickelung
der Gewebe in dem cambialen Holzbündel von unten nach oben fortschreite,
doch mufs auch ich mich gegen die Beobachtung erklären dafs die Verhol-
zung der Gewebe, dieser ersten Bildung derselben von unten nach oben
gleichmäfsig folge; ich werde im Gegentheil weiter unten bei der Darstellung
der Entwickelung der Gewebe zeigen, dafs dieselbe in grade entgegengesetz-
ter Richtung stattfindet.
Man hat in dem Entwickelungsgange des Palmenholzbündels mehrere
Abschnitte zu unterscheiden die mehr oder weniger unabhängig von einander
vor sich gehen. Zuerst die Sonderung des Cambiums der Gipfelknospe in
Parenchym und in cambiale Holzbündel, diese findet an der untern Seite der
Kuppe des cambialen Kegelmantels statt und sobald sie eingetreten ist findet
man die zarten gallertartigen Streifen des Cambiums in fast wagerechter Lage
von dem Umkreise nach der Mitte der Knospe hin sich erstreckend. Hier
endet es in der Cambium-Spitze unterhalb einer nach Aufsen auswachsenden
Blattanlage, dort hängt es mit der Verlängerung des senkrechten, Mark und
Rinde trennenden Holzeylinders zusammen. Da diese cambiale Verlänge-
rung des Holzeylinders bei den Palmen nicht gänzlich verholzt, sondern zum
Theil in Parenchymzellen umgeändert wird, so kann man später, nach die-
die V egetationsorgane der Palmen. 97
sertheilweisen Umbildungdes Cambium in Parenchym dieursprüngliche Anlage
des Holzbündels sich fortsetzen sehen und zwar der Parenchymbildung ent-
sprechend entweder einzeln oder andere benachbarte Bündel unmittelbar
berührend. Die auf diese Weise hervorgebrachte Isolirung der unteren En-
den der Holzbündel kann man wohl nicht als Abwärtswachsen bezeichnen
und dadurch dem wirklichen Fortwachsen des obern Endes in eine andere
Gegend des Stammes durch Zellenanlagerung aus dem Cambium der Stamm-
spitze gleichstellen: da dieselbe nur die Folge einer Parenchymbildung ist,
die in denjenigen Holzeylindern nicht vorkommt, von denen, für die gedräng-
ter stehenden Blätter, 'zahlreichere Holzbündel abgehen. —
Nach dieser Sonderung des Cambium-Bündels und des Parenchyms
tritt erst in demselben die Sonderung in die einzelnen Gewebe ein, die ich
die Bildung derselben nennen möchte, im Gegensatz zu dem folgenden Pro-
zefs, der, wegen der gleichzeitig stattfindenden Vergröfserung, vielleicht
Wachsthum zu nennen wäre, wenn man nicht, wegen der Unbestimmtheit
dieses Begriffes, vorzieht diesen Vorgang als Entfaltung der Gewebe zu be-
zeichnen, denn auch die zuletzt eintretende Erscheinung der Verholzung
der Gewebe ist meiner Überzeugung nach eine fortgesetzte Assimilations -
oder Wachsthums-Erscheinung der Zellmembran. —
Eine andere Meinungsverschiedenheit findet sich bei den Schriftstel-
lern über den Bau der Palmen wegen der sogenannten Verästelungen der
Holzbündel. |
Nach Lestiboudois (Etüdes sur Tanatomie et la physiologie des ve-
gelaux 1840) bildet sich nur ein Theil der in die Blätter eintretenden Bün-
del im Umkreise des Stammes, ein anderer Theil nimmt von den in dem
Mark und der harten holzigen Schicht verlaufenden gröfsern Bündeln seinen
Anfang; so wie auch die dünnen Bündel der äufseren Schicht, theils aus der
zelligen Rinde, theils als Verästelungen der grofsen Fasern entstehen, welche
Verästelungen und Anastomosen zugleich ein zusammenhängendes Fasernetz
bilden sollen. Aus allen diesen Erscheinungen zieht Lestiboudois den
Schlufs, dafs alle Holzbündel dazu bestimmt seien neue Bündel zu erzeugen.
Mirbel sah ähnliche Verästelungen von grofsen Gefäfsbündeln auch im
Mittelpunkte des Markes der Dattelpalme, sie sollen aus dem unteren Stamm-
theile von dem Umfange desselben sich zur Mitte begeben, hier eine Strecke
mit einander verlaufen, ein centrales Bündel bildend, und dann nach der
Phys. Kl. 1847. N
98 H. Karster:
entgegengesetzten Seite der Oberfläche in das Blatt eintreten indem gleich-
zeitig ein Ast oder selten zwei bis drei Aste abgeschickt werden.
Mohl spricht sich gegen beide Angaben aus, er hält die Angabe des
Lestiboudois über die Verästelung der Holzbündel bei den Palmen mehr für
eine Annahme, aus der Analogie des Palmenstammes mit den anderen Mo-
nocotylen abgeleitet, und zweifelt an der Allgemeinheit und Häufigkeit dieser
Verästelungeu, wenn er sie auch ausnahmsweise zugiebt. Mohl selbst fand
an einzelnen Stämmen aus der Abtheilung der cocosartigen Palmen im Marke
kleine Bastbündel, deren unteres Ende er nicht verfolgen konnte, von denen
er es für möglich hält, dafs sie sich von den gröfseren Bündeln getrennt ha-
ben; doch sei das Vorkommen dieser Bündel als ein ungewöhnliches, als eine
Anomalie im Palmenstamme zu betrachten. Ebenso liegen die untern dün-
nen Enden der Holzbündel in der Peripherie des Stammes entweder verein-
zelt im Zellgewebe oder, was seltener stattfindet, sie sind mit einigen benach-
barten zu einer Faser verschmolzen. Die im Mittelpunkte des Markes statt-
findende Vereinigung verschiedener Holzbündel zu einem einzigen grofsen
leugnet Mohl gänzlich. —
Diese Ansichten Mohls theile ich im Allgemeinen, auch ich glaube,
dafs die Verästelungen der Holzbündel von einer seltener eintretenden Bedin-
gung in der’Ernährung der Gewebe des Palmenstammes abhängt, obgleich
ich bei verschiedenen Palmen dieselbe im Mark und in der Nähe des Holz-
eylinders beobachtete. In dem Stamme der Iriartea praemorsa Kl. und der
Oenocarpus utilis Kl. sah ich zuweilen, dafs sich von einem in ein Blatt ver-
laufenden Holzbündel von der centralen Seite ein Theil trennte und als ein
mit den verschiedenen Geweben ausgerüstetes Bündel zu einem höher am
Stamme stehenden Blatte sich wendete. Bei der Martinezia aculeata K1.
schien es mir häufiger vorzukommen, auch fand ich hier sehr zahlreich die
kleinen Bastbündel im Marke die Mohl von dem Lepidocaryum beschreibt
von denen ich gleichfalls glaubte Verbindungen mit vollständigen Holzbün-
deln gesehen zu haben, ohne mich indessen in anderen Fällen mit Bestimmt-
heit von deren Vorhandensein überzeugen zu können. Am zahlreichsten
fand ich diese Verhältnifse in der kleinen stacheligen Palme, die in den war-
men, zuweilen überschwemmten Thälern des Tuy- und Aragua-Flusses vor-
kommt, dem Fruchtbaue zufolge eine Bactris, von den Einwohnern Piritu ge-
nannt, im Wuchse der Bactris fissifrons ähnlich. —
die V egetationsorgane der Palmen. 99
Über das Verhältnifs der untern Enden der Holzbündel habe ich mich
schon ausgesprochen, ich halte es für einfacher, von dem cambialen Zustande
des Holzcylinders auszugehen und finde, dafs im ganzen Umkreise dessel-
ben sich einzelne Bündel für ein Blatt trennen, oberhalb dieser Trennungs-
stellen, und häufig auch seitwärts, bildetsich das Cambium in Parenchymzellen
um, (nur in einem trocknen Stammabschnitte, der sich in der Sammlung
meines Freundes Münter als Dattelpalme befindet, sah ich auch diese Theile
des Holzeylinders in Bastzellen umgeändert) oder was nicht selten, es erhält
sich das seitlich angrenzende Cambium in dieser und der zunächst aus ihm
hervorgehenden Form des Bastes, in welchem erst in den höheren Theilen des
Stammes sich wieder Spiralen anfinden und dadurch erkennen lassen, dafs
jetzt auch dieser Abschnitt des Holzeylinders bestimmt ist, sich aus dem Zu-
sammenhange zu trennen,
Von der Kräftigkeit der Blattentwickelung hängt es ab, wie viel Bündel-
kreise sich von dem Cylinder trennen und von Ernährungsverhältnissen, die
noch näher zu erforschen sind, halte ich es abhängig ob eine stärkere oder ge-
ringere Parenchymbildung zu Stande kommt, die sowobl in dem das Mark und
die Rinde trennenden Oylinder eine Verbindung dieser beiden Gewebe, in Art
der Markstrahlen, veranlafst, wie auch in der Mittellinie der cambialen Spitze
eine Trennung des als einfach von dem Umkreise des Stammes kommenden
Bündels, wodurch dieses in zwei gespalten sich weiter aus dem Cambium ver-
längert, zu einem oder auch zwei verschiedenen Blättern verlaufend. —
So finden wir, dafs sich alle im Stamme befindlichen Holzbündel in
die Blätter begeben. Dem Erscheinen neuer Spiralen in dem Holzeylinder,
und der Trennung, der um sie gebildeten Holzbündel, von diesem Oylinder-
mantel entsprechend, verlassen andere in unteren Abschnitten des Stammes
gebildete Bündel das Mark, das sie durchkreuzten, um mit dem von der Ober-
fläche des Stammes sich entfernenden Blatte in einem der Wechselwirkung
mit der Atmosphäre zugänglicheren Gewebe sich ausbreiten.
Unbegrenzt in dem Urbilde der Gattung erhebt sich so der aufwärts-
strebende Stamm, in immerdauernder Wiederholung desselben Vorganges,
von der ihn ernährenden Erde; den blättertragenden Wipfel, oft über die
Wolken hinaus, den ungetrübten Strahlen der alles belebenden Sonne nä-
hernd: auf das Gemüth seines empfindenden Mitgeschöpfes, durch die edle
Einfachheit seiner grofsartigen Formenverhältnifse den Eindruck des Er-
N2
100 H. Karsten:
habenen hervorrufend, während der neben und unter ihm blühende Laub-
wald durch die Anmuth und Lieblichkeit seiner mannigfaltigen Gestalten die
Sinne des denkend Sehenden erfreut und ihn zum Genufse des Dargereichten
auffordert.
Doch auch an dem vollendeten Baue der Palme äufsert sich endlich
die Abhängigkeit von dem Boden dem sie entwuchs, die durch die zahlreich
gebildeten Wurzeln aufgenommenen Nahrungsstoffe erreichen nicht mehr die
von reineren Lüften umspielte Krone, immer kleiner werden die Blätter, im-
mer spärlicher deren Bildung, bis endlich, bei gehemmtem Saftzufluls, ein
Übermaafs der durch sie aufgenommenen luftförmigen Stoffe das Gleichge-
wicht der Bildung und des Wachsthums stört und erstere gänzlich unter-
drückt. —
Eine Ausnahme macht vielleicht Elais melanococcus (Martius palmae
brasilienses) deren niederliegender Stamm aus der die Erdoberfläche berüh-
renden Seite zahllose Wurzeln hervortreibt, doch beobachtete Martius nur
kleinere 12 Fuls lange Stämme: es bleibt noch zu ermitteln ob der Stamm
dieser Palme durch ein noch nicht bekanntes Verhältnifs seines Baues an fer-
neres Wachsthum verhindert wird oder ob ältere Stämme eine gröfsere Länge
erhalten. —
Entwickelung der Gewebe des Palmenstammes.
Alle Gewebe der ausgewachsenen Pflanze sind durch die Umbildung
eines gleichförmigen, trüben, schwierig in seinen einzelnen Theilen zu erken-
nenden Zellenkörpers hervorgegang
gang
stufen des Keimlings und die durch fortgesetzte, gleichartige Zellenbildung
en, wie ihn uns die ersten Entwickelungs-
in einzelnen Theilen desselben fortbestehenden, sogenannten cambialen Ge-
webe zeigen. Die älteren Anatomen sahen in diesem Cambium einen gallert-
artigen oder schleimigen oder flüssigen Körper mit eingebetteten Zellen oder
Blasenräume oder schaumartigen Höhlungen. Die Häute der später sich aus
diesem Gewebe hervorbildenden Zellen dachte man sich durch Verdichtung
des Schleimes an der Oberfläche jener hohlen Räume, über deren Entstehen
keine bestimmte Ansicht aufgestellt wurde, da man dasselbe von Zufälligkei-
ten abhängig hielt. Nachdem Robert Brown auf ein in den Zellen vieler
Gewebe regelmäfsig vorkommendes Körperchen, das er den Kern der Zelle
nannte, aufmerksam gemacht hatte, benutzte Schleiden diesen Zellkern für
die V egelationsorgane der Palmen. 101
eine Theorie der Zellenbildung, die er in „Müller’s Archiv 1838” veröffent-
lichte. Er stellte dort die Ansicht auf, dafs der Pflanzenschleim, der sich an
einem Orte befinde, wo die Bildung von Zellen vor sich gehe, auf diesen
Zellkern, der vorher durch Verdichtung des Schleimes entstanden sei, nie-
dergeschlagen, verhärtet und darauf durch Diffusion des dichten schleimig-
körnigen Zellkernes und der von Aufsen hinzutretenden dünneren Flüssig-
keit ausgedehnt werde.
Im Jahre 1843 zeigte ich durch vielfältige Entwickelungsgeschichten
der, die thierischen und pflanzlichen Gewebe zusammensetzenden Zellen, in
einer kleinen Schrift: „de cella vitali”, dafs diese Ansicht Schleiden’s nicht
in der Natur begründet sei, da der vonRobert Brown entdeckte „ nucleus
of the cell” nicht früher wie die Zelle, in der er sich befindet, auftrete, son-
dern erst später in derselben entstehe, dafs er selbst eine Zelle sei, die oft
noch jüngere Generationen, die Kernkörperchen, enthalte, die entweder in
einer Flüssigkeit schwimmend oder in einem festen Stoffe eingebettet sich
befänden. In Folge aller meiner Beobachtungen, die ich zum Theil dort
durch Zeichnungen veranschaulicht mittheilte, stellte ich als allgemeines Ge-
setz für die Bildung organischer Gewebe hin, dafs dieselben durch die Ver-
einigung von anfangs freien, unmittelbar aus dem flüssigen Inhalte einer vor-
handenen Mutterzelle entstandenen, uns in ihrem jüngsten Zustande als Körn-
chen erscheinenden Bläschen oder Zellen entständen, dafs jede dieser Gewe-
bezellen aus einer Reihe in einander befindlicher Zellen von denen die äu-
[serste die älteste, die. innerste die jüngte sei, beständen, die jede in ihrer
Weise zum Bestehen und zur Ernährung des Ganzen thätig seien. Die äu-
fserste Haut, die Mutterzelle des ganzen Systemes, war bisher von den Ana-
tomen für die einzig dasselbe darstellende gehalten worden, die während des
Austrocknens des flüssigen Inhaltes sich durch das Ankleben des Rückstandes
dieses Inhaltes verdicke. Man hatte hiebei übersehen, dafs jene Mutterzelle,
von der anfangs dünnen Haut einer zweiten Zelle ausgekleidet wird, die im
Innern desselben entstand und mehr oder weniger bald die Gröfse der Mut-
terzellen erreichte. Erst in der Höhlung dieser Zelle befindet sich der so-
genannte Zellkern als drittes Glied des endogenen Zellensystemes, eine Zelle,
die in einigen Geweben nicht die vollkommene Entwickelung der sie umhül-
lenden erreicht und dann nicht selten und in den in der Vermehrung begrif-
fenen Geweben immer ein viertes Glied, die sogenannten Kernkörperchen,
102 H. Kansten:
gleichfalls Bläschen einschliefsend, die oft von einem undurchsichtigen kör-
nigen Stoffe umgeben sind. Jenem zweiten Gliede dieses Zellensystemes, der
Tochterzelle, sprach ich damals die gröfste Wichtigkeit für die Ernährung
des ganzen Organismus zu; in ihm bilden sich entweder als Inhalt beson-
derer Bläschen, die Absonderungsstoffe, die während späterer Entwickelungs-
zustände wieder verbraucht werden, oder die Zellhaut selbst vermehrt ihre
Masse, sie nimmt an Ausdehnung und Dicke zu, während jene Bläschen,
scheinbar selbst unthätig, ihr anhängen, an den Berührungsstellen deren Ver-
dickung verhindern und dadurch das durchlöcherte Ansehen derselben her-
vorrufen.
In dem folgenden Jahre erschienen drei Arbeiten über diesen Gegen-
stand. Unger (Über merismatische Zellenbildung bei der Entwickelung
des Pollens 1844) gab eine durch Einfachheit ansprechende, doch mit meinen
Beobachtungen nicht übereinstimmende Lehre, von der Entstehung der Zel-
len. Nach ihm bilden sich nur die Sporen- und Pollen-Zellen frei im In-
nern einer Mutterzelle, wie Schleiden es angab, aus der in dieser enthal-
tenen Gallerte und schleimigen Flüssigkeit, durch Niederschlag auf einen
Kern; die verschiedenen Gewebe des ganzen, aus dieser Zelle sich hervor-
bildende Organismus entstehen, wie Mohl es früher (1) (Tübingen 1835,
(') Auch in den vermischten Schriften botanischen Inhaltes 1846 trägt Mohl noch
diese Ansicht der Zellenvermehrung des Gewebes der Conferoa glomerata vor, der zu fol-
gen ich jedoch auch jetzt noch anstehe, nachdem ich mich seit der ersten Bekanntschaft
mit diesem Gegenstande vielfältig mit demselben beschäftigte. Durch die anhaltendste
Beobachtung der verschiedensten Entwickelungszustände dieser Pflanze überzeugte ich mich,
dafs das in der Tochterzelle enthaltene Chlorophyll nicht unmittelbar von dieser, sondern
von einer Anzahl von Zellen dritten Grades umhüllt wird. In gewissen, wie es scheint
krankhaften, Zuständen der Conferva glomerata schwindet das Chlorophyll bis auf eine ge-
ringe Menge, während jene Zellen dritten Grades so verdickte Häute erhalten, dafs man
sie ohne Schwierigkeit erkennt: ein solcher Faden hat dann das bekannte Ansehen eines
Gummi- oder Saft-Gefälses einer höheren Pflanze, der durch eine später in ihm entstan-
dene Zellenvegetation angefüllt wurde. Oft sind diese in der Tochterzelle enthaltenen
Zellen so zartwandig, dals sie nach dem Zerreilsen des Fadens bei der Berührung mit dem
Wasser zerstört werden. Ist es nun nicht sehr wahrscheinlich, dafs diese dünnen Zell-
häute durch das Chlorophyll und den übrigen undurchsichtigen Inhalt verdeckt wurden und
erst dann zur Erscheinung traten, wenn sie nach beendeter Ausdehnung sich zu verdicken
anfangen? Auch Kützing, der Neifsigste Beobachter dieser Klasse von Pflanzen ist meiner
Meinung, indem er (phycologia germanica 1845 p. 25) sich dafür erklärt, dals die Theilung
der Zellen durch Bildung von Scheidewänden wahrscheinlich durch das Auftreten neuer
die V egetationsorgane der Palmen. 103
Über die Vermehrung der Pflanzenzellen durch Theilung) von der Conferva
glomerata behauptete, durch fortgesetzte Theilung dieser Urzelle, vermit-
telst hineinwachsender Scheidewände, von dem äufseren Umkreise. Die so
entstandenen Zellen bestehen aus einer einfachen Haut und den darauf aus
dem flüssigen Inhalte abgelagerten Schichten.
Zu derselben Zeit theilte auch Hartig (das Leben der Pflanzenzelle
1844) seine Beobachtungen über die Entstehung, die Vermehrung, Ausbil-
dung und Auflösuug der Pflanzenzellen mit, wodurch er seine, im Jahre 1843
ausgesprochene Ansicht über diesen Gegenstand erweitert. Nach ihm ent-
stehen alle Zellen innerhalb eines Zwischenraumes der äufseren und inneren
Oberfläche einer Zellhaut, Ptychode, die durch Spaltung getrennt ist, als
kleine, vollkommene, wasserklare Bläschen. Einige dieser Bläschen, Epi-
gonzellen, wachsen aus und treten zu einem Gewebe zusammen, nachdem
um sie sich eine zweite Haut der Flüssigkeit, worin sie entstanden, nieder-
schlug, die Asthate. Zwischen diesen Asthaten der benachbarten Zellen bil-
den sich endlich eine sie verbindende Substanz, die Eustathe.
Hartig hat sich durch diese Darstellung das Verdienst erworben dem
Naturforscher ein warnendes Beispiel zu geben, wie sehr er sich verirren
mufs, wenn er ohne Entwickelungsgeschichte und vergleichende Beobach-
tungen auf eine oder wenige Erscheinungen Theorien und ganze Systeme
aufbaut. — So weit ich ihm folgen kann ist Hartigs Ptychode die später sich
spalten soll, die Tochterzelle, die Astathe die Mutterzelle des ganzen Sy-
stems und die Eustathe ist verdichtete Zwischenzellsubstanz.
Dieser von Hartig gegebenen Entwickelungsgeschichte der Zelle folgte
Mohl zum Theil (Botanische Zeitung 1844 im 15‘ Stück) insofern er an-
nahm, dafs die Ptychode (nach seiner Beschreibung unverkennbar die von
mir nachgewiesene Tochterzelle) die zuerst entstandene des ganzen Systemes
Zellen bewirkt werde. — Bei anderen Gattungen, wo in der Tochterzelle nicht Quer-
scheidewände, sondern Längenscheidewände durch die Entwickelung dieser Zellen dritten
Grades entstehen, ist es noch deutlicher zu sehen, dafs nicht etwa eine Einschnürung
oder eine Ablagerung von Zellstoff? auf Schleimmassen etc. die Bildung derselben ver-
anlasse; sehr bald wird man sich davon bei der Polysiphonia z. B. überzeugen, von wel-
cher Gattung ich die P. szrieta in der Entwickelung, gemeinschaftlich mit meinem Freunde
C. Jessen untersuchte, der mit einer gründlichen Bearbeitung dieser Familie sich beschäf-
tigt. —
104 H. Karsten:
sei, weshalb er sie Primordialschlauch nennt. Mit Schleiden nimmt Mohl
an, dafs sich dieser Primordialschlauch um einen Zellkern niederschlage; in
dem in der Vermehrung begriffenen Gewebe sollen sich mehrere derselben
bilden und dadurch eine äufsere sie einhüllende Zellhaut bekommen, dafs
sich die Mutterzelle ringförmig einschnürt oder von ihr ausgehend eine ein-
fache Scheidewand in den Zellraum hineinwächst, die sich später spaltet, für
jeden der Primordialschläuche auf diese Weise eine eigne Hülle gebend.
Der Primordialschlauch soll später aufgesogen werden und dann sich die
Niederschläge auf die durch Abschnürung entstandenen Zellen sammeln.
Nach Mohl und Unger besteht also der ausgewachsene Organismus
aus der vergröfserten und durch vielfach wiederholte Abschnürung und Schei-
dewandbildung in viele Höhlungen getheilten Mutterzelle (Pollenzelle Un-
ger — Embryonalsack Mohl) in welchen Höhlungen sich Niederschläge aus
dem flüssigen Inhalte auf die Zellhaut bilden.
So abweichend nun auch diese Angaben der verschiedenen Beobach-
ter über die Bildungweise der Zelle sind, so kommen alle doch darin überein,
dafs in jenem mit trüber, körniger Flüssigkeit erfüllten Gewebe besonders
die Vermehrung der Zellen stattfindet. Schleiden läfst sie um Schleimku-
geln im Innern von Mutterzellen sich niederschlagen, Mohl und Unger
durch Abschnürungen und Scheidewandbildungen eine vorhandene Zelle sich
theilen, Hartig in dem durch Spaltung einer Zellhaut entstandenen Zwi-
schenraum frei als Bläschen entstehen, während ich früher behauptet hatte,
die Entstehung dieser kleinen Bläschen, die uns mit den jetzigen Hülfsmitteln
anfangs als kleine Körnchen erscheinen, finde in der Höhlung einer der Zel-
len selbst, des in einandergeschachtelten Systemes statt(!). Ob esimmer die
dritte Zelle, Robert Brown’s Zellkern, sei, in der die vermehrte Zellenbil-
dung vor sich gehe, liefs ich damals unentschieden und bin auch jetzt für
das Cambium noch nicht zu einer Überzeugung gekommen, da der Beobach-
tung dieses von äufserst zarten, durchsichtigen Häuten gebildeten Gewebes,
das mit einer trüben, undurchsichtigen Flüssigkeit angefüllt ist, sich so gro-
fse Schwierigkeiten entgegenstellen. Die Erscheinungen, die das, den Zu-
(') Naegeli giebt zu viele verschiedenartige Entstehungsweisen der Zelle an, als dafs
es sich in Kürze hier wiedergeben liefse, delshalb verweise ich auf seine Zeitschrift für
wissenschaftliche Botanik 1844 - 1847.
die V egetationsorgane der Palmen. 105
‘stand des zellenvermehrenden Gewebes, des Cambium, verlassende Paren-
chym zeigt, lassen vermuthen, dafs es auch hier die dritte Zelle ist, in der
die folgende Generation in vermehrter Anzahl gebildet wird. Von der che-
mischen Zusammensetzung, der dem Gewebe zugeführten Nahrungsflüssig-
keit scheint es abhängig, ob die Häute der Zellen oder deren Inhalt an Masse
zunehmen: eine Ammoniak enthaltende Flüssigkeit vermehrt die Dichtigkeit
und Undurchsichtigkeit des Zellsaftes, so wie die Anzahl der in ihm schwim-
menden Körnchen und Bläschen, während in einem Cambium, das in einer
an Kohlensäure reichen Luft wuchs, sich die Zellenhäute verdickten und
vergröfserten und der flüssige Inhalt klar und durchsichtig wurde; es schien
aus dem Zustande des Cambiums in den eines parenchymatischen Gewebes
übergegangen zu sein. |
In der Gipfelknospe des Stammes, so wie in dem Cambium, das zwi-
schen dem Ende des eigentlichen Gewebes der Wurzel und der Wurzel-
mütze sich befindet, sondern sich die äufseren Schichten desselben theilweise
als Parenchym ab, d.h. als ein Gewebe, dessen Zellen aufgehört haben ei-
nen Saft zu enthalten, der geeignet ist zur Bildung neuer Generationen von
Zellensystemen Veranlassung zu geben; dessen dritte (innere) Zellen viel-
mehr in ihrer ferneren Entwickelung gehemmt sind, während neben diesen
aus dem Zellsafte sich andere Bläschen bilden, deren Inhalt Stoffe sind, die
später zur Ernährung der Pflanze verbraucht werden.
Es ist nun die Frage zu beantworten: sind es die Zellen, die unmittel-
bar das Cambium zusammensetzten, die bei dieser veränderten Ernährung das
Parenchym des Markes und der Rinde bilden, die unter anderen Verhältnissen
fortgefahren haben würden durch endogene Zellenbildung zur Vermehrung
des Gewebes beizutragen: oder sind es die in den Cambiumzellen enthaltenen
Anfänge einer jüngeren Generation, die zu dem in anderer Weise thätigen
Gewebe des Markes auswuchsen, denen schon bei ihrer ersten Bildung durch
den Ort und die Verhältnisse ihres Entstehens es versagt war zu einer ferneren
Zellenvermehrung Veranlassung zu geben. Ich entscheide mich aus folgen-
den Gründen für den zweiten Fall: In dem eigentlichen Cambium finden wir
immer mehrere sogenannte Kernkörperchen d.h. Anfänge neuer Generatio-
nen von Zellensystemen, die zur Vermehrung der Zellen, zur Vergröfserung
des Gewebes bestimmt sind; in denjenigen Zellen, die an der Grenze des
Cambiums in der Umbildung zu Parenchym begriffen sind, so wie in diesem
Phys. Kl. 1847. )
106 H. Karsten:
Gewebe selbst, finden wir regelmäfsig nur ein Kernkörperchen in den unent-
wickelten dritten Zellen, es ist in diesem Zustande nicht zur Vergröfserung
des Gewebes durch Zellenvermehrung fähig, woraus folgt, dafs in der regelmä-
fsig ernährten, gesunden Pflanze die in der Mitte des Cambiums befindlichen
Zellen nicht den Parenchymzellen gleichwerthig sind, nicht unmittelbar diese
geben können, da jene durch ihren Inhalt zur Zellenvermehrung bestimmt
sind, während die Parenchymzellen vielmehr regelmäfsig nur fähig sind Ab-
sonderungsstoffe hervorzubringen. — Ferner sieht man an krankhaft ernähr-
ten Pflanzen und zwar zuerst an solchen, denen stickstoffhaltige Nahrung
mangelte, während Kohlensäure im Überschusse vorhanden war, dafs nicht
die Mutterzellen des eigentlichen Cambiums selbst Stärke und die übrigen
Absonderungsstoffe in sich entstehen lassen, sondern die in ihnen gebildeten
Zellengenerationen sich auf diese Weise entwickeln, während der flüssige,
schleimige Inhalt verbraucht und eine fernere Bildung von Cambiumzellen
unterdrückt wird, ja selbst gänzlich verhindert werden kann, wenn diese wi-
dernatürliche Ernährung lange genug fortgesetzt wird, wodurch dem Wachs-
thume und Leben der Pflanze ein Ziel gesetzt ist(!). Dann zweitens an sol-
chen Pflanzen, denen ein Überschufs von Stickstoff enthaltender Nahrungs-
flüssigkeit zugeführt wurde, während Kohlensäure mangelte, dafs auch hier
die Zellen der Oberfläche des Cambiums aufhören zur Zellenvermehrung
beizutragen zu Stärke enthaltenden Markzellen werden, während im Mittel-
punkte des Cambium-Gewebes eine lebhafte Zellenbildung stattfindet. —
Aus allen diesen Erscheinungen scheint mir hervorzugehen, dafs die
Haut einer Cambiumzelle und der damit in Wechselwirkung stehende Inhalt
derselben hinsichts der physikalischen und chemischen Beschaffenheit verschie-
den ist, von einer jungen Parenchymzelle, dafs eine eigentliche Cambiumzelle
nicht zur Parenchymzelle werden kann: wohl aber, dals die Erzeugung von
Parenchymzellen in den Cambiumzellen beschleunigt, die Bildung neuer
5
Cambiumzellen unterdrückt werden kann durch eine Veränderung der che-
(') Ich stellte mehrere Gipfelknospen verschiedener Palmenstämme, von denen die
ausgewachsenen Blätter entfernt waren, in Kohlensäure, die rasch in Menge aufgesogen
wurde; nach mehreren Tagen war das Markgewebe gröfser und mehr in die Länge ge-
streckt und enthielt bedeutend weniger Stärke in demselben, wie eine gesunde Knospe.
Die Menge der Cambium-Bündel entsprach der Menge der Stärke, es schienen bei jenen
keine neuen Cambium-Bündel sich abgesondert zu haben.
die Vegetalionsorgane der Palmen. 107
mischen Beschaffenheit des zugeführten Nahrungsstoffes (1), da es nur wahr-
scheinlich ist, dafs der verschiedene Inhalt beider mit einer verschiedenen
chemischen Mischung ihrer Häute im innigen Zusammenhange steht.
Das erste Gewebe also, das sich im Stamme von dem Cambium son-
dert, ist das Parenchym; es sind bei den Palmen einzelne Zellenschichten
an der inneren und äufseren Seite derkegelförmigen Cambium-Spitze desStam-
mes, in deren Tochterzellen Stärke entsteht, während die dritte, innere Zelle
in ihrem Wachsthume zurückgehalten wird, keine gröfsere Anzahl neuer Zel-
len in ihr sich bilden, und sie selbst oft später wieder zu verschwinden scheint.
Durch diese Bildung von Parenchym, das als Mark nach innen, als Rinde
nach aussen mit den Blattanlagen sich absondert, werden einzelne Bündel
von Cambium - Zellen von dem übrigen Cambium getrennt, es sind dies die
Anlagen der künftigen Holzbündel. —
In den Parenchymzellen des Markes treten nun Stärkebläschen auf, und
zwar entstehen sie meistens zu vieren in einem zartwandigen Bläschen, das in
dem natürlich ernährten Gewebe kaum zu erkennen ist, da es hier der Stärke
eng anliegt, in den jüngsten Markzellen solcher Pflanzen, die einige Tage
in Kohlensäure wuchsen, jedoch nicht leicht übersehen werden kann, da hier
nicht nur jene Hülle weit dicker geworden ist, sondern auch so sich vergrö-
fsert hat, dafs sie von den klein gebliebenen, noch zu vieren zusammenhän-
genden Stärkebläschen weit entfernt ist. Diese Bläschen oder Mutterzellen
der Stärke sind später nicht mehr aufzufinden, die Stärkebläschen hängen dann
meistens der Haut der Tochterzelle, (der zweiten Zelle des Zellensystemes)
an, und in dem ausgewachsenen, älteren Gewebe ist auch die Stärke ver-
schwunden, während die Tochterzelle punktirt verdickt ist(?). Obzu derEnt-
(') Der Umstand, dafs die jüngste Anlage neuer Zellensysteme des Cambiums, die
sogenannten Kernkörperchen, je nach der Mischung der Nahrungsflüssigkeit zur Entstehung
von Cambium- oder Parenchymzellen Veranlassung geben können, den etwas weiter aus-
gebildeten, schon eine folgende Zelle (die Absonderungsstoffe bildende, zweite) enthaltenden,
dagegen eine bestimmte Thätigkeit vorgeschrieben ist, macht es wahrscheinlich, dafs die
chemische Zusammensetzung der äufsersten, ersten Zelle jedes Systems der verschieden-
artigen Gewebe anfangs eine gleiche, dagegen die Mischung der zweiten, die Absonde-
rungsstoffe enthaltenden Tochterzelle der verschiedenen Gewebe eine verschiedene ist.
(*) Mettenius beobachtete eine ähnliche Entstehung des Chlorophylls in kleinen
Bläschen, die im Zellsafte der Haare der Salwinia schwimmen und beschreibt diesen Vor-
gang in seinem „Beitrag zur Kenntnils der Rhizocarpeen 1846” p.51. — Auch Naegeli
02
108 H. Kasnsten:
stehung dieser nicht verdickten Stellen das Anhängen der Stärkebläschen Ver-
anlassung giebt, so wie es bei den punktirten Holzzellen durch andere Bläschen
geschieht, lasse ich unentschieden, wenn mir auch viele Erscheinungen da-
für zu sprechen scheinen. Die Form der Zellen ist in allen Palmenstämmen
die ich untersuchte eine vieleckige, wie sie dem Markparenchyme meistens zu-
kommt, die zn einem zusammenhängenden Gewebe eng vereinigt sind, nur
bei der Klopstockia werden die Zwischenzellräume so bedeutend erweitert,
dafs dasMark die Form des sogenannten lungenförmigen Parenchym’s annimmt.
Diese Zwischenzellgänge enthalten immer eine Luft die durch Ammoniak
nicht aufgesogen wird, während der in den Zellen enthaltene Saft, Kohlen-
säure aufgenommen hat, die durch stärkere Säuren ausgetrieben wird, oder
auch in älteren Geweben saftleer, mit reiner Kohlensäure gefüllt sind. Grofse
Zwischenzellräume von der Form regelmäfsiger Kanäle fand Mohl iin dem
Markgewebe beiCalamus, Astrocaryum gynacanthum und vulgare, Mauritia
vinifera und armala.
In allen Palmen ferner finden sich in dem Markparenchyme zwischen
den Holzbündeln einzelne, senkrecht übereinander stehende Zellenreihen, die
meistens mehr erweitert und länger gestreckt sind wie die benachbarten und
Bündel von Raphiden oxalsaurer Bittererde enthalten, der Saft röthet über-
dies das blaue Lackmuspapier. Mohl sagt ausdrücklich, er habe nie Raphi-
den im Palmenstamme gefunden, ich kann mir dies nur dadurch erklären
dafs dieselben in älteren, getrockneten Stämmen die er untersuchte, zerstört
werden. In dem Gewebe lebender Pflanzen findet man sie noch lange nach-
dem die Stärke des Parenchyms schon verschwunden ist. Die Höhlungen
der Zellen in denen sie enthalten sind, sind nicht durch Zerstörung der sich
berührenden Wände mit einander vereinigt, wie es in ähnlichen Organen der
Wurzeln der Fall ist, doch besitzen die benachbarten Zellen oft dünnere
Wandungen sind mit Gummi gefüllt und ragen dann zum Theil in die Höh-
lung dieser weiten Zellen hinein, wodurch letztere das Ansehen von Gum-
migefäfsen erhalten.
In der Rinde enthalten die der Oberhaut näheren Zellen Chlorophyll,
die das Mark begrenzenden Stärke. Die Häute dieser Zellen werden gleich-
sah diese Bildungsweise des Chlorophylls und der Stärke in dem Zellgewebe der Caulerpa
prolifera (Zeitschrift für wissenschaftliche Botanik 1844. I. p. 149).
die V egetationsorgane der Palmen. 109
falls punctirt verdickt nach dem Schwinden ihrer, in Bläschen enthaltenen,
Absonderungsstoffe (!), diejenigen der äufseren, früher Chlorophyll, enthal-
tenden werden dann oft braun gefärbt. Ebenso wird das zum Theil in Holz-
und Bast-Zellen umgeänderte Gewebe des Cambium-Oylinders nach der Ver-
holzung meistens braun gefärbt und diejenige Zellen desselben, die die Form
des Parenchyms annehmen, bekommen früher wie das übrige Zellgewebe
verdickte, punktirte Wandungen.
Die Zellen der Oberhaut, die sich sehr früh aus dem Cambium aus-
sondern, sind meistens mit einer hellen, durchsichtigen Flüssigkeit angefüllt.
Bald nach der Sonderung aus dem Cambium enthalten sie in der Tochter-
zelle Stärke, die zu der Zeit des Erscheinens des Chlorophylls verschwindet.
In der Oberhaut des Stammes, der Blattscheide, des Blattstieles und der un-
teren Blattoberfläche bilden sich zu dieser Zeit Spaltöffnungen. Bei der
Klopstockia sah ich, dafs in einer Tochterzelle der Epiderims aufser den
Stärkebläschen, zwei andere mit einer schleimigen Flüssigkeit angefüllte
Bläschen erschienen, die sich beide so ausdehnten, dafs sie bald fast die
Mutterzelle ausfüllten, während die Stärkebläschen jetzt deren Membran an-
hingen. Auf Zusatz von Ammoniak färbte sich der Inhalt dieser beiden Bläs-
chen schön grün, (ebenso wie später diejenigen Zellen der Rinde und des
Blattes in denen Chlorophyll gebildet wird) während der Saft der übrigen,
nur Stärke enthaltenden, etwas kleineren Oberhautzellen nicht gefärbt wurde.
Zwischen diesen beiden endogenen Zellen dritter Ordnung sammelt sich dar-
auf ein Gas, das durch Ammoniak nicht absorbirt wird, bevor die Häute
der Mutterzellen (erster und zweiter Ordnung) an dieser Stelle zerreifsen und
der Atmosphäre dann Zutritt in die Spaltöffnung gestatten. Man sieht deut-
(') Denjenigen, die sich noch immer nicht von dem Vorhandensein einer das Chloro-
phyll und die Stärke umhüllenden Zellhaut überzeugen konnten, rathe ich eine Con-
ferve in destillirtes Wasser, dem eine schwache Lösung von kohlensaurem Ammoniak zu-
gesetzt worden, zu bringen und diese so längere Zeit in ihrem Wachsthume zu beobach-
ten. Man sieht hier das Chlorophylibläschen sich um das 3-4 fache ausdehnen, während
die Farbe lichter wird und in dem Mittelpunkte ein dunkles Kernchen auftritt, das sich
nach und nach zum Bläschen ausdehnt, welches eine Flüssigkeit einschliefst, die durch Jod
gelb odes braun gefärbt wird. Nimmt man statt des destillirten Wassers Brunnenwasser
und leitet Kohlensäure hinein, so findet sich in dem endogenen Bläschen, statt des sich
mit Jod braun färbenden, ein sich blau färbender Stoff. Dasselbe findet man häufig, ohne
diese Vorbereitung, in der natürlich ernährten Pflanze.
110 H. Karsten:
lich, dafs sich die Luft von diesem Orte aus in die Zwischenzellräume des
benachbarten Gewebes verbreitet, wodurch es wahrscheinlich wird, dafs
auch an der der Oberfläche entgegengesetzten Seite die Epidermialzelle an
der Berührungsstelle der zuerst in ihrer Höhlung sich zwischen den beiden
Schleimzellen ansammelnden Luft, eine Öffnung bekam. — Auf ähnliche
Weise hat Naegeli (Linnaea Bd.16 p.237) die Entstehung der Spaltöffnun-
gen beobachtet.
Oft wachsen einzelne Zellen der Oberhaut zu Borsten aus, während
die ihnen zunächst stehenden, sich etwas vergröfsern und dem Grunde der
Borste gleichsam als Stütze dienen, die nach der Entfaltung der Gewebe ab-
fällt; ich beobachtete dieselben an der Iriartea und Oenocarpus. In anderen
Fällen verlängern sich einzelne Bündel von Zellen über die Oberhaut hinaus
zu langen, harten, sehr stechenden Stacheln, wodurch sich besonders meh-
rere Gattungen der Cocoineen auszeichnen. Bei der Martinezia aculeata Kl.
wo mehrere Kreise von Stacheln unterhalb jeder Blattstielbasis hervorkom-
men, untersuchte ich die anatomischen Verhältnisse genauer. Sie bestehen
hier aus langgestrecktem Zellgewebe und sind auf der unteren Seite von einem
Bastbündel durchzogen, dafs die Fortsetzung eines in der Rinde befindlichen
bildet. Oberhalb der Abgangsstelle der Stacheln wächst das epidermiale
Zellgewebe zu einem Kissen aus, das sich bei der Entfaltung des Blattes aus-
dehnt und die, während der Knospenlage nach oben gerichteten, dem Stamme
dicht anliegenden Stacheln zurückbiegt, so dafs dieselben später abwärts ge-
richtet sind. Eben solche Stacheln bedecken auch die Blattscheiden, die un-
tere Blattstielfläche und zuweilen auch die untere Seite der Mittelrippe der
Blätter.
Bei einigen Gattungen bedeckt ein dichter Filz von eylinderförmigen,
langen, gegliederten Haaren die Oberfläche der Pflanze. Anfangs bilden diese
Haare eine zusammenhängende Schicht, ein Gewebe, in dessen Zwischenzell-
räumen sich ein Gas ansammelt, das durch Ammoniak nicht aufgesogen wird,
während in den Zellen selbst, eine helle, klare Flüssigkeit sich befindet, die
durch Jod gelb gefärbt wird. In älteren Haaren wird dieser Zellsaft durch
Kohlensäure ersetzt. Gründlichere Untersuchungen der chemischen Vor-
gänge während des Wachsthums der Haare werden vielleicht ergeben, dafs
sie den jungen Organen des Stammes ebenso als Sammler und Überträger
der durch die Atmosphäre dargebotenen Nahrungsstoffe dienen, wie ich es
die Vegetationsorgane der Palmen. 111
weiter unten für die Zellen der Wurzelmütze, in Bezug auf das Gewebe der
Wurzel, in Anspruch nehmen werde.
Eine sehr bemerkenswerthe Veränderung erleiden die Häute der Epi-
dermialzellen des Stammes der Klopstockia insofern dieselben während des
späteren Wachsthumes so verändert werden, das der Zellstoff vollkommen in
einen wachsartigen Stoff umgeändert wird. Es ist diese Thatsache beson-
ders defshalb wichtig, weil sie einen schönen Beweis von der Nichtigkeit der
Theorie der Niederschläge aus dem Zellsaft als Verdickungsmittel der Zell-
wände liefert. Hier ist es nicht möglich, dafs Wachs als eine Ablagerung
aus dem Zellsaft auf die Zellhaut oder gar als eine Ausschwitzung auf die
Oberfläche derselben anzusehen, da die ganze Schicht der Oberhautzellen
in heifsem Alkohol löslich ist(!). Diese Bildung desselben ist allein durch das
(') Die Analyse dieser in siedendem Alkohol löslichen Zellen führte mich zu einem
ähnlichen Ergebnifse, wie Boussingault es bei der Untersuchung des von Ceroxylon
andicola Humb. et Bonpl. gesammelten Wachses erhielt. Boussingault fand diese Palme
im Quindiu-Gebirge in einer Höhe von 6800’, wo die mittlere Luftwärme 14°4 R. be-
trug (Annales de Chimie et de Physique Tom. LIX und Erdmanns Journal Bd. V. 1835).
Die Klopstockia, die mir das Wachs zur Analyse lieferte, wuchs in der Provinz Caracas
in einer Höhe von 6000’, in einer mittleren Luftwärme von 14°4 R. — Das Wachs von
Ceroxylon fand Boussingault zusammengesetzt aus einem in kaltem Alkohol sehr schwer
löslichen, in siedendem Wasser schmelzenden Wachse und einem in kalten Alkohol leich-
ter löslichen Harze, dessen Schmelzpunkt höher liegt wie die Siedehitze des Wassers.
Ganz gleich verhält sich das Wachs der Klopstockia. Das Harz scheidet sich aus dem et-
was verdunsteten Alkohol in Krystallen von blendender Weilse ab, die zum 2 und 1 glie-
drigen Systeme gehören. In dem Alkohole bleibt ein sehr bitterer Stoff gelöst, der sich
erst bei dem völligen Verdunsten abscheidet. Boussingault spricht die Vermuthung aus,
es möchte vielleicht ein Alkaloid sein. Es ist ein brauner, stickstoffhaltiger, den Chinoidin
ähnlicher Körper, der wohl nicht aus den farblosen Wachszellen, sondern aus dem, unter
denselben befindlichen, punktirt verdickten, Chorophyll enthaltenden Rindengewebe der
Palme stammt, das man bei dem Abschaben der ersteren schwierig unversehrt lassen kann.
Die Verbrennung des krystallinischen Stoffes in der von Hess und Marchand zu diesem
Zwecke angegebenen Vorrichtung ergab folgende Zusammensetzung desselben:
1. Il.
C. 81.37 81.66
daraus berechnet ?*H. 11.32 11.01
ONen.31 7.33
I Substanz = 0.2985 Gramm gab CO, = 0.2424 H,O = 0.338
II » = 0.3063 » » » =0.2499 » = 0.337
Boussingault fand folgendes Verhältnis:
I Substanz = 0.320 Gramm gab CO, = 0.960 H,O = 0.333 C. 0.831 .0.837
daraus berechnet In 0.115 0.115
u » =0334 » >” 9 SO Es 0. 0.054 0.048
112 H. Karsten:
der Zellmembran inwohnende Vermögen zu erklären aus dem Nahrungssafte,
mit dem sie getränkt ist, dasjenige zu assimiliren, mit demjenigen Theile des-
selben sich chemisch zu verbinden, der geeignet ist mit ihrer Substanz ein
ihrer Natur und ihrer Bedeutung für den Pflanzenkörper entsprechendes Pro-
duckt hervorzubringen. Eine einigermafsen genaue chemische Prüfung der
Zellmembranen der verschiedenen Gewebe mit Berücksichtigung der Entwik-
kelungsgeschichte derselben wird überall in dem organischen Körper eine sol-
che chemische Veränderung seiner Elementarbestandtheile nachweisen. Als
auffallendste Beispiele erinnere ich hier nur an die Veränderung der Häute
des Bastgewebes der Farne, Palmen u. a. m. wo zugleich mit der chemischen
Umsetzung eine Farbenänderung eintritt, oder an die Verbindungen gewisser
Zellhäute mit bestimmten erdigen Bestandtheilen, wie der Kieselerde in den
Oberhautzellen und den Bastfasern der Gräser, der Kalkerde in der Zellmem-
bran vieler Wasserpflanzen z. B. der Converven, Charen, Potamogotenen ete.;
es bietet dieser Gegenstand noch ein weites, bisher fast gänzlich unbekanntes
Feld der organischen Chemie, dessen Bearbeitung dem Physiologen eine der
nächsten Aufgaben sein mufs. —
Wir sahen oben, dafs durch das Entstehen der Parenchymzellen an
bestimmten Stellen des Cambiums einzelne Bündel dieses ietzteren von der
Diese durch die Rechnung gefundenen, scheinbar von den meinigen abweichenden Zahlen
nähern sich denselben jedoch mehr, wenn man für ein Äquivalent des Kohlenstoffs, die
von Dumas angegebene Zahl 75 der Rechnung zum Grunde legt, wie ich es that.
Die Verbrennung des Wachses gab folgende Resultate:
I; AT;
I Substanz = 0.288 Gramm gab CO, = 0.2275 H,O = 0.0369 C. 73.99 78.81
daraus berechnet ?H. 12.74 12.10
II » = 0.285 » » » =02246 » = 0.0345 ©. 8.27 9.09
Boussingault fand für den von ihm abgeschiedenen Körper:
I Substanz = 0.297 Gramm gab CO, = 0.372 H,O = 0.350 C. 0.8312 0.816
daraus berechnet ?H. 0.113 0.133
II >» = 0.308 » » » =09%9 » = 0.369 0. 0.057 0.051
Diese etwas grölsere Kohlenstoffmenge der Boussingault’schen Analyse rührt vielleicht da-
her, dafs das Wachs nicht gänzlich von dem an Kohlenstoff reicheren Harze [rei war. Dem
Ergebnisse meiner Analyse zu vertrauen bin ich um so mehr berechtigt, da ich die grölsere
Sicherheit des von mir benutzten Apparates noch dadurch erhöhte, dafs ich, auf den Rath
meines Freundes W. Heintz, Kupferoxyd hinter der zu verbrennenden Substanz anbrachte
und vor der Verbrennung zum Glühen erhitzte, um eine Verpuffung der Zersetzungspro-
dukte zu verhindern. —
die V egetaiionsorgane der Palmen. 1483
Hauptmasse getrennt und durch die nach oben hin fortschreitende Umbildung
des Cambiums in Parenchym in bestimmter Richtung verlängert wurden, bis
sie endlich, mit der sich von der cambialen Spitze des Stammes entfernenden
Blattanlage zusammentreffend, in das Gewebe dieser sich hineinverlängerten.
In dieser cambialen Holzbündel-Anlage, deren unteres Ende in dem Cam-
bium-Oylinder liegt der Rinde und Mark trennt, dauert nun gleichfalls noch
die Zellenvermehrung und eine gleichzeitige Umbildung in Parenchymzellen
eine kurze Zeit fort, wodurch das diese Holzbündel umgebende Parenchym,
wie dieses cambiale Holzbündel selbst, noch nach der Trennung von dem
Cambium der Gipfelknospe an Umfang gewinnen.
Die erste Sonderung in den Zellen dieser Holzbündelanlage besteht
in der Bildung von Spiralfasern, durch Verwachsen einer senkrechten Zel-
lenreihe, der Mitte dieses Bündels nahe. Es nimmt diese echte, abrollbare
Spirale ihren Anfang von dem ersten Trennungspunkte der Holzbündelanlage,
von dem Cambium-Gylinder und schreitet von hier nach den höheren, später
von dem Cambium der Spitze getrennten Theilen desselben fort, sich in das
Blatt, gleichzeitig mit der in diesem stattfindenden Umbildung des Cambium,
von unten nach oben verlängernd. Da mit der ersten Trennung der Holz-
bündel-Anlage von dem Cambium-Cylinder in diesem noch nicht die bildende
Thätigkeit erlischt, sondern sowohl die Vermehrung der Cambium-Zellen
wie die Umbildung in Parenchym eine Zeit lang fortbesteht und zwar letzteres
nicht nur in tangentialer, sondern auch in radialer Richtung so bleibt die
ursprüngliche Trennungsstelle des Holzbündels von dem Holzeylinder nicht
das untere Ende desselben, sondern wird durch diese in dem cambialen Holz-
cylinder selbst fortdauernde Parenchymbildungnoch etwas nach unten verlän-
gert. Diese Verlängerung ist nicht als ein Abwärtswachsen des Holzbündels
anzusehen, sondern ein rein passives, allein durch die fortdauernde, theilweise
Umbildung der Zellen des Cambiumeylinders im Parenchym veranlafst, und
zwar besonders dadurch, dafs diese Umbildung auch in radialer Richtung
erfolgt, wodurch der Cambium-Cylinder in senkrechte Bündel von Paren-
chym und Cambium getrennt wird von denen Letztere die Verlängerungen
der Holzbündelanlagen bilden. Dies Parenchym, das die Rinde mit dem
Marke verbindet, und daher mit den Markstrahlen der Dieotylen verglichen
werden kann, verholzt etwas früher zu punctirt verdickten Zellen, wie diese
Phys. Kl. 1847. P
414 H. Karsten:
besitzt es häufig eine von dem Parenchym abweichende Form, den tafel-
förmigen Zellen ähnlich.
Über die Bildungsweise der ersten, sehr engen, abrollbaren Spiralen,
die aus den Cambiumzellen entstehen, kann ich keine Beobachtungen ange-
ben; sie entzieht sich bei den jetzt anwendbaren Hülfsmitteln gänzlich allen,
auch den aufmerksamsten Nachforschungen, uns bleiben nur Vermuthungen
auf die sehr ähnliche Form der Spiralzellen gestützt, die oft den Anfang der
Bildung der Spiralfasern machen, ohne wie diese vereinigt zu sein. In diesen
langsamer vor sich gehenden Bildungen hat man Gelegenheit zu sehen, dafs
sie aus einer ähnlichen Grundlage hervorgehen, wie die punctirten Zellen die
ich schon früher (de cella vitali p. 33. T. I. Fig. 2.) beschrieb und abbildete,
und die ich seitdem oft beobachtete. (Vergl. T.vıı Fig.1.).
Diesem ersten Erscheinen der Spiralen folgt nun das Entstehen ande-
rer Holzfasern in ihrer Nähe, indem zugleich’ die Bildung neuer Zellen im
Umkreise des Cambium-Bündels aufhört, wodurch der Vermehrung der
Parenchymzellen ein Ziel gesetzt ist. Diese äufseren Zellen des cambialen
Holzbündels besitzen eine spindelförmige oder eylinderische Gestalt; in den-
jenigen, die dem Parenchym zunächststehen, befinden sich häufig noch die
Anfänge einer neuen Generation, die sogenannten Zellkerne, die dann in
ihnen senkrecht übereinander liegen, und auch an älteren Holzbündeln noch
deutlich erkennen lassen, dafs an dem ganzen Umkreise desselben die Pa-
renchymbildung stattfand.
Mit der Sonderung jener spindelförmigen Zellen zugleich erscheinen
in der Mitte des Cambiumbündels eine oder zwei sehr erweiterte, verticale
Zellenreihen, die, umgeben von den trüben, undurchsichtigen, doch gleich-
falls etwas erweiterten Cambium-Zellen, sich durch ihren klaren Inhalt aus-
zeichnen: sie durchziehen das ganze Bündel, auch den unteren Theil, der keine
Spiralen besitzt; hier sind sie dann von einer geringen Schicht Cambium-Zel-
len umgeben, indem der gröfste übrige Theil des Holzbündels aus jenen spin-
delförmigen Zellen besteht. In diesem untersten den Holzeylinder bildenden
Theil des Holzbündels ist nur eine, dieser weiten Zellenreihen vorhanden,
während sich in den oberen umfangreicheren Theilen meistens zwei derselben
befinden, die dann durch eine einfache oder mehrfache Schicht von Cam-
bium-Zellen getrennt sind.
die F egelationsorgane der Palmen. 115
Zwischen diesen sehr weiten, mit einem klaren Safte erfüllten, Zellenrei-
hen und den zuerst in dem Cambium entstandenen abrollbaren Spiralen ent-
stehen nun, durch Ausdehnung der Cambiumzellen, eine gröfsere Menge von
Holzfaseranlagen, den Spiralen zunächst die zuerst auftretenden engeren,
weiter von ihnen entfernt ähnliche von gröfserem Durchmesser. Alle ent-
halten eine klare durchsichtige Flüssigkeit, in der meistens nur nach Anwen-
dung von Jod zartwandige kleine Bläschen sichtbar werden. Zuweilen findet
man indessen auch in diesen neuen Fasern des Stammes einen ähnlichen fe-
sten gallertartigen Stoff, wie er sich in den Zellen und Fasern der durch stick-
stoffreiche Flüssigkeit ernährten Wurzel fand (man vergl. w.u.), der sich im
Wasser löste und dann die Bläschen erkennen liefs die er umhüllte.
Durch diese Umänderung des Cambiums in spindelförmige Zellen an
der Oberfläche des Bündels, besonders an der der Stammoberfläche zugewen-
deten Seite desselben, so wie in Holz-Zellen und-Fasern in der Nähe der Spi-
ralfasern, ist in dem etwas weiter ausgebildeten Holzbündel das Cambium
auf eine kleine Stelle in der Mitte desselben beschränkt: es besteht hier aus
engen, dünnwandigen, cylinderförmigen Zellen, die mit einer trüben, Körn-
chen und Bläschen enthaltenden Flüssigkeit erfüllt sind die durch Jod, mit
ihrem Inhalte an festen Bestandtheilen, gelb gefärbt werden; Stärke ist weder
in diesen Zellen noch in den übrigen des Holzbündels zu irgend einer Zeit
enthalten.
In etwas älteren Holzbündeln, deren Spiralfasern mit dem oberen Ende
schon in eine Blattanlage verlängert sind, enthalten die früher spindelförmi-
gen abgerundeten, jetzt zugespitzten oder prismatischen Zellen des Umkrei-
8
ses sowohl wie die die Spiralfasern umgebenden Holzzellen eine gummiartige
Flüssigkeit die durch Ammoniak grün gefärbt wird, es sind dann die Häute
dieser Zellen meistens schon etwas stärker geworden, als Anfang einer jetzt
schon beginnenden Verdickung. Das Prosenchym erhält zuerst an der Grenze
des Parenchyms die verdickten Wandungen, und zwar vorzüglich die senk-
rechten Wände, während die wagerechten nicht verdickt werden, ja selbst häu-
fig später verschwinden wodurch eine Vereinigung der Zellen zu Fasern her-
vorgebracht wird; dann folgen die dem Mittelpunkte des Bündels näheren
Zellen, die Verdickung dieser Haut ist meistens gleichförmig, selten durch
einzelne Poren-Canäle unterbrochen. Die Verdickung der den Spiralen nahe-
stehenden Zellen zu punktirten oder treppenförmigen und ihre Vereinigung
5
P2
116 H. Karsten:
zu Holzfasern, beginnt jedoch mit den sie unmittelbar berührenden und er-
streckt sich später auch auf die der Mitte des Bündels näheren; auch hier
werden nur die senkrechten Wände, nicht die wagerecht sich berührenden
verdickt, welche letzteren später mit der vorschreitenden Zunahme der er-
steren immer undeutlicher werden und endlich ganz verschwinden, wodurch
die Höhlungen der Zellen dieser senkrechten Reihen miteinander vereinigt
werden. Die Verdickung der Häute dieser Fasern ist immer ungleichförmig,
was ich mir durch das Vorhandensein jener endogenen Bläschen (!) erkläre,
die dort wo sie der Tochterzelle anliegen die Verdickung dieser verhindern.
Die zuerstssich verdickenden, den Spiralen zunächst stehenden, erhalten dadurch
das Ansehen punktirter Fasern, (vasa porosa s. d.) die weiteren das der trep-
pen-oder leiter-förmigen. Bei den sich berührenden senkrechten Wänden
zweier benachbarten Fasern nehmen diese Bläschen immer eine einander ent-
sprechende Lage ein, so dafs an den engeren die scheinbaren Poren, bei
den weiteren die abwechselnd verdünnten und verdickten wagerechten Li-
nien zweier Fasern neben einander liegen. Dort wo die engen cylinder- oder
spindel-förmigen Zellen des Cambium die Wandungen der sehr weiten, ka-
nalartigen Fasern berühren, findet sich aufser diesen verdünnten Stellen, die
durch die im Innern der Gefäfse enthaltenen Bläschen hervorgebracht wur-
den, noch ein Netzwerk verdickter Streifen, erzeugt durch die gleichförmig
stark verdickten Winkel der verschiedenen sich hier berührenden Wände
dieser Gewebe-Zellen mit den Faserwandungen. Durch diese senkrecht oder
schräg der äufseren Wand anliegenden Streifen werden dann die langen, wa-
gerechten Verdickungslinien der Haut der Tochterzelle in zwei oder mehrere
Stücke abgetheilt.
Alle diese Erscheinungen während der Umbildung der weiten, aus
senkrechten Zellenreihen entstandenen Kanäle deuten auf eine innere Ver-
bindung und Wechselwirkung derselben mit den zunächst sie umgebenden
Zellen hin, wofür auch einige, im krankhaften Zustande des Pflanzengewebes
eintretende, Vorgänge, die ich weiter unten berühren werde, sprechen: ich
(') Meyen scheint schon denselben Vorgang beobachtet zu haben (siehe dessen Phy-
siologie III. p. 20) nur irrte er darin, dals er diese Bläschen für Kügelchen hielt, durch
deren Aneinanderfügung und Verwachsung nach bestimmten spiraligen Richtungen die Ver-
dickung der Spiralen wie die getüpfelten Fasern gebildet würden.
die V egetationsorgane der Palmen. 117
zähle dieselben daher in die Reihe von Elementarorganen, die als Gummi-und
Harz -Kanäle bekannt sind, wo gleichfalls die, eine Faser zunächst umgeben-
den Zellen von der Absonderung des in diesen enthaltenen Stoffes Theil neh-
men, zum Theil in die Höhlung derselben hinein sich ausdehnen, während
die Haut der Faser zerstört wird, oder vielleicht zerstört wird, wenigstens ist
es so schwierig, eine solche dann zu entdecken, dafs diejenigen Beobachter,
die die Entwickelungsgeschichte vernachlässigten, diese mit Gummi, Harz
oder ähnlichen Stoffen angefüllten Kanäle für Zwischenzellräume hielten.
Auch die vergleichende Anatomie spricht für die ähnliche Bedeutung dieser
in dem Palmenholzbündel vorhandenen Kanäle mit den gummiführenden,
5
worauf schon Moldenhauer hingeführt sein würde, wenn er sie nicht in
seinen sonst vortrefllichen „Beiträgen zur Anatomie der Pflanzen 1812 p-129
bis 134” irrthümlich mit den vasibus proprüs zusammengebracht hätte.
Auf jene Gummi- und Harz-Kanäle an denen die ursprüngliche Haut
der Faser durchaus nicht mehr zu erkennen ist, die in dem ausgebildeten
Zustande aus einem von Zellgewebe umschlossenen und dadurch gebildeten
Rohre zu bestehen scheinen, ist der Ausdruck Gefäfs zu beschränken, wenn
man nicht anatomisch gleichbedeutende, gleichartig gebaute Organe durch
verschiedene Bezeichnungsweisen von einander trennen will; eswird die Pflan-
zenfaser auf die gleiche Weise zu einem Gefäfse wie sich die einfache, aus einer
einfachen Zellenreihe entstandene Capillarfaser, das Capillargefäfs, des thie-
rischen Gewebes durch die spätere Entwickelung zu dem von einem Gewebe
gebildeten Gefäfse verändert.
Wenn nun auch diese weiten Kanäle des Palmenholz-Bündels physio-
logisch in die Reihe der Gummigefäfse gehören, so wäre es doch wohl sehr
unpassend aus dieser Ursache sie Gefälse zu nennen. Die Gewebelehre darf
sich nur von anatomischen Thatsachen bei der Eintheilung und Bezeichnung
ihrer Gegenstände leiten lassen; ich halte es für richtig, so lange die Haut
der ursprünglichen Faser zu erkennen ist, diese Benennung beizubehalten,
wenn wir auch finden, dafs an einem andern Orte das gleichgebildete Organ
zu einem Gefäfse wird (siehe T. VII Fig.3. 4.5.) daher diese Kanäle der Pal-
men mit netzförmig verdickten Wandungen netzförmige Fasern oder, in ihrem
jüngeren Zustande wo sie Gummi enthalten, Gummi -Fasern zu nennen. —
Während der Verholzung der Tochterzelle dieser Fasern und Zellen
des Holzbündels wird die Höhlung derselben allmählich ihres flüssigen In-
118 H. Kunstıes:
haltes entleert, der sich gegen chemische Reagentien wie ein Gummi ver-
hält, und statt dessen mit Kohlensäure angefüllt. Ähnlich wird der Bildungs-
vorgang bei der ersten eigentlichen Spirale sein; auch hier sieht man, dafs
die in der Höhlung sich befindende Flüssigkeit durch luftförmige Kohlensäure
ersetzt wird. Die Entstehung der Spiralfasern nimmt, wie gesagt, von ihrem
untern Ende ihren Anfang und setzt sich ununterbrochen durch den oberen
Theil des Stammes in das Blatt hinein fort, auch hier der fortschreitenden
Entwickelung desselben von unten nach oben folgend.
Die Umformungen der übrigen Cambium-Zellen des Holzbündels neh-
men gleichfalls bei dem untern Ende desselben ihren Anfang, sie beginnen
schon in dem Cambium-Cylinder der aus diesen unteren Enden der Holz-
bündel zusammengesetzt zu sein scheint. Sowohl die Gestaltung der spin-
delförmigen Bastzellen, wie die senkrechte Anordnung der erweiterten Zellen
zu Holzfasern beginnt hier, und setzt sich in die höheren Theile des Stammes
und Blattes fort. Man findet im Stamme und in den unteren Theilen des
Blattes die vollständig angelegten Holzbündel mit den schon fertigen Spiral-
fasern, während die oberen Theile des Blattes noch cambiales Gewebe sind.
Die Anzahl der Holzzellen nimmt beständig zu je weiter sich das Holzbündel
von dem Orte des ersten Auftretens entfernt, während die Menge der Bast-
zellen sich verringert. Die Verholzung jedoch aller dieser Gewebe in der
oben beschriebenen Weise folgt nicht gleichmäfsig der Anlage derselben; sie
beginnt erst mit der vollendeten Anlage der Gewebe des Blattes mit der be-
ginnenden Entfaltung desselben, sich von den oberen zuerst sich entfaltenden
Theilen dieses, in die unteren und in den Stamm hinein fortsetzend, so dafs
die Spitze des Blattes schon vollkommen verholzte Bündel besitzt, wenn in
der Basis desselben noch dünnwandige Fasern vorhanden sind, die sich auch
als solche in den Stamm fortsetzen. Hier im Stamme schreitet die fernere
Verdiekung der dünnwandigen Zellen nicht so ununterbrochen von dem obe-
ren mit dem Blatte zusammenhängenden Theile nach dem Holzeylinder durch
das Mark hindurch fort, sondern die der Oberfläche näheren Theile bekom-
men früher verdicktes Holz-und Bast-Gewebe wie diejenigen im Marke, es
scheint der zu dieser Umänderung nöthige Stoff ebenso durch das Rinden-
gewebe zugeführt zu werden, wie es offenbar durch die oberen mit der At-
5
mosphäre in Berührung tretenden Blatttheile geschieht.
v
die Vegetalionsorgane der Palmen. 119
Der Rest nun endlich des Cambiums, der die Mitte des Holzbündels
einnimmt, — da die Zellen desUmkreises und besonders an der nach der Rinde
gewendeten Seite in Bastzellen die der Markseite in Holz-Zellen und-Fasern
verändert wurden, — hört mit dieser veränderten Thätigkeit.des das Parenchym
begrenzenden Theiles gleichfalls auf zur Entwickelung neuer Zellen zu die-
nen. Man findet in dem zu Cylinder- oder Spindel-Zellen von verschiede-
ner Weite umgeformten Gewebe eine mit Körnchen und Bläschen angefüllte
Flüssigkeit die durch Jod gelb gefärbt wird. Die Haut der äufseren Zellen
(Mutterzellen des Systemes) ist sehr wenig verdickt, die der nächst inneren,
die Absonderungsstoffe enthaltenden Tochterzelle, ist unverändert wie es
gewöhnlich stattzufinden pflegt so lange in dem Inhalte einer Zelle der Bil-
dungsprozefs fortbesteht.
Gehen wir bei der Betrachtung der das fertige Holzbündel zusammen-
seizenden Gewebe von dem unteren, in dem Holzeylinder liegenden Ende aus,
so finden wir zuerst ein gänzlich in verdickte Prosenchymzellen umgeänder-
tes Bündel, entweder einzeln oder mit anderen, ähnlichen, einfachen Holzbün-
deln seitlich verbunden. Etwas höher hinauf findet sich in ihrer Mitte eine
Reihe erweiterter Zellen die zu einer Faser vereinigt ist; es hat diese Anord-
nung der verschiedenen Gewebe ganz das Ansehen der einzeln in dem Marke
und der Rinde der Wurzeln vorkommenden Gummigefäfse oder gefäfsartigen
Gummifasern die auch oft durch eine Schicht verdickter Bastzellen von dem
Parenchym getrennt sind und es ist gewils nicht unwahrscheinlich, dafs durch
eine ähnliche Thätigkeit in dem Gewebe beider die ähnliche oder gleiche
Form hervorgerufen werde. —
Diese in dem unteren dem Holzeylinder nahen Ende des Holzbündels
befindliche enge Gummifaser wird in dem höheren von einer gröfseren Menge
von Parenchym umgebenen Theile des Bündels weiter und fast regelmäfsig
in seiner Anzahl vermehrt; gewönlich finden sich in dem Theile des Holz-
bündels der im Marke verläuft zwei dieser weiten Fasern, die dann in die
Blattanlage sich hineinverlängern, mit deren Verholzung, die Verdickung ihrer
Wände, in dem zuerst entfalteten Theile des Blattes beginnt und mit dieser
gleichzeitig vorschreitet. Nicht selten finden sich die nebeneinander liegen-
den Enden der diese Gummifaser zusammensetzenden Zellen erhalten, be-
sonders dort wo eine einzelne Faser durch zwei fortgesetzt wird, diese Enden
1230 H. Karsten:
3
sind dann abgerundet und punktirt oder durch benachbarte Cambiumzellen
netzförmig verdickt.
In diesen verholzten netzförmigen Fasern findet sich häufig, wie dies
auch bei den nicht vorholzten Gummi-Gefäfsen oft während des regelmäfsigen
Verlaufes ihres Wachsthums sich zeigt, (in Folge einer Veränderung des Saft-
flusses), eine Vergröfserung der benachbarten Zellen, wodurch nicht selten
die ganze Höhlung desselben ausgefüllt wird. In der botanischen Zeitung
1845 p. 225 findet sich von einem Ungenannten diese schon seit Malpighi
beobachtete aber verschieden gedeutete Thatsache sehr schön erörtert. Der
Verfasser macht darauf aufmerksam, dafs die Entstehung der Bläschen be-
ständig von den Poren oder Spalten des Gefälses seinen Anfang nimmt; es
stimmt dies durchaus mit meinen Beobachtungen überein und ich zweifle
nicht, dafs die zellige Ausfüllung der Gefäfse und Fasern durch Vergröfse-
rung der benachbarten Zellen entstehe. Überdies kann aber ein zweiter Fall
eintreten und auch diesen glaube ich beobachtet zu haben, nämlich dafs
nicht nur die benachbarten Zellen sich erweitern sondern, dafs auch die in
der Faser selbst vorhandenen Bläschen, durch deren Ankleben an der Haut
der Tochterzelle die nicht verdickten Stellen entstanden, bei der in diesem
Falle krankhaft veränderten Nahrungsflüssigkeit, sich ausdehnen und zur Fül-
lung des Gefäfses beitragen. Welche chemischen Verhältnisse nothwendig
sind um das Wachsthum dieser oder jener Zellen von Neuem anzuregen kann
ich bis jetzt nicht entscheiden, es scheint mir jedoch die Vergröfserung jener
Porenbläschen auf eine noch gröfsere Selbstständigkeit und Unabhängigkeit
der Gewebe von dem Gesammtleben des Organismus hinzudeuten. Ich fand
diese Erscheinung nur dort wo durch Verletzung eines Theiles des Pflanzen-
körpers das Gewebe dem unmittelbaren Einflusse der Feuchtigkeit und Luft
ausgesetzt war, WO dann gewöhnlich nicht nur in den Fasern sondern auch in
dem Zellgewebe die Porenbläschen sich fadenartig ausgedehnt hatten und zu
den Bildungen Veranlassung gaben die Nägeli in der Linnaea 1842 p. 278 als
neue Pilzarten beschrieb und t.xı abbildete. Sowohl in dem oberirdischen
wie in dem unterirdischen Stamme der Palmen kommt diese Erscheinung
vor, die ich überdies in vielen Rhizomen der Monocotylen und dem Ge-
webe der Farne beobachtete, und die sicher in jedem Pflanzengewebe ein-
treten kann, wo sie in gewissen Fällen als Trockenfäule lange bekannt ist.
die V egetationsorgane der Palmen. 121
Betrachten wir nun die übrigen zwischen diesen beiden Faserformen
(der Spirale und Netzfaser) sich bildenden Fasern, die Übergangsformen zwi-
schen beiden zu sein scheinen, da die engeren in der Nähe der Spiralen ste-
hen, und sich in gröfserer Entfernung von diesen mehr erweitern: so finden
wir dafs diese Ähnlichkeit mit den netzförmigen Fasern wohl nur durch die
gröfsere Weite hervorgebracht ist, denn sie stehen nicht in so inniger Wechsel-
wirkung mit dem benachbarten Gewebe, wie die in ihrer Thätigkeit von die-
sem abhängigen Netzfasern, sie bilden sich aus dem Cambium durch eine in
sich abgeschlossene Thätigkeit: sowohl der Inhalt wie die Wandung durchläuft
die oben beschriebenen Veränderungen ohne unmittelbare Einwirkung der
benachbarten Zellen, daher stehen sie auch zu ganzen Bündeln und Geweben
vereinigt unmittelbar nebeneinander. In dem Holzbündel der Palmen er-
scheinen sie dort wo der Anfang der Spirale sich findet und ihre Anzahl ver-
mehrt sich während des Verlaufes des Bündels durch das Mark bedeutend, so
dafs dort, wo dasselbe aus dem Marke nach der Rinde sich wendet, der gröfste
Theil des ganzen Holzbündels aus solchen Treppen- und Poren-Fasern (die
wohl mit den Spiralfasern passend als Holzfasern kurz zu bezeichnen sind)
besteht. Nicht selten findet man zu diesen später sich bildenden Fasern
Übergangsformen aus dem gleichfalls verholzenden Cambium, indem die in
senkrechte Reihen geordneten Zellen noch nicht zu Fasern vereinigt sind.
Auch die Wandungen der cylinderischen oder spindelförmigen Cam-
biumzellen verdicken sich später etwas, doch behält der Inhalt beständig das
Vermögen zur Entstehung neuer Zellen Veranlassung geben zu können. Für
die Cambium-Zellen des Holzcylinders wird es durch die an allen Theilen
des Stammes unter Umständen später entstehenden Wurzeln bewiesen, deren
Fasern sich dann auch in die, schon von dem Holzeylinder getrennten Bündel
hineinverlängern, zur Verdickung der Faserschichte derselben beitragend. In
noch gröfserem Maafsstabe findet dies letztere während der Entwickelung der
Knospen in den oberen Theilen der Holzbündel statt, indem die in dem Ge-
webe der Knospe entstehenden Holz-Bündel sich an diese anlegen, und ihre
Fasern sich durch Umformung des Cambiums im Holzbündel des Stammes in
diese hinein fortsetzen, wodurch Schleidens Meinung (Grundzüge 1845
p-243) widerlegt wird, dafs mit der einmal erfolgten Ausbildung des Holz-
bündels jede Neubildung in dem Cambium derselben aufhöre.
Phys. Kl. 1847. Q
123 H. Kassten:
Die Zellen dieses Cambiums werden meistens jetzt „eigene Gefäfse, vasa
propria”, genannt, selbst von Schriftstellern die zugeben, dafs dies Gewebe nicht
aus Gefäfsen, sondern aus Zellen besteht. Es ist dies ein Fehler der nur
Verwirrung in die Kenntnifs des Baues der Pflanzengewebe gebracht hat.
Malpighi der Gründer der Pflanzenanatomie beschrieb in seinem un-
sterblichen Werke: „Anatomes plantarum.” Pars prima. 1671. pag43 die
vasa propria seu peculiaria, jetzt Milchsaftgefäfse und Gummi- oder Harz-Ka-
näle genannt, indem er sagt: „—— —in herbarum arborumque compage ultra
tracheas et fislulas peculiare vasculum interdum deprehendi diximus, terebin-
thina, gummi, quandoque concreto et proprio refertum succo et humore.” Er
erkannte sehr wohl den Bau dieser Gefälse die er Taf. VII Fig. 30. von Sam-
bucus Ebulus zeichnete und trennt sie, wie die Spiralfasern, von dem Zell-
gewebe.
Ein Irrthum in den dieser grofse Mann bei der Untersuchung des Holz-
bündels des Mays verfiel, indem er dort wo aus dem Cambium-Gewebe des-
selben der trübe Inhalt hervorquoll ein vas proprium vermuthete (pag. 24
Tab.IV Fig.15) scheint die Veranlassung der seither fortdauernden Verwech-
selung gegeben zu haben. —
Nach ihm machte Mirbel (Jour. de phys. Tom. LIII) bei der Be-
schreibung des Mays denselben Fehler und leider gelang es Moldenhauer
nicht, durch seine trefllichen „Beiträge zur Anatomie der Pflanzen 1812”, in
denen er die Ursache des von Malpighi und Mirbel begangenen Irrthums
nachwies, denselben aus der Wissenschaft zu verbannen.
Eine ähnliche Unsicherheit wie in der Kenntnifs dieses Cambiums bis-
her herrschte, waltet auch über die Bestimmung des vierten Gewebes der
Holzbündel der Palmen, über denjenigen Theil der die übrigen Gewebe des
Bündels umhüllend, dieselben gegen das Parenchym absondert, der in den un-
teren, von wenig Parenchym umgebenen Theilen des Bündels in gröfster Menge
vorhanden ist, während er dort wo die Bündel im Markgewebe verlaufen
immer mehr abnimmt, von den meisten Schriftstellern Bast genannt.
Malpighi beschreibt den Bast ( Anatomes plantarum idea p.2): „liber
‚Jibris ligneis reticulariter se invicem amplexantibus constat.— — qualibet fibra
insignis fistulis invicem hiantibus constat, humoremque Jundit” etc.
Ahnliche Ansichten hatten Leeuwenhoeck und Hedwig. Mirbel
hielt den Bast für Zellen die durch Klappen sich in einander öffneten. Link
die Vegetationsorgane der Palmen. 123
beschreibt den Bast in seinen Grundlehren der Anatomie und Physiologie
der Pflanzen 1807 p. 17 als Zellen mit schiefen Endflächen, er sagt p. 19 von
dem braunen Zellgewebe das das Farnholz umgiebt: „Da diese Zellen keine
abgesonderte Grundfläche zeigen, sondern die Seitenwände sich nur schief an
einander legen, so rechne ich dieses Zellgewebe zu dem Bast.— Er bemerkt
dies gegen Bernhardi der dies Gewebe dem Parenchym anreiht. Mol-
denhawer erklärte, wie Link, den Bast für langgestreckte Zellen mit zuge-
spitzten Enden, und zeichnete sie Taf.2 Fig. 16, nennt sie aber dessenunge-
achtet wegen des langen röhrigen Baues: „Gefäfse” oder „Bastgefäfse”. Es
scheint fast, als sei ihm der Unterschied zwischen Gefäfs und Zelle hier nicht
recht klar gewesen. Ihm folgen Kieser „Phytotomie pag. 209” und Meyen
„Phytotomie p. 134”. —
In seinen Vorlesungen über die Kräuterkunde 1843 giebt Link eine
andere Ansicht über die Natur des Bastgewebes, er beschreibt es pag. 86,
von dem Baste des Flachses und Hanfes ausgehend, allgemein als „Baströhren,
tubuli fibrosi” d.h. dicke Röhren in der Regel ohne Querscheidewände „wo
diese sich finden durchziehen sie nur die Höhlung ohne die dieken Wände
zu durchschneiden, da man hingegen an einer Reihe von Parenchymzellen
deutlieh sieht, wie die Wände der Zellen selbst an der Scheidewand Theil
nehmen. Denn die Querwände der Zellen im Parenchym entstehen dadurch,
dafs die Zellen aufeinander stehen: diese Wände sind also eigentlich keine
wahren Querwände, in den Baströhren sind sie es aber allerdings. Die Bast-
röhren endigen sich mit verschlossenen, stumpfen Enden, bald hier bald da,
sind also von verschiedener Länge, und gleichen in dieser Rücksicht dem Pros-
enchym”. Nach dieser neuesten Beschreibung des Bastes von Link ist der-
selbe also einer verdickten Prosenchymzelle ähnlich, in der hin und wieder
Querscheidewände auftreten.
Mohl bestätigt bei der Beschreibung des Baues des Palmengefäfsbün-
dels (Vermischte Schriften 1836 p. 137) in Bezug auf die äufserste Schicht
desselben die das Holz und das Cambium umgiebt und sie von dem Paren-
chym trennt Moldenhawers Angaben über den Bast indem er sagt: „der
Bast besteht aus diekwandigen prosenchymatösen Zellen”, wodurch er zu-
gleich Kiesers Behauptung, dafs die Bastzellen der Monokotylen horizon-
tale Scheidewände hätten, widerlegen will und also auch der Ansicht Links
nicht beitritt, so wie auch diese beiden ausgezeichneten Anatomen über die
Q2
194 H. Kussrtenx:
Bedeutung des braungefärbten Gewebes das den Holzeylinder der Farne um-
giebt verschiedener Meinung sind, indem Link dasselbe dem Baste, Mohl es
aber dem Parenchyme zuzählt. Es ist dies ein Beweis wie sehr schwierig es ist
über die Natur eines organischen Körpers, ohne die Entwickelungsgeschichte
desselben zu berücksichtigen, zu einer Einsicht zu gelangen.
Wir sahen, dafs der Rest des Cambiumeylinders nach beendigter Par-
enchymbildung zu spindelförmigen Zellen auswuchs, welche Form auch die
äufseren Schichten der von dem künftigen Holzeylinder getrennten Holzbün-
del annahmen, nachdem keine Parenchymzellen mehr aus ihnen hervorgin-
gen, während in der Höhlung dieser spindelförmigen Zellen sich ein gummi-
artiger Stoff absonderte, in dem oft der jetzt einfache Zellkern schwamm, ohne
dafs eine Bildung von Bläschen zu erkennen wäre. Später verschwindet die-
ser flüssige Inhalt, während die Haut der Tochterzelle verdickt, oft braun
oder schwarz gefärbt wird und Kohlensäure die Stelle der Flüssigkeit ersetzt.
Diese Zellen, eine höhere Entwickelungsstufe des Cambiums, bestimmt zur
Hervorbringung von Parenchym, was durch günstige Verhältnisse wieder ein-
geleitet werden kann, also eine Hemmungsbildung von Mutterzellen für Pa-
renchym, sind das Bastgewebe des Palmenstammes und diesen Charakter sehe
ich als den des Bastgewebes überhaupt an, weshalb sowohl Zellen als die spä-
teren Umformungen derselben die Fasern hieher gehören können.
Die Holzzelle dagegen ist unmittelbar hervorgegangen aus einer Cam-
biumzelle deren Haut eine Änderung ihrer Bildungsthätigkeit erfuhr, sie ent-
hielt nie die Anfänge von Parenchymzellen wie sie auch nie unmittelbar in
diese umgeformt wird. Durch die Vereinigung ihrer Höhlungen entsteht die
Holzfaser, indem, wie bei den Bastfasern, die (in dem aufrechten Stamme)
senkrechten Wandungen der übereinander gereihten Zellen verdickt werden,
während die wagerechten sich nicht verdicken im Gegentheil später ver-
schwinden. —
Auf Querschnitten des verholzten Bastgewebes sieht man, dafs die
Wandungen aus Schichten bestehen die nicht immer die gleiche Dicke und
Färbung besitzen: es ist die Tochterzelle deren Haut einen intermittirenden
oder periodisch veränderten Zuflufs des Nahrungsaftes, durch diese schich-
tenweise Zunahme seiner Dicke zu erkennen giebt. Der Umstand, dafs nur
die senkrechten, nicht die wagerecht sich berührenden Wandungen verdickt
sind, entspringt vielleicht aus einer bestimmten Richtung in dem Zuflusse des
die Vegetationsorgane der Palmen. 135
Nahrungssaftes. Dafs diese Verdickungsschichten mechanische Niederschläge
des Zellsaftes nach dem Austrocknen desselben auf die innere Oberfläche der
Zellwand seien, wie es wohl geglaubt wird, ist nicht richtig und für diejenigen
Fälle mit Leichtigkeit als falsch zu beweisen, wo diese sich verdickende, zweite
Zelle noch von einer dritten, gleichfalls verdickten Zelle, ausgekleidet wird.
Meistens ist letztere, so wie die erste, äufserste des ganzen Systems nicht ver-
dickt und dann schwierig zu erkennen. Diese beiden verhalten sich in der
Regel sehr ähnlich, sowohl in Hinsicht ihrer physikalischen Eigenschaften, wie
gegen Reagentien und meistens beide abweichend von der zwischen ihnen
befindlichen Haut der zweiten Zelle. (Vergl. Taf. vır. Fig. 2).
Diese Letztere, die Tochterzelle, scheint in der That besonders der
Ernährung des pflanzlichen Organismus vorzustehen, da sie, wie ich schon
früher bemerkte, entweder in ihrer Höhlung zur Erzeugung von Absonde-
rungsstoffen Veranlassung giebt, die später wieder zur Ernährung anderer
Theile verbraucht werden oder indem durch Assimilation des von Aussen
zugeführten unorganisirten Stoffes ihre Haut selbst sich verdickt und dadurch
einen Körper anhäuft, der vorzugsweise die Fähigkeit zu besitzen scheint bei
gewissen chemischen Zuständen der allgemeinen Nahrungsflüssigkeit aufge-
löst zu werden und zur Erhaltung des Stoffwechsels und des Wachsthumes
anderer Gewebe beizutragen.
Ich werde später noch Gelegenheit haben von einer solchen regelmä-
fsig stattfindenden Umwandlung in gewissen Dicotylen Pflanzen ein Beispiel
anzuführen, (vergl. Taf.vı. Fig.8.9.) hier sei es mir erlaubt eine Beobachtung
an einer Palme mitzutheilen, die gewifs an vielen anderen Pflanzen sich wie-
derholen lassen wird. Ich stellte einige 12-15 Fufs lange, über den Wurzeln
abgehauene Stämme der Geonoma undata Kl. mit ihrer vorsichtig geschonten
Blätterkrone in einen kleinen Bach fliefsenden Wassers, nach 3 Monaten ent-
hielt das Parenchym des Markes durchaus keine Stärke mehr und die gewöhn-
lich etwas verdickten Membranen waren so dünne, dafs die Porenkanäle fast
nicht mehr zu bemerken waren, ebenso waren die dasMark zunächst begren-
zenden Bastfasern des Holzbündels (besonders an der den Holzfasern entgegen-
gesetzten Seite) bis zu sehr feinen Membranen verdünnt, die Holzsubstanz der
verdickten Tochterzelle gänzlich resorbirt. — Die Blattanlagen hatten fortge-
fahren sich auszudehnen entfalteten sich jedoch nicht, der Zellsaft des Gipfel-
triebes war klar und wasserhell nicht so trübe, schleimig und sich an der Luft
1236 H. Karsten:
färbend wie in der gesunden Pflanze; auch absorbirte dieser in Kohlensäure
gesetzt weit weniger von diesem Gase und wurde daraufin Ammoniakgas nicht
so grün gefärbt, wie es bei dem Gewebe einer gesunden Knospe der Fall ist.
Die Wurzel.
Die erste Wurzel der Palmen sondert sich, wie wir oben sahen, aus der
dem Eimunde zugewendeten Spitze des bis dahin gleichförmigen Gewebes des
Keimlinges, gleichzeitig mit dem Erscheinen der Gefäfse für die Saamenlap-
pen und der Bildung der ersten Blattanlagen in dem cambialen Gewebe des
vorderen Endes des Keimlinges ab. Von dem Grunde der Knospe aus er-
scheinen die ersten Spiralfasern in dem Cambium-Kegel der Wurzelanlage,
die sich innerhalb des parenchymatischen Gewebes befindet, das als Theil
des Saamenlappens oder als Rinde des Keimlinges betrachtet werden kann,
Entweder von diesem Gewebe bedeckt oder in der äufseren Schicht desselben
findet sich die cambiale Spitze der Wurzel, durch deren zellenbildende Thä-
tigkeit ihr Gewebe vermehrt wird. In dem ersteren Falle durchbricht die sich
verlängernde Wurzel das sie umhüllende Zellgewebe der Rinde des Keim-
linges, welches gleichzeitig sich durch Vergröfserung seiner Zellen ausdehnt,
und als Scheibe (coleorrhiza) die Wurzel umgiebt: in den zweiten, den ich
bisher nur bei der Hyphaene, Coryha und Phoenix beobachtete, bildet die
Rinde der Wurzel mit dem Gewebe des Saamenlappens eine ununterbrochene
Schicht, daher keine Wurzelscheide entsteht. So findet es sich bei den glei-
chen Organen der dicotylen Pflanzen, während die andere Bildungsweise der
Entstehung der Stammwurzeln (Luftwurzeln) der Monocotylen ähnlich ist.
Dies Durchwachsen wird wahrscheinlich vermöglicht durch eine Gruppe
von Zellen, die sich vor der eigentlichen Spitze der Wurzelgewebe nach aus-
sen aus dem Cambium hervorbildete, und sowohl durch die Form ihrer
Zellen wie durch deren Inhalt sich von dem übrigen Wurzelgewebe unter-
scheidet. Bei der Dattelpalme bildet sich dies die Spitze des Würzelchens
einhüllende Gewebe erst aufserhalb des Saamens, nachdem der Saamenlap-
pen sich um 2’— 3” verlängerte und das Keimknöspchen, in dem scheidigen
Ende desselben, sich bedeutend vergröfserte. —
Nur selten ist diese erste Wurzel, die, als die untere Verlängerung der
Keimknospe, als Pfahlwurzel zu bezeichnen ist, von etwas längerer Dauer
die Vegetationsorgane der Palmen. 427
indem sie sich verästelt, wie bei der Älopstockia, Hyphaene und einigen an-
deren; meistens stirbt sie sehr bald ab, während andere aus dem Stamme
des jetzt mit einem oder einigen Blättchen versehenen Pflänzchen hervorwach-
sen. Wir lernten in dem Gewebe dieser jungen Pflanze einen Ort kennen,
von dem die Holzbündel der Blätter ihren Anfang nehmen; derselbe war ur-
sprünglich in der cambialen Anlage des Keimlings von der Spitze dieses nicht
getrennt. Diese Trennung trat ein, indem sich in der Mitte der cambialen
Keimknospe Parenchym bildete, das den Cambium -Kegel in einen Kegel-
mantel umänderte, wodurch dann der cambiale Knospengrund, von dem die
Holzbündel ihren Anfang nehmen, mit der cambialen Knospenspitze, aus der
die Blätter sich hervorbilden, nur noch durch einen Cylinder cambialen Ge-
webes zusammenhängt.
Von dem Knospengrunde und diesem Cambiumcylinder, dem späteren
Holzeylinder des Stammes, trennen sich sowohl nach innen wie nach aufsen
Holzbündel- Anlagen für die Blätter, in beiden dauert längere oder kürzere
Zeit eine Zellenvermehrung fort, wodurch das Gewebe des jungen Pflänz-
chen vermehrt wird. Von dem Knospengrunde beginnt nun auch die Ent-
wickelung der ersten Stamm -oder Luft- Wurzeln, bei den Palmen meistens
nur allmählich zu den älteren Theilen des Stammes in die Höhe steigend,
und nur ausnahmsweise in gröfserer Entfernung von der Stammbasis eintre-
tend, man erkennt dieselbe in ihrem ersten Auftreten durch eine Vermehrung
der Cambiumzellen des Holzeylinders. Es entsteht an der äufseren Ober-
fläche ein kleiner Kegel Cambium-Gewebes, dessen äufserste, die Rinde be-
grenzende Schicht aufhört zur Zellenvermehrung beizutragen, und sich durch
Ausdehnung vergröfsert, während das Parenchym der Rinde so wie die Fa-
sern der in ihr befindlichen Bastbündel die verdickten Wandungen verlieren
und die von ihrem Inhalte entleerten Zellen nach Aufsen zurückgedrängt und
später gänzlich verflüssigt werden. Durch die Ausdehnung dieser Zellen
der äufseren Schichten des Cambiumkegels wird ein Parenchym ähnliches
Gewebe gebildet, das die junge Wurzelanlage bedeckt, und nach innen in
die Spitze des Cambiumkegels übergeht. Hier nun dauert die Zellenver-
mehrung beständig fort, während in den älteren Theilen, in dem mit dem
Holz-Cylinder des Stammes zusammenhängenden Grunde eine Änderung
in der Thätigkeit der Zellen eintritt. Die äufseren Schichten des Cambium-
kegels werden hier in Parenchym umgeändert, das sich anfangs an das Rin-
128 H. Kuasxsrsen:
dengewebe des Stammes anschliefst, später in einiger Entfernung von dem
Holzceylinder von einer Oberhaut bedeckt ist. In dem Umkreise des dann
centralen Cambium-Cylinders der jungen Wurzelanlage, deren Zellen länger
bildungsfähig bleiben, treten darauf enge, abrollbare Spiralfasern auf, während
gleichzeitig das Gewebe der Mitte in cylinderförmige Zellen umgeändert wird
und später verdickte Wandungen erhält. Diese Umänderung des Cambium-
Kegels in die verschiedenen Gewebe schreitet von dem Grunde nach der
Spitze hin fort, wo unterhalb der Wurzelmütze die Bildung neuer Zellen
fortdauert, und zu der Vermehrung dieser Gewebe Veranlassung giebt. Von
den Zellen der Spitze dieser Wurzelmütze mufs die verändernde Einwir-
kung dieser neuen Bildung auf das Rindengewebe des Stammes ausgehen, wo-
rin dieselbe indessen bestehen mag, darüber wage ich keine Vermuthung zu
äufsern, und erlaube mir nur auf die Ähnlichkeit dieses Vorganges mit den
das Eindringen der Wurzeln parasitischer Gewächse in die lebenden Gewebe
fremder Pflanzen begleitenden Erscheinungen aufmerksam zu machen.
Die äufserste Zellschicht der Wurzelmütze dieser noch in der Stamm-
rinde befindlichen Wurzelanlage enthält Zellkerne und eine durch Jod gelb
werdende Flüssigkeit: etwas weiter nach innen, dem Orte der Zellenbildung
näher, auch kleine Stärkebläschen: ebenso finden sich in dem jüngsten noch
parenchymähnlichen Gewebe der Wurzelspitze selbst, neben dem Cambium,
meistens kleine Stärkebläschen. Das in der Mittellinie der Wurzel sich bil-
dende, langgestreckte Gewebe geht im Grunde derselben, dort wo sie sich
anfangs von dem Holzeylinder des Stammes erhob, allmählig in die Form
des Parenchyms über, wodurch das Mark der Wurzel mit dem des Stammes in
Verbindung steht. Dafs diese eylinderischen, später dickwandigen Zellen
die in der Mitte der Wurzeln sich finden, nur eine andere Form von Paren-
chym sei, ist jedoch nicht wahrscheinlich, sie sind vielmehr als verholzte Cam-
biumzellen oder deren Übergangsbildungen zum Parenchym, den Holz- oder
Bast-Zellen der Bündel des Stammes gleichbedeutend.
Die in ihrem Umkreise zuerst entstandenen Spiralen, so wie die später
aus ihnen gebildeten punktirten Holzfasern, verlängeren sich nicht nur nach
der Spitze der Wurzel hin, sondern auch nach der entgegengesetzten Seite,
indem sie sich zum Theil an die Holzbündel des Stammes anlegen, in deren
Gewebe eine Neubildung von Zellen stattfand und mit ihnen nach den obe-
ren wie nach den unteren Theilen des Stammes verlaufen: zum Theil nach
die V egetationsorgane der Palmen. 129
der Mitte des Stammes hin sich erstrecken, mit diesen Holzbündeln ein Flecht-
werk bildend. Es sind hier, in den schon vollkommen verholzten Bündeln,
die äufsersten Schichten des Bastes die an die Parenchymzellen grenzen und
die, wie schon oben angegeben wurde, häufig mit senkrechten Reihen runder
Zellen gefüllt sind, in denen eine Neubildung beginnt, höchst wahrscheinlich
in Folge erneueter Thätigkeit dieser in ihrem Wachsthume gehemmten Bil-
dungen, wodurch jetzt für die Verlängerung und Vermehrung der Fasern um-
bildungsfähige Zellen hervorgebracht werden. Diese erneuete Zellenbildung
erfahren nicht nur die den Holzeylinder bildenden Bastbündel, sondern auch
mehrere der mehr nach innen liegenden Holzbündel, so dafs die Holzfasern
der jungen Wurzeln eine Strecke in den Stamm hineinreichen; doch durch-
dringen sie nicht die gedrängt stehende Holzbündelschicht der Oberfläche,
auch ist ihre Erstreckung nach oben nicht bedeutend, so dafs eine unmittel-
bare Verlängerung dieser Holzfasern der Wurzeln in die Blätter, wie Petit
Thouars und Gaudichaud es sich dachten, nicht stattfindet.
Auch Mohl spricht sich gegen eine solche Verbindung aus (de palm.
struct. p.xıx) und zeichnet das richtige Verhältnifs t. Q. 3. von der Cocos nu-
cifera indem er die Wurzel der Palmen (p. xvırı und Vermischte Schriften p.
156) beschreibt. Es bestehen nach ihm dieselben aus zwei deutlich gesonder-
ten Schichten: aus einer äufseren, lockeren und schwammigen Rindensubstanz
und einem zähen, holzartigen Centralkörper. In ersterer, die von einer per-
gamentartigen Haut überzogen ist, liegen bei einigen bastartige Fasern die
bei anderen vollkommen fehlen. Das Gentralbündel ist aus einer compacten,
holzartigen Substanz gebildet, welche sich nicht wie das Holz des Stammes
in einzelne getrennte Bündel theilen läfst. Das Centralbündel der Seitenwur-
zel ist mit dem der Hauptwurzel unmittelbar verbunden. Das Centralbündel
durchdringt die Faserlage des Stammes und breitet sich auf der äufseren
Schichte der Holzbündel desselben in Form einer Scheibe aus, sich hier in
eine grofse Menge feiner, fadenförmiger Bündel theilend, welche sternförmig
nach allen Seiten auseinanderlaufen und, sich zwischen den Holzbündeln des
Stammes durchschlingend, in das Innere desselben bis etwa auf einen halben
Zoll Tiefe eintreten. Auch die Fasern der Rinde des Stammes verlängern
sich eine Strecke in das Rindengewebe der Wurzel, verlieren sich aber bei
den verschiedenen Arten mehr oder weniger bald gänzlich.
Phys. Kl. 1847. R
130 H. Karsten:
Mohl untersuchte fast nur die dünnen Wurzeln, wie die meisten Pal-
men sie besitzen, im Zusammenhange mit dem Stamme; von denen der Iri-
artea exorhiza standen ihm nur getrocknete Abschnitte zu Gebote. Hätte
Mohl die Entwickelung der Wurzel an der lebenden Pflanze studiren kön-
nen, so würde er sicher über die Bedeutung der Gewebe, die er in ihren
einzelnen Theilen so genau kannte, anders geurtheilt haben.
Verfolgt man nämlich, wie wir es oben gethan, die Entwickelung der
Palmenwurzeln von ihrem ersten Beginn, so erkennt man, wie sich der Holz-
eylinder des Stammes, nachdem er durch eine erhöhete oder wieder angeregte
Zellenbildung einen Cambiumkegel in das Rindengewebe hinein gebildet hatte
sich in die äufseren Schichten dieses letzteren fortsetzt, indem der Kern des-
selben sich in Parenchym umändert, und in der ausgewachsenen Wurzel
als ununterbrochene Fortsetzung des Markeylinders des Stammes erscheint.
In dem Umkreise dieses neuen Cambium-Kegels entstehen gleichzeitig, im
Grunde desselben, einzelne Spiralfasern die sich sowohl nach der Stammseite
wie besonders nach der Wurzelspitze zu verlängern; sie sind die Grundlage
von Holzbündeln die dadurch entstehen, dafs neben ihnen, an ihrer der Mit-
tellinie der Wurzel zugewendeten Seite, aus dem Cambium sich Holz-Fasern
und -Zellen bilden.
Mohl selbst nennt diesen Zellgewebekegel, den ersten Anfang der
Wurzel, „eine wahre Knospe”; wenn dies nun auch, wegen der verschiedenen
Wachsthumsweisen der Wurzel und Blattknospe nicht auf diese letztere zu
beziehen ist, so trifft doch der Vergleich auch mit dieser hinsichts der Anord-
nung der Gewebe in einen Cylinder von Holzbündeln die in dem Cambium-
Cylinder vertheilt sind, der das Parenchym in Rinde und Mark sondert. Hier
in der Wurzelanlage treten ebenso wie in der jüngsten Blattknospe in einem
vollständigen Cambium-Cylinder zuerst in bestimmten Abständen einzelne
Spiralfasern auf, an die sich die später entstehenden Holzfasern zu einem
Bündel anlegen und zwar in der Blattknospe an die ihrer Oberfläche zuge-
wendeten Seite, in der Wurzelknospe an die ihrer Mittellinie zugewendeten
Seite der Spiralfaser. — Bei der Blattknospe wenden sich diese Spiralen mit
dem in ihrer Nähe entstandenen Holzgewebe nach aufsen in die Blattanlagen,
bei der Wurzelknospe durchziehen sie ununterbrochen deren ganze Länge;
doch in beiden Fällen bilden sie alle zusammengenommen nicht ein einzel-
nes Bündel, sondern einen Cylinder von Anfängen solcher Holzbündel die
«
die Vegetationsorgane der Palmen. 131
später durch Umwandlung des sie umgebenden Cambiums ihre bestimmte Zu-
sammensetzung erhalten. Der Rest des Cambium-Oylinders besteht aus einer
Schicht von wenigen Zellen von denen die äufsersten, an das Rindengewebe
grenzenden verholzen, indem ihre Wandungen punktirt verdickt werden; und
zwar beginnt diese Verholzung an der nach innen gewendeten Zellwand. In-
dessen beendet auch hier eine Verdickung der Membran keinesweges die Le-
bensfähigkeit der Zelle, unter den geeigneten Bedingungen beginnt auch hier
in ihnen eine neue Tätigkeit, es tritt von neuem eine Zellenvermehrung ein,
die durch das Rindengewebe hindurchsetzend zur Bildung einer seitlichen
Wurzelfaser Veranlassung giebt.
Die oft armdicken Wurzeln der Iriarteen lassen durchaus keinen Zwei-
fel, dafs die in ihnen befindlichen Holzbündel, die auf dem Querschnitte der
Wurzel eine sternförmige Anordnung zeigen, einen Cylindermantel bilden,
wie diejenigen die in den dünnen Wurzeln derselben Pflanzen oder der mei-
sten übrigen Palmen vorhanden sind. Die Entwickelungsgeschichte wie die
vergleichende Anatomie beweisen, dafs auch diese dünnen Wurzeln einen
vollständigen Holzeylinder nicht ein centrales Holzbündel besitzen.
Betrachten wir zuerst die Entwickelung und den Bau der häufiger vor-
kommenden Form, der dünnen Faserwurzeln, wie sie bei Cocos, Phoenix,
Geonoma, Chamaedorea, Oenocarpus, Klopstockia und den meisten übrigen
Palmen an den unteren Stammtheilen in gröster Anzahl aus der Rinde von
dem Holzeylinder aus hervorbrechen, um dann die etwas abweichenden Wur-
zeln der Iriartea mit denselben zu vergleichen.
Das von dem Cambium nach Aufsen als Rinde entwickelte Parenchym
ist sowohl in der Nähe dieses wie zunächst unterhalb der Oberhaut gedrängt
stehend, ohne Zwischenzellgänge: letzteres ist in der Richtung der Axe ver-
längert und besitzt stark verdickte Wandungen. Die Mittelschicht der Rinde
ist in der Regel lockerer zusammengefügt, so dafs kleine Zwischenzellgänge
bleiben, die in manchen Gattungen z.B. Oenocarpus, Phoenix sich zu grös-
seren Luftlücken und Kanälen erweitern. Einzelne senkrechte Zellenreihen
sind in die Länge gezogen mit wagerechten Enden aufeinanderstehend, in
ihnen sind anfangs, nachdem sie aus dem Cambium sich gesondert haben, Ra-
phidenbündel enthalten, später findet sich eine gummiartige Flüssigkeit (die
in Wasser löslich, durch Äther und Alkohol aus der Lösung gefüllt wird, wel-
cher Niederschlag im Wasser wiederum sich löst. Bleizucker, Borax, Alaun,
R2
132 H. Kuassten:
schwefelsaures Eisenoxydul und Eisenchlorid fällen es nicht, wohl aber Blei-
essig) und in älteren Theilen der Wurzel, wo die horizontalen Scheidewände
verschwunden sind, bekommen sie gleichförmig (nicht punktirt) verdickte
Wandungen und sind dann häufig mit Kohlensäure gefüllt.
Diese einzeln im Rindengewebe zerstreut stehenden Fasern kann man,
vor der Verdickung ihrer Wandungen, wenn sie mit der gummiartigen Flüs-
sigkeit angefüllt sind, nicht von den Milchsaftfasern (-gefäfsen) unterscheiden:
später, nach der Verholzung, hält man sie für einzeln stehende Bastfasern und
man wird in dieser Ansicht bestärkt wenn man findet, dafs in den unteren,
älteren Theilen der Wurzelrinde gröfsere Bündel dieser Fasern vorkommen
die sich meistens z. B. bei Cocos und Phoenix in die Rinde des Stammes als
Bastbündel verlängern. Ich halte dies nur für ein Zeichen der nahen Ver-
wandtschaft dieser beiden Elementarorgane, der ähnlichen Bedeutung beider
in Bezug auf die Ernährung des pflanzlichen Organismus; beide Formen gin-
ö
gen unmittelbar aus dem Cambium hervor, während gleichzeitig das ihnen
5
benachbarte Gewebe zu Parenchym sich ausbildete, beide sind als Hem-
mungsbildungen von parenchymbildendem Gewebe zu betrachten, was sich
durch eine vorherrschende Neigung zur Zellenbildung kund giebt (!), in bei-
den findet die Absonderung von Stoffen statt die später zur Ernährung des
Pflanzengewebes verbraucht werden können, theils auch wirklich verbraucht
werden; die Milchsaftfasern können als eine verlangsamte Bastfaserbildung
angesehen werden. —
Das Rindengewebe, in welchem die eben beschriebenen Bastfasern
vorkommen, wird von einer Oberhaut bedeckt, die in den unteren Theilen
der Wurzel, welche noch in der Rinde des Stammes eingeschlossen ist, so
wie an der Spitze, die schon in den feuchten Erdboden eingedrungen, aus
cylinderförmigen Zellen besteht, deren lange Axe mit der Wurzellänge pa-
rallel liegt, während an den der Luft ausgesetzten Theilen der Wurzel diese
(') Die meisten Milchsäfte so wie die Schleim, Eiweils, Faserstoff oder Gummi ent-
haltenden Flüssigkeiten der Milchsaftfasern führen zellige Bildungen, als Bläschen oder
Zellkerne bekannt; einen ähnlichen Inhalt besitzen fast regelmäfsig die einzelnen oder in
kleineren Bündeln im Parenchyme vorkommenden Bastfasern vor der Verdickung ihrer Wan-
dungen und auch in den schon verholzten und zu grölseren Bündeln vereinigten Fasern
beginnt häufig, bei veränderter Mischung der hinzutretenden Nahrungsflüssigkeit, von Neuem
eine Zellenbildung, wovon ich weiter unten einige Beispiele anführen werde. —
die V egetationsorgane der Palmen. 133
Zellen fast würfelförmig gestaltet sind, und ihre freie Oberfläche warzen-
förmige Hervorragungen bildet. (siehe T. III Fig. 4 d.e.) Unter Umständen,
die ich weiter unten angeben werde, wachsen selbst diese Zellen der Ober-
haut zu Haaren aus, wodurch die Ahhängigkeit der Form von der chemischen
Mischung der Zellhaut recht deutlich hervortritt. —
In dem Umkreise des von diesem Rindengewebe eingeschlossenen
Cambium-Cylinders entstehen inzwischen in der Nähe der zuerst in gewissen
Abständen gebildeten Spiralfasern neue Holzfasern mit treppenförmig oder
punktirt verdickten Wandungen in der schon oben bei den Gefäfsen des Stam-
mes beschriebenen Weise und zwar so, dafs die zuerst entstehenden engeren,
punktirten Fasern neben den Spiralen, die weiteren, treppenartig verdickten,
der Mittellinie der Wurzel näher stehen. Sie Alle bilden Bündel, die auf
Querschnitten der Wurzel (Taf. III Fig. 2.) in einen Kreis geordnet sind,
der nach Aussen die Rinde begrenzt: zwischen diesen Bündeln findet sich auch
noch in alten Wurzeln der Rest des Cambiums von dem die Neubildung von
Geweben für Wurzeläste ausgeht und dessen äufserste, das Rindengewebe
berührende Schicht verdickte Wandungen erhält. Auch eine Vermehrung
der Holzbündel scheint die Folge des Fortbestehens dieser Cambiumgrup-
pen zu sein, denn in den älteren Theilen der Wurzel findet sich eine grö-
fsere Anzahl derselben wie in den jüngeren und zwar sind dort zwischen den
gröfseren Holzbündeln, im äufseren Umkreise des Cambiums, kleinere vor-
handen, für deren spätere Entstehung auch der gröfsere Umfang dieses Thei-
les der Wurzel spricht.
Das in der Mittellinie der dünnsten dieser Wurzeln befindliche Cam-
bium wird meistens nicht durch wirkliches Parenchym ersetzt, sondern erhält
nur eine spindelförmige Gestalt und verdickte Wandungen nach Art der Bast-
zellen. In den etwas diekeren Wurzeln findet sich sowohl Stärke enthalten-
des Parenchym, einen wirklichen Markeylinder darstellend, als auch, in die-
sem Markparenchym zerstreut, einzelne Bastfasern wie sie in der Rinde vor-
kommen und oben beschrieben sind. Von der gröfseren Thätigkeit eines
ausgedehnteren Parenchyms scheint es abhängig, ob neben diesen einfachen,
engen, Gummi führenden Fasern, die später zu Bastfasern sich verdicken, noch
senkrechte Reihen von weiteren Zellen sich entwickeln, (Taf. III Fig. 4 a.b.)
die mit den zunächst sie umgebenden Zellen ein System bilden, anfangs die,
vielleicht durch die Zersetzung aus der Stärke des Markes gebildeten, gum-
o°
134 H. Karsten:
miartigen Stoffe in ihren Höhlungen absondernd und später gleichfalls ver-
diekte Wandungen erhaltend, wodurch die weiten, zu Fasern vereinigten Zel-
lenreihen das Ansehen der schon oben beim Stamme beschriebenen, netz-
förmig verdickten Fasern bekommen, denen sie auch wohl hinsichts ihrer Le-
bensthätigkeit gleichbedeutend sind.
Alle diese Übergangsformen beweisen, wie mir es scheint, unzweifel-
haft, dafs das Vorkommen eines parenchymatösen Markgewebes zwar das
Erkennen eines Holzeylinders erleichtert, doch kein nothwendiger Bestand-
theil desselben ist, dafs auch der in den dünnen Palmenwurzeln vorkom-
mende centrale Cylinder als Holzeylinder nicht als einfaches Holzbündel zu
betrachten ist, dafs wohl nur wegen der geringeren Ausdehnung der später
verholzenden Cambiumschicht die Entstehung von Parenchym verhindert wird.
Die vergleichende Betrachtung der stärkeren Wurzeln der Iriartea mag als
Bestätigung hiezu dienen. Im unentwickelten Zustande besitzen auch diese
einen Oylinder cambialen Gewebes, der das Zellgewebe in Rinde und Mark
sondert, und dort wo er das Rindengewebe begränzt verholzt und braun ge-
färbt wird. Er bildet hier, wie in den dünneren Wurzeln, im (Juerschnitte
einen Kreis doch mit wellig gebogenem oder ausgezacktem Rande, welche
Zacken sich so weit in das Rindenparenchym verlängern, dafs der Kreis in
einen Stern übergeht, bei dem, in noch umfangreicheren Wurzeln, die ab-
gerundeten Strahlen zwei-oder drei-zackig sind. (Taf. II Fig.3.) Im Um-
kreise dieses Cambium-Cylinders treten zuerst Spiralfasern auf, denen nach
Innen engere und weitere Holzfasern folgen von der Beschaffenheit der oben
von derG@eonoma, Chamaedorea, Klopstockia etc. beschriebenen; in der Regel
sind hier indessen nicht so viele Fasern in einer Reihe in der Richtung des
Radius neben einander stehend wie bei jenen Wurzeln. Es sind dieselben
auch hier von später verholzenden Bastzellen umgeben, die an der der Mittel-
linie zugewendeten Seite in besonders grofser Menge vorkommen. Zwischen
gewachsenen Wurzel
3
noch die Reste des Cambiumeylinders, dessen Gewebe in der Zellenvermeh-
diesen Holzbündeln befinden sich auch hier in der aus
rung fortfährt, und zur Bildung von neuen Holzbündeln Veranlassung giebt
die eine Verdickung der Wurzel herbeiführen kann. Bei denacht Fufsüber dem
Stamme entstehenden Wurzeln der Jriariea excelsa ist besonders die dadurch
hervorgebrachte Kegelform auffallend, da sie oben bei dem Abgange aus dem
Stamme einen Durchmesser von 3” besitzen der an der Spitze sich bis auf 1”
die V egetationsorgane der Palmen. 135
verringert. In den Strahlen des Sternes der dicken Wurzeln richtet sich
die Lage der Holzbündel, ebenso wie in deren einfachem Kreise, (des Quer-
schnittes) immer nach der Richtung der Cambiumschicht, so dafs die Holz-
faser-Reihen und-Bündel hier nicht nach dem Mittelpunkte der Wurzeln,
sondern nach der Mittellinie dieses Sternstrahles gerichtet sind. Ein centra-
ler Strang den Mohl in der Mitte dieses Holzeylinders vermifste kommt nicht
vor und kann auch, wenn wir den eben beschriebenen Bau mit den Wurzeln
der übrigen Monocotylen Pflanzen vergleichen, nicht vermuthet werden.
Bei der Iriartea exorhiza fand Mohl auch im Marke der Wurzeln
einzeln stehende Holzbündel, ich konnte bei der Iriartea praemorsa hier wie
in dem Rindengewebe nur die weiten Gummifasern (Netzfasern), von ver-
dickten Bastzellen umgeben, auffinden, und bezweifele durchaus das Vorhan-
densein wirklicher Holzbündel in dem Marke einer Monocotylenwurzel. Die
Entwickelungsgeschichte dieser Gummifasern ist dieselbe wie ich sie schon
früher von den im Holzbündel des Stammes vorkommenden gegeben habe.
(Vergleiche auch Taf. III. 4. a. b.). Aufser diesen weiten Gummifasern kom-
men auch noch im Marke und besonders häufig in der Rinde die oben be-
schriebenen, milchsaftfaser-ähnlichen Elementarorganen vor, die anfangs Ra-
phidenbündel mit Gummi enthalten, später verdickte Wandungen bekommen,
den Bastfasern ähnlich. (Diese Fasern vertreten in den dünneren Wurzeln
ganz die Stelle der weiten, später netzförmig verdickten Gummifasern, wo-
durch sie ihre physiologisch ähnliche Bedeutung mit dieser bekunden.) Das
Parenchym des Markes besteht aus etwas verlängerten, punktirt verdickten
Zellen ebenso das der Rinde. Die Oberhaut besteht wie oben von den übri-
gen Palmenwurzeln beschrieben, aus Zellen die entweder cylinderisch ge-
formt sind, parallel der Wurzellänge oder mehr würfelförmig mit warzig her-
vorragender Oberfläche. —
In die Fasern des Stammes gehen alle diese Fasern der Wurzel nicht
unmittelbar über, sie verlängern sich nur zum Theil bis zu den, an der Grenze
des Markes und der Rinde, den Holzeylinder bildenden Bündeln, theils etwas
weiter nach innen und verlaufen eine kurze Strecke mit ihnen gemeinschaft-
lich. Die weiten Gummifasern des Markes und der Rinde enden innerhalb
des Wurzelgewebes im Stamme.
Der Bau der Pfahlwurzeln der Palmen ist nicht verschieden von dem
der dünnen Stammwurzeln, auch in ihnen findet sich ein Cylinder von Holz-
136 H. Karsten:
bündeln die durch Cambium von einander getrennt sind und die Rinde von
dem mittleren Bast-und Holz-Gewebe scheiden. Taf.IH Fig.2 stellt einen
Theil eines Querschnittes der Pfahlwurzel der Iriartea praemorsa dar, um
dies Verhältnifs deutlich zu machen. In den verdickten Bastzellen 4 und
dem übrigen Cambiumgewebe ce beginnt unter Umständen, die noch näher
zu erforschen sind, in allen Palmenwurzeln eine Zellenbildung die zur Ent-
stehung von Wurzelästen Veranlassung giebt. Die anatomischen Erscheinun-
gen dieser Entwickelungen sind dieselben wie sie oben von der Wurzelbildung
aus dem Holzeylinder des Stammes beschrieben wurden. Häufig ereignet es
sich, dafs die Spitze einer aus dem Stamme hervorgewachsenen Wurzel nicht
während der Wachsthumsperiode in der sie gebildet wurde den Erdboden er-
reicht und dann in der regenlosen Jahreszeit zusammentrocknet und abstirbt;
in solchen Fällen sind es besonders die dieser Spitze zunächst benachbarten
Theile an denen Wurzeläste hervorsprossen, wodurch dann ein Kreis dünner
Wurzeln von dem Umkreise der Hauptwurzel sich in den Boden verlängert.
Zuweilen tritt auch durch unmittelbare Bildung aus dem Cambium
der Wurzelspitze, vielleicht in Folge eines zu grofsen Zuflusses von bildungs-
fähigem Nahrungssaft, eine Verästelung der Wurzel ein. Untersucht man eine
solche eben in der Theilung begriffene Wurzel so findet man die Vermeh-
rung der Zellen im Cambium auf zwei Seiten der Wurzelspitze vertheilt. Die
Wurzelmütze bedeckt sowohl diese beiden jetzt etwas erhöhten Stellen, wie
auch noch die Mitte der Wurzelspitze die jetzt eine Vertiefung bildet. Als
Verlängerung des in der Mittellinie der Wurzel befindlichen prosenchymati-
schen Gewebes bildet sich hier ein dem Rindenparenchym gleiches Ge-
webe weiter, cylinderförmiger Zellen, nach Aufsen von einer Oberhaut be-
deckt, aus dem die Zellenvermehrung hier beschliefsenden Cambium hervor.
Der Holzeylinder spaltet sich in zwei Theile deren Enden sich nach den Cam-
biumgruppen hinrichten.
Wenden wir uns nun, nachdem wir uns von der übereinstimmenden
Entwiekelungsweise und dem ähnlichen Baue der verschieden gestalteten Pal-
menwurzeln überzeugt haben noch einmal zurück zur näheren Betrachtung
der Art und Weise ihres Wachsthumes aufserhalb des Rindengewebes des
Stammes. Wir sahen wie sich beim ersten Entstehen der Anlagen der Wur-
zel durch eine vermehrte Zellenbildung innerhalb des Holzeylinders, an der
Spitze des noch cambialen Würzelchens ein Zellgewebe absonderte, das die
die Vegetationsorgane der Palmen. 137
übrigen Gewebesysteme die sich aus dem ihm zunächst befindlichen Cam-
bium hervorbildeten, schirmartig überdeckte. Es gehört dieses Zellgewebe
nicht zu den die ausgewachsene Wurzel zusammensetzenden Systemen und
hängt auch nur mittelst des in der Mitte der Wurzelspitze befindlichen Cam-
biums mit derselben inniger zusammen, indem das Gewebe derselben sich
ebenso wie das der eigentlichen Wurzel aus diesem Cambium vermehrt.
Von der Gröfse der Lebensthätigkeit der ganzen Pflanze, die wieder-
um durch die atmosphärischen Verhältnisse bedingt ist, hängt es ab einen
wie grolsen Raum dies Cambium in der Wurzelspitze einnimmt: bald ist es
eine geringe Schicht an deren inneren (Stamm-) Seite die verschiedenen Ge-
webe der Wurzel grenzen, während nach Aussen das grofszellige parenchy-
matische Gewebe der Wurzelmütze unmittelbar dasselbe bedeckt: bald nimmt
das, durch den trüben Inhalt dunkel gefärbte Cambium einen grofsen Theil
der Wurzelspitze ein, während das aus ihm sich hervorbildende Wurzelge-
webe, mit einer trüben, schleimigen Flüssigkeit erfüllt, in dem kleine Stär-
kekörperchen schwimmen, nach und nach in die langgestreckten Zellen des
Markes und der Rinde mit ihren Saftbehältern, durch Raphidenbündel von
oxalsaurer Magnesia ausgezeichnet, so wie in die gewöhnlich sehr früh durch
ihren klaren durchsichtigen Inhalt zu erkennenden Epidermialzellen übergeht,
und ebenso nach Aussen in die mit Stärke, jungen Zellen und einer schleimi-
gen, durch das Vermischen mit Wasser sich trübenden Flüssigkeit erfüllten
Zellen der Wurzelmütze sich umändert, denen andere etwas mehr ausge-
dehnte, mit einem klareren Inhalte und verschieden gefärbten Bläschen ge-
füllt, benachbart sind, die weniger Stärke in kleineren Körnern enthalten.
Weiter nach Aussen verschwindet dann diese Stärke immer mehr und der
flüssige Zelleninhalt wird klarer, bis endlich auch dieser durch eine Luftart
ersetzt wird, die auf Zusatz von Baryt- und Ammoniak-Lösung verschwindet,
also Kohlensäure ist. Diese äufsersten Zellen trennen sich endlich von den
darunterliegenden, während vom Cambium aus, wie beschrieben, neue Zellen
an die Wurzelmütze hinzutreten. Es beruht daher auf einen Irrthum wenn
man glaubte die Zellen der Wurzelmütze seien die ältesten der ganzen Wur-
zel oder gar nur abgerissene Theile der Rinde des Stammes (Endlicher’s
und Unger’s Grundzüge 1843. $. 169. Fig. 60 u. 61 und Schleiden’s
Grundzüge 1846 p. 118 und 119).
Phys. Kl. 1847. S
138 H. Karsten:
Als die wesentlichsten Vorgänge bei diesen Veränderungen des Inhal-
tes der Zellen der Wurzelmütze ist das Auftreten der Stärke in den aus dem
Cambium gebildeten parenchymatösen Zellen, so wie das Verschwinden der-
selben in den etwas weiter ausgedehnten, dann mit einer schleimig-gummiar-
tigen Flüssigkeit erfüllten, und endlich, mehr nach Aussen der Oberfläche
zunächst, die Sättigung dieser Flüssigkeit mit Kohlensäure hervorzuheben.
Diese Veränderung fand ich bei allen Wurzeln die ich untersuchte. Die Form
der Zellen geht aus dem rundlichen Parenchym, das zunächst an das Cam-
bium grenzt in vieleckiges und nach Aussen endlich meistens in Cylinderpar-
enchym über, dessen Längendurchmesser der Oberfläche der Wurzelspitze
parallel liegt. Von den Ernährungsverhältnissen hängt es ab, ob diese cylin-
derischein die Würfel-Form übergeht, die dann nach Aussen warzig hervorragt
(Taf. ıı Fig. 4. c.), ähnlich wie die an der Luft gewachsenen Oberhautzellen der
Wurzelrinde.
Ebenso werden durch die Ernährungsverhältnifse mannigfache Verän-
derungen in der Form und dem Inhalte der übrigen Gewebe der Wurzel
hervorgerufen durch deren Kenntnifs es mir möglich erscheint, über die
Wurzelthätigkeit überhaupt, wie besonders über die Bestimmung des Gewe-
bes der Wurzelmütze, Andeutungen zu erhalten, die vielleicht über die Er-
nährungsweise der Wurzel und deren Bedeutung für die Ernährung der ober-
irdischen Theile der Pflanze bei fortgesetztem Studium Aufklärung geben
können.
Zu diesem Zwecke beobachtete ich, nachdem ich mir eine genaue
Kenntnifs des Baues der gesunden, ungestört ausgebildeten Wurzel und des
Inhaltes ihrer Gewebezellen zu verschaffen gesucht, verschiedene krankhafte
Zustände derselben, die ich in der Natur vorfand oder selbst veranlafste. Ich
werde dieselben hier zur Prüfung vorlegen, damit jeder sich selbst überzeu-
gen kann, wie weit dieselben zu allgemeinen Schlüssen berechtigen, indem
ich nochmals bevorworte, dafs ich zwar durch die zahlreichsten Untersu-
chungen mich bemühte die regelmäfsige Beschaffenheit des Wurzelgewebes
kennen zu lernen um darnach auf etwa vorgegangene, oft krankhafte Verän-
derungen bei der künstlichen Ernährung schliefsen zu können, dafs ich hier-
über dennoch nicht immer eine unbedingte Gewifsheit erreichen konnte da
es natürlich nicht möglich ist dieselbe Wurzel vor und nach dem Versuche zu
untersuchen, ich vielmehr mich darauf beschränken mufste, andere, anschei-
die V egetationsorgane der Palmen. 139
nend unter gleichen Bedingungen gewachsene Wurzeln, wo möglich von der-
selben Pflanze, zu untersuchen, um über die Veränderungen ihrer Bildungs-
vorgänge, während der krankaften Ernährungsweise urtheilen zu könnnen.
Alle diese Versuche und Beobachtungen beziehen sich auf die Wurzeln
der Iriartea praemorsa, von der ich die 4”-6” dieken, dienoch nicht die Erde
erreicht hatten, nahm, da diese leichter unbeschädigt abgeschnitten werden
konnten.
Einige Wurzeln die von dem Stamme getrennt zwei Tage mit der Spitze
in Wasser gestanden hatten enthielten in dem Gewebe der Wurzelmütze gar
keine Stärke, alle Zellen waren sehr vergröfsert die Häute derjenigen der
äufsersten Spitze stark verdickt, alle enthielten einen klaren flüssigen Inhalt
mit einem scharf begrenzten Zellkerne, dessen trüber Inhalt durch Eisenchlo-
ridlösunggrünlich-dunkel gefärbt wurde. In dem jüngsten Rindengewebe ent-
hielten viele senkrechte Zellenreihen Raphidenbündel von oxalsaurer Magne-
sia.(!) Der Zellsaft enthielt eine Säure, die die Kohlensäure des kohlen-
sauren Ammoniakes unter Aufbrausen abschied. (Oxalsäure?)
Nachdem eine andere Wurzel 24 Stunden mit der Spitze in Wasser
gestanden hatte war noch nicht alle Stärke verschwunden. Zu Anfang des
Versuches hatte ich mehrere Wurzeln untersucht, und fand immer in dem
Gewebe der Wurzelmütze grofse Stärkebläschen. —
Mehrere von dem Stamme getrennte Wurzeln die zu gleicher Zeit in
Wasser, in Kohlensäure, in kohlensaures Ammoniak, in humussaures Ammo-
niak und in huminsaueres Ammoniak gestellt wurden zeigten darauf folgende
Beschaffenheit: Die Zellen der Wurzelmütze die zwei Tage in Quellwasser
gestanden hatte enthielten noch Stärke, doch nur als sehr kleine Körner: der
Zellkern, dessen nach der Spitze gewendeten Oberfläche sie anlagen war in
vielen Zellen sehr stark vergröfsert, oft lagen dann die Stärkekörnchen und
der übrige körnige Inhalt der Mutterzelle so zwischen ihren äufseren, nach
der Spitze gerichteten Wandungen und dem grofsen zu einer Zelle ausgedehn-
(') Es waren diese Krystalle in Wasser, Essigsäure, Alkohol, Äther und Ammoniak
schwerlöslich, dagegen wurden sie durch Salpetersäure, Chlorwasserstoffsäure und Schwe-
felsäure sehr leicht aufgelöst. Sowohl wegen dieser sehr raschen Lösung in Schwefel-
säure, wie auch wegen der Armuth des Bodens an Kalksalzen bei vorherrschendem Bitter-
erde-Gehalte, glaubte ich diese Krystalle nicht für Kalk halten zu dürfen, doch fehlt noch
eine genauere Untersuchung. —
52
140 H. Kasstes:
ten Kerne, dafs man den Anblick des von Hartig „gespaltene Ptychodenhaut”
genannten Zellensystemes hatte. Ammoniaklösung färbte den gummiartigen,
dünnflüssigen Inhalt der Zellen nicht. Die Anzahl der mit Raphidenbündeln
gefüllten Zellen war auffallend vermehrt.
Auf der Schnittfläche einer 5” dieken Wurzel war ein mit Quecksilber
gefülltes, doppelt heberförmig gebogenes Glasrohr befestigt worden, um den
etwa während der Wasseraufnahme eintretenden Saftdruck zu erkennen: das
Quecksilber des langen, aufwärts gekrümmten Rohres fing sogleich an zu fallen
erreichte 6”, und erhielt diesen Stand 48 Stunden. Bei einem zweiten Ver-
suche fiel es ebenfalls 6”, und bei einem dritten um 12”. Das Mikroskop
zeigte bei allen ähnliche Verhältnisse wie oben angegeben. —
Obgleich also, wie die Beschaffenheit des Gummi in den Zellen deut-
lich zeigte, Wasser aufgenommen war, (die Zellen und Fasern der ganzen
Wurzel waren mit Flüssigkeit erfüllt) eine Vermehrung der Flüssigkeits-
Menge im Wurzelgewebe stattgefunden: hatte dieselbe keinen Druck auf die
Quecksilbersäule ausgeübt, vielmehr deutete der veränderte Stand der letz-
teren, auf eine Verringerung des Gasvolumens, das sich zwischen der Flüssig-
keit des Wurzelgewebes und dem Quecksilber befand.
Ich schrieb es der in dieser Luft enthaltenen Kohlensäure zu, die von
der gummiartigen Flüssigkeit stark aufgesogen wird, wiederholte daher den
Versuch noch einmal in der Weise, dafs ich ein heberförmig gebogenes mit
Kohlensäure angefülltes Glasrohr auf die Schnittfläche der Wurzel befestigte
und darauf den zweiten Schenkel in Quecksilber tauchte; sogleich wurde dies
in dem Rohre in die Höhe gezogen und stieg rasch um mehrere Zolle, was
ich als Bestätigung meiner Voraussetzung ansah. —
Eine andere Wurzel befestigte ich mit der befeuchteten Spitze luftdicht
in ein mit Kohlensäure gefülltes, unten offenes Glasrohr die durch Queck-
silber abgesperrt wurde, auf die Schnittfläche wurde gleichzeitig das mit Queck-
silber gefüllte Steigerohr gesetzt. Nach zwei Tagen war von der Wurzel 15
C. C. Kohlensäure aufgesogen, während das Quecksilber im Steigerohre 170
stieg. Bei einem zweiten Versuche, bei dem eine ähnliche Menge Kohlensäure
aufgesogen wurde, veränderte sich der Quecksilberstand fast gar nicht, bei
einem dritten um 1”’2. Das Mikroskop zeigte folgende Verhältnisse in dem
Gewebe der Wurzelmütze: der Zellkern war etwas vergröfsert, sehr scharf
begrenzt, enthielt eine körnige Flüssigkeit die durch Jod gelb gefärbt wurde,
die Vegetationsorgane der Palmen. 141
Stärke war sehr wenig als kleine Körner zu erkennen, die dem Zellkerne an-
klebten. Die in den Mutterzellen enthaltene Flüssigkeit war dunkler wie
bei dem ersten Versuche, (s. 0.) wurde durch Eisenchloridlösung getrübt
durch Ammoniak grün gefärbt, sie war weniger leichtflüssig. Die Häute
derselben selbst waren punktirt-verdickt.
In den oberen Theilen der Wurzel wurden die dünnwandigen, gum-
mihaltigen Zellen, die die weiteren Gummifasern des Markes und der Rinde
zunächst umgeben, durch Eisen- und Ammoniak-Lösung gleichfalls grün ge-
färbt. Die Verdickung der Bastfasern schien nicht befördert zu sein, doch
wurden dieselben durch verdünnte Schwefelsäure schneller roth gefärbt.
Eine Bildung von rothem Farbestoffe in dem Gewebe der Wurzelrinde und
der Wurzelmütze, die ich sonst sehr selten antraf, schien durch die Kohlen-
säure hervorgerufen (!).
In diesem Falle also übte der durch die Aufnahme von Kohlensäure
vermehrte und veränderte Zellsaft einen Druck auf die in dem oberen Theile
der Wurzel enthaltenen gasförmigen oder tropfbaren Flüssigkeiten, der sich
hier durch das Steigen des Quecksilbers bemerkbar machte, den die Trän-
kung der Zellenwände, die Füllung der Zwischenzellgänge und die vielleicht
stattfindende Vermischung des Inhaltes derselben mit Wasser nicht hervor-
zubringen vermochte. Man kann wohl annehmen, dafs diese Spannung sich
bei der noch mit dem Stamme verbundenen Wurzel auf diesen fortgesetzt
und in ihm ein Steigen der Nahrungsflüssigkeit bewirkt haben würde. (Man
vergleiche meine Untersuchung über „das Bluten des Rebstockes unter den
Tropen” in dem nächsten Hefte von Poggendorff’s Annalen).
(') Bei einer Geonoma sah ich sehr deutlich, dafs der rothe Farbestoff, der durch
Ammoniak blau gefärbt wird, und der trübe, gelbliche oder weilse Zelleninhalt der auf
Zusatz von Ammoniak eine grüne Farbe annimmt, in zwei Tochterzellen enthalten waren,
die sich gemeinschaftlich in einer Mutterzelle der Wurzelmütze befanden. In den dem
Cambium näheren Zellen war der Zellkern röthlich gefärbt und nahm auf Zusatz von Am-
moniak die blaue Farbe an. Alles deutete darauf hin, dafs dieser rothe Farbstoff sich in
der Tochterzelle während ihres Wachsthums bilde also nicht in einer besonderen Secretions-
zelle; es ist eine Nahrungsflüssigkeit, gleichbedeutend mit dem gummiarligen Schleime
der durch Ammoniak grün gefärbt wird und der wie es scheint in Folge der Auflösung
der Stärke entsteht. Vielleicht bewirkt die Kohlensäure die Veränderung dieses farblosen
oder gelblichen Schleimes in die rothgefärbte Flüssigkeit, die mitwirkenden Einflüsse sind
mir indessen nicht bekannt geworden. —
149 H. Karsten:
Wurde die noch mit der Pflanze verbundene Wurzel in ein Behält-
nifs voll Kohlensäure luftdicht eingesetzt, so absorbirte dieselbe in 24 Stun-
den 1000 CC dieses Gases, wovon 750 CC auf die ersten 12 Stunden, 250 CC
auf die übrige Zeit kamen. Der Versuch wurde zweimal wiederholt, doch
nicht weiter fortgesetzt, weil die Verringerung des kohlensauren Gases gegen
das Ende fast gänzlich nachliefs und die Blätter der Pflanze welk wurden.
Das Mikroskop zeigte dieselben anatomischen Verhältnisse wie die abge-
schnittene, in Kohlensäure gesetzte Wurzel: Vergröfserung der Mutterzellen
der Wurzelmütze mit oft gleichzeitig eintretender punktirter Verdickung
ihrer Häute, eine grofse im Innern derselben schwimmende Tochterzelle
(Zellkern mit Kernkörperchen), ein flüssiger, klarer, durch Jod und Ammoniak
wenig sich färbender Saft in den Zellen, zuweilen derselbe in einzelnen Zel-
len der Wurzelmütze und der Rindenzellen roth gefärbt, Stärke nur in den
jüngsten, dem Cambium nahen Zellen vorhanden, die Zellen der Oberhaut
warzig nach Aussen verlängert. — Bei einer 2 Tage in Kohlensäure gewach-
senen Wurzel der Chamaedorea gracilis waren die Oberhautzellen zum Theil
in Haare ausgewachsen, zum Theil eben so warzig geformt. Diese, wie die
ältesten Zellen der Wurzelmütze, die weiten Gummigefäfse und die Bastfa-
sern waren häufig mit Kohlensäure gefüllt.
Derselbe Versuch wurde mit Wurzeln der Geonoma undata angestellt.
Auch hier hatten darauf die Zellen der Oberhaut sich stark nach Aussen ver-
längert. Stärke war in den Zellen der Wurzelmütze fast gar nicht vorhan-
den, während sie in der gesunden Wurzelspitze nie fehlte, dagegen waren
hier eine gröfsere Menge von Raphidenbündeln in den Rinden- und Mark-
Zellen.
Die Versuche über die krankhaften Veränderungen der Palmenwur-
zeln während ihrer Ernährung und ihres Wachsthumes in Kohlensäure wieder-
holte ich nun mit kohlensaurem Ammoniak. Ich stellte ein Glasröhrcehen mit
einer geringen Menge dieses Salzes in den leeren Schenkel des Steigrohres,
den ich an die Schnittfläche der Wurzel befestigte, während die freie Spitze
der Wurzel feucht erhalten wurde. Der Stand des Quecksilbers im Steig-
rohre wurde indessen in 2 Tagen nicht verändert. Die Schnittfläche der
Wurzel war hierauf dunkel grünlich gefärbt, das Mikroskop zeigte in den
Zellen der Wurzelrinde Chlorophyllbläschen die sonst nicht in den Wurzeln
der Iriartea sich finden. Ferner waren die Tochterzellen (Zellkerne) bedeu-
die Vegetationsorgane der Palmen. 143
tend vergröfsert, sie besafsen fast die Gröfse der Mutterzellen und enthielten
meistens zwei Kernkörperchen die sich zu kleinen, sehr scharf -begrenzten
Bläschen ausgedehnt hatten; diese inneren Zellenvegetationen fanden sich in
allen Formen der Wurzelzellen.
Die Zellen der Wurzelmütze enthielten viele grofse Stärkebläschen,
Raphiden schienen nicht vermehrt zu sein. Die Prosenchymzellen in der
Nähe des Cambium -Cylinders, die später wie Bastzellen verholzen, enthiel-
ten einen gallertartig aussehenden Stoff der sich in Wasser löste und Körn-
chen und Bläschen hinterliefs.
Bei Wiederholung des Versuches zeigte sich derselbe Erfolg. Eine
andere Wurzel setzte ich in eine wässrige Lösung von kohlensaurem Ammo-
niak, auch hier veränderte sich der Stand des Quecksilbers in dem Steige-
rohre nicht. Nach zwei Tagen befanden sich in den Zellen der Wurzelmütze
viele kleine, gelblich aussehende Stärkebläschen in einer schleimigen, durch
Jod sich gelb färbenden Flüssigkeit und Zellkerne, die gleichfalls das un-
durchsichtige Ansehn besafsen, das die mit dem gallertartig-festen Stoffe ge-
füllten Prosenchymzellen des Markes zeigten. Das cambiale Gewebe der
Wurzelspitze war bedeutend vergröfsert und mit einer gelben, trüben Flüssig-
keit angefüllt, die durch Salpetersäure noch tiefer gefärbt wurde. —
Um mich zu überzeugen, dafs wirklich Ammoniak von dem Wurzel-
gewebe aufgenommen werde, brachte ich die unbeschädigte Wurzel einer Iri-
artca, die noch mit dem Stamme zusammenhing, in eine sehr verdünnte Lö-
sung von 3 Gran kohlensaurem Ammoniak und vermischte die noch ungefärbte
Flüssigkeit, nachdem die Wurzel drei Tage darin gestanden mit Chlorwasser-
stoffsäure, nahm den nach Verdampfung der gröfsten Menge des Wassers ge-
bliebenen Rückstand mit Spiritus auf und schlug nun das Ammoniak mit
Platinchlorid nieder. Nach dem Glühen dieses Niederschlages erhielt ich
0,167 grm Platin; es hatte sich also das kohlensaure Ammoniak fast um 2
verringert. —
Endlich machte ich sehr zahlreiche Versuche mit ähnlichen Wurzeln
der /riartea die ich vom Stamme abgeschnitten in Lösungen von humus- und
humin-saurem Ammoniak setzte. Es zeigte sich kein Unterschied in der Wir-
kung der beiden Körper. Nachdem die Wurzeln zwei Tage mit der Spitze in
diesen Flüssigkeiten gestanden, war das ganze Gewebe der Wurzelmütze und
das des Wurzelmarkes und der Rinde in der Nähe des Cambiums mit Stärke
444 H. Karsten:
angefüllt. Die Zellkerne enthielten eine körnige Flüssigkeit, die durch Jod gelb,
durch Ammoniak grünlich gefärbt wurde. Auch das Cambium und die Zel-
len der Wurzelmütze färbten sich durch Ammoniak grün, der Oberfläche nä-
her verlor sich diese, auf Zusatz von Ammoniak erscheinende grüne Farbe
und die ältesten Zellen der Wurzelmütze, wie die der Epidermis enthielten
Kohlensäure. Durch Eisenchloridlösung wird der Inhalt der Zellen grünlich
gefärbt und gerinnt auf den Zusatz von Alkohol. Im letzteren Falle trenn-
ten sich die verschiedenen Häute der ineinanderbefindlichen Zellen, wodurch
es deutlich wurde, dafs die Stärke innerhalb der zweiten (innern) Zelle und
der schleimige durch Ammoniak sich grün färbende Stoff in einer dritten (in-
nern) Zelle, dem vergröfserten Zellkerne, befindlich war. — Raphiden waren
sehr wenig in den prosenchymatischen Zellenreihen der Rinde und des Mar-
kes enthalten, die in älteren Theilen der Wurzel verdickte Wandungen besi-
tzen. Die Form der Zellen der Wurzelmütze war eine cylinderische, parallel
der Axe der Wurzel, während dieselben, wenn die Wurzel in Kohlensäure
gestanden hatte, würfelförmig, nach aufsen warzig erweitert waren; die Jünge-
ren Epidermialzellen lagen eng nebeneinander, die jüngsten, die in der natür-
lich ernährten Wurzel immer zuerst von dem Cambium gesondert werden, waren
von dem benachbarten Gewebe noch nicht zu unterscheiden. Alles deu-
tete auf eine vermehrte Zellenbildung bei vermindertem Zellenwachsthume.
Das Quecksilber in dem Steigerohre, das ich auf die Schnittfläche meh-
rerer Wurzeln setzte, veränderte nicht seinen Stand. Zuweilen fand sich in
den weiten Gummifasern nach dem Versuche noch Kohlensäure. —
Bei anderen Wurzeln, die vier Tage in den organischen Ammoniak-
verbindungen gestanden hatten, war weniger Stärke vorhanden, dagegen schien
sich die Menge der Raphiden und des schleimigen Inhaltes der dritten (inneren)
Zelle (des vergröfserten Zellkernes) vermehrt zuhaben. Die Häute der äufse-
ren Zellen der Wurzelmütze waren verdickt, einige derselben, so wie viele der
Prosenchymzellen der Holzbündel, enthielten den gallertartigen Stoff der
sich, wie oben beschrieben, im Wasser löst; er wurde hier durch Jod gelb
oder bräunlich gefärbt, gewöhnlich bleibt er sonst bei natürlich ernährten
Pflanzen farblos. —
Bei Wurzeln die acht Tage mit der Spitze in einer gleichen Flüssigkeit
gestanden hatten, war keine Stärke aufzufinden, nur die jüngeren dem Cam-
bium zunächst befindlichen Zellen der Wurzelmütze enthielten den durch
die V egetationsorgane der Palmen. 145
Ammoniak grün gefärbt werdenden Schleim, der sich überdies in den pros-
enchymatischen, später verholzenden Bastzellen vorfand; die den Gummifasern
zunächst befindlichen Zellen waren mit dem festen, gallertartigen, in Was-
ser lösbaren Stoffe angefüllt. Die Spiralfasern waren bis nahe in die Spitze
der Wurzel bis zum Cambium verlängert, die Zusammensetzung derselben aus
Spiralzellen war hier besonders deutlich zu erkennen. Die jüngeren Epi-
dermialzellen standen sehr gedrängt nebeneinander und waren wenig ausge-
bildet, die äufseren Zellen der Wurzelmütze waren meist cylinderförmig.
Alle Zellen waren voll deutlicher, grofser Kerne die durch Eisenchloridlö-
sung dunkelgrünlich gefärbt wurden. In den Gefäfsen war kein kohlensau-
res Gas zu erkennen, sie waren mit Flüssigkeit angefüllt. —
Fassen wir nun alle diese, in Folge der krankhaften Ernährung einge-
tretenen Erscheinungen zusammen, so lassen sie den allgemeinen Schlufs zu,
dafs die Einwirkung der Kohlensäure die Entfaltung, die Ausdehnung, der
Zellmembran befördert, die stickstoffhaltigen Stoffe dagegen der Zellen-
vermehrung &
OS
haltiger Nahrungsmittel gebildet zu werden, und auch die dann anfangs er-
zeugte, bei längerer Einwirkung desselben Stoffes, später wieder für die Berei-
ünstig sind. Stärke scheint nur bei der Gegenwart stickstoff-
tung anderer Nahrungssäfte verbraucht zu werden.
Die in dem Zellgewebe enthaltene Stärke, so wie die in Folge des Zu-
flusses stickstoffiger Verbindungen anfangs gebildete, wird bei einer aus-
schliefslichen Ernährung durch reines Wasser, durch Kohlensäure und die-
selben Stickstoff-Verbindungen verflüssigt: während sich, besonders ausge-
zeichnet im letzteren Falle, in der auswachsenden dritten (inneren) Zelle ein
schleimiges Gummi ansammelt. Längere Einwirkung von Kohlensäure auf
das Wurzelgewebe der Palmen scheint die Bildung von Oxalsäure zu beför-
dern, die bei Gegenwart von erdigen Basen mit diesen sich verbindet und in
den später zu Bast sich verändernden Zellen auskrystallisirt. Nach der län-
ger fortgesetzten Ernährung vermittelst humussaurer- oder huminsaurer-Ver-
bindungen fand ich öfter auch in den weiten Zellen des Markes und der Rinde,
die später zu Netzfasern sich vereinigen, Krystallbündel dieser oxalsauren
Magnesia, während die zunächst umgebenden, später verholzenden Zellen mit
dem durch Ammoniak sich grün färbenden Schleime erfüllt waren. Vielleicht
wird auch die Bildung der Spiralfasern durch das stickstoffreiche Nahrungs-
mittel befördert. Die Gestalt der äufseren Zellen der Wurzelmütze und der
Phys. Kl. 1847. T
146 H. Karsten:
Epidermis nähert sich nach der Ernährung durch Kohlensäure mehr der wür-
felförmigen, nach der Ernährung durch Stickstoffverbindungen mehr der cy-
linderischen; in dem letzteren Falle wird die gleichförmige Verdickung der
Haut der Mutterzelle, (ähnlich wie bei dem hornigen Eiweilse) so wie die punk-
tirte Verdickung der nächst inneren Zelle (zweiter Ordnung) und die Ausdeh-
nung der folgenden (Zelle dritter Ordnung, Zellkern) befördert.
Die Wurzel einer Chamaedorea gracilis, deren Stamm schon seit einem
halben Jahre einige Fufs über der Erde abgeschnitten war, enthielt in der
noch frischen, lebenden Spitze fast gar keine Stärke, ganz kleine Körnchen
ausgenommen die sich in den, dem Cambium zunächst befindlichen Zellen
fanden. Die Zellen aller Gewebe der Wurzel waren sehr regelmäfsig ausge-
bildet, jede mit einem scharf begrenzten, grolsen Zellkerne der in einer kör-
nigen Flüssigkeit ein deutlich als Bläschen erkennbares Kernkörperchen ent-
hielt. Die Spiralfasern erreichten lange nicht die Spitze des Cambiumeylin-
ders nnd endeten hier nicht als solche, sondern. als punktirt-verdickte Fasern.
Die Holz-und Bast-Zellen des Markes und der Rinde die in der ge-
sunden Pflanze eine durch Jod sich gelbfärbende, gummiartige, schleimige Flüs-
sigkeitenthalten, waren hier mit einem hellen, klaren Safte angefüllt, der durch
Jod nicht gefärbt wurde. Die Querscheidewände waren noch nicht resorbirt.
In dem Marke besafsen dieselben noch die dünnen Wandungen, wo in glei-
cher Höhe die Bastfasern der Rinde schon verholzt waren. (In der gesun-
den Wurzel sind die weiten Gummifasern und die Bastzellen der Rinde und
des Markes bis zu gleicher Höhe verdickt.) Diese schon verholzten Fasern
der Rinde enthielten noch Raphiden, die sich auch in der nicht verholzten
Verlängerung bis in die Nähe des Cambiums in grofser Menge vorfanden.
Bei einer zweiten Wurzel die gleichfalls an einem Stammende gewach-
sen, dessen Krone abgeschnitten war verhielten sich alle diese Zustände sehr
ähnlich. — Es scheinen diese Beobachtungen für die aus den oben mitge-
theilten Versuchen geschlossenen Folgerungen zu sprechen, dafs die Gewebe
der Wurzeln sich beim Vorhandensein von Kohlensäure auszudehnen vermö-
gen durch Vergröfserung der angelegten Zellen, dafs jedoch beim Mangel
der nothwendigen Stickstoffverbindungen (diese' konnten weder von den
Blättern durch den Stamm, noch von dem Boden gegeben werden da die
Beobachtungen in die regenlose Zeit fielen) die Bildung von Zellen und ge-
wisse Wachsthumserscheinungen derselben unterdrückt werden. — Diese
die Vegetationsorgane der Palmen. 147
Thatsachen zeigen ferner, dafs die Wurzeln, in einem gewissen Grade, unab-
hängig von der Einwirkung der Blätter fortbestehen können, dafs ihre ganze
Thätigkeit wahrscheinlich nur bezweckt Stoffe hervorzubringen durch deren
Hülfe den oberen Theilen der Pflanze die nöthige Feuchtigkeit und die zu
ihrem Bestehen erforderlichen mineralischen Stoffe zugeführt werden, so
wie die Blätter die Gase aus der Atmosphäre ansammeln und dem Stamme
zuführen, die sowohl für die Ernährung der Gewebe bestimmt sind, wie auch
das Aufsteigen jener Flüssigkeiten erleichtern. —
Wenn ich in Folge der mitgetheilten Beobachtungen der Bildungs-
und Wachsthums-Erscheinungen der Wurzel wagen darf eine Vermuthung
über die Thätigkeit des, allen wirklichen Wurzeln eigenthümlichen, als Wur-
zelmütze bezeichneten Theiles auszusprechen, so ist es die, dafs mir dies Ge-
webe dazu bestimmt scheint die unorganischen Stoffe aus der Umgebung zu
sammeln und in die Wirkungsweite der assimilirenden Thätigkeit des Pflan-
zengewebes zu führen.
Die äufserste Zellenschichte fanden wir mit Kohlensäure, die daran
grenzende mit einer Flüssigkeit erfüllt die nach Berührung von verdünnter
Schwefelsäure gleichfalls eine Luftart (Kohlensäure) entliefs. Weiter nach
Innen sahen wir die dritte, innere Zelleim Wachsthume begriffen, während sich
ein schleimig-gummiartiger Stoff in ihr absonderte und gleichzeitig die Stärke
sich verminderte, die in den, dem Cambium noch näher liegenden Zellen in
gröfserer Menge vorhanden war. Durch Versuche mit Wurzelspitzen wie an-
deren Pflanzentheilen die einen diesem Schleime, wie es schien, gleichen Stoff
enthielten, überzeugte ich mich von dem bedeutenden Absorbtionsvermögen
desselben für Kohlensäure. Die mit diesem Stoffe erfüllten Zellen der Wur-
zelmütze, die äufserste der mit Flüssigkeit erfüllten Schichten derselben, darf
man darnach wohl als die, besonders die Kohlensäure absorbirenden Organe
ansehen, die dem Cambium näheren sind noch in der Entwickelung begrif-
fen, in ihnen ist jedoch sowohl das Wachsthum wie die Neubildung beendet,
sie liegen entweder der Oberfläche zunächst oder sind nur von einer wenig
zusammenhängenden Schicht, mit gasförmiger Kohlensäure erfüllter Zellen
bedeckt. Kommt nun dies Gewebe mit Feuchtigkeit in Berührung, so wird
nicht nur die für dieselbe durchdringliche Zellhaut mit ihr getränkt, sondern
sie wird auch, bei überwiegender Masse von Flüssigkeit, die Mischung beider
w2
148 H. Karstenr:
Stoffe, (des Ein- und Aus-geschlossenen) nach den Gesetzen der Anziehung
beider, gestatten müssen. Sie wird getödtet. —
Durch diese Diffusion ist das noch assimilirende Gewebe der Wurzel-
mütze zunächst umgeben von einer Lösung von Kohlensäure in Wasser oder
von demselben Stoffe gemischt mit einer organischen Flüssigkeit; jedenfalls
das beste Lösungsmittel nicht nur für Ammoniak und die übrigen Alkalien
sondern auch für die in reinem Wasser schwerlöslichen mineralischen Stoffe,
die später einen Bestandtheil des Pflanzengewebes ausmachen.
Dieses Gemisch unorganischer und organischer Lösungen tränkt nun
die trockneren Zellhäute, füllt die engen Zwischenzellräume, löst die in die-
sem durch Austrocknen verdichteten Stoffe (die Zwischenzellsubstanz) und
gelangt so zu den verschiedenen Geweben des Pflanzenkörpers von denen
jedes sich auf eine seiner Natur und Stellung im Organismus entsprechenden
Weise, in Folge der Annäherung dieser Flüssigkeit, verändert und auf die-
selbe verändernd einwirkt: das Cambium anders wie die benachbarten Stärke
enthaltenden Zellen und diese wieder in anderer Weise wie die Sammler der
oxalsauren Salze oder die mit Gummi angefüllten Zellen und Fasern. —
Fast überall sehen wir die Vergröfserung der Zellen von einer Abson-
derung eigenthümlicher Stoffe in ihrem Innern begleitet: dafs die veränderte
Form der Zelle auf eine veränderte chemische Zusammensetzung der Zell-
haut deute, dafür sprechen die oben mitgetheilten Versuche und Beo-
bachtungen über die Formveränderungen der Oberhaut der Palmen, dafs
meistens die verschieden geformten Zellen einen verschiedenartigen Stoff als
Inhalt umschliefsen, dies zeigt jedes aus verschiedenen Geweben zusammen-
gesetzte Pflanzenorgan. Aller dieser Andeutungen der Assimilationsthätig-
keit der Zellmembran und der stattfindenden Wechselwirkung derselben mit
ihrem Inhalte ungeachtet, kann man sich, seit Dutrochet 1826 auf die Eigen-
schaft der Zellmembran eine Diffusion zuzulassen aufmerksam machte, nicht
von dem Gedanken frei machen, die Diffusion bewirke die Vertheilung der
Säfte in dem lebenden Organismus. In der That ein merkwürdiges Beispiel
wie leicht sich der menschliche Geist verleiten läfst, in der Freude über die
Aufklärung einer dunkelen Erscheinung, über die Erkennungeines verborge-
nen Gesetzes sich nicht nur der Hoffnung hinzugeben, durch dasselbe an-
dere ähnlich scheinende Vorgänge verstehen zu lernen, sondern, der vorge-
die V egetationsorgane der Palmen. 149
fafsten Meinung vertrauend, selbst diese Übertragung auszuführen ohne ein-
mal die nothwendige, strenge Prüfung unternommen zu haben, die allein vor
Irrthümern bewahren kann. Und so schwierig wäre es in dem vorliegenden
Falle nicht gewesen die Täuschung zu erkennen, denn die gröfste Mannigfal-
tigkeit des Inhaltes der verschiedenen, nebeneinanderliegenden Zellen zeigt
auf einen Blick, dafs dieser Inhalt nicht dem Bestreben der verschiedenarti-
gen Stoffe sich zu einem gleichartigen Produckte zu vereinigen, seine Entste-
hung verdanken könne. —
Das Blatt.
Die Entwickelung des ersten blattartigen Organes, des Saamenlappens,
haben wie schon oben bei der Betrachtung der Keimung der Palmen verfolgt
und zugleich gesehen, dafs die folgenden seitlichen Ausbreitungen auf gleiche
Weise sich von dem ursprünglich einfachen elliptischen Zellenkörper abson-
dern, indem sie unterhalb der gleichzeitig fortwachsenden Spitze des embryo-
nalen Stammkörpers sich an dessen Oberfläche als ringförmiger Wulst erhe-
ben,(!) durch Zellenvermehrung des cambialen Randes dieses Wulstes sich
scheidig verlängernd, während die in dem Cambium des ursprünglichen Keim-
lings entstandenen Spiralfasern sich mit der gleichzeitigen, theilweisen Umbil-
dung des Grundes dieser Scheide in dieselbe hinein verlängern. —
Die eine Seite dieser Scheide, und zwar diejenige die dem Saamenlappen
gegenübersteht, nimmt etwas mehr an Dicke zu, wie die in seiner Achsel be-
findliche, es ist die Andeutung derjenigen Stelle die an den mehr entwickelten
Blättern die Blattfläche trägt. In diese Seite hinein verlängert sich auch die
erste der in dem Umkreise des Stammkörpers des Keimlings entstandenen
(') Man hat die Frage aufgeworfen, ob das Blatt aus einer Zelle der Stammspitze
entstehe oder aus einer Zellengruppe; bei den Palmen ist die erstere Bildungsweise nicht
zu beobachten, es findet sich die erste Anlage des Blattes stets als ringförmiger Wulst
die ganze Stammspitze umfassend, so wie die Eihüllen an dem Eikerne entstehen. In
beiden Fällen ist wohl kaum daran zu denken den Anfang der Wachsthumsthätigkeit in
einer Zelle zu entdecken; es ist ein bestimmter Abschnitt des Cambiumgewebes des Gip-
feltriebes in welchem eine Vermehrung der Zellenbildung eintritt. Dafs die Entwickelung
der Eihüllen nicht ungegründet mit der Entwickelung der Blätter verglichen werde, da-
für spricht die Ausbildung derselben zu wirklichen, blattartigen Organen an den Eichen
der plantae viviparae z.B. bei Poa und Feszuca.
4150 H. Kansrten:
Spiralen, als die erste Grundlage eines Holzbündels, das als die Mittelrippe
diese Scheide durchzieht und sich durch die gröfsere Anzahl von Holzfasern
und Bastzellen, die sich aus dem sie umgebenden Cambium bilden, von den
übrigen in bestimmten Abständen im Scheidengewebe vertheilten Holzbün-
deln auszeichnet. Dieser Kreis oder Ring von Holzbündeln nimmt, wie oben
angegeben, von dem cambialen Knospengrunde seinen Anfang, ihm folgt ein
anderer mit jeder neuen Blattanlage, die nach der Verlängerung des Stamm-
körpers des Keimlings nicht mehr in dem Knospengrunde selbst, sondern
später in dem nach oben verlängerten, die Spitze desKnöspengewebes mit dem
Grunde verbindenden cambialen Umkreise desselben beginnen, an dessen in-
neren und äufseren Oberfläche sich überdies Parenchymgewebe als Mark
und Rinde absondert. Es ist dies derselbe Vorgang den wir später bei allen
übrigen sogenannten Gefäfspflanzen wieder finden werden, nur dafs hier bei
den Palmen der seltnere Fall eintritt, dafs ein ganzer Kreis von Holzbündeln
sich von dem Umkreise des Holzeylinders fast gleichzeitig für das Blatt trennt,
während gewöhnlich nur ein Bündel den Holzeylinder unterhalb der Blatt-
anlage verläfst, dem später jederseits wohl noch einige folgen. —
Auch das folgende Blatt erhält noch meistens keine Blattfläche es ist
wie das vorhergehende ein einfaches, zusammenhängendes Rohr, das die
nächsten, jüngeren Blattanlagen und die auswachsende Gipfelknospe selbst
scheidenartig umgiebt; der obere Rand ist meistens schräg zugespitzt, wobei
die Spitze der verdickten Seite der Scheide aufgesetzt ist und in ihr das gröfste
Holzbündel endet.
Es ist bei den verschiedenen Arten verschieden, wie rasch die zuneh-
mende Entwickelung der auf einander folgenden Blätter vor sich geht, mei-
stens besitzt schon das dritte Blatt eine freie Fläche, die verlängerte platten-
artige Ausbreitung des zugespitzten Randes der stärker entwickelten Seite der
Scheide; es tritt dann auch, mit dieser Formveränderung zugleich, eine verän-
derte Richtung des Verlaufes der Holzbündel ein, indem alle, die das Ge-
webe der Scheide der Länge nach durchziehen von ihrem senkrecht aufstei-
genden Wege abweichen und sich nach der Seite hin wenden die die Blatt-
fläche trägt, wo sie dann, gedrängter nebeneinanderstehend, einen Halbkreis
bilden. —
Die erste Blattfläche ist meistens, sowohl bei den Palmen mit fächel-
förmigen, wie bei denjenigen mit fiederförmigen Blättern einfach, ungetheilt
die V egetationsorgane der Palmen. 151
und längsfaltig, selten an der Spitze eingekerbt wie z.B. bei den Arten der Gat-
tung Geonoma. In diesem Falle hängen die beiden Lappen des Blattran-
des noch während der Knospenlage bis in ihre Spitze innig zusammen und
das sie verbindende Gewebe wird erst während der Entfaltung des Blattes
zerrissen. Diesen einfacheren Blattformen folgen nach und nach zusammen-
gesetztere, die den völlig ausgebildeten Blättern der erwachsenen Pflanze ähn-
licher werden.
Der Bildungsvorgang dieser ist dem des einfachen Blattes ähnlich, doch
etwas verwickelter durch die zusammengesetztere Form; in der Gipfelknospe
eines erwachsenen, kräftigen Stammes sieht man alle Entwickelungsstufen ne-
beneinander. Entfernt man hier alle schon entfalteten Blätter und die älte-
ren Blattanlagen behutsam nach einander, so kommt man endlich auf die un-
getheilte halbkugliche Verlängerung der Stammspitze, die von einem wul-
stigen Ringe umgeben ist. Dieser Wulst, die erste Anlage eines Blattes, ist
an einer Seite mehr verdickt, wie in dem übrigen Umkreise und zugleich in
etwas älterem Zustande, ringsum so weit verlängert, dafs die cambiale Stamm-
spitze mit der, etwainzwischen gebildeten, folgenden, jüngeren Blattanlage über-
wachsen ist.
Einige Zustände dieser jüngsten Blattanlage habe ich von der Chamae-
dorea gracilis Willd. und Iriartea praemorsa Kl. auf der zweiten Tafel gezeich-
net. (Dafs die Gipfelknospe des Stammes nicht in der Mittellinie desselben liegt
bemerkt schon Casp. Fried. Wollf in seiner Zheoria generationis 1774 8.44.)
In Fig. 3. ist die Blattanlage der /riartea so weit verlängert und das Gewebe
zugleich so sehr vermehrt, dafs die ursprünglich die Stammspitze umgebende
eylinderische Öffnung so weit verwachsen ist, dafs nur noch die Spitze des
nächst jüngeren Blattes aus derselben hervorragt. Es ist dies der Ort wo die
scheidenartige Blattstielbasis in den einfachen, verlängerten Blattstiel übergeht.
Dieser besteht Jetzt aus einem zugespitzten, etwas breitgedrückten Zellenkegel,
dessen Kanten rechts und links von der Axe des Stammes liegen. In dem
cambialen Gewebe dieser Kanten entstehen querliegende, wulstartige Erhe-
bungen, wodurch dieselben von unten bis in die Spitze eingekerbt erscheinen;
doch ist diese Einkerbung nur scheinbar, hervorgebracht durch die starken
seitlich en Hervorragungen des Randes, indem die eigentliche, äufserste Kante
desselben nicht in die wulstartigen Erhebungen mit inbegriffen ist, sondern
gradlinig über alle fortläuft.
152 H. Kunstek:
Das Gewebe der Scheide und des Blattstieles ist zu dieser Zeit schon
in Parenchym und Holzbündelanlagen gesondert, ersteres enthält kleine Stär-
kekörperchen. In dem Grunde des Blattstieles zeigen sich in den cambialen
Holzbündeln schon einzelne Spiralfasern, während in den oberen Theilen
desselben eine solche nur in dem mittleren Holzbündel vorhanden ist.
Mit dem fortschreitenden Wachsthume und der Ausdehnung der Zel-
len des Blattstieles dauert gleichzeitig die Zellenbildung in dem inneren Ge-
webe des scheinbar eingekerbten, cambialen Randes desselben fort und zwar
auf die Weise, dafs diese Kerben, die ersten Andeutungen der Blattfiedern
nicht blos rechts und links sich ausdehnen und dadurch die früher etwas breit-
gedrückte Form des Blüthenstieles abrunden, sondern auch fast parallel mit
dem Blattstiele in senkrechter Richtung emporwachsen, so dafs die oberen
durch die nächst unteren gedeckt werden. In Fig. 4 habe ich den Zustand
des Blattes gezeichnet wo diese Anlagen der Blattfiedern — die an jeder Seite
desselben alie, von der untersten bis zur obersten, durch die nicht ungleich-
förmig ausgewachsene Kante zusammen vereiniget sind, — die Ausdehnung
erhalten haben, wo der Blattstiel, aus dessen Oberfläche sie herangebildet
wurden, ganz durch sie verdeckt ist. Das Gewebe derselben ist zu dieser
Zeit noch durchaus cambial, nicht in Parenchym gesondert. Die Ober-
haut besitzt keine Spaltöffnungen, während auch in den Holzbündeln des
oberen Theiles des Blattstieles schon einzelne Spiralfasern gefunden werden.
Diese Spiralfasern erscheinen zuerst in denjenigen cambialen Holzbündeln
der Blattanlagen, die das innerste Parenchym des Blattstieles begrenzen und
zwar erhält sie als erstes das mittlere, dem Umkreise zugewendete Bündel,
(Fig. 6 a) welches den ganzen Blattstiel, bis in die bei der Entfaltung des Blat-
tes sich abtrennende Spitze, durchzieht; dann treten sie in den beiden zunächst
stehenden Bündeln auf, die das erste begleiten, und nach und nach auch in
den entfernteren dieses Kreises, die sich in die Blattfiedern abzweigen, de-
ren Mittelrippe sie bilden. Später erscheinen erst die Spiralfasern in den
mehr nach Aussen befindlichen Cambium-Bündeln (b) der Blattbasis, die
gleichfalls sich in die Blattfiedern wenden und zwar von diesen wiederum
in denjenigen zuerst, die dem Holzbündel (a) zunächst stehen. Derjenige Theil
des zuerst entstandenen cambialen Wulstes (Fig. 1. und 2.), der nicht zum
Blattstiele auswächst, hat sich inzwischen zu der Blattscheide ausgebildet und
an der dem Blattstiele entgegengesetzten Seite ein wenig die Öffnung der
die V egetationsorgane der Palmen. 153
Scheide überwachsen Fig. 4. c. und Fig. 5. wodurch dieser Theil an eine ähn-
liche Bildung des Saamenlappens mancher Gräser erinnert, den Richard „epi-
blastus” nennt z.B. bei Triticum, Avena, Lolium, Olyra ete. und den Mir-
bel, Bischoff, Lindley, Decandolle für einen zweiten Saamenlappen
halten, (Vergl. Bischoff’s Handbuch der bot. Term. p.531) während Schlei-
den ihn gar für die ligula erklärt (Grundzüge p. 185 Fig. 153. b.)
In noch älteren Blattanlagen bekommen auch die einzelnen Blattfie-
dern ebenfalls wellige Hervorragungen oder Einkerbungen, den Falten des
vollständig angelegten Blattes entsprechend; doch auch in ihnen erstreckt sich
diese Faltung des Gewebes nicht auf den oberen Rand desselben, so dafs alle
Blattfiedern sowohl untereinander zusammenhängen, als auch die Falten je-
der einzelnen durch einen nicht gefalteten Saum zusammengehalten werden.
In Fig. 5 habe ich eine solche Entwickelungsstufe der Blattanlage der Iriartea
gezeichnet, wo man deutlich sieht wie jede einzelne gefaltete Blattfieder, de-
ren obere durch die unteren bedeckt werden, von einem nicht gefalteten Rande
eingefafst wird. In diesen Blattfiedern ist jetzt gleichfalls die Umbildung
des Cambiums in Parenchym eingetreten, es enthält kleine Stärkekörperchen:
das Gewebe der Oberhaut ist mit einer schleimigen Flüssigkeit in der die ter-
tiäre Zelle, der Zellkern, schwimmt angefüllt: die Spaltöffnungszellen zeich-
nen sich jetzt vor den übrigen Zellen der Oberhaut durch ihren Stärkegehalt
aus, die Haut der Mutterzelle, die die beiden den Absonderungsstoff enthal-
tenden Zellen umhüllt, ist durchlöchert, und dadurch der Atmosphäre der
Zutritt zu dem Parenchyme des Blattes gestattet; man sieht, dafs von diesen
Stellen aus sich die Zwischenzellräume mit Luft füllen: die cambialen Holz-
bündel derselben enthalten einzelne Spiralfasern, es sind Verlängerungen der
Faserbündel des Blattstieles, die dort, wie oben beschrieben das mittlere Par-
enchym einfassen; aus einem solchen Bündel entspringen die Fasern meh-
rerer Blattfiedern in verschiedener Höhe des Blattstieles. —
Das Gewebe des Blattstieles ist zu dieser Zeit mit grofsen Stärkebläs-
chen angefüllt, die Entwickelung der Holzbündel ist sehr viel weiter vorge-
schritten, vor den zuerst gebildeten Spiralfasern stehen andere, gleichfalls ab-
rollbare, weitere Fasern zu einem Bündel vereinigt. Die weiten Gummi-
fasern des Bündels sind noch nicht angelegt. In der, auf das erste Erschei-
nen der Spiralfasern folgenden Verholzung der cambialen Bündel tritt später
eine veränderte Folge ein, da dann die äufseren der Oberfläche (und zwar
Phys. Kl. 1847. U
154 H. Kaxstenr:
der unteren) zunächst stehenden Bündel zuerst verholzte Fasern und Bastzel-
len erhalten. Die scheidige Basis des Blattstieles verhält sich ähnlich wie die-
ser, doch sind die Höhlen aller Zellen mehr erweitert.
Das Gewebe des nicht gefalteten Blattrandes ist in seiner Entwicke-
lung demjenigen der Blattfiedern immer etwas voraus. Es verhält sich, hin-
sichts dieser frühzeitigen Entwickelung, wie ein Epidermialgewebe, doch ist es,
wegen derin ihm ununterbrochen sich verlängernden Holzbündel, durchaus
nicht dazu zu rechnen. Es besitzt schon Spaltöffnungen, wenn in der Ober-
haut der Blattfiedern diese noch nicht aufzufinden sind. Es ist grofszellig,
enthält einen klaren, schleimigen Zellsaft und einen sehr deutlichen Zellkern.
Die Zwischenzellräume sind hier schon mit Luft erfüllt, wenn das kleinzellige
Gewebe der Blattfiedern noch mit einer trüben, schleimigen Flüssigkeit ge-
tränkt ist und viele endogene Zellen enthält. Die Holzbündel verlängern
sich aus den Blattfiedern in diesen Rand, in welchem sie bis zur Spitze ver-
laufen. —
Nach der vollständigen Ausbildung des Blattes, mufs sich nun, bei der
von oben beginnenden Entfaltung desselben, die zusammengefaltete Blatifläche
von dem, diese Falten zusammenheftenden Blattrande trennen. Dieser, der
sowohl mit dem unteren Theile des Blattstieles, wie mit der Spitze zusam-
menhängt, bleibt bei gewissen Pflanzen noch einige Zeit im Umkreise der
sich ausbreitenden Blattfiedern ausgespannt; es ist dies besonders bei den
Gattungen der Fall, wo der sich abtrennende Blattrand eine bedeutendere
Dicke und dadurch eine gröfsere Festigkeit und zugleich gröfseren Zusam-
menhang besitzt wie z.B. bei der Iriartea, während bei anderen nur die Ver-
bindungsstellen von einer Blattfiederspitze mit dem Rande der nächst höheren
durchreissen, in welchem die von jenem sich in diesen verlängernden Holzbün-
del befinden, und das die nebeneinanderliegenden Blattränder der verschiede-
nen Fiedern vereinigende Parenchym gleichfalls zerrissen wird. Durch diese
Zerreilsung der Holzbündel der Blattspitzen, die sowohl die Mittelrippen der
Blattfiedern, wie auch den ganzen gemeinschaftlichen Blattstiel durchziehen,
und durch die zuerst eintretende Trennung einer kurzen stachelartige Verlän-
gerung des Blattstieles selbst, in welcher die Holzbündel dieses letzteren en-
den, werden fast alle in den gröfseren (wie wir bei der Betrachtung des
Stammes sahen, die Mitte seines Markgewebes durchziehenden) Bündeln
des Holzeylinders enthaltenen Fasern und Gefäfse dem unmittelbaren Zu-
die Vegetalionsorgane der Palmen. 155
tritte der Atmosphäre geöffnet: es können jetzt dieselben mit denjenigen
luftförmigen Stoffen sich unmittelbar füllen, die früher nur durch Hülfe
der Spaltöffnungen und Zwischenzellgänge in ihre Nähe gebracht, und durch
Vermittelung ihrer Häute von ihnen aufgenommen werden konnten. Taf. II
Fig. 7 habe ich das Ende des Blattstieles des Oenocarpus utilis Kl. nachdem
die Spitze desselben sich abgetrennt hatte, von oben gesehen, gezeichnet. Es
ist eine Vereinigung mehrerer Holzbündel zu einem einzigen, das aus Bastzel-
len und Holzfasern nebst verholzten Netzfasern besteht.
Die durch diese eigenthümliche Einrichtung herbeigeführte Verände-
rung in dem Zutritte der Atmosphäre zu dem inneren Gewebe der Pflanze, ist
ohne Zweifel auf die Ernährnng desselben von einigem Einflufse. Vielfach
angestellte sorgfältige, vergleichende Untersuchungen und Messungen des
Blattes und seiner Gewebe haben mir bis jetzt das Ergebnifs geliefert, dafs für
das Palmenblatt dieser Bau, in Bezug auf die Bildung und Umbildung der fe-
sten Absonderungsstoffe des Zelleninhaltes, von keinem bemerkbaren Einflufse
ist: auf das Wachsthum und die Ausdehnung der Zellen selbst, besonders
in den unteren Theilen des Blattstieles, indessen fördernd einwirkt. Auf-
fallender noch tritt dies letztere Verhältnifs bei der Entwickelung des Stam-
mes ein, wo nach der Entfaltung des Blattes die ihr Breitenwachsthum been-
deten Stengelglieder sich in beschleunigtem Maafsstabe in die Länge aus-
dehnen. Bei den zu den jüngeren Blattanlagen gehörenden, ihren Durchmesser
noch vergröfsernden Stammtheilen, bis zu dem entwickelten, jedoch noch
nicht entfalteten Blatte nahm die Länge desselben wie 1: 2: 4 zu; dann aber
war die Länge des, unter dem kürzlich entfalteten Blatte stehenden Stammthei-
les nicht 8 sondern 20 und die der folgenden, zu den schon älteren Blättern
gehörenden, im Durchschnitte 50.
In dem Grunde aller Blattanlagen der Gipfelknospe in dem alle in das
Blatt eintretenden Holzbündel-Anlagen nahe beisammen liegen, befindet sich
in dem hier nur geringen Parenchymgewebe, die gröfste Menge von Stärke, ob-
schon die Zellen an Weite hinter denjenigen desBlattstieles zurückstehen, viel-
mehr denen des Stammgewebes sehr ähnlich sind. Es scheint, dafs die Nah-
rungsflüssigkeit zerlegt wird in einen stickstoffreichen Antheil für die Neu-
bildung von Zellen und in einen kohlenstoffreichen aus dem sich hier die Stärke
bildet, die daher in gröfserer Menge sich anhäuft, wo die sie absondernden
Zellen in geringerer Anzahl vorhanden sind, welche ihn nicht zur Vergröfse-
U2
x
156 H. Karsten:
rung ihrer Häute verwenden können. — Oberhalb der Trennungsstelle des
Blattes von dem Stamme vermehrt sich das Parenchym sehr und die einzel-
nen Zellen besitzen eine bedeutend gröfsere Weite.
Einzelne Zellenreihen dieses Parenchyms, zwischen den gröfseren Holz-
bündeln befindlich, sind in der Richtung der Blattstiellänge, sehr viel länger
wie die übrigen benachbarten, stärkehaltigen Parenchymzellen deren Weite
sie besitzen; sie enthalten, bald nach ihrer Sonderung aus dem Cambium,
Bündel von Krystallnadeln, oxalsaure Bittererde, wie es scheint innerhalb
einer Zellhaut eingeschlossen; doch habe ich diese nicht mit Gewifsheit erken-
nen können. Diese Krystallnadeln vergröfsern sich fortwährend, indessen die
Stärke aus dem übrigen Parenchyme verschwindet; ähnlich wie in dem Gewebe
des Stammes, in das sich diese Zellenreihen hineinverlängern, sind sie noch
in den ganz alten, völlig ausgewachsenen und verholzten Theilen vorhanden.
Die sich berührenden wagerechten Wände scheinen beständig unverändert zu
bleiben, so dafs nicht die Faserform aus diesen Zellenreihen hervorgeht, wie
man es an anderen Orten z.B. in der Wurzel findet, wo dann dieser Vorgang
mit einer Auflösung der Krystalle meistens zusammentrifft oder derselben bald
folgt und später in der Regel ein Verholzen der Zellen d.h. ein Wachsthum der
Tochterzelle in die Dicke, eintritt. Die Weite ihrer Höhlung vergröfsert sich
mit dem Wachsthume des ganzen Gewebes, so dafs sie, in dem ausgebildeten
Zustande desselben, die der Parenchymzellen bedeutend übertrifft. Häufig
besitzen sie wegen der Zartheit der Häute der benachbarten Zellen auf Quer-
schnitten das Ansehen von Gummigefäfsen zu denen sie sich jedoch, bei den
Palmen die ich untersuchte, nicht umformen. —
Schon oben sahen wir bei der Entwickelung des Blattes und des Stam-
mes, dafs die zuerst in den cambialen Holzbündeln erscheinenden Spiralfa-
sern sich aus den unteren, in dem Holzeylinder des Stammes befindlichen
Theilen hinauf verlängern, in die inzwischen sich erst aus dem Cambium son-
dernden Gewebe des entstehenden Blattes, und dafs diesen Spiralfasern fast
gleichmäfsig die Bildung der übrigen Gewebe des Holzbündels folge. In
den oberen Theilen des Blattes tritt indessen nach seiner Berührung mit der
Atmosphäre, eine Abweichung von dieser suecessiven Bildung ein, indem
hier sowohl die Entstehung der Elementargewebe des Holzbündels wie deren
spätere Umformung, derjenigen der Gewebe des dem Knospenkern näheren
Theiles etwas vorauseilt. Die Bildung der Spiralfasern wird hier bedeutend
die V egetalionsorgane der Palmen. 157
beschleunigt und neben der zuerst entstandenen zeigen sich sehr bald mehrere
andere Fasern punktirt oder treppenförmig verdickt('). Zunächst darauf bil-
den sich in diesen oberen Theilen des Blattstieles die beiden weiten Gummi-
fasern in dem cambialen Holzbündel, sie treten hier schon sehr deutlich her-
vor, wenn sie in den unteren Theilen sich noch nicht von den übrigen Zellen
unterscheiden lassen. Auch hierdurch wird es deutlich, dafs nicht etwa
durch Saftströmungen oder andere mechanische Mittel die Form der Gewebe
hervorgerufen wird und dadurch zu erklären ist, dafsvielmehr in derGestaltung
des Pflanzenkörpers wie eines jeden organischen Wesens, die Durchführung
eines dem werdenden Geschöpfe inwohnenden, mit dem zu formenden Stoffe
im innigsten Zusammenhange stehenden Vorbildes erstrebt und, — bedingt
durch die stattfindenden chemischen und physikalischen Verhältnisse dieses
Stoffes, welche, in einer für jede Art bestimmten Grenze, Anderungen er-
leiden können — mehr oder weniger vollkommen, erreicht wird (?). So fin-
den wir auch in dem ausgebildeten Palmenblatte ununterbrochen das Gewebe
(') Die Verholzung dieser Fasern findet in einer Reihefolge statt, sie beginnt in der-
jenigen, welche die erste Spirale unmittelbar berührt. Da während dieser Verholzung der
gummiartige Inhalt verschwindet und durch Kohlensäure ersetzt wird, so könnte man viel-
leicht verleitet werden anzunehmen die Verdickungsschichten seien ein Produckt der Ver-
einigung jener Flüssigkeit mit der Kohlensäure, ein durch diese chemische Verbindung
bewirkter Niederschlag auf die Zellwand. Gegen eine solche Ansicht sprechen mehrere
Thatsachen: erstens würde ein solcher Niederschlag nicht so gleichmälsig die Wandung
der Faser bedecken, sonderen an der Seite sich anhäufen, die dem Zuflulse der Kohlen-
säure zunächst liegt: hier wäre es die, nach der mit Kohlensäure gefüllten Spirale ge-
wendete, im Allgemeinen die nach der Oberfläche des Organes gekehrte Seite, — zweitens
würde ein solcher Niederschlag die der Tochterzelle anhängenden Bläschen bedecken, die
sogenannten Treppen- und Poren -Kanäle würden nicht entstehen können, — drittens se-
hen wir in den Zellen der Wurzelmütze eine ganz ähnliche Verdrängung des Zellsaftes
durch Kohlensäure, doch hier ohne eine Verdickung der Zellhaut. —
(*) Die Ausführung dieser „Idee der Art” ist in der unorganischen Schöpfung mit
der Entstehung der bestimmten Mischungsverhältnisse des Stoffes gegeben an die sie ge-
bunden ist, sie ist hier allein abhängig von der Eigenthümlichkeit des Zustandes einer
Flüssigkeit: in der organischen Schöpfung ist sie zunächst durchaus abhängig von etwas
vorhandenem Festen, welchem sie inwohnt, dann erst kommt der Zustand des flüssigen
Stoffes, der auf das Erzeugnils des ursprünglich Geschaffenen einwirkt, in Betracht und
äulsert seine hemmende, fördernde oder ändernde Wirkung, um den im mütterlichen Kör-
per entstandenen Keim zu tödten, oder ihn zu der Form seiner Art oder irgend einer
möglichen Abänderung derselben sich entwickeln zu lassen.
158 H. Kuarstenx:
durchziehende Fasern und Gefäfse zu einem Bündel vereinigt, wenn nicht
durch äufsere störende Einflüsse deren Ausbildung unterdrückt war: obgleich
ursprünglich kein Zusammenhang durch ein etwa stattfindendes Wachsthum
eines Theiles nach einer Richtung hin gegeben war, wie man sich dies früher
z.B. von der Spirale dachte oder im thierischen Körper die Drüsen als Aus-
stülpungen umfangreicherer Organe ansah, bevor Reichert durch die Ent-
wickelungsgeschichte nachwies, dafs gleichzeitig sowohl das eine wie das andere
Organ durch die Vereinigung der zu dieser Bildung befähigten Elementar-
bestandtheile des embryonalen Organismus entsteht.
In dem Umkreise des Holzbündels finden sich auch hier im Blatte Über-
gangsformen und Hemmungsbildungen des Parenchymes, letztere in senkrechte
Reihen geordnet, die das Parenchym begrenzenden Bastzellen ausfüllend ;
man kann daher von dem Wachsthume des Palmenblattstieles nicht sagen, dafs
es nach einer Seite hin geschah, sondern das Parenchym vermehrte sich von
dem Umkreise aller cambialen Holzbündel aus, und die Umbildung des Cam-
biums in Holzzellen findet in den verschiedenen Bündeln von der Mittellinie
des Blattstieles nach der Oberfläche desselben hin statt. Die vollkommene
Ausbildung der Holz-Fasern und -Zellen, in der Art wie es oben von denen
des Stammes beschrieben wurde, ist in dem Blattstiele noch vor der Ent-
faltung der Blattfiedern beendet, dann verschwindet die Stärke aus den Zellen
des Parenchyms und eine gummiartige Flüssigkeit (1) erfüllt nicht nur das
(') Dieses Gummi, das sich gegen Reagentien ebenso verhielt, wie das in dem Ge-
webe der Wurzel vorkommende, dort beschriebene, wird durch Ammoniak gleichfalls
grün gefärbt; da es der Entstehung des Chlorophylles vorhergeht, könnte es scheinen
als sei es die Grundlage dieses Stoffes der durch die Verbindung mit dem, vielleicht aus
der Atmosphäre entnommenen Ammoniakgase, unmittelbar daraus hervorgehe. Dies ist
aber ganz gewils für das Chlorophyll der Palmen nicht richtig. Bei der Betrachtung der
Wurzel lernten wir in der Wurzelmütze Zellen kennen, in denen, während der Aufsau-
gung des Stärkemehls, eine Zelle entsteht und wächst, die ebenfalls eine durch Ammo-
niak sich grün färbende Flüssigkeit enthält; ferner sahen wir oben p. 109 in den Spaltöf-
nungszellen neben den Stärkebläschen eine grölsere Zelle sich bilden die denselben Stoff
enthielt, es liegt daher wohl die Vermuthung nahe, dafs auch in dem Parenchyme des
Blattes dieses Gummi das Erzeugnils einer endogenen Zelle sei, deren Auffindung nur
die Beschaffenheit des Zellsaftes, der bei der Vermischung mit Wasser auf dem Object-
tische des Mikroskopes gerinnt, verhindere. Dazu kommt, dafs auch die Holzzellen eine
kurze Zeit diesen Stoff enthalten, in denen sich doch nie Chlorophyll bildet, und dafs
das Chlorophyll des Palmenblattes ein sogenanntes körniges ist, d. h. dafs es den Inhalt
die V egetationsorgane der Palmen. 159
Zellgewebe, sondern auch wiederum die früher Kohlensäure enthaltenden
Fasern und Gefäfse, in letzteren ist es mit den Raphiden gemischt, die Saft-
fülle des ganzen Blatt-Gewebes scheint die Entfaltung desselben zu unter-
stützen; diese letztere beginnt von den oberen Theilen desselben zu den un-
teren fortschreitend, der Blattrand wird abgeworfen und die dem Zutritte
der Atmosphäre geöffneten Fasern füllen sich von Neuem mit Kohlensäure,
während das Wachsthum des Stammtheiles den diese Holzbündel durchziehen
aufserordentlich beschleunigt wird.
Die Bildung und Umbildung der Holzbündel der Blattfläche entspricht
dem von diesen Geweben bei dem Blattstiele gegebenen Vorgange: die An-
lage derselben erfolgt von den unteren dem Blattstiele näheren Theilen nach
den oberen hin; die späteren Wachsthumsveränderungen dagegen nehmen
in den oberen dem Einflusse der Atmosphäre zunächst ausgesetzten ihren An-
fang. Einige Zeichnungen die ich von den Blattfiedern der Älopstockia ce-
rifera auf der zweiten Tafel gegeben habe, werden dies Verhältnifs einem Blicke
darlegen. Eigenthümlich und bemerkenswerth ist hierbei noch die Bildungs-
weise der die Unterseite dieser Blätter bedeckenden Behaarung, diese ist
nicht das Erzeugnifs eines später eingetretenen Wachsthumes der Oberhaut-
zellen, sondern die äufserste Schicht des in die Gewebe des Blattes sich umfor-
menden Cambiums nimmt unmittelbar die Gestalt dieser eylinderischen, einfach
gegliederten Haare an, die gleichlaufend mit der Längenrichtung des Blattes die
Oberhautschicht desselben bedecken. Det flüssige Inhalt dieser Haarzellen ist
hell und ohne feste Bestandtheile, gegen chemisch wirkende Stoffe scheint er
wenig empfindlich, es ist mir daher nicht gelungen über die Natur desselben
Aufschlufs zu erlangen, was um so mehr mir erwünscht gewesen wäre, da die-
ses haarartige Gewebe in besonderer Beziehung zu der Thätigkeit der Holz-
bündel zu stehen scheint. In der Gegend der cambialenHolzbündel, die bis an
von Bläschen ausmacht, deren Haut, während seiner Absonderung nach Innen, auswächst.
Die Bildung des Chlorophylis ist daher keine unorganische sondern eine organische d.h.
abhängig von dem Wachsthume einer Zelle, und der eigentliche Vorgang zur Zeit für
die Palmen noch unbekannt. Die von Mettenius und Naegeli mitgetheilten Beobach-
tungen, so wie die Untersuchung der Neischigen Früchte der Grossularia, Fitis ete. die
mir schon früher ein ähnliches Ergebnils brachte, können als Bestätigung meiner Ansicht
über die Natur des Chlorophylles und als Anhaltspunkte für weitere Untersuchungen
dienen.
160 H. Kassren:
die Oberfläche des Blattes sich ausdehnen, sind diese Haare am innigsten mit
dem Blattgewebe verwachsen und hängen hier am längsten mit demselben zu-
sammen: nach der Trennung dieser Schicht von der Oberhaut beginnt die
Verdickung derselben und die Bildung von Spaltöffnungen in der Gegend
der Anheftung der Haare (Taf.II Fig.11.a.). Bei dieser Klopstockia finden
sich auf der Oberseite der Blatifläche keine Spaltöffnungen, wohl aber auf
der Oberfläche des etwas behaarten Blattstieles. Ganz gleiche Verhältnisse in
dem Vorkommen der Spaltöffnungen finden sich bei den Gattungen Geonoma
und Oenocarpus bei der Chamaedorea gracilis dagegen kommen Spaltöffnun-
gen auf allen Seiten der Blattfläche und des Blattstieles vor.
Diese so eben mitgetheilte Entwickelungsgeschichte desBlattes der Pal-
men läfst wohl keinen Zweifel übrig, dafs Schleidens Theorie einer Ent-
wickelung des Blattes von dessen Spitze zur Basis auf dasselbe keine Anwen-
dung findet, so wie auch meine übrigen Beobachtungen an Blättern der ver-
schiedensten Pflanzengruppen ein solches Gesetz, als in der Natur nicht be-
gründet, zurückweisen. Im Gegentheile entwickelt sich das Palmenblatt von
seinem Grunde zur Spitze hin d. h. die dem Stamme näheren Theile hören
zuerst auf durch Zellenvermehrung sich zu vergröfseren, während die ent-
fernteren noch darin verharren. Der Blattstiel hat schon eine bedeutende
Gröfse erreicht bevor die Theile der Blattfläche deutlicher hervortreten und
diese wachsen am Umkreise d.h. dort wo ihr Gewebe mit der Atmosphäre
in Berüherung kommt am längsten. Nach der vollendeten Anlage des Blattes
durch Zellenbildung, nimmt dann die Ausdehnung und besonders die Ver-
holzung der Zellen und Fasern, wie schon erwähnt, von der Blattspitze, als
dem bei den Palmen zuerst mit der Atmosphäre in ungehinderte Berührung
tretenden Theile, seinen Anfang und setzt sich von hier in die unteren, dann
auch aus den sie umhüllenden Scheiden der älteren Blätter hervorwachsen-
den Abschnitte der Blattfläche und des Blattstieles fort.
Obgleich ich durch die Darlegung meiner Beobachtungen der Entwicke-
lungs- und Wachsthums-Weise der Gewebe der Palmen und meiner in Folge
dieser entstandenen Ansichten über die Ernährungsweise derselben den Ver-
dacht von mir fern gehalten zu haben glaube an einen Kreisflufs des Saftes
in den Pflanzen zu denken: so ist es doch vielleicht nicht überflüssig manche
anders gesinnte Leser dieses Aufsatzes, die durch meine Bemerkungen über
die Eigenthümlichkeit des Palmenblattes, der Atmosphäre den Zutritt zu dem
die Vegetationsorgane der Palmen. 161
Gewebe des Stammes zu erleichtern, an jene Lehre erinnert wurden — noch
besonders darauf aufmerksam zu machen, dafs in dem ganzen Körper der Pal-
men durchaus keine Gefäfs-oder Faser- Verbindungen vorkommen, die den
Gedanken an einen Kreisflufs des Saftes rechtfertigen könnten. Alle Fasern
verlaufen, ohne Zweige an benachbarte abzugeben, von ihrem unteren in
dem Holzeylinder des Stammes liegenden Ende, ununterbrochen in die Spit-
zen des Blattstieles und der Blattfiedern: ja man kann nicht einmal behaupten,
dafs ein und dieselbe Faser in ihrer ganzen Länge ein ununterbrochenes Rohr
bilde, da, wie wir oben sahen, nicht selten die wagerecht sich berührenden
Wände der Zellen aus denen diese Fasern entstanden nicht zerstört werden,
daher als Querscheidewände selbst der in ihnen etwa aufsteigenden Flüssig-
keit keinen freien Durchgang gestatten. Es können also diese durch Schei-
dewände unterbrochenen Fasern, da sie nicht einmal mit den unteren Stamm-
theilen in Berüherung kommen, schwerlich als die alleinigen Vermittler der
Verbreitung der von den Wurzeln aufgenommenen Flüssigkeit dienen; an eine
Umkehrung des in dem Blatte angelangten Stromes und eine Rückleitung
durch andere Gefäfse kann gar nicht gedacht werden. Das Einzige was diese
Gefäfse und Fasern vermögen ist eine beschleunigte Leitung der in ihnen ent-
haltenen Stoffe zu anderen Geweben und zwar in einer, durch ihre Verthei-
lung im Pflanzenkörper, bestimmten Richtung. Sie werden sich mit der durch
die Wurzel aufgenommen uud durch die Zwischenzellräume ihnen zugeführ-
ten Flüssigkeit, wenn es die Beschaffenheit ihrer Häute und ihres Inhaltes
gestattet oder vermittelt, füllen und so eine raschere Wechselwirkung der in
ihren verschiedenen Abschnitten befindlichen Stoffe möglich machen. Da
die in ihnen hin und wieder noch vorhandenen Querscheidewände nicht an
der Verholzung, der senkrechten Wandungen Theil nehmen, sondern mit
dem vorschreitenden Alter der Pflanze immer mehr sich verlieren, so sind sie
wahrscheinlich nur mechanische, dem Drucke und der chemischen Wechselwir-
kung leichter weichende Hindernisse. Wird die Vermehrung der Flüssigkeit
durch die Wurzeln unterbrochen, so wird auch das Aufsteigen des Saftes ge-
hemmt sein: das Pflanzengewebe wird dort zuerst von Flüssigkeit entleert wer-
den, wo die Verdunstung am leichtesten vor sich geht d.h. in den Blättern;
doch von einem Herabsteigen des Saftes von hier aus kann desshalb nicht die
Rede sein, nur von einem Nicht - Aufsteigen.
Phys. Kl. 1847. X
1623 H. Karsten:
Die Knospen.
Bisher betrachteten wir diejenigen verschiedenen Organe der Palmen,
durch deren Bestehen und wiederholte Entwickelung die individuelle Erhal-
tung der Pflanze vermittelt wird. Aufser diesen dem Einzelwesen eigenthüm-
lichen, dasselbe zusammensetzenden Theilen besitzen nun die Palmen, wie
alle übrigen organischen Wesen noch andere zur Erhaltung und Fortpflanzung
der Art bestimmte Organe, die wir von der uns vorgesetzten Untersuchung
nicht ganz auschliefsen können, theils weil ihre Entstehung und Ausbildung
mit dem Baue des Einzelwesens in so enger Beziehung steht, theils weil die-
selben als unmittelbare Anfänge neuer Organismen ebensowohl in den Kreis
unserer Betrachtung gehört wie die Entwickelung dieser aus dem Saamen.
Es sind dies die Knospen, die Anlagen neuer dem Mutterstamme glei-
cher oder ähnlicher Wesen, deren Entstehung in so innigem Zusammenhange
mit der Bildung des Blattes steht, dafs selbst C. Fr. Wollf die Ansicht he-
gen konnte die Knospe sei das wesentliche, ursprüngliche Erzeugnifs der
Mutterpflanze und das Blatt aus deren Achsel diese Knospe sich hervorbildet
sei nur der frühzeitig ausgebildete Theil dieses jungen Spröfslinges.
Untersucht man die Blattanlagen des Gipfeltriebes eines Palmenstam-
mes, so findet man hier Verhältnisse die demjenigen der Wollf’s Ansicht
zu widerlegen sich bemüht, kaum hinreichenden Stoff zu dem Gelingen die-
ses Unternehmens bieten möchten.
Zwar finden sich in den Achseln der allerjüngsten Blattanlagen keine
Andeutungen von Knospen, man sieht nur den einfachen ringförmigen Wulst
die ungetheilte Spitze des Stammes umfassen, doch sobald sich die eine Seite
dieses wulstigen Auswuchses als Andeutung des Blattstieles auszudehnen be-
ginnt nimmt auch eine vermehrte Zellenbildung im Grunde dieser Blattanlagen
seinen Anfang, die Trennungslinie des Stamm- und Blatt-Gewebes durch
einen zweiten, kleineren Ring von cambialem Zellgewebe bezeichnend. —
Freilich ist hier die Anlage einer Knospe erst nach dem Erscheinen
der Blattanlagen zu erkennen, wer möchte indessen diesen Umstand als ei-
nen gültigen Beweis gegen des scharfblickenden W ollf beachtenswerthen
Ausspruch geltend machen, wenn man sich vorher an der keimenden Pflanze
überzeugte wie schwierig es ist die ursprünglich vorhandene Spitze des Keim-
linges, bei der überwiegenden Ausbildung des ersten Blattes, nicht aus den
die V egelationsorgane der Palmen. 163
Augen zu verlieren: oder wenn man die Axe eines jungen Farnes oder des
Stammes einer Piperacee während des überwiegenden Wachsthumes eines Blat-
tes bis auf eine Andeutung verschwinden sieht.
Es sind aber noch andere Gründe die gleichfalls gegen die Annahme
eines ursprünglichen Vorhandenseins eines Astes in der Achsel eines jeden
Blattes sprechen, nämlich das regelmäfsige Fehlen einer solchen Bildung in
den Blattachseln der Blumenhülle und der jungen Keimpflanze: denn wenn
auch hier eine Bildnng von Knospen nicht unerhört ist, so tritt doch dieselbe
unter Verhältnissen ein, die einer solchen Ansicht nicht günstig sind.
Ich bin daher der Meinung, dafs das fast regelmäfsige Auftreten von
Knospen in der Blattachsel in den Entwickelungsverhältnissen des Blattes be-
gründet und als eine Folge dieser zu betrachten ist: eine genauere Kenntnifs
der Ernährungs-und Wachsthums-Erscheinungen des Stammes und Blattes
der Mutterpflanze und der Wechselwirkung beider wird erst über die Bildung
der Knospen ein klares Licht verbreiten können.
Verfolgen wir zuerst die Entwickelung der regelmäfsig mit den Blät-
tern der älteren Palmen fast gleichzeitig entstehenden Knospen. Oben schon
bemerkte ich, dafs sehr früh, bald nach dem Erscheinen der Blattanlagen,
die Anfänge von Knospen in deren Achsel d. h. an der Grenzlinie der Blatt-
oberfläche und des nächst höheren Stammtheiles als kleine schuppige Aus-
wüchse zu erkennen seien. — Dort wo in dem wulstigen Ringe der Blattan-
lage die Zellenbildung vermehrt und das Auswachsen zn der seitlichen
Ausbreitung des Blattstieles mit der Fläche vorbereitet wird, beginnt auch
die Erhebung des cambialen Gewebes, dessen Zellenvermehrung sich von
hier nach beiden Seiten der Achsel des stengelumfassenden Blattes auf eine
beträchtliche Strecke ausdehnt, wodurch hier eine dreiseitige Zellgewebs-
platte entsteht, deren Basis die Grenze des Blattes und des Stammes bezeich-
net, und über den halben Umfang des Stammes umfafst, deren freier sehr
stumpfer Winkel die zuerst hervorgebildete Spitze der Knospe in der Achsel
des Blattstieles ist. Dieselbe Ursache die es bewirkt, dafs die Entfaltung
des Blattgewebes derjenigen des nächst angrenzenden Stammtheiles etwas vor-
auseilt giebt wahrscheinlich die Veranlassung, dafs auch die das Blatt berüh-
rende Knospe sich früher in die Richtung ausdehnt, die das Blatt angenommen
hat bevor das Gewebe des Stammes die wagerechte und die darauf folgende
senkrechte Entfaltung beendete: dadurch wird auch die das Blatt begren-
x
164 H. Karsten:
zende Knospe mit diesem gleichzeitig etwas vom Stamme entfernt, sie scheint
dann fast aus dem Blattgewebe hervorgewachsen zu sein. Versucht man das
junge Blatt vom Stamme abzulösen so trennt sich beim Zurückbiegen des-
selben auch die Anlage zur Knospe von jenem. Mit dem vorschreitenden
senkrechten Wachsthume des Stammes indessen, dehnt sich auch das Gewebe
des Blattstiel-und Knospen-Grundes in dieser Richtung aus, wodurch dann
jede der beiden, an der Stammoberfläche aus dieser hervorgewachsen zu sein
scheinen. Das abfallende Blatt hinterläfst die sich dann regelmäfsig zur Blüthe
entwickelnde Knospe unversehrt an dem nächst oberen Stammtheile, wenn
nicht dieselbe schon bald nach der Entfaltung des Blattes in deren Achsel
sich ausbildet wie es auch bei Desmoncus, Mauritia, Corypha, Cocos, Astro-
caryum, mehreren Arten von Geonomen und Bactris u.a.m. vorkommt. Der
Theil der Knospe den wir bisher als ein fast stengelumfassendes Organ sich
entwickeln sahen, bildet sich nun, entsprechend der früheren oder späteren
Entfaltung der Knospe, zu dem ersten Blatte derselben um. Wolff’s Theorie
entsprechend, nimmt es die, dem Stammblatte gegenüberliegende Seite der
Knospe ein: ihm folgen rechts und links dann, die sich später von dem in
der Achsel dieses ersten Blattes befindlichen Knospenkerne erhebenden Blät-
ter. Alle diese Blätter, der bei fast allen Palmen sich zur Blüthe ausbilden-
den Knospe, überschreiten nicht die ersten unvollkommensten Entwicke-
lungszustände des Blattes, sie bleiben stets ohne Blattfläche. Die eigenthüm-
liche Umbildung des Randgewebes, und die, durch das Abwerfen desselben
bewirkte Öffnung der Fasern, für den unmittelbaren Zutritt der Atmosphäre,
findet nicht statt: die die Axe dieser Knospe (die Spindel) durchziehenden
Holzbündel sind von beträchtlichem Bastgewebe umgeben und durch gerin-
ges Parenchym von einander getrennt. Ein anderes Verhältnifs in der Bil-
dung der Gewebe findet hier statt, wie in dem mit vollkommeneren Blättern
bedeckten Stamme, vielleicht weil der, aus dem Stamme zugeführte Saft
nicht auf die Weise verändert werden konnte, wie es bei der erleichterten
Berührung der atmosphärischen Gase, mit dem Stammgewebe, der Fall ist.
Es ist ähnlich wie in dem, weniger vollkommene Blätter tragenden, Grunde des
Stammes, wo gleichfalls bei vorwiegender Anzahl von Holzbündeln, diese von
einer stärkeren Bastschicht umgeben sind. Auch an der Entwickelung des
Blattgewebes macht sich dieser Einflufs der Atmosphäre bemerklich; bei der
Chamaedorea z.B. wo vier Blattscheiden, den zur Blüthe sich entwickelnden
die Vegetationsorgane der Palmen. 165
Knospenkern einhüllen, ist die unterste und oberste, der enganeinanderlie-
genden, in der gröfsten Ausdehnung mit der Atmosphäre in Berührung: dem
entsprechend, ist auch das Wachsthum der Gewebe, sowohl die Entfaltung
wie die Verholzung, in dieser ältesten und jüngsten Scheide, dem der beiden
mittleren, von ihnen eingeschlossenen, bedeutend voraus. Das Holz- und
Bast-Gewebe jener war verholzt, das Chlorophyll enthaltende Parenchym,
schien vollkommen ausgebildet, während es in diesen noch keinen Farbestoff
enthielt und die Verholzung der Faserbündel noch nicht eingetreten war.
Über den Ort des ersten Erscheinens der Holzbündel der Knospe und
deren spätere Entwickelung sind ebenso, wie über das Wachsthum der Holz-
bündel der Blätter die entgegengesetzten Ansichten vertheidigt. Bei der Be-
trachtung dieses letzteren Gegenstandes kamen wir zu dem Schlusse, dafs sie
von ihrem unteren, im Holzeylinder liegenden Ende, mit der fortschreiten-
den Sonderung des Cambiums in die verschiedenen Gewebe, sich in die obe-
ren Stammtheile und Blätter hineinverlängern. Die Anlage der Knospe er-
scheint schon lange, vor der Sonderung von Parenchym aus dem cambia-
len Blattgewebe, doch tritt in ihr stets diese Umänderung erst dann ein,
wenn sie in dem angrenzenden Blatttheile beendet ist: und zwar beginnt die-
selbe dann, in dem der Mittellinie des Blattes zunächst befindlichen Theile,
der später die eigentliche Axe der Knospe giebt, daher zugleich oberhalb des
ältesten, umfangreichsten, den ganzen Blattstiel durchziehenden Bündels: in-
dem die Holzbündelanlagen der Knospe zum Theil an dieses, und die be-
nachbarten Bündel der innersten Reihe sich anlegen, theils auch bis an die
entfernteren, des zweiten und dritten unteren Halbkreises von Holzbündeln
des Blattstielgrundes sich verfolgen lassen. Eine Verlängerung von hier aus,
in die inneren oder unteren Theile des Stammes, findet zu dieser Zeit nicht
statt, wohl aber eine mit der fortschreitenden Blattbildung der Knospe,
gleichzeitig verbundene Hervorbildung der Holzbündelverlängerungen nach
oben, ebenso wie es bei der Gipfelknospe des Stammes stattfindet. Auch
später nach der Entfaltung der Organe der Blüthenknospe, ist eine Vermeh-
rung oder Verdickung der Holzbündel des Stammes, durch diejenigen der
Knospe nicht zu bemerken.
Zuweilen tritt auch an dem erwachsenen Palmenstamme, der sonst nur
Blüthenknospen hervorbringt, der Fall ein, dafs Blattknospen statt jener sich
entwickeln, dafs also der regelmäfsig einfache Stamm ästig wird. Ich hatte
166 H. Karsten:
einigemal Gelegenheit dies an der Geonoma undata Kl. zu sehen, wo in ei-
nem Falle, statt der einfachen Gipfelknospe, 13 aus den jüngsten Blattwinkeln
hervorsprossende, mit kleinen Blättern, wie sie sich an der Saamenpflanze
finden, versehene Knospen sich entwickelt hatten. In einem ähnlichen Falle
schien auch die Anzahl der im Stamme enthaltenen Holzbündel sich vermehrt
zn haben, doch sind meine Untersuchungen in dieser Beziehung zu lücken-
haft, als dafs ich etwas Genaueres mittheilen könnte, ich glaube nur, dafs die
vermehrte Anzahl von Holzbündeln dadurch hervorgebracht wird, dafs von
dem noch cambialen Holzeylinder des Stammes, in die verschiedenen Äste
Holzbündel sich trennen. Leider stand mir nicht hinreichender Stoff zn Ge-
bote um diese Frage erledigen zu können, es wird dies wohl dem Beobachter
verbleiben, der Gelegenheit hat, den regelmäfsig sich verästelnden Stamm
der Hyphaene zu untersuchen. —
Eine andere Art von Knospenbildung findet sich bei den meisten Pal-
men in dem Stammgrunde. Waren die bis jetzt betrachteten Knospen, der
höheren Stammtheile regelmäfsig Blüthenknospen, so sind diese gesetzmäfsig
Blattknospen; mir ist wenigstens kein Fall bekannt geworden, dafs sich die-
selben jemals in Blüthenknospen veränderten. Durch diese, meistens aus
dem unterirdischen Stammtheile sich hervorbildenden Knospen, erhält die-
ser auch bei den Palmen die Form des Wurzelstockes, eines freilich bisher
nicht genau zu beschreibenden Pflanzentheiles, von dem man indessen in der
Regel forderte, dafs er wurzelähnlich unter der Erde, am liebsten wagerecht,
fortwachsen sollte.
Diejenigen Palmen, bei denen diese Knospenbildung gesetzmäfsig (Bac-
tris Piritu z.B.) oder regelmäfsig, wie bei den meisten Arten, entweder nach
Verletzung des Mutterstammes und Unterdrückung seines Wachsthumes oder
ohne eine solche äufsere Veranlassung, eintritt bilden dann Gruppen die sich
von dem Mutterstamme aus immer mehr ausbreiten.
Die ersten Andeutungen zu diesen Knospen finden sich in dem Holz-
eylinder in ähnlicher Weise wie es beim Entstehen der Stammwurzeln statt-
findet und oben beschrieben wurde. Es erneuet sich in dem Gewebe des-
selben eine Zellenbildung, wodurch eine kegelförmige Cambium - Gruppe
hervorgebracht wird, deren Spitze nach der Stammoberfläche gewendet im
Rindengewebe liegt, während die Grundfläche sich in dem Holzeylinder be-
findet. Nur in dieser ersten Anlage sind sich die Blattknospe und Wurzel
die V egetationsorgane der Palmen. 167
ähnlich und dann nicht zu unterscheiden; sobald jedoch die Umbildung des
Cambiums und die Sonderung in Parenchym und Holzgewebe beginnt treten
Unterschiede hervor die eine Verwechselung nicht zulassen. Während sich
für die Wurzelbildung an der Spitze des Cambiumkegels eine Zellenschicht
als Wurzelmütze absonderte unter der die Zellenvermehrung fortdauerte, so
erheben sich hier unterhalb der Kegelspitze, deren zellenbildende Thätigkeit
nicht unterbrochen wird, im Umkreise derselben, Zellgewebewülste als
Anfänge von blattartigen Organen, ganz in der Weise wie wir es bei der Be-
trachtung der Gipfelknospe des Stammes sahen. Gleichzeitig mit der Er-
hebung solcher wulstigen Ringe über die Oberfläche des Zellenkegels sondert
sich auch hier nach dem Mittelpunkte hin das Cambium in Parenchym mit
dazwischen liegenden Cambium-Bündeln. Dieser Vorgang beginnt in der
Grundfläche der Knospenanlage, so dafs das neugebildete Parenchym eine
Verlängerung des Markgewebes des Stammes bildet und die cambialen Holz-
bündel in dem Holzeylinder des Stammes und dem sich von diesem in die
Knospen hinein verlängernden Holzeylinder liegen.
Hiedurch ist der Anfang
Bau und die Wachsthumsweise des mütterlichen in allen seinen Theilen nach-
ahmt. Es befindet sich die Knospe innerhalb der Rinde der Mutterpflanze,
die während der Vergröfserung derselben durchwachsen wird, indem ihr Ge-
eines neuen Organismus gemacht, der den
webe vor der Knospe, ähnlich wie bei dem Durchwachsen der Wurzel, sich
auflöst.
Dafs diese Knospen in Folge der Anregung einer so lange im Wachs-
thume unterdrückten, jedoch schon mit dem Erscheinen des Blattes gleich-
zeitig gebildeten Anlage zur Entwickelung komme, wage ich nicht mit Be-
stimmtheit zu verneinen; es war mir jedoch nicht möglich mich zu überzeugen,
dafs sie eine bestimmte Stellung in Rücksicht auf das früher mit diesem Stamm-
theile verbundene Blatt einnähmen, sie schienen aus jedem Theile des Holz-
eylinders ebenso wie die Wurzeln sich hervorbilden zu können.
Da die Verästelung aller übrigen Monocotylen - Wurzelstöcke auf die
Bildung solcher Knospen beruht halte ich es für richtig, sie zum Unterschiede
von jenen zuerst beschriebenen Stammknospen Wurzelstockknospen zu
nennen. —
168 H. Karsten:
Vergleichung des Baues der Palmen mit dem der übrigen
Monoecotylen.
Beginnen wir diese Betrachtung mit der Untersuchung der verschie-
denen Gewebe die den Stamm zusammensetzen, so ist der natürlichste Aus-
gangspunkt diejenige Schicht, die sich überall an dem sich entwickelnden
Stamme als die durch ihre Wirksamkeit bedeutungsvollste für den Orga-
nismus zu erkennen giebt, indem sie sowohl zur Bildung des Mark - und Rin-
den-Gewebes, die sie von einander abgrenzt, beiträgt: als auch der Entstehung
von Fasern durch Vereinigung bestimmter Zellenreihen zur Grundlage dient.
Da diese Schicht — in der bei den Palmen immer die ersten Anfänge, die un-
tersten Enden, der Spiralfasern liegen, die sich in das gleichzeitig an der äufse-
ren Oberfläche entstehende Blatt fortsetzen — häufig einem Holzgewebe als
Anfangspunkt dient das sich aus den sie umgebenden Cambium-Zellen bildet,
einen mehr oder weniger geschlossenen Cylindermantel herstellend, der mit
dem Umfange des Stammes und der Thätigkeit der übrigen Gewebe desselben
in engster Beziehung steht: so bezeichnete ich dieselbe bei der Beschreibung
des Palmenstammes als Holzeylinder. Im cambialen Zustande findet sich die-
ser Holzeylinder in allen Stämmen und ist angedeutet durch seine Stellung
zu den übrigen Geweben und durch die als erste Umbildungsform in ihm er-
scheinenden engen, abrollbaren Spiralfasern: ob sich derselbe auch in dem
entfalteten Stamme durch eigenthümliche Entwickelungsformen zu erkennen
giebt, hängt von der Lebensthätigkeit der Art und zum Theil auch des Ein-
zelwesens ab.
Bei den Palmen ist es Regel, dafs der Rest des cambialen Holzeylin-
ders, nachdem die Holzbündel daraus hervorgingen zur Parenchymbildung
beiträgt es entsteht ein Gewebe das den Übergang der Säfte des Markes zur
Rinde, und umgekehrt, erleichtert, von diesen in der Form seiner Zellen
wenig abweichend, den sogenannten Markstrahlen des ausgebildeten Holz-
eylinders zu vergleichen. Ähnlich verhält sich diese Schicht in den Stämmen
der Pandaneen, Aroideen, Orchideen, Gräser, und in einzelnen Arten oder
bestimmten Stammtheilen anderer Familien. —
Sehr häufig tritt auch der Fall ein, dafs eine Schicht von einer oder
von wenigen Zellen nicht in diese Parenchymbildung eingeht sondern in ihrer
die V egetationsorgane der Palmen. 169
Lebensthätigkeit als zellenbildende Holz-oder Bast-Zelle gehemmt, die in-
dividuellen Veränderungen und Umformungen dieser Gewebe erfährt. Man
findet dann an der Stelle des cambialen Cylinders in dem völlig entfalteten
Stamme die Anfänge der Holzbündel, durch diese verholzte Zellenschicht,
in die sie eingebettet sind oder der sie zur Seite liegen, zu einem zusammen-
hängenden Holzeylinder vereiniget, der das Mark und die Rinde vollkommen
trennt und nur dort, wo er von den in ein Blatt übergehenden Holzbündeln
durchbrochen wird eine unmittelbare Berührung dieser beiden Gewebe zu-
läfst. Von der Lagerung der unteren Enden der Holzbündel hängt es ab,
welche Form die Zellen dieses Holzeylinders annehmen. In den Wurzel-
stöcken der Seilamineen, der Dioscorea, in dem Stamme vieler Bromelia-
ceen (!) den unterirdischen Stammtheilen der Aroideen und der meisten übri-
gen Monocotylen liegen jene Anfänge wagerecht in dem noch cambialen Ge-
webe und sind durch später entstandene, zahlreiche, unregelmäfsig verlaufende
Bündel zu einem bunten Geflechte verbunden, in dessen Maschen die Zellen
der verholzten Schicht des Cambiumeylinders eine vieleckige Gestalt ange-
nommen haben. Auf der Taf.IV. Fig.3 und 4 habe ich dies Gewebe aus dem
knolligen Stamme der Colocasia esculenta Schott. gezeichnet; es besteht hier
aus zwei punktirt-verdickten Zellenschichten, die sowohl an der Rinden - wie
Mark-Seite von einer nicht verholzten Cambiumschicht zunächst umgeben
sind. Auf der Taf. V. zeichnete ich das sehr ähnliche Verhältnifs, aus dem
Wurzelstocke der Maranta bicolor Arrab. wo die äusserste, zunächst die
Rinde begrenzende Schicht des Cambiumeylinders verholzte, die nicht so
vielfach durch die Holzbündel unterbrochen wird. Die Zellen besitzen hier
eine regelmäfsigere, rechtwinklige Form, sie nähern sich schon derjenigen, die
in den Holzeylindern die gewöhnliche ist, in denen die Holzbündelanfänge
senkrecht nebeneinander liegen. Es sind dies fast alle oberirdischen Stamm-
(') Die Stämme vieler Arten dieser Familie, deren stengelumfassende Blattscheiden
fast beständig mit Wasser gefüllt sind, das mit fremdartigen, durch den Wind herzuge-
führten, Theilen gemischt ist, scheinen nach Art der Wurzelstöcke ernährt zu werden
und haben vielleicht diesem Umstande die Ähnlichkeit ihres Baues mit diesen Stammthei-
len zu verdanken. In den Blattwinkeln einer Ananassa fand ich die, an dem Grunde des
nächst oberen Blattes aus dem Stamme hervorgebildeten Wurzeln mehreremal denselben
umkreisend: so bedeutend hatten sie sich verlängert, indem sie die Nahrung aufnahmen,
die ihnen hier geboten wurde. —
Phys. Kl. 1847. Y
170 H. Karsten:
theile in denen nicht, wie bei den Palmen, Aroideen, Pandaneen etc., der
zwischen den Holzbündeln befindliche Rest des Cambiumeylinders vollstän-
dig zur Parenchymbildung verwendet wird. Die Anfänge und häufig auch die
oberen Enden der Holzbündel, bevor sie in die Blätter eintreten, liegen in
diesen Fällen in einer Schicht langgestreckten, verholzten Prosenchymgewe-
bes mit diesem zu einem vollständig geschlossenen Cylindermantel vereinigt.
In den Blüthenstielen, sowohl den meistens gipfelständigen der Wur-
zelstöcke, wie den meistens blattachselständigen der Zwiebeln findet sich an-
fangs nie die Andeutung eines geschlossenen Holzeylinders: alle in diesem
Organe zuerst auftretenden und sich bis in die Blumen verlängernden Holz-
bündel nehmen ihren Anfang von dem Holzeylinder des Wurzelstockes oder
des Mutterstammes. Erst nach der völligen Entwickelung der Gewebe findet
an der Grenze des Markes und der Rinde, die hier nebeneinanderstehenden
Holzbündel zu einem geschlossenen Cylindermantel verbindend, eine Cam-
biumbildung statt, die zuweilen zu einer bedeutenden Gewebevermehrung
und Bastbildung Veranlassung giebt. Die hohen, baumartigen Blüthenstiele
der Scitamineen und Liliaceen erhalten hierdurch während ihres Bestehens
oft einen sehr derben, festen Cylinder von Bastbündeln innerhalb des sehr
geringen Rindengewebes.
Den früheren Anatomen entging dieses sehr ausgezeichnete Gewebe
nicht, nur über die Bedeutung desselben war man nicht einig. Mohl be-
zeichnete es als verdicktes Zellgewebe, während Link und Kieser es mit
dem Bast der Dicotylen verglichen. Sehr leicht überzeugt man sich durch
genauere Untersuchungen dieser Zellschicht, dafs dieselbe mit dem parenchy-
matischen Zellgewebe der Rinde und des Markes durchaus nicht zusammen-
gebracht werden kann; ob es zu dem Bast- oder Holz-Gewebe nach den oben
angegebenen Merkmalen zu rechnen sei, mufs die Entwickelungsgeschichte
jedes einzelnen Pflanzentheiles in dem es sich befindet nachweisen.
In den, Taf. IV und V gezeichneten Pflanzentheilen, findetsich entweder
auf der einen oder auf beiden Seiten des verholzten Cylindermantels eine
Schicht cambialen Gewebes, diese ist es von der der erste Anfang zur Bil-
. dung von Knospen oder Wurzeln ausgeht, indem in ihr eine beschleunigte
Zellenvermehrung an einzelnen Orten beginnt, der später eine Faserbildung
für die sich entwickelnden Organe folgt. In anderen Fällen wird eine solche
Zellenbildung noch längere Zeit in der ganzen Ausdehnung des Cambium-
die V egetationsorgane der Palmen. 174
eylinders unterhalten und dadurch entweder eine Parenchymvermehrung, wie
in dem jungen Stamme der Furcroya, in den knollig verdickten Wurzelenden
der Alsirömeria, in den fleischigen Stammtheilen der Dioscoreen und Aroi-
deen etc. hervorgebracht: oder zur Entstehung eines zusammenhängenden
Holzeylinders Veranlassung gegeben, indem später die ganze Schicht dieses
Cambiums in punktirt-verdickte Prosenchymzellen sich verändert. Dauert nun
während der Verholzung der älteren Schichten des Cambiumcylinders die Neu-
bildung von Zellen an der Rindenseite desselben fort, so wird dadurch, ebenso
wie bei den Dicotylen, das Rindengewebe durch eine immer dicker werdende
Holzschicht von dem Marke entfernt. Bei einer Art der Gattung Crinum fand
ich den ganzen, nach Aussen von einer Cambiumschicht umgebenen Holzey-
linder aus Spiralzellen bestehend; häufiger geschieht es dagegen, dafs nicht
das ganze Cambiumgewebe gleichmäfsig die späteren Entwickelungsstufen
durchläuft, sondern es entstehen, gleichlaufend mit den schon vorhandenen
Holzbündeln, in der Cambiumschicht neue Bündel, von jenen durch eine ge-
ringe Parenchymschicht getrennt, und auch von den später nachfolgenden,
mehr nach Aufsen liegenden Bündeln, durch eine solche geschieden. Zwi-
schen je zwei dieser, im Umkreise nebeneinanderstehenden Bündel, setzt
sich ferner eine Schicht parenchymatischer Zellen ununterbrochen fort, die
gleich den Markstrahlen der Dicotylen die Rinde mit dem Marke verbindet.
Diese, aus dem sich fortentwickelnden Cambium gebildeten Bündel, die
den festen Holzeylinder des Monocotylenstammes zusammensetzen, besit-
zen jedoch nicht den Bau der in die Blätter gehenden Faserbündel, es feh-
len in ihnen vielmehr die eigentlichen Spiral- und Treppen-Fasern, so wie
die weiten Netz- oder Gummi -Fasern gänzlich, sie bestehen nur aus punk-
ürt-verholzten Prosenchym- (Bast?-) Zellen, und den daraus entstandenen
Fasern, in deren Mitte ein kleines Bündel von Cambium-Zellen verbleibt.
Es findet sich dies Verhältnifs bei der Gattung Dracaena, wo Du Petit-
Thouars es zuerst genauer untersuchte, bei Aletris, Cordyline, nach Mol-
denhawer bei Phönix, nach Meneghini auch bei Chamaerops (die ich
nicht Gelegenheit hatte zu untersuchen) und vielen anderen, nach Unger’s,
jedoch sehr übereiltem Ausspruche, bei allen Monocotylen. —
Mohl giebt an, diese später entstandenen Prosenchymbündel seien
die unteren Verlängerungen der Faserbündel des Stammes, denen er, wie schon
oben beim Palmenstamme erwähnt, ein Abwärtswachsen zuschreibt. Für
Y2
1723 H. Kassten:
diese Annahme spricht zwar der vereinzelte Verlauf beider in dem sie umge-
benden Parenchyme, dennoch zweifle ich an einen solchen ununterbrochenen
Zusammenhang derselben: nicht allein weil ich denselben nicht auffinden
konnte, ich würde dies nicht für genügend halten, die Richtigkeit der Beobach-
tungen Mohl’s in Zweifel zu ziehen: noch indem ich mich auf die Analogie
mit den bisher betrachteten Wachsthumserscheinungen des Holzeylinders be-
rufe, wo an ein solches Abwärtswachsen von Holzbündeln zum Theil nicht
gedacht werden kann, wenn z.B. wie in denBlüthenstielen auch die oberen En-
den der Bastbündel keine Spiral- und Treppen-Fasern besitzen: sondern weil
die Verhältnisse in der Anordnung dieser Gewebe selbst gegen eine solche un-
unterbrochene Verlängerung sprechen. Bei der Untersuchung eines älteren
Stammes der Dracaena congesta Sweet., fallen sogleich zwei abgesonderte Sy-
steme in die Augen. In dem ceylinderischen Markparenchyme stehen einzeln
zerstreut, runde Holzbündel die aus einem geschlossenen oder fast geschlossenen
Kreise von Spiral- und Treppen-Fasern bestehen in deren Mitte und an deren
Umkreise sich wenige Cambiumzellen befinden; Bastgewebe ist kaum vorhan-
den, hin und wieder finden sich einzelne verdickte Zellen. Dieses Markgewebe
mit seinen Holzbündeln, wird von einer Schicht dicht gedrängt stehender,
grofser Bastbündel umgeben, die in radiale Reihen gestellt sind, welche durch
Cylinderparenchym, das die halbe Länge des Markparenchymes besitzt und
nach Art der Markstrahlen die Rinde mit dem Marke verbindet, getrennt wer-
den. Die grofsen Holzbündel des Markes werden nach der Grenze dieser
Markstrahlen hin immer dünner, so dafs unmittelbar ihnen zunächst die dünn-
sten Bündel sich befinden, die fast nur aus punktirt- und treppenartig-ver-
dickten Fasern bestehen: an diese grenzen dann die strahlig-geordneten, dicken
Bastbündel, die gleichfalls ein geringes Cambiumbündeleinschliefsen. Auf Län-
genschnitten tritt die Verschiedenheit aller dieser Gewebe noch deutlicher
hervor. Die Holzbündel des Markes liegen in grader senkrechter Linie zwi-
schen den langen Oylinderzellen; die Bastbündel der Holzschicht(!) verlaufen
dagegen alle wellig hin und her gebogen, so dafs es schwer hält eine einzelne
(') Es scheint ein Widerspruch in den Worten „die Bastbündel der Holzschicht” zu
liegen. Ich will jedoch mit Holzschicht bier wie überall, nur den durch Verholzung des
Cambiumcylinders entstandenen Holzeylinder bezeichnen, in welchem hier die unteren En-
den der Holzbündel der Blätter sich befinden, ohne damit über die Bedeutung des verholz-
ten Gewebes, ob Holz- oder- Bast-Zellen, geurtheilt zu haben. —
die V egetationsorgane der Palmen. 173
Faser auf eine längere Strecke zu verfolgen: sie sind, wie die Zellen die die
einzelnen Bündel trennen, punktirt verdickt, ebenso die zunächst angrenzen-
den Markzellen, das weiter entfernte Markgewebe dagegen besitzt keine ver-
dickten Häute. Hin und wieder sieht man wohl eine Annährung der geschlän-
gelten Bastbündel oder ein Anlegen derselben an die Holzbündel des Stammes,
nie kommt jedoch ein Übergang der einen Form in die andere vor. Zuwei-
len trafich Stellen wo die dünnen Holzbündel zu enden schienen, hier fingen
jedoch nicht neue Bastbündel an, sondern die schon neben jenen liegenden
wendeten sich nur etwas seitwärts, unterhalb des Endes derselben weiter ver-
laufend. Hiernach besteht der Stamm der Dracaena congesta, verglichen
mit dem Stamme der Palmen, aus einem Systeme von Holzbündeln ähnlich
wie es sich in dem Stamme dieser findet, die in dem Holzeylinder beginnen,
das Mark des Stammes durchziehen und dann in den Blättern enden: ausser-
dem aber noch aus einer Schicht von Bastbündeln, die durch die fortgesetzte
Thätigkeit des Cambium-Cylinders hervorgerufen, zur Verdickung des Holz-
eylinders beitragen.
Ganz ähnliche Verhältnisse finden sich bei der Aletris fragrans L., nur
dafs die in die Blätter gehenden Holzbündel des Markes hier etwas anders
zusammengesetzt sind. Es befindet sich in ihnen nicht ein Kreis von Trep-
penfasern, sondern nur ein Bündel oder höchstens ein Halbkreis, an dessen
nach der Oberfläche des Stammes gerichteten Seite Cambiumgewebe steht;
das ganze Bündel wird im Mark von einer Bastschicht umgeben. Die unteren
Enden dieser Bündel die im Umkreise des Markes unter der später entste-
henden Schicht von Bastbündeln liegen sind hier gleichfalls viel dünner und
zwar, ganz abweichend von dem Baue des Palmenholzbündels, meistens ganz
ohne Bast nur aus wenigen Treppen-und Spiral-Fasern und Cambium beste-
hend. Auch hier ist eine Verlängerung dieser dünnen Holzbündelenden in
die sehr bedeutenden Bastbündel der Holzschicht weder wahrscheinlich, noch
zu beobachten gewesen.
Etwas abweichend von den auf diese Weise verholzenden Stämmen der
Dracaena, Aletris und Cordyline australis Endl. fand ich den gleichfalls sich
verdickenden Stamm der Aloe plicatilis Mill. (Ahipidodendron) gebaut. Herr-
schte bei jenen Stämmen die Bastbildung vor, so ist hier die Entstehung von
Parenchymzellen überwiegend, daher in Folge der fortdauernden Zellenbil-
dung in dem Cambiumeylinder hier nicht ein fester, zusammenhängender
174 H. Kasstenx:
Holzeylinder, sondern einlockeres Gewebe, von Bastbündeln durchzogen, ent-
steht. Auf Querschnitten unterscheidet man auch hier sehr leicht die Grenze
des Markgewebes, von dem durch die anhaltende Bildungsthätigkeit des Cam-
biumcylinders später entstandenen Parenchyme des Holzeylinders, durch die
strahlige Anordnung und die rechtwinklige Form des Durchschnittes dieser
Zellen; auf Längenschnitten findet jedoch dieser Unterschied des Parenchyms
nicht statt, alle Zellen besitzen eine ähnliche, länglich ovale oder spindelför-
mige Gestalt. Mohl hatsich wohl durch den Querschnitttäuschen lassen, wenn
er glaubt, dafs die Zellen des Holzeylinders in der Richtung von Innen nach
Aussen gestreckt seien, da im Gegentheil ihre Längenaxe immer senkrecht (pa-
rallel derStammlänge) steht. Ferner ist auch der Verlauf der Holzbündel durch
die sehr bäufigen Verästelungen und Anastomosen, die sowohl die ursprüngli-
chen wie diespäternachgebildeten Bündel zeigen, in dieser Aloe verschlungener.
Man kann jedoch auch hier nicht behaupten, dafs das untere Ende der mit Spi-
ralen versehenen Bündel, in dem Holzeylinder als ein oder mehrere Bastbün-
del abwärts wachse, ohne zugleich zuzugeben, dafs auch einzelne Theile
desselben als Bastbündel sich nach Oben hin abzweigen. Da nun alle diese
Bastbündel später aus dem Cambiumeylinder hervorgehen wie jene in die Blät-
ter sich verlängernden Bündel und viele derselben gar nicht mit diesen in un-
mittelbarer Verbindung stehen: so ist es nur naturgemäfs beide als von ein-
ander unabhängig, und jedes in seiner Entwickelung zu betrachten. Verfolgt
man ein in dem Marke befindliches Holzbündel bis an sein unteres Ende, so
sieht man hier meistens, dafs sich dieses an ein dickes Bastbündel anlegt,
welches sich entweder einfach oder ästig nach Unten und Oben verlängert:
ebenso legen sich an den oberen Bogen des in das Blatt gehenden Bündels,
dort wo es den Cambiumeylinder durchschneidet nicht selten Bastbündel an;
diese nun als aufwärts-oder abwärts-wachsende Verlängerungen des ursprüng-
lichen Holzbündels anzusehen halte ich für durchaus unrichtig. —
Noch eine andere Meinung hat Meneghini, in seinem oft erwähnten
Werke, über den Verlauf dieser nicht in das Mark eintretenden Bündel, aus-
gesprochen indem er angiebt, sie endeten wie jene mit Spiralfasern versehe-
nen in den Blättern. Ich vermuthe Menegini hat sich durch die oben bei
den Palmen beschriebenen, von dem innersten Theile des Holzeylinders (Mark-
scheide der Dieotylen) entspringenden Bastbündel täuschen lassen, die aller-
dings in die Blätter gehen, wo Spiral- und Treppen-Fasern in ihnen auftreten,
die V egetationsorgane der Palmen. 175
denn diese Bündel des nachgewachsenen Holzeylinders sind in der beblätter-
ten Knospe noch nicht vorhanden. Bei den baumartigen Liliaceen, die ich
untersuchte, fehlen übrigens diese von der Markscheide entspringenden Bast-
bündel gänzlich: die in den ausgewachsenen Blättern befindlichen, deren
Oberfläche nahestehenden Bastbündel sind ein Ergebnifs der Entwickelung
des Blattgewebes, sie verlängern sich nur bis in die Nähe des Blattgrundes,
wo die Verholzung ihrer Häute nachläfst und sie endlich ganz verschwinden,
ohne in die Rinde des Stammes einzutreten. —
Diese Verhältnisse bestimmen mich zugleich diese Schicht von verholz-
ten Zellen- und Faser-Bündeln, die nach der Entfaltung aller zum einjährigen
Stamme nothwendig gehörenden Gewebe entstehen, der Holzschicht (den
sogenannten Jahresringen) der Dicotylen für gleichbedeutend zu halten. Die
sie zusammensetzenden Fasern stehen nicht in unmittelbarem Zusammenhange
mit den Fasern der in die Blätter gehenden Holzbündel; sie bedecken nur
diese, ebenso wie das Holz der Dicotylen die Markscheide umgiebt. Mit
der Ausbildung dieses Holzeylinders scheint die in der Rinde stattfindende
Lebensthätigkeit zusammenzuhängen (!) die bei denjenigen Gewächsen sich
nicht findet, wo die Thätigkeit des Cambium-Cylinders unterdrückt ist.
Es ist nun noch die Frage zn beantworten, ob man diese später ent-
stehende Bündel mit dem Baste der Dicotylen vergleichen kann, wie es frü-
here Anatomen gethan haben. — Durch das Wachsthum des Cambiums
nach Aussen während die inneren Schichten verholzen ist er leicht einzusehen,
dafs nicht an die in der Rinde der Dicotylen vorkommenden, dort an der äu-
fseren Seite des Cambiums entstehenden Bastbündel gedacht werden kann; ob
aber dies Gewebe in seiner Bedeutung für den Organismus und die übrigen
Gewebe, dem Baste oder dem Holze der ursprünglich aus dem Cambium-
cylinder entstehenden Fasern gleichwerthig ist, kann nur durch die genaue
Kenntnifs der Entwickelungsgeschichte dieses Gewebes so wie durch das
Studium der regelmäfsigen oder krankhaften Umbildungen desselben ent-
schieden werden. Beides habe ich bisher nicht unternommen. Wenn ich
es in dem Vorhergehenden Bast nannte, so geschah dies aus Rücksicht auf
(') In den Blüthenstielen, die ihre Nahrung vielleicht sämmtlich aus den Vegeta-
tionstheilen erhalten, findet auch dort eine solche Thätigkeit der Rinde nicht statt, wo
später ein Cylinder von Bastbündeln an der Grenze ihres Gewebes und Markes entsteht. —
176 H. Karstenx:
die Ähnlichkeit desselben mit dem die Holzbündel der Blätter umgebenden
Baste: hinsichts seiner Stellung zu dem in der Mitte des Bündels befindlichen
Cambium ist es mehr den Treppenfasern jener zu vergleichen. —
Was die Zusammensetzung der Holzbündel der übrigen Mono-
cotylen betrifft, so sind fast alle, ähnlich denjenigen der Palmen aus engen
Spiralfasern, etwas weiteren punktirten- und Treppen-Fasern aus Netzfasern,
Cambium -, Holz- und Bast-Zellen bestehend, doch ist die Ausdehnung die-
ser einzelnen Gewebe, so wie die Anordnung der verschiedenen zu einem
Bündel nicht nur in den Pflanzen verschiedener Familien, sondern selbst
in den verschiedenen Theilen einer Pflanze sehr verschieden z.B. in der Eleo-
charis, Typha und Alstroemeria findet sich in den Holzbündeln des Wurzel-
stockes ein ganzer Kreis von Treppenfasern die ein Cambiumbündel einschlie-
fsen, und keinen Bast oder bei T'ypha, an der nach der Mittellinie des Stammes
gewendeten Seite, nur eine geringe Bastschicht besitzen. In den oberirdi-
schen, beblätterten Theilen des Stammes finden sich bei der Alströmeria und
Typha mehrere weite Netzfasern mit wenigen Spiral- und Treppen-Fasern,
nach der innern Seite von Bast umgeben: bei der Eleocharis in der Mitte ei-
nes Bastbündels eine Reihe von Treppenfasern, die an jeder Seite mit einer
weiten Netzfaser endigt. In den, die Blüthen tragenden Theilen des Stammes
endlich, sind nur wenige Spiralfasern, an der der Mitte des Stammes zugewen-
deten Seite eines geringen Bastbündels. Regel scheint es indessen zu sein,
dafs der Bast an der der Rinde zugewendeten Seite des Holzbündels sich be-
findet, wie es bei den Palmen der Fall ist und die oben angeführten Fälle, wo
derselbe, wie bei der Maranta Taf.V. fig. 3, die entgegengesetzte Seite ein-
nimmt, sind wohl nur Ausnahmen. Das genaue Studium der räumlichen
und zeitlichen Veränderungen dieser Gewebe, verspricht viel für die Kennt-
nifs ihrer Bedeutung für den Organismus und der Wechselwirkung während
der Ernährung derselben mit den übrigen Geweben.
In Betreff des Verlaufes der von dem Holzeylinder sich für die Blät-
ter trennenden Bündel ist es Regel, dafs dieselben bei den übrigen Monoco-
tylen eben so wie es bei den Palmen stattfindet, nach dieser Trennung nicht
unmittelbar nach Aussen in das Blatt sich wenden, sondern vorher in einem
gröfseren oder kleineren Bogen das Mark durchkreuzen. Die Gröfse und
Lage dieses, von den Holzbündeln beschriebenen Bogens ist ebenso wie dort
je nach der Entfernung des Anfangs- und Ausgangs-Punktes derseben am
die Vegetationsorgane der Palmen. 477
Umkreise des Holzeylinders und von dem Wendepunkte im Marke verschie-
den, bald nur senkrecht bald schief aufsteigend; die Gröfse der wagerechten
Krümmung des Letzteren beträgt nicht selten über 90%. — Es ist dies Durch-
kreuzen des Markes ein wichtiger, gewifs im innigsten Zusammenhange mit
den eigenthümlichen Ernährungsverhältnissen einer jeden dieser beiden Pflan-
zengruppen stehender Unterschied; jedoch ebensowenig wie alle übrigen, zur
Trennung derselben benutzten Merkmale durchgreifend, da es eine gröfsere
Anzahl von Monocotylen giebt deren Holzbündel scheinbar ähnlich denjeni-
gen der Dicotylen, ohne sich von dem Holzcylinder nach der Mittellinie des
Stammes zu trennen, sogleich nach der Oberfläche desselben sich wenden,
z.B. die dünnen Stämme von Smilax, Dioscorea, und denjenigen denen man
ein centrales Holzbündel zuschreibt, wie den Najaden der Tillandsia u.a.m.
Es verhält sich jedoch mit diesem centralen Holzbündel ebenso wie mit dem
Holzgewebe der Palmenwurzeln, es ist nicht ein wirklich einfaches Bündel,
sondern ein Cylinder von mehreren, zu verschiedenen Blättern gehenden
Holzbündeln, in dessen Mittellinie sich, bei dem geringen Umfange des Stam-
mes, kein parenchymatisches Mark bildete. Zuweilen trennen sich auch in
diesen Pflanzen, bei einer Vermehrung des Gewebes des Stammes, die zu
einem marklosen Cylinder vereinigten Bündel wie z.B. in den Blüthenzwei-
gen der Potamogetonen, wo sich in der Mittellinie, der dann einzeln im Zell-
gewebe stehenden Bündel, wirkliches Markparenchym bildet.
Auch in dem Falle des regelmäfsigen Verlaufes der Holzbündel durch
das Mark ereignet es sich, dafs ein mittlerer Theil des Markes frei von Holz-
bündeln bleibt, wie ich es bei Crinum und Pancratium fand und Meneg-
hini es auch bei Yucca sah, wo dann durch das nahe Aneinanderrücken der
inneren Krümmung, der Schein von zwei, in einander steckenden Cylindern,
hervorgebracht wird. Es kommt diese Bildung wohl daher, dafs alle Blätter
erst in einer gewissen Entfernung, von der Mittellinie mit dem cambialen
Holzeylinder durch Cambiumbündel verbunden werden. Überhaupt ändert
die Richtung des Holzbündelverlaufes in ein und derselben Familie, bei den
verschiedenen Gattungen z.B. bei den Gräsern von denen einige überall Holz-
bündel im Marke besitzen, andere nur an den Abgangsstellen der Blätter.
Hingen die bisher betrachteten Verhältnifse von den Bildungsvorgän-
gen des Gewebes in senkrechter Richtung des Stammes ab, bei gleichzeitig
fast ununterbrochen vorschreitender Entfaltung: so findet sich noch eine an-
Phys. Kl. 1847. /2
478 H. Karsten:
dere Erscheinung in dem Holzbündelverlaufe, die in der, mit jener Bildung
zugleich stattfindenden, abwechselnd beschleunigten Entfaltung dieses Ge-
webes, in den verschiedenen wagerechten Schichten begründet ist. (!)
Durchschneidet man die Gipfelknospe einer im kräftigen Wuchse be-
begriffenen Tradescantia und bringt einen Längenschnitt unter das Mikros-
kop, so findet man in den jüngsten Theilen des Stammes das Gewebe in wa-
gerechte, abwechselnd dunklere und hellere Schichten gesondert. In den
höchsten Enden der kegelförmigen Stammspitze, sind beide Schichten fast
von gleicher Dicke, je weiter abwärts desto länger wird die hellere. Die
dunklere Färbung wird durch Luft hervorgebracht, die die Zwischenräume
der hier scheinbar gröfseren Zellen ausfüllt, es entspricht diese Schicht der
Oberfläche einer, sich vom Stamme trennenden Blattanlage. Die darunter
liegende hellere Schicht, die sich nach Aussen in das Gewebe des jungen
Blattes fortsetzt, besteht augenscheinlich aus weniger entfaltetem, noch in der
Zellenbildung begriffenem Gewebe, die gröfseren Zellen sind mit kleineren
(Zellkernen und Kernkörperchen) angefüllt, und sowohl die Zellen selbst, wie
die Zwischenräume mit Flüssigkeit durchtränkt; es befindet sich in dem Zu-
stande des Cambiums. Die später eintretende Entfaltung dieses Gewebes be-
ginnt in jedem dieser Glieder, von der zuerst entfalteten dunkleren Schicht
nach der Stammspitze hin vorschreitend, wodurch zugleich der Anheftungs-
punkt des stengelumfassenden Blattes, da der Grund desselben gleichfalls in
dieses Längenwachsthum eingeht, immer weiter hinaufgerückt zu werden
scheint, bis endlich an dem völlig entfalteten Stamme, das Blatt an dem
Theile desselben angeheftet ist, der zuerst als dunkle Schicht mit seiner
oberen Fläche in einer Höhe lag.
Verfolgt man nun die in dieser Gipfelknospe zuerst sichtbaren Spiral-
fasern von ihrem unteren Ende das in dem Cambiumcylinder liegt, der das
(') Bei der Hydrocleis und Zimnocharis eilen alle Wachsthumserscheinungen in den
beblätterten Knoten des Stammes, so sehr denjenigen der blattlosen Zwischenknoten vor-
aus, dafs in jenen schon längst die Holzfasern vorhanden sind, wenn diese noch aus
Cambium bestehen, in dem man noch keine Spiralfasern findet. Das Erscheinen dieser,
tritt dann, gleichzeitig mit der Sonderung der übrigen Gewebe, sowohl von dem unteren
wie oberen Knoten in den Zwischenknoten ein, indem sie sich dann mit Luft füllen.
Über ihre erste Bildung ist auch hier weiter nichts zu erkennen, als dals sie aus Zellen-
reihen entstehen, die in den Knoten zum Theil immer Spiralzellen bleiben ohne sich zu
Fasern zu vereinigen.
die Vegetationsorgane der Palmen. 179
Mark von der Rinde sondert, in ihrem bogenförmigen Verlaufe durch das
Mark zu der höher am Stamme stehenden Blattanlage, so sieht man wie die-
selben in den dunkleren Zellenschichten plötzlich von dem aufsteigenden Bo-
gen abgelenkt, eine mehr wagerechte Richtung annehmen: in ihrer unteren
Hälfte bis zur Mittellinie des Stammes werden sie dadurch jedesmal der Mitte
zugelenkt, in der oberen Hälfte abgelenkt, bis sie das Stengelglied erreichen
von dem das Blatt für welches sie bestimmt sind, eine seitliche Ausbreitung
zu sein scheint. Hier laufen dann diejenigen die in dem Grunde dieses Sten-
gelgliedes den Cambiumeylinder erreichten, von dem sie weiter unten aus-
gingen, an der äulseren Seite desselben (wie es in der Knospe scheint, in
dem Blattgrunde, der später an dem ausgewachsenen Stamme sich als Rinde
darstellt,) während diejenigen die etwas weiter nach Innen sich befinden erst
an der oberen Grenze dieses Stengelgliedes ihre letzte seitliche Biegung ma-
chen, und sogleich in das hier auch später noch angeheftete Blatt eintreten.
Diese letzteren mehr aus dem Marke des Stammes kommenden Holzbündel,
sind mit den grofsen zuerst auftretenden Bündeln des Palmenblattes zu ver-
gleichen, sie scheinen auch hier ebenso wie bei den Palmen früher mit Spi-
ralfasern versehen zu werden wie die der Oberfläche des Stammes (der unteren
Blattfläche) näheren.
Die Holzbündel der hier später in der Blattachsel sich entwickelnden
Knospe legen sich dann, sowohl an jene senkrecht in das Blatt eintretenden
Bündel, wie an diese wagerecht aus dem Stamme kommenden: hier dann mit
den übrigen für dies Blatt und für andere noch jüngere Blätter bestimmten,
vielfach sich verflechtend und zur Knotenbildung beitragend.
Dies ist nun die auf den ersten Blick so gänzlich von der bei den Pal-
men beschriebenen abweichende Vertheilung der Holzbündel des Monoco-
tylenstammes, die Knotenbildung im engeren Sinne, deren erster Grund in
der eigenthümlichen Entfaltungsweise des Stammgewebes, und die dadurch
hervorgebrachte wagerechte Ablenkung der Holzbündel von ihrem aufstei-
genden Verlaufe, liegt: welche überdies noch befördert wird durch eine stär-
kere Verholzung der Zellen dieser Schichte und Bildung von Poren-und
Spiral-Zellen, die die verschiedenen nebeneinanderliegenden Bündel verei-
nigen, so dafs man an dem ausgebildeten Stamme in Folge dieser Anasto-
mosen schwierig noch den Verlauf der in die Blätter gehenden Holzbündel
erkennt, besonders wenn nach der Entfaltung der Knospen dieses Netz noch
Z2
180 H. Karstenr:
dichter verschlungen wurde. Hiedurch entsteht die sogenannte Verästelung
der Holzbündel.
So verschieden nun auch die Entwickelungsweisen und die dadurch
hervorgerufenen anatomischen Verhältnisse dieser beiden Stammformen sind,
so liefern sie doch für die Erkennung der Verwandtschaft der Gewächse kein
Merkmal, da bei schr nahe stehenden Pflanzen sich beide Formen finden, ja
selbst nicht selten ein Theil des Stammes nach Art der Palmen gebaut ist,
während eine Verlängerung desselben den grasartig - knotigen Bau besitzt.
Hiefür liefert besonders die Familie der Scitamineen Belege, deren unter-
irdische Stammtheile ununterbrochen gleichförmig sich entwickeln, wogegen
die oberen bald periodisch, wie bei Costus, (Cana amarga) bald gleichför-
mig wie bei Musa, Heliconia, Canna etc. auswachsen. —
Was die Blattbildung der übrigen Monocotylen betrifft, so ist die
erste Anlage derselben wie bei allen stengelumfassenden Blättern ganz ebenso,
wie sie bei den Palmen beobachtet wurde. Ein vollständiger Ring umfafst
die kegelförmige Gipfelknospe des Stammes, dessen eine, zuerst hervortre-
tende Seite immer etwas in der Entwickelung voraus ist. Von der Dauer
des Wachsthumes der einzelnen Theile dieser Blattanlage hängt es ab, ob eine
geschlossene oder offene Blattscheide, Nebenblätter in ihrer mannigfachen
Form und Stellung (vagina stip.), Blattzüngelchen ete. entstehen, so wie natür-
lich der Umfang des Blattstieles und der Blattfläche selbst daraus hervorgehen.
Eine Ansicht wie Schleiden sie (Grdz. II p. 187) über die Entstehung der
geschlossenen Scheide ausspricht, dafs sich die frisch entstandenen, noch
weichen, fast gallertartigen Zellen der beiden Ränder des Blattgrundes an-
einanderlegen und durch ihre Vereinigung eine solche hervorbringen ist durch-
aus falsch: eine anfangs offene Blattscheide könnte nur dadurch zu einer ge-
schlossenen werden, dafs in ihrem Grunde die Zellenbildung sich über den
ganzen Umkreis des Stammes ausdehnte, während anfangs ein Theil desselben
ausgeschlossen war, geschieht dies nicht und dauert nur in den benachbarten
Rändern der offenen Blattscheide noch einige Zeit die Zellen-Bildung und
-Ausdehnung fort, so decken sich die, sich übereinanderlegenden Ränder;
jedoch ohne zusammen zu kleben, denn die Zellen der Oberhaut sind weder
„frisch entstanden” noch „fast gallertartig”.
Das bei den Palmen ausführlich beschriebene Verhalten der Holzbün-
del in den Blättern findet sich auch bei allen übrigen Monocotylen, indem
die V egelalionsorgane der Palmen. 181
nur die Vertheilung derselben in der Blattfläche mit der veränderten Form
dieser sich ändert; in allen erscheint bald nach der Sonderung der cambia-
len Bündel eine enge abrollbare Spiralfaser als Grundlage des Holzbündels,
das sich aus dem Holzeylinder des Stammes (durch das Mark desselben) bis
in die Spitze des Blattstieles oder einer Blattrippe verlängert, so dafs die un-
teren Enden aller dieser Bündel sich in dem Stamme befinden und das Ge-
webe desselben in den Fällen wo ihr oberes Ende mit dem Blattrande abge-
worfen wird, ebenso wie bei den Palmen, der Atmosphäre zugängig macht.
Doch tritt dies keinesweges bei allen Monocotylen ein, die Zwiebeln und
überhaupt diejenigen Stämme deren Glieder verkürzt sind zeigen nicht diese
Einrichtung, bei ihnen bleiben die Spiralen und die übrigen Fasern der Holz-
bündel beständig innerhalb der Blattsubstanz eingeschlossen in der sie endi-
gen, ebenso wie es in den Blüthen- und Blumen-Theilen der Pflanzen der
Fall ist.— Indessen ist meine Untersuchung dieses Gegenstandes noch nicht
beendet und ich will keinesweges schon jetzt es bestimmt aussprechen, dafs
die Verlängerung der Stammtheile der Monocotylen von diesem Verhalten
der Holzbündel abhängt, worauf die Wachsthumserscheinungen des Palmen-
stammes allerdings hinzudeuten scheinen; überhaupt wird wohl die Entwicke-
lung der Blüthentheile mehr durch die Zustände der Mutterpflanze, wie
durch ihr Verhältnifs zur Atmosphäre bedingt.
Eine sehr auffallende Bestätigung des durch die Beobachtung der Pal-
men gewonnenen Ergebnisses liefert uns die Familie der Aroideen. Unter-
sucht man die Blattspitzen einer Calla, Colocasia, Caladium, kurz einer
Aroidee mit kurzen Stengelgliedern, so findet man dieselben ganzrandig und
wenn nicht durch äufsere Entwickelungen verändert, unversehrt. Taf. IV
Fig. 5 stellt den Längenschnitt einer jungen Blattspitze der Colocasia esculenta
vor, die noch in dem Grunde des nächst älteren Blattes eingeschlossen war.
Das Gewebe dieser Spitze ist von dem der Blattfläche nicht wesentlich ver-
schieden, es enthielt zu dieser Zeit noch in allen Zellen Stärke, selbst in der
ÖOberhaut die überdies an der ganzen Oberfläche Spaltöffnungen besafs. In
der Mitte des Parenchymes befindet sich ein Holz-Bündel, das der Blatt-Spitze
nahe endigt. — Vergleicht man nun hiermit die Spitze des Blattes eines
Anthurium, eines Philodendron oder einer andern kletternden Aroidee, so fin-
det man an den entfalteten Blättern immer die äufserste Spitze abgebrochen:
untersucht man die jüngsten, noch in der Knospe eingeschlossenen Blattan-
182 H. Karsten:
lagen, so bemerkt man schon im Äufseren eine Verschiedenheit der Spitze von
der Fläche; die sehr lange, dünne, fadenförmige Spitze ist weisgefärbt und
bricht bei der leisesten Berührung von dem grüngefärbten, biegsamen Blatt-
gewebe: die weilsgefärbte Spitze ist an etwas älteren Blattanlagen immer be-
trächtlich dünner wie das Ende des grünen Theiles dem sie aufsitzt. Auf
der fünften Tafel habe ich (Fig. 5) das untere Ende der weifsgefärbten Spitze
in Verbindung mit dem grünen Ende des Blattes gezeichnet, die Grenze bei-
der giebt sich durch eine plötzliche Verengerung (e) zu erkennen. Fig. 6
stellt den Längenschnitt dieses Theiles (e) vor. Die Mitte des Chlorophyll
enthaltenden Gewebes des unteren Abschnittes wird von einem Holzbündel
durchzogen, dessen Spiral-und Treppen-Fasern sich wenig in die leicht zer-
brechliche Spitze hineinverlängern. Die Epidermis des Blattgewebes besafs
zu dieser Zeit schon Spaltöffnungen, deren Zellen Stärke enthielten, woge-
gen die Epidermis des weilsen, fadenartigen Endes gänzlich ohne Spaltöff-
nungen war, und die Zellen seines Gewebes in der Entfaltung zurückblieben,
während die Bildung neuer Zellen noch fortbesteht, in denen sich Bläschen
zeigen, die sich mit einem fettartigen Stoffe füllen, der durch Jod braun ge-
färbt wird. Diese abweichend gebaute Spitze bricht nun während der Ent-
faltung des Blattes regelmäfsig ab, so dafs das Faserbündel dem Zutritte der
Luft unmittelbar geöffnet ist.
Die Abhängigkeit dieser verschiedenen Entwickelungsweisen der Spitze
des Blattes von der Art seiner Ernährung, die Begründung derselben in dem
Baue der Organismen sind uns bis jetzt verborgen; wir überzeugen uns aber
durch die Gesetzmäfsigkeit dieser Verhältnisse in ihrem Vorkommen bei be-
stimmten Pflanzenformen, dafs sie nicht etwa unregelmäfsige, krankhafte Bil-
dungen sind, sondern dafs sie, eng verbunden mit dem Vorbilde der Art,
welches der sich entwickelnde Organismus nachzuformen erstrebt, mit dem
eigenthümlichen Baue desselben nothwendig ein unzertrennliches Ganze bil-
den. Durch die Art der Entwickelung des Palmenblattes wird ein ähnliches
Ergebnifs auf eine andere, von der Form und Ernährung desselben vielleicht
abhängige, gleichfalls einfache Weise hervorgerufen: dort glaubten wir schon
einen Einflufs dieser Verhältnisse auf die Entfaltung des Gewebes zu erkennen,
der uns durch die verschiedenen Formen in der Familie der Aroideen bestä-
tigt zu sein scheint. Wohl nicht ungegründet erwacht in uns die Hoffnung
den Faden gefunden zu haben, der uns zu dem Eingange verborgener Werk-
die V egetationsorgane der Palmen. 183
stätten organischer Gestaltung zu führen vermag, der uns gestatten wird ei-
nen Blick in die Gesetze zu werfen, die der Palme es vorschreiben, durch
die riesige Blätterkrone den Zug der Wolken zu unterbrechen, während die
Lilie ihre Düfte und die Iris den Farbenschmelz ihrer Blumen dem Bewohner
der Erde darbringt: den Faden der uns bei vorsichtiger, aufmerksamer Verfol-
gung des betretenen Pfadesvielleichtauch in den andern Gruppen des Gewächs-
reiches gleichwerthige Verhältnisse kennen lehren wird, welche über die be-
deutungsvollsten Bedingungen für die Physiognomie des Pflanzenwuchses Auf-
schlufs zu geben vermögen. —
In Rücksicht auf das Verhalten der Knospen stehen die Pandaneen,
Aroideen, Amaryllideen ein Theil der Orchideen, Liliaceen u.a.m. in so fern
den Palmen nahe, als die Gipfelknospe unbegrenzt fortwächst, während die
Seitenknospen sich aus den Blattachseln hervorbilden, doch sind diese Seiten-
knospennicht soregelmäfsig Blüthenknospen wie bei den Palmen, sondern nach
Gesetzen die bisher nicht bekannt sind bald Blüthen- bald Blatt-Knospen (').
Mit den Scitamineen, Typhaceen, Cyperaceen, Butomeen, einigen Liliaceen
und Irideen haben die Palmen das gemein, dafs aus den unterirdischen Stamm-
theilen sich Blattknospen entwickeln die, in der Weise wie es von den Knospen
des Wurzelstockes der Palmen ausführlich beschrieben ist, durch eine Zel-
lenvermehrung in dem cambialen Holzeylinder hervorgerufen werden, in deren
Organe sich Holzbündel hinein verlängern, die gleichzeitig an der innern Seite
dieses Cylinders entstanden(?). Allen Amaryllideen so wie den mit einer
Zwiebel versehenen Liliaceen und Irideen mangelt diese Art der Knospen-
bildung gänzlich, es eignen sich daher vielleicht diese Verhältnisse ein ana-
(') Bei denjenigen Aroideen deren Blätter abwechselnd keine ausgebildete Blattfläche
besitzen, entwickelt sich aus der Achsel des vollständigen Blattes eine Blüthenknospe,
während das blattflächenlose Organ eine Blattknospe in seiner Achsel birgt, deren Ent-
wiekelung oft lange unterdrückt bleibt. An der Blüthenknospe ist noch die Eigenthüm-
lichkeit bemerkenswerth, dafs sie sich innerhalb des Blattgrundes bildet und sich innerhalb
seines Scheidentheiles, nicht in der Achsel seiner Nebenblattscheide, entwickelt, die doch
urspünglich mit dem Blatte ein zusammenhängendes Ganze, einen ringförmigen Wulst,
bildeten.
(?) Will man aufser dieser eigenthümlichen Entwickelungsweise der Holzbündel noch
die Zeit und den Ort der Blattbildung dieser Knospe berücksichtigen, so wird man bei
den Wurzelstockknospen denselben Unterschied von Haupt- und Bei-Knospen machen kön-
nen, wie es hei den Zwiebelknospen geschehen kann.
184 H. Kasnstmen:
tomisches Merkmal einer Zwiebel und eines Wurzelstockes als monoeotylische
Stammformen abzugeben. Freilich würden durch eine solche Begrenzung
des Begriffes Wurzelstock, rhizoma, manche Formen die man bisher dazu
rechnete anders bezeichnet werden müssen: diefleischigen, verdickten Stämme
der Aroideen oder die unterirdisch-kriechenden Äste der Gräser z.B., denen
die Entstehungsweise einer Zwiebelknospe eigen ist, dürften wohl nur wur-
zelstockähnliche Stämme zu nennen sein: während auf der andern Seite die
knotigen Anschwellungen des Stammes der milchenden Butomeen und die
wurzelähnlichen der Dioscorea hieher zu rechnen wären (!).
Aufser diesen Wurzelstock-Knospen die bisher vielleicht zum Theil
als „Nebenknospen, gemmae adventitiae” bekannt waren, kommen auch
bei gewissen Monocotylenstämmen z.B. den Aroideen, Liliaceen neben der
Hauptknospe der Blattachsel oft jederseits eine Reihe von Beiknospen vor,
die sich aus der Kreuzungsstelle des Holzeylinders und der in das Blatt ge-
henden seitlichen Holzbündel ähnlich hervorbilden wie die Hauptknospe
oberhalb des mittleren, gröfsten Holzbündels entsteht.
Was nun die Entwickelung und den Bau der Wurzeln der übrigen
Monocotylen betrifft, so ist derselbe im Allgemeinen so einförmig, dafs ich
kaum zu dem schon bei den Palmen darüber Mitgetheilten etwas hinzuzufügen
habe (?): in allen findet sich ein Cylinder von Holzbündeln der zuweilen
(') Bei der Zimnocharis und Hydrocleis zerfällt der Stamm in längere, blattlose Sten-
gelglieder, deren lockeres, eigentlich nur aus Scheidewänden von Luftlücken bestehendes
Gewebe von mehreren einzeln stehenden Holzbündeln durchzogen wird und in kurze be-
blätterte Knoten, von denen Blatt- und Blüthen-Knospen, wie unter Umständen auch
Wurzeln ausgehen: hier findet sich ein geschlossener Holzeylinder, von dem sowohl die
Bildung der Wurzeln wie die der Knospen beginnt. Bei der Dioscorea sah ich die dem
Marke zunächst stehenden Holzbündel des oberirdischen Stammes von seinem ganzen Um-
kreise sich in dem Knoten vereinigen und in die Knospe eintreten, die in der Blattachsel
aus dem Holzeylinder sich hervorbildet, oft, ohne Blätter zu erhalten, fleischig wird, ab-
fällt und einen neuen Wurzelstock darstellt. Ebenso entstehen in den alten Wurzelstöcken
neben dem Stengel aus dem Holzeylinder neue Knospen, die schon Mohl: „Über den
Mittelstock von Tamus Elephantipes L. 1836” beobachtete, der auch das von Dutrochet
entdeckte Abwärtswachsen des Wurzelstockes von ZTamus bestätigte das bei Dioscorea
gleichfalls stattfindet, wo es, nach der wagerecht-schichtigen Ausbildung des Gewebes
zu urtheilen, periodisch erfolgt.
(2) Die auf der vierten Tafel Fig.6.7. und 8 gegebenen Zeichnungen der Entwicke-
lung der Colocasia esewlenta Schott, deren Beschreibung ich mit dem bei den Palmen
Gesagten zu vergleichen bitte, werden dies bestätigen.
die Vegetaiionsorgane der Palmen. 185
wirkliches Parenchym in den meistens dünnen Wurzeln, jedoch nur Prosenchym
an der Stelle des Markes einschliefst. Die Wurzelmütze fehlt keiner echten
Wurzel. Die Pfahlwurzel ist von den Stammwurzeln (Luft- oder Neben-
Wurzeln) nur morphologisch zu unterscheiden, in der Entwickelung und
den anatomischen Verhältnissen sind keine Verschiedenheiten vorhanden.
Schleiden der dies (Grundzüge p. 118-122) behauptet, scheint gleichfalls,
indem er über die sorglose Nachlässigkeit früherer Beobachter klagt, das
Studium der Entwickelungsgeschichte dieser Organe versäumt zu haben. Die
Angabe, dafs bei denjenigen Saamen die mit einem Deckelchen versehen
sind, so wie bei vielen anderen Monocotylen, das Würzelchen des Keim-
linges sich nicht entwickele ist unrichtig, wie wir bei den Palmen sahen, die
meistens ein Deckelchenbesitzen und was auch schon Kunth in seinem „Lehr-
buch der Botanik 1847” p. 103 berichtigt hat. —
Eine Eigenthümlichkeit findet sich bei der Alstroemeria (Bomarea mul-
tiflora Mirb.) zuweilen auch bei der Zannichellia, Ruppia, Dioscorea und ge-
wifs noch anderen Monocotylen, in der Entwickelung der Wurzeln, indem
hier ein Zeitpunkt eintritt, wo das Gewebe der Mütze nicht mehr erneut wird
und sich das Wachsthum der Wurzelspitze in die Länge abschliefst, während
dieselbe dadurch knollig verdickt wird, dafs in dem Cambiumeylinder noch
längere Zeit die Zellenbildung fortdauert in deren Folge Rinden-und Mark-
Parenchym entsteht. Besonders merkwürdig ist es, dafs an dem unteren
Ende dieser Knollen, dort wo früher die Wurzelmütze sich befand, bei der
Dioscorea sich später Knospen bilden die einen beblätterten Stamm entwi-
ckeln, während das mit dem Stamme zusammenhängende, obere, dünne Wur-
zelende abstirbt. Bei der Alstroemeria und den übrigen konnte ich Ähnliches
nicht finden. —
Überblicken wir nun die den Monocotylen eigenthümlichen Entwicke-
lungsverhältnisse und den daraus hervorgehenden Bau ihrer Organe, so stellen
sich uns die Palmen, als das reinste Vorbild des monocotylen Stammbaues
dar. Die bedeutende Markbildung, der gänzlich in Holzbündel umgeänderte,
in seiner zellenbildenden Thätigkeit gehemmte Cambiumeylinder, die von dem
ganzen Umkreise des Holzeylinders sich trennenden Bündel, welche sämmt-
lich in das Gewebe des stengelumfassenden Blattes eintreten, nachdem sie
in Marke mehr oder weniger der Mittellinie sich genähert, die abgeschlossene
Entwickelung dieser Holzbündel, das gesetzmäfsige Verkümmern der Pfahl-
Phys. Kl. 1847. Aa
186 H. Karsten:
wurzel bei einer Bildung von zahlreichen Stammwurzeln: — alles dies fin-
det sich bei der Mehrzahl der Monocotylen wieder, während das fieder-
schnittige Blatt der Palmen an die vollkommenste Blattform der Dicotylen
erinnert. —
Die allgemein jetzt herrschende Ansicht, es entständen die Holzbündel
der jüngeren Blätter in dem Stamme der Monocotylen aufserbalb der älteren,
ist, wie aus dem Vorhergehenden sich ergiebt, nicht richtig. Die unteren
Enden aller Holzbündel der Blätter liegen in einer einfachen Schicht, die
in dem eylinderischen Stamme einen Cylindermantel(') bildet, also alle von
der Mittellinie gleichweit entfernt: die später entstandene Spiralfaser nicht
aufserhalb, sondern neben und oberhalb der älteren. Eine „vegetatio periphe-
rica” ein „umsprossendes Wachsthum” findet in dem Sinne wie Unger, Mohl,
und andere es annehmen nicht statt: die Monocotylen sind in dieser Bedeu-
tung ebensowenig Endlicher’s und Unger’s „ Amphibrya” wie sie Des-
fontaines’s und Decandolle’s „Endogenae” sind. —
Vergleichung des Baues der Palmen mit dem der Farne.
Bevor wir eine Vergleichung des Farnstammes mit dem Stamme der
Palmen und der übrigen Monocotylen anstellen können, ist es nothwendig,
die verschiedenen bisher wenig bekannten anatomischen Verhältnisse des Er-
steren, so weit ich dieselben kennen lernte, zu betrachten. Mag auch hier die
Entwickelungsgeschichte uns leiten. — Die erste Anlage zu dem Stamme
eines sich entwickelnden Farnes, finden wir in dem kugligen, zelligen Körper
der sich aus einer Stelle im Innern des flächenartig sich ausbreitenden Gewe-
bes hervorbildet, das durch die Zellenvermehrung der Spore entstand. Von
der Oberfläche dieses cambialen Zellenkörperchens erhebt sich nun, wie wir
es an dem Keimlinge der Monocotylen sahen, die Anlage eines Blattes, der
entspechend, in den mittleren Schichten jenes Cambiums, eine Spiralfaser
entsteht, die sich mit der Sonderung der Gewebe, in das sich entwickelnde
Blatt fortsetzt. Andere Spiralen der folgenden, an dem Umkreise des Keim-
(') Ich hoffe es wird überflüssig sein mich vor dem Vorwurfe zu bewahren, dafs
ich hier an mathematische Formen denke. Der Organismus schafft nicht nach den Ge-
setzen des Mechanikers! —
die V. egelationsorgane der Palmen. 187
linges entstandenen Blätter, bilden sich neben der ersten, mit dieser einen Cy-
linder darstellend, der die Grenze von Mark und Rinde andeutet. —
Bei den Monocotylen verharrten besonders zwei gegenüberlie-
gende Punkte des Cambiums, in der Vermehrung desselben und in der
Umwandlung, derdem Parenchyme angrenzenden Schichten in die Form dieses
Letzteren. In dem einen dieser Enden setzte sich ununterbrochen gleichmä-
fsig der begonnene Vorgang fort, während in dem anderen periodische Erhe-
bungen des in der Vermehrung begriffenen Cambiums, über die Oberfläche des
eylindrischen Zellenkörpers eintraten, die mit den, in der innern Cambium-
schicht erscheinenden Spiralfasern in Wechselwirkung zu stehen schienen,
indem mit der Absonderung jener Oberflächenausbreitung von dem Stamm-
körper des Keimlinges auch die Spiralfasern den zur Spitze des Stammes ge-
richteten Weg verliefsen, mit jener zum Blatte sich umformenden Ausbreitung
seitlich fortwachsend und in ihr endend. Diesem ersten Blatte folgte das
zweite und dritte und die übrigen in ähnlicher Weise an dem Umkreise jenes
Zellenkegels. So wurde diesem blätterbildenden Ende des Stammes das Ver-
mögen gegeben sich beständig zu verlängern, während dem entgegengesetzten
Wurzelende eine kürzere Thätigkeit vorgeschrieben, und ihm bestimmt war
bald anderen, ihm ähnlich gebildeten, das Geschäft des Sammelns der nah-
rungsfähigen Stoffe aus der Umgebung, zu überlassen. —
Hier bei den Farnen ist auch diese kurze Frist der Thätigkeit und des
Wachsens dem zweiten Ende des dem Keimlinge zu vergleichenden Zellen-
kegels nicht beschieden: nur die freie, obere Spitze desselben verlängert
sich, Blätter bildend und die im Wasser gelösten Nahrungsstoffe durch Wur-
zeln erhaltend die gleichzeitig mit jedem Blatte, scheinbar von derem Grunde
ausgehend, über die Oberfläche des Stammkörpers sich verlängern. Es fehlt
also in dieser Pflanzengruppe ganz die, als Verlängerung des oberirdischen
Stammes erscheinende Pfahlwurzel.
Die äufsere Form des erwachsenen Farnstammes ist sehr verschie-
den und bedingt durch die Richtung seines Wachsthumes und die Länge der
Abstände seiner Blätter, zum Theil auch durch die Häufigkeit seiner Ver-
zweigung.
Hinsichts der Richtung haben wir den wagerecht unterhalb der Erdo-
berfläche oder auf derselben fortkriechenden von dem scheitelrecht aufstei-
genden Stamme, zu unterscheiden. Bei dem ersteren finden wir am häufig-
Aa?
188 H.- Karsten:
sten die gabelig verzweigten Formen mit langen Zwischenknoten, wie sie den
Gattungen Pteris, Lithobrochia, Cheilanthes, Gleichenia ete. eigen ist, ver-
bunden mit einem inneren Baue, dessen Einfachheit wohl nur übertroffen
wird durch einige Stämme, der äufserlich ähnlich gestalteten doch senkrecht
aufsteigenden, anderen Körpern anhaftenden, in der Atmosphäre lebenden
Formen die uns die Gattungen Hymenophyllum, Trichomanes, Polybotrya,
Campyloneurum vorführen. Am häufigsten ist die aufsteigende, auf der Ober-
fläche des Bodens kriechende, durch die dicht gedrängtstehenden Blätter
buschige Form, die Link die strauchartigen Stämme (caudices frutescentes)
nennt, die die Farne der nördlichen Breiten meistens besitzen, während sie
auch in den tropischen Gegenden durch die Häufigkeit der artenreichen Gat-
tungen Asplenium, Lomaria, Aspidium, Adiantum, Polypodium, Acrosti-
chum, Blechnum, Salpiglaena ete. am meisten gefunden wird, und nur sel-
ten durch eine fleischige Verdiekung des Stammes und der unteren Theile
der Blattstiele, wie besonders die Marattia ihn zeigt, eine knollenartige Form
bekommt, die durch die gestreckten Stämme der Danaea zu den gewöhn-
lichen, holzigen zurückkehrt, denen die Übergangsformen des länger fleischig
bleibenden Diplazium celtidifolium sie verbindet.
Einen gleichen Standort mit diesen saftreichen, knolligen Formen ha-
ben die durch den palmenartigen, frei aufwärts strebenden Stamm einen voll-
kommneren Bau verrathenden, baumartig gestalteten Formen, die, beschränkt
auf die immerfeuchten, kühleren Berggipfel der tropischen Zone oder die
warmen Küsten des diese begrenzenden, gemäfsigten Himmelsstriches, als ver-
einzelte Nachkömmlinge eines üppigen Pflanzenwuchses vorkommen und
"unserer Phantasie ein reizendes, anmuthiges Bild von dem Pflanzenleben aut
der Oberfläche unseres Erdkörpers vorspiegeln, bevor er den Menschen zu
tragen bestimmt war.
Doch besser werden wir ihn verstehen und vielleicht einsehen lernen
wefshalb er anderen, von seinem Baue verschiedenen Pflanzen in dem trockne-
ren Lufikreise der jetzt die Oberfläche unseres Planeten umgiebt, weichen
mufste, wenn wir uns der Mühe unterziehen, den inneren Bau der mannigfach
abweichenden Bildungen des Farnstammes zu untersuchen.
Wir haben schon gesehen, wie sich aus dem gleichförmig cambialen
Gewebe des dem Keimlinge zu vergleichenden Körperchens das Rindengewebe
hervorbildet. Diese Sonderung geht bei der Keimpflanze der verlangsamten
die V egetationsorgane der Palmen. 189
Entwickelung der Anlage neuer Blätter einige Zeit voraus; in der Gipfelknospe
des älteren Stammes indessen, deren gedrängter stehenden Blätter in rascherer
Folge sich entwickeln folgt die Sonderung des Rindengewebes, wie wir es auch
bei den Monocotylen sahen, der Anlage des Blattes; jedoch der Sonderung
der Gewebe dieses vorhergehend, in welche dasselbe ununterbrochen übergeht,
wodurch es unmöglich wird, die Grenze von Blatt und Rinde anzugeben.
Zugleich mit dem Erscheinen der kegelförmig sich erhebenden Blatt-
anlage treten im Grunde desselben die ersten, punktirt-verdickten Zellen, die
Anfänge der Spiralfasern auf, welche sich bei dem beschleunigten Wachsthume
des Blattes in dasselbe als abrollbare Fasern hineinverlängern. Von dem-
selben Ursprungspunkte des ersten Blattes erhebt sich gleichzeitig ein Zellen-
kegel von dem Körper des Keimlinges in entgegengesetzter Richtung des
Blattes sich verlängernd, es ist die erste Wurzel der jungen Pflanze, in die
hinein, von demselben Punkte von dem die Spiralfaser des Blattes ausging,
sich einige gleichgebaute Spiralen begeben.
Auch der aus der Spore durch innere Zellenvermehrung entstandene
blattartige, oft zweilappige Vorkeim besitzt Organe, die zur Ernährung sei-
nes Gewebes, die nöthigen Stoffe aus der umgebenden Natur herzuführen.
Es unterscheiden sich diese die Wurzelthätigkeit ausübenden Organe von den
eigentlichen Wurzeln durch ihren Bau, jene sind gleich den Wurzelhaaren,
einfache Verlängerungen der Öberhautzellen, sie vertreten die Stelle der Wur-
zeln bei dem Vorkeime der Farne und bei den ausgewachsenen Pflanzen der
Familie der Laub-und Leber-Moose und der noch einfacher gebauten Ge-
wächse. Jene Wurzel dagegen, die mit dem Erscheinen des ersten Blattes
auftritt ist ein aus verschiedenen Geweben ähnlich gebautes Organ wie wir
es bei den Palmen kennen lernten. Es besteht dieselbe aus Faserbündeln,
die die Anordnung zu einem Holzeylinder, wie ihn die Wurzel der Mono-
cotylen besitzt, erkennen lassen. Diese Holzbündel nehmen ihren Anfang von
dem Holzeylinder des Stammes, dessen äufserer Oberfläche sie anliegen.
Bei denjenigen Arten, deren Holzeylinder von einem Bastgewebe umgeben
ist, verlängert sich dies gleichfalls in die Wurzel den Holzeylinder derselben
umkleidend, während das Markgewebe des Stammes sich nicht in die Wur-
zel fortsetzt. Das Rindenparenchym ist häufig, besonders bei den oberirdi-
schen Stämmen, auf eine Oberhautschicht beschränkt, deren Zellen häufig
zu Haaren auswachsen. Die oft fleischigen Wurzeln vieler unterirdischen
190 H. Karsten:
Stämme besitzen indessen nicht selten ein vollständiges Rindengewebe, in dem
bei den Marattien selbst Gummigefäfse vorkommen, denen gleich, die im
Stamme vorhanden sind. Auch die Mütze, dies Erkennungszeichen der ei-
gentlichen Wurzel, ist hier stets vorhanden. Kaulfufs bildete sie schon 1827
„das Wesen der Farrenkräuter Fig. 44” ab. —
In Rücksicht auf Zeit und Ort der Entstehung der Farnwurzel findet
gleichfalls Ähnlichkeit mit derjenigen der Monocotylen, indessen doch keine
vollkommene Gleichheit statt. Der monocotyle Stamm ist fähig bald nach
der Bildung des Blattes, vielleicht mit dessen Entfaltung, an der äufseren Seite
des Holzeylinders des dem Blatte nächst unteren Zwischenknotens eine Wur-
zel hervorzubringen und in sehr vielen Fällen findet wirklich diese rasche
Wurzelbildung statt. Bei den Farnen dagegen ist nicht nur dies möglich, son-
dern es ist selbst Gesetz beidem Wachsthume des Stammes schon gleichzeitig
mit der Anlage des Blattes, vor dessen Entfaltung, eine Anzahl von Wurzel-
anlagen aus der Oberfläche des Cambium-Cylinders hervorzubilden, während
der ihnen benachbarte Theil seiner Zellen sich in das parenchymatische Rin-
dengewebe umformt. Es sind daher diese Wurzelanlagen in ihrem jüngsten
Zustande einfache Cambium -Bündel die wagerecht oder hinabgewendet in
dem eben abgesonderten Rindenparenchyme sich befinden, nur durch ihre Stel-
lung und durch Vergleichung mit älteren, schon vollständig mit Geweben ver-
sehenen Wurzeln als solche zu erkennen, und von Blattknospen zu unter-
scheiden. Von der Art der Ernährung des Stammes und der durch diese
bedingten Weise des Wachsthumes und der Gestaltung hängt es ab, ob das
Cambium dieser Wurzelanlagen früher oder später wie die zunächst dann
aus der cambialen Stammspitze sich hervorbildenden Blätter in Gewebe sich
umformt. Bei dem baumartigen Stamme, wo eine grofse Anzahl dieser Wur-
zelanlagen unter jedem Blatte sich befinden, wird ihr stärkeres Wachsthum
verlangsamt und bis zu dem Eintritte äufserer günstiger Verhältnisse unter-
drückt, daher auch die Gewebebildung in ihnen weniger rasch vor sich geht.
Es ruhen dann diese Würzelchen in dem Rindengewebe, dessen Oberhaut
sie erhoben oder durchbrochen haben, wodurch die Oberfläche des Stammes
ein höckeriges, warziges Ansehen bekommt. Bei anderen Stämmen, besonders
bei denen mit sehr verkürzten Zwischenknoten, dieLink zu den strauchartigen
rechnet, (a.a.O.) erhält schon vor den Blättern die Wurzel Spiralen und
Holzfasern aus dem cambialen Holzcylinder des Stammes. Unterhalb eines
die V egetationsorgane der Palmen. 191
jeden Blattes entstehen eine bestimmte Anzahl von Wurzeln, indem einzelne
Theile des Cambium-Cylinders sich für die Bildung dieser nach Aussen wen-
den, worauf zugleich eine Lücke in dem früher zusammenhängenden Cy-
linder entsteht, in welcher Mark - und Rinden-Gewebe einander berühren.
Nachdem später auch die in das Blatt verlaufenden Theile des cambialen Holz-
eylinders von dem dieser Lücke zunächst angrenzenden Gewebe aus dem
Zusammenhange mit dem Stamme getreten und sich nach Aussen in das Blatt
gewendet, schliefst sich diese Lücke des Cylinders wieder. Später werden
wir sehen, wie sich bei den unterirdisch-kriechenden Stämmen von Pteris,
Lithobrochia, Cheilantes ete. für das Blatt ein zusammenhängender Abschnitt
des Holzeylinders trennt. Im Allgemeinen findet hier derselbe Vorgang statt,
nur dafs bei diesen aufsteigenden meist oberirdischen Stämmen, der sich vom
Cambiumeylinder trennende Abschnitt nicht zusammenhängend verholzt,
sondern in einzelne, durch Zellgewebe getrennte Bündel aufgelöst wird. Diese
Wurzein des verkürzten Stammes erlangen nun sehr früh den ihnen als solche
eigenthümlichen Bau, den Holzeylinder und die Wurzelmütze, worauf sie
sich über die Oberfläche des Stammes hinaus verlängern. —
Wie ich schon oben erwähnte ist an der jüngsten, in der cambialen
Gipfelknospe sich als Cambiumbündel aussondernden Wurzelanlage nicht
zu unterscheiden, welches ihre spätere Bestimmung sein wird, da die eigen-
thümliche Umformung der Zellen an der Spitze in das Gewebe einer Wurzel-
mütze noch nicht eingetreten ist. Bei dem Diplazium celtidifolium Kunze
beobachtete ich nun auch wirklich, dafs die Cambiumbündel, die die Stelle
der Wurzel einnehmen bei sehr vermehrtem Zuflufse von Nahrungssaft, nicht
die eigenthümliche Wurzelmütze erhielten, sondern sich ohne diese über die
Oberfläche des Stammes hinaus verlängert hatten, dafs sie mit den, den ober-
irdischen Theilen der Pflanze eigenthümlichen Epidermialschuppen statt je-
ner versehen, und ihr Gewebe mit Chlorophyll gefüllt war, ihre Blattknos-
pennatur war besonders der Schuppen wegen nicht zu verkennen; auch besafsen
andere, ältere, die an ähnlicher Stelle standen, schon Blattanlagen. —
Aufser diesen bei den Farnen gesetzmäfsig mit der Blattanlage zugleich
erscheinenden Wurzeln, findet sich auch noch eine ähnliche Wurzelbildung
durch Zellenvermehrung des cambialen Gewebes aus dem schon völlig aus-
gebildeten Holzeylinder wie sie bei den Monocotylen vorkommt. Das Er-
scheinen dieser, scheint mehr eine Folge unregelmäfsiger Ernährung des
192 H. Karsten:
Stammes zu sein, doch sind die Bedingungen derselben noch genauer zu
erforschen, ich kann für jetzt nur auf ihr Vorkommen aufmerksam machen,
ohne jene angeben zu können. — (!)
Kehren wir zur Betrachtung des Stammes der Farne zurück, so finden
wir den einfachsten Bau desselben in den fadenförmigen, dünnen Stämmen
des Hymenophyllum die aus cylinderischem Zellgewebe bestehen, dessen
Häute verdickt und gelb gefärbt sind: in der Mitte dieser befindet sich ein
Cylinder cambialen Gewebes in dem einzelne Spiral - und Treppen - Fasern
zerstreut stehen die fast die Mittellinie des Stammes einnehmen, so dafs hier
ein centrales Holzbündel vorhanden zu sein scheint, von dem sich einzelne
(') Auch bei den Lycopodien, deren Wurzeln einen gleichen Bau besitzen, tritt
diese Bildung unter günstigen Verhältnissen ein. Die Erscheinungen sind dann dieselben
wie sie bei den Monocotylen ausführlich beschrieben wurden. Überdies verlängert sich
auch bei passender Behandlung (vergl. Reinecke Gartenzeitung Aug. 1847.) ein Holz-
bündel des durchschnittenen Stammes unmittelbar in eine Wurzel. Taf. IX. 14. habe ich
einen solchen Fall von dem Zycopodium Springü Kl. et Karst. gezeichnet. Der Stamm
dieser Pflanze wird von einem zusammenhängenden, marklosen Holzeylinder der die Mit-
tellinie einnimmt und von einem in einzelne Bündel getrennten, diesen inneren umge-
benden Cylinder durchzogen. Ähnlich wie uns die Farne es noch zeigen werden, verlau-
fen die von dem mittleren Cylinder kommenden Bündel eine Strecke in dem äulseren nach
Oben, und trennen sich dann erst von diesem in ein Blatt. Ein Abschnitt dieses äufse-
ren Cylinders, der aus mehreren in verschiedene Blätter gehenden Fasern besteht, hat
sich nun Fig. 14. in eine Wurzel verlängert. —In dem der Schnittfläche nahen Cambium
des Holzbündels, beginnt in diesem Falle eine Zellenvermehrung, wodurch ein cambiales
Gewebe, das die Schnittfläche der Fasern überdeckt, gebildet wird aus dem die Verlän-
gerungen der verschiedenen Gewebe des Holzbündels des Stammes enstehen, die dann in
die so gebildete Wurzel sich fortsetzen (F. 15), deren äufserste Zellenschicht den Bau und
die Thätigkeit der Wurzelmütze angenommen hat (F. 16). —
Kürzlich hat auch Naegeli (Zeitsch. f. w. Bot.) über den Bau der Lycopodien
sich ausgesprochen, er ist meiner Ansicht über die Bedeutung des sogenannten centralen
Holzbündels, nur in etwas weichen meine Beobachtungen von den dort witgetheilten ab.
Pag. 133. sagt Naegeli: „‚Das unterste Ende des Gefälsbündels trifft auf die Biegungs-
stelle eines anderen Gefälsbündels —— ——. Das nächste Gefälsbündel welches entste-
hen wird, wird sich an dem innern oberen Winkel der Biegungsstelle des obersten Gefäls-
bündels festsetzen” ete. — Ein solches ununterbrochenes, senkrechtes Aneinanderreihen
habe ich nicht gefunden, vielmehr gesehen, dals in dem Cambiumeylinder des jüngsten
Lycopodienstammes, ebenso wie in dem ähnlich gebauten Monocotylen- und Farn- Stamme
mit sogenannten centralen Holzbündel, die unteren Enden der ersten Holzfasern der Blät-
ter zwischen zwei älteren liegen, ebenso wie die Blätter des Lycopodienstammes meistens
nur scheinbar senkrecht übereinander stehen —
die V egetationsorgane der Palmen. 193
Fasern für die Blätter trennen. Vergleicht man hiemit die Stämme der zu-
nächst verwandten Gattung Trichomanes, so findet man schon einen deutlichen
Übergang zu denjenigen mit wirklichem, Stärke enthaltendem Markgewebe an-
derer Farne. Zwar ist noch hier dies eigentliche Markparenchym nicht vor-
handen, es nimmt noch das Cambium von dem die Gefäfse umgeben sind die
Stelle desselben ein, doch deutet schon die Sonderung der Gewebe auf eine
Trennung von Rinde und Mark hin, es findet hier ein ähnliches Verhältnifs
statt, wie bei den mit einem sogenannten centralen Gefäfsbündel versehenen
Phanerogamen. Noch deutlicher tritt dies Verhältnifs hervor bei den Ösmunda-
ceen und Schizaeaceen, wo die gröfseren Bündel von Holzfasern von einander
abgesondert in dem Cambium zu einem Cylinder geordnet sind der ein, be-
sonders bei den Arten der Osmunda, bedeutendes, grofszelliges, parenchyma-
tisches Gewebe einschliefst. Dies dem Marke ähnliche Zellgewebe enthält
jedoch nie Stärke, sondern ist immer mit den Stoffen gefüllt, die sich in
dem, das Holz zunächst umgebenden, eylinderförmigen Cambium finden: es
ist wie dies ein Zellgewebe, dafs in der Bildung neuer, endogener Zellen ge-
hemmt wurde.— Die unterirdisch kriechenden Gleichenien von denen ich
die Mertensia furcata Willd. untersuchte, bilden einen Übergang zuder andern
Gruppe von Farnstämmen. Die einfachsten Formen finden sich bei den Gattun-
gen Pteris, Lithobrochia, Cheilanthes, Hyypolepis und ähnlichen unter der Ober-
fläche kriechenden Stämmen, die einen geschlossenen Holzcylinder besitzen,
der das Gewebe des Stammes in Mark und Rinde trennt, und sich nur dort
öffnet, wo Theile desselben in Zweige und Blätter abgegeben werden. In
ie)
der cambialen Spitze dieser Stämme treten gleichzeitig mit der Umformung
der Cambium-Zellen in Mark und Rindengewebe Spiralfasern in dem Theile
auf, der sich in die gleichzeitig erscheinende Blattanlage verlängert; neben
diesen Spiralen bilden sich darauf die Zellen des das Mark umgebenden Cam-
bium-Oylinders in Holzgewebe um. Auf diese Weise sind die Gewebe in
den Stämmen jüngerer Pflanzen, oder in solchen die durch den Standort auf
eine spärliche Nahrung beschränkt sind, vertheilt. In älteren und recht kräfti-
gen Stämmen findet sich in dem, von diesem zuerst gebildeten Holzeylinder
umgebenen Markgewebe ein zweiter Holzeylinder an, der entweder wie mir es
bei der Dicksonia rubiginosa Kaulf. schien, aus einem kleineren Aste entsteht,
der sich von dem Holzeylinder nach Innen abzweigt, oder der, wie es bei der
Pteris Orizabae Mart. Lithobrochia gigantea Prsl. und einigen ähnlichen
°
Phys. Kl. 1847. Bb
194 H. Karsten:
der Fall ist unmittelbar im Marke als kleines Bündel auftritt, das sich wäh-
rend seines Verlaufes im Stamme in einen Cylinder umformt. Ein gleiches i
Verhältnifs findet sich auch in dem Baue des aufrechten Stammes der Dick-
sonia Lindeni Hook. und den fleischigen Marattiaceen (Taf. IX.5.6. u. 10.)
Diesem zweiten, inneren Cylinder folgt häufig noch ein dritter, der sich auf
gleiche Weise in dem umfangreicher gewordenen Marke des zweiten bildet.
Den unteren, frei im Markgewebe endenden Anfang dieser inneren Holz-
cylinder fand ich aus verdickten Bastzellen bestehend, etwas höher hinauf
treten in diesem einzelne Holzfasern, so wie Holz- und Cambium-Zellen auf;
später findet sich in der Mitte des zu einem Cylinder geordneten Holzgewebes
Stärke enthaltendes Parenchym an.
Die erste Absonderung dieser mittleren, frei im Marke auftretenden
Holzeylinder in der Gipfelknospe habe ich nicht beobachtet, es liegt jedoch
nicht fern, aus dem was wir bisher über die Umformung des Cambiums in die
Gewebe des Stammes gesehen, den Grund desselben zu erschliefsen. Alle diese
Erscheinungen deuten nämlich darauf hin, dafs die Umänderung des Cambium-
kegels der Gipfelknospe in stärkehaltiges Parenchym und in Holzzellen in
bestimmtem Verhältnisse geschieht und abhängig ist von der Ernährung der
Pflanze. Es scheint mit dem gröfseren Umfange eines Pflanzenkörpers seine
Sonderung in mehrere Gewebe in nothwendigem Zusammenhange zu stehen,
hat die Nahrungsflüssigkeit einer gewissen Menge eines Gewebes zur Assimi-
lation gedient, so istsie zu seinem Wachsthume und zur Erzeugung des in ihm
enthaltenen Absonderungsstoffes nicht mehr brauchbar, es wird eine andere Bil-
dung auftreten. Von der Richtung des Nahrungszuflusses wird die Anordnung
der Gewebe abhängen, daher wird auch die Kenntnifs des im Stamme der Farne
und der Palmen obwaltenden Verhältnisses dieser Wege des Nahrungsstoffes es
erklären, wefshalb bei letzteren die in dem Markgewebe abgesondert verlau-
fenden Holzbündel anfangs mit dem Cambium - Oylinder zusammenhängen,
während bei den Farnen meistens in der Mittellinie der cambialen Spitze des
Stammes sich die ersten Anfänge, der durch das Markgewebe von dem Holz-
eylinder getrennten Bündel zeigen. Später werden wir noch einige baumartige
Farnstämme kennen lernen, bei denen ebenso wie bei den Palmen sich einzelne
Bündel von der inneren Seite des Holzeylinders trennen, das Mark bis zur
Mitte durchlaufen, und dann wieder nach dem Umfange des Stammes sich
wenden, wo sie in ein Blatt sich verlängern.
die V egetationsorgane der Palmen. 195
Bei diesen unter der Erdoberfläche kriechenden Stämmen der Gattun-
gen Pteris, Lithobrochia, Cheilanthes etc. so wie bei dem aufrechten Stamme
der Dicksonia Lindeni, sondert sich von dem Holzeylinder des Stammes für
das Blatt ein einziger, zusammenhängender Abschnitt, es findet an der Ab-
gangsstelle der Wurzel keine Trennung desselben durch Parenchymbildung
statt. Die Alsophila pruinata Kaulf., die ich in aufrechten Stämmen von drei
Fufs Höhe fand, bildet auch in Rücksicht auf dies Verhalten des Holzeylin-
ders (Taf.IX.1.-4.) zu dieser Gruppe einen Übergang von den baumartigen
Formen, wo es Regel ist, dafs die für die Blätter bestimmten Holztheile i in
mehreren Bündeln sich von dem Stamme trennen; indessen ist dies auch nicht
ohne Ausnahmen, ja es kommt bei Stämmen derselben Art vor (ich fand es
so bei der Cyathea aurea Kl. und Alsophila microphylla Kl.), dafs an dem
einen ein zusammenhängender Abschnitt des Holzeylinders in das Blatt ein-
tritt, an dem anderen einzelne Holzbündel, ähnlich geordnet wie jener Ab-
schnitt, die Stelle desselben einnehmen; es scheint gänzlich von der Ernährung
der Pflanze abhängig, wie viel des cambialen Gewebes das in der Knospe
von dem Cylinder des Stammes sich trennt in Holzzellen, wieviel in Paren-
chymzellen umgebildet wird. So fand ich in eben diesen Stämmen der Cya-
thea und Alsophila, entsprechend der Menge des Holzgewebes in den Blatt-
stielen, eine gröfsere oder geringere Anzahl von Bast-und Holz-Bündeln in
dem Markgewebe. Diese Holzbündel des Markes verhalten sich hinsichts
des Ortes ihrer Entstehung oder ihres ersten Erscheinens verschieden; einige
entstehen in der Mitte des Markgewebes ähnlich dem oben beschriebenen zwei-
ten oder dritten, inneren Holzeylinder, andere sondern sich dort, wo sich
die Gewebe des Blattes vom Stamme trennen, von dem Holzeylinder, ver-
laufen nach Oben und durch die Mittellinie des Markparenchymes, worauf sie
sich wieder nach dem Umfange des Stammes wenden und senkrecht über
ihrer Ursprungsstelle in ein Blatt eintreten, in dessem Stiele sie die Mitte ein-
nehmen und ihn der ganzen Länge nach durchziehen, während die seitwärts
befindlichen in die Blattfiedern gehen.
Am wenigsten zu einem zusammenhängenden Cylinder vereinigt ist
das Holz-Gewebe des aufrecht kletternden Stammes z.B. bei Polybotrya,
Campyloneurum, Pleopeltis ete., hier schliefst sich der Holzeylinder erst sehr
spät nach der Trennung der, für die, durch lange Stengelglieder von einan-
der entfernten, Blätter bestimmten Theile, so dafs man leicht verführt wird
Bb2
196 H. Karsten:
zu glauben, es seien einzeln stehende Holzbündel in dem Stamme, zu einem Cy-
linder geordnet, vertheilt. Doch auch hier z. B. bei der Polybotrya serra-
tifolia Kl. fand ich zuweilen bei den jungen Asten recht kräftig gewachsener
Pflanzen einen vollständigen, zusammenhängenden Holzeylinder.
Übersehen wir nun noch einmal die angegebenen Verhältnisse der An-
ordnung des Holzgewebes in den verschieden gestalteten Stämmen, so können
wir nach dem Mangel oder dem Vorhandensein von wirklichem, Stärke ent-
haltendem, Markparenchyme zwei Gruppen unterscheiden, die eine durch die
marklosen Stämme der Hymenophylleen, Gleicheniaceen, Schizaeaceen und
Osmundaceen gebildet, die zweite aus den Ophioglosseen, Polypodiaceen
und Marattiaceen bestehend, deren mehr oder minder geschlossener Holz-
eylinder ein Markgewebe einschliefst. Wir finden innerhalb dieser Gruppen
eine Reihe von Formen nebeneinander die uns die Entwickelungsgeschichte
wiederholen, die eine der vollkommener gebauten Arten während ihrer ju-
gendlichen Zustände zu durchlaufen hat. In dem jüngsten Pflänzchen ist nur
eine Spiralfaser die des ersten Blattes, in dem noch cambialen Gewebe vor-
handen, bald entsteht das zweite Blatt und mit ihm gleichzeitig in dem Cam-
bium eine andere Spiralfaser, die Grundlage des Holzbündels dieses Blattes.
An anderen Stellen des Umkreises treten die folgenden Blattanlagen auf, denen
wiederum Spiralfasern im Gewebe jenes Zellenkegels entsprechen, die mit den
früher entstandenen in den Umkreis eines Cambium - Cylinders gestellt sind,
der die Mitte des Stammes einnimmt; noch besitzt das Pflänzchen kein Mark,
es sind die Zellen des Cambiums, welche sich später zu Bast-und Holz-Zellen
umformen, die die Stelle desselben einnehmen. Tritt dies auf, so haben wir
den zusammenhängenden Cylindermantel als das die Rinde von dem Marke
trennende Holzgewebe, den der unterirdisch kriechende Stamm uns so deut-
lich zeigte, und erst während der späteren Entwickelung folgen die Blätter
rascher auf einander, so dafs auf einem Querschnitte des Stammes viele ver-
einzelte Bündel von Holzgewebe in dem Parenchyme ringförmig vertheilt er-
scheinen, so wie es bei den aufrechten Stämmen der Fall ist.
Zu einem ähnlichen Ergebnifse gelangen wir, wenn wir die Entwicke-
lung der Knospe mit den Entwickelungsstufen des Stammes, die wir in der
Familie der Farne kennen lernten vergleichen. Blattknospen, Äste, bilden
sich bei den Farnen an sehr verschiedenen Stellen seiner Organe, entweder
gleichzeitig mit den Wurzeln und Blättern aus dem Cambium der Stamm-
die Vegetalionsorgane der Palmen. 197
knospe oder nach der Entfaltung jener Organe aus dem sich vermehrenden
Cambium, das das Holzgewebe des Stammes oder der Blätter umgiebt. Die
am häufigsten vorkommenden und bei Individuen derselben Art am regel-
mälsigsten erscheinenden sind diejenigen Äste, die bei den unterirdisch krie-
chenden Stämmen mit mehreren concentrischen Holzeylindern, an die sich
noch die aufsteigenden Stämme der Dicksonia Lindeni und Alsophila pruinata
anreihen, mit der Anlage des Blattes zugleich an der äufseren Seite seines
Grundes durch eine kegelförmige oder cylinderische Ausbiegung des Holz-
cylinders entstehen: hinsichts des Verhältnisses ihres Gewebes zum Stamme,
den Knospen der Monocotylen-Rhizome zu vergleichen. In der jüngsten
Blattanlage hat es zuweilen das Aussehen als besäfse die rinnige Blattstielbasis
nach Aufsen einen sackartigen Anhang z.B. bei der Alsophila pruinata: (ähn-
lich dem Sporne des Blumenblattes) in anderen Fällen, wo das Knospenwachs-
thum vorherrscht, verlängert sich der zusammenhängende Holzceylinder der
Knospe mit der an seiner Spitze befindlichen Anlage des zum Stamme ge-
hörenden Blattes so, dafs später das Blatt aus dem Zweige erst zu entstehen
scheint; so fand ich es besonders bei den Arten der Gattung Cheilanthes und
der Dicksonia rubiginosa, während an einem aufrecht wachsenden, 3 Fufs ho-
hen Stamme der Alsophila pruinata, die auf dieselbe Weise mit dem Blatte
zugleich an seinem Grunde entstehenden Knospen, dieser Art ganz eigenthüm-
lich, ohne Blätter abzugeben abwärts wuchsen, bis sie die Erdoberfläche er-
reichten, wo dann die Blätter erschienen. (Taf.IX.2.3.4.) Bei den aufrecht
klimmenden Stämmen des Campyloneurum, Pleopeltis, Polybotrya etc. bei
denen sowohl im Stamme wie in den Blättern der Holzeylinder nicht geschlos-
sen ist, besitzen dennoch die in der Nähe der Blätter mit diesem zugleich an-
gelegten Knospen anfangs einen geschlossenen Holzeylinder, besonders wenn
die Pflanzen im kräftigen Wachsthume begriffen sind, wie es bei denen, deren
Knospen zur Entwickelung kommen, immer der Fall zu sein pflegt. Es bilden
diese Knospen eine Übergangsform zu den oben beschriebenen des Dipla-
zium celtidifolium die in der unteren Blattstielbasis, an der äufseren Oberfläche
derselben, an der Stelle der Wurzeln sich fanden.
Die zweite Art der Knospenbildung, aus dem das Holzgewebe umge-
benden Cambium der schon entwickelten Organe, ist am leichtesten an den
Blattstielen und Blattflächen zu beobachten. Wiebei den vollkommneren Pflan-
zen an den unteren Theilen des Stammes Knospen erscheinen, wenn der Saft-
198 H. Karsten:
flufs nach derSpitze desselben unterbrochen wird: so bildet sich regelmäfsigan
jeder Seite des Blattstieles aus dem verdickten, fleischigen Grunde desselben
bei den Marattien eine Knospe, wenn man die Endknospe des Stammes zer-
stört. Bei der Danaca Augusti Karst. wie bei dem Eupodium Kaulfussü
Prsl. trennt sich von dem äufsersten cambialen Holzeylinder des Stammes ein
Abschnitt der als Cylinder in den Blattstiel eintritt, wo sich mehrere Holz-
bündel aus ihm hervorbilden, die sich gabelartig spalten, einen, oder mehrere
in einander befindliche, Cylinder darstellend. (Taf. IX.11.12.13.) An dieser
Spaltungsstelle der Holzbündel beginnt nun in dem knollig verdickten, flei-
schigen Blattstielgrunde eine Zellenvermehrung des Cambiums aus der die
Knospenanlage hervorgeht. Martius giebt (plantae eryptogamicae brasi-
lienses T.69) eine sehr gelungene Abbildung einer solchen Knospenentwicke-
lung aus dem Blattstielgrunde der Marattia cicutaefolia. — (')
Sehr häufig entstehen Knospen aus den verschiedensten Theilen der zu
den Blattflächen gehörenden Rippen, Nerven und Adern, sie erscheinen, im
Gegensatz der auf der unteren Blattfläche gleichfalls in der Nähe der Nerven
gebildeten Sporenbehälter, auf der oberen Blattfläche. Bei dem Diplazium
plantagineum Sw. entsteht eine Knospe an der Grenze der Blattfläche und
des Blattstieles, bei dem Diplazium celtidifolium Kunze. an der Trennungs-
stelle der oberen Blattfiederstiele von dem Hauptblattstiele. Aus der Spitze
des Blatistieles bei dem Asplenium Karstenianum Kl., Adiantum rhizophytum
Schrad., Adiantum rhizophorum Sw. Aus den Nerven der Blattfläche bei
der Caenopteris viviyara, Woodwardia radicans und vielen anderen. Eine
(‘) Auch von den baumartigen Stämmen der Polypodiaceen und Cyatheaceen, ist es
lange bekannt, das sie zuweilen ästig werden, ich selbst habe öfter Stämme der Also-
phila senilis mit 2 oder 3 aus einem Punkte entspringenden Asten gefunden; bei den Stäm-
men der Alsophila aculeata Kl. beohachtete ich, dals sehr kräftige, stark treibende, voll-
saftige Exemplare, deren schon entfaltete und auch die schon ziemlich weit angelegten
Blätter abgeschnitten waren, aus den Schnittflächen der letzteren an der Stelle der Holz-
bündel mehrere Blättchen hervortrieben, wodurch die Bildung eines Astes eingeleitet war.
Das was hier zum Theil durch künstliche Behandlung herbeigeführt wurde; kann im
Walde durch das Zusammentreffen natürlicher Vorgänge veranlalst werden, wenn beim
Beginn der Regenzeit, als der Zeit des üppigsten Wachsthumes, durch die Äste und
Zweige umstürzender Bäume alle Blätter eines Farnstammes abgebrochen werden, ohne
den Stamm und dessen Gipfelknospe zu verletzen; es würden dadurch die Bedingungen
gegeben sein, mehrere Äste hervorzurufen, die der Versuch uns als nothwendig kennen
lehrte.
die V egetationsorgane der Palmen. 199
geeignete Behandlung, eine feuchte Atmosphäre, so wie überhaupt ein Zu-
sammentreffen günstiger Wachsthumsbedingungen machen fast an jedem Farn-
blatte die Entstehung von Knospen möglich, selbst nach der Trennung von
der Mutterpflanze. In allen diesen Fällen bildet sich dann aus dem die Holz-
bündel begleitenden Cambium, durch Vermehrung seiner Zellen, ein kleiner
kegelförmiger Körper, an dessen Oberfläche Blattanlagen erscheinen, mit
denen gleichzeitig im Innern des Gewebes Spiralfasern auftreten, die, bei ver-
mehrter Blattbildung an allen Seiten der Knospe, einen Cylinder bilden, in
dessen Mitte sich Cambium befindet, das an einer etwas höheren Stelle des
jungen Stammes in Mark umgeändert wird.
So treffen wir hier in der Entwickelung der Pflanze aus der Knospe,
dieselben Vorgänge wie die bei der Entwickelung aus dem Vorkeime beobach-
teten, eine Aufeinanderfolge ähnlicher Zustände, wie sie uns die Entwicke-
lungsstufen des Farnstammes gleichfalls nebeneinander darlegen. —
Wenden wir uns nun noch zu dem Blatte der Farne, um es in seiner
Entwickelung mit dem Blatte der Monocotylen vergleichend, zu betrachten.
Gleichmäfsig mit der Hervorbildung der Blattanlage an der Oberfläche der
Stammspitze, verlängert sich bei fortdauernder Sonderung des Markgewebes
an der innern Seite des Cambiums, der dem Blattgrunde gegenüberstehende
Theil desselben, als eine Ausbiegung des cambialen Holzeylinders in jene
Blattanlage hinein. Da auch in dieser schlauchartigen Ausbiegung, der Grund-
lage des Holzgewebes des Blattes, die Bildung von Markparenchym an der
innern Seite fortdauert, so steht hier das des Stammes mit dem in der Mitte
des Blattstieles befindlichen, im unmittelbaren Zusammenhange. Als erste
Andeutung eines künftig erscheinenden Holzgewebes, tritt in der Cambium -
Schicht des Blattes eine Spiralfaser auf, der bei stärkeren Blattstielen bald
mehrere an jeder Seite der zuerst entstandenen, in kleinen Abständen fol-
gen. Der von dem Cambium-Cylinder des Farnstammes sich trennende Ab-
schnitt verlängert sich als eine oben offene Rinne in den Blattstiel hinein, ent-
weder ganz zu Holzgewebe sich umbildend, oder nur in der Umgebung der
Spiralfasern sich in solches verändernd. Mag nun der erste Fall (bei Pteris,
Lithobrochia, Cheilanthes, Dicksonia rubiginosa und Zindeni u.a.m.) oder der
zweite häufigere eintreten, fast immer besitzt die Cambium-Schicht des Blatt-
stieles an jeder Seite eine nach innen gebogene Falte, wodurch es kommt, dafs
zwei Rinnen übereinander zu liegen scheinen. Die der Mitte desBlattstieles zu-
200 H. Karsten:
nächst befindlichen Theile dieser Falten durchziehen die gröfste Länge dessel-
ben, während die seiner Oberfläche näheren in die Blattfiedern sich verzweigen.
So wie bei den Palmen das zuerst gebildete, stärkste, der Mittellinie des Stam-
mes am meisten sich nähernde Holzbündel die ganze Länge des Blattstieles
durchzieht, indem es früher Spiralen und Holzgewebe erhält wie die übrigen
später erscheinenden, in die Blattfiedern sich wendenden Bündel, so verlau-
fen auch bei einigen Baumfarnen einzelne Bündel, die sich von der inneren
Seite des Cambium-Cylinders dort trennen, wo derselbe nach Aufsen in ein
Blatt sich wendet, durch das Mark des Stammes, erst nachdem sie die Mitte
desselben erreicht sich wieder nach der Oberfläche wendend, in einer senk-
recht über dem ersten stehenden Blattanlage eintretend, und hier die ganze
Länge des Blattstieles in dessen Mitte sie stehen durchziehend, während die-
jenigen, die unmittelbar aus dem Cambium-Cylinder abgingen, ohne das
Mark zu durchkreuzen für die Blattfiedern bestimmt sind. Ich beobachtete
dies bei den Stämmen der Cyathea aurea Kl. der Alsophila mierophylla Kl.,
und Alsophila aculeata Kl., schon Mohl erwähnt dieser aus dem Mark stam-
menden Holzbündel des Farnblattes, deren unteres Ende er in den trockenen
Stämmen nicht verfolgen konnte. —
Gleichmäfsig mit dem Wachsthume des Blattes bilden sich Spiralfa-
sern und das Holzgewebe von Unten nach Oben aus. Bei einigen Farnen er-
reicht das lange ununterbrochen an der Spitze weiterwachsende Blatt eine
bedeutende Länge; bei der Salpiglaena volubilis J. Smith fand ich Blätter
von zwanzig Fufs Länge, und ich glaube nicht die längsten gemessen zu haben;
das Lygodium polymorphum Kth. verhält sich ähnlich (!) und die gabelästigen
Blätter der Gleichenien deuten durch die Knospe an der Spitze des Blattstieles
auf eine Entwickelungsfähigkeit, die häufig unterdrückt zu bleiben scheint.
Die Blätter der jüngeren Pflanzen sind bei diesen Farnen einfacher, und hören
früher auf an der Spitze weiter zu wachsen; die Salpiglaena und das Lygo-
dium besitzen dann unpaarig-fiedertheilige Blätter. Erst bei älteren, recht
kräftigen Pflanzen wird die Bildung dieser endständigen Blattfieder verzögert,
während die gepaartstehenden in immer gröfserer Anzahl sich entwickeln.
(') Mohl zählt diese Pflanzen zu den Rankengewächsen und widerlegt Palm, der
sie zu den Schlingpflanzen rechnete, (Über den Bau der Ranken und Schlingpflanzen
p- 152) durch Unbeständigkeit der Wachsthumsrichtung, obgleich die Art der Entfaltung
des Blattes nicht mit dem von ihm p. 4 gegebenen Wesen der Ranke übereinstimmt. —
die Vegetationsorgane der Palmen. 201
Noch einer Eigenthümlichkeit des Farnblattes ist hier zu erwähnen, die
sich in dem Baue desselben findet und gewifs auf die Ernährungsweise der
Pflanzen den gröfsten Einflufs ausübt. An den Blattstielen macht sich näm-
lich jederseits ein heller Streifen bemerkbar, der entweder ununterbrochen
der Länge nach verläuft, oder durch einzelne, dunkele, dem übrigen Ober-
hautgewebe ähnliche Stellen unterbrochen ist. Zuweilen ist die Oberhaut
bei alten Blattstielen über jenem helleren Gewebe durch kleine, lenticellenähn-
liche Öffnungen unterbrochen, die durch Zerreifsung derselben entstanden
sind. Untersucht man das daselbst befindliche Gewebe genauer, so findet
man an den hellen Stellen ein rundliches Parenchym, während das benach-
barte langgestreckte Prosenchymzellen sind, die später verdiekte Wandungen
erhalten. Diese Parenchymzellen enthalten eine gelblich gefärbte, gummi-
artige Flüssigkeit und meistens sehr grofse Tochterzellen; es steht dies Gewebe
in Verbindung mit derjenigen Parenchymschicht, die zunächst das Holzgewebe
umgiebt, und die sich meistens durch die Beschaffenheit des Inhaltes und
der Häute seiner Zellen, wie durch die in den Zwischenzellgängen enthaltene
Luft, von dem übrigen Gewebe unterscheidet, das gleichfalls unter sich in en-
gerer Beziehung zu stehen scheint. Bei den Arten der Gattung Diplazium
bei der ZLotzea, bei Polystichum caudatum K]., Aspidium macrophyllum S w.
Dicksonia Lindeni und vielen anderen färbt sich das Markparenchym ebenso
wie die mit demselben in Verbindung stehende verholzte Prosenchymschicht,
die unter der Oberhaut sich befindet später braun, während jene das Holz um-
gebende Schicht, die sich durch das braungefärbte Gewebe an die hellen Strei-
fen des Blattstieles verfolgen läfst, ungefärbt bleibt. Die Zellen dieser letzteren
sind immer etwas kleiner, liegen locker nebeneinander wie ein lungenförmiges
Parenchym und sind bald von Absonderungsstoffen entleert, gleichsam ab-
gestorben; sie enthalten dann Kohlensäure in den Zellenhöhlen, die bei dem
lungenförmigen Gewebe mit einander in Verbindung stehen. — (!)
Bei den Cyatheaceen erstreckt sich diese eigenthümliche Umbildung
bis auf die untersten Theile des Blattstieles. Sie findet sich hier an der äu-
fseren Oberfläche des bei der Cyathea abfallenden bei der Alsophila stehen-
(') Die Betrachtung dieses lungenförmigen Gewebes, dessen Zellenhöhlen später mit
einander in Verbindung stehen, ist denjenigen zu empfehlen, die die sogenannten veräs-
telten Milchsaftgefäfse, wegen deren unregelmälsige Form, für Zwischenzellgänge halten, —
Phys. Kl. 1847. Ce
2093 H. Karsten:
bleibenden Blattstielgrundes, schon an jungen Blättern als 1, 3, 5 oder mehrere
helle Flecke bemerkbar; später nach dem Zerreifsen der Oberhaut haben sie
Ähnlichkeit mit Lenticellen. Die Entwickelung und Thätigkeit der einzelnen
Zellen dieses Gewebes scheint sehr grofse Ähnlichkeit mit denen der Wur-
zelmütze zu haben. Nach allen mir bekannt gewordenen Erscheinungen halte
ich sie für die Sammler der unorganischen Nahrungsstoffe aus der Atmosphäre
und für die Überträger derselben an das innere Gewebe, nachdem sie mit den
in der Zellhöhle enthaltenen Absonderungsstoffen zu organischen Verbin-
dungen sich vereiniget hatten.
Auch die haar- uud schuppen-förmigen Anhänge der Oberhaut, ste-
hen höchst wahrscheinlich in einer ähnlichen Beziehung zu der Ernährung
des Pflanzengewebes, wie ich dies schon bei dem Palmenblatte erwähnte.
Betrachten wir noch endlich die verschiedenen Gewebe des Farnstam-
mes, so finden wir alle diejenigen wieder, die wir schon bei den Monocoty-
len kennen lernten. Nach der Sonderung des Markparenchymes aus dem
Cambium des Gipfeltriebes, entstehen zuerst aus dem cambialen Holzeylin-
der Spiralfasern in bestimmten Abständen seines Umkreises, entsprechend
einer Blattanlage an der Oberfläche, in die sich dieselben hineinverlängern
(Taf. VIII. 1.b.). Diesen Spiralfasern zunächst ändert sich das Cambium in
langgestreckte Zellen, die sich dann in senkrechte Reihen ordnen, wie es bei
den Monoecotylen gleichfalls stattfindet, es bilden sich bei den Farnen auf
gleiche Weise aus ihnen die punktirten oder gestreiften Holzfasern, die den
gröfsten Theil des fertigen Holzeylinders ausmachen; weiter von den Spiral-
fasern entfernt, befinden sich dann die in ihrer Thätigkeit unterdrückten
Cambium-Zellen: bei dem geschlossenen Holzeylindermantel die innere und
äussere Oberfläche desselben bedeckend (Taf. VII. 2. d.), bei dem in ein-
zelne Holzbündel aufgelösten meistens das Holzgewebe umgebend und gegen
das Markparenchym abgrenzend. Bei denjenigen Stämmen in deren Mitte
kein Mark vorkommt nimmt es die Stelle dieses ein, meistens in der Form
längerer Cylinder-Zellen, selten in der eines eckigen Parenchymes von dem
es sich dann nur durch den Inhalt unterscheidet. Die Gummi-oder Saft-
Behälter die in dem Holzbündel der Palmen und der meisten Monocotylen
fast regelmäfsig vorkommen, finden sich hier bei den Farnen selten. In den
Geweben des Holzeylinders des Stammes beobachtete ich sie nur bei der Dick-
sonia rubiginosa, dagegen waren diese zum Holzgewebe gehörenden Abson-
die V egetationsorgane der Palmen. 203
derungsorgane in den Holzbündeln der Blattstiele aller Cyatheaceen vorhan-
den die ich untersuchte; sie stehen hier von der Spiralfasern an der Markseite
der Holzschicht von Cambium-und Holz-Zellen umgeben, sie entstehen aus
senkrechten Zellenreihen des Cambiums und verlängern sich auch in solche
in den höheren Theilen der dünner werdenden Blattstiele, in deren geringem
Zellgewebe die Umbildung in eigentliche Gefäfse nicht mehr stattfand. Häu-
fig finden sich in demselben grofse Zellen, die deren ganze Höhlung ausfüllen,
was auch bei den übrigen Gefäfspflanzen seit Malpighi beobachtet ist; nicht
selten enthalten diese in den Gefälsen vorkommenden Zellen Stärke, ja ei-
nigemal fand ich auch Chlorophyll in diesen rings von Holzgewebe umgebenen
Zellenvegetationen (bei der Cyathea aurea Kl., Alsophila microphylla Kl.).
Wie bei der Bildung der Holzbündel der Monocotylen die äufsere
Cambiumschicht nicht vollständig in Parenchym umgeändert wird, sondern
als ein von dem Cambium verschiedenes Gewebe, (die Mutterzellen des Par-
enchymes, das in der Entwickelung unterdrückt wurde) das Holzbündel
umgiebt und nur an der Grenze des Parenchymes die unausgebildeten, endo-
genen Zellen erkennen läfst: so findet sich auch bei den Stämmen der Farne
eine das Holz umgebende Gewebeschicht, deren Zellen schon in der cambialen
Anlage des Holzeylinders sich durch die langgestreckte Form auszeichnen,
die man erkennt, sobald keine Neubildnng von Parenchymzellen in ihm mehr
stattfindet; (Taf. VIIL.1.c.) auch hier bildet sich dann regelmäfsig an der
Grenze des eigentlichen Parenchymes in den Zellen dieses Gewebes, das ich
mit dem Bast der höheren Pflanzen für gleichbedeutend halte, eine jüngere
Generation von Zellen die, von der Weite der Prosenchymzellen, in diesen
senkrecht übereinanderstehen: es ist eine vollständige Schicht von unausgebil-
deten Parenchymzellen, die wohl nur auf Veranlassung einer veränderten Be-
schaffenheit des Nahrungssaftes in dem Wachsthume gehemmt wurden, und
darin unter günstigen Verhältnissen fortzufahren bestimmt sind. Bei den in
einzelne Bündel aufgelösten Holzeylindern der dünnen Stämme, so wie in den
Blattstielen, ist diese Bastschicht meistens sehr unbedeutend, nur durch jene
einfache die cambialen Parenchymzellen enthaltende Schicht angedeutet; bei
den baumförmigen Stämmen der Farne dagegen, findet sich auch in den aus-
gewachsenen Theilen dieser Bast, in einer bedeutenden Schicht prosenchyma-
tischer, verdickter und braungefärbter Zellen bestehend, die an den dunkel
gefärbten Bast der Palmen erinnern. (Fig.2.c.) Von diesem letzteren unter-
Cc2
204 H. Karsten:
scheidet sich der Bast des Farnstammes dadurch, dafs noch in den verholzten
und darauf dunkelgefärbten Zellen desselben Stärke gebildet wird, die ich
nie mit Bestimmtheit in dem Baste der Monocotylen erkennen konnte, wohl
aber in dem der Dicotylen zuweilen vorfand. Ein anderes Verhältnifs das
mir bei Monocotylen bisher nicht bekannt geworden ist, das an die in der
Rinde und zuweilen im Marke der Dicotylen befindlichen Bastbündel erinnert,
findet sich in dem Farnstamme: nämlich eine Bildung von parenchymatischem
Gewebe sowohl auf der nach der Oberfläche des Stammes wie auf der nach
dem Holzgewebe gewendeten Seite der Bastschicht, wodurch der Holzeylinder
der Baumfarne von dem ihn umgebenden Baste durch eine Schicht von Stärke
enthaltendem Parenchyme getrennt wird, in welchem, in den Stämmen, deren
übriges Parenchym von Gummigefäfsen durchzogen wird, gleichfalls solche
Gefälse vorkommen. —
Da bei vielen Arten der Gattungen Diplazium, Dicksonia, Cheilan-
ihes, Didymochlaena und sehr vielen anderen auch die Zellen des Markgewebes
die braune Farbe annehmen, die die Bastzellen im späteren Zustande besitzen,
ihm überdies oft in der langgestreckten, prosenchymatischen Form ähnlich
sind, so rechnete Mohl diesen Bast zum Parenchym, er glaubte hiezu um
so mehr berechtigt zu sein, als auch in dem später weifsbleibenden Markge-
webe der Baumfarne oft einzelne Bündel solcher verdickten Bastzellen vor-
kommen, die dann durch Umbildung der Markzellen entstanden zu sein
scheinen.
Bei denjenigen Arten, die sowohl das braungefärbte Markgewebe be-
sitzen wie den Bast, färbt dieser sich früher braun wie jenes, seine Zellen
besitzen auch meistens eine andere Form, indem sie eylindrisch, die des Mar-
kes prosenchymatisch gestaltet sind. Oft beginnt die braune Färbung des
Markes an der Grenze des Holzgewebes und zwar bei jeder einzelnen Zelle,
an der Seite der Zellwand die dem Holze zugewendet ist. Dieser Farbenän-
derung geht immer die Verdiekung der Haut voran. In einigen Gattungen
kommen gar keine braungefärbten Gewebe vor z.B. bei der Marattia, hier
fand ich auch in dem Safte der Pflanze, der sonst durch Eisensalze dunkel-
grün gefärbt wird, nicht diese Andeutung von Gerbsäure; es scheint daher
dieselbe nicht in dem Bastgewebe erst gebildet zu werden, (etwa durch Ver-
wesung des absterbenden Gewebes, in dem noch lebenden Körper!) sondern
nur besonders geeignet zu sein sich mit dem Gewebe desselben zu verbin-
die Vegetationsorgane der Palmen. 205
den. Der eigentliche Bildungsort dieser Säure, sind die kleinen Bläschen
oder Zellen, die in dem gummiartigen Safte der Prosenchymzellen vorkom-
men. In vielen Arten kommen besondere Zellen in dem Parenchyme vor,
die schon durch ihre Form sich von den übrigen unterscheiden lassen, sie
sind meistens grölser und stehen oft in senkrechten Reihen übereinander;
ihre Höhlungen sind zuweilen durch Verflüssigung der sich berührenden, wa-
gerechten Scheidewände mit einander verschmolzen, so dafs die Form der
Milchsaftfasern dadurch hervorgebracht wird, oder die der Gummigefäfse,
wenn die Parenchymzellen, die diese Faser zunächst umgeben, zugleich an
der Absonderung des Gummi Theil nehmen. In dieser gummiartigen Flüs-
sigkeit finden sich kleine Zellen, deren trüber Inhalt durch Eisensalze
schwarz gefärbt wird, diese Zellen halte ich daher für den Erzeugungsort
der Gerbsäure.
Einzelne grofse gummihaltige Zellen fand ich in dem Parenchyme der
Stämme der C'yathea aurea, (Taf. VII Fig. 1.a.) Alsophila senilis, micro-
phyllau.a., zu Fasern vereinigt waren diese Zellen in dem Stamme der Alsophila
pruinata, in deren Blattstiel die Höhlung derselben nicht weiter war wie die
der übrigen Parenchymzellen, nur durch ihren Inhalt von diesen zu unter-
scheiden, so dafs sie den eigentlichen Milchsaft führenden Fasern ähnlich
waren. Eigentliche Gummigefäfse fand ich in dem Gewebe des Stammes,
der Blätter und der Wurzeln der Marattiaceen, hier nehmen auch die, die
einfachen Fasern umgebenden Zellen an der Absonderung des Gummi Theil.
Das Vorkommen der Gummi-Gefäfse und-Fasern ist also nicht an die Form
des Stammes gebunden, erstere kommen in den verkürzten Stämmen der Ma-
rattien vor, und sie wie auch die einfachen Fasern fehlen in vielen baumartigen
z.B. in dem Polypodium subincisum Willd. und Karstenianum Kl., der Didy-
mochlaena sinuosaDesv., Polybotrya serratifolia Kl. und canaliculata Kl., der
Hemitelia oblusa Kl. und Balantium Karstenianum, welche letzteren in dem
weifsen Markparenchyme auch weder Bast- noch Holz-Bündel enthalten. —
Das Gewebe der Rinde ist dem des Markes an Form und Inhalt im-
mer sehr ähnlich, die Schichten der Oberhaut sind spindelförmig und er-
halten später verdickte Wandungen, sie setzen sich über die Basis des Blatt-
stieles fort, dessen weiter vom Stamme entfernte Theile meistens nur von
einer einfachen Schicht solcher Oberhautzellen bedeckt sind. Da auch die,
den Holzeylinder umgebende Bastschicht bei manchen Farnen mit der Ober-
206 H. Karsten:
haut des Blattes zusammenhängt (vergl. Taf. IX. Fig. 1.), so kann man eine
Ähnlichkeit in der physiologischen Bedeutung dieser Gewebe vermuthen.
' Vergleichen wir nun noch einmal übersichtlich den Bau des Farnstam-
mes mit dem der Palmen, so finden wir die gröfste Verschiedenheit in dem
Verhalten der Holzbündel während ihres Verlaufes zu den Blättern. Bei den
Palmen und Monocotylen überhaupt war es Regel, dafs die Holzbündel sich
an der Markseite von dem Holzceylinder trennten und vor ihrem Eintritte in
das Blatt, das Markgewebe durchzogen; bei den Farnen dagegen tritt dies
Verhältnifs nur ausnahmsweise ein, Regel ist es, dafs die Spiralfaser mit dem
sie begleitenden Holzgewebe senkrecht in dem Holzeylinder aufsteigt, und
nur eine Biegung nach Aufsen in das Blatt macht.
Jeder neuen Blattanlage entsprechend, entstehen in dem cambialen
Holzeylinder neue Spiralfasern als die Grundlage von Holzbündeln, die, ohne
unmittelbaren Zusammenhang mit den Spiralfasern anderer Blätter, mit al-
lem Holzgewebe das aus dem Cambiumeylinder hervorgeht, sich in das ent-
wickelnde Blatt hineinverlängern. Im weiteren Verlaufe der Entwickelung
des Stammes kann mehr oder weniger senkrecht, oberhalb der in ein Blatt
getretenen Spiralfaser, wie wir es bei den Monocotylen sahen, eine andere
neue Faser entstehen: keinesweges ist jedoch diese Faser, oder das um sie
sich bildende Holzbündel, als eine Verlängerung des früher vom Stamme in
ein unteres Blatt gehenden Bündels, zu betrachten. Mohl der dies annimmt
(de structura caudicis filicum arborearum 1833) und darin eine gänzliche
Verschiedenheit in der Wachsthumsweise des Stammes der Farne und Mo-
nocotylen erblickt, hat nicht nur die zuerst auftretenden Holzbündel mit dem
übrigen Gewebe des Holzeylinders verwechselt, sondern auch unbeachtet ge-
lassen, dafs zunächst oberhalb des, in ein Blatt sich nach Aussen wendenden
Holzgewebes eine markstrahlenähnliche Parenchymbildung eintritt, und durch-
aus kein Cambium verbleibt, das die Entstehung von Holzbündeln oder einer
Holzschicht veranlassen könnte.
Mohl’s „vegetatis terminalis” findet ebenso wenig, in der von ihm
untergelegten Bedeutung statt, wie die Gründung der von Endlicher und
Unger aufgestellten Abtheilung der „Acrobrya” sich durch sie rechtferti-
gen läfst. —
Ob der ganze Cambium-Oylinder zu Holzzellen sich umbilde oder
nur einzelne, die zuerst gebildeten Spiralen umgebenden Theile desselben:
die V egetationsorgane der Palmen. 207
ob, in Folge dieser Umänderung, ein geschlossener- oder ungeschlossener
Holzeylinder entstehe, ist in der Familie der Farne eben so wechselnd, wie
bei den übrigen, mit einem Holzeylinder versehenen Pflanzengruppen und
wie wir oben p.195. sahen, die Bildung dieser Gewebe zum Theil von der
Ernährung der Pflanze abhängig. Eine geringe Cambium-Schicht umgiebt
immer das entwickelte Holzgewebe und begrenzt dasselbe gegen die benach-
barte Parenchym- oder Bast-Schicht; hierin weicht der Bau der Farne von
dem der Palmen und der übrigen Monocotylen ab, indem bei diesen Pflan-
zen das Cambium in der Regel nur an der einen, nach der Stammoberfläche
gewendeten Seite des Holzgewebes sich findet. Ausgezeichnet sind die mei-
sten Farne, besonders die baumartigen Stämme, durch die bedeutende Bast-
schicht, die die Holzbündel oder den Holzeylinder allseitig umgiebt. Das
letztere Verhältnifs, das Vorhandensein von Bastgewebe an der Markseite
des geschlossenen Holzeylinders findet sich nur bei wenigen Dicotylen ange-
deutet, die Umhüllung der getrennten Holzbündel dagegen von einer Bast-
schicht, findet sich bei den meisten Monocotylen wieder und erinnert durch
die Färbung dieses Gewebes besonders an die Palmen. —
Die Gewebe der Wurzel sind gleichfalls bei den Farnen und Palmen,
wie bei allen übrigen Monoeotylen gleichgebildet, und befinden sich in einer
gleichen Anordnung. Ein Unterschied besteht jedoch darin, dafs den Farnen
die Pfahlwurzel, die unmittelbare Verlängerung des Stammes, fehlt und die
später erscheinenden Wurzeln regelmäfsig gleichzeitig mit dem Blatte ange-
legt werden, während sie bei den Monocotylen erst nach der Entfaltung der
Blätter aus dem Cambium des Holzeylinders unterhalb derselben entste -
hen. —
Auch die Gewebe des Blattes sind im allgemeinen bei diesen beiden
grofsen Pflanzengruppen gleich gebildet und oft ähnlich geordnet, nur kommt
bei den Farnen noch die oben beschriebene, eigenthümliche Umbildung ge-
wisser Stellen der Oberhaut hinzu, die den Zutritt der Atmosphäre an das
innere Gewebe des Blattes und des Stammes zu erleichtern bestimmt zu sein
scheint. In der Entfaltung des Blattes und in der gleichzeitig erfolgenden
Verholzung der Gewebe findet sich darin ein Unterschied, dafs bei den Pal-
men und den übrigen Monocotylen die Entwickelung der Gewebe aus dem
Cambium von dem unteren Theile des Blattes nach den oberen hin stattfindet:
die Entfaltung, das Auswachsen, der gebildeten Zellen jedoch in umgekehrter
208 H. Kansten:
Richtung geschieht; bei den Farnen dagegen der ersten Anlage ununterbro-
chen in derselben Richtung von Unten nach Oben die späteren Umbildungen
der Zellen folgen. —
Vergleichung des Baues der Monocotylen mit dem
der Dicotylen.
Indem wir uns zu der grofsen Abtheilung der Dicotylen wenden, tre-
ten uns mehrere Familien entgegen, die man wegen ihres von der Mehrzahl
der Dicotylen abweichenden Baues als eine Übergangsform zu den Monoco-
iylen betrachtete. Es sind dies besonders die Cycadeen, die Piperaceen,
Amaranthaceen, Chenopodien und Nyctagineen, die daher bei der vorgesetz-
ten Untersuchung vorzugsweise zu berücksichtigen sind.
Zweckmäfsig wird es sein, bei der Untersuchung dieser als Übergänge
erscheinenden Pflanzenformen von dem regelmäfsigen Baue der dicotylen
Stammform auszugehen. Wenden wir uns zuerst zu diesem Zwecke zn den
Coniferen einer Familie die nicht nur jene Bedingung erfüllt, sondern auch
zu der Vergleichung der Cycadeen den Weg bahnt: so finden wir bei der
Betrachtung des Querschnittes einer Blatiknospe von Podocarpus salicifolia
Kl. et Karst. hier ebenso wie bei den Monoeotylen und Farnen das Parenchym
des Markes und der Rinde durch eine Schicht cambialen Gewebes geschieden,
an dessen innerer und äufserer Oberfläche eine Vermehrung des Parenchymes
stattfindet, während in seiner Mitte einzelne senkrechte Zellenreihen zu Fasern
sich vereinigen, die bald als echte Spiralfasern kenntlich sind, welche in
bestimmten Abständen von einander entfernt stehen, den gleichzeitig an der
Oberfläche der Stammspitze erscheinenden Blattanlagen entsprechend. So
wie diese Blätter in einer Schraubenlinie sich aus dem Cambium-Kegel nach
und nach hervorbilden, so beginnen in gleicher Reihenfolge die Anfänge
der für sie bestimmten Spiralfasern in dem Cambium - Cylinder, eine der
Blattstellung ähnliche Linie im Innern des Stammes beschreibend. Denkt
man sich die stiellosen Blätter am Podocarpus mit gleichlangen Stielen ver-
sehen und ordnet nun die Blattflächen so um eine Mittellinie, wie es die le-
bende Pflanze zeigt, so hat man durch die gedachten Blatistiele die richtige
Lage der Holzbündel des Stammes. Alle diese senkrechten Stammenden
der Blattspiralen stehen in einem bestimmten Abstande vom Mittelpunkte, einen
die V egetationsorgane der Palmen. 209
Cylinder um das Mark bildend, sie verlaufen eine Strecke in dem Cambi-
umcylinder aufwärts und wenden sich dann, ohne die geringste Krümmung
nach innen zu machen, zur Oberfläche in die Blätter die sie als Mittelrippe
durchziehen. Die Blätter sind in fast $ Spirale geordnet (1), doch eben
so wenig wie das neunte Blatt senkrecht über dem ersten steht, befindet sich
auch die zu jenem gehende Spiralfaser senkrecht über dieser, sondern etwas
zur Seite gerückt. Man darf sich daher das Verhältnifs der verschiedenen
Spiralfasern nicht so denken, als sei die obere Spiralfaser, mit den übrigen
Fasern und Zellen die mit ihr ein Bündel bilden, eine Verlängerung der nächst
unteren: es ist dies eine ebenso unrichtige Vorstellungsweise wie diejenige,
dafs die zu den oberen Blättern gehenden Holzbündel aufserhalb der zu den
unteren verlaufenden lägen und von diesen durchkreuzt würden.
Nach der völligen Umbildung des Cambiums in die, fast in ihrer ganzen
Länge gleichartig zusammengesetzten Holzbündel, formen sich die im Stamme
zwischen ihnen befindlichen, aus dem Cambium gebildeten Prosenchymzellen
zu Holzfasern um, die zuerst entstandenen Holzbündel zu einem zusammen-
hängenden Cylinder vereinigend, der das Mark einschliefst und von der Rinde
durch eine geringe Schicht von Cambiumzellen getrennt ist, die in der näch-
sten Wachsthumsperiode des Baumes zur Entstehung einer neuen Holzschicht
Veranlassung geben, welche dann die senkrechten Enden jener in den Blät-
(') Die ersten Blätter einer Seitenknospe nehmen noch nicht diese Stellung ein, sie
stehen fast wechselweise, die untersten rechts und links, die folgenden unten und oben.
Die Entwickelung dieser beiden letzten Blätter, giebt einen schönen Beleg für die Un-
haltbarkeit der Ansicht, dafs die Lagerungsweise (foliatio) unbedingt abhängig sei, von
der durch die Stellung ausgesprochenen Bildungsfolge. In dem T. VII. 6. a. gegebenen
Querschnitt einer Knospe sieht man innerhalb der äufseren Ränder der beiden rechts und
links stehenden Blätter, der mütterlichen Blattachsel der Knospe zugewendet das dritte
Blatt schon von dem Gewebe seines Stammes getrennt, wenn noch das Folgende nicht
gesondert ist. — In dem Querschnitt einer ausgewachsenen Knospe Fig. 6. b. umfalst
der äussere Rand des rechts stehenden Blattes, der linkswendigen Spirale den entspre-
chenden Rand des gleichzeitig entstandenen, linksstehenden; dann folgt das unterhalb und
links von Letzterem stehende der Hauptaxe zugewendete und jetzt est als 4! das als das
Dritte aus dem Cambium gesonderte, der Achsel des Stammblattes zugewendete Blatt,
welches innerhalb der beiden übereinandergreifenden Ränder der beiden unteren Blätter
befindlich sowohl an der Abgabe von Stoffen aus der Atmosphäre wie an einer Aufnahme
von solchen mehr verhindert ist, wie das später entstandene, doch theilweise freie, ge-
genüberstehende Blatt.
Phys. Kl. 1847. Dd
210 H. Karsten:
tern endenden Bündel bedecken, und gänzlich von dem Rindengewebe ent-
fernen. Vor diesen Holzbündeln entstehen in der Rinde wie in dem Blatte
durch Erweiterung einzelner senkrechter Zellenreihen und Aufsaugung ih-
rer wagerecht sich berührenden Wände, Fasern (T.VII. 5.g.) die in der
Rinde und in den parenchymreichen Theilen des Blattes, (VII.4) dadurch
dafs die benachbarten Zellen an der absondernden Thätigkeit dieser Faser
Theil nehmen, während ihre Haut dann zu verschwinden scheint, die Ei-
genschaften eines Gefäfses bekommen, während in der Blattspitze (VII. 3. a.)
und dem Blattstiele die Faserform sich nicht verändert. An der diesem Harz-
gefäfse und der mit Spaltöffnungen begabten Oberfläche zugewendeten Seite
des Holzbündels verbleibt auch in seinem Blattende, ebenso wie in dem
Stamme eine Cambiumschicht, deren fortdauernde Zellenbildung die Ver-
mehrung des Holzgewebes vermöglicht: wodurch auch im Blatte bald eine
bedeutende Holzschicht entsteht, die an einähnliches Verhältnifs, bei gleichzei-
tiger Verlängerung desBlattstieles und Fiederblattbildung, bei manchen Melia-
ceenund Cedrelaceen erinnert. (Man vergl. meine Bemerkung über die Gua-
rea trichilioides L. Bot. Zeit. 1846, 7) (')
In dem Holze des Stammes machte sich die Anzahl der Wachsthums-
perioden durch Jahresringe bemerkbar; in dem, Taf. VIL.1. gezeichneten Quer-
schnitte ist die vorletzte Holzschicht nur halb so dick wie die übrigen, dem
entsprechend war auch die Länge der Zwischenknoten des vorletzten Trie-
(') Nicht immer ist das Blatt der Dicotylen so einfach gebaut wie das der Conife-
ren, meistens treten aus von verschiedenen Stellen des Stammkreises Holzbündel in das
Blatt, nicht selten in dem Blattstiele, dann einen geschlossenen Cylinder bildend,; der
dann oft, wie grade bei den oben erwähnten Familien ein bedeutendes Markparenchym
einschlielst, während die nach Aussen liegende Cambiumschicht zur Verdickung des Holz-
eylinders beiträgt. Regel ist es bei den Dicotylen, dafs das Cambium der Holzbündel des
Blattstieles und der Blattfläche nach der mit Spaltöffnungen besetzten (unteren) Oberfläche
hin gewendet ist, während es bei den Monocotylen in der Mittellinie der Holzbündel ne-
ben den der Atmosphäre geöffneten Holzfasern eingeschlossen wird und bei den Farnen die
ganze Oberfläche des Holzgewebes bedeckt, das von dem überall der Atmosphäre durch
die oben beschriebene Einrichtung leicht zugänglichen und fast gleichförmig entwickelten
Parenchyme umgeben ist. Die Anordnung der Gewebe scheint der Vertheilung der Nah-
rungswege zu entsprechen; die Art ihrer Entwickelung ist dagegen von der Beschaf-
fenheit des Nahrungstoffes abhängig. Erst die genauere Kenntnifs dieser beiden Bedin-
gungen, wird uns eine etwas tiefere Einsicht in die Lebensverhältnisse des pflanzlichen
Organismus verstatten. —
die V egetationsorgane der Palmen. 211
bes nur halb so grofs wie die der übrigen; die Gröfse der Zellen dieses Holz-
ceylinders war von den banachbarten nicht verschieden, ebenso die Verholzung
derselben, die geringere Länge der Stengelglieder wie die entsprechende
Dicke des Holzeylinders hatte also seinen Grund in einer veränderten Bil-
dungsthätigkeit, über den ich leider weder Aufschlufs noch Andeutungen
erhalten konnte, da die Blätter schon abgefallen waren. Das Holz besteht
aus punktirt verdickten Fasern, die durch wagerechte Zellenreihen von Mark-
strahlen in radialer Richtung durchzogen werden. Vorzüglich an den diesen
Markstrahlenzellen anliegenden Wandungen der Holzzellen finden sich ähn-
liche Porenbläschen, wie bei den übrigen Fichten (VII. 2.b.). Die Bedeu-
tung dieser Bläschen die bei Pinus sylvestris, wo sie noch häufiger vorkom-
men, zuweilen zwei bis vier noch kleinere Bläschen einschliefsen, ist hier
vielleicht eine ähnliche, wie die der früher (p.203 T. VI.2.3.) beschriebenen
in den Bastzellen eingeschlossenen, d.h. eine in ihrer Entwickelung gehemmte
Mutterzelle. Untersucht man nämlich die an der Rinde grenzende Cambi-
umschicht, die hier, wie überall das langsam wachsende Cambium, aus weiten,
dünnwandigen Zellen besteht die mehrere Zellkerne enthalten, so findet man,
dafs die Entfaltung dieser endogenen Zellen und ihre Entwickelung zu Holz-
gewebe in einzelnen radialen Schichten im Umkreise des Stammes beginnt,
und von hier nach beiden Seiten hin mit verlangsamter Wachsthumsthätigkeit
vorschreitet; endlich wenn sie an der markstrahlenartigen Zellenreihe zusam-
mentreffen, scheint nur eine dieser endogenen Zellen sich auszudehnen, wäh-
rend durch sie die übrigen an die der Markstrahlenzelle zugewendete Zell-
wand gedrängt, und zwischen beiden Häuten eingeschlossen werden. Dafs
diese Zellen aufser der oben (p.120.) erwähnten, von dem Gesammtleben
des Organismus unabhängigen, selbstständigen Entwickelung auch in den
späteren Lebensstufen desselben in eine regelmäfsige Fortbildung eingehen
können, ist bei dem Podocarpus oder einer anderen Conifere noch nicht be-
obachtet: diese für die Kenntnifs des Zellenlebens so aufserordentlich wich-
tige Erscheinung zeigt sich in den Stämmen vieler Schlingpflanzen, deren
Holzeylinder durch eine solche Veränderung der Thätigkeit der Zellen nicht
nur auf die verschiedenste Weise durch Zellgewebe getrennt, sondern selbst
durch die Entstehung von Rindengewebe aus diesem letzteren, in ein Bündel
getrennter Stämme zerfällt. Auf der Taf. VI. habe ich Fig. 7. den Querschnitt
eines älteren Stammes der Banisteria nigrescens Adr. Juss. gezeichnet,
Dd2
242 H. Karsten:
in welchem bei a die Trennung der Öberflächenauswüchse des mittleren Holz-
körpers vorbereitet wird. — In den jüngsten, noch nicht verholzten Zweigen
findet sich im Umkreise des Markes eine ähnliche Anordnung von Holzfa-
serbündeln, die sich in die Blätter verlängern, wie es von dem Podocarpus
beschrieben ist, durch das später gebildete Holz, dafs diese Bündel dann zu
einem Cylinder vereinigt, tritt darin ein Unterschied hervor, dafs dasselbe
hier dann aus Prosenchymzellen besteht, wie es bei den Dicotylen Regel ist,
und sich durch die dem Stamme aller Schlingpflanzen eigenthümliche grofse
Menge weiter Netzfasern auszeichnet. Entfernt man die Rinde von einem
jungen Zweige, so ragen die in den Blättern endenden Holzbündel, eine sehr
scharfe Kante bildend, über die Oberfläche des Holzeylinders hervor. Ver-
folgt man diese hervorragenden Holzbündel abwärts in die älteren Theile des
Stammes, so findet man, dafs sie hier an dem Holzeylinder durch Rillen er-
setzt werden, indem der zwischen den Faserbündeln befindliche Theil des
Cambiumceylinders durch eine fortdauernde Bildung von Zellen und Holzge-
webe hier eine stärkere Vermehrung der Holzschicht bewirkt. An noch älte-
ren Theilen des jungen Stammes, deren Oberhaut schon abgefallen und durch
Rindengewebe ersetzt ist, wenden sich die Markstrahlen des Holzes, dafs
die mit Rindenparenchym ausgefüllten Rillen begrenzt, seitwärts nach diesem
Gewebe hin: wodurch es kommt, dafs die Markstrahlen in den sehr vergrö-
fserten Auswüchsen des Holzeylinders, von deren Verbindungsstellen mit dem
mittleren, ungetrennten Theile aus, fächelförmig vertheilt sind.
In der Gegend dieser Verbindungsstellen beginnt nun die Neubildung
von Zellen innerhalb des Holzgewebes, (man vergl. Fig. 8. und 9. und die
dazu gegebene Beschreibung), deren Ergebnifs, wie schon erwähnt, nicht
nur die Trennung der seitlichen Auswüchse des Holzeylinders von dem älte-
sten, mittleren Theile, sondern eine unregelmäfsige Zertheilung des sämmt-
lichen Holzgewebes ist, in deren Folge eine noch öfter wiederholte Trennung
in mehrere Bündel eintritt.
Ähnliche Erscheinungen finden sich noch bei den Sapindaceen, Aris-
tolochien, Asclapiadeen, Acanthaceen (hier im ausgezeichneten Grade bei
der Engelia m.) und gewifs noch bei mehreren anderen Familien.
Wenden wir uns nun zu den Öycadeen, einer Familie die von den Grün-
dern der botanischen Systeme zu den Farnen, von späteren Forschern zu den
Monoecotylen und Dicotylen gestellt wurde, zum Theil weil ihnen der Bau des
die V egetationsorgane der Palmen. 213
Saamens und des Stammes nicht bekannt war, so finden wir bei der Unter-
suchung des ersteren eine vollkommen dicotyle Bildung. Aus der einfachen,
ungetheilten Anlage des Keimlinges der Zamia muricata Willd., die ich in
ihrer Entwickelung zu betrachten Gelegenheit hatte, wachsen zwei völlig ge-
trennte Saamenlappen hervor, die während der Saamenreife sich bedeutend
vergröfsern, und an der Berührungsfläche ihrer oberen Enden mit einander
verwachsen. Das Keimen dieser Saamen weicht nicht von dem einer dicotylen
Pflanze ab, was schon Petit Thouars erwähnt, das mit einer Mütze be-
deckte Würzelchen verlängert sich abwärts und verdickt sich rübenförmig,
während die Keimknospe aus der nicht verwachsenen Spalte der Saamenlap-
pen hervorwächst. An der Trennungsstelie des Würzelchens und des ober-
irdischen Stammtheiles bildet sich ein höchst zierlicher, wagerechter Kreis
von einer Anzahl Spiralfaserringe, von welchem die Fasern der Blätter und
der Wurzel ihren Anfang nehmen, in dieser sowohl wie in dem Stamme das
Gewebe in einem Mark -und Rinden- Theil trennend. Das erste, den Saa-
menlappen folgende Blatt erhält zwei Fiederblättchen, jedem später folgen-
den, mit einer immer gröfser werdenden Anzahl von Fiederblättchen verse-
henen Blatte gehen zwei unvollständige, schuppenartige Blätter voraus,
die, ohne den verlängerten Blattstiel und die Fiederblättchen zu besitzen, in
der Anordnung der Holzbündel keine Verschiedenheit von den vollständigen
Blättern zeigen; nur die Verholzung dieser Gewebeist in den schuppenförmigen
Blättern geringer. Alle diese blattartigen Organe sind in einer Spirallinie um
den Stamm geordnet, was wohl nicht der von Link früher (diese Verhand-
lungen 1843) ausgesprochenen Ansicht günstig ist, dafs die Schuppen die
Deckblätter der gefiederten Blätter seien, welche daher die Bedeutung von
Ästen besäfsen. Die Knospen, die sich an jungen Pflanzen zuweilen zu Blatt-
knospen, an erwachsenen regelmäfsig(?) zu Blüthenknospen ausbilden, entste-
hen von dem cambialen Holzeylinder auf gleiche Weise wie ich es Taf. VII b.
von Podocarpus salicifolia gezeichnet habe.
Der Verlauf der Holzbündel zu den Blattorganen ist vollkommen der
dicotylen Stammbildung entsprechend. Fast in dem ganzen Umkreise des
Cambiumeylinders entstehen Spiralfasern, als Grundlagen der für ein Blatt
bestimmten Holzbündel, alle wenden sich, ohne die geringste Krümmung
durch das Mark zu machen, sogleich nach Aufsen in die Rinde, wo die von
dem Blattstiele entfernteren einen wagerechten Bogen beschreiben. Durch
214 H. Karsten:
die ununterbrochen fortdauernde Bildungsthätigkeit der Zellen des Cambium-
eylinders und die Umformung der gebildeten zu Fasern, wird hier eine ähn-
lich gebaute Holzschicht hervorgebracht wie die Coniferen sie besitzen; nur
in der Art der Verdickung finden sich Verschiedenheiten, die sich indessen
nach Mohl’s Ansicht, der genaue, vergleichende Untersuchungen darüber
anstellte, auf eine Grundform zurückführen lassen. Gleichzeitig mit der
Holzbildung findet bei der Zamia muricata an der äusseren Seite des Cam-
biumeylinders eine Vermehrung des Rindengewebes statt, in welchem sich
bei dieser Pflanze einzeln stehende Bastfasern, die hin und wieder wage-
rechte Scheidewände besitzen, und, ebenso wie in dem geringen Markgewebe,
weite Gummigefäfse bilden: letztere sind verzweigt und sowohl die des Mar-
kes, wie die der Rinde verlängern sich in die Blätter.
Ganz ähnliche Verhältnisse finden sich in dem Stamme von Dion edule
Lindl. und Cycas revoluta Thunb. von denen ich einzelne, jüngere, le-
bende Pflanzen untersuchte, nur besitzen sie ein umfangreicheres Mark und
die Bastbildung an der Rindenseite des Cambiums ist bei ihnen stärker, so
dafs eine zusammenhängende Schicht dadurch hervorgebracht wird. Eigene
Holzbündel, die Mohl in alten Stämmen von Zamia und Cycas fand, die mit
dem inneren Cylinder in keiner Verbindung stehen und nach seiner Ansicht
die Bildung des schon von anderen Beobachtern angegebenen zweiten, äufse-
ren Holzeylinders veranlassen, sah ich in den von mir untersuchten Pflanzen
so wenig wie den, vielleicht daraus hervorgehenden, Holzeylinder. In einem
trockenen Stamme eines alten Encephalartus caffer Lehm. fand ich über-
dies die von Link, Mohl und früheren Beobachtern angegebenen Holzbün-
del des Markes, die vielleicht zum Theil Veranlassung gaben, dafs Richard
und Decandolle diese Familie zu den Monocotylen stellten. Auf einem
Querschnitte des Encephalartus macht allerdings die Vertheilung dieser ein-
zeln im Marke befindlichen Holzbündel den Eindruck des monocotylen Baues,
eine nähere Untersuchung ergiebt jedoch, dafs diese Bündel nicht von dem
Holzeylinder (der Markscheide) ihren Anfang nehmen, dafs sie nicht den
Bau der ursprünglich aus dem Cambium gebildeten, in die Blätter gehenden
Bündel zeigen, da sie keine Spiralfasern besitzen, dafs sie ferner nur in die
älteren Blattreste nicht in die jüngeren Blätter und Stammtheile sich verlän-
gern: es erlauben daher diese Bündel durchaus keine Annährung der Oyca-
deen zu den Monocotylen mit deren Holzbündel sie nichts gemeinsam ha-
die V egetaiionsorgane der Palmen. 215
ben; nur eine mangelhafte Kenntnifs der Entwickelungsgeschichte konnte es
möglich machen, dafs man diese Bündel, so wie die von dem cambialen
Holzeylinder in die Blätter gehenden und die später entstehenden Schichten
des Holzeylinders, alle mit der unbestimmten Benennung „Gefäfsbündel”
bezeichnete. Mir drängt sich nach der Betrachtung meines todten, in den
jüngeren Theilen des Markes leider nicht mehr der Untersuchung zugängigen
Encephalartus die Vermuthung auf, dafs diese Holzbündel des Markes eine
Umbildungsstufe der alten Gummigefäfse sei, in Folge einer auch bei ande-
ren dicotylen Familien häufig eintretenden Zellenbildung in diesen Gefäfsen
entstanden: hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Ernährung des Organismus,
würden sie dann wohl mit dem im Marke der Asclepiadeen und Apocyneen
vorkommenden Bastfasern zu vergleichen sein.
Der rein dieotyle Bau des Cycadeenstammes, hat hiernach nicht die
geringste Ähnlichkeit mit dem des Palmenstammes oder der übrigen Mono-
cotylen, und noch weniger mit dem des Farnstammes, dem er wegen der
Form seiner Holzzellen und wegen der Knospenlage seiner Blätter vergli-
chen wurde; die Ähnlichkeit in der letzteren ist überhaupt so geringe, dafs
sie kaum diesen Vergleich rechtfertigt. —
gen des ver-
5
kannten Saamenbaues lange zu den Monocotylen gerechnet, denen sie auch
Ebenso wie die Cycadeen wurden auch die Piperaceen we
noch jetzt hinsichts ihres Stammbaues zugezählt werden und von Unger,
der sie am genauesten untersuchte (Bau des Dicotyl. 1840. p. 84.), als aus
einem centralen Theile mit einer vegetatio terminalis und einem peripheri-
schen mit einer vegetatio peripherico-terminalis zusammengesetzt, beschrieben
sind. Dafs diese beiden Wachsthumsweisen in der Art wie Unger es dar-
stellt (a. a. OÖ. und Endlicher und Unger Grundzüge ete. 1845) überhaupt
nicht vorkommen, habe ich schon in dem Vorhergehenden gezeigt und werde
es durch die Entwickelungsgeschichte des Piperaceenstammes noch einmal zu
beweisen haben.
Die neugebildeten Stengelglieder der holzigen Piperaceen bestehen,
wie die ganzen, nicht verholzenden Stämme der Peperomien aus mehreren
Kreisen von Holzbündeln (Taf. VI.2.), zu denen, in den später verholzenden
Stämmen, noch ein Kreis von Prosenchymbündeln kommt (2.b.) die aus Zel-
len bestehen, welche, so lange sie nicht verholzen, durch eine grofse Menge
von Zwischenzellstoff von einander getrennt sind, der später beim Wachsen
216 H. Karsten:
derselben verschwindet (3.u.4.). Diese Bündel stehen der Oberhaut zunächst,
in ihrer Nähe beginnt die Bildung von Lenticellen die der Atmosphäre einen
freien Zutritt zu dem Rindengewebe des Stammes vermitteln.
Die übrigen Holzbündel, von denen die äufsersten in dem holzigen
Stamme zu einem fast zusammenhängenden Cylinder vereinigt sind, der das
Gewebe des Markes von der Rinde trennt (Fig. 2. a.) bestehen aus Spiralfa-
sern die durch Holzecambium von einander getrennt sind und aus Bastgewebe
das an der Grenze des Parenchymes, besonders an der nach der Oberfläche
und nach der Mittellinie gewendeten Seite, eine dickere Schicht bildet. Fig.5.
habe ich den Querschnitt einiger dieser Bündel von der Artanthe flagellaris
Migq. gezeichnet. Das Bast- und Holz-Gewebe besitzt hier schon verdickte
Wandungen; im Umkreise des letzteren besonders an der nach der Ober-
fläche gewendeten Seite des Bündels befindet sich zwischen Beiden eine Cam-
biumschicht die auch zwischen den verschiedenen Bündeln vorhanden ist;
durch ihre Bildungsthätigkeit wird die Verdickung des Holzeylinders bewirkt.
Fig. 6. stellte ich die jüngste Holzschicht eines älteren Stammes (Fig. 1.) dar,
aus dem Cambium b. bildet sich neues Holzgewebe das weite Netzfasern ein-
schliefst, während das zwischen den Bündeln befindliche Cambium zur Ent-
stehung des Markstrahlenparenchymes Veranlassung giebt. — Man legt der Na-
tur eine zu grofse Beschränkung auf, wenn man nur den Holzbündeln die Fä-
higkeit zugesteht, durch die Thätigkeit ihres Cambiums ihr Gewebe zu ver-
mehren: auch der zwischen den Holzbündeln befindliche Rest des Cambium-
C ylinders verharrt in der Zellenbildung, in deren Folge hier die grofsen Mark-
strahlen entstehen, in anderen Fällen gleichfalls zum Theil oder auch, wie
wir es z.B. bei der Banisteria sahen, vorzüglich der Holzcylinder ver-
mehrt wird.
Das Gewebe des Stammes ist nicht in seiner ganzen Länge gleichförmig
gebildet, es finden sich vielmehr an den Abgangsstellen der Blätter ähnliche
Krümmungen und Verzweigungen der Holzbündel, wie wir sie in den Kno-
ten der Monocotylen kennen lernten. Der äufsere Kreis von Holzbündeln
mit den in der Rinde befindlichen Bastschichten (2. b.) setzen sich fast voll-
ständig in das nächst höhere Blatt hinein fort, nur das Bastgewebe, welches
die nach der Oberfläche gewendete Seite des Holzbündels bedeckt, verläuft
ununterbrochen aufwärts, in dem nächst höheren Stengelgliede die Stelle der
Rindenbastbündel einnehmend, und in der oben beschriebenen Weise thätig.
die V egetationsorgane der Palmen. 97
Die Zergliederung der jüngsten Knospe läfst uns erkennen, dafs sich
dies Bastgewebe zuerst von der Oberfläche des Cambiumeylinders sondert,
nachdem in der Mittellinie schon Markparenchym sich gebildet und die ers-
ten Spiralfasern in dem jetzt mehr bündelweise getheilten Cylindermantel
auftraten, und zwar entstehen diese Fasern zuerst in dem Theile des Cam-
biums der die Stelle des, in das nächst untere Blatt eingetretenen Bündels
zwischen Rinde und Mark einnimmt, dann erst zeigen sich die in den inne-
ren Theilen des Cambiums entstehenden Spiralen, das durch gleichzeitige
Parenchymbildung in einem gewissen Abstande von diesen Spiralen, in die
Bündel des Markes von dem äufseren, mehr zusammenhängenden Cylinder
gesondert wird. Es findet daher hier ein umgekehrtes Verhältnifs von dem
in den Palmen und übrigen Monocotylen Beobachteten, in der Entwicke-
lungsfolge der Holzbündel statt, denn dort erhielten in der Gipfelknospe
zuerst, die der Mittellinie des Stammes näheren Bündel Spiralfasern,
deren untere Enden in den äufseren Theilen des Stammes befindlich
waren: hier, bei der Artanthe und den übrigen Piperaceen, sind es die äus-
sersten Bündel des Stammumkreises, in denen zuerst die Spiralfasern
auftreten und deren unteres Ende, wie man sich durch Längenschnitte
überzeugt, eben jene indem Marke des nächst unteren Stammgliedes befind-
lichen Bündel sind. — Durchschneidet man nämlich eine eben sich entwik-
kelnde Gipfelknospe in der zwei Holzbündelkreise sich befinden, so erkennt
man alle diese Verhältnisse an einem oder wenigen Abschnitten. Die mittle-
ren Holzbündel wenden sich an der Trennungsstelle eines Blattes nach Aus-
sen, nehmen die Stelle der zwischen Mark und Rinde befindlichen, jetzt in
das Blatt eintretenden Bündel ein, während gleichzeitig neben ihnen andere
Spiralfasern erscheinen, die in senkrechter Richtung sich verlängernd, den
inneren Kreis in das nächst höhere Stengelglied fortsetzen. So durchläuft
hier jedes Holzbündel zwei Stengelglieder, während in den Stammtheilen,
wo 3 oder 4 Kreise von Bündeln sich befinden, dieselben auch eine entspre-
chende Anzahl von Stengelgliedern durchziehen werden. Es ist ein ganz ähn-
liches Verhältnifs wie wir es bei den Farnen p.194. und Lycopodien p.192.
kennen lernten, und erinnert an den oberen Abschnitt des Holzbündels der
Tradescantia p.178. und der ähnlich gebauten Monocotylen, nur dafs bei
letzteren der untere Abschnitt des Holzbündels wieder einen Bogen nach
Aufsen macht, hier derselbe den inneren Kreis bildet. — Einigermafsen
Phys. Kl. 1847. Ee
2318 H. Karsten:
erinnert noch dieser Verlauf der Holzbündel der Piperaceen an den Bau des
palmenartig scheinenden Stammes der Papayaceen, insofern auch bei diesen
die unteren Abschnitte der in der Nähe der Mittellinie desselben beginnenden
Holzbündel, nicht in einen sondern in mehrere concentrische Kreise geord-
net (richtiger: nicht einen Cylinder, sondern mehrere ineinandergeschobene,
umgekehrte Kegel bilden) und in parenchymatischem Zellengewebe vertheilt
sind, freilich giebt sich dies Gewebe nicht nur durch Zeit und Ort seiner
Entstehung,
gehörend zu erkennen: sondern auch die ihm später eigene Form spricht für
was auch bei den Piperaceen der Fall ist, als zum Holzeylinder
die, von dem gleichfalls vorhandenen Markparenchyme verschiedene Natur,
es fehlt nur die Verholzung der Häute um demselben die gewöhnliche Eigen-
schaft des Holzes zu geben. Auch bei diesen Papayaceen dauert nur in der
äufsersten Schicht des Cambiumeylinders die Zellenbildung fort, in deren
Folge, höchst eigenthümlich, nur die Bastschicht der Rinde vermehrt wird,
welche in alten Stämmen als ein fester verholzter Cylindermantel das paren-
chymartige Holzgewebe umgiebt, während bei den Piperaceen aus dem pe-
ripherischen Cambium eine regelmäfsige Holzbildung an der inneren Seite
desselben erfolgt. Zwar bleibt bei ihnen auch das den inneren Holzbündel-
kreisen zunächst befindliche Cambium noch einige Zeit in Thätigkeit, doch
habe ich nicht gesehen, dafs bei einer Piperacee dadurch eine so vollstän-
dige Vereinigung der verschiedenen Holzbündelkreise zu einem Holzeylinder
hervorgebracht würde, wie es bei einigen Nyctagineen, die sich hinsichts
der Vertheilung der Holzbündel wie auch die Amaranthaceen und Chenopo-
deen den Piperaceen ganz gleich verhalten, z.B. in den verholzenden Stäm-
men der Boerhavia, Pisonia geschieht. Diese Holzeylinder sind dann in
mehrere, der Anzahl der Bündelkreise entsprechende Schichten durch ge-
ringes Cambium gesondert, eine Erscheinung, die einigen Zuständen der
Schlingpflanzen, die wir oben betrachteten ähnlich, jedoch wie die Entwik-
kelungsgeschichte zeigt, von gänzlich verschiedener Bedeutung ist.
Der innerste Holzbündelkreis des Stammes der Piperaceen, Nyecta-
gineen, Amaranthaceen ete. der in den ersten Stengelgliedern der jüngsten
Pflanze in dem einzigen Cambiumcylinder liegt, und der sich in die Wur-
zel(!) verlängert, wo er in Folge der Thätigkeit dieses Cambiums dem Holz-
') Die einzeln im Rindengewebe des Stammes der verholzenden Piperaceen befind-
5 P
die V egetationsorgane der Palmen. 919
eylinder unmittelbar angrenzt, der denselben Bau zeigt, wie die in dem ober-
irdischen Stamme die oberen Abschnitte der Holzbündel vereinigende Holz-
schicht: — ist also der Markscheide (corona Hill) gleichzustellen, die |wir
oben als die regelmäfsige Grundlage des Holzeylinders auch bei den Mono-
cotylen und Farnen wiederfanden und daher kurz alsH olzeylinder bezeich-
neten. Bei mehreren Farnen (p. 194) lernten wir eine Anordnung der Holz-
bündel in dem Stamme kennen, die nur wegen der Beständigkeit der einmal
ausgebildeten Gewebe, wegen der Eigenthümlichkeit in der Knospenbildung,
einfacher blieb und leichter zu übersehen war, sonst die gröfste Ähnlichkeit
mit der ursprünglichen Anordnung der cambialen Holzeylinder des Pipera-
ceenstammes etc. zeigte: in diesen dicotylen Stämmen hat man die unteren
Abschnitte der verschiedenen, mehrere Stengelglieder durchziehenden, in den
Blättern endigenden Cylinder von Holzbündeln von dem die oberen Ab-
schnitte aller dieser Holzbündel vereinigenden Cylinder der Holzschicht
anatomisch und physiologisch zu unterscheiden, die sowohl die Wurzel wie
die ganze Länge des oberirdischen Stammes ununterbrochen in Mark und
Rinde trennt.
Die Verwechselung anatomischer und physiologischer Erscheinungen
in den Lebensverhältnissen der Pflanze, der Mangel einer genaueren Kennt-
nifs der Entwickelung und Anordnung der verschiedenen Gewebe und deren
daraus zu erschliefsende Bedeutung für den Organismus, der Fehlgriff alle
verholzten Zellen- und Faser-Gruppen, unter der gemeinschaftlichen Benen-
nung „Gefäfsbündel”, für gleichwerthig zu halten: sind die Ursache, dafs
man seit Desfontaines’s Arbeiten in so grofse Irrthümerbei der anatomischen
lichen Bastbündel, bilden in der Wurzel einen zusammenhängenden Cylindermantel als
Aulsenrinde derselben. An der Wurzelspitze wird die Schicht eylinder- oder spindel -
förmiger Zellen von einem Gewebe polyedrischer Zellen der Wurzelmütze überzogen ;
die Zellen der Rindenoberhaut wachsen zu Haaren aus, nachdem die Wurzelmütze sich
von ihnen gelöst hat. Das Mark besteht in der jungen Spitze aus Cambium, später aus
polyedrischen Zellen mit Stärke gefüllt und punktirt verdickt. Das Vorkommen des Mark-
gewebes, das Link überall leugnet, Schleiden überall behauptet, ist häufig bei den
Dicotylen wie bei den übrigen Abtheilungen nur durch ein geringes Cambiumgewebe an-
gedeutet, in anderen Fällen als unzweifelhaftes Parenchym vorhanden: oft fand ich an
derselben Pflanze in verschiedenen Wurzeln beide Formen, deren Erscheinen wohl nur
von der Gesammtthätigkeit aller Gewebe der Wurzel abhängig ist, wie ich dies schon
für die Palmen durch die Beschreibung der Iriartea gezeigt habe. —
Ee?2
320 H. Karsten:
Fr
Betrachtung und Eintheilung der Pflanzenwelt verfiel, die natürlich über die
Thätigkeit der Organe derselben nur Mifsverständnisse verbreiten konnte,
besonders da man seit Dutrochei ein dem Gestaltungsprocefse unmittelbar
entgegengesetztes Verhalten der Materie, die Diffusion, zu ihrer Erklärung
benutzte.
Dafs Unger nicht nur eine vegetatio peripherico — terminalis in dem
Stamme der Piperaceen findet, indem er diese Irrthümer nicht vermied, son-
dern aufserdem noch, höchst wunderbar, eine vegelatio terminalis einzelnen
Theilen desselben zuschreibt (a.a.O.p.84.) ist um so merkwürdiger, da er
noch kurz vorher p.82, indem er den Piperaceen wie allen übrigen Gewächsen
ein unbegrenztes Wachsthum abspricht, es für eine Täuschung ausgiebt, „dafs
„hier in Folge des Wachsthumes eine fortwährende Ausbildung neuer Inter-
„nodien stattfinde; indem das was häufig als unmittelbare Fortsetzung des
„Stammes erscheint, nichts als ein Ast ist.” — Da diese Ansicht Ungers
schon von mehreren Schriftstellern angenommen wurde ist es wohl nothwen-
dig, derselben hier meine Beobachtungen entgegenzustellen. Das Wachsthum
des Piperaceenstammes geht von einem Blatte zum andern in länger unter-
brochenen Zeitabschnitten vor sich, indem der Entfaltung eines Blattes die
langsame Entwickelung des nächst höheren Stengelgliedes und Blattes folgt,
während sich neben der im Wachsthume sehr gehemmten Gipfelknospe gleich-
zeitig mehrere Seitenknospen bilden, deren Entwickelung derjenigen der
Gipfelknospe anfangs bedeutend vorauseilt, die daher während des Entwi-
ckelungszustandes des Blattes von jenen überragt, und leicht übersehen wird.
In dem gipfelständigen Blattgrunde des blüthentragenden Stammes der Ar-
ganz
5
unentwickelten Gipfelknospe zwei Seitenknospen in die sich der äufsere Cam-
tanthe z. B. finden sich aufser der aus einer Blattanlage bestehenden,
biumeylinder des Stammes und das Markgewebe desselben (ähnlich den Knos-
pen des Podocarpus T. VII. Fig. 6.) zugleich mit cambialen Holzbündeln
hineinverlängern, deren eine, in der Blattachsel befindliche, zur Blattknospe
und deren andere ihr gegenüberstehende zur Blüthenknospe sich ausbildet;
doch wird jene regelmäfsig in der Entwickelung gehemmt, wenn diese in der-
selben nicht unterdrückt ist. — Aus dem untersten Blattwinkel der achsel-
ständigen Blattknospe tritt fast gleichzeitig mit dieser eine 4" Knospe, eine
Seitenknospe zweiten Grades auf, die gleichfalls regelmäfsig nicht zur Ent-
wickelung kommt so lange die Gipfelknospe des Stammes fortwächst.
die V egetationsorgane der Palmen. 221
Es gehören also die Piperaceen in die Reihe der Gewächse, deren
Vegetationsorgane in ununterbrochener Folge sich entwickeln, wie wir es bei
den Palmen und Farnen sahen. Ein Blatt nach dem andern bildet sich aus
der durch innere Zellenbildung fortwachsenden Gipfelknospe des Stammes
hervor, und stehtmit diesem in dem innigsten Verbande, in der unmittelbarsten
Wechselwirkung, durch Elementarorgane die in einer bestimmten, der Blatt-
anlage entsprechenden Aufeinanderfolge in dem Cambiumeylinder des Stam-
mes, dem Marke zunächst, entstehen und in der Blattspitze enden. Alle
Gewebe des sich entwickelnden Stammes scheinen in Bezug auf die Blattbil-
dung thätig zu sein alle mit denen des Blattes in Verbindung zu stehen, mit
Ausschlufs des innersten Markcylinders der allein zur Verlängerung der Gip-
felknospe, einer Vereinigung von unentwickelten Blattanlagen, in der er endet
zu dienen scheint, welshalb Casp. Fried. Wollf in seiner berühmten theoria
generationis $. 73. sagen konnte „Truncus est continuatio petiolorum omnium
junetorum. Oritur elongatione simplici axeos medullaris” etc. Wenn wir
nun auch in Folge einer genaueren Kenntnifs der Entwickelungsgeschichte
des Stammes und der Äste aus dem Keimlinge und der Knospe und in
Rücksicht auf die selbstständige Fortbildung des später verholzenden Stam-
mes nicht geneigt sein werden, unbedingt die beiden zu sehr vernachlässigten
Aussprüche dieses grofsen Mannes zu wiederholen: so lehren uns doch die
Entwickelungserscheinungen des Blattes und Stammes wie befriedigend die
Vorstellung dieses einfachen Bildes ist, und lassen uns ahnen, wie folgen-
reich für die Erkennung der Ernährungsvorgänge des pflanzlichen Organismus
eswerdenkann. Wir können diese, der Anlagenach unbegrenztfortwachsenden
Stämme als die vollkommneren Bildungen einer Formenreihe des Pflanzen-
reiches betrachten, deren einfachere Entwickelungsstufen wir in den Gruppen
der wurzellosen Pflanzen (plantae cellulares) ausgeführt sehen und dieser
Entwickelungsreihe eine andere zur Seite stellen, die, erst in den später un-
seren Planeten belebenden Schöpfungen auftretend, an jedem Einzelwesen
eine Stufenfolge von Blattentwickelungen zeigt die C. F. Wollf in seinem
unsterblichen Werke (a.a.O. $. 104. 106. 114. ete.) schon als die Wirkung
veränderter Ernährungsverhältnisse ansieht, welche das Leben jedes Stammes
gesetzmäfsig abschliefst, indem Organe auftreten, die nicht zu seiner Ernäh-
rung beitragen, sondern die Erzeugung neuer Keime zur Erhaltung der Art
bewirken. Den einfachsten Ausdruck einer solchen Blumenpflanze deren
2223 H. Karsten:
Vorbild Göthes dichterische Darstellung mehr allgemein anschaulich machte,
wie es Wollfs gelehrte Untersuchungen vermochten, finden wir in der Ab-
theilung der Gewächse die eine Pfahlwurzel nicht nur regelmäfsig entwickeln,
sondern auch meistens während des ganzen Lebens erhalten, diese geben uns
in ihren vollkommneren Organisationen das reinste Bild eines durch seine in-
nere Entwickelungin sich abgeschlossenen pflanzlichen Organismus.
Sicher ist dies Verhälinifs der Wurzel zum oberirdischen Stamme von
dem gröfsten Einflusse auf die Entwickelung des letzteren. In der Abthei-
lung der Monocotylen, wo die an dem sich entwickelnden Keimlinge vorhan-
dene Pfahlwurzel gesetzmäfsig von sehr kurzer Dauer ist, und durch Wurzeln
ersetzt wird, die aus den jüngeren Stammtheilen sich hervorbilden, ist eine
Entwickelungsweise des Stammes Regel die bei den eine Pfahlwurzel ent-
behrenden Pflanzen Gesetz wird, und an die Wachsthumsweise der gänzlich
wurzellosen Gewächse erinnert. Unter günstigen, äufseren Verhältnissen füh-
ren uns die Organismen dieser Abtheilung durch die ununterbrochen wieder-
holte Entwickelung von Vegetationsorganen ein lebendiges Bild der Unsterb-
lichkeit des Einzelwesens vor.
Beide Reihen, mit Ausschlufs der einfachsten Formen jener wurzellosen
Gewächse, kommen darin überein, dafs in einem bestimmten Abstande von
der Mittellinie der Stammachse, (wohl nie in dieser Linie selbst) gleichzeitig
entstehenden Erhebungen der Oberfläche der Stammspitzen entsprechend,
Fasern durch Vereinigung einfacher Zellenreihen gebildet werden die sich
in diese Oberflächenausbreitungen des Stammes, die Blätter, hinein fortsetzen
und inihnen enden und zwar wie aus den mitgetheilten Untersuchungen her-
vorgeht, indem sie bei den Monocotylen sich anfangs der Mittellinie nähern,
bei den übrigen Faserpflanzen nur nach Oben und Aussen eine Krümmung
beschreiben.
Aufser dieser verschiedenen Anordnung des Faser- und Zell- Gewebes
findet eine Verschiedenheit hinsichts des Ortes der Entstehung der in eine
Blattanlage sich hinein verlängernden Faserbündel zwischen Dicotylen und
Monoecotylen so wenig statt, wie sie nach unseren früheren Untersuchungen
p-206, bei den Farnen eine von diesen beiden Gruppen abweichende, eigen-
thümliche ist.
Die Annahme einer vegetatio peripherico-terminalis im Sinne Ungers
und seiner Nachfolger ist eine Folge der Unbekanntschaft mit dem Entwi-
die V egetationsorgane der Palmen. 994
ckelungsgange der verschiedenartigen Gewebe des Pflanzenkörpers und zu-
nächst begründet in der Verwechselung der verholzten Faserbündel und Zel-
lenschichten die zu dem Holzeylinder in der Regel vereinigt sind.
Nicht in Bezug auf den Ort des ersten Auftretens der Faserbündel findet
ein Unterschied in den von Mohl und Unger aufgestellten Vegetationsgrup-
pen des Pflanzenreiches statt, sondern in der späteren Ausbildung der Gewebe,
die mit der abweichenden Bildung und Thätigkeit der Gewebe des Blattes
und der Wurzel so wie mit der Wechselwirkung dieser Organe wie der des
Rinden- und Mark -Gewebes zusammenhängt.
Nur eine gewissenhafte, gründliche Erforschung der Entwickelungs-
erscheinungen eines jeden Gewebes des pflanzlichen Organismus, gegründet
auf die genaueste Kenntnifs der Lebensthätigkeit ihres Grundbestandtheiles,
der Zelle, wird das richtige Verhältnifs der Ernährungs-und Wachsthums -
Weise der Gewächse aus den verschiedenen Entwickelungsstufen des Pflan-
zenreiches und die Bedeutung ihrer Organe kennen lehren: sie nur wird
uns auf die einfachen Gesetze führen, die der Schöpfer dem sich gestaltenden
Stoffe unterlegte, durch ihre Vermittelung wird sich uns die jetzt unüberseh-
bare Mannigfaltigkeit der organischen Formen als eine einfache Folge des
Zusammenwirkens weniger Grundbedingungen zu erkennen geben und uns
diese zahllosen Gestalten als die nothwendigen, eng verbundenen, einem
Entwickelungsgesetze entsprechenden Glieder eines harmonischen Ganzen
übersehen lassen.
Fig. 1.
ad’
d’”
,
Fig. 3.
H. Karsten:
Erklärung der Kupfertafeln.
Tat.T.
Fig.1 bis 5. die Zriartea praemorsa Klotzsch.
Eine ausgewachsene, halbreife Frucht in doppelter Gröfse der Länge nach durch-
schnitten. A. Anheftungspunkt derselben an dem Blumenstiel, 2. Abschnitt des Kel-
ches, €. der Blumenkrone, D. die Griffel, E. der Saamennabel, a. die Frucht-
schaale, 4. Saamenschaale, c. Gewebe des Kernes, d. das in dem Keimsacke gebil-
dete Eiweils in der Vermehrung des Gewebes begriffen, e. der Rest der Höhle des
Keimsackes, f. die Anlage des Keimlinges dessen oberes, verdicktes Ende schon in-
nerhalb des Eiweilses befindlich, während das untere auf diesem Längenschnitte
bis in die Fruchtschaale zu verfolgen ist.
Das Gewebe des Eiweilses d. 250 mal vergröfsert; die jüngeren Zellen sind in
den älteren immer zu zweien vorhanden. —
Ein Theil des Gewebes des Keimlinges 250 mal vergröfsert.
. Eine fast reife Frucht in natürlicher Grölse. Das Eiweilsgewebe d4. füllt den Keim-
sack gänzlich aus, die Wandungen der Eiweilszellen sind punktirt verdickt mit Aus-
nahme derjenigen die den Keimling zunächst umgeben d’; hier besitzen sie feine,
durchsichtige Häute und enthalten in einer klaren Flüssigkeit einen scharfgeran-
deten; dunklen Zellkern.
Das Eiweilsgewebe @’ 250 mal vergrölsert.
Ein Theil des Eiweilses aus der Grenze von d und d’ nach der Färbung mit Jod
in 250 facher Vergröfserung gezeichnet. Unmittelbar an die stark punktirt verdick-
ten Zellen des hornigen Eiweilses, grenzt ein zartwandiges Gewebe das innerhalb
sehr feiner Tochterzellen, sehr zarte, durchsichtige Bläschen enthält, die zum Theil
erst nach der Berührung des Jodes deutlich hervortreten.
Ein Längenschnitt des aus dem Eiweilse herausgenommenen Keimlinges der noch
nicht ausgewachsen, an der Spitze y des Saamenlappens in bedeutender Zellenver-
mehrung begriffen ist. Spiralfasern oder Andeutungen davon sind noch nicht vor-
handen. Die ersten Blattanlagen sind ungewöhnlich stark entwickelt.
Ein reifer trockner Saame der Länge nach durchschnitten. f. der Keimling.
Derselbe vergrölsert, man sieht die Anlage der Spiralfasern die in einem cambia-
len Holzgewebe befindlich, sich von z nach der Spitze y des Saamenlappens und
in die entgegengesetzte Spitze (das Würzelchen) verlängern. An der innern Seite
des Cambium-Cylinders an der Grenze des Würzelchens und Saamenlappens (z)
nehmen die Spiralen die sich in die Blattanlagen verlängern, ihren Anfang.
Derselbe Keimling genau in der Mittellinie durchschnitten, wodurch ein dünnwan-
diges, grofszelliges Gewebe v in gröfserer Ausdehnung sichtbar wird, dafs sich
vor der Wurzelspitze befindet.
Fig. 4.
Fig.
[Se So}
Fig.
Fig. 5.
=
Fig. 6.
die V egetationsorgane der Palmen. 2235
Ein keimender Saame, £. die Pfahlwurzel, aus der Scheide x, der Verlängerung
des Saamenlappenstieles, hervorbrechend, die das junge Pflänzchen umhüllt.
Derselbe durchschnitten, «. der Saamenlappen dessen Holzbündel mit denen der
jungen Pflanze in Verbindung stehen, und sich unmittelbar in das Würzelchen,
die Pfahlwurzel, £. verlängern. Man sieht wie die, in den Stamm und in die
Blätter der jungen Pflanze sich vertheilenden Holzbündel aus der Gegend z ihren
Anfang nehmen.
' Einige Eiweilszellen aus der Nähe des sich vergrölsernden Saamenlappens. Die
Tochterzelle ist von der verdickten, jetzt zum Theil resorbirten, Wandung der
Mutterzelle entfernt. Die in ihr befindliche dritte Zelle (der Zellkern) etwas ver-
grölsert und mit einer trüben Flüssigkeit angefüllt.
. Eine junge noch mit dem Saamen zusammenhängende Pflanze, der Länge nach
durchschnitten. Das Eiweils d. ist fast gänzlich durch den Saamenlappen x. ver-
drängt.
. Ein junges Pflänzchen der Klopstockia cerifera Karst. x der hier etwas verlängerte
Stiel des Saamenlappens.
Der Querschnitt von x in doppelter Grölse.
Tabslr;
. a und 2. Die jüngste Blattanlage der Chamaedorea gracilis Willd. die Spitze des
Stammes umgebend von verschiedenen Seiten gesehen. Die eine Seite dieser ring-
förmigen Blattanlage ist mehr wie die übrigen vergröfsert und lälst an der rinnig-
vertieften Oberfläche die Andeutungen der Blattfiedern erkennen.
. Eine ähnliche Blattanlage der Zriartea praemorsa Kl. a die Stammspitze.
. Die folgende, ältere Blattanlage, sowohl die Stammspitze wie das nächst jüngere
Blatt bedeckend, dessen Spitze (a) dort hervorsieht, wo man an dem jüngeren
Blatte die Stammspitze erkennen konnte, es ist die Öffnung der Blattscheide die
durch Verlängerung des ursprünglichen ringförmigen Wulstes entstand. An den
Rändern des kegelförmigen Blattstieles (6) bemerkt man die ersten Andeutungen der
Blattfiedern als kleine warzige Erhebungen.
. Das nächst ältere Blatt, dessen Ränder mit den warzigen Hervorragungen sich so
weit vergrölsert haben, dafs die obere Fläche des Blattstieles 8 durch sie ganz
überwachsen und bedeckt ist; in doppelter Gröfse. Die Öffnung der Blattscheide
erscheint als schmale Querspalte c.
Das nächst ältere Blatt in natürlicher Gröfse. Noch deutlicher wie in der vorigen
Figur treten hier die, von gröfseren, stärker verholzten Zellen gebildeten Gewebe
des später abfallenden, leicht zerbrechlichen Blattrandes und der Blattspitze hervor.
‚ ein Theil der Blattfiedern, mit den Blatträndern noch zusammenhängend, etwas
vergrölsert gezeichnet.
Querschnitt eines Theiles der Anlage einer Blattstielbasis der Älopstockia nahe der
Trennung von dem Stamme, in natürlicher Gröfse. In dem mittleren cambialen
Holzbündel (2) des das innere Parenchym des Blattstieles umgebenden Kreises,
Phys. Kl. 1847. Ff
[59]
[89]
=3)
Fig. 7.
Fig. 8.
Fig. 9.
H. Karsten:
welches, aus dem inneren Marke des Stammes kommend, den Blattstiel der Länge nach
bis in die abfallende Spitze durchzieht, erscheint zuerst eine Spiralfaser, dann
in den beiden benachbarten Bündeln desselben Kreises und in den, diesen folgenden.
Erst später treten auch in den übrigen, mehr nach aussen befindlichen Bündeln 2.
Spiralen auf, ;
Eine Blattstielspitze der Önocarpus usilis Kl. nachdem der Blattrand abgeworfen
von oben gesehen. Das Gewebe von 8 Holzbündeln ist zu einem einzigen ver-
einigt, das ringsum von Parenchym umgeben ist. Das Bastgewebe ist an der °
oberen Seite des Bündels zu einer Schicht (a) vereiniget; die Fasern und Gefälse
sind der eindringenden Luft geöffnet.
Querschnitt eines Holzeylinders aus dem unteren, in der Knospe eingeschlossenen
Theile’ des Blattstieles eines noch nicht entfalteten Blattes der Oenocarpus utilis; die
Spiralfaser (@) und die vor derselben stehenden Treppenfasern besitzen schon ver-
dicekte Wandungen. Die weiten Gummifasern (5) sind, Gefälsen ähnlich, von einer
Zellenschicht umgeben, die einen weniger klaren Saft enthalten wie die übrigen Bast-
und Holz-Zellen, die den grölsten Theil des Bündels ausmachen. Das Cambium
ist auf zwei Gruppen (c) beschränkt, die, kleine Bündel bildend, in dem äulseren,
nach der Oberfläche gerichteten 'Theile des Holzbündels sich befinden. Das Zell-
gewebe des Blattstieles enthält Stärke.
Ein ähnlicher Querschnitt aus dem oberen Theile desselben Blattstieles. Das Zell-
gewebe enthält hier keine Stärke mehr; das Holz-und Bast-Gewebe hat verdickte
Wandungen bekommen. Die beiden Cambium-Bündel (ce) enthalten jetzt einen
klaren, durchsichtigen Zellsaft. Die Häute der Zellenschicht, die die Gummifasern 2.
zunächst umgiebt, sind verholzt, und, nach der Ausdehnung der Fasern, zusammen-
liegend, wodurch jene von einer einfach verdickten Haut gebildet zu sein scheinen.
Aufser durch die Entwickelungsgeschichte erkennt man indessen an den netzför-
migen Verdickungsschichten der scheinbar einfachen Scheidewand die Entstehung der-
selben aus einem Zellgewebe.
Fig. 10. Querschnitt einer Blattfieder der Klopstockia aus der Knospe. Die äulserste Zel-
lenschicht der unteren Blattoberfläche bildet Haare, die sich bei der Entfaltung des
Blattes von der eigentlichen Oberhaut trennen und am längsten dort mit dersel-
ben zusammenhängt, wo. sie die Holzbündel bedeckt. Spaltöffnungen sind zu die-
ser Zeit noch nicht vorhanden. Zunächst unterhalb der Oberhaut befindet sich eine
Schicht cambialer Zellen, denen des Holzbündels ähnlich, das Zellgewebe enthält
wenig Stärke. Die Gummifasern zeigen sich als erweiterte Zellenreihen.
Fig. 11. Ein ähnlicher Querschnitt von einem älteren, schon entfalteten Blatte. Das Cam-
bium unterhalb der Oberhaut ist in Bastzellen verändert, ausgenommen an der
Stelle, wo die Haare länger mit der Oberhaut zusammenhingen, und wo nach dem
Abfallen derselben bei @ Spaltöffnungen sich bildeten. Das Zellgewebe enthält Chlo-
rophyll. Die Holzbündel sind vollkommen ausgebildet.
Fig. 1.
Fig. 2.
die V egetalionsorgane der Palmen. 2237
or Bat
Der Längenschnitt einer jüngeren Pflanze der Zriartea praemorsa Kl; bei «. bil-
den sich in dem Rindengewebe die Blattanlagen einer Knospe, deren Holzeylinder
von demjenigen des Stammes beginnt und in die hinein, Holzbündel sich verlän-
gern, die von der innern Seite des letzteren sich trennten und das Mark des
Stammes durchkreuzten. Bei 5 sieht man eine junge Wurzel noch in der Rinde
des Stammes, die keine Stärke enthält, befindlich. Das Gewebe der Wurzelmütze
ist in den äulseren Zellenschichten die zunächst an die Rinde des Stammes grenzen
mit einem gummiartigen Schleime angefüllt (durch Jod braun durch Eisensalze grün-
lich braun gefärbt, durch neutrales- und drittelessigsaures Bleioxyd gefällt). Die
inneren Zellenschichten der Wurzelmütze enthalten Stärke, die der Wandung der
Tochterzelle anklebt. Ebenso ist das Markgewebe des Stammes mit Stärke angefüllt
und nach dieser Seite hin liegt auch die Stärke in den Zellen der Wurzelmütze,
so wie auch die Richtung der parallelen Zellenreihen der Mittellinie, dieser letz-
teren nach eben dieser Seite hin gewendet, und die Bildung der Gewebe der
Wurzelfaser hieher etwas vermehrt ist. Es deuten alle Erscheinungen im Bau der
jungen Wurzel darauf hin, dals von der Seite des Markes her die Ernährung der
Gewebe stattfand, und vielleicht aus diesem Grunde wächst die Wurzel eine lange
Strecke im Rindengewebe abwärts, neben dem Holzkörper hin, erst dort hervor-
tretend, wo die Rinde sehr dünn wird.
Ein Querschnitt der ersten durch Verlängerung des Keimlinges entstandenen Wur-
zel, der Pfahlwurzel, der Zriartea praemorsa 180 mal vergrölsert. A. die äulserste,
das Rindengewebe begrenzende Schicht verholzter Zellen, m. die mittleren: beide
spindelförmig, mit verdickten Wandungen; c. der Rest des Cambiums von dersel-
ben Form wie das benachbarte Gewebe doch dünnwandig, es ist durch radiale
Reihen von Holzfasern, mit punktirten oder leiterartig-verdickten Wandungen,
in einzelne Bündel getheilt. In der Rinde befinden sich erweiterte, verticale Zel-
lenreihen g die hier noch nicht zu Fasern vereinigt ist. In den verholzten Faser-
zellen 6. waren zum Theil Raphiden; die Querscheidewände dieser Zellenreihen
der künftigen Bastfasern, waren nicht verdiekt, doch auch jetzt noch nicht resor-
birt.
Ein Querschnitt eimer sehr dicken Wurzel des Stammes derselben Pflanzenart, nicht
vergröfsert. Die Holzbündel f. bilden auf diesem Schnitte einen Stern mit zwei-
theiligen Strahlen. Im Marke befinden sich Gummifasern g. von Bastzellen um-
geben.
Längenschnitt der Spitze’einer anderen, ähnlichen Wurzel, die noch nicht die Erd-
oberlläche erreicht hatte. a. Das Cambium das sich nach Aussen in das Gewebe
der Wurzelmütze, nach Innen in die verschiedenen Gewebe (der Oberhaut o. der
Rinde, des Holzes c. und des Markes) verändert.
a. und Fig.4. 2. Die jüngsten Zustände einer Gummifaser des Markes.
c. Ein Theil des Längenschnittes Fig. 4. aus der Gegend x. 180 mal vergrölsert.
Ff2
19
80)
je.)
Fig. 4.
Fig. 4.
Fig.
Fig.
au
H. Kassrten:
y. die Zellen der Wurzelmütze zum Theil von ihrem Inhalte entleert und sich
abtrennend, o. die Zellen der Oberhaut, d. die mit Raphiden angefüllten senkrech-
ten Zellenreihen der Rinde, die sich später in Bastfasern umändern.
d. Die Oberhautzellen des älteren Theiles einer Wurzel, im Längenschnitte 180
mal vergröfsert. Die Wandungen derselben, besonders die äulsere, freie Ober-
fläche ist verdickt.
e. Dieselben Zellen von oben gesehen.
Wachsen die Wurzeln in einer Stickstoff (Ammoniakverbindungen) enthaltenden
Flüssigkeit so besitzen diese Oberhautzellen eine eylindrische Form in der Rich-
tung der Zellen y. Fig. 4. a.
Ein Theil des Querschnittes eines beim Keimen ausgewachsenen Saamenlappenstie-
les der Phoenix dactylifera. Die Holzbündel bilden in demselben einen nicht ge-
schlossenen Cylinder; in dem Parenchyme befinden sich viele grofse Luftlücken die
eine Luftart enthalten, die durch Ammoniaklösung nicht absorbirt wird, während
die Zellenhöhle später Kohlensäure enthält. —
Taf. IV.
Colocasia esculenta Schott.
. Ein Längenschnitt des knollenförmig verdiekten, unterirdischen Stammes. Der Holz-
cylinder @ trennt das Parenchym in einen bedeutenden Marktheil und einen geringe-
ren Rindentheil. In dem ersteren durchkreuzen sich mannigfach die von dem Holz-
cylinder getrennten, für die Blätter bestimmten Holzbündel.
. Ein Querschnitt desselben Theiles.. An einzelnen Stellen des Holzeylinders a zeigen
sich Erhebungen desselben nach der Oberfläche zu, die Andeutungen von Knospen
oder Wurzeln.
. Ein Theil dieses Querschnittes mit dem Holzcylinder a. 250 mal vergrölsert. Die
Zellen des Markes und der Rinde enthalten Stärke. Die mittlere Schicht des Holz-
cylinders besteht aus punktirt-verdickten Zellen, die von dem Mark und der Rinde
durch Cambium-Zellen getrennt sind; ein Bündel derselben, eine Spiralfaser um-
gebend, trennt sich von dem Cylinder in das Mark hinein.
Ein Längenschnitt des Holzeylinders in der Richtung der Secante. Man sieht wie
die Anfänge der Holzbündel netzartig in demselben vertheilt sind.
. Ein Längenschnitt der Spitze eines jungen noch in der Basis des älteren einge-
schlossenen Blattes. Die Fasern des Holzbündels der Mittelrippe, von Cambium umge-
ben, enden in dem Stärke enthaltenden Blattparenchym. Auch die Zellen der Epi-
dermis, die bis zur Spitze Spaltöffnungen besitzen, sind zu dieser Zeit mit Stärke
angefüllt.
Ein Längenschnitt der Anlage einer Wurzel (Querschnitt eines Stammes) an der
äulseren Seite des Holzeylinders durch Vermehrung der Cambiumzellen desselben
entstanden. Die Spitze 5 des Cambiumkegels @ ist in Parenchym verändert, zwi-
schen beiden befindet sich das, in der Zellenvermehrung begriffene Cambium c aus
Fig. 7.
Fig. 8.
le!
R
[80}
die V egetationsorgane der Palmen. 229
dem die verschiedenen Gewebe für den Holzeylinder «, die Wurzelmütze 2, die
Rinde der Wurzel, die eine Fortsetzung der Rinde des Stammes bildet, und deren
Epidermis d hervorgehen. Das Rindengewebe des Stammes wird vor der Wur-
zelmütze verflüssigt und von dieser aufgesogen.
Ein ähnlicher Längenschnitt einer etwas älteren Wurzelanlage. In dem Holzeylinder
treten schon Spiralfasern auf, die von dem Cambium des Holzcylinders des Stammes
ihren Anfang nehmen, sich‘ sowohl über diesen ausbreitend, wie besonders in die
junge Wurzel sich verlängernd.
Die äufsersten Zellschichten der Wurzelmütze einer noch innerhalb der Rinde des
Stammes befindlichen Wurzel. Das Gewebe der Wurzelmütze 5 enthält eine trübe,
durch Jod gelb gefärbt werdende Flüssigkeit in der sich Bläschen und Zellkerne
befinden. Das Rindengewebe des Stammes enthält etwas Stärke und Chlorophyll;
einzelne Zellen grofse Krystalldrusen. In der Nähe der Wurzelmütze verlieren sich
jene Absonderungsstoffe nur eine körnige trübe Flüssigkeit ist in den Zellen enthal-
ten, welche gleichfalls in der unmittelbaren Nähe der Zellen der Wurzelmütze
aufgesogen wird, während auch die Häute der Zellen selbst, theilweise zerstört,
zusammenfallen und allmählich aufgelöst werden. Nur die Krystalle widerstehen
länger dieser auflösenden Wirkung, man findet meistens eine grölsere Anzahl der-
selben aulserbalb der hervorwachsenden Wurzelmütze. —
Tat. V;
. Ein Längenschnitt des unterirdischen Stammes der Maranta bicolor Arrab. mit
einem Theile des Schaftes und der diesen umhüllenden Blätter. — Sehr deutlich sieht
man bei dieser Pflanze, dals der in dem Wurzelstocke befindliche Holzeylinder, von
dem die Holzbündel ihren Anfang nehmen, sich nicht in den Schaft hinein verlängert,
sondern an der Grenze desselben endet, nur die Holzbündel setzen sich in jenen
fort, in dem Marke desselben zerstreut stehend, ohne einen geschlossenen Cylinder
zu bilden. —
. Ein Querschnitt desselben Wurzelstockes. Alle Wurzelfasern nehmen von dem
Holzeylinder @ ihren Anfang.
3. Ein Theil dieses Querschnittes mit dem Holzeylinder « 250 mal vergröfsert. Die-
jenigen Zellen dieses letzteren, die an das Rindengewebe grenzen, besitzen punktirt
verdickte Wandungen. Die von seiner Markseite ausgehenden, anfangs wagerecht
verlaufenden Holzbündel sind in dem Marke so gestellt, dafs die Spiralen und Trep-
pen-Fasern der Stammoberfläche, das Bastgewebe dem Mittelpunkte zugewendet
ist. Beim Austritt der Holzbündel aus dem Marke und ihrem Verlaufe in dem
Rindengewebe ist ihre Stellung umgekehrt, hier steht das Holzgewebe nach der
Mitte, der Bast nach der Oberfläche des Stammes gewendet.
4. Ein Längenschnitt desselben Wurzelstockes in der Richtung seines Durchmessers.
Die wagerecht im Marke verlaufenden Anfänge der Holzbündel x sind hier quer
durchschnitten.
230
Fig. 5.
Fig. 4.
Fig. 6.
Fig. 7.
H. Kassmenx:
Ein. Theil der Spitze einer Blattanlage des Anthurium tovarense, Kl. et Karst.
bei e wird sie plötzlich schmäler, und endigt in einen fadenartigen Anhang, des-
sen längstes Ende hier abgebrochen war.
Die Stelle e derselben Blattspitze im Längenschnitt (Man vergl. S. 181) 250 mal
vergrölsert.
Taf. VI. }
Fig. 1 — 6 Artanthe flagellaris Miquel,
Querschnitt des Stammes in natürlicher Gröfse.
. Querschnitt des jüngsten Gliedes eines Astes 10 mal vergröfsert. Der äufserste
Holzbündelkreis (=) trennt die Rinde mit den Bastbündeln 5 von dem Marke, in dem
noch mehrere Holzbündelkreise sich befinden.
Ein Theil des Querschnittes eines Bastbündels der Rinde, (Fig. 2. 2.) 180 mal
vergrölsert. Es besteht in diesen jungen Theilen aus Cylinderzellen, dessen Zwi-
schenzellgänge bedeutend erweitert und mit einem gallertartigen Stoffe angefüllt
sind: sie selbst enthalten eine schleimige Flüssigkeit, in der wenige Bläschen
schwimmen die durch Jod gelb gefärbt werden. — Diese Zwischenzellsubstanz
erhält sich sehr lange, später verschwindet sie während die Zellen sich ausdeh-
nen und deren Inhalt körnig wird, auch sogenannte Zellkerne sich vorfinden,
endlich verdickt sich die Haut der Tochterzelle fast zum Verschwinden der Höh-
lung. —
Querschnitt eines ähnlichen Bastbündels aus dem alten Stamme, wo die Verhol-
zung der Membran der Tochterzelle in einem Theil des Bündels vor sich gegan-
gen ist, während in dem darangrenzenden die Zellen noch dünnwandig sind, doch
die Zwischenzellsubstanz schon fast gänzlich verschwunden ist.
5. Einige der Fig.2. a. den äulsersten Holzeylinder bildenden Bündel, sie sind von
verschiedener Grölse, das zwischen ihnen befindliche Cambium giebt den An-
fang der Markstrahlen. Eine oder wenige Spiralfasern @. befinden sich an der Mark-
seite des Bündels, vor ihnen viele weite Treppen- und Netz-Fasern durch spin-
delförmig-verholzte Zellen getrennt. Nach Aussen grenzt dies Gewebe an eine
Cambiumschicht 2. bestehend aus dünnwandigen Cylinderzellen, die mit einer schlei-
migen Körnchen, Bläschen und Zellehen enthaltenden Flüssigkeit angefüllt sind.
An der Rinden- und Mark-Seite des Bündels befindet sich eine Schicht von Bast-
zellen.
Querschnitt des jüngsten Theiles des Holzeylinders eines zwei Zoll dicken Stam-
mes. Das Holz besteht aus spindelförmigen, punktirt-verdickten Zellen %, zwi-
schen denen weite Neizfasern zerstreut stehen. Dies Holzgewebe wird getrennt
durch Markstrahlen, deren parallelepipedische Zellen (z2) etwas verdickt sind und
Stärke enthalten. Das Cambium 2. geht nach Aussen in die Basizellen, nach Innen
in das Holzgewebe über.
Fig. 7—9. Banisteria nigrescens Adr. Juss.
Querschnitt eines älteren Stammes in natürlicher Gröfse. a. Der später entstan-
Fig. 8.
Fig. 1.
Fig.
die V egetationsorgane der Palmen. 231
dene Cambium-Cylinder, der die jüngeren Holzschichten von dem innersten Kerne
trennt. Letztere werden durch eine fortschreitende Umbildung des Holzgewebes,
später in einzelne Bündel gelöst und von dem Stamme getrennt, worauf sie von
Rindengewebe umgeben als marklose, Äste und Wurzeln treibende, selbsständige
Stämme weiter wachsen.
Ein Längenschnitt aus der Gegend a. des Stammes Fig. 7. wo in den Holzzellen
eine erneuerte Zellenbildung eingetreten ist. m. Markstrahlenzellen, d. Holzzel-
len. 3’. ähnliche Holzzellen angefüllt mit senkrechten Reihen von Zellen, deren
Häute mit denen der Mutterzelle verwachsen, oder durch festen Zwischenzellstoff
‘verbunden schienen. Diese Zellen enthalten einen einzigen, ihre Höhlung fast aus-
füllenden, festen Kern, von weilser Farbe und gallertartigem Ansehen, durch Jod
wird er nicht gefärbt, durch längere Berührung mit Wasser zum Theil aufge-
löst, mit Hinterlassung mehrerer, ebenso gefärbter Körper von der Form gewöhn-
licher Zellkerne. — ce. Die neu entstandene Zellenschicht; einzelne dieser Zellen
sind mit einer trüben, Bläschen enthaltenden Flüssigkeit angefüllt, andere mit
einem klaren, durchsichtigen Safte, in welchem ein Zellenkern schwimmt.
. Eine Netzfaser mit dem benachbarten Holzgewebe im Querschnitte aus der Ge-
gend der erneuerten Zellenbildung 250 mal vergröfsert. Die weite Faser besitzt
noch die verdickte Haut, ist aber mit endogenen Zellen angefüllt. Die zunächst
stehenden Holzzellen besitzen gleichfalls noch die innere verdickte Haut, sie enthal-
ten kleine Zellen (Zellkerne) die mit Krystallen von kohlensaurem Kalke überzogen
waren und so das Ansehn von Krystalldrusen erhalten hatten. Die etwas weiter
entfernten Zellen a. sind dünnwandig, enthalten Bläschen und eine körnige Flüs-
sigkeit. ”
Taf. VI.
Podocarpus salicifolia Kl. et Karst.
Querschnitt eines 2 Linien dicken Astes der aus 5 älteren blattlosen und dem jüng-
sten, gipfelständigen noch beblätterten Triebe bestand. Der innerste Holzring ist
nicht zusammenhängend; er besteht aus den ersten in die Blätter gehenden Holz-
bündeln. Das diese Bündel trennende Parenchym befindet sich-oberhalb der Ab-
gangsstelle der nächst unteren Blätter. In der Rinde befinden sich Harzgefälse,
nicht im Marke.
- Querschnitt des Holzes 250 mal vergröfsert. Es besteht aus verdickten Fasern,
die durch radiale Reihen (nicht Schichten) von Markstrahlenzellen «a. in radiale
Schichten unregelmälsig abgetheilt sind. Diese Markstrahlenzellen sind dünnwandig,
eylinderförmig mit der langen Axe wagerecht, sie enthalten anfangs Stärkebläschen
dann eine körnige Flüssigkeit, deren Brechungsvermögen das Erkennen der Zell-
haut sehr schwierig macht. Die Holzzellen lassen drei in einandergeschachtelte
Zellen erkennen, von denen die zweite, mittlere verdickt ist; dort wo diese Holz-
zellen an die Markstrahlen grenzen ist die Verdickung durch Porenkanäle unter-
232
Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 5.
H. Kanssen:
brochen, die durch Bläschen hervorgebracht werden, die der Haut der Tochterzellen
an dieser Stelle anhängen; in der Zelle 8 ist durch den Schnitt die verdickte Haut
von den beiden andern an dieser Stelle getrennt, ähnlich in ce von der äufseren;
in der Zelle @ befinden sich, was ich sehr selten fand, zwei tertiäre Zellen neben-
einander. — Die Zellen der jüngeren Holzringe werden durch verdünnte Schwe-
felsäure roth gefärbt, es ist hier die verdickte, mittlere Haut die diese Färbung er-
leidet; die beiden andern Häute werden nicht gefärbt, ebensowenig das ältere Holz.
Querschnitt einer Blattspitze 180 mal vergröfsert. Die Mittelrippe wird durch ein
Holzbündel gebildet, dessen Fasern sich-aus dem an der unteren Seite befindlichen
Cambium vermehren und durch Reihen weiter, dünnwandiger Zellen, ähnlich wie
das Holz des Stammes, in radiale Schichten gesondert sind. Der Harzbehälter a.
an der unteren Blattseite, hat an dieser Stelle des Blattes die Form einer Faser
die von einer Schicht enger Zellen umgeben ist, ähnlich verhält es sich im Blattstiele.
In der äulsersten Spitze ist kein Unterschied in den Zellen zu bemerken nur ent-
halten die in der Verlängerung dieser Faser liegenden eine andere Flüssigkeit wie
die benachbarten Zellen. —
Ein Querschnitt der Blattmitte wo an der unteren Seite des Holzbündels ein weites
Harzgefäfs sich befindet, das mit einer wässrigen Flüssigkeit angefüllt ist, in der
grolse Tropfen eines hellen, gelblichen Balsames und oft sehr schöne, grolse, qua-
drat-octa@drische Krystalle (Oxalsäure?) schwimmen. Die zunächst dies Gefäls um-
gebenden, dasselbe bildenden Zellen, sind immer mit einem eigenthümlichen har-
zig-schleimigen Stoffe angefüllt, oft ragen sie haarförmig in die Gefälshöhle hin-
ein, die ursprünglich vorhandene Faser ist nicht mehr zu erkennen.
Im Umkreise des Holzbündels bildet sich das Blattparenchym zu punktirt - ver-
dickten Zellen um.
Querschnitt der Gipfelknospe eines Zweiges mehreremal vergrölsert. Das Ge-
webe derselben wird durch den Cambium - Cylinder in Mark und Rinde gesondert.
In dem Marke dauert noch längere Zeit eine Zellenbildung fort, man findet die
Zellen hier von sehr ungleicher Grölse und Färbung. Von dem Cambiumeylinder
sondern sich die Gewebe des Markes und der Rinde; an seiner inneren Seite erschei-
nen darauf in unregelmälsigen Abständen des Umkreises und in verschiedener Höhe
Spiralfasern f. vor denen sich dann in dem Rindengewebe Harzfasern g. bilden, die
später in Gefälse umgeändert werden. Diese beiden Elementarorgane, mit dem sie
zunächst umgebenden Gewebe, sondern sich nach und nach, indem die innerste
Schicht des Cambiumeylinders in der Zellenbildung verharrt und nach Aussen, inner-
halb der Spiralfasern, Parenchymbildung eintritt, von dem Gewebe des Stammes und
verlängern sich in ein oberhalb ihres Anfangspunktes angelegtes Blatt. Das Cam-
bium, in der Nähe der Spiralfasern und an der äufseren Seite derselben befindlich,
verändert sich in Holzfasern, worauf dann später die zuerst erschienene Spirale sehr
schwierig zu unterscheiden ist.
Fig.5. 8’ Eine ebengebildete Harzfaser in dem jüngsten Rindengewebe, noch nicht in ein
.Gefäls umgeändert.
die V egetationsorgane der Palmen. 233
Fig. 6. Längenschnitt einer Gipfelknospe in der aus einem Blattwinkel eine secundäre Axe
entspringt, bei auffallendem Lichte gezeichnet, wodurch das in der Spitze die äufser-
ste Schicht bildende Cambium undurchsichtig und dunkler erscheint wie das übrige
schon weiter ausgebildete Gewebe. — In die Knospe verlängert sich von der einen
Seite dieses cambialen Kegelmantels eine ähnlich geformte Cambium-Schicht in
der eine ähnliche Zellgewebebildung vor sich geht, wie in der Gipfelknospe, und
früh die ersten Spiralen auftreten. Die Stellung der Blätter der secundären Axe
ist dieselbe wie die der primären, eine linkswendige Spirale bei der letzteren in
der + Stellung bei der Nebenaxe wenigstens der jüngeren in — Stellung.
Fig. 6 a Ein Querschnitt der Knospe um die Bildungsfolge die Blätter zu zeigen. p. 209.
Fig. 6. & Querschnitt einer ausgebildeten Knospe aus dem man die Knospenanlage der Blät-
ter erkennen kann.
Taf. VII.
Gewebe des Stammes der Cyathea aurea Kl.
Fig. i. Ein Längenschnitt des cambialen Holzeylinders 5 mit den benachbarten Geweben
Fig.
Fig:
Fig.
aus der Stammspitze. Die zuerst auftretenden abrollbaren Spiralen, die sich in
die Blätter verlängern sind schon vorhanden, das übrige Holzgewebe noch nicht
angelegt, es findet sich statt dessen ein Gemisch von langen und runden Zellen
die wieder grölsere und kleinere Bläschen und Zellen enthalten. Die künftigen
Bastzellen c besitzen noch runde Enden sie sind dünnwandig und enthalten längliche
Zellkerne. Am weitesten vorgeschritten ist das aufserhalb der Bastschicht befind-
liche Parenchym a., es enthält jedoch noch keine Stärke, sondern in einer farblosen
Flüssigkeit ein sehr deutliches Bläschen ohne festen Inhalt und einige ähnliche mit
einem körnigen Stoffe gefüllt. Fig. 1. a. Dieselben stärker vergröfsert mit einer
der grolsen Gummi oder Schleim enthaltenden Zellen, die oft in senkrechten Reihen
übereinander stehen und mit kleinen Zellen angefüllt sind, deren bräunlich gelbe
Farbe durch Jod etwas dunkel durch Eisensalze in das grünlich Schwarze verän-
dert wird. x, die diese Zellen auskleidende Haut der Tochterzelle. — Das zwischen
der Holz - und Bast - Schicht befindliche Parenchym a’ ist immer etwas weiter in
dem Wachsthume zurück wie das eben beschriebene. —
.6 Einige Zellformen aus der Schicht 2. Fig. 1. etwas unterhalb des in dieser Fig.
dargestellten Gewebes genommen x. x. fertige Treppenfasern y. y. einige darneben
liegende Zellen, deren Wand fein genetzt ist. 2 andere noch jüngere in der
Mutterzelle eingeschlossene Zellen, in denen die Tochterzelle mit den Bläschen die
sie umschliefst von der äufseren Zellhaut getrennt ist, (vielleicht durch Einwirkung
des Wassers). —
- Querschnitt desselben Holzcylinders an der Stelle des Stammes, wo eben die Blätter
abgefallen sind.
. Derselbe Theil im Längenschnitt. Das Parenchym a und a’ ist mit Stärke ange-
füllt, ebenso enthalten die verdickten und gelbgefärbten Bastzellen ce Stärke. Die
das Parenchym begrenzenden Bastzellen, mit senkrechten Reihen kugeliger Zellen
Phys. Kl. 1847. Gg
234
H. Karsten:
angefüllt, sind besonders dunkel, da die Häute beider verholzt sind. d.d. Cam-
bium Schichten.
Fig. 2. d. Ein Querschnitt der Treppenfasern stärker vergröfsert. Die ununterbrochen ver-
dickten Ecken scheinen heller wie die gestreift verholzten Flächen der sich berüh-
renden Wandungen.
Fig. 2. ce. Der Querschnitt einiger Bastfasern.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 3.
Taf. IX.
Querschnitt des Stammes der Alsophila pruinata Kaulf. unterhalb der Trennungs-
stelle eines Blattes. Die innere, zusammenhängende Bastschicht steht an dieser Stelle
x mit der Oberhaut des Stammes und der Blattstieloberseite in Verbindung.
Ein anderer Querschnitt desselben Stammes; 6. und c. die Reste von Blattstielen,
deren Blätter schon abgefallen waren. Das Zellgewebe war verwest und so dunkel
gefärbt, dafs ich die Holzschiehten kaum unterscheiden konnte. — a. Die Gegend
des Holzeylinders unterhalb des Blattstielgrundes von wo regelmälsig eine Knospe
abgeht. Diese Knospe wuchs an dem untersuchten 3’ hohen aufrechten Stamme
wurzelähnlich abwärts ohne Blätter zu treiben, bevor sie den Boden erreichte.
u. 4. Die, dem in Fig. 2. dargestellten Theile, entsprechenden Abschnitte dessel-
ben Stammes aus einiger Entfernung unterhalb jenes. Die Knospe a. besitzt einen
geschlossenen Holzeylinder; an der Berührungsstelle des Stammes ist sie mit die-
sem verwachsen. In Fig. 4. ist sie ganz frei, viele Wurzeln trennen sich von dem
Stamme, besonders in der Gegend der sich nicht entwickelnden Blattanlagen. —
Fig.5. u. 6. Querschnitt des Stammes der Dicksonia Lindeni Hook, in welchem sich drei
Fig. 7.
Fig. 8.
concentriche Holzbündel befinden, von dem äufsersten trennt sich für das Blatt ein
Absebnitt, während gleichzeitig von dem nächst inneren sich ein Theil nach Aussen
hin abzweigt, die dadurch entstandene Lücke auszufüllen. Ebenso gehen von dem
innersten Cylinder Theile an den zweiten. Die geringe Bastschicht die hier den
Holzeylinder unmittelbar umgiebt ist von dem braungefärbten Parenchyme des Markes
und der Rinde durch eine weilsgefärbte Schicht desselben Gewebes getrennt.
Querschnitt des Stammes der Alsophila senilis Kl.
u. 9. Durchschnittene Stammstücke mit den Überresten der Holzbündel nach dem
Abfallen der Blätter von unten gesehen. Die Rinde ist bis auf die Bastschicht
abgeschält, man sieht wie die Bündel a., die in der Mitte des Blattstieles befind-
lich sind, aus dem Marke stammen.
Fig. 10. Querschnitt des Stammes der Danaea Augustü Karst. ‘siehe p. 194.
Fig. 11. Querschnitt des Blattstielgrundes; ein einzelnes Holzbündel steht in der Mitte
eines Kreises.
Etwas höher sind zwei koncentrische Kreise vorhanden, Fig. 12. der innere ist
durch Verästelung der äulseren entstanden. Fig. 13. Aus dem höheren Theile des
Blattstieles unterhalb der ersten Blattfiedern.
Fig. 14. Der untere Theil eines Stecklinges des Zycopodium Springü Kl. et Karst. Der
Stamm dieser Pflanze wird von einem centralen, marklosen Holzeylinder und meh-
die V: egetationsorgane der Palmen. 235
reren im Umkreise dieses befindlichen, einzeln stehenden Holzbündeln durchzogen. Man
sieht in dieser Zeichnung wie sich eines dieser einzelnen Bündel nach dem Durch-
schneiden des Stammes, unmittelbar in eine Wurzel verlängert hat.
Fig. 15. Ein Längenschnitt durch diesen Stamm und zwar durch das in die Wurzel aus-
gewachsene Holzbündel. x. Ein Theil der Schnittfläche. (Fig. 14. x.) Die Ge-
webe des Holzbündels, die Holzfasern sowohl wie das Cambium- und Bast- Ge-
webe, setzen sich so ununterbrochen in die Wurzel fort, dafs keine Grenze zu
entdecken ist, an der Oberfläche des Bastes hat sich Parenchym gebildet das in
einiger Entfernung von dieser Stelle immer mehr zunimmt und zum Rindengewebe
der Wurzel wird. Einzelne Zellen der Oberhaut dehnen sich zu Haaren aus.
Fig. 16. Ein Längenschnitt derselben Wurzelspitze derselben Pflanze, die Entwickelung
der verschiedenen Gewebe aus dem Cambium innerhalb der Wurzelmütze darle-
gend. Die Haare der Oberhaut entstehen durch die später eintretende Verlänge-
gerung abwechselnder Zellen derselben, indem anfangs nur einzelne, der Wur-
zellänge gleichlaufend, in die Länge wachsen: andere, zwischen diesen befindliche
im Wachsthume gehemmt werden, das erst später in der, Fig. 17. dargestellten
Weise, mit der Ausdehnung der Mutterzelle beginnt. —
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Eläis melanococca statt Elais melanococcus.
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Über
die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten.
Von
H”" MÜLLER.
mnnannnwwemuns
[Gelesen in der Akad. der Wiss. am 13. Mai 1841 und 8. Juni 1846.]
D. gegenwärtige Abhandlung war bestimmt einen zweiten zoologisch-
systematischen Theil zu der Untersuchung über den Bau der Crinoiden zu
bilden, welche in den Abhandlungen der Akademie vom Jahr 1841 nieder-
gelegt ist(!). Eine Uebersicht der bis 1841 mir bekannten Arten der
Comatulen mit der Beschreibung von 15 neuen Arten ist bereits im Monats-
bericht der Akademie 1841 Mai mitgetheilt. Noch war mir die Autopsie
einiger der schon bekannten Species, namentlich der von Lamarck beschrie-
benen, wünschenswerth geblieben. Hiezu hatte ich bei meinem Aufenthalt
in Paris im Herbste 1844 Gelegenheit; wobei mir zugleich wieder mehrere
neue Arten bekannt wurden. Nach der Zeit meiner ersten Mittheilung habe
ich auch die von Retzius beschriebenen Arten im Museum in Lund und die
Materialien des Museums der Akademie der Wissenschaften zu Stockholm
verglichen(?). Hiedurch wurde eine Revision der Abhandlung möglich,
welcher zugleich die Beschreibung der neu hinzugekommnen Arten beigefügt
wurde. Ich sage den Herren Lichtenstein, Troschel, v. Schreibers,
Diesing, Eschricht, Valenciennes, De Haan, Loven, Nilsfon mei-
nenDank für ihre bereitwillige Unterstützung. Die Beschreibung der mehrsten
Arten gründet sich auf meine eigene Autopsie, die sich auf die Benutzung der
Materialien der Museen zu Berlin, Wien, Bamberg, Paris, Leyden, Stock-
(') Ueber den Bau des Pentacrinus caput medusae. Abhandl. d. Akademie a. d. J.
1841. Berlin 1843. p. 177.
(*) Davon ist Kenntnifs gegeben im Archiv für Naturgeschichte IX. 1. Berlin 1843.
p- 131.
238 MürLsLer
holm, Lund erstreckt, ausgenommen sind nur die neuen Comatulen des
Museums zu Leyden, welche Hr. Trochel (1840) mit meinem Manuscripte
von den mir zur Zeit bekannten Formen zu vergleichen, und deren Charac-
tere nach denselben Principien er für mich aufzunehmen die Güte hatte.
Da die Anatomie der Comatulen schon in der Arbeit über Pentacrinus
vollständig abgehandelt ist, so gegnügt es für den zoologischen Zweck nur
dasjenige von dem äufseren Bau zu besprechen, was zum Verständnifs der
Beschreibung unumgänglich nothwendig, und von welchem die specifischen
Charactere entnommen sind.
Die Comatulen unterscheiden sich von andern Crinoiden, dafs sie
nur im Jugendzustande gestielt und am Boden festgewachsen sind. Ihr
gegliederter Stiel ist ohne Cirren und diese zeigen sich nur an dem Knopfe,
welcher den Kelch des Thiers mit dem Stengel verbindet, während der
Stengel der Pentacrinen an vielen Stellen in bestimmten Abständen mit einem
Kranz von Cirren umgeben ist. In der Abhandlung über den Pentacrinus
habe ich bewiesen, dafs die cirrentragenden Glieder oder Knotenglieder des
Stengels nur dicht unter dem Kelch entstehen, dafs die andren Glieder ohne
Cirren an jeder Stelle vom obern Theil des Stengels sich bilden und durch
Interpolation zwischen zwei schon vorhandenen Gliedern sich mehren.
Die junge Comatula hat nur ein Vertieillarglied, es ist ihr Knopf,
der an Stelle liegt, wo beim Pentacrinus alle Verticillarglieder entstehen,
der ganze übrige Stengel ist daher, insofern er cirrenlos ist bis zur Wurzel,
nur einem Internodium der Pentacrinen zu vergleichen.
Wie Comatula zu Pentacrinus, so verhalten sich die ungestielten
fossilen Marsupites und Saccocoma Ag. zu denjenigen gestielten Crinoiden,
deren Stengel ohne Cirren ist. _ Marsupites und Saccocoma haben weder
Cirren noch den Knopf der Comatulen. Der Knopf der Gomatulen dient
den 5 Kelchradien zur Basis, seine obere ebene Fläche ist ein Pentagon mit
mehr oder weniger abgerundeten Seiten. Nach unten, wo der Knopf frei
ist und Cirren trägt, ist er meist abgerundet. Bei mehreren Comatulen ist
er einem Abschnitt von einer Kugel zu vergleichen, dessen Rand pentagonal
zugeschnitten ist. Der Kugelabschnitt ist meist weniger als die Hälfte einer
Kugel, zuweilen erreicht er jedoch die Gröfse einer Halbkugel und selten
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 239
ist er mehr als Halbkugel. Die Cirren besetzen den gröfsten Theil der
convexen Oberfläche bis auf die Mitte, wo früher die Verbindung mit dem
Stengel stattfand, zuweilen ist auch diese Stelle mit Cirren besetzt, wie bei
Comatula Eschrichtü,.
Zuweilen ist aber auch ein grofser Theil der untern Fläche des Kno-
pfes von Cirren frei, und es sitzen diese nur am Umfang des Knopfes, in
diesem Falle ist der Knopf auch an der Unterseite flach und er ist selbst
zuweilen in der Mitte vertieft. Alle diese Verhältnisse sind für die Characte-
ristik und Erkennung der Arten von Wichtigkeit.
Demnächst kommen die Cirren selbst in Betracht, ihre Zahl, ihr
Sitz, ihre Länge, die Zahl und die Form ihrer Glieder. Die Zahl der
Cirren ist nicht immer mit Sicherheit anzugeben, da sie zum Theil verloren
gehen, um durch neue ersetzt zu werden. Der Ausdruck der Zahl der
Glieder ist daher immer nur in einer gewissen Breite der Abweichungen zu
nehmen. Die Gröfse der Cirren, welche an den ausgewachsenen Cirren
zu bestimmen, ist sehr verschieden nach den Arten, man findet sie zuweilen
klein in grofsen Arten und zuweilen sehr grofs in kleinen Arten, wie letzteres
z. B. bei der neuen Comatula des mittelländischen Meers Comatula
phalangium Nob. Die Zahl der Cirrenglieder, welche nur an ausge-
wachsenen Cirren zu bestimmen, ist ein sehr guter Character, denn es
giebt hier sehr grofse Unterschiede, es giebt Arten mit 10, mit 20, mit 50
und mehr Gliedern; es versteht sich von selbst, dafs es hierbei auf Abwei-
chungen von ein paar Gliedern nicht ankommt; so wenigstens sind die Zah-
len der Glieder zu verstehen, die wir angeben. Endlich ist die Form der
Glieder verschieden. Einige Comatulen haben die untern Glieder der
Cirren anders geformt als die obern, breiter, so dafs die Cirren mit conischer
Form beginnen, dann aber ceylindrisch werden. Die mehrsten Comatulen
haben die Cirren in ganzer Länge gleichförmig. In allen Fällen ist das Ver-
hältnifs der Höhe der Glieder zur Breite derselben zu bestimmen, besonders
am mittlern Theil des Cirrus, auch ist anzugeben, ob sie mit einem Dörn-
chen bewaffnet sind oder nicht und wie viele Glieder des Cirrus bewaffnet
sind. Die Seite des Thieres, wo sich der Knopf befindet, nenne ich die
Dorsalseite, die andere Seite, wo der Mund und After, die Ventralseite.
In diesem Sinne wird auch die Dorsal- und Ventralseite der Arme und ihrer
pinnulae zu verstehen seyn. Die Radien des Kelchs gehören der dorsalen
240 MüıLLeEr
Seite des Thieres an. Radien nenne ich die auf dem Knopf aufgesetzten
Stämme der Arme, welche keine pinnulae tragen, während die auf den
Radien aufsitzenden 2 Arme mit zwei Reihen alternirender Pinnulae ver-
sehen sind. Auch sind die Radien durch die Haut des Kelches verbunden,
die Arme frei.
Die Kelchradien bestehen aus 3 Gliedern, aber das unterste ist bei
einigen Arten aufsen nicht sichtbar; so dafs dann die Radien bis zu den
Armen nur aus 2 Gliedern zu bestehen scheinen.
Auf jedem der 5 Kelchradien sitzen 2 Arme, die entweder einfach
bleiben oder sich noch einmal oder mehrmal wieder theilen. Das Radial-
glied, auf welchem nebeneinander 2 Arme stehen, heifse ich radiale axillare,
die ähnlichen Glieder unmittelbar unter den weiteren Theilungen der Arme
brachiale axillare. An den Armgliedern kömmt ihre Gestalt, dann ihre
Verbindung in Betracht. Bei vielen Comatulen sind die vordern und hintern
Gelenkflächen der Glieder wenig gegen einander geneigt. Bei einigen Arten
aber bilden sie einen Winkel mit einander, und die Glieder sind abwechselnd
von der einen zur andern Seite keilförmig. Bei den mehrsten Arten sind die
Glieder ohne Bewaffnung, bei einigen ist der aborale Rand an der Rückseite
vorspringend und gezähnelt. Wichtig ist auch eine doppelte Art der Ver-
bindung der Glieder. Die Glieder sind nämlich entweder durch ein elasti-
sches Gelenkband beweglich verbunden, ohngefähr so wie die Wirbelkörper
des Menschen und der Säugethiere, oder sie sind unbeweglich verbunden
durch eine Nath. Die bewegliche Verbindung bedingt meist die Beugung
durch Muskeln und Streckung durch das elastische Zwischenwirbelband.
Einzelne Glieder können sich jedoch nicht in dieser Richtung, sondern nur
von rechts nach links bewegen, wenn der Riff auf der Verbindungsfläche
des Gliedes von der ventralen nach der dorsalen Seite der Glieder gerichtet
ist. Es kommen in dieser Hinsicht Artenverschiedenheiten vor, die man
an der Art der Beweglichkeit der Glieder in der Richtung der Beugung und
Streckung oder von rechts und links erkennen kann. So giebt es ein Bei-
spiel an der vielarmigen Comatula palmata, wo alle axillaria brachialia von
der Bifurcation die Arme an, nur von rechts und links bewegt, nicht gebeugt
und gestreckt werden können. Bei der vielarmigen C. Savignü Nob. sind
diese axillaria dagegen seitlich unbeweglich und das Gelenk zur seitlichen
Bewegung liegt zwischen dem ersten und zweiten Armgliede. Bei den zehn-
über die Gatiung Comatula Lam. und ihre Arten. 241
armigen Comatulen ist das radiale axillare des Kelchs seitlich beweglich
auf dem radiale secundum, das zweite Armglied über dem axillare ebenso.
Zwei durch Nath verbundene Glieder nenne ich ein Syzygium. Das Glied,
welches unter dieser Nath liegt, heifst Hypozygale, das obere Epizygale.
Die Syzygien sind sehr regelmäfsig an den Armen vertheilt, wichtig zur
Unterscheidung der Arten ist ihre Stellung am Anfang der Arme, auch unter-
scheidensich einige Arten durch die gröfsere oder geringere Anzahl gelenkiger
Glieder zwischen je zwei Syzygien; doch sind in letzter Hinsicht nur extreme
Verhältnisse entscheidend, denn die Zahl der Glieder zwischen je zwei
Syzygien schwankt innerhalb einer gewissen Breite. Bei einigen Arten zählt
man nur 2-4, bei andern gegen 8-10, bei noch andern gegen 14 Glieder
zwischen den Syzygien, die Syzygien sind immer leicht an der Nath mittelst
einer Loupe zu erkennen.
Selten bildet das erste und zweite Glied über jedem axillare ein
Syzygium, bei den mehrsten Arten liegen vielmehr zwei einfache gelenkige
Glieder unter dem Hypozygale des ersten Syzygiums.
Zuweilen hat das axillare brachiale für die zweite Bifurcation in 20
Arme ein Syzygium und besteht aus einem hypozygale brachiale und epizy-
gale axillare. Andere Arten haben bei einer mehrfachen Theilung der
Arme doch keine Syzygien an den awillaria brachialia. Uebrigens habe ich
diese Verhältnisse bei Untersuchung verschiedener Exemplare einer Art
immer constant gefunden.
Pinnulae sind die gegliederten Nebenarme, die auf der Bauchseite
der Arme stehen und hier gleichsam eine Federfahne bilden; sie alterniren
von Glied zu Glied und haben eine sehr gesetzmäfsige Stellung, welche bei
der Beschreibung der Arten wichtig ist, übrigens mit der Vertheilung der
Syzygien zusammenhängt. Die Radialglieder des Kelches tragen niemals
Pinnulae. Die erste äufsere Pinnula steht gewöhnlich am zweiten Glied,
die erste innere Pinnula am dritten Glied des Armes. Das erste Glied der
Arme, sowohl der ersten als weitern Theilung, hat gewöhnlich keine Pinnula,
davon macht der seltene Fall eine Ausnahme, wenn das erste Glied bei
einer Art ein Syzygium besitzt, dann sitzt die erste äufsere Pinnula am Epi-
zygale des Syzygiums. Was bei der ersten Theilung der Arme geschieht,
wiederholt sich gewöhnlich auch bei den weiteren Theilungen. Seltener
weicht eine Art davon ab, dafs z. B. die erste Pinnula zwar am zweiten Glied
Phys. Kl. 1847. Hh
349 MÜLLER
der 10 Primärarme, nach der nächsten Theilung aber am ersten Glied über
dem axillare steht.
Beim Alterniren der Pinnulae zählen die beiden Glieder, die ein Sy-
zygium bilden, immer nur für ein Glied, so dafs das Hypozygale ohne Pin-
nula ist und die Pinnula jedesmal am Epizygale steht.
Auch die Gestalt und relative Gröfse der Pinnulae liefert gute Cha-
ractere. Am wichtigsten sind jedoch die ersten Pinnulae am Anfang der
Arme, deren relative Gröfse gegen einander bei der Artenbeschreibung
genauer anzugeben ist. Zuweilen zeichnet sich eine der ersten, z. B.
die zweite und dritte oder eine andere durch ihre Gröfse aus, zuweilen nicht,
zuweilen nehmen sie von der ersten rasch an Gröfse zu, und nehmen dann
von der vierten oder einer der folgenden eben so rasch wieder ab, um dann
eine gleichförmige Länge zu behaupten. Von den Gliedern der Pinnulae
sind meist nur die untersten von Bedeutung, bei einigen Arten haben die
Pinnulae des Anfanges der Arme die untersten Glieder viel breiter als die
folgenden. Die Pinnulae des Endtheils der Arme sind bei den mehrsten
Comatulen noch eigenthümlich, dafs sie am Ende bewaffnet sind, indem
sich an den letzten Gliedern, an der Rückseite derselben, Dörnchen ent-
wickeln. Am letzten Gliede erscheinen diese auch an der Bauchseite und
am Ende des Gliedes und sind auch wohl etwas gebogen, wodurch sie gleich-
sam Greiforgame werden.
Die untere Hälfte der Pinnula ist oft an der ventralen Seite, wo sie
aus Weichtheilen besteht, bauchig angeschwollen. Dieser Umstand kömmt
nicht bei der Artenbeschreibung in Betracht. Da nämlich hier die Ge-
schlechtsorgane liegen, so zeigt diese Anschwellung nur die Reife der
Geschlechtsproducte an. Die ventrale Seite des Mittelstücks oder der
Scheibe des Thiers ist von derselben weichen Haut bedeckt, welche die
Lücken zwischen den Kelchradien und der Dorsalseite ausfüllt. Diese
Membran bedeckt auch die Ventralseite der Arme und Pinnulae. Bei den
mehrsten Comatulen ist sie weich, gefärbt, seltener trägt sie kalkige Körner
oder Papillen oder ist gar mit Kalkplättchen getäfelt. Auf der ventralen
weichen Haut der Pinnulae und der Arme selbst befindet sich in dieser Haut
eine Rinne. Die Rinnen der Pinnulae führen in die Rinne ihres Armes und
die Rinnen der Arme setzen sich auf der Ventralseite der Scheibe bis zum
Munde fort. An den Seitenwänden der Rinne formirt sich die Haut in einen
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 243
stützenden feinen Kamm von Blättchen, an ihrer äufseren Seite geht bei
vielen Comatulen ein Zug von dunkeln punktförmigen oft dunkelrothen
Flecken. In den Rinnen selbst befindet sich ein Zug von kleinen mikro-
skopischen Tentakeln, welche die Nahrung von den Pinnulae und Armen
bis zum Munde fortbewegen.
Die Rinnen der 10 von 5 Kelchradien getragenen Arme setzen ihren
Weg nach dem meist centralen oder auch excentrischen Munde fort. Ehe
sie diesen erreichen vereinigen sie sich meist je zwei mit einander, nämlich
diejenigen die zu demselben Armstamm gehören, so dafs dadurch aus 10
nunmehr 5 Rinnen am Munde zusammen kommen. Die Felder der Scheibe
zwischen den 5 Hauptrinnen nenne ich Interpalmarfelder. Die Ecken dieser
Felder am Munde bilden eben so viele Klappen über dem Eingang in den
runden Mund. In einem der 5 Interpalmarfelder befindet sich der in eine
Röhre ausgezogene After, dem Munde bald näher bald ferner.
Die Beschreibung der Arten der Comatulen kann sich nur auf die
allseitige Berücksichtigung aller bisher aufgeführten Formverhältnisse grün-
den, und sind die Charactere, welche bis jetzt z. B. von Lamarck in den
Diagnosen der Arten benutzt worden sind, völlig unzureichend. Abbildun-
gen der Arten können nur dann zweckmäfsig sein, wenn sie in alle diese
feineren Details eingehen; selbst die eines Savigny in der Description de
l’Egypte, dessen Zeichnungen überall das genaueste Studium verrathen,
genügen diesen Anforderungen nicht ganz, viel weniger wird man von andern
nur im Allgemeinen die Natur wiedergebenden Bildern erwarten können.
Es läfst sich daraus meist nur entnehmen, dafs es sich um eine Comatule
von 10 oder 20 oder mehr Armen handelt. Ist die Beschreibung aber auf
die Analyse der Formverhältnisse, auf welche es ankömmt, mit der Loupe
gegründet, so ist die Abbildung der Species überflüssig und mufs sich viel-
mehr nach der Beschreibung selbst das Schema einer Art entwerfen lassen.
Aus diesem Grunde ist bei dieser Abhandlung von Abbildung der Arten
ganz abgesehen worden.
Es frägt sich, in wie weit eine Ordnung der Comatulen in Unter-
gattungen ausführbar ist. Es sind mehrere Versuche dazu gemacht worden.
Die ungestielten fossilen Crinoiden ohne Knopf und Cirren, die Gattungen
Saccocoma Agassiz (Comatula tenella, pectinata, filiformis Goldf.) und
Marsupites Mant. kommen hierbei nicht in Betracht, da sie zu ganz andern
Hh2
244 MiüuLıseEr
Familien von Crinoiden gehören. Dagegen bildet die fossile Gattung Sola-
nocrinus Goldf. eine besondere Abtheilung der eigentlichen Comatulen.
Diese Gattung zeichnet sich nämlich von den übrigen Comatulen aus, dafs
sie über dem mit Cirren besetzten Knopf noch Basalstücke zwischen den
Insertionen der Kelchradien besitzt, welche die Basalia der Pentacrinus
wiederholen. Goldfufs hat diese 5 kleinen Basalstücke auch bei einer
noch lebenden Comatula, seiner indischen Comatula multiradiata beobachtet
und Agassiz hat hierauf seine Gattung Comaster gegründet, welche in-
defs durch den Besitz der Basalia von den fossilen Solanocrinus nicht mehr
verschieden sein würde. Ich habe diese Basalia noch bei keiner lebenden
Comatula beobachtet, so eifrig ich auch danach suchte. Wo das unterste
Radialglied des Kelches versteckt ist, sind nur die Ecken desselben sichtbar,
so zwar, dafs die aneinander stofsenden Ecken zweier radialia einen durch
eine Nath getheilten Vorsprung über dem Knopf bilden. Daraus geht her-
vor, dafs die Gegenwart wirklicher Basalia ohne Zerlegung bei einer leben-
den Comatule, auch dann, wenn sie wirklich solche besitzt, schwer zu er-
kennen sein mufs. Die Unterscheidung der Comaster und Comatula wird
daher bei der Ordnung der lebenden Comatulen unpractisch (').
Ich habe auf einen Unterschied der Tentakel-Furchen auf der Scheibe
der lebenden Comatulen aufmerksam gemacht. Bei den mehrsten Arten
sind die Furchen symmetrisch angebracht und sind
die 5 Stämme der von den Armen kommenden
Furchen auf den centralen Mund gerichtet, den sie
. erreichen. Die Afterröhre exentrisch. S. Fig. Bei
der Comatula solaris Mus. Vienn. ist dies nicht der
Fall. Bei dieser, die ich im Jahre 1840 zu Wien
untersucht, war die Mitte der Scheibe von der
Afterröhre eingenommen. Die Furchen der 10
Arme mündeten aber in gleichen Abständen in eine
(') Kürzlich habe ich die einzige im Museum zu Bonn befindliche Comatula muli-
radiata, (nicht das von Goldfuls zerlegte Exemplar, wovon ich nichts mehr vorfand)
untersucht. Ich habe daran nichts von Beckenstücken erkennen können. Die Gattung
Comaster ist daher wohl zu unterdrücken. Die Cirren hatten gegen 23 Glieder. Die
2 ersten Pinnulae sind sehr lang, die folgenden etwas kürzer, dann folgen kurze. Maul
excentrisch, 5 Furchen gehen vom Munde, um sich für die Armstämme zu theilen, wie
bei den gewöhnlichen Comatulen. Gegen 5 Glieder zwischen den Syzygien der Arme.
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 245
die Scheibe am Rande umziehende Cirkelfurche, was
mich bestimmte diese Form, welche ich später in
Lund noch an 2 Comatulen, nämlich an Asterias multi-
@ radiata Retz. und 4sterias pectinata Retz. wieder-
= sah(!), unter dem Namen Actinometra von den übri-
gen Comatulen abzusondern. In der Anatomie des
Pentacrinus versuchte ich diese Anordnung der Furchen durch eine unsym-
metrische Vergröfserung desjenigen Interpalmarfeldes, worin die After-
röhre steht, über den ganzen Scheitel und auf Kosten der anderen Inter-
palmarfelder zu erklären, so dafs der Mund aus der Mitte des Scheitels
ganz an die Seite zwischen 2 Arme geräth. Es war mir aber an den
trocknen Comatulen nicht gelungen den Mund zu finden, ich mufste daher
die Aufklärung dieses Gegenstandes von der Untersuchung frischer oder
Spiritusexemplare abhängig machen und verschieben. Und dies ist einer
der Gründe, die mich bewogen, der Anatomie des
Pentacrinus nicht sogleich den Abschlufs der Coma-
tulen folgen zu lassen. Ich habe nun in neuerer
Zeit Gelegenheit habt, mehrere Comatulen von jener
& Anordnung der Furchen, sowohl zehnarmige als viel-
armige, in Spiritus zu untersuchen. Siehe die bei-
stehende Figur von Comatula Wahlbergü.
Der Mund ist bei der in Frage stehenden Abweichung
N 7 allerdings vorhanden, er liegt ganz zur
SE / ’ Seite, doch ist dies nicht die Ursache des
Unterschiedes, es giebt vielmehr auch Co-
matulen von der gewöhnlichen Anordnung
5 der Furchen, bei denen gleichwohl der
a) Mund seitlich, die Afterröhre central steht.
h Fig. von C. multiradiata. Die fragliche
Abweichung beruht vielmehr darauf, dafs
die 5 Furchen nicht symmetrisch für die
5 Gruppen der Arme vertheilt werden,
sondern dafs von den 5 Furchen einzelne
herrschend werden und Aeste an die meisten
(') Von mir beschrieben in Wiegmann’s Archiv f. Naturgeschichte 1843. I. p. 133.
246 Müunzser
Arme abgeben. Indem diese Hauptfurchen, nachdem sie die Scheibe
umzogen, sich wieder annähern, so entsteht der Schein eines Cirkels. An
in Weingeist aufbewahrten Exemplaren sieht man indefs, dafs es kein ge-
schlossner Cirkel ist.
Hierdurch verliert der Unterschied, der übrigens in verschiedenen
Exemplaren derselben Species sich bewährt, sehr viel an systematischem
Werth und da ein Theil der bekannten Arten der Comatulen überhaupt
nicht auf die Anordnung der Furchen untersucht ist, so mufs ich es aufge-
ben, alle Arten hiernach zu ordnen. Ich werde daher bei den Arten, wo
5 centripetale Furchen beobachtet sind, den Namen (4lecto )(!) in Klammer
dem Gattungsnamen Comatula beifügen, wo aber weniger Furchenstämme
den exentrischen Mund erreichen, den Namen (Actinometra) demselben
Gattungsnamen Comatula folgen lassen(?). Also z. B. Comatula (Alecto)
europaea, Comatula (* Actinometra) solaris.
Mehrere von Linck, Seba, Leach, Risso, Say, u. A.
unkenntlich beschriebene oder abgebildete Comatulen, bei denen keine
Recognition durch Untersuchung von Originalexemplaren stattfinden konnte,
gehören zur zweifelhaften Synonymie.
Der Beschreibung der Arten mag eine Uebersicht eines grofsen Theils
derselben nach der Lage derSyzygien, bei welchen Arten nämlich diese Lage
bekannt ist, vorausgehen.
.. €‘) Der Name Alecto für die Comatulen ist von Leach aufgestellt. Zool. Misc. 2. 1815.
Später (1816) ist der Lamarcksche Name Comatula gegeben. Alecto ist auch von Lamou-
roux später (1821) eine Polygengattung genannt.
(°) Die Furchen der Scheibe sind in allen Fällen, wo nur die Autopsie möglich
war, nachgesehen, aber selbst die in Weingeist aufbewahrten Exemplare lassen nicht immer
eine Einsicht der Scheibe zu, wenn die Arme der Comatula enge zusammengezogen sind.
Comatula
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 247
Sowohl am ersten als am zwei- |C. solaris.
ten Armglied ein Syzygium, )C. brachiolata.
erste Pinnula am Epizygale |C. rosea.
des ersten Syzygiums. C. purpurea.
mit 10 Armen. c. echinoptera.
C. adeonae.
C. carinata.
Am dritten Armglied ein Sy- |C. europaca.
zygium, Erste Pinnula am/C. phalangium.
C. Eschrichtü.
: Cumingü.
C. Milberti. (?)
C. Jacquinoti. (?)
zweiten Armglied.
C. rotalaria.
C. Wahlbergü.
C. Savignyi.
ehr C. fimbriata.
Arme. ©: Philiberti.
C. Reynaudiüi.
C. parvicirra.
Die Axillaria
der Arme mit ‚€. japonica.
Syzygien.
C. multiradiata.
R Gegen 40 und Ei mslindas
mit mehr als 10 mehr Arme. C. timorensis.
Armen.
C. novae Guineae.
C©. Bennetti.
C. articulata.
Die Axillaria der Arme ohne
Syzygium.
C. palmata.
Jlagellata.
C. elongata.
248 MÜLLER
_
I. Arten mit 10 Armen oder einfacher Theilung der Radien.
Comatula (Actinometra) solaris Lam.
PAsterias pectinata Retz. Diss. p. 34. Spec. 47. Wiegm. Arch. 1843. p. 133.
Comatula solaris Lam.
Actinometra imperialis. Müll. Monatsbericht d. Acad. d. Wiss. 1841. p. 181.
Wiegm. 1841. I, p. 141.
Alecto solaris. Müll. Wiegm. Arch. 1843. I. p. 135.(')
10 Arme. Centralknopf ganz flach, eine pentagonale Scheibe, in
der Mitte sogar ausgehöhlt. Ranken blos am äufsersten Rande, nur in einer
Reihe 14 bis 18 mit 14 bis 20 Gliedern, die so breit als lang sind. Die
mittleren Glieder an den jüngeren Ranken sind länger als breit. Die Basis
der Ranken ist dicker; dann verschmälern sie sich und behalten weiterhin
ihren Durchmesser. 3 sehr niedrige radialia, wovon das dritte radiale
axillare, es scheint dem zweiten durch Nath verbunden. Das erste Arm-
glied scheint ein Syzygium zu haben. Die erste Pinnula am Epizygale, das
folgende Glied ist wieder ein Syzygium. Weiterhin 2 - 5 Glieder zwischen
den Syzygien der Arme. Die Glieder der 10 Arme sind am Rücken flach,
sie bilden von einer Seite zur andern abwechselnde Keile und greifen im
Zickzack in einander, so dafs die dünnern Enden der Keile an den Seiten
nur als Rand zwischen den dicken zum Vorschein kommen. Die Anfänge
der Arme sind dünner als der nächstfolgende Theil ihrer Fortsetzung. Die
erste Pinnula ist die gröfste, die folgende derselben Seite ist auch grofs,
aber schon kleiner. Die dritte ist sehr klein und nun nehmen die folgenden
an Länge zu. An der zweiten Pinnula zeichnen sich die untersten Glieder
durch ihre Erweiterung aus. Die Glieder der Pinnulae sind übrigens seitlich
comprimirt, meist breiter als hoch und haben einen scharfen hintern Rand.
Die Enden der ersten Pinnulae haben hier stark hervorstehende Fortsätze
und bilden dadurch eine Geissel. Die Oberseite der Scheibe ist mit Kalk-
plättchen besetzt, auf denen zuweilen hin und wieder blumenartige Knöt-
(') Ich kannte die Comatula solaris Lam. bisher nur nach der Beschreibung, welche
Hr. Dr. Troschel vor einigen Jahren im Museum zu Paris entwarf und mufste sie danach
für verschieden von der von mir zu Wien beschriebenen Comatula solaris halten, die von
Paris gekommen. Kürzlich habe ich die Originalexemplare von Lamarck in Paris unter-
sucht, wobei ich mich von der Identität derselben mit der von mir beschriebenen Co-
matula überzeugt.
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 249
chen aufsitzen mit mehreren blattartigen Fortsätzen. Farbe im trockenen
Zustande orange, frisch wahrscheinlich purpurroth. Gröfse 2 Fufs. Vater-
land Indien.
Im Museum zu Paris trocken durch Peron. In den Museen zu Wien
und Leyden.
Die Asterias pectinata Retz., von der ich in Wiegm. Archiv 1843
p- 133 nach dem Originalexemplar in Lund ausführlichere Kenntnifs gab,
scheint eine Farbenvarietät dieser Art zu sein, sie stimmt sonst in allen
Beziehungen, wie aus der dort gelieferten Beschreibung hervorgeht, in den
Ranken, in den Syzygien, Stellung und relativer Gröfse der Pinnulae, Ge-
stalt der Arme, Furchen der Scheibe. Die Farbenzeichnung ist aber sehr
eigenthümlich. Auf der Rückseite der Arme sehr regelmäfsig zwei schwarze
Längslinien, die in der Mitte durch eine helle Linie getrennt sind.
Eine von mir ebend. p. 132 als Alecto purpurea bezeichnete und
beschriebene kleine Comatul (5 Zoll), die von Neuholland durch Preifs an
das hiesige zoolog. Museum gelangt, hat auch dieselbe Lage der Syzygien
am ersten und dann wieder am zweiten Armgliede, dieselbe Stellung der
ersten Pinnula, dieselben Gröfsenverhältnisse der ersten Pinnulae. Sie
weicht nur in der Zahl der Radialglieder ab, von denen zwei sichtbar sind,
welche ein Syzygium bilden. Vielleicht Altersverschiedenheit, Jugend-
zustand.
Comatula brachiolata Lam.
Comatula brachiolata Lam.
Alecto brachiolata. Müll. Wiegm. Arch. 1843. I. p. 135.
10 Arme. 15 Ranken des Knopfes, in einer Reihe am Umfang, die
ganze übrige Fläche frei. Rankenglieder 31-36. Jedes der beiden ersten
Glieder über dem radiale axillare hat ein Syzygium, dann liegen 3-6 Glie-
der zwischen den Syzygien der Arme. Die Glieder springen abwechselnd
nach beiden Seiten hin stark vor. Der Rücken der Arme ist glatt. Die
ersten Pinnulae sind die längsten, an ihnen springen die letzten 8 Glieder
spitz vor und bilden eine Art Säge, ähnlich wie bei €. echinoptera. Die
Glieder aller Pinnulae sind stark abgesetzt und rosenkranzförmig. Fundort
unbekannt.
Im Museum zu Paris trocken.
Phys. Kl. 1847. Ti
350 MÜLLER
Diese Art ist der vorhergehenden in allen Beziehungen verwandt
mit Ausnahme der viel gröfseren Zahl der Rankenglieder und der Gestalt
der Pinnulae.
Comatula rosea Mus. Vienn.
Alecto rosea. Müll. Monatsb. Acad. 1841, p. 183. Wiegm. Arch. 1841. p. 143.
10 Arme. Knopf sehr breit ganz flach, am Rande eine Reihe von
18 Ranken mit 32 niedrigen Gliedern, die breiter als lang sind, die ersten
doppelt so breit als lang. Die Basis der Ranken ist conisch und viel breiter
als weiterhin, wo der Durchmesser gleich bleibt. Die Radien haben nur
3 sichtbare Glieder und diese bilden ein Syzygium. Die Armglieder haben
sehr starke abwechselnd vorspringende Ecken. Der Anfang der Arme ist
dünner als weiterhin, wo sie spindelförmig sind und rasch abnehmen. 4-6
Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Das erste Armglied hat ein Sy-
zygium, wie auch mehrentheils das folgende. Die erste Pinnula befindet sich
am Epizygalglied. Die ersten Pinnulae sind nicht ausgezeichnet. Die
gröfste ist die fünfte ihrer Seite, wo die Arme am dicksten. Von da an
nehmen die Pinnulae allmählig ab. Ihre Glieder sind breiter als hoch.
Farbe röthlich. Gröfse 5 Zoll. Fundort Neuholland.
Im Museum zu Berlin durch Preisf, im Museum zu Wien.
Diese Art ist der €. brachiolata Lam. sehr verwandt, wenn nicht
damit identisch ; sie unterscheidet sich davon durch die abweichende Be-
schaffenheit der ersten Pinnulae.
Comatula (Alecto) echinoptera. Nob.
Alecto echinoptera. Müll. Monatsb. Acad. 1841 p. 183. Wiegm. Arch. 1841 p- 143.
40 Arme. Centralknopf flach, mit 20 kurzen Ranken von 11 seitlich
comprimirten Gliedern, der gröfsere mittlere Theil des Knopfes von Ranken
frei. Armglieder am Anfang der Arme schwach dachziegelförmig. Das
erste Syzygium am dritten Armglied, weiterhin 2-5 Glieder zwischen
den Syzygien der Arme. Die erste Pinnula etwas grölser, steht am zweiten
Armglied. Die 7 letzten Glieder der Pinnulae des Anfangs der Arme mit
langem hohen Kiel an der Rückseite, eine Geissel oder Säge bildend. Der
hintere Rand des dritten Gliedes der ersten Pinnula mit starkem Vorsprung.
über die Gattung Comalula Lam. und ihre Arten. 351
Die Scheibe ist mit einzelnen zerstreuten, kleinen harten walzenförmigen
Papillen besetzt. 8 Zoll bis 1 Fufs. Fundort?
Im zool. Museum zu Berlin in Weingeist durch Cap. Wendt.
Comatula tessellata Nob.
Alecto tessellata. Müll. Monatsb. Acad. 1841. p. 184. Wiegm. Arch. 1841. p. 144.
40 Arme. 20-25 Ranken mit 45 Gliedern, die kaum so lang als
breit, die letzten 24 mit Dörnchen. Das unterste der 3 Radialia des Kel-
ches sehr niedrig. Zwischen den Syzygien der Arme 7-10, seltener bis
14 Glieder, die Glieder sehr niedrig, schüsselförmig, dachziegelförmig,
ohne Kiel. Die zweite, dritte, auch wohl vierte äufsere Pinnula sind die
gröfsten. Haut der Scheibe mit kleinen Knochenplättchen bedeckt. Farbe
überall violett. Gröfse 1-14 Fufs. Indien.
Im Museum zu Bamberg durch Schönlein.
Comatula Milleri Nob.
Comatula fimbriata Mill. Crinoid. mit Abbildung, verschieden von €. fimdriata Lam.
10 Arme. Cirren mit 21 Gliedern, zwei niedrige Radialia sind sicht-
bar, das radiale axillare ist dreieckig. Die Scheibe mit Kalkplättchen getäfelt.
Dies ist das einzige, was man von ihr weils. Wenn sie wirklich von der
englischen Küste (Hafen von Milford) ist, wie angegeben wird, so ist sie
jedenfalls von den andern europäischen Arten verschieden. Sie ist seit
Miller nicht wiedergesehen.
Comatula adeonae Lam.
C. adeonae Lam. II. p. 535.
C. adeonae Blainv. Actin. Tab. XXVI.
Alecto adeonae. Müll. in Wiegm. Arch. 1843. I. p. 135.
10 Arme. 20 Ranken am Knopf, aus 20 Gliedern bestehend, deren
vorletztes nach innen einen kleinen Dorn trägt. 3 Glieder der Radien. Diese
so wie die nächstfolgenden Glieder sind breit und bilden zwei scharfe Kanten.
Ueber dem radiale axillare hat das dritte Glied das erste Syzygium. Wei-
terhin 3-5 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Die Pinnulae sind
alle lang. Die ersten 3-4 die längsten. Gröfse 4 Zoll. Fundort Neuholland.
Im Museum zu Paris durch Peron.
1i2
2352 MÜLLER
Comatula (Alecto) carinata Lam.
Alecto carinata Leach. Zool. Misc. II. p. 693.
Comatula carinata Lam. Il. p. 539.
Comatula carinata. Griffith anım. Kingd. Zoophytes Tab. 8.
Alecto carinata. Müll. Wiegm. Arch. 1843 I. p. 135.
10 Arme. Gegen 35 Ranken am Knopf, 24 Glieder der Ranken,
ohne Fortsatz. Die Armglieder sind niedrig, am aboralen Rande breiter
und daher wie dachziegelförmig. Die Dorsalseite der Armglieder ist gekielt,
an der Rückseite des aboralen Randes der Armglieder ein Knötchen. Das
dritte Armglied hat das erste Syzygium. Weiterhin 2-5 Glieder zwi-
schen den Syzygien der Arme. Die erste Pinnula am zweiten Armglied,
die 8-9 ersten Pinnulae der Arme auf jeder Seite sind etwas gröfser, so
zwar, dafs sie von der ersten allmählig zunehmen, gegen die Ste und 9te
Pinnula hin wieder abnehmen. Die Glieder der Pinnulae, besonders am
diekern Theil der Arme, sind kurz, breiter als lang, comprimirt und mit
hinterm in ganzer Länge zugeschärftem Rande versehen. Haut der Scheibe
nackt. Gegen 8 Zoll grofs. Fundort Isle de France.
In den Museen zu Berlin und Paris.
Comatula (Alecto) mediterranea Lam.
Comatula mediterranea Lam. Il. p. 535. Heusinger Zeitschr. für org. Phys. IM.
Tab. 10.511.
Comatula mediterranea Goldf. Petrefact. T. 61. Fig. 1.
10 Arme. Knopf convex niedrig. 30-40 Ranken, welche den Knopf
überall mit Ausnahme der Mitte besetzen. Die Ranken von 18-20 Gliedern.
Die Glieder etwas comprimirt, anderthalb bis doppelt so lang als breit; das
letzte hat aufser dem Haken ein Dörnchen. 3 Radialia. Die Glieder der Arme
stehen abwechselnd an den Seiten etwas vor, die Seiten der Arme daher
leicht wellenförmig. Das erste Syzygium befindet sich am dritten Armglied,
weiterhin 2-4 Glieder zwischen den Syzygien. Die erste Pinnula am zweiten
Armglied ist gröfser als die folgenden. Haut der Scheibe nackt. Farbe
frisch purpurroth zuweilen gelblich, einzelne sind auf der Bauchseite der
Arme um die Furchen weifsgefleckt. Fundort: Mittelmeer.
Im anat. Museum zu Berlin durch J. Müller aus Triest und
Marseille, durch Peters aus Nizza.
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 253
Comatula (Alecto) phalangium Nob.
Alecto phalangium. Müll. Monatsbericht Acad. 1841. p. 182.
40 Arme. Der Centralknopf ist sehr hoch und schmal, fast höher
als breit, das Ende abgerundet. 25-30 Ranken an den Seiten. Die Ran-
ken sind zur Gröfse des Thiers ganz aufserordentlich lang mit 45 langen
dünnen Gliedern. Endglied gestreckt ohne Dörnchen der Innenseite; die
Glieder, mit Ausnahme der ersten (an der Basis), sind 2-24 mal so lang
als breit. 3 Radialia, wovon das erste wenig sichtbar, das dritte axillar.
Armglieder abwechselnd seitlich verschoben, wie bei C. mediterranea. Das
erste Syzygium am dritten Armglied. Weiterhin 2-5 Glieder zwischen den
Syzygien der Arme. Die erste Pinnula am zweiten Armglied. Die ersten
Pinnulae sind sehr lang, dünn, zuletzt fadenförmig. Ihre untersten Glie-
der sind kurz, nicht breiter als lang, weiterhin und gegen das Ende der
Pinnulae sind die Glieder sehr lang und dünn, zuletzt 5-6 mal so lang als
breit. Haut der Scheibe nackt. Gröfse 5-6 Zoll und mehr.
Vaterland : Mittelmeer.
Im anatom. und zool. Museum zu Berlin in Weingeist durch Dr.
Peters von Nizza und aufserdem von Neapel.
Comatula (Alecto) Petasus v. D. et K.
Alecto Petasus von Düben et Koren. K. Vetensk. Akad. Handl. för 1844. p. 229.
abaVL2 BIN T,
40 Arme. Knopf conisch, überall mit Ranken bedeckt, deren gegen
50, diese etwas comprimirt mit 11-17 Gliedern, die nicht länger als breit.
Zwischen den Syzygien der Arme meist 4 Glieder. Die erste Pinnula sehr
lang, mehr als doppelt so lang als die dritte. Farbe variirt von Braunroth,
Hochroth zum Gelben. Fundort: Bohuslän.
Diese Art habe ich wohl in Schweden gesehen, aber damals nicht von
C. mediterranea unterschieden. Sie wäre noch mit C. Milleri von Milford’s
haven zu vergleichen.
954 Müruer
Comatula (Alecio) Sarsiiv. D. et K.
Alecto Sarsii von Düben et Koren. K. Vetensk. Acad. Handl. 1844 p. 231. Tab. VI. Fig. 2.
Comatula mediterranea? Sars Beskriv. og Jagtagels. p. 40. Tab. 8. Fig. 19 a-g.
10 Arme. Knopf conisch, dieht mit Ranken besetzt, deren gegen
40 sind. Sie sind sehr dünn, die längsten mit 20 Gliedern, die kürzeren
mit 13-16 Gliedern, von denen die untersten (wie gewöhnlich) kurz, das
das dritte bedeutend länger, das vierte bis sechste die längsten, ungefähr 3
mal so lang als breit sind, worauf die folgenden an Länge abnehmen, so
dafs die letzten wenig länger als breit sind. Das Endglied mit einem Dorn
aufser dem Haken. 3-5 meist 4 Glieder zwischen den Syzygien der Arme.
Die 4-5 untersten Pinnulae sind fadenförmig und lang, und bestehen aus
20 Gliedern, die folgenden nur halb so lang aus nur 8-10 Gliedern; dann
nehmen sie wieder an Länge zu, so dafs die Pinnulae an den Enden der
Arme gegen 15-16 Glieder haben. Den Durchmesser der Scheibe geben
v. Düben und Koren zu 6 Millim., die Länge der Arme ungefähr zu
40-50 Millim., die Länge der Ranken zu 7-8 Millim. an. Das von Sars
abgebildete Exemplar war etwas gröfser, so wie auch dasjenige, welches
ich von Hrn. Sars geschickt erhalten. Farbe licht-graubraun. Fundort:
Norwegen.
Im Museum zu Berlin durch Sars.
Comatula (Alecto) Eschrichtü Nob.
Alecto Eschrichti. Müll. Monatsb. Acad. 1841. p. 183. Wiegm. Arch. 1841. p. 142.
10 Arme. Centralknopf halbkugelförmig, überall mit Ranken besetzt,
100 Ranken von 45-50 Gliedern, welche am mittlern Theil der Ranken
gegen 2 mal so lang als breit, gegen das Ende nicht länger als breit sind.
Radienglieder des Kelches sehr niedrig, mehrmal breiter als hoch, nur 2
Glieder sind aufsen sichtbar, wovon das zweite axillar. Das erste Syzygium
am dritten Armglied, weiterhin 2-3, selten 4 Glieder zwischen den Syzy-
gien der Arme. Glieder der Arme keilförmig in einander greifend, gegen
das Ende der Arme sehr niedrig. Die erste Pinnula am zweiten Armgliede.
Die Pinnulae am dicken Theil der Arme mit breiten comprimirten Gliedern
und hinterm scharfen Rande. Weiterhin haben die Pinnulae nur ihre
beiden untersten Glieder so breit, die übrigen rundlich. Die ersten Pin-
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 255
nulae sind kleiner, sie nehmen allmählig an Länge zu. Haut der Scheibe
nackt. Farbe hell. Gröfse 2 Fufs und mehr. Vaterland: Grönland,
Im anatom. und zoolog. Museum zu Berlin in Weingeist durch
Eschricht, auch im Museum zu Paris.
Comatula (Alecto) Milberti N alenc.
Comatula (Alecto) Milberi Müll. Monatsber. d. Acad. 1846. p. 178.
10 Arme. Knopf convex. 25-30 Cirren mit 35 Gliedern, von der
Hälfte an mit einem Dorn in der Mitte der Glieder, der quer absteht. Das
unterste der 3 Radialia ist äufserst niedrig. Die Glieder der Arme sind
niedrig. 8-9 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Die zweite, dritte
und vierte Pinnula sind die gröfsten. Bauchseite der Scheibe weich. Farbe
schwarzbraun. Gröfse gegen 2 Fufs. Fundort: Nordamerika.
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Milbert von New-York.
Comatula Jacquinoti N al.
Comatula Jacquinoti Müll. Monatsber. d. Acad. 1846. p. 178.
10 Arme. Der Knopf ist ziemlich convex und scheint ganz mit Cirren
besetzt zu sein. Cirren 22. Diese haben 35 Glieder, nach dem Ende der
Cirren oder viel früher entwickelt sich an den Gliedern ein Dornfortsatz,
und zwar am vordern Theil des Gliedes, er ist vorwärts gerichtet. Die
Cirrenglieder sind breiter als lang. 3 Radialia sind sichtbar, das unterste
sehr niedrig. Die Armglieder niedrig. 3-6 Glieder zwischen den Syzygien
der Arme. Die 3-4 ersten Pinnulae sind stärker. Farbe schwarzbraun.
Gröfse ausgebreitet gegen 2 Fufs. Fundort: Ceram.
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Jacquinot, Expedition de
la Zelee.
Comatula Cumingü Nob.
10 Arme. Knopf platt. Cirren nur in einer Reihe am Rande, 12.
Zahl der Glieder? 3 Radialia. Das erste Syzygium am dritten Gliede über
der Theilung, 6 Glieder bis zum nächsten Syzygium; dann meist 3 Glieder
zwischen den Syzygien. Die ersten Pinnulae sind lang. Farbe gelbbraun.
Gröfse: einige Zoll grofs. Fundort: Malacca.
Im Museum zu Berlin durch Cuming.
256 Müurser
- N. Arten mit mehrfacher Theilung der Radien.
Comatula (Actinometra) rotalarıa Lam.
Comatula rotalaria Lam. II, p. 534.
Alecto rotalaria. Müll. Wiegm. Arch. 1843. p. 136.
20-22 Arme. Knopf ein Pentagon. Ranken? Die Radien bestehen
aus 2 durch Syzygie verbundenen Gliedern. Auf diese folgen unmittelbar
wieder Axillaria, die wieder mit Syzygie versehen sind. Dann folgt nur
noch selten weitere Verästelung, also 20 Arme die Grundzahl. Nun liegen
3-5 Glieder zwischen den Syzygien der Arme, meist aber 4. Die Arme
sind stark und haben ziemlich gerade Seitenlinien. Die ersten Pinnulae sind
lang, die übrigen nehmen bis ans Ende der Arme nur wenig an Gröfse ab.
Auf der Bauchseite der Scheibe bei trocknen Individuen rundliche Kalk-
körner. Gröfse 10 Zoll. Australien.
Im Museum zu Paris trocken.
Comatula (Actinometra) VWahlbergü Nob.
Alecto Wahlbergi. Müll. in Wiegm. Archiv. 1843. I. p. 131.
20 Arme. Knopf ganz flach, selbst ausgehöhlt, Ranken am Umfang
24 mit gegen 17 Gliedern. Von der Hälfte der Länge der Ranken an haben
ihre Glieder innen ein Dörnchen. Die untersten Rankenglieder sind dicker
und breiter als lang, die weiteren länger als breit, noch weiterhin bis ans
Ende so lang wie breit. Radialglieder sind nur 2 sichtbar. Nach der Thei-
lung 3 Glieder bis zur zweiten Theilung, wovon das zweite aufsen eine
Pinnula, das dritte ein Syzygium hat. 3-5 Glieder zwischen den Syzygien
der Arme. Die Armglieder sind niedrig. Die erste Pinnula ist gröfser als
die zweite, diese gröfser als die dritte. Am Anfang der Arme sind die letz-
ten Glieder der Pinnulae mit einem hohen vorspringenden Kiel versehen.
Farbe gelbgrün. Gröfse 5-6 Zoll. Fundort: Port Natal.
Im Museum der Acad. d. Wiss. zu Stockholm durch Wahlberg.
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 257
Comatula (Alecto) Saeignü Nob.
Description de l’Egypte. Echinodermes pl. 1. fig. 1.
Alecto Savignü. Müll. Monatsbericht Acad. 1841. p. 185. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 144.
20 Arme. Knopf mit 30 Ranken, von 24-29 Gliedern, wovon die
12-14 letzten einen Fortsatz an der innern Seite besitzen. Drei Radialia
des Kelchs. Das radiale axillare ohne Syzygium. Von da bis zur nächsten
Theilung 3 Glieder, wovon das dritte axillar und ein Syzygium besitzt. An
der nächsten Theilung hat das Axillare kein Syzygium. An den Armen 3-8
Glieder zwischen den Syzygien. Das zweite Glied über dem radiale
axillare kann sich auf dem ersten Armglied seitlich d. h. von einer zur an-
dern Seite wiegen. Die Armglieder sind ohne Rauhigkeiten. Die erste
Pinnula steht am zweiten Glied aufsen, sowohl nach der ersten als zweiten
Theilung, die zweite und dritte Pinnula sind die gröfsten, zuweilen ist auch
noch die vierte grofs. Die erste Pinnula ist anfangs dick, nimmt aber schnell
ab und ist nicht so lang als die zweite. Die Haut der Scheibe ist weich.
Farbe in Weingeist gelblich braun. Gröfse bis 1 Fufs.
Vaterland: rothes Meer.
Im zoolog. Museum zu Berlin in Weingeist durch Hemprich und
Ehrenberg.
Comatula elongata Mus. Leyd.
Alecto elongata. Müll. Monatsb. Acad. 1841. p. 187. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 146.
20 Arme. 15-20 Ranken mit 23-25 Gliedern; die letzten 15-17
Glieder tragen nach innen einen spornartigen spitzen Haken, auch das letzte
Glied noch aufser der Kralle. Die Axillaria ohne Syzygium. Zwischen 2
Axillaria liegt immer nur ein Glied. Ueber dem letzten Axillare hat das
dritte Glied ein Syzygium, weiterhin zwischen den Syzygien 5-11 Glieder.
Die Pinnulae nehmen zuerst an Länge zu, so dafs die dritte die längste ist.
Dann nehmen sie allmählig wieder ab. Ihre Glieder sind rund und glatt.
Farbe dunkel. Gröfse 8 Zoll. Fundort: Neuguinea.
Im Museum zu Leyden durch Salomon Müller.
Comatula trichoptera N al.
Comatula trichoptera. Müll. Monatsber. d. Acad. 1846. p. 178.
20 Arme. Der Knopf der kleinen Comatul ist verhältnifsmäfsig grols,
flach und selbst etwas concav. Die 30 Cirren zeichnen sich durch ihre
Phys. Kl. 1847. Kk
258 Mürser
Feinheit aus, und stehen am Rande, sie haben 15 Glieder, diese sind com-
primirt, nur die äufsersten haben eine Spur von Knötchen. Der Dorn fehlt
meist am Hackenglied, Die ersten Pinnulae sind grofs. Die Farbe ist gelb.
Gröfse wenn ausgebreitet 6 Zoll. Fundort: König Georges Hafen. Neuholland.
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Quoy und Gaimard.
Comatula (Alecto) fimbriata Nob.
Comatula fimbriata Lam. zum Theil.
20 Arme. Der Knopf ist in der Mitte frei, flach, aufsen stehen 15
Cirren mit 22 Gliedern, welche gegen das Ende allmählig ein Knötchen
entwickeln. 3 Radialia, das rad. axillare ohne Syzygium, darauf bis zur
nächsten Theilung wieder 3 Glieder, aber das dritte oder axillare hat ein
Syzygium, also wie bei C. Savignü, aber die Stellung der Pinnulae ist ganz
verschieden. Die erste Pinnula steht zwar am zweiten Gliede der 10 Arm-
stämme, nach der nächsten Theilung aber steht die erste Pinnula ganz unge-
wöhnlich am ersten Glied der 20 Arme, und das zweite Glied hat ein Syzy-
gium. Weiterhin 5-9 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Die
Glieder haben einen sehr rauhen aboralen Rand, selbst an den Syzygien.
Die erste Pinnula ist die gröfste. Die Bauchseite der Scheibe ist weich mit
seltnen zerstreuten Knötchen. Farbe gelb. Gröfse gegen 8 Zoll. Fundort:
Trinquemale, Ceylon.
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Reynaud. 1829. Diese
Comatul von 20 Armen findet sich auch trocken im Museum zu Paris mit
der Bezeichnung Comatula multiradiata Lam. du voyage de Peron.
Comatula macronema \al.
Comatula macronema. Müll. Monatsber. d. Acad. 1846. p. 179.
Kleine Comatul von 13-15 Armen, rundlichem Knopf mit 30 und
mehr äufserst langen Cirren von 60-70 Gliedern, die gegen das Ende der
Cirren ein Knötchen entwickeln. Aus den 5 Armstämmen von 3 Radial-
gliedern entwickeln sich meist 3 Arme, so dafs sich ein Stamm zuerst in
einen dicken und dünnen theilt, der dickere aber über dem zweiten Glied
oder drachiale axillare sich wieder in 2 Arme theilt. Meist 3 Glieder zwi-
schen den Syzygien der Arme. Die Armglieder sind anfangs rundlich,
werden aber bald comprimirt und sehr stark gekielt, ihre Gräthe entwickelt
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 259
sich gegen den aboralen Rand in einen aboral gerichteten Dorn. Die erste
äufsere Pinnula ist klein, die folgenden sind grofs und nehmen erst allmählig
ab. Farbe schmutzig röthlich. Gröfse gegen 6 Zoll. Fundort: König
Georges Hafen.
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Quoy und Gaimard
(1829).
Comatula (Alecto) heynaudü Nal.
Comatula (Alecto) Reynaudi. Müll. Monatsber. d. Acad 1846. p. 178.
20 Arme. Knopf flach. Cirren gegen 20 am Rande, mit 40 Glie-
dern, die allmählig nach innen ein Knötchen entwickeln. 3 Radialia, das
dritte axillare ist ein Doppelglied mit Syzygium. An den Armen meist 7
Glieder zwischen den Syzygien. Die zweite und dritte Pinnula sind länger.
Die Bauchseite der Scheibe ist weich. Gröfse gegen 8 Zoll. Fundort:
Ceylon.
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Reynaud, Expedition der
Chevrette.
Comatula Philiberti N al.
25 Arme. Knopf in der Mitte flach. Cirren im Umkreis, mit 45
Gliedern, die nicht länger als breit sind und wovon die mehrsten ein Knöt-
chen haben, mit Ausnahme der unteren. 3 Radialia, die unteren sehr niedrig.
Das radiale axillare ist ohne Syzygium. Von den Radien bis zur nächsten
Theilung 3 Glieder, das zweite wiegt seitlich auf dem ersten, das dritte
oder brachiale axillare hat ein Syzygium. Die 20 Secundärarme haben das
zweite Glied wieder wiegend. Einige dieser Arme theilen sich nochmal über
dem dritten Glied, welches dann axillar und wieder ein Syzygium besitzt.
Auch wiegt das zweite Glied über der Theilung abermals. Die Armglieder
werden bald sehr niedrig. Die zwei ersten Pinnulae sind noch klein, die
zwei folgenden grofs, dann kleinere. Farbe scheint röthlich gewesen zu
sein. Gröfse gegen 8 Zoll. Fundort: Java.
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Philibert.
Unterscheidet sich von €. Savignü nur durch die grofse Zahl der
Cirrenglieder und die unregelmäfsige Theilung der Arme.
Kk2
360 MÜLLER
Comatula (Alecto) pareicirra Nob.
Alecto parvieirra. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841 p. 185. Wiegm. Arch. 1841. p. 145.
27 Arme, 20 und mehr Ranken, sehr dünn und kurz, mit 12 Glie-
dern, das dritte Radiale des Kelches ist axillar, ohne Syzygium, dann ist
jedes dritte Glied ein Syzygium und zugleich axillar, dann wieder jedes
dritte Glied ein Syzygium und zuweilen axillar. Nun ist das sechste oder
siebente Glied ein Syzygium. Weiterhin 2-4 Glieder zwischen den Syzy-
gien der Arme. Pinnulae ziemlich gleichförmig. Gröfse 6 Zoll. Fundort?
Im Museum zu Paris.
Bei einer wahrscheinlich hierher gehörenden Comatul mit 35 Armen
von Vavao durch Jacquinot, die ich kürzlich in Paris beobachtete, ist der
Knopf sehr klein im Verhältnifs zur Dicke der Armstämme, weil nicht blos
das erste sondern auch das zweite Radiale sich an das gleiche des nächsten
Armstammes anlegt. Auch das erste Glied über der Theilung der Arm-
stämme legt sich an das gleichnamige seines Nachbars an und gewinnt dadurch
an Breite. Der Knopf ist abgeplattet und die dünnen Cirren nur am Rande,
wenig zahlreich. 3 Radialien. Das dritte Glied der Arme nach der ersten
Theilung der Armstämme ist axillar und hat ein Syzygium, nach der zweiten
Theilung wieder 3 Glieder bis zur nächsten Theilung, das dritte axillar mit
Syzygium. Die Armglieder sind glatt und ihre aboralen Ränder stehen
schuppenartig vor. Die erste Pinnula am zweiten Glied der Arme, die
zweite am zweiten der Secundärarme. Die erste oder ersten Pinnulae lang,
die zweite oder eine der folgenden sehr klein, dann nehmen sie zu. Scheibe
glatt. Farbe gelb. Gröfse 8 Zoll.
Comatula japonica Mus. Leyd.
Alecto japonica. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841. p. 186. Wiegm. Arch. 1841. p. 145.
27 Arme. Knopf höchstens 2” breit. 50 Ranken mit 20 Gliedern,
sie sind gegen das Ende etwas comprimirt und werden dort breiter. Das
radiale axillare liegt ganz tief unter den Ranken, wie wenn es das einzige
Glied des Radius wäre. Dann ist, so lange die Theilung dauert, jedes dritte
Glied ein axillare und hat ein Syzygium. Die ersten Glieder zweier Arme
sind noch quer verwachsen. An den Armen 8-9 Glieder zwischen den Sy-
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 261
zygien. Die zwei ersten Pinnulae sind gröfser, dann nehmen sie ab. Farbe
braun. Fundort: Japan.
Im Museum zu Leyden durch v. Siebold.
Comatula (Alecto) palmata. Nob.
?Caput medusae einereum. Linck Tab. XXII. No. 33.
Alecto palmata. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841. p. 185. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 144.
35-45 Arme. Centralknopf flach, 24 mal so breit als hoch, in der
Mitte flach ausgehöhlt. 25-30 Ranken im Umfang, in mehreren Reihen
mit 20-24 Gliedern, die wenig länger als breit sind. Die letzten 10 Glieder
mit einem Dörnchen. Das erste der 3 Radialia ist wenig sichtbar und sehr
niedrig. Die 10 Primärarme bestehen aus 2 Gliedern, das zweite axillar.
Nach der Theilung wieder 2 Glieder, das zweite axillar. Entweder bleibt
es dabei oder die Arme theilen sich wieder. Alle Axillaria ohne Syzygium.
Alle awillaria brachialia sind so mit dem unter ihnen liegenden Glied ver-
bunden, dafs sie sich nach rechts und links wiegen können. Glieder der
Arme cylindrisch, nicht keilförmig. An den letzten Armen 5-11 Glie-
der zwischen den Syzygien. Die Pinnulae fehlen, so lange zwischen den
Theilungen nur 2 Glieder liegen. Die ersten Pinnulae sind gröfser, von
diesen ist die zweite derselben Seite viel gröfser, dieser folgt die dritte,
dann nehmen sie rasch ab. Die Haut der Scheibe ist ohne Tafeln und im
nassen Zustande weich, getrocknet fühlt sie sich mit der Nadel rauh an.
Die Afterröhre ist lang und schmal und steht nahe dem centralen Mund.
Gröfse gegen 1 Fuls. Die Farbe ist schwarzbraun. Vaterland: Indischer
Ocean, rothes Meer.
Im anatomischen Museum zu Berlin in Weingeist durch Eschricht,
im zoologischen in Weingeist durch Hemprich und Ehrenberg, im
Museum zu Paris in Weingeist durch Botta, ferner durch Hombron von
Sambuangam (Astrolabe).
Comatula (Alecto) multiradiata Nob.
Asterias multiradiata. Retz. Diss. P- 38. spec. 48.
Müll. in Wiegm. Arch. 1843. I, p. 133.
40-50 Arme. Knopf flach, in der Mitte der Fläche desselben eine
Vertiefung. Ranken am Umfang des Knopfes 24 mit 24-30 Gliedern, diese
262 MüLLER
nicht länger als breit, an jüngeren Gliedern einige Glieder länger als breit,
an älteren Ranken sind die Glieder oft breiter als lang. Mit Ausnahme der
untern haben die Glieder der Cirren ein Knötchen an der innern Seite,
welches gegen das Ende der Cirren länger wird. Radialia niedrig, nur 2
sichtbar, darauf folgen 3 Glieder der Arme bis zur Theilung, das dritte
axillar, aber dieses hat ein Syzygium, dann 2 Glieder bis zur nächsten Thei-
lung, das zweite axillar, welches wieder ein Syzygium hat. Zwischen den
Syzygien der Arme 7-14 Glieder. Die Glieder der Arme sind niedrig und
am vordern d. h. aboralen Rande wie ciliirt von feinen mit der Loupe zu
sehenden Spitzen. Die erste Pinnula am zweiten Glied der 10 Primärarme,
nach der nächsten Theilung steht die erste Pinnula am ersten Glied über
dem Axillare, nach der nächsten Theilung die erste Pinnula wieder am ersten
Glied. Die ersten Pinnulae am Anfang der Arme sind grofs. Die Glieder
der Pinnulae sind kurz. Auf der Scheibe viele stumpfe kurze Knochen-
tuberkeln, wie der Knopf einer dünnen Stecknadel. Mund excentrisch,
aber an Weingeistexemplaren ergiebt sich, dafs die 5 zum Munde führenden
Furchen sich ganz symmetrisch für die 5 Gruppen der Arme vertheilen.
Fundort: Molukken.
Im Museum zu Lund trocken, auch im Museum zu Paris trocken
und in Weingeist durch Peron, Quoy und Gaimard.
Comatula multifida Nob.
Comatula multiradiata Lam.
Alecto multifida. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841. p. 188. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 144.
40-44 Arme, 20 Ranken und mehr, von 16 Gliedern mit Knötchen
innen an den 8 letzten Gliedern. 3 Radialia, wovon das dritte axillar,
ohne Syzygium; dann ist wieder das dritte Glied axillar, es bildet ein
Syzygium, nun ist jedesmal das zweite Glied, so lange die Theilung
dauert, axillar, aber ohne Syzygium; weiterhin 3 Glieder zwischen den
Syzygien. Die Armglieder springen in eine scharfe Kante vor. Die ersten
Pinnulae sind die gröfsten. Die erste Pinnula am zweiten Armglied. Zwi-
schen den 5 Kelcharmen liegen viele Plattenstücke, welche die Arme noch
bis zur zweiten Theilung verbinden. Fundort?
Im Museum zu Paris durch Peron.,
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 263
Comatula timorensis Mus. Leyd.
Alecto timorensis. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841. p. 186. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 145.
36-40 Arme. Centralknopf sehr klein, wenig über eine Linie im
Durchmesser. Ranken 16 mit 14 Gliedern, von diesen sind einige, gegen
den Grund zu, länger als die übrigen, an ihren beiden Enden dicker. Das
dritte Radiale des Kelchs ist axillar ohne Syzygium. Ferner ist jedes dritte
Glied, so lange die Theilung dauert, ein Axillare und hat ein Syzygium.
Weiterhin liegen meist 3 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Die
erste Pinnula unter dem ersten awillare brachiale, ist dreimal so lang als die
zweite derselben Seite, von da sind sie ziemlich gleich. Farbe braun.
Gröfse 8 Zoll. Von Timor durch Boie und Salomon Müller.
Comatula flagellata Mus. Leyd.
Alecto flagellata. M. Monatsber. d. Acad. 1841. p. 186. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 145.
38 Arme, 35 lange dicke Ranken mit 30 niedrigen Gliedern, wovon
das letzte aufser der Kralle nach innen noch einen krallenartigen Fortsatz
hat. Die Axillaria sind sehr niedrig, ohne Syzygium. Zwischen den Syzy-
gien der Arme 10-11 Glieder, abwechselnd von rechts und links keilförmig.
Die Pinnulae nehmen von der ersten zur dritten derselben Seite an Gröfse
zu, und diese drei ersten sind sehr lang, die übrigen nehmen allmählig ab.
Gröfse 1 Fufs. Fundort unbekannt.
Im Museum zu Leyden aus der Sammlung von Brugmans.
Diese Art ist der Comatula palmata verwandt und unterscheidet sich
davon durch die Gestalt der Armglieder.
Comatula (Alecto) articulata N al.
Der flagellata und palmata verwandt scheint eine von Quoy und
Gaimard von den Molukken gebrachte Comatul im Museum zu Paris, die
ich neulich dort untersuchte.
40 Arme, sehr regelmäfsig getheilt. 20-30 Cirren mit 36-40 Glie-
dern, die Scheibe des Knopfes mit Ausnahme der Mitte besetzend. Zwei
Dritttheile der Glieder der Cirren haben ein Dörnchen. 3 Radialia; dann
2 Glieder bis zur Theilung, hierauf wieder 2 Glieder bis zur nächsten Thei-
264 MÜLLER
lung. Die Axillaria ohne Syzygium, sie wiegen auf den vorhergehenden
Gliedern von rechts nach links und umgekehrt. Das erste Syzygium liegt
am dritten Glied nach der letzten Theilung, 12-20 Glieder zwischen den
Syzygien der Arme. Die erste Pinnula am zweiten Glied nach der letzten
Theilung, die erste Pinnula ist kleiner, die 2-3 folgenden grofs, dann klei-
nere, ihre Glieder cylindrisch, nicht erweitert. Farbe graubraun. Gröfse
8-10 Zoll.
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Quoy und Gaimard
(Capt. d’Urville).
Comatula nocae Guineae Mus. Leyd.
Alecto novae Guineae. Müll. Monatsber. d. Acad. 1841. p. 186. Wiegm. Arch. 1841.
I. p. 146.
56 Arme, 15 Ranken und mehr an dem kleinen Centralknopf. Das
dritte Radiale ist axillar, die ersten 10 Arme haben 3 Glieder bis zum näch-
sten Axillare. Zwischen den folgenden Axillaria der Arme, die sich 4-5
mal theilen, immer nur ein Glied. Kein Axillare hat ein Syzygium. An
den Armen 2 Glieder zwischen den Syzygien. Die ersten beiden Pin-
nulae sehr lang, die übrigen werden kürzer, an jedem Gliede der Pinnulae
befinden sich einige Stachelchen. Farbe braun. Gröfse 8 Zoll.
Im Museum zu Leyden durch Salomon Müller.
Comatula Bennetti Mus. Leyd.
Alecto Bennetti. Müll. Monatsber. d. Acad. 1841. p. 187. Wiegm. Arch. 1841. TI. p. 146.
Ueber 70 Arme, gegen 50 Ranken mit 23 Gliedern, etwas plattge-
drückt. Die Arme bis zur dritten Theilung durch die Haut der Scheibe
verbunden. Jedes vierte Glied ist ein Axillare ohne Syzygium. Jedes Glie-
des äufserer Rand springt vor und ist mit ganz kleinen Stachelchen gewimpert.
3-4 Glieder zwischen den Syzygien der Arme; die erste Pinnula ist 14 Zoll
lang, die zweite wenig kürzer, die dritte und die folgenden höchstens 4 Zoll.
Die Glieder am Ende der Pinnulae springen nach innen kammartig vor und
tragen kleine Krallen. Farbe braun, oben heller. Gröfse 1 Fufs. Fundort
unbekannt.
Im Museum zu Leyden durch Bennett.
über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 265
Die von Goldfufs Petrefact. I. Tab. 61 Fig. 2 abgebildete Comatula
multiradiata bin ich nicht im Stande mit Sicherheit zu bestimmen. Wenn
die Abbildung der Glieder an den Theilungen der Arme richtig ist und Sy-
zygien nicht übersehen sind, so wäre diese Art mit Comatula Bennetti sowohl
in der grofsen Zahl der Arme, als in der Beschaffenheit uud Zahl der Glie-
der an den sich theilenden Armen, auch in der Zahl der Cirrenglieder über-
einstimmend. Das von Goldfufs zerlegte Exemplar findet sich in der
Sammlung in Bonn nicht mehr vor; ein anderes vollständiges Exemplar einer
sogenannten Comatula multiradiata in Weingeist daselbst hat nicht so viel
Arme und stimmt auch durch den Besitz der Syzygien an den Axillaria der
Arme mit Comatula multiradiata Betz. An diesem Weingeistexemplar
haben die Cirren gegen 23 Glieder. Alle Axillaria der Arme haben Syzy-
gien, weiterhin an den Armen gegen 5 Glieder zwischen den Syzygien. Die
2 ersten Pinnulae sehr lang, die folgenden etwas kürzer, dann kurze. Maul
excentrisch, 5 Furchen der Scheibe sammeln die Furchen der respectiven
Arme und kommen am Mund zusammen.
Phys. Kl. 1847. 18)
Bemerkung über die Fufsknochen des fossilen
Gürtelthiers, Glyptodon clavipes Ow.
ger
H" MULLER.
mn
[Gelesen in der Sitzung der physik. Klasse der Akademie am 8. Juni 1846.]
I. Königlichen mineralogischen Museum befinden sich die von Hrn. Sello
eingesandten Knochen des Panzers und der Extremitäten des gigantischen
fossilen Gürtelthiers der Banda oriental. Die Panzerknochen sind von
Hrn. Weifs in den Abhandlungen der Academie a. d. J. 1827, die Kno-
chenreste der Extremitäten von Hrn. d’Alton in den Abhandlungen der
Acad.a.d.J. 1833 beschrieben und abgebildet. In der letzten Abhandlung
ist von Hrn. d’Alton bewiesen, dafs der Panzer nicht dem Megatherium
angehört, vielmehr die von Sello entdeckten Knochenreste der Extremi-
täten und der Panzer zu demselben Thiere gehören. Hr. Owen hat in den
Transact. geol. soc. Vol. VI. p. 1. London 1841 p. 81 bei Beschreibung von
Knochenresten desselben Thiers die Zähne desselben kennen gelehrt, wo-
"durch seine Uebereinstimmung mit den Gürtelthieren noch klarer hervor-
getreten ist. Er hat dasselbe Glyptodon clavipes genannt. Doch hat es
in Deutschland schon früher einen Gattungsnamen erhalten, indem Hr.
Bronn in der Lethaea geogn. 2. Auflage II. B. Stuttg. 1838. p. 1258 vor-
schlug, es, sofern keine Panzerreste dazu gehören, Orycterotherium zu nen-
nen, sonst aber ihm den Namen C’hlamydotherium zu geben. Die Gattung
Chlamydotherium Bronn und Glyptodon Owen sind daher identisch.
Die Zusammensetzung der hier aufbewahrten Fufsknochen war früher
nicht ausgeführt, das Sprungbein war nämlich unvollständig, seine Reste
bestanden aus Stücken, wovon das eine, die Hälfte der Rolle zit einem
Unterschenkelknochen, das zweite mit dem Fersenbein, das dritte mit dem
Schiffbein zusammenhing. Hr. Beyrich hatte die Herstellung des Sprung-
MöÜLLer: Bemerkung über die Fu/sknochen u. s. w. 267
beins durch glückliche Lösung der Fragmente und dadurch die Zusammen-
setzung des Fufses möglich gemacht. Das Sprungbein wurde nach der
Abbildung Owen’s ergänzt. Die hiesigen und die englischen Fragmente
ergänzen einander, die Fulswurzel ist in den hiesigen vollständiger, dagegen
fehlen die Endglieder der Zehen. Denn was davon vorhanden ist, rührt
offenbar von einem andern Thiere her, da es theils nicht auf die übrigen
Zehenglieder past, theils in Betracht der von Owen abgebildeten Endglieder
der Zehen viel zu klein ist. Der von Hrn. d’Alton als das untere Ende der
Tibia angesehene Knochen stellt sich als das Ende der Fibula heraus, wie
Sello richtig angegeben. Auch in Owen’s Abbildung ist das als Tibia ange-
sehene und auf den äufsern Theil der Rolle des Sprungbeins aufgesetzte
Knochenstück entweder nicht die Tibia, oder steht nicht auf seiner rechten
Stelle. Bei diesem Thiere articulirte, ganz wie bei Dasypus gymnurus die
Tibia auf dem innern, die Fibula auf dem äufsern Theile der Rolle des
Astragalus. Bei D. gymnurus verwachsen die Epiphysen der Tibia und Fibula
zu einem einzigen Stück, während sie von ihren respectiven Diaphysen
getrennt sind. Ganz ebenso war es bei dem fossilen Gürtelthier. Der Rest
von Epiphyse am unteren Ende der Fibula der Selloschen Fragmente ist die
ganze Epiphyse der Fibula zugleich mit einem kleinen Theil der Epiphyse
der Tibia.
Erklärung der Abbildungen.
Tafel I.
Die Fufsknochen von Glyptodon clavipes Ow. von oben angesehen.
a. Sprungbein. a’ Ergänzter Theil desselben.
db. Fersenbein.
c. Schiffbein.
g. d. e. Keilbeine.
f. Würfelbein.
h. i. k. l. Mittelfulsknochen.
m. n. o. p. Erstes Glied der vier Zehen.
g. r.s. Zweites Glied.
Tafel II.
Dieselben mit dem untersten Theil des Unterschenkels.
Bezeichnung dieselbe. A. Ende der Fibula.
A’ Gemeinschaftliche Epiphyse der Fibula und 'Tibia.
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Passatstaub und Blutregen.
Ein grolses organisches unsichtbares Wirken und Leben
in der Atmosphäre.
Von
H”" EHRENBERG.
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Ueber einen die ganze Luft längere Zeit trübenden Staubregen
im hohen atlantischen Ocean in 17° 43 N.B. 26° W.L. und dessen
Mischung aus zahlreichen Kieselthieren. (!)
H Darwin, der bekannte verdienstvolle englische Reisende und
Schriftsteller über die Corallenriffe, erzählt in seinem Reiseberichte, dafs
auf den Capverdischen Inseln und auch im hohen Meere jener Gegend bei
seiner Anwesenheit daselbst beständig ein feiner Staub aus der Luft gefallen
sei und auch die Schiffe, welche 380 Seemeilen vom Lande entfernt waren,
wurden, seinen brieflichen Mittheilungen zufolge, davon betroffen. Der
Wind wehte damals von der afrikanischen Küste her. Von dem Staube
aus der hohen See, welcher in so grofser Entfernung vom Lande auf das
Schiff niederfiel, hat Herr Darwin eine Probe meiner mikroskopischen Prü-
fung übergeben. Es wurde bisher dieser dort häufige Staub, seiner gelbrothen
Farbe halber, allgemein für eine vulkanische Asche gehalten. Die mikro-
skopische Analyse hat zur Klarheit ergeben, dafs ein namhafter Theil,
vielleicht — der Masse, aus sehr verschiedenen kieselschaligen Polygastrieis
und kieselerdigen bekannten terrestrischen Pflanzentheilen besteht, wie folgt:
A. Kieselschalige Polygastrica:
1. Campylodiscus Clypeus. 4. Gallionella crenata.
2. Eunotia amphioxys. D- —— distans.
3: _ gibberula. 6. — granulata.
(') Vorgetragen am 23. Mai 1844. S. d. Monatsber. p. 194.
2370 EHRENBERG:
7. Gallionella marchica. 13. Navicula lineolata.
6) — procera. 14. — Semen.
9. Gomphonema rotundatum. 15. Pinnularia borealis.
10. Himantidium Arcus. 16. —< gibba.
11. — Papilio. 17. Surirella (peruana?).
12. Navicula affinis. 18. Synedra Ulna.
B. Kieselerdige Phytolitharia.
19. Amphidiscus Clavus. 29. Lithostylidium Ossiculum.
20. Lithodontium Bursa. 3. —_ quadratum.
21. — curvatum. 31. — rude.
2a — Jurcatum. 32. _ Serra.
23. _ nasutum. 33. _ spiriferum.
24. - iruncalum. 34. Spongolithis acicularis.
25. Lithostylidium amphiodon. 33. = aspera.
26. _ clavatum. 36. _ mesogongyla.
27. _ cornutum. 37. — obtusa.
38. _ laeve.
Die in diesem Verzeichnifs enthaltenen meist bekannten und meist
europäischen Formen beweisen:
1. dafs jeder meteorische Staubregen terrestrischen Ursprungs war;
2. dafs derselbe kein vulcanischer Aschenregen war;
3. dafs er nothwendig ein von einer ungewöhnlichen starken Luftströ-
mung oder einem Wirbelwinde bis in grofse Höhe gehobner Staub aus einer
ausgetrockneten Sumpfgegend war;
4. dafs der Staub nicht nothwendig und nicht nachweislich aus Afrika
gekommen, obschon der Wind von daher, als dem nächsten Lande, wehte,
als der Staub niederfiel, weil in Afrika ausschliefslich einheimische Formen
gar nicht darunter sind;
5. dafs, da Himantidium Papilio, eine sehr ausgezeichnete Form, bisher
nur in Cayenne vorgekommen ist (s. das mikroskopische Leben in Süd- und
Nord-Amerika 1842 Tafel II. Fig. 2.), auch die Surirella vielleicht eine
amerikanische Form ist, nur zwei Schlüsse nahe liegen: entweder der Staub
wurde in Süd- Amerika nach den oberen Luftschichien gehoben und durch
veränderte Luftströme in andere Richtungen gebracht, oder Himantidium
Passatstaub und Blutregen. 2374
Papilio sammt der Surirella sind auch anderwärts, namentlich in Afrika
noch zu entdecken.
Sonach sind die meteorischen Staubregen oder vermeinten Aschen-
regen jetzt, wo sie in 300 Seemeilen vom Lande als zuweilen organischen
oder terrestrischen Ursprungs aufser Zweifel gesetzt sind, nun sämmtlich
auf diesen Charakter zu prüfen und die Windrichtung, mit welcher sie
niederfallen, wird nie sicher auf den Ursprung führen.
II.
Weitere Untersuchungen des atmosphärischen Staubes aus
dem atlantischen Ocean und den Capverdischen Inseln(!).
Herr Charles Darwin hat noch 5 verschiedene Proben ähnlichen
Staubes zur Vergleichung gesandt, die in den Jahren 1834 und 1838 im 15°,
17°, 19° und 21° nördlicher Breite auf Schiffen, theils in San Jago selbst,
theils mehrere 100 Meilen vom Lande entfernt im hohen Meere, gesam-
melt worden sind.
Dieser früher von Beobachtern für vulkanischen Auswurf oder afrika-
nischen Wüstenstaub gehaltene Staub der dortigen Atmosphäre, wurde den
früheren Materialien zufolge als erfüllt mit 37 Arten von kieselschaligen
Infusorien und Phytolitharien bezeichnet, und somit von kosmischen oder
vulkanischen Verhältnissen ausgeschlossen, auch wurde bemerkt, dafs dabei
gar keine der schon mannichfach bekannten Formen vorgekommen sei,
welche dem westlichen Afrika eigenthümlich sind, dafs dagegen 2 das süd-
liche Amerika vom Aegator bezeichnende Formen dabei wären: Himantidium
Papilio und Surirella peruviana.
Diese neueren Materialien und Untersuchungen haben zu den 37
schon gefundenen noch 30 andere Körperchen beobachten lassen, so dafs
jetzt aus dortiger Atmosphäre über dem Ocean
32 kieselschalige Infusorien
34 kieselerdige Phytolitharien
1 Polythalamium mit Kalkschale
67 organische Formen bekannt sind.
Früher waren nur Süfswasserformen beobachtet, die aus der Mitte
(') Vorgetragen den 27. Febr. 1845. S. d. Monatsber. p. 64. u. 85.
2372 EHrEenwBeErc:
des Festlandes kommen konnten, nun haben sich auch einige reine Meeres-
formen erkennen lassen, die zu der Ansicht nöthigen, dafs der Staub aus
einer Küstengegend stamme:
Textilaria globulosa? Grammatophora oceanica.
Unter allen 30 hinzugekommenen Formen ist nur eine neue Art und
diese auch schon in sehr ähnlicher Form in einem ungarischen fossilen Lager
vorgekommen : Eunotia longicornis.
Es ist ferner auch unter diesen 30 Formen keine von den eigenthüm-
lichen Arten des westlichen Afrikas, überhaupt keine das Festland Afrika
bezeichnende, doch findet sich dabei Lithostylidium Rajula, ein den Rochen-
Eiern ähnliches Kieselkörperchen, das von Isle de France her dem Verfasser
bekannt war. Dagegen haben sich die südamerikanischen Formen noch um
4 vermehrt: Eunotia qnaternaria, Pileus, trideniula, Amphidiscus obtusus,
so jedoch, dafs die drei Eunotien nur aus Senegambien und Guiana bisher
gleichartig bekannt waren.
Allen 6 Proben des atlantischen atmosphärischen Staubes sind 4 Orga-
nismen gemein, viele andere, nämlich 37, kommen in mehreren Proben
gleichartig vor. Ich halte mich für jetzt zu dem Schlusse berechtigt, dafs
aller atlantischer Staub aus nur einer und derselben Quelle kommen könne,
ungeachtet seine Ausdehnung und jährliche Masse ungeheuer zu sein scheint.
Die von Eisengehalt herrührende stets gelbe und röthliche Farbe des
Staubes, sein Niederfallen mit dem Passatwinde, nicht mit dem Harmattan,
nach ausdrücklicher Angabe erfahrner Schiffer (Sabine), vermehren das
Interesse der Erscheinung.
Sehr auffallend ist Eunotia triodon in 3 der Proben, eine nordische
Form.
Formen die als lebend aus der Atmosphäre niederfielen sind bisher
nicht beobachtet.
Meyen hat 1836 auf seiner Reise um die Welt mit dem Preufsischen
Seehandlungsschiffe die Erscheinung der auf der Windseite gerötheten Segel
bei den Capverden beobachtet und behauptet, es sei eine durch generatio
spontanea entstehende und schnell vergehende kleine Pflanze, die er Aero-
phytum tropicum nennt. Gerade so zeigt sich der Staub, nach Herrn Dar-
wins Mittheilung, auf den Morgens bethauten Segeln und anderem Schiffs-
geräth und enthält die angezeigten 67 kieselerdigen Organismen. Beim
Passatstaub und Blutregen. 373
Trocknen der Segel jagt der Wind den feinen Staub schnell fort. Das
Aerophytum waren daher wohl die Thauperlen.
UebersichtderorganischenFormen desatmosphärischen Staubes
im atlantischen Ocean bis Februar 1845.
1A. IB. I. II. IV. NUR
17°, 43117°, 431°, A0l19°, 57
26° 25°, 541220, 14124°, 5
APP FEUSer ICH.
Campylodiscus Clypeus + —E +
Latit. Bor.
Longit. Oce. |
| 1834.
+ = =
_ + +
+ +
Cocconema Lunula _ Er un
+
+
Eunotia amphioxys
Argus — — +
gibberula +
granulata
longicornis
Pileus
quaternaria | —_ — — — +
tridentula — er me Er
|
|
|
++
Triodon
Gallionella crenata
I +
| ++
++
|
+++
decussala
distans
+
++
granulata
marchica
procera
|
|
++
Gomphonema gracile
++ 4++4++
+
+
rolundalum
Grammatophora oceanica
Himantidium Arcus
a
+++
Papilio
Navicula affinis
Bacillum
lineolata
+4+ tt
|
|
Semen
Phys.- Kl. 1847. Mm
274
Pinnularia aequalis
borealis
gibba
viridula
Surirella peruviana?
Synedra Ulna?
EHRENBERG:
IA.
I +++
++
B. Phy
Amphidiscus armatus
clavatus
obtusus
Lithodontium Bursa
curvatum
Jurcatum
nasutum
Platyodon
rostratum
iruncatum
Lithostylidium Amphiodon
biconcavum
clavatum
cornutum
Clepsammidium
crenulatum
Emblema
laeve
obliguum
Ossiculum
quadratum
Rajula
Rhombus
rostratum
rude
Serra
IH Ir rt Hr Hr I +
IBH «-M.
— e_
+
tolithari
-— | +
—— +
|
AR
+ | +
| |
+ | +
_ +
-— | +
+ | +
_ +
+ +
-— | +
= +
- +
— +
++ 5
+++
+ +
IV.
++
++
Passatstaub und Blutregen. 273
IA., IB: I. II. W. \
Lithostylidium spiriferum + | — aber |
unidentalum a EEILL MET |
Spongolithis acicularis + _ + +
aspera +
cenocephala _ = ee
Fustis — — 2
mesogongyla | r Fe RN |
obtusa er | |
C., Kobythalemia.
Textilaria globulosa ı - | - | + | | |
Viele dieser Formen finden sich abgebildet und beschrieben in dem
Vortrage über das kleinste Leben in Amerika 1843.
IM.
Ueber einen am 45. Mai 1830 in Malta gefallenen atmosphärischen
Staub, dessen Gehalt an mikroskopischen Organismen und
Gleichheit mit dem des atlantischen Meeres bei den Capver-
dischen Inseln.(!)
Herr Charles Darwin hat einen neuen atmosphärischen Staub zur
Untersuchung gesendet, welchen der Purser Herr R. G. Didham auf dem
Schiffe Revenge am 15. Mai 1830 in Malta gesammelt hat. Herr Didham
hatte diese Substanz zuerst an Herrn Lyell gegeben, der sie an Herrn Dar-
win, wie dieser an mich abgegeben hat. Ich erhielt das vorliegende Origi-
nal-Päckchen in weifsem Schreibpapier mit den Aufschriften der verschiedenen
Besitzer. Vom Sammler ist darauf bemerkt, dafs die Atmosphäre damals
orangegelb und dick war und dafs der gesammelte Staub mit einem Platz-
regen herabgekommen. Der Wind war E.S.E. Ferner bemerkt derselbe,
dafs er auf demselben Schiffe am 15. Mai 1834 in der Palmas-Bay bei Sar-
dinien war und dieselbe Erscheinung beobachtet habe.
Die mikroskopische Analyse dieses (doch wohl Seirocco?) Staubes
von Malta, welcher von Farbe ebenfalls röthlich ist, hat folgenden Gehalt
an mikroskopischen erkennbaren Organismen ergeben:
(') Vorgetragen am 20. Novbr. 1845. S. d. Monatsber. p. 377.
Mm?2
2376 ‚EurEenBeEre:
A. Kieselschalige Polygastrica.
* Campylodiscus Clypeus. * Gallionella distans.
Discoplea? y granulata.
* Eunotia amphioxys. ’ procera.
h Argus. * Gomphonema gracile.
: gibberula. * Navicula Bacillum.
Fragilaria rhabdosoma? Synedra Entomon?
* Gallionella crenata. , Ulna.
+ decussata.
B. Kieselerdige Phytolitharia.
* Amphidiscus obtusus. .“ Lithostylidium quadratum.
* Lithodontium Bursa. M Rajula.
ö curvatum. © rude.
x Jurcatum. : Serra.
x nasulum. Taurus.
; rostraltum. R unidentalium.
* Lithostylidium Amphiodon. * Spongolithis acicularis.
ei clavatum. ‚fistulosa.
5 Clepsammidium. i Fustis.
“ crenulata. philippensis?
i Emblema.
C. Kalkschalige Polythalamia.
Grammostomum — ? Rotalia senaria.
— al. sp. Spiroloculina — ?
Planulina — ? * Textilaria globulosa.
Rotalia globulosa. ß
Es sind 15 Polygastrica, 21 Phytolitharia, 7 Polythalamia, zusammen
43 Arten.
Von diesen 43 Arten sind sämmtliche mit Sternchen bezeichnete in
dem Staube der Capverdischen Inseln gleichartig beobachtet worden, wie
das aus den früheren Mittheilungen erhellt.
Es sind mithin in den früheren und diesem letzten Verhältnisse
atmosphärischer Niederschläge 31 Arten gleichartig, 12 sind von Malta beob-
achtet, welche im Staube des atlantischen Oceans nicht vorkamen. Unter
diesen 12 Formen ist wieder sehr wahrscheinlich eine, welche bisher nur in
Passatstaub und Blutregen. 2377
Chile vorgekommen: Synedra Entomon? Dagegen ist auch ein Pflanzen-
Kieseltheil Zithostylidium Taurus bisher nur aut Ascension, in Südafrika
und Indien beobachtet. Die Discoplea ist eine bisher fremde, aber nicht
vollständig genug erhaltene Form. Am entschiedensten sind die zahlreichen
Polythalamien und einige Seeschwamm-Nadeln.
Die Schlüsse, welche man genöthigt ist aus diesen Beobachtungen
zu machen sind meiner Ansicht nach folgende.
1. Es ist höchst auffallend, dafs der blendendweifse Sand der Sahara
in Afrika, welchen der Ost-Süd-Ost- Wind nach Malta führen soll, dort,
gerade so wie der, welcher vom Senegal nach den Capverden kommen soll,
orangefarben niederfällt und der ganzen Atmosphäre eine gleiche Färbung
giebt, auch ganz deutlich ebenso seine Farbe vielem Eisenoxyd (Gallionel-
len?) verdankt. In der Sahara des östlichen Nord-Afrika’s habe ich selbst
6 Jahre lang Sand-Oberflächen nur blendendweifs (von Kreidekalk und
Dünensand) gesehen, und andere Reisende haben nur Aehnliches berichtet.
Den feinen Staub des Chamsin sah ich nie orangefarben, er war stets grau.
2. Viele der in dem Staube vorhandenen Organismen sind zwar von mir
auch in Afrika beobachtet, allein es sind von den characteristischen
afrikanischen Formen, deren sich dort überall finden, viel zu wenig dabei.
Lithostylidium Taurus ist Asien und Afrika gemeinsam.
3. Aufser dem Mangel an ächt afrikanischen Formen und der Ueberein-
stimmung in vielen überall verbreiteten Formen ist der Meteorstaub von
Malta auch darin dem des atlantischen Oceans auffallend ähnlich, dafs beide
vorherrschend Süfswasserbildungen enthalten und dafs diesen entschiedene
Seeformen beigemischt sind, welche im Binnenlande nicht leicht annehmbar
sind. Zwar könnten die beigemischten Polythalamien, welche in dem von
Malta häufiger sind, einem Kreidesande angehören, da 3 davon mit Kreide-
thieren identisch sind, allein andere sind aus der Kreide nicht bekannt und
diese Spongolithen gehören alle, sammt jenen Kreidethierchen auch dem
Leben der jetzigen Zeit an.
4. Auch die Mischung des Gehaltes an organischen Theilen ist dem
Volumen nach in beiden Staub-Meteoren so überraschend gleich, dafs man
auf eine gleiche Quelle schliefsen mufs. Eben so gleich ist die Mischung
in Beziehung auf das Vorherrschen gewisser Arten von Organismen. Gallio-
8
nella granulata und procera sammt den terrestrischen Phytolitharien sind
378 EHRENBEReE:
in beiden an Individuen-Zahl überwiegend, ihre Formen fanden sich in
jedem kleinsten untersuchten Theilchen des Staubes vor.
5. Durch Synedra Entomon, als characteristische Form für Chile, ist
man wieder auf Südamerika gewiesen.
6. Auf vulkanische Beziehungen des Staubes leitet kein Charakter.
Weder ein. geglühter noch ein gefritteter Zustand ist zu erkennen. Die
röthliche Oxydation des Eisens ist natürlich ebenfalls nicht bezeichnend dafür.
7. Die überaus grofse geographische Verbreitung der völlig gleichen
Erscheinung eines im gröfsten Maafsstabe die Atmosphäre erfüllenden röth-
lichen, mit ganz gleichartigen solchen Organismen erfüllten Staubes, deren
mehrere für Südamerika characteristisch sind, erlaubt nicht mehr, sondern
verlangt eine immer ernstere Berücksichtigung des vielleicht eyclischen Ver-
hältnisses in der oberen und unteren Atmosphäre, wodurch sehr grofse
Massen fester, scheinbar heterogener, aber durch gewisse Eigenschaften
verwandter terrestrischer Stoffe, Erden und Metalle, besonders für jetzt
nachweislich Kieselerde, Kalk, Eisen und Kohle in der Atmosphäre schwe-
bend gehalten worden, die, den Dunstwolken gleich, durch Wirbel und
Electricität bald räumlich verdünnt, bald verdichtet werden und (wie
Fichtenpollen als Schwefelregen) mit Platzregen u. s. w. aus jeder Richtung,
selbst (im Wirbel durch electrischen Blitz) verschmolzen, ohne bedeutende
Fallwirkung niederfallen können.
8. Der Platzregen mit Ost-Süd-Ost-Wind und die orangefarbene dicke
Atmosphäre könnte wohl durch zufällige Regenwolken im Scirocco bedingt
und ohne nothwendige Verbindung sein.
9. Es erhalten nun, wie es scheint, folgende Fragen Wichtigkeit: Ist
der südeuropäische Scirocco, welchen man bisher immer für den heifsen
Wind der Sahara (Fortsetzung des Samum oder Chamsin) gehalten hat, der
aber in seinem Staube Charactere zeigt, welche der Sahara und Afrika ganz
fremd zu sein scheinen, immer auch in der gleichen Art Eisen- und Infuso-
rien-haltig? Läfst sich aus gewissen Gegenden Central-Afrika’s die Erschei-
nung doch gerade so ableiten’?
Die wissenschaftliche Antwort, gleichviel ob bejahend oder verneinend,
kann natürlich nur Product der fortgesetzten Forschung sein.
Passatstaub und Blutregen. 2379
IV.
Ueber den am 16. Mai 1846 in Genua gefallenen Scirocco-Staub,
ganische Beimischung und grofse Ähnlichkeit mit dem
atlantischen Meteorstaube.(')
dessen or
Die sicilianischen und genuesischen Sciroccostürme im Mai 1846
haben neben mancherlei Unglück eine eigenthümliche wissenschaftliche
Frucht gebracht.
Am 16. Mai ist nach einer von Herrn Prof. Pictet aus Genf bei mir
eingegangenen Nachricht ein atmosphärischer Staub niedergefallen, welcher
die Dächer und Strafsen der Stadt in grofser Menge bedeckte(?). Ein
Freund hatte Hrn. Pictet eine Probe übersandt und schon am 30. Mai
erhielt ich dieselbe zur Ansicht in Berlin, um sie mit den früher hier bespro-
chenen Staubarten der Atmosphäre zu vergleichen.
Die in weilsem Papier sorgfältig verwahrt übersandte Probe dieses
Meteorstaubes ist von Farbe blafsokergelb und es haben sich darinn bei der
mikroskopischen Analyse folgende Organismen des kleinsten Lebens erken-
nen lassen.
Meteorstaub des Scirocco von Genua 16. Mai 1846.
A. Polygastrica. 22.
Campylodiscus Clypeus. Fragilaria.
Chaetoglena volvocina. Gallionella erenata.
Cocconeis lineata. distans.
Diploneis didyma. granulata.
Discoplea atmosphaerica. procera.
al. spec.? Navieula.
Eunotia amphiosys. Pinnularia borealis.
Diodon. Stauroneis.
gibberula. Surirella Craticula.
Monodon. Synedra Entomon.
trideniula. Ulna.
(') Vorgetragen am 11. Juni 1846. S. d. Monatsber. p. 202.
(?) Qui a couvert en abondance les toits et les terrasse. Im Supplement ä la
Bibliotheque universelle de Geneve No. 5. ist ausführlicher berichtet.
350 EHuRENBERG:
B. Phytolitharia. DAR
Amphidiscus anceps. Lithostylidium clavatum.
clavatus. Clepsammidium.
Martü. Formica.
Lithasteriscus tuberculatus. quadratum.
Lithodontium Bursa. rude.
falcatum. Serra.
Jurcatum. spiriferum.
nasulum. Spongolithis acicularis.
platyodon. Clavus.
rostralum. Fustis.
Lithostylidium Amphiodon.
GC. Weiche Pflanzentheile. 3.
Pollen —? Weiche Holztheilchen und unver-
— al.sp. kohltes Zellgewebe.
Phragmidii (Pucciniae?) sporangia.
Die gesperrt gedruckten Formen sind dem Meteorstaube von Genua
eigenthümlich.
Dies Resultat einer so reichen organischen Mischung ist zwar nicht
mehr überraschend, aber doch mannigfach von grofsem Interesse. Schon
in der Mittheilung über den Meteorstaub von Malta wurde auf die weiter
zu prüfenden Charactere des europäischen Scirocco-Staubes aufmerksam
gemacht, und jene damals publieirte Bemerkung scheint diese neuere Zu-
sendung veranlafst zu haben.
So wurde hiermit die erste directe Erfahrung gewonnen, dafs der
europäische Scirocco-Staub, den man aus Afrika ableitet, sich dem Meteor-
Staube der Capverdischen Inseln anschliefst, und durch den Staub von
Malta ist ein Zwischenglied schon direct erkannt.
In folgenden Characteren stimmen die seit dem Jahre 1830 im atlan-
tischen Ocean, bei den Capverden, in Malta und Genua gefallenen Staub-
arten überein:
1. Sie sind stets von gelber, ockerartiger Farbe, nicht grau wie die des
bekannten Chamsins im nördlichen Afrika.
2. Diese gelbe Farbe ist durch Eisenoxyd bedingt.
3. Sie enthalten gegen £ bis + der Masse bestimmbare organische Theile.
Passatstaub und Blutregen. 381
4. Die organischen beigemischten Formen sind theils kieselschalige,
polygastrische Infusorienreste, theils kieselerdige geformte Pflanzentheilchen
(Phytolitharia), theils verkohlbare, aber unverkohlte, andere Pflanzentheil-
chen, theils auch kalkschalige Polythalamia.
5. Von bereits festgestellten 90 Arten solcher Organismen kommen die
Mehrzahl in den an geographisch soweit von einander entfernten Punkten
gefallenen Staubmassen gleichartig vor.
6. Von den 46 Arten des Genuesischen Staubes sind nur 11 in den
früheren Verhältnissen fehlend.
7. Ueberall sind die Formen der Zahl nach vorherrschend Süfswasser-
und Landgebilde, aber sowohl im Ocean und den Capverden, als bei Malta
und Genua enthält der gefallene Staub auch Meeresthierchen, so dafs der-
selbe von einem Küstenpunkte weggeführt zu werden, oder in der Atmosphäre,
aus vorherrschenden Süfswasserverhältnissen, gemischt zu werden scheint.
Diploneis didyma ist eine entschiedene Seeform im Staube von Genua,
Spongolithis Fustis eine mögliche.
8. Ganz besonders auffallend und merkwürdig ist das Mischungsverhält-
nifs aller dieser Staubarten dadurch, dafs nicht blofs Infusorien und die
gleichen Arten in ihnen sind, sondern dafs auch überall dieselben Species
an Individuenzahl vorherrschen. So sind auch in Genua wieder Gallionella
granulata und procera die vorherrschenden Formen gewesen.
9. Keine dieser Staubarten hat bis jetzt lebend eingetrocknete Formen
erkennen lassen. Es waren stets leere Schalen und Fragmente.(!)
10. Keine dieser Staubarten hat geschmolzene, gefrittete oder verkohlte
Formen gezeigt. Es sind ohne Hitze trocken bewegte Theilchen.
41. Auch der Staub von Genua, seinerRichtung (als Scirocco) von Afrika
her ungeachtet, hat, so wenig als irgend einer der früheren, characteristische
afrikanische Formen erkennen lassen, deren doch jeder kleine Schlammtheil
aus Afrika enthält. Dagegen ist Synedra Entomon, eine der südamerikani-
schen Characterformen, unter den Arten.
Beim Meteorstaub von Genua verdient auch nicht unbemerkt zu blei-
ben, dafs demselben Samen von Brandpilzen (Phragmidium?) beigemischt
(') Seitdem sind allerdings mehrfache Beobachtungen lebend eingetrockneter Formen
in solchen Staubarten gemacht worden. S. Abschnitt VIII. (Monatsber. 1847 p. 328.)
Phys. Kl. 1847. Nn
989 EHREnBERG:
sind. Ferner ist bemerkenswerth, dafs die wenigen bisherigen europäischen
Beobachtungen aus sehr verschiedenen Jahren stets (Malta, Sardinien, Ge-
nua) am 15. und 16. Mai gemacht worden sind.
Eine chemische Analyse des Meteorstaubes aus dem atlantischen
Ocean ist von Herrn W. Gibbs aus New-York in Herrn H. Rose’s Labo-
ratorium ausgeführt worden.
Wasser und organische Abgesehen von Wasser und der
Materie — 18,53. organischen Materie.
Kieselerde —=.37.13. Kieselerde — 45.575.
Thonerde — 16.74. Thonerde — 20.547.
Eisenoxyd ; = 7.6. Eisenoxyd — 9.388.
Maganoxyd = 9.44. Manganoxyd = 4.222.
Kohlensaure Kalkerde = 9.59. Kohlensaurer Kalk = 11.648.
Talkerde —= 1.80. Talkerde —= 2.209.
Rali =. 2.97. Kali = 3.645.
Natron = 1.9. Natron 112.332:
Kupferoxyd = 0.25. Kupferoxyd —= 0.306.
100.00. 100.00.
Die gröfste Masse der Kieselerde kommt offenbar auf Rechnung der
Polygastrica und Phytolitharien, der Eisengehalt wohl vorherrschend auf
Gallionellen, da diese vorherrschend sind, dabei mag auch das Mangan
vorkommen. Die kohlensaure Kalkerde entspricht ziemlich der nicht ganz
so reichlichen Menge der Polythalamien. Die Thonerde mag als fremder
Staub dabei sein. Kali, Natron, Talkerde, Kupfer sind chemische, geringe,
mikroskopisch nicht näher nachweisbare Beimischungen.
Folgende Uebersicht der Verbreitung des gleichen Meteorstaubes nach
den bisherigen Erfahrungen dürfte erläuternd sein:
Atlantischer Ocean bis 800 Seemeilen
westlich von Afrika.
Areal: X Capverdische Inseln.
Malta.
Genua.
Zeit: 1830! 1834! 1836? 1838! 1846!
Sonach hat dieser gelbe Meteorstaub in 16 Jahren und in grofsen geogra-
phischen Fernen einen übereinstimmenden beständigen Character gezeigt.
Substanz gleich.
Passatstaub und Blutregen. 2833
Obwohl weit entfernt auf eine Hypothese irgend ein Gewicht zu legen,
halte ich doch für Pflicht nach einer Verbindung der Thatsachen zu suchen
und fühle mich daher angeregt und genöthigt, der schon jetzt vorgelegten
Einzelheiten halber und so weit diese einen Schlufs gestatten, an eine Ame-
rika und Afrika in der Gegend der Passatwinde verbindende, zuweilen,
besonders gegen den 15. und 16. Mai nach Europa hin abgelenkte Luftströ-
mung zu denken, welche diesen so eigenthümlichen, scheinbar nicht afrika-
nischen Staub in unberechenbaren Massen mit sich führe. Wird man nicht
Hypothesen mit Hypothesen bekämpfen, vielmehr im vereinten Streben,
wissenschaftliche Beobachtungen an Beobachtungen reihen, so wird die
Aufklärung dieser räthselhaften, die Aufmerksamkeit mannigfach spannenden
Verhältnisse raschen Fortgang haben.
V.
Mittheilungen über die mikroskopische Analyse des Scirocco-
Staubes und Blutregens, welcher am 17. October 1846 mit
heftigem Orkane bei Lyon gefallen.(!)
Durch die seit 2 Jahren schon allmählig mitgetheilten Resultate der
Untersuchung verschiedener meteorischer Staubarten, wodurch die Wir-
kungen des Scirocco mit Erscheinungen des fernen atlantischen Oceans in
nahe directe Verbindung gebracht wurden, ist Herr Dr. Lortet in Lyon
angeregt worden, mir eine Probe des Seirocco-Staubes, welcher am 17.
October 1846 bei La Verpilliere zwischen Lyon und Grenoble mit dem
unheilvollen Orkane jener Tage gefallen ist, alsbald zur Untersuchung zu
übersenden. Das Schreiben vom 28. October enthält folgende kurze
Schilderung der Nebenverhältnisse.
„Das Unwetter kam über die Bergkette des Ardeche-Distriets mit
Nord-Westwind. Gleichzeitig, von 7 Uhr Morgens am 17. October an, ver-
dunkelte sich der Himmel aufserordentlich über Grenoble. Man hatte
daselbst erstickende Stöfse eines südöstlichen Seiroccos. Gleichzeitig mit
blutartigem Regen fiel der (eingesandte) sehr reichliche rothe Staub von
dem die Postwagen 1-2 Linien hoch bedeckt wurden. Nur am Abend, von
6 Uhr bis Mitternacht, war der Orkan in Lyon bemerkbar und der Staubfall
(') S. d. Monatsber. 1846 p. 319. und 1847 p. 301. Vergl. Abschnitt VII.
Nn2
954 EHRENBERce:
war von 64 bis 114 Uhr deutlich (wie in den Distrieten der Isere, Dröme
und Ardeche). Der Regen war nicht übermäfsig, aber der Himmel er-
schreckend. Es gab 2 Herde des Unwetters, einen im Süden, den anderen
in Nordwest. Von Minute zu Minute wechselten die Winde. Blitze von
merkwürdiger Stärke durchstreiften den Himmel, nicht vertikal, sondern
horizontal und durchliefen mehr als + des Umkreises. Bei jedem Blitze
verdoppelten die auf der Flucht befindlichen Zugvögel ihr verzweifeltes
Geschrei. In den Strafsen, in offenen Zimmern, in Schornsteinen fing
man Enten, Wachteln, Krammetsvögel, Amseln, Nachtigallen, Fliege-
schnäpper u. s. w.
Man sammelte in Lyon alle Materialien zu einer Mittheilung über den
Verlauf des Orkans. Eine daselbst gemachte chemische Analyse des Staubes
hatte als chemische Bestandtheile Kieselerde, kohlensauren Kalk und Eisen-
oxyd ergeben. Die in das Schreiben eingelegte Probe des gefallnen Staubes
war in feinem Briefpapier überall sauber und fest verklebt, sehr zweckmäfsig
verpackt und mag an Masse dem Volumen dreier Erbsen gleichen.
Dieser bei La Verpilliere ohnweit Lyon gesammelte Meteorstaub hat
folgende Charaktere gezeigt:
1. Von Farbe war der sehr feine Staub trocken ockergelb, beim An-
feuchten mit Wasser rostroth, deutlich eisenhaltig.
2. Bei der geringsten Bewegung verstäubte derselbe sogleich und war
in seinen Theilen leichter verschiebbar als Mehl.
3. Die mechanische Zusammensetzung ergab sich unter dem Mikroskop
als aus sehr verschiednen Dingen bestehend, aber nirgends mit entschieden
vulkanischen Theilen gemischt. Sehr feine sandartige Quarztheilchen und
unregelmäfsige röthliche Theilchen bildeten mit einem noch feineren gelb-
lichen Mulm die Hauptmasse, worin so viel bestimmbare Fragmente kleiner
organischer Körper zerstreut lagen, dafs jedes kleinste untersuchte Staub-
theilchen deren enthielt.
Folgende 73 Species liefsen sich bestimmen und namentlich festhalten:
Polygastrica. 39.
Amphora libyca. Cocconema gracile.
Campylodiscus Clypeus. Lunula.
Cocconeis almosphaerica. Coscinodiscus.
lineata. Discoplea atmosphaerica.
Passatstaub und Blutregen. 285
Eunotia amphioays. Himantidium Arcus.
gibba. Zygodon.
gibberula. Navicula affinis.
granulata. Bacillum.
?laevis. Semen.
longicornis. Pinnularia aequalis.
Monodon? borealis.
Pileus. viridula.
tridentula. Surirella Craticula.
Gallionella decussata. Synedra Ulna.
distans. Trachelomonas.
granulata. Tabellaria
procera. ?1 1) Fragmenta silicea
Gomphonema gracile. ?2 } organica ignotae
longieolle. 23 originis.
Grammatophora parallela.
Phytolitharia. 3.
Amphidiscus obtusus. Lithostylidium Emblema.
Lithodontium Bursa. Ossiculum.
curvaltum. quadratum.
Jurcatum. rostratum.
nasutum. rude.
platyodon. serpenlinum.
rostratum. Serra.
Lithostylidium Amphiodon. spiriferum.
articulatum. Trabecula
biconcavum. unidentatum.
clavatum. Spongolithis acicularis.
Clepsammidium. Fustis.
crenulatum.
Polythalamia. 3.
Nodosaria? _Rotalia globulosa. Textilaria globulosa.
Particulae plantarum molles. 5.
Pollen Pini. Phragmidü? sporangia. Pili plantarum. Squamae plantarum.
Tela cellulosa.
256 EHRENBERG:
Insectorum fragmenta. 1.
Squamula alarum Tineae?
Diese Beimischung erkennbar erhaltener Körperchen beträgt etwa +
(124 pC.) des Volumens. Ob die übrige Hauptmasse unorganischen Ur-
sprunges, oder auch noch durch ins Unkenntliche veränderte organische
Kiesel- und Kalktheilchen wesentlich bedingt sei, hat sich nicht ermitteln
lassen. Besonders drängt sich die Vermuthung auf, dafs ein Theil des
gelblichen körnigen sehr feinen massenhaften Mulmes vielleicht der Gallo-
nella ferruginea angehört, die aber nicht deutlich genug erkannt wurde.
Wer sich dem ersten, unwissenschaftlichen Eindrucke hingiebt könnte
sagen, es verstehe sich von selbst, dafs in dem Staube der Oberfläche, den
ein Orkan aufwühlt und fortführt, auch allerlei mikroskopische organische
Theilchen seyn müfsten und dafs es bei der nothwendig grenzenlosen Varia-
tion derselben nicht der Mühe werth sei dieselben zu verzeichnen.
Bei überlegtem wissenschaftlichen Forschen fanden sich jedoch fol-
gende Umstände auch hier bemerkenswerth:
a. Der bei Lyon (La Verpilliere) gefallene Meteorstaub gleicht, wie die
früher untersuchten von Genua und Malta, nicht unserm gewöhnlichen Luft-
und Gewitterstaube, welcher in Europa, des selten ganz fehlenden Humus
der Oberfläche und der vorherrschenden Bodenarten halber, trocken eine
mehr oder weniger helle graue Farbe hat und nur in beschränkten Lokalitäten,
wo die Oberfläche ohne Humusdecke ist, von Lehm und Eisenockertheil-
chen so selten röthlich erscheint, dafs es noch niemals die Aufmerksamkeit
der Meteorologen auf sich gezogen hat, so viel auch über Schwefelregen
und ähnliche Dinge verhandelt worden ist.
b. Der Meteorstaub von Lyon hat durch seine rostgelbe, auch, im nassen
Zustande, rostrothe Farbe, seine grofse Feinheit, so wie durch seine chemi-
sche und mechanische Zusammensetzung gerade dieselben Charactere, welche
der im atlantischen Ocean, ohne Orkan, regelmäfsig, angeblich mit
dem Passatwinde, fallende Staub besitzt, in welchem Character die in Malta
1534 und in Genua am 16. Mai dieses Jahres (1846) gefallenen, die ganze
Atmosphäre trübenden Staubarten, wie schon gemeldet, übereinstimmen.
c. Diese Uebereinstimmung des Characters ist nicht blos im Allgemeinen
geltend, sondern auf höchst auffallende Weise speciell, nämlich
1. Der Sceirocco-Staub vom 17. October zeigt erstlich wieder beigemengte
Passatstaub und Blutregen. 287
seltenere Seekörperchen bei vorherrschenden mikroskopischen Süfswasser-
Organismen in seiner Mischung. Es sind bis jetzt darinn 5 entschiedene
Seeformen erkannt:
Kieselschalige Polygastrica. 2.
Coscinodiscus. _Grammatophora parallela.
Kalkschalige Polythalamia. 3.
INodosaria? Rotalia globulosa. Textilaria.
Ueberdies sind noch 6 möglicherweise ebenfalls dem Meerwasser an-
gehörige Körperchen darinn beobachtet, deren Genera aber auch in Süfs-
wasser leben, sämmtlich Polygastrica:
Cocconeis almosphaerica. Fragmenta silicea. 1
Discoplea atmosphaerica. 2
Eunotia laevis. 3
So sind denn vielleicht 11 unter 73, sicher aber 5-8 Meeresformen, die
übrigen 1? - # sind entschieden Süfswassergebilde des Festlandes.
2, Wie bei dem atlantischen Meteorstaub, so sind auch im Lyoner die
Phytolitharien sehr zahlreich, was auf wesentliches Mitbedingtsein der Er-
scheinung in terrestrischen Oberflächen-Verhältnissen, in Vegetationsresten,
“hinweifst und die Ausbildung der Substanz im Luftraume selbst
widerlegt.
3. Die an Individuenzahl vorherrschenden häufigeren Formen im Lyoner
Staube sind:
Polygastrica.
Eunotia amphioxys. Gallionella decussata.
gibberula. granulata.
longicornis. procera.
Phytolitharia.
Lithostylidium Amphiodon. Lithostylidium rude.
Össiculum.
Gerade diese Formen sind auch nicht blos vorhanden, sondern eben
so stets oder meist vorherrschend in den 8 früher verzeichneten atlantischen
Staubarten.
4. Von den 73 Formen des Lyoner Staubes sind 51 in den früher ana-
lysirten genannten Staubfällen schon gleichartig verzeichnet. In allen 9
Staubarten gleichartig vorhanden sind 4:
288 EurEnBEere:
Polygastrica. 9.
Campylodiscus Clypeus. Gallionella procera.
Gallionella granulata.
Phytolitharia. 1.
Lithostylidium Clepsammidium.
In Uebereinstimmung mit den 6 atlantischen Staubarten, mit Ausschlufs
der von Malta und Genua, hat der Lyoner Staub 24 Arten. In wenigstens
2 aller 9 Staubarten finden sich aufser den 4, die allen gemeinsam sind,
noch 15:
Polygastrica. 5.
Eunotia amphioxys. Gallionella distans.
gibberula. Pinnularia aequalis.
Gallionella crenata.
Phytolitharia. 10. .
Lithodontium Bursa. Lithostylidium clavatum.
‚Jurcatum. quadratum.
nasutum. rude.
rostratum. Serra.
Lithostylidium Amphiodon. Spongolithis acicularis.
d. Eigenthümliche, nur in dem Lyoner Staube, nicht in den übrigen
ähnlichen Staubfällen beobachtete Formen sind folgende 21:
Polygastrica. 14.
Amphora liby.ca. Grammatophora parallela
Cocconeis atmosphaerica. Himantidium Zygodon.
Cocconema gracile. Trachelomonas.
Coscinodiscus. Tabellaria.
Eunotia gibba. Fragmenta silicea 1.
? laevis. Dar
Gomphonema longicolle. 3.
Phytolitharia. 3.
Lithostylidium articulatum. Lithosiylidium Trabecula.
serpentinum.
Polythalamia. 1.
Nodosaria?
DD
[e 2)
de)
Passaistaub und Blutregen.
Plantarum fragmenta mollia. 2.
Pollen Pini. Squamae plantarum laciniatae.
Insectorum particula. 1.
Lepidopteri (Tineae?) squamula.
Ganz neu sind unter diesen 21 Formen nur 2 so wohl erhaltene, dafs
sie bestimmbar geworden, Cocconeis atmosphaerica und Eunotia? laevis
vielleicht auch die 3 Fragmente, welche jedenfalls unbekannten Formen
angehören. Ueberdiefs scheint das zierlich gelappte vegetabilische Schüpp-
chen seiner Eigenthümlichkeit halber unter die nicht europäischen Körper-
chen gezählt werden zu müssen. Die übrigen 15 Formen sind schon
bekannten Arten ganz ähnlich.
e. Die Hauptmasse aller dieser 73 Formen ist europäisch; viele sind
auch aus anderen Welttheilen bekannt. Keine Form ist bezeichnend afrika-
nisch, keine asiatisch, aber 2 sind wieder dabei, welche für Südamerika
characteristisch zu sein scheinen:
Eunotia Pileus. Himantidium Zygodon.
Da die im Lyoner Staube allein beobachteten und die überhaupt nur
in diesen Staubarten vorgekommenen Formen kein terrestrisches Vaterland
bezeichnen, so geht von diesen vielleicht späterhin eine weitere Entschei-
dung aus, es sind 7:
Cocconeis almosphaerica. Fragmenta silicea organica 1.
Cosecinodiscus. 2%
Discoplea atmosphaerica. 3.
Eunoltia ? laevis.
Die Eunotia Pileus als amerikanische Charakterform ist insofern der
fortgerückten Untersuchungen halber jetzt weniger scharf bestimmend, als
sie auch aus Spanien neuerdings einmal erkannt worden ist, allein sie ist
nur in einem Exemplare einer todten Schale aus Spanien und in zahllosen
lebend gesammelten Exemplaren aus Guiana beobachtet, mithin doch immer
noch wahrscheinlicher von hier als von dort.
f. Dafs der rothe Staub in seiner Mischung mit dem Regen am 17.
October ein blutartiges Gewässer gebildet hat, wie die Zeitungen vielfach
berichtet haben, ist insofern bemerkenswerth, als diese Art von blutfarbigen
Meteoren hiermit zum erstenmale eine sichere directe Ermittlung findet.
g. Ganz besonders bemerkenswerth ist bei diesem Staubfalle, dafs,
Phys. Kl. 1847. Oo
290 EHRENBERG:
ungeachtet seiner Übereinstimmung mit dem atlantischen Staube, der stets
todte und leere Schalen von Organismen zeigte, sich darin Eunotia
amphioxys öfter mit ihren grünen Eierstöcken, also lebensfähig
vorgefunden hat.
Es ergeben sich hieraus folgende allgemeine Resultate und Charactere
des neuen Scirocco-Staubes:
1. Der Staub des Scirocco-Orkans vom 17. October 1846 bei Lyon ist
von gewöhnlichen europäischen und nordafrikanischen Staubarten abwei-
chend, aber durchaus übereinstimmend mit den meteorischen Staubarten,
welche seit 1830 im atlantischen Ocean, bei den Capverdischen Inseln und
mit Scirocco bei Malta und Genua beobachtet worden sind. Die Proben
dieser sämmtlichen Staubarten sind wie aus einem und demselben wohlge-
mischten Päckchen Staub entnommen, obschon ihr höchst verschiedner
Ursprung sammt ihrer unberechenbar grofsen Masse völlig sicher sind.
2. Aufser der Windrichtung, (welche den neuesten glücklichen und
scharfsinnigen Zusammenstellungen und Schlüssen der Meteorologen (Dove)
zufolge, kein Kennzeichen vom Ursprunge der Stürme bildet) spricht kein
innerer noch äufserer Charakter des Staubes für seinen Ursprung aus Afrika,
aber es finden sich darin wieder mehrere in Südamerika vorzugsweise oder
allein einheimische Formen.
3. Auch der Lyoner Staub kann nicht aus dem tiefen Innern eines Fest-
landes, sondern nur von einer Küstengegend stammen, wenn er überhaupt
einfachen Ursprungs ist, weil er jetzt lebende Seeformen enthält.
4. Die Mischung dieses neuesten Scirocco-Staubes ist wieder nicht blos
den räumlich sehr fernen der Capverdischen Inseln gleich, sondern auch
dem schon seit 16 Jahren dort gefallenen so sehr gleich, dafs der Unterschied
durch die Übereinstimmung weit übertroffen wird und im Mangel der Kennt-
nifs zu liegen scheint.
5. Eine so gleichförmige Mischung in so grofsen Mengen und bei so
grofsen Raum und Zeit-Unterschieden kann, wenn auch die Untersuchungen
nur kleine Mengen betreffen, weder von einem beschränkten Punkte aus-
gehen, wo ja andere nasse Jahreszeiten andere Organismen bedingen, noch
überhaupt eine unbedeutende momentane Aufregung eines örtlichen Staubes
durch Wirbelwinde sein. Sie scheint einem constanteren Verhältnisse,
einem constanten, schwebenden, sich lange und immer von Neuem mischen-
Passatstaub und Blutregen. 291
den Staubnebel angehören zu müssen, welchen ein zufällig dazu tretender
Orkan in beliebige Richtung verbreiten kann.
6. In wie weit gewisse historische Arten des Höhrauchs (natürlich den
vom Torfschwelen stets ausgenommen) mit dieser Erscheinung zusammen-
fallen, läfst sich bis jetzt nicht feststellen, aber die Andeutung einer Mög-
lichkeit solchen Zusammenfallens scheint nützlich zu sein.
7. Die Gesammtzahl der in den bis jetzt untersuchten so auffallend
übereinstimmenden 9 Staubarten aufgefundenen organischen Körperchen
beträgt nun 119 Species, nämlich:
Polygastrica 97
Phytolitharia 46
Polythalamia 8
Particulae plantarum molles 7
Inseciorum fragmenta 1
119
Von diesen sind 17 Arten: 8 Polyihalamia
7 Polygastrica
2 Phytolitharia (Spongolithides)
dem Meerwasser angehörig, die übrigen 102, mit Ausnahme vielleicht der
wenigen neuen Arten, sind Süfswassergebilde.
8. Esgiebtin dem neuesten Staube lebend getragene Formen,
welche jedoch der Idee eines verbreiteten Lebens in der Atmosphäre noch
keine wissenschaftlich bedeutende Nahrung geben. Die gleichzeitigen Phy-
tolitharien sind Erdgebilde, unselbstständige Pflanzentheile.
9. Der Staub hat keine Spur vulkanischer Einwirkung.
10. Gleichzeitig mit Regen fallend bewirkt er die Erscheinung rother (für
aufgeregte Gemüther blutartiger) Gewäffer.
11. Der oft Krankheiten bedingende Seiroeco des südlichen Europas,
begleitet von einer staubigen orangefarbenen Atmosphäre, scheint allerdings,
wie es von mir früher vermuthet worden war, regelmäfsig (Malta, Genua,
Lyon) den atlantischen organischen Staub weit über Europa zu verbreiten.
Mögen diese Thatsachen das Interesse an dem Gegenstande, besonders
bei der Schiffahrt wissenschaftlicher Männer noch wach erhalten. Den ter-
restrischen Ursprung merkwürdiger mit atmosphärischer Staubtrübung oder
grolsen Stürmen verbundener Meteore wird man durch mikroskopische
002
2923 EHurEenBEre:
Analyse der Staubarten allmählig so genau und so schnell ermitteln können,
dafs sich eine wissenschaftlich und wohl auch sonst sehr interessante irdische
und überseeische Telegraphie dadurch zuweilen gestalten mag, wie sie schon
neuerlich(') und auch schon 1845 beim Hecla (?) stattgefunden.
VI.
Über eine neue Probe und Analyse des Scirocco-Staubes vom
16. Mai 1846 aus Genua.(°)
Herr L. v. Buch hat mir vor einigen Wochen in einer Sitzung der
Academie eine neue Probe des Scirocco-Staubes vom 16. Mai dieses Jahres
übergeben, welche der Director der Navigations-Schule in Genua, Herr
General Graf della Marmora, correspondirendes Mitglied der Academie,
als einer genauern Analyse würdig erkannt und eingehändigt hatte. Diese
Staubprobe befindet sich in einem starken Gläschen mit eingeriebenem
Stöpsel sehr sauber und wohl verwahrt.
Im Äufsern ist diese zweite reichere Probe der erstern von Herrn
Pictet in Genf gesandten völlig gleich. Es ist ein blafs rostrother sehr
zarter Staub, welcher sich leicht in seinen Theilen verschiebt. Auch in
der mechanischen Zusammensetzung ist die Übereinstimmung vollständig,
in folgender Art:
1. Jedes untersuchte Minimum der Substanz enthält zahlreiche erkenn-
bare, oft ganz wohl erhaltene Organismen.
2. Die Hauptmasse des Organischen sind kieselschalige Süfswasserthier-
chen und Phytolitharien.
3. Bei 20 genauen Untersuchungen nadelknopf-grofser Mengen sind keine
Kalkschalen-Thierchen und auch keine Seethierchen vorgekommen.
4. Synedra Entomon als südamerikanische Form und Discoplea atmos-
phaerica aus dem Malteser und Lyoneser Staube sind charactergebend.
3. Die an Individuenzahl vorherrschenden Formen sind Gallionella gra-
nulata und procera.
(') Es würde jetzt von grolsem Interesse sein, zu erfahren, ob beim Orkan vom
12. October 1846 in Havanna ein ähnlicher Staub gefallen ist.
(2) S. d. Monatsbericht 1845. p. 399.
(°) S. d. Monatsbericht 1846. p. 379.
Passatstaub und Blutregen. 293
Im Ganzen sind bei 20 Untersuchungen 26 Arten von Organismen
bestimmbar gewesen.
Kieselschalige Polygastrica. 12.
*
Gallionella decussata.
Campylodiscus Clypeus.
* Cocconema. distans.
Discoplea atmosphaerica. granulata.
Eunotia amphioxys. procera.
Argus. * Navicula.
gibberula. Synedra Entomon.
Kieselerdige Phytolitharia. 12.
* Amphidiscus armatus. Lithostylidium Clepsammidium.
Lithodontium furcatum. quadratum.
platyodon. rude.
rostratum. ä unidentatum.
Lithostylidium amphiodon. ü Trabecula.
© biconcavum. Spongolithis acicularis.
Weiche Pflanzentheile. 2.
Pollen —? Pius plantae.
Von diesen Formen waren 19 auch in der von Herrn Pictet einge-
sandten Probe aufgefunden. Mithin vermehrt sich hierdurch die For-
menkenntnifs des Genuesischen Staubes um 7 Arten, die mit Sternchen
bezeichnet sind.
" Diese 7 Arten sind aber nicht eigenthümlich, sondern sind sämmtlich
in den atlantischen und südeuropäischen rothen Staubarten der Atmosphäre
schon angezeigt.
Nr.
Über den rothen Schneefall mit Föhn im Pusterthale in Tyrol
am 31. März 1847, dessen Eigenthümlichkeit und sehr merk-
würdigen Anschlufs an die atlantischen Staub-Meteore.(!)
Am 31. März 1847 „fiel zu St. Jacob in Deffereggen (Tefferecken)(?)
beim Südwinde zwischen 10 und 11 Uhr Mittags ein farbiger Schnee, der
(‘) Monatsbericht 1847. p. 285. Vergl. Abschnitt IX.
(*) Nach den Geographen (Stielers Atlas) heilst der Ort „‚das Tefferecken-Thal am
Bache Tefferecken.
994 EHrRENBERG:
-
der ganzen Wintergegend einen sonderbaren Anstrich gab. Man suchte
diesen fremden Stoff zu gewinnen und bekam auf ungefähr 2 Quadratklaftern
103 Gran von einer ungemein feinen Erdart, die im trocknen Zustande
geschmacklos, mit äufserst feinem glänzenden Sandstaube vermischt ist und
ziegelfarbig aussieht. Dieselbe Erscheinung erstreckt sich über den ganzen
Landgerichtsbezirk Windisch-Matray und bis in die Gegend von Lienz, wie
mündliche Berichte melden.“(!)
Von diesem rothen Schneestaube hat sich Herr Jos. Oellacher,
Apotheker in Innsbruck, durch den Curat zu St. Jacob in Tefferecken,
Herrn Jgnaz Villplaner, zu einer chemischen Prüfung zu verschaffen
gesucht. Dieser wissenschaftlich aufmerksame Geistliche hat am Tage des
Schneefalls selbst und später am 20. April dergleichen Staub aus dem Schnee
gesammelt und sandte etwa 50 Gran von beiden Massen an Hrn. Oellacher.
Herr Oellacher fand beim Sieben der Substanz einen Rückstand von glatten
cylindrischen Fasern, die er für Samenwolle, zumeist ähnlich der des Pappus
der Centaurea benedicta hält.
Der im März selbst sogleich gesammelte reinste Staub hatte eine ziegel-
rothe ins Bräunliche ziehende Farbe, war sehr fein zertheilt wie geschlemmtes
Pulver, knirschte zwischen den Zähnen, entwickelte im Kolben erhitzt
zuerst Wasserdämpfe, ward dann schwarz und stiefs unter Bildung eines
braunen Oels empyreumatische Dämpfe aus, die ein geröthetes feuchtes
Lackmus-Papier augenblicklich blau färbten. Von Chromgehalt fand sich
keine Spur. Die chemischen Bestandtheile waren in 100 Theilen '
Schneestaub. Saharasand.
Kieselerde 1,72. 2,39.
Kohlensaure Kalkerde 20,48. 4,34.
Bittererde 9,04. 0,9.
Eisenoxyd 8,50. 0,92.
Alaunerde 4,63. 1,29;
Kali 1,60. 0,33.
Chlornatrium 0,06. 0,09.
(') Diese Nachricht wurde zuerst im Tyroler Boten vom 15. April gegeben, dann
ist die Erscheinung von Herrn Jos. Oellacher in der Wiener Zeitung vom 2. Juni
14847 ausführlich erläutert worden.
Passatstaub und Blutregen. 295
Schneestaub. Saharasand.
Chlorcaleium
Chlormagnesium Spuren. Spuren.
Salpetersaure Salze
Wasserhaltige stickstofffreie organische Materie 4,15. 0,93.
Unverwitterte Bestandtheile 47,30. 88,15.
100,00. 100,00.
Wegen beigemengter Pflanzenwolle und der stickstoffreichen organi-
schen Materien hält Herr Oellacher den Staub für terrestrisch, nicht für
kosmisch.
In Rücksicht auf die sehr allgemeine angenommene aber noch nicht
direct erwiesene Meinung, dafs der Seirocco-Staub von Süden kommend
aus Afrika stamme fand sich Herr Oellacher veranlafst, eine im Tyroler
National-Museum zu Innsbruck durch den Herrn Grafen v. Kunigl. nieder-
gelegte Probe eines rothen afrikanischen Wüstensandes, angeblich aus der
Sahara, ebenfalls chemisch zu prüfen. Herr Oellacher ist dadurch zu dem
Resultate gelangt, dafs der rothe Sahara-Staub allerdings genau dieselben
chemischen Bestandtheile enthalte, als der obige Schneestaub, wenn man
nur die unverwitterten Bestandtheile, deren sehr viel mehr im Wüstensande
seien, aufser Acht lasse. Durch den Luftschlemmungs-Procefs der Atmos-
phäre glaubt Herr Oellacher diese Differenz der weiter getragenen feineren
Massen hinreichend erläutert und erklärt sich überzeugt, dafs ein dem von
ihm untersuchten ähnlicher afrikanischer Wüstensand das Material zu dem
Schneestaubfall in Tyrol geliefert haben müsse, da auch ein ähnlicher See-
salz-, Kalk- und Stickstoffgehalt beide verbinde. Somit glaubt derselbe
zum erstenmale die wirkliche afrikanische Natur des Scirocco-Staubes nach-
gewiesen zu haben, denn die verwitterten Bestandtheile allein genommen,
geben folgendes Schema:
Schneestaub. Saharasand.
Kieselerde 15,24. 23,67.
Kohlensauere Kalkerde 40,49. 39,67.
Kohlensauere Bittererde 10,94. 8,23.
Eisenoxyd 16,70. 8,41.
Alaunerde 9,18. 11,42.
Kali 3,13. 7,38.
296 EHRENBER:G:
Schneestaub. Saharasand.
Chlornatrium 0,06. 0,09.
Chlorcalecium
Chlormagnesium Spuren. Spuren.
Schwefelsaure Salze
Wasserhaltige stickstoffreiche organische Materie 4,15. 0,93.
100,00. 100,00.
Da die mikroskopische Untersuchung mehrerer ähnlicher Staubmeteore
schon längst ein von dieser chemischen völlig verschiedenes Resultat ergeben
hatte, so erschien es mir wissenschaftlich nicht ohne gröfseres Interesse,
mich zu bemühen darüber Klarheit zu erlangen, ob der hervortretende Un-
terschied in der Untersuchung oder in der Substanz liege, da ja allerdings
sehr ähnliche Erscheinungen durch ganz verschiedene ursächliche Bedingun-
sen und Elemente hervorgebracht werden konnten, deren Erörterung hier
5
von besonderer wissenschaftlicher Wichtigkeit war.
Ich habe mich daher im Juli 1847 an Herrn Oellacher mit der
Anfrage gewendet, ob es wohl möglich sei eine, wenn auch noch so kleine,
Probe der Staubart jenes Schneefalles, so wie des von ihm untersuchten
Sahara-Staubes zur Ansicht und Prüfung zu erlangen? Auch über die Sicher-
heit der Lokalität des Sahara-Staubes bat ich um gefällige Auskunft. Darauf
ist mir ein freundliches Antwortschreiben sammt 4 kleinen Staubproben in
Papier zugekommen, deren eine A am Tage des Schneefalles selbst bei Tef-
ferecken von Herrn Villplaner gesammelt, deren zweite B ebenda, aber
am 20. April gesammelt ist und deren dritte D, von Taufers im Pusterthale,
ebenfalls später als der Schneefall, von demselben Geistlichen eingesammelt
worden. Üeberdiefs war eine kleine Probe desselben rothen Sahara-Sandes
C beigelegt, welchen Herr Oellacher analysirt hat.
Rücksichtlich des rothen Sahara-Sandes wird im Briefe folgende Er-
läuterung gegeben: „O ist der von mir untersuchte Sahara-Sand, den ich
der Farbe nach, mit „leicht ziegelroth“ bezeichnete, der aber, wenn man
will auch röthlich gelb oder gelbröthlich genannt werden könnte. Bereits
habe ich mit Herrn Grafen von Kunigl gesprochen, der — ihn von Herrn
Heinrich Littrow —, Bruder des jetzigen Directors der Wiener Stern-
warte, als einen ächten Sahara-Sand, den er selbst gesammelt hatte, em-
pfangen hat. Herr Littrow war — Marine- Offizier und (sein Onkel) —
Passatstaub und Blutregen. 9397
Graf K. glaubt sicherlich, dieser Sand sei aus Aegypten, will sich aber des-
halb noch bei Herrn Littrow erkundigen.“
Da es rücksichtlich des Sciroeco-Staubes wichtig ist, eine richtige
Ansicht von den Oberflächen-Verhältnissen von Nord-Afrika festzustellen,
so ist es nöthig hierbei darauf aufmerksam zu machen, dafs die in Innsbruck
aufbewahrte und in den chemischen Characteren verglichene Probe eines
afrikanischen Sandes aus den brieflichen Mittheilungen nicht den Character
eines auffallenden und bedeutenden Oberflächen-Verhältnisses, sondern nur
den eines nebenbei betrachteten Localverhältnisses gewinnt, an deren ähn-
lichen es freilich in Nordafrika nicht fehlt. Ich selbst habe die bunten,
rothen, gelben und violetten sehr mürben Mergel und Sandsteine der Sahara-
Wüste in ihrem Abfall bei Siwa beschrieben und abgebildet(!) und es ist
bekannt, dafs im Innern von Afrika viel hochrothes Eisenoxyd und rother
Bolus zum Malen des Leibes bei den Negern benutzt, auch viel Eisen ge-
wonnen wird. Ich selbst habe die zu Tage gehenden Lager von Brauneisen-
stein in Dongola 1821 besucht und ihre Proben zuerst nach Europa und
Berlin gesandt. Alle diese nicht seltenen Verhältnisse stets lokaler eisen-
schüssiger brauner, rother und gelber Erden, welche wo sie vorkommen,
am meisten in die Augen fallen und von Reisenden leichter als gewöhnliche
graue Erden, als Landes-Proben und Andenken, mitgenommen werden,
sind für den Seirocco-Staub ohne Bedeutung. Auch ist dort an der Küste,
bis tief in die Wüste, überall eine grofse Efflorescenz von Salzen aus dem
Boden. Ferner ist der Flugsand sehr reich an organischen, besonders kalk-
schaligen Theilen und Formen, so dafs er zuweilen ganz aus organischen
Meeresformen besteht. So kann es freilich im oberflächlichen Sande der
Sahara nicht an organischen Resten und Formen fehlen. Da aber der be-
kannteste Character der Sahara in dem Mangel an süfsem Wasser besteht,
so liegt es nahe, dafs da wo organische Mischungen im Sande vorkommen,
diese nicht dem Süfswasser, sondern dem Meere oder Salzwasser, wenig-
stens vorzugsweise angehören werden. — Endlich ist der von Herrn Oel-
lacher zur Vergleichung herbeigezogene rothe eisenschüssige Sand doch
auch von ganz anderer Farbe, als der in Tyrol gefallene Schneestaub. Er
ist, wie im Briefe von ihm selbst angegeben wird und der Augenschein deut-
(') Reisen in Aegypten u. s. w. 1828 p. 134.
Phys. Kl. 1847. Pp
298 EHuRENBERG
lich ergiebt, grell gelbroth, nicht ockergelb oder braunröthlich. Wenn
man hierzu noch bedenkt, dafs kleinere und gröfsere Staubwirbel und eine
staubige Atmosphäre in der Sahara und schon in Aegypten selbst zu den
fast täglichen Erscheinungen gehören und dafs weder von mir selbst bei
sechsjährigem Aufenthalte daselbst, noch von anderen Reisenden je ein
rother Staub bemerkt und angezeigt ist, ungeachtet der Chamsin und Sa-
mum stets aus dem tiefen Innern des Continents kommen, dafs
vielmehr von weifsen Oberflächen und grauem Staube stets ‘dort die Rede
ist und dafs meine Erfahrung von Aegypten und Libyen bis Dongola hinauf
mir ein völlig gleiches Bild dieser Verhältnisse eingeprägt hat, so können
auch kleine Proben rothgelben Sandes, welche Reisende von dort mitge-
bracht haben mögen, dieses feste Bild nicht stören. Hunderte von Fufsen
hohe, blendend-weilse Berge von feinstem Flugsande als Felsanhänge in
den Gebirgsgegenden und ebenso tiefe gleiche Anfüllungen der Thäler bilden
die beweglichen Oberflächen-Verhältnisse in der wasserlosen grofsen Sahara.
Nach diesen Erläuterungen erlaube ich mir das Resultat meiner Unter-
suchung des Tyroler Schneestaubes vorzutragen.
Der am 31. März im Pusterthale mit Schnee und beim Südwinde
(Föhn, Fovonius?) gefallene Staub zeigt in seiner Zusammensetzung bei
Anwendung des Mikroskopes viele verschiedenartige, nicht vulkanisch ver-
änderte Theile, ganz gleich der Zusammensetzung des im atlantischen Meere
bei den Capverden regelmäfsig fallenden Staubes. Unter diesen Theilchen
sind so viele erkennbare Fragmente kleiner, meist Süfswasser-Organismen,
dafs, wie dort, jedes kleinste von mir untersuchte Staubtheilchen deren
erkennen liefs.
Die mir übersandten 3 Proben des Tyroler Staubes sind unter sich
an Farbe etwas verschieden. Die Probe No. 1., vom frisch gefallenen
Schnee gesammelt, ist ockergelb oder blafs und schmutzig rostfarben, etwas
heller als die beiden später gesammelten, aber der Farbe des atlantischen
Staubes, so wie des Meteorstaubes von Malta, Lyon und Genua, welche
im vorigen Jahre analysirt wurden, auffallend gleich. Die beiden anderen
später gesammelten Proben sind etwas dunkler oder bräunlich, am meisten
die von Taufers D. Alle sind sehr leicht verstäubend und in den übrigen
äufseren Characteren den atlantischen Staubarten ganz gleich.
Der vom Herrn Oellacher analysirte Sahara-Sand ist, der vorliegen-
Passatstaub und Blutregen. 399
den Probe nach, an Farbe grell rothgelb, viel lebhafter gefärbt und obwohl
fein (wahrscheinlich gesiebt) doch sehr viel gröber, in seinen Theilen leichter
verschiebbar und durchaus nicht verstäubend. Die ihn zusammen-
setzenden Theile sind unregelmäfsige Quarzkörnchen, die alle einen feinen
Eisenoxyd-Überzug haben und dazwischen liegen einzelne undeutliche Kalk-
theilchen von Polythalamien oder zerriebenen Muscheln, eine Zusammen-
setzung, welche ganz einem feinen quarzigen Dünensand gleicht, vielleicht
aber einem verwitterten eisenschüssigen Sandsteine angehört. Von Süfs-
wasser-Organismen ist keine Spur darin.
Folgende 66 Formen haben sich als organische Beimischungen des
rothen Schneestaubes vom 31. März feststellen lassen:
RE TEN tam. |Sipe
A. Polygastrica. nn C. N
Campylodiscus Clypeus + +
Coscinodiscus radiolatus? _ _ — -
Discoplea atmosphaerica _ = — r
Eunotia amphioxys +! +! —_ +
Argus +
gibberula er
longicornis = _ — r
Fragilaria rhabdosoma _ +?
Gallionella erenalta | + _ — +
distans + au m
granulata +! +! — +!
laminaris +
procera +! +! En Su)
Gomphonema truncatum +
Pinnularia aequalis _ —_ _ +?
borealis +! N er ae
viridis — +?
viridula +
pP —
Stauroneis se
300 EHRENBERG:
Schneestaub von Sah Schnee-
Tefferecken. ahara- |taub von
————— Sand. Taufers.
A. B. eunll Be D.
Surirella Craticula Eh
Trachelomonas laevis _ + _ =
<=
>
=)
B. Phytolitharia.
Ampbhidiscus truncatus +! +!
Lithasteriscus? _ _
Lithodontium Bursa +
Jalcatum +
Jurcatum
+
nasulum +
platyodon
rostratum
Lithostylidium Amphiodon
biconcavum
Catena —
clavatum —_
4+4+++++
Clepsammidium) +
crenulatum
Emblema
Lima
+
polyedrum
quadratum
Jajula
rostralum
rude
serpenlinum
++ 4+++++
+++
|
Serra
spiriferum
Trabecula
unidentatum
+
Spongolithis acicularis
oblusa
3 a a ae ae ae a a ee ze
++ 1 #1
+ I#+++ +
EEE |
-
je.)
Passatstaub und Blutregen. 301
Schneestaub von Sah Schnee-
Tefferecken. ahara- [taub von
Sand.
m N Taufers.
C. Polythalamia. A. B. €. D.
Miliola? Pr
? ni 4 ?
Spiroloculina? _ er — E
)
Fr
D. Plantarum particulae
molles.
Squamula plantae dichotoma| — = = +
Plantarum particulae
cellulosae| + -r — -
‚Jibrosae + _ _ +
porosae —_ u — +
Pollen Pini + _ _ +
fr — — —_
Semen Filicis +
Pilus plantae laevis simplex - +
articulatus == +
dentatus (Pappus?) — er
spiralis == _ _ +
siellatus — +
scaber simplex — ==
E. Insectorum fragmenta.
|
|
+
Squamula alarum (Tineae?’)| —
er
Es sind 20 genaue Analysen von A, 10 von B, 10 von C und 20 von
D gemacht worden, zusammen 60. Als Resultat dieser mikroskopischen
Analysen des Tyroler Schneestaubes vom 31. März d. J. lassen sich, wenn
man die 4 oben genannten Proben unter sich vergleicht, folgende Punkte
feststellen.
1. Der Schneestaub vom 31. März und der Sahara-Sand, welcher von
Herrn Oellacher zur Vergleichung gezogen worden ist, sind chemisch zwar,
seiner Analyse zufolge, in gewisser Beziehung nahe gleich gemischt, mikro-
302 EHurEnBEre:
skopisch aber durch kein einziges sicheres Merkmal vereinigt, dagegen durch
66 sichere Merkmale getrennt. Je übereinstimmender aber die chemische
Zusammensetzung und je abweichender gleichzeitig diemechanische Mischung
ist, desto deutlicher tritt hervor, dafs die mikroskopische Analyse in solchen
Fällen der chemischen sehr viel vorzuziehen ist, wenn man beide zu ver-
binden nicht Gelegenheit hat.
2. Die 3 zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gesam-
melten, aber auf ein und dasselbe Meteor bezüglichen Tyroler Staubarten
zeigen eine so grofse Übereinstimmung in ihren mechanischen Mischungs-
Verhältnissen, dafs man sich überzeugt fühlt, dafs auch die nicht am Tage
des Schneefalls aufgesammelten Proben in ihrer Reinheit fortbestanden
haben und aufgenommen worden sind. Die etwas mehr dunkelnde Farbe
der später gesammelten Proben mag vom Einwirken des Wassers durch die
oberflächliche, wenn auch geringe Schneeschmelzung auf die organischen
weichen Theile entstanden, ein anfangendes Verrotten sein.
3. Da ein solches Verrotten dieses Staubes möglich ist, so darf man
daraus schliefsen, dafs die demselben ausgesetzten Theile vom Winde aus
lebenden rasch abgetrockneten (sehr trocknen, nicht vorher schon verrotte-
ten) Verhältnissen emporgehoben und fortgetragen worden sind.
4. Die Gesammtzahl der hiermit unterschiedenen organischen Formen
dieses Schneestaubes beträgt 66 Arten, nämlich:
Summa. Tefferecken. Taufers.
Kieselschalige Polygastrica 22 18 10
Kieselerdige PAytolitharia 28 24 18
Kalkschalige Polythalamia 2 1 1
Weiche Pflanzentheile 13 9
Insectentheile 1 _ 1
66. 52. ee
Von diesen 66 sind bei Tefferecken 52, bei Taufers 37 Arten nieder-
gefallen. Mithin sind 14 bei Taufers niedergefallene Formen nicht bei
Tefferecken und 29 bei Tefferecken niedergefallene nicht bei Taufers beob-
achtet worden. Die Differenz kann und mag deshalb in der Beobachtung,
nicht in der Substanz, liegen, weil leicht jedes neu zu beobachtende Theil-
chen die fehlenden Lokalformen enthalten kann und weil die Mischung
übrigens auffallend gleichartig ist.
Passatstaub und Blutregen. 303
In sämmtlichen 3 Staub-Proben gleichartig sind 10 Formen. Da aber
2 dieser Staub-Proben sich auf eine und dieselbe Lokalität beziehen, so
giebt die Vergleichung der beiden Localitäten das andere Resultat, dafs
nämlich 23 Arten, mehr als 2, in beiden übereinstimmen, ein schon hin-
länglich ausreichendes Verhältnifs um den gleichartigen Ursprung anzuzeigen.
Dazu kommt aber der weit wichtigere Umstand, dafs dieselben Formen,
welche vorherrschend in der einen Lokalität A und B sind, es auch in D sind.
5. Die an Individuenzahl vorherrschenden Formen sind in dem Tyroler
Schneestaube beider Lokalitäten :
Eunotia amphioxys. Pinnularia borealis.
Gallionella granulata. Amphidiscus truncatus.
procera.
alle übrigen Formen sind mehr vereinzelt.
6. Die grofse Mehrzahl der Arten sind bekannte Süfswasser- und Conti-
nental-Bildungen. Nur 4-6 Arten von den 66 sind unbekannt und von
diesen sind nur 2 möglıcherweise Meeresgebilde:
Gallionella laminaris. Lithostylidium Lima.
Pinnularia — ? Pollen — ?
Amphidiscus truncatus. Semen Filicis.
Die letzteren 3-4 gehören zu den sicheren continentalen Süfswasser-
Gebilden, die ersteren 2-3 könnten Meeresgebilde, aber auch Süfswasser-
Formen sein. Dennoch läfst sich an einigen Formen erkennen, dafs der
Staub nicht aus einem Continental- Verhältnisse entsprungen ist. Aufser
jenen zweifelhaften 2-3 neuen Formen finden sich 2 sichere Meeresbildun-
gen dabei:
Coscinodiscus radiolatus. Spiroloculina?
Vielleicht ist auch Discoplea atmosphaerica dahin zu nehmen.
7. Die nach Herrn Oellacher muthmafslich dem Pappus der Centaurea
benedicta angehörigen Fasern des Tyroler Schneestaubes sind sehr verschie-
dene Pflanzenhaare, deren 2 Arten, Pilus dentatus und laevis simplex,
vielleicht allerdings Pappushaare sein könnten, andere sind so eigenthüm-
lich, dafs mir keine solche Formen aus Europa bekannt sind, namentlich
die spiralen und die gabelartig viel verästeten. Sie dienen vielleicht später
zur Feststellung geographischer Beziehungen, für jetzt aber ist es nicht mög-
lich mit einiger Sicherheit den Ursprung dieser Haare zu beurtheilen.
304 EHRENBERG:
8. Sämmtliche Formen haben zwar den Character europäischer Genera
und die meisten sind europäische Arten, doch finden sich auch die meisten
in amerikanischen Lokalitäten, weniger zahlreich in afrikanischen. Über
die neuen Formen läfst sich in geographischer Beziehung nicht urtheilen.
9. Es ist hiermit zum erstenmale deutlich, dafs dem rothen frischen
Schnee wirklich organische Verhältnisse zuweilen zum Grunde liegen, wäh-
rend die gewöhnlichen berühmten ähnlichen Erscheinungen nur auf den
schon Aristoteles bekannten Fall passen, wonach der alte liegende Schnee
sich roth färbt. Diese rothe Färbung des alten Schnees, irrthümlich öfter
auf die secundären Infusorien übertragen, ist durch eine bei niederer Tem-
peratur sich entwickelnde Pflanze, Sphaerella nivalis aus der Abtheilung der
Algen bedingt, deren erst grünen, dann rothen Inhalt, wenn er frei wird,
die Infusorien verzehren und mit dem sie als Träger, selbst farblos, neue
sehr lokale Färbungen veranlassen. Vergl. die Infusionsthierchen als vol-
lendete Organismen 1838 p. 119.
Vergleicht man nun den diesjährigen Tyroler Schneestaub (1847) mit
dem Sciroceo-Staube von Malta, Genua und Lyon, von welchem im vorigen
Jahre (1846) der Academie Meldung geschehen, so wie mit dem früher
analysirten Meteorstaube der Capverdischen Inseln und des atlantischen
Öceans, so ergeben sich folgende höchst merkwürdige Verhältnisse.
1. Die Farbe und das ganze Äufsere in allen Characteren, Feinheit,
Adhäsionsverhältnifs der Theilchen, Schwere, verhält sich beim trocknen
Tyroler Schneestaub durchaus nicht wie bei gewöhnlichem Luftstaub der
Stürme, aber ganz und gar dem Scirocco-Staube und dem atlantischen
Meteorstaube gleich.
2. Die org
5
staub so auffallend characterisiren und sich gleichartig im Seirocco -Staube
anischen Beimischungen, welche den atlantischen Meteor-
gefunden haben, sind in höchst merkwürdig übereinstimmender Weise auch
im Schneestaube vorhanden. Diese Übereinstimmung betrifft folgende
wesentliche Punkte:
a. Das Organische gehört denselben Abtheilungen an, es sind nur Poly-
gastrica, Phytolitharia, Polythalamia, weiche Pflanzentheile, Insecten-
theile, alle mikroskopisch.
b. Von den 66 Arten des Tyroler Staubes sind 46, mithin mehr als 2,
nämlich:
Passatstaub und Blutregen. 305
Polygastrica 17
Phytolitharia 235
Weiche Pflanzentheile 4
46
in den sämmtlichen früher analysirten Scirocco- und atlantischen
Staubmeteoren gleichartig angezeigt. Folgende 21 aber sind in jenen
Verhältnissen bisher nicht beobachtet:
Kieselschalige Polygastrica 5:
Coscinodiscus radiolatus. Pinnularia — ?
Gallionella laminaris. viridis.
Gomphonema truncatum.
Kieselerdige Phytolitharia 3:
Amphidiscus truncatus. Lithostylidium Lima.
Lithostylidium Catena.
Kalkschalige Polythalamia 2:
Miliola ? Forma incerta. ( Spiroloculina?)
Weiche Pflanzentheile 10:
Poröse Pflanzenzellen (Pinus?) gezahnte
Fasrige Pflanzenzellen Pflanzenhaare (@ Pappus?).
glatte einfache (Pappus?). sternartige.
glatte gegliederte. Blüthenstaub?
Pflanzenhaare ü
rauhe einfache. Farnsame.
einfache mit Endspirale.
Insectentheile 1: Schmetterlingsschüppchen.
Von diesen 21 eigenthümlichen Formen sind die Mehrzahl Pflanzen-
fragmente und ohne characteristische Eigenthümlichkeit. Auch sind
dergleichen Pflanzenfragmente bei den früheren Analysen des Seirocco-
„und atlantischen Meteorstaubes weniger speciell beachtet worden, da das
Interesse erst neuerlich sich dafür gehoben hat. Von den 5 Polygastern
als selbstständigen Organismen sind nur 2 neu.
c. Die ganze Formen-Masse ist, wie sowohl im Scirocco als dem atlanti-
schen Meteorstaube, vorherrschend aus Süfswasser- und Continental-
Gebilden gemischt, in allen aber sind einzelne Meeresformen, so dafs
man den Ursprung aus der Mitte eines grofsen Continentes nicht an-
nehmen kann.
Phys. Kl. 1847. Qq
306 EHRENBER6G:
d. In allen diesen gleichfarbigen Meteoren sind die Formen ohne vulka-
nische Charactere (nicht gefrittet oder angeschmolzen).
e. In allen sind sie ohne die Charactere eines Entwicklungsverhältnisses
in der Atmosphäre selbst, vielmehr mit den Characteren terrestrischen
Ursprungs. So wenig sich Säugethier-Knochen in der Atmosphäre
entwickeln können, so wenig können es die zahlreichen Phytolitharien,
welche Kieseltheile von Pflanzen sind.
f. In allen diesen, sowohl der Localität nach, als der Zeit nach so höchst
verschiedenen, aber gleichfarbigen Meteoren, welche seit 1830 bis
1847 von den Capverden bis Tyrol und in den verschiedensten Jahres-
zeiten gefallen sind, sind gewisse gleiche Formen so vorherrschend,
5°
kommen ist, ja wie die terrestrische Verschiedenheit der Jahreszeiten
wie esin keinem Verhältnifs mikroskopischer F orschung bisher vor
es nie zu erlauben scheint. i
3. Vergleicht man den Tyroler Schneestaub nur mit dem atlantischen
Meteorstaube, ohne Rücksicht auf den Scirocco von Malta, Genua und
Lyon, so zeigen sich als gleiche Arten
12 Polygastrica d. i. über die Hälfte,
20 Phytolitharia d. i. über 3.
Vergleicht man nun den Scirocco-Staub von Malta, Genua und Lyon mit
dem Tyroler Schneestaube, ohne Rücksicht aut den atlantischen Meteorstaub,
so giebt das 11 übereinstimmende Formen, oder 4.
4. Dem atlantischen Meteorstaube, dem südeuropäischen Scirocco und
dem Tyroler Föhn stets gemeinsam sind folgende 3 Formen:
Campylodiscus Clypeus. Gullionella procera.
Gallionella granulata.
5. Dafs Föhn und Scirocco stets als Fortsetzungen der westindischen
Sturmwirbel erschienen, ist durch die neuere Wirbel-Theorie der Stürme
gegen die alte Meinung, dafs sie aus Afrika kämen, theoretisch wahre
lich geworden und somit könnte der Gegenstand durch den directen Nach-
weis aus speciellen bewegten Staubarten befestigt und wissenschaftlich abge-
macht erscheinen. Dafs jedoch die Erklärung noch nicht völlig abgeschlossen
sei, ergiebt sich aus folgenden Betrachtungen.
Die bereits vorliegenden Analysen der von 1830 bis 1847 gefallenen,
vom Harmattan oder Passat, Scirocco und Föhn getragenen Staub-Meteore
Passatstaub und Blutregen. 307
zeigen eine grofse Ähnlichkeit in der Mischung mit organischen kleinen
Theilen. Solche Mischung läfst sich von jedem Sturme a priori erwarten.
Dafs es aber überall gleichartige kleine Theile, dafs es sehr grofse
Mengen verschiedener gleichartiger Theile sind, ist sehr auffallend
und wird es noch weit mehr dadurch, dafs sie 17 Jahre lang undin
ganz verschiedenen Jahreszeiten so gleichartig blieben, dafs so-
gar die vorherrschenden Formen des einen Meteores auch die an
Individuenzahl vorherrschenden Formen der übrigen sind. So
gleichartige von Stürmen zu bewegende Oberflächen-Verhältnisse sind selbst
dann nicht denkbar, wenn man sich der höchst unwahrscheinlichen Vorstel-
lung hingeben wollte, dafs alle die untersuchten Meteore und Stürme immer
genau von einem und demselben sehr beschränkten Punkte eines und des-
selben Landes ihren Anfang genommen hätten. Überall wo Leben gedeiht,
wechseln Jahreszeiten oder Regenzeiten und mit ihnen wechseln, nicht blos
theoretisch, sondern meinen vielen directen Erfahrungen nach, entweder
die Arten oder doch die Frequenz der einzelnen Lebensformen. Bedenkt
man die Beimischung von Seethierchen und die immer gleiche Frequenz,
das immer wiederkehrende Vorherrschen derselben Formen, so verschwindet
alle Möglichkeit, daran zu denken, dafs die Staub-Meteore, welche der
europäische Scirocco so wie der deutsche Föhn bewegt und welche den
atlantischen Ocean nur in der Passatzone, auch im europäischen Winter
(Januar und Februar) weit bedecken, sämmtlich stets direct aus West-
indien abstammen könnten. So unmöglich es ist, sich die seit 1830
bis 1847 in Vergleichung gebrachten Stürme alle in einem genetischen
Zusammenhange, als ein einziges Continuum, zu denken, so unmöglich
ist es auch, die von ihnen bewegten Staubmassen , bei solcher Gleichheit,
sich ohne genetischen Zusammenhang zu denken.
Es scheint sonach, wie es schon im November 1846 bestimmt ange-
deutet wurde, immer nothwendiger zu werden, aneinen durch constante
Luftströmungen constant schwebend gehaltenen Staubnebel zu
denken, welcher, in der Passatzone gelegen, theilweis und
periodisch Ablenkungen zu erfahren hat. Hiermit würde dann jede
Schwierigkeit wegfallen, dafs alle genau beachteten Scirocco und Föhn-
Stürme der verschiedenen Jahreszeit und der Jahre ungeachtet, stets einerlei
Mischung der Staub-Meteore zeigen. Andererseits würde, ungeachtet der
Qq2?
308 EHRENBERGEG:
Beimischung südamerikanischer Formen, nicht nothwendig anzunehmen
sein, dafs alle Sciroeco und Föhn-Stürme aus einer, von ihrer aus Süden
kommenden [Richtung ganz abweichenden, Lokalität in Westindien ihren
Ursprung nehmen und allemal Wirbelwinde sein müfsten. Nothwendig
würde nur, des von ihnen getragenen Staubes halber bleiben, dafs sie in
der Passatzone anfıngen, gleichviel ob in der Nähe von Afrika oder Amerika.
Da der wahre Passatwind das Festland von Afrika wohl gar nicht berührt,
so würden sie nie von dessen Oberfläche unmittelbar kommen können, wohl
aber von Amerika zuweilen, von wo ursprünglich die Masse des bewegten
Staubes doch die Charactere mit sich trägt. Bei solchen Verhältnissen
würde .es auch nicht mehr auffallen, wenn der von Herrn Pottinger beob-
achtete gelbe Meteorstaub der Stürme in Beludschistan diese Mischung
besäfse und demselben Verhältnifs angehörte, ohne dafs deshalb jene asiati-
schen Stürme nothwendig in Cayenne oder den Antillen angefangen haben
mülsten.(!)
6. Da es gewifs sehr wünschenswerth ist für diese so eigenthümlichen
Staub-Nebel und deren Substanz -Verhältnisse immer genauere und ausge-
dehntere Nachrichten zu erhalten, so dürfte es angemessen sein, daran zu
erinnern, dafs bei der grofsen Häufigkeit und dem Anhalten der Erscheinung
im südlichen Europa, es den Bemühungen der Physiker, wenn man die
optischen Charactere der Luft und des veränderten siderischen Lichtes in
diesen Verhältnissen, sehr genau prüfte, gewils gelingen würde, auch solche
Nebel, die ihrer grofsen Ferne oder electrischer Erdverhältnisse halber,
von keinem Staubfalle begleitet sind, mit Sicherheit vergleichend zu beur-
theilen. Mit manchem Höhrauch würden vielleicht manche Trübungen des
siderischen Lichtes, Mondhöfe u. dergl. mehr, eine andere Erklärung finden,
vielleicht sogar würde für den organischen Seiroeco-Staub ein weit gröfserer
Gesichtskreis, oder doch die Sicherheit, dafs er nicht betheiligt ist, ge-
wonnen werden.
7. Danach Herrn Sabine’s genauen Beobachtungen in der Gegend des
Gambia und der Capverden der feuchtere Nordost-Passat um 2 volle Grade
(‘) Nur der brakische unfruchtbare Character dieses überaus merkwürdigen asiatischen
rothen Staubes giebt ihm einen eignen Character, den ich am 27. Januar 1848 in einer
vor der Akademie zum Jahrestage des Geburtstages König Friedrich II. gehaltenen Ein-
leitungsrede, welche besonders gedruckt ist, bezeichnet habe.
Passatstaub und Blutregen. 309
(21°, 2) wärmer war, als der trocknere echt afrikanische Landwind Harmat-
tan (19°, 2), so leitet dies wohl auf eine Erklärung des auffallend höheren
Temperatur-Verhältnisses der europäischen Südwinde, ohne Mithülfe der
afrikanischen Wüsten. Sabine, übersetzt in Schweiggers Jahrbuche
der Chemie und Physik 1827 p. 3b.
8. Der Mangel an vulkanischen Staubtheilchen in diesem Meteorstaube
fängt nun an auffallend zu werden, da es aufser Zweifel gestellt ist, dafs
grofse vulkanische Staubmassen in den antillischen Inseln bis zum oberen
Passatstrome emporgeschleudert und in demselben weit fortgetragen worden
sind. S. den Monatsbericht der Acad. 1847 p. 152.
9. Die der Akademie im November 1846 vorgetragene Ansicht über den
mit dem Scirocco-Sturme von Lyon am 17. October gefallenen Meteorstaub
dessen Mischung mit 73 namhaften organischen Theilen, und deren wahr-
scheinlicher Verbindung nicht mit Afrika, sondern mit Guiana in Südamerika,
hat seitdem in der veröffentlichten gründlichen Untersuchung des Verlaufes
des Orkans von Herrn Fournet in Lyon eine weitere entschiedene Stütze
gefunden. Schon unter dem 3. Januar meldete mir Herr Dr. Lortet, nach
Zusendung meiner Resultate in brieflicher Mittheilung, dafs der am 11.
(9. Oct.) in der Havannah, Grenada, St. Vincent, Martinique und allerdings
wahrscheinlich in Oyapack in Cayenne stattgefundene Orkan, Herrn Four-
nets Untersuchung nach, den Anfang dieses Sturmes gebildet zu haben
scheine. So hätte denn die mikroskopische Analyse unerwartet
sicher den Ausgangspunkt der Substanzen vorausbestimmen
lassen.(!)
(') Nach dem gedruckten Berichte des Herrn Dr. Lortet, Präsidenten der Commis-
sion Hydrometrique in Lyon vom 26. Febr. 1847 (Rapport sur les travaux de la Com-
mission en 1846 p. 5.) wurden die ersten Anzeigen des Orkans am 17. Oct. in Guiana,
Jamaica, Grenada und St. Vincent, am 11. in Florida u. s. w. bemerkt. Nach Herrn
Prof. Fournet p. 63, hat sich die Bewegung der Atmosphäre an der Küste von Brasilien
zuerst, dann (oder gleichzeitig) in Guiana kund gegeben. Es wäre interessant, besonders
auch aus dem Innern von Südamerika in der Aequatorial-Zone durch Reiseberichte oder
stationäre Missionare vergleichende Nachrichten über jene Zeit zu sammeln. Die ähnlich
gefärbten gelben und rothen, stark eisenhaltigen Erden sind, nach den von den Herrn
Gebrüdern Schomburgk mitgebrachten Materialien, gerade da bis tief ins Innere vor-
herrschend. Von Polyeystinen und Geolithien aus Barbados (S. Monatsber. 1846 u. 1847
p- 40.) zeigt sich nirgends eine Spur im Meteorstaube. Es scheint auch nöthig ausdrücklich
zu bemerken, dafs ich solche directe Küsten- und Oberflächen-Verhältnisse
310 EHrENBERG:
Nach Herrn Fournet’s Darstellung hat der Staub nachweislich eine
elliptische Fläche von 26,300 Quadrat-Kilometern (c. 400 DMeilen) bedeckt.
Von Süd nach Norden bilden Livron und Ceyzeriat, von West nach Ost
Lignon und Mont-Cenis die Grenzen. Quinson Bonnet in Valence sam-
melte auf 40 TJMetres bis 30 Grammen solcher Erde und schliefst daraus,
dafs die im Departement de la Dröme von den Wolken getragene Masse
7200 Centner betragen habe (180 vierspännige Fuhren jede zu 40 Centner)
p- 82 und 84. Die Meinung einzelner Beobachter in Frankreich, dafs der
Staub aus der Nähe entführt sei, ist zurückgewiesen, auch ist einer mikrosko-
pischen Analyse des Staubes von Valence durch Herrn Lewy, welcher nichts
Organisches darinn sah, nur nebenbei und nicht mit dem Sicherheitsgefühle
Erwähnung geschehen, als sei der Staub von Valence wirklich anderer Natur
gewesen.(!) Herr Fournet ist der Meinung, dafs das Centrum oder der
Anfangspunkt des Sturmes in der Mitte zwischen der Mündung des Amazonas
und dem Gap Vert in 35° östl. Länge gewesen und dafs von da sich die
Wellen desselben zu den vorhandenen Beobachtungspunkten, zuerst zu den
kleinen Antillen, Brasilien und Guiana, fast mathematisch genau verfolgen
lassen. Wie und wo der, dem vor 16 Jahren gefallenen gleiche, Staub hin-
zugetreten, ist durch diese Darstellung nicht erklärt. Die angewendete
im Passat-Staube nicht erwarte, und dafs ich gar nicht etwa der Meinung
bin, dals die Guiana-Formen, obwohl ich noch jetzt vermuthen muls, dafs sie zum
wesentlichen Theil von dortigen Küsten- und Continental-Puncten stammen, vom Orkane
am 9. Oct. daselbst weggeführt worden sind, vielmehr hat dieser Orkan damals
dort wohl nur die untere Passat-Zone bewegt und erst irgend wo anders mag derselbe
die so constanten weit feineren Staubnebel ergriffen und verdichtet haben, welche muth-
malslich der aufsteigende Passat langsam und in wohl sehr langer Zeit aus den Aequa-
torial- Gegenden Amerika’s in der oberen Atmosphäre angehäuft hatte. Die bei einem
solchen Versuch zur Erklärung rückbleibenden Schwierigkeiten verkenne ich nicht, halte
aber für besser, irgend eine als gar keine leitende Idee bei der ferneren Untersuchung
zu haben. Die bisher vorgelegten sicheren Data über die Substanz, deren Volumen und
Verbreitung sind auffallend genug, haben nicht abzuläugnende mannigfache allgemeinere
Beziehungen und wollen verbunden sein. Möge dies späterhin immer genügender gelingen.
Bei der obigen Vorstellung erscheint es von Interesse, Proben des auf den Antillen oder
in der Hayannah u. s. w. vielleicht gefallenen Staubes zu vergleichen, oder doch gewils
zu werden, ob auf der ganzen Bewegungslinie des Orkans im unteren Passate bis
Nordamerika und zum Wendepunkte der Orkan-Richtung hin, auch schon dergleichen
gelber Staub vorgekommen ist.
(') Vgl. Comptes rendus Paris 1847. II. 812. Hr. Ducaisne fand unsichre Spuren.
Passatstaub und Blutregen. 311
Wirbeltheorie des Sturmes ist, Herrn Fournets Angabe p. 3 nach, der
von Herrn Dove der Akademie früher vorgetragenen beistimmend und be-
stätigt dieselbe.(!)
10. Offenbar ist wohl der am 31. März d. J. 1847. mit Regen gefallene
Meteorstaub von Chambery in Savoyen (pluie terreuse), dessen im Nach-
trage zu Herrn Fournets höchst verdienstlicher Abhandlung über das Lyoner
Staub-Meteor p. 97 u. 98 Erwähnung geschieht, dasselbe Phänomen mit
dem Tyroler Schneestaube, wodurch die Verbreitung und Richtung dessel-
(') Notice sur les orages et sur la pluie de terre de l’Automne 1846. Par M. J.
Fournet. Annales de la Soc. royale d’agriculture de Lyon 1847. M. Bouteille, Ver-
fasser der Ornithologie du Departement de l’Isere, welcher sich in Lans-le-Bourg am
Fulse des Mont Cenis befand, bemerkte, dafs dort die Menge des Staubes noch grols
genug war, um anzunehmen, dafs er auch jenseits der Alpen gefallen sei (p. 81. 82). —
Über denselben Staubfall hat Herr Alph. Dupasquier, Professor der Chemie in Lyon,
chemische Analysen und seine Ansicht der Verhältnisse unterm 22. März 1847 kurz mit-
getheilt. Notice sur une pluie de terre tombee dans les Departements de la Dröme, de
l’Isere, du Rhöne et de l’Ain, les 16 K 17 Oct. 1847. Auch dieser Schrift zufolge soll
man schon um 8 Uhr Morgens und dann um 6 Uhr und 114 Uhr Abends Staubfall in
Lyon beobachtet haben. Dasselbe berichtet Herr Fournet. Herrn Dupasquiers Analyse
des Staubes von La Verpiliere (Isere) und Meximieux (Ain) und die von Valence ergaben:
Staub von La Verpiliere von Meximieux von Valence (Lewy).
Kieselerde 54. 5 52. 0 58. 8
Thonerde U Al Te & 13. 3
Eisenhydrat 7:9 [oP:) 6.6
Kohlensaurer Kalk 21. 3 206. 3 21.1
Kohlensaure Magnesia ao) 2.0 Spuren
Organische Stoffe (Kohle) Ho) 3.3 _ —
100. 0 100. 0 99. 8
Zu Meximieux im D£p. de P’Ain fiel der Regen Morgens um 8 Uhr am 17. Oct.
mit leichtem Südwind, so dafs alle Fenster der Wohnungen von dieser Seite beschmutzt
waren, alle Pflanzen waren davon überzogen und ein Bataillon Soldaten, das nach Genf
hin zog, war wie mit Schlamm bedeckt. — In Ceyzeriat desselben Departements war
nach der Beobachtung des Kloster-Einnehmers Herrn Chambre, die Staublage auf den
Pflanzenblättern einförmig, rehfarben (couleur biche) und von der Dicke eines starken Papiers.
In der Herrn Dupasquier von La Verpiliere zugekommenen, durch Hrn. Vezu,
ehemaligen Chemiker der arzneiwissenschaftlichen Schule zu Lyon eingesammelten Flasche
mit Regenwasser fanden sich, wie er ausdrücklichlich bemerken zu müssen glaubt, auch
eine Raupe und eine kleine Schnecke (colimacon). Er vermuthet, dafs sie von den Kohl-
blättern (choux), von denen das Regenwasser eingesammelt, stammen möchten, was den
fremdartigen Gehalt des Wassers an organischen Stoffen etwas erläutere. — Schade dals
die Species nicht bestimmt wurden.
312 EHRENBERG:
ben eine sehr bedeutend gröfsere Fläche und zugleich den eigenthümlichen
Character erhält, dafs dasselbe nur an Dunst-Nebel (Wolken) ge-
bunden gewesen, da in den Zwischen-Ländern kein Staubfall beobachtet
worden ist. (Gehörte die ebenda p. 100 erwähnte Beobachtung des General
Seott auch dahin, wonach vom 23-28 März 1847 bei der Belagerung von
Vera-Cruz ein staubführender Orkan aus N. wüthete, so wäre das Phäno-
men ebenfalls direct aus Amerika beobachtet.)
Ebenso ist auch 1846 am 16. Mai, nach Herrn Fournets Bericht
(p- 78), gleichzeitig mit dem Staubfalle zu Genua ein braungelber Staub mit
Regen in Chambery und Syam und in der Nacht vom 15. zum 16. Mai, nach
Aussage des Dampfschiff Capitains Herrn Leps, auch bei Gigelly zwischen
Bona und Algier mit festem OÖ. und NO. Wind [also nicht aus der Richtung
von Afrika] herabgefallen.
141. Die Gesammtzahl der organischen Körper, welche sich in diesem,
doch wohl am richtigsten Passat-Staub zu nennenden Staub-Meteore,
unterscheiden liefsen, beträgt nach der Zusammenstellung und Special-Über-
sicht der beifolgenden (hier mit den folgenden verschmolzenen) Tabelle bis
heute (1547) 141 Arten, — eine grofse, mühsam zu vergleichende, aber für
ganz sichere und mannigfachere Combinationen noch nicht hinreichende Zahl.
vm.
Über die zimmt- und ziegelfarbenen, zuweilen mit Feuerkugeln
und Steinfällen begleitet gewesenen Staub-Meteore, neue Un-
tersuchungen und Nachweis gleicher organischer Mischung
dieser Staubarten seit 44 Jahren, nebst einigen Folgerungen.(')
Seit einigen Wochen (October 1847) haben sich für die Untersuchung
der röthlich braungelben atmosphärischen Staubarten, von denen seit 3
Jahren der Akademie und zuletzt als rothem Schneefall in Tyrol berichtet
worden, neue Materialien gewinnen lassen, welche von allgemeinem wissen-
schaftlichen Interesse zu sein scheinen, so dafs ich das Resultat der Unter-
suchung vorlegen möchte.
Es war durch die genaue mikroskopische Analyse von 10 binnen 17
Jahren vorgekommenen Staubfällen in dem grofsen Areal von den Capverdi-
(') S. Monatsbericht der Akademie 1847 p. 319.
Passatstaub und Blutregen. 313
schen Inseln bis Tyrol ermittelt worden, dafs bei so grofsen Raum- und
Zeit-Unterschieden, wozu noch grofse Mannigfaltigkeit der Jahreszeiten hin-
zutrat (Januar bis October), in allen Fällen eine ganz auffallende Gleichheit
der Färbung und Mischung des Staubes mit immer denselben organischen
Theilen bis zu 141 Arten hervortrat. Für die im Winter (Januar und Fe-
bruar) beobachteten Staub-Meteore des atlantischen Meeres konnte nicht
das dann feuchte, meist mit Schnee und Eis bedeckte Europa die Staub-
masse von jedesmal offenbar über 100,000 Gentnern geliefert haben, zumal
amerikanische Formen in derselben sichtbar waren und aus Afrika konnte
die Staubmasse wegen Mangels characteristischer afrikanischer Formen in
derselben nicht stammen. Besonders interessant wurde der von den Lyoner
Gelehrten in diesem Jahre (1847) gelieferte Nachweis, dafs wirklich der
solchen zimmifarbenen Eisenstaub führende Orkan vom 17. Oct. 1846 zu
Lyon, seinen Anfang am 9. October in Cayenne geäufsert habe.
Die Hinweisung dieser Verhältnisse auf ein constantes nebelartiges
Staub-Depot in den obersten Regionen der Atmosphäre, welches der kreis-
artig wehende Passat, von Südamerika aufsteigend, bei West-Afrika abstei-
gend, unterhalten, beständig mischen und so mit electrischen, vielleicht auch
Rotations-Verhältnissen der Erde schwebend erhalten möchte, lag zu nahe,
um nicht zur Erläuterung benutzt zu werden. Das so regelmäfsige Vor-
kommen der staubigen, gerade solchen zimmtfarbenen, den afrikanichen
gröfseren Oberflächen - Verhältnissen (vergl. Ritters Afrika) ganz fremden,
reich eisenhaltigen Staub führenden, Atmosphäre bei den Capverdischen
Inseln, welches viele Seeoffiziere zu Warnungen und die ostindische Com-
pagnie in England zu Vorschriften für die dort segelnden, zuweilen deshalb
verunglückenden Schiffe veranlafst hat, so wie das im August (1847) mit-
getheilte Vorkommen desselben Staubes als rothen Meteorstaub im frisch
fallenden Schnee und den sogenannten Blutregen, hat mich veranlafst, über
den weiteren Zusammenhang dieser Erscheinungen fortdauernd nachzufor-
schen. Es sind nun folgende zwei Facta, die ich der Theilnahme der
Akademie neuerdings empfehlen zu können glaube.
Eine Unterredung mit Herrn H. Rose über die Sicherheit jenes von
Sementini 1818 beobachteten Chrom-Gehaltes des zimmtfarbenen Meteor-
staubes, der 1813 in Calabrien in übergrofser Masse aus Wolken fiel und
von einem Meteorsteinfall begleitet war, gab zwar keine Hoffnung
5
Phys. Kl. 1847. BE
314 EHRENBERG:
auf Anwesenheit des Chroms in solchen Staubarten, so wenig, als die 1846
auf meinen Wunsch durch Herrn Gibbs ausgeführte chemische Analyse des
atlantischen Meteorstaubes vom 9. März 1838 (siehe vorn) meteorische
Normal-Substanzen ergeben hatte, allein ich erhielt von Herrn Rose die
Nachricht, dafs Herr v. Humboldt ihm früher von Paris aus (1823) eine
Probe des von Sementini analysirten Staubes zugesendet und dafs diese
Probe von ihm an Chladni, zu dessen grofser Freude abgegeben worden,
als er (1826), kurz vor seinem Tode (4. April 1827), in Berlin war. Diese
Probe existire also wahrscheinlich auf dem hiesigen Mineralien-Cabinete in
Chladni’s Sammlung.
Durch diese Nachricht angeregt habe ich in Abwesenheit des Directors
Herrn Weifs mit Herrn G. Rose die Meteorsubstanzen der Chladnischen
Sammlung revidirt, und es fand sich allerdings ein zimmtfarbner Staub in
einem sehr kleinen zollangen einige Linien dicken Gläschen, leider aber
ohne Herrn v. Humboldts Etikette und Herrn H. Rose waren das Gläs-
chen sammt der Staubart fremd, die Äufserlichkeit der von ihm an Chladni
gegebenen Probe erschien ihm wenigstens ganz verändert. Nach einer von
Herrn Weifs bei Übernahme von Chladni’s Sammlung geschriebenen sehr
sorgfältig ausführlichen Etikette fand sich das Gläschen in einer runden
Schachtel des Nachlasses mit der harzigen Substanz vom März 1796 aus der
Oberlausitz und dem Meteorpapier von Rauden ohne weitere Bezeichnung
zusammen. Da der von Sementini analysirte Meteorstaub aus Oalabrien
als zimmtfarben vielfach bezeichnet worden, und eine Probe davon durch
Herrn H. Rose an Chladni gekommen, ein anderer ähnlicher Staub aber
in dessen Sammlung nicht vorhanden ist, als gerade dieser zimmtfarbene,
so scheint Chladni zu besserer Aufbewahrung denselben kurz vor seinem
Tode in das Gläschen gethan zu haben. Erläuternd und für Identität mit
der v. Humboldtschen Substanz sprechend scheint noch der Umstand zu
sein, dafs Chladni in seinem Werke über die Feuermeteore p. 380 (1819)
ausdrücklich sagt, die von Fabroni im rothen Schnee und von Sementini
im Meteorstaube von Calabrien gefundene Materie möge einige Ähnlichkeit
mit der am 8. März 1796 in der Oberlausitz gefallenen harzigen Substanz
haben. So scheint denn Chladni diesen Staub recht absichtlich in dieselbe
Schachtel mit der Meteorsubstanz von 1796 gelegt zu haben, wo Herr
Weifs ihn fand.
Passatstaub und Blutregen. 315
Diesen leider also unsicher gewordenen Staub habe ich nun mikro-
skopisch untersucht und ermittelt, dafs er genau wieder ganz dieselbe Mi-
schung wie der 1830 bei Malta und seitdem von den Capverden bis Lyon
und Tyrol niedergefallene röthlich braungelbe Meteorstaub besitzt. Abge-
sehen von dem gleichzeitigen Meteorsteinfall in der Gegend von Cutro in
Calabrien, erschien dieser Staub am 13. und 14. März in Calabrien und
Abruzzo mit einer Wolke bei Gerace unter heftigem Ostwind vom Meere
her kommend, bei Arezzo am 13. März 9 Uhr Abends mit starkem Nord-
wind ohne Sturm und ebenfalls am 13. März im Friaul. Daselbst verhüllte
die Wolke alles und der Himmel nahm die Farbe des rothglühenden Eisens
an. Darauf ward es so finster, dafs man um 4 Uhr Nachmittags Licht an-
zünden mulfste. Es fiel rother Regen und Staub dort so wie in mehreren
Gegenden Italiens in Toscana und bis Friaul, wo auch rother Schnee herab-
kam. Dabei gab es Brausen, Blitz und Donner (Biblioth. britann. October
1813 p. 176 u. April 1814 p. 356, daraus in Chladni’s Feuermeteore p. 377.
Sementini fand in dem so grofsartig verbreiteten Meteorstaube in
100 Theilen
Kieselerde 33
Thonerde 154
Kalkerde 114
Chrom
Eisen h 144
Kohlensäure 9
844
Verlust 154
100,0.
Der rothe in Friaul gefallene Schnee war 2-3 Finger hoch und gab
beim Schmelzen, nach Linussio, einen thonartigen Bodensatz. Der zu
Arezzo in Toscana gleichzeitig gefallene rothe Schnee hatte nach Fabroni
einen nankinggelben Bodensatz beim Schmelzen, brauste mit Säure, wurde
vor dem Löthrohr ockerartig rothgelb und zeigte etwas Verkohlbares.
Einer der bei Cutro in Calabrien gefallenen Meteorsteine vom glei-
chen Tage, der einzige gefundene, ist, nach Chladni, leider verloren gegan-
gen, nachdem er von de Pourtalez aufgefunden worden war.
Diese Verhältnisse sind so massenhaft und so auffallend gleich denen
Rr2
316 EHRENBERG:
von Lyon und Tyrol, dafs die-Gleichheit des gefallenen Meteorstaubes in
organischer Mischung dadurch bedeutend an Interesse gewinnt. Selbst
wenn aber Chladni’s Meteorstaub nicht der von Herrn v. Humboldt
stammende des Jahres 1813 wäre, so würde er jedenfalls, der mikroskopi-
schen Analyse zufolge, einem ganz gleichartigen Verhältnifs angehören und
die bisher nur vom Jahre 1830 bekannte Gleichheit der Erscheinung um
wenigstens 3 Jahre bis zum Jahre 1827, wo Chladni am 4. April starb,
mit Sicherheit verlängeren. Ist der Staub von 1813 so verlängert sich diese
Gleichheit der Erscheinungen auf 32 Jahre.
Eine Durchsicht der in dem Königl. Mineralien-Cabinette vorhandenen
Meteorsubstanzen hat aber ein noch interessanteres und sicheres Material zu
meiner Untersuchung gebracht(!). Es befindet sich nämlich in Klaproths
an das Cabinet übergegangenen Sammlungen darinn ein Kästchen mit zimmt-
farbenem oder nankingfarbenem Staube, bei welchem eine französische
Etikette von Klaproth liegt: Sable tombe& par toute !Italie et la Sicile en
Janvier 1803. Auch hier ist zwar Schwierigkeit in ungeschichtlicher Zeit-
angabe des Monats Januar, indem ein sehr vielfach bekannt gewordener
einen ganzen Tag lang andauernder grofser zimmtfarbner Meteorstaubfall
als Blutregen, Schlammregen und rother Schnee am 5. und 6. März 1803
von Friaul und Wien sich über Udine und Venedig bis Neapel und Sicilien
erstreckt hat, von dessen Substanz wohl ohne Zweifel die Probe stammt,
im Januar 1803 aber kein solches Meteor aufgeführt wird, welches Klap-
roths genaue chemische Analyse wünschenswerth machen mulfste.
Auch diesen zimmtfarbenen Staub von 1803, welcher nach Italien
als grofse rothschwarze Wolke von Südost kam, alles verfinsterte und dann
in verschiedenen Formen herabfiel, habe ich mikroskopisch geprüft und
wieder so in allen Hauptmomenten den früher angezeigten zimmtfarbenen
Staubarten gleich gefunden, dafs sich nun eine Übersicht der Gleichheit der
Erscheinung auf 44 Jahre festgestellt hat.
Die in diesen beiden Staubarten von 1813 und 1803 beobachteten
organischen Formen sind folgende:
(') Dergleichen nicht metallische erdige Materialien sind in dem so sehr verdienst-
lichen Verzeichnils der Wiener Meteoriten-Sammlung von 1843 p. 138 als die Sammlungen
der Meteoriten namentlich in Berlin und London verunzierend bezeichnet. Möge
man ja gerade auch diese pflegen.
Passatstaub und Bluiregen. 317
Kieselschalige Polygastrica.
180311813 180311813
Achnanthes? vide Stauro- Gallionella distans +
ptera? granulata +! +!
Campylodiscus Clypeus +|+ laminaris —|+
Cocconema gracile + procera +!+
Coscinodiscus radiolatus? |+?|-+! Gomphonema rotundatum +!
E Jlavicans —|+ Himantidium Arcus ++
. & + Navicula fulva —|+
Discoplea atmosphaerica +|+ lineolata — +
Eunotia amphioxys elep Scalprum +|/+
Argus +|+ Semen +
Diodon —-|+r * undosa —|+
gibba | Pinnularia viridis — +
gibberula — + — ? +|/+
granulata — |+ "Stauroptera — ? +
longicornis Pig — ? (Achnanthes)) —
“ zebrina +?) +? "Stauroneis linearis —|+
"Fragilaria diophthalma — || Surirella Craticula — +
rhabdosoma REIN — ? — |+
. ? Synedra n. sp. |+ | + Synedra Entomon ++
Gallionella erenata +|+ Ulna +|+
decussala Per 39 2333
Phytolitharia:
Amphidiscus armatus —|+ "Lithostomatium Rhombus |— |+
clavatus — [+ Lithostylidium Amphiodon \+ | +
Rotella + clavatum +
A truncatus +|+ Biconcavum +
Lithodontium Bursa + Clepsammidium| — | +
falcatum — + laeve + +
Jurcatum +|+ obliguum —|+
nasutum Her OÖssiculum +[/+
Platyodon |—|+ polyedrum +
rostratum une quadratum +!+
318 EHRENBERG:
1s03l1813 h Free
Lithostylidium rude +|+ *Lithostylidium Triceros erer
f Securis — + Spongolithis acicularis Ener
Serra | + | + ‚fistulosa. —— je
serpentinum +|-+r Spongolithis obtusa | +?
spiriferum + s Zu srl
Taurus +
Trabecula + 2 19] 32
Polythalamia:
Miliola — ? I—!4+ Spiroloculina +2
Rotalia globulosa +? i p ae
senaria +? 5 AD:
Plantarum particulae molles:
* Semen Fungi — eo Parenchyma plantae
Pilus plantae laevis simplex | + | + porosum |— |-+
asper simplex — ı+ *Conferua? +
articulalus FAR = 2 | 8
Parenchyma plant. fibrosum| — | + 8 ET.
Insectorum fragmenta:
*Squamula alarum Lepidopteri +
1 I
85 4964
Es sind in Summa 85 Arten, 49 von 1803 und 64 von 1813?. Unter
den 49 Formen von 1803 sind 39 in den früheren Staub-Metoren bereits
verzeichnet, 10 aber sind in jenen nicht beobachtet. Unter den 64 Formen
von 1813? sind 13 in den früheren Staubmeteoren nicht vorgekommen, aber
51 gleichartig. Diesen beiden Staubfällen, welche wohl 10 Jahre Zeit-
Unterschied haben, sind 28 Formen gemeinsam, d. i. etwas mehr als +.
Beide stimmen mit den früheren Meteoren darin überein, dafs die Mehrzahl
der Formen Süfswasser- und Continental-Gebilde, und nur einige wenige
Seebildungen sind. Solcher Seebildungen enthalten die beiden Meteore:
Passatstaub und Blutregen. 319
Coscinodiscus 3 Arten, Spongolithis obtusa und Polythalamia 5 Arten,
zusammen 8-9 Formen, von denen 7 auf 1803 und 4 auf 1813 kommen,
einige beiden gemeinsam sind, Discoplea atmosphaerica könnte überdies
dahin gehören.
Beide neue Meteorstaub-Arten stimmen mit den früheren in der licht-
zimmtbraunen Farbe und der Feinheit überein.
Beide haben wieder dieselben Species in ihrer Mischung vorherr-
schend, welche auch in den früheren bereits verzeichneten Fällen die vor-
herrschenden waren, nämlich :
Eunotia amphioxys. Gallionella procera.
Gallionella granulata. Lithodontia.
crenata. Lithostylidia.
distans.
Polycystinen sind ebenfalls nicht dabei.
In beiden Meteorstaubarten sind wieder 4 Formen bemerkbar, welche
bisher nur aus Südamerika sicher bekannt waren, namentlich:
Coscinodiscus flavicans aus Peru und St. Domingo,
Mavicula undosa aus Surinam,
Stauroneis linearis aus Chile und Nordamerika,
Synedra Entemon aus Chile (').
Aus keiner terrestrischen Localität bekannte Formen sind die in fast
allen diesen Meteorstauben vorkommenden Discoplea atmosphaerica sammt
den wenigen neuen Arten, die zum Theil fragmentarisch sind.
Characteristische Formen aus Afrika, haben sich in beiden wieder
gar nicht bemerken lassen.
Beachtenswerth ist, dafs in dem Meteorstaube aus Chladnis Samm-
lung sehr viele lebend getrocknete Exemplare der Eunotia amphioxys und
Synedra Entomon (letztere ist amerikanisch), sehr oft in Selbsttheilung
begriffen vorkommen und ebenso auch einige, aber wenige, in dem Staube
von 1803. Nur in dem Meteorstaube von Lyon 1846 waren dergleichen
bisher vorgekommen, aber auch in dem Hecla-Auswurfe von 1845.
(') Synedra Entomon ist seitdem auch in Afrika und Asien beobachtet.
320 EHRENBERG:
Anregung zur Vergleichung einiger historischer verwandter
Erscheinungen.(')
Bei der sehr auffallenden Sonderbarkeit dieser Übereinstimmung so
vieler bis 44 Jahre auseinander liegender Staubmeteore und bei der auffallen-
den Massenhaftigkeit und geographischen Verbreitung derselben, gewann es
immer mehr Interesse, an das Beobachtete einiges Historische vergleichend
zu knüpfen. Ich gestehe, dafs ich.es ungern unternahm, weil dabei der
wissenschaftliche Boden zu fehlen schien, aber eben so gestehe ich, dafs ich
durch einige nahe liegende Folgerungen aus diesen Vergleichungen über-
rascht worden bin.
Immer im Auge behaltend, dafs ich nur 12 Staubmeteore, welche
aber bis 44 Jahre auseinander liegen, untersucht habe und nur diese direeten
Resultate der Vergleichung als sicher ansehend und empfehlend, erlaube
ich mir denn folgende Mittheilungen aus der Geschichte der Meteore daran
zu knüpfen.
Herr Alexander v. Humboldt hat auf seinen Reisen in Südamerika
auf dem Paramo von Guanaco, wo der Weg von Bogota nach Popayan
2300 Toisen, gegen 13800 Fufs, hoch fortgeht, das Fallen von rothem
Hagel in der Nähe erlebt und dieses Factum in den Annales de Chemie von
1825 ausführlich angezeigt. Höchst interessant wäre es aus der oberen At-
mosphäre jener Gegend dergleichen rothe Meteor-Färbungen mikroskopisch
zu vergleichen. Dafs etwas Ähnliches dort existirt, ist durch jene Bemer-
kung festgestellt, ob es gleich ist dem hier bezeichneten, läfst sich ohne
directe Untersuchung der Substanz nicht erschliefsen. Vielleicht fällt in
jenen ungeheuren vulkanischen Gebirgs-Stöcken nicht selten ein ähnlicher
Staub bald mit bald ohne Regen und Hagel, den man aber, der vulkanischen
so häufigen Bewegungen halber, weniger beachtet und von vulkanischen
Aschenregen nicht unterscheidet.
Nächst diesem durch Herrn v. Humboldts Umsicht längst gewonne-
nen, sehr wahrscheinlichen direeten Verbindungsgliede beider Hemisphären
finde ich folgende zur Übersicht ausgewählte historische Thatsachen wichtig.(?)
S. Monatsber. October 1847 p. 328.
Sie sind theils aus Chladni’s Schrift über die Feuermeteore und Schnurrers
C)
@)
Passatstaub und Blutregen. 321
Im Jahre 1755 war am 14. October Morgens 8 Uhr ein ganz unge-
wohnter auffallend warmer Wind (Scirocco) zu Locarno am Lago-Maggiore.
Um 10 Uhr war die Luft mit rothem Nebel erfüllt. Abends 4 Uhr fing ein
blutrother Regen an, der in Gefälse gesammelt, einen röthlichen Bodensatz
von 4 machte. Furchtbares Gewitter in der Nacht mit unerhörten Blitzen
die horizontal auf dem Pflaster der Stadt hinliefen. Die Regenmenge war
9 Zall in einer Nacht, in 3 Tagen 23 Zoll. Der See stieg um 15 Schuh.
Zur Zeit des etwa 40 Stunden im Quadrat benetzenden rothen Regens, der
auch auf der Nordseite der Alpen und bis Schwaben fiel, fiel auf den Alpen
ein röthlicher 6 Schuh hoher Schnee. Göttinger gelehrte Anzeigen 1756
St. 6. 12 Januar p. 44. Chladni Feuerm. p. 371. Diese auch der uner-
hörten Regenmenge halber höchst merkwürdige Nachricht schliefst sich ohne
Zwang den Nachrichten von 1803 und 1846 aus Italien, Genua und Lyon
an und scheint die gleichartigen Verhältnisse des rothen Meteorstaubes auf
92 Jahre zu verlängern. Bei nur zwei Linien Höhe des gleichmäfsig gefalle-
nen Staubes würden auf je 1 DMeile 40,000 Klafter Staub gefallen sein.
Die lokal gemessene Höhe betrug aber, der Angabe nach, vielleicht 1 Zoll
(5 von 9 Zoll).
Im Jahre 1623 war am 12. August zwischen 4 und 5 Uhr Nachmittags
ein Blutregen zu Strafsburg, nachdem man vorher eine finstere dicke rothe
Wolke gesehen hatte. (Nach 1623 gedruckten Aufsätzen von Isaac Hab-
rechtund Wilhelm Schickhardt, Bericht von einer wunderbaren Feuer-
kugel). Diese bei Chladni sich findende Nachricht reiht sich mit grofser
Wahrscheinlichkeit der gleichen Verhältnisse an die italienischen und Lyoner
Staubmeteore an und erweitert den Gesichtskreis auf 200 Jahre.
Im Jahre 1222 fiel zu Rom rothe Erde einen Tag und eine Nacht zur
selben Zeit, als man zu Viterbo Blutregen hatte. Auch diese, bei Chladni
fehlende, Nachricht hat Nees von Esenbeck aus Schnurrers Chronik
der Seuchen entlehnt. Sie pafst ohne allen Zwang zu den zimmtfarbenen
organischen Meteoren und erweitert die Zeit ihres erfahrungsmäfsigen Fal-
lens aut 625 Jahre.
Chronik der Seuchen, theils aus Nees v. Esenbecks Nachtrage dazu in Robert Browns
vermischten botanischen Schriften Bd. I, theils aus Darwins Mittheilungen über rothen
Meteorstaub 1845, theils eigene Citate.
Phys.- Kl. 1847. Ss
393 EHRENBERG:
Im Jahre 1096 wurde in Griechenland ein Kreuzfahrer Heer von einer
Wolke eingehüllt, die im Vorüberziehen die Zelte und den Boden mit einer
röthlichen Substanz bedeckte. Diese Nachricht findet sich in Nees von
Esenbecks fleifsigem Nachtrage zu Chladnis Zusammenstellungen in der
deutschen Ausgabe von Robert Browns gemischten botanischen Schriften
Band I. p. 643 und ist aus Schnurrers Chronik der Seuchen I. p. 223 ent-
lehnt. Diese bei Chladni fehlende Nachricht scheint ohne alle Übertrei-
bung dasselbe Phänomen des zimmtfarbenen Meteorstaubes des südlichen
Europas auf 751 Jahre auszudehnen.
Im Jahre 1056 sah man in Armenien im Winter bei Sonnenaufgang,
als die Leute ausgingen, bei sehr heiterem Himmel die Erde nach allen
Seiten zu mit rothem Schnee bedeckt, der in der Nacht gefallen war. Es
folgte weifser Schnee, der am Tage zu einem festen See (zu Eis) ward und
60 Tage lag. Nach der armenischen Chronik des Mathaeus (Eretz) von
Edessa, von Chladni aus der Bibliotheque du Roi T. IX. aufgezeichnet.
Es scheint kaum zweifelhaft, dafs dieser über Nacht frisch gefallene rothe
Schnee keineswegs mit dem Gletscherschnee, aber sehr sicher mit dem Ty-
roler Schnee von 1847 und dem Friauler Schnee von 1803 übereinstimmen
möge. Hiermit würde aber die Erscheinung erfahrungsmäfsig auf 792 Jahre
verlängert.
Ein dreitägiger Blutregen in Constantinopel unter Kaiser Michael III,
also vor 867, dem Jahre von dessen Ermordung, wird als ein blutrother
Staubfall bezeichnet und schliefst sich den übrigen Fällen so an, dafs die
oO
.
5
Dafs der Blutregen sicher zu Ciceros Zeit den besseren Beobachtern
Erscheinung damit 980 Jahre umfassen ma
und verständigen Leuten als rother Meteorstaubfall bekannt war, läfst sich
aus dem II. Buche de Divinatione erkennen, wo Cicero sagt: „Meinst Du
wohl, dafs Thales oder Anaxagoras oder ein anderer Physiker an Blutregen
und Schweifse der Statuen geglaubt habe? Blut und Schweifs sind nur im
Körper, aber auch eine Färbung aus erdiger Beimischung, kann allerdings
dem Blute ähnlich sein“ (sed et decoloratio quaedam ex aliqua contagione
lerrena maxime potest sanguinis similis esse).
Noch länger vor Christi Geburt läfst sich mit nicht geringer Wahr-
scheinlichkeit auf geschichtliche Ereignisse gleicher Art schliefsen, da ziem-
lich oft bei alten Schrifstellern des Blutregens und rother Meteorkörper
Passatstaub und Blutregen. 323
Erwähnung geschieht. Freilich mögen manche dieser Angaben rothe Flecke
und Färbungen der Erde sehr verschiedener Art vermischen und aus Aber-
glauben unrichtig beobachtet haben, dennoch ist die Angabe von Livius
vom Jahre 172 vor Christus: sanguine per triduum in .oppido pluisse (L.
XLH. c. 20) unter dem Consulat des ©. Popillius Laenas und P. Aelius
Ligus, der dreitägigen Dauer, der Form als (herabfallender) Regen und der
Lokalität zu Rom (Italien) halber beachtenswerth. So liefse sich denn über
2000 Jahre hinaus das Phänomen nicht ohne Wahrscheinlichkeit seiner stets
höchst gleichartigen Beschaffenheit, die wenigstens in der Farbe, der staub-
artigen Substanz und der Form des Fallens angezeigt ist, erkennen. Ja
man wird allmählig, bei Beobachtung der Reihenfolge, nicht abgeneigt auch
den zu Homers Zeit gefallenen Blutregen, wodurch der Dichter einmal mit
blutigem Regen Zeus um den Tod des Sarpedon klagen, ein andermal mit
blutigem Thau die beginnende blutige Schlacht der Griechen und Trojaner
durch den Kroniden vorzeichnen läfst, zwar nicht als ein Factum, aber als
ein in Klein-Asien und Griechenland vor fast 3000 Jahren bekanntes Ereig-
nifs anzuerkennen.(!)
Aufser dieser, nur auszugsweise und in einigen leichter übersichtlichen
Zügen hier angeführten geschichtlichen Reihenfolge bis in die Urzeiten der
Menschengeschichte, schliefst sich noch ein anderes auffallendes Interesse
an diese Erscheinungen des zimmtfarbenen stark eisenhaltigen Meteorstaubes.
Bei einer Durchsicht der bei Chladni und den späteren Forschern
vorhandenen Nachrichten über Feuer-Meteore und Meteorstein -Fälle tritt
der merkwürdige Umstand hervor, dafs sehr häufig wirkliche Meteorstein-
Fälle oder doch Feuerkugeln von einem solchen zimmtfarbenen oder röth-
lichen Staube begleitet waren. Der einen Meteorsteinfall bei Cutro beglei-
tende sehr grofse Staubfall in Calabrien am 14. März 1813 ist hiermit sehr
(') Es dürfte nicht unwichtig sein Homers Ausdruck sehr genau zu nehmen. Ich
meine nämlich, dals die so kunstvolle und ebenso natürliche Dichtung ziemlich deutlich
zwei verschiedene Arten von Wunderzeichen andeutet und überaus treffend benutzt. Bei
Sarpedon ist ein ausgegossener rother Regen offenbar aus Wolken gemeint, vor der
grolsen mörderischen Schlacht ist aber ein rother Thau aus heiterem Himmel gesandt
yaev 2eoras 2E auSegos UeSev. Der Thau aus dem wolkenlosen hohen Aether ist gewils
nicht ohne Absicht eines ganz andern Naturbildes angeführt. So war denn wohl der
Blutregen bei heiterem Himmel, ohne Wolken, wie der mit Wolken schon da-
mals bekannt.
SI?
324 EuREnBERc:
wahrscheinlich durch eie Probe aus Chladnis Sammlung zu directer Prü-
fung gekommen und der Staub ist als organischer Passatstaub aufser Zweifel
gestellt. Schwerlich kann man das ähnliche Verhalten bei vielen anderen
Fällen nun läugnen, ohne ein unbegründetes voreilig verneinendes Urtheil
auszusprechen.
Chladni verzeichnet 6 Meteorsteinfälle aus den Jahren 333, 897,
1438, 1608, 1791 und 1813, bei denen ein gelber massenhafter Staub,
Blutregen, oder eine gelbe Wolke gleichzeitig war. Feuermeteore mit
dergleichen Staube ohne Steinfall sind daselbst noch überdies 4 angezeigt
aus den Jahren 1110, 1548, 1560, 1810, so dafs 9-10 Fälle dieser Art
angezeigt worden sind.
Da die chemischen Analysen bis jetzt eine genetische Verbindung der
Meteorsteine mit den gleichzeitigen zimmtfarbenen Staubmeteoren nicht be-
günstigen und nicht gestatten, ungeachtet für alle bekannte Meteorsteine und
Meteorsteinfälle nun hinreichende und übergrofse Mengen von materiellem
Eisen, Kieselerde und Kalkerde in der oberen Atmosphäre nachweislich vor-
handen sind, so könnte man sich vorstellen, dafs diese zuweilen gleichzeitigen
Aörolithen und Feuermeteore, im Falle sie aufserhalb der Erd-Atmosphäre
bestehen und aus den ferneren Welträumen kommen, aus der Staubnebel-
schicht der oberen Atmosphäre einen Theil mit herabdrängen, welcher ohne-
dies nicht, oder nur bei Afrika herabgekommen wäre.
Übrigens ist das Verhältnifs der A&rolithen zu den Staubnebeln der
Art, dafs Chladni das seit 1790 bis 1819 herabgefallene auf wohlmehr
als 6000 Pfund (600 Centner) an Steinmassen berechnet (F. M. p. 94),
während für das einzige Staubmeteor von Lyon 1846, dessen ähnliche es,
auch nur seit 1790, sehr viele und dem es an Massenhaftigkeit der Erschei-
nung weit überlegene giebt, 7200 Centn. an getragener fester Masse von den
französischen Gelehrten berechnet worden sind. Die bei den Capverden
fast ununterbrochen beim Nordostwinde (Nordost-Passat) fallende Masse
mufs ungeheuer sein, da die Verbreitung der Fall-Beobachtung nach Dar-
win über 1600, ja nach Tuckey über 1800 Meilen in der Breite beträgt(!),
und da es in einer Entfernung westlich von Afrika von 600-800, ja bis 1030
Meilen beobachtet worden ist, mithin dort häufig ein Areal von 960,000 bis
(') Quaterly Journal (Proceedings) of the Geological Society June 4. London 1845 p. 27.
Passatstaub und Blutregen. 3235
1,280,000 oder 1,648,000 ja 1 Million und 854,000 Meilen fortdauernd
befällt. Der Flächen-Inhalt von ganz Italien beträgt 5806 TIMeilen, von
Sicilien 495 OJMeilen, zusammen 6301 TMeile. Ein einziger Staubfall,
welcher gleichzeitig beide Länder bedeckt, wie der beobachtete von 1803,
und sich der Masse nach so verhält, wie der beobachtete von Lyon 1846,
würde (an einem Tage) 112,800 Oentner Staub getragen und verbreitet haben.
Wie viel tausend Millionen Centner kleines Leben mögen seit Homers
Blutregen gehoben und meteorisch auf die Erde gefallen sein!
Ich darf ferner jetzt kaum mehr zweifeln, dafses Verhält-
nisse des sich fortentwickelnden Lebens in der Atmosphäre
giebt. Diese beiden neuesten Staubarten, welche so höchst massenhaft
gefallen sind, tragen die Spur der Existenz und der Fortentwicklung (nicht
durch Eibildung, aber durch Selbsttheilung) kieselschaliger Formen zu deut-
lich. Dennoch kann ich das Verhältnifs, der Phytolitharien und Seethiere
halber, welche sich darunter befinden, nicht ein kosmisches nennen. Ich
kann mich auch deshalb mit demselben noch nicht ganz befreunden, weil
Leben und Fortentwicklung nur bei gleichzeitiger Feuchtigkeit bestehen kann,
welche zwar das Leben begünstigt und entwickelt, aber nicht gleichzeitig
die rothe Farbe des Staubes und die feinen Pflanzentheile vor Veränderung,
Verrotten, schützen kann, was durch Trockenheit sicher erreicht wird.
Mischen sich daher zuweilen verschiedenartige Verhältnisse?
Viele weichere Meteor-Substanzen sind als stinkender schwarzer
Schlamm, der zuweilen sauer und ätzend war, herabgefallen 581, 1646,
1669, 1689. Wenn die Mehrzahl der Passatstaub-Meteore gelb und zimmt-
farben niederfällt, so beweist dies wohl, dafs die obere Region der Atmo-
sphäre sehr trocken ist und wenn zuweilen diese organischen ungeheuren
Massen in einer tieferen feuchteren Schicht der Atmosphäre mit Wolken und
g Fäulnifs der
weichen organischen Theile der Substanzen gerade solchen unerträglichen
als Wolken lange herumgetrieben werden ehe sie fallen, so ma
Schwefelwasserstoff-Geruch durch chemische Zersetzung herbeiführen, wie
es beim Moore unsrer Gräben der Fall ist, den ein ähnliches Leben bildet.
Endlich darf ich nicht unterlassen, wenn es sich immer wahrschein-
licher gestaltet, dafs ein unabsehbar grofses Staubnebeldepot in den oberen
Schichten der Erdatmosphäre in über 14,000 Fufs Höhe, zumeist, vielleicht
nicht allein, durch die Passat-Ströme schwebend gehalten wird, darauf auf-
326 EHRENBERG:
merksam zu machen, dafs ein solcher für optische Verhältnisse vielleicht so
wenig störender Staubnebel wie das Glas der Fenster unserer Häuser oder
die gewöhnliche Wasser-Dunstschicht der untersten Atmosphäre, dennoch
theilnehmend und bedingend sein könne für gewisse sonst unerklärliche ähn-
lich wiederkehrende Lichtreflexe und Lichterscheinungen der oberen Atmo-
sphäre und gerade solcher, die eine Beweglichkeit, eine Streifung und
Veränderlichkeit zeigen, auf welche aber specieller einzugehen, die Aufgabe
späterer Zeit sein wird.
Wenn es besonders auffallend erscheint, dafs auf dem Pie von Tene-
riffa in (11,400 bis 11,800 Fufs Höhe) weder von Herrn v. Humboldt noch
von Herrn v. Buch und manchen anderen Beobachtern, im oberen Passat-
winde, dem sie als starkem Westwinde selbst direct ausgesetzt waren, kein
solcher Staub aufgezeichnet worden ist, so läfst sich daraus freilich auf Man-
gel der Existenz eines solchen dort schliefsen, allein andererseits auch auf
Periodieität und eine Complikation der Art, dafs der äquatoriale aufsteigende
Passat nur die Zuführung der Masse und der herabsteigende (bei Westafrika)
oft die Herabführung bedingt, während das von Meteoren zuweilen bei hei-
terem Himmel herabgedrückte, oder durch eigene Fülle herabsinkende Depot
höher in der Rotationslinie der Erde liegend, auch der beständigen Einwir-
kung des oberen Passates entzogen ist. Übrigens ist die gewöhnliche Beob-
achtungslinie für das Fallen, die Bewegung und Stellung des Meteorstaubes
mehr südlich von den canarischen Insel, näher am Aequator. Der rothe
Hagel von Bogota ist hier wohl vermittelnd. Solche Schwierigkeiten fehlen
freilich nicht und ihrer bewufst zu werden fördert die richtige Kenntnifs.
Ein mit wissenschaftlicher Schärfe und Sicherheit als 44 Jahre lang
constant nachgewiesenes Phänomen der Atmosphäre in solcher Ausdehnung
mufs tief in viele tellurische, besonders die atmosphärischen Verhältnisse der
Erde eingreifen und seine brennbaren und vielfache chemische Complika-
tionen (Schwefeleisen) gestattenden erd- und metallreichen Stoffe sind einer
vorzüglichen Beachtung offenbar sehr werth.
Passatstaub und Blutregen. 327
Historische Übersicht ähnlicher Naturerscheinungen.(!)
1535? 1577? a. C. Vor gegen 3383 oder 3424 Jahren, etwa 1500 Jahre
vor Christi Geburt, kommt in der mosaischen Geschichte eine sehr ausge-
dehnte blutige Wasserfärbung in ganz Aegypten vor, die mitten unter meh-
reren, nicht übernatürlichen, aber leicht schreckhaften Naturerscheinun-
gen dort als räthselhaft wohl allein steht. In enger Zeitverbindung damit
ist ebenda eine dreitägige dicke Finsternifs erwähnt, beides als Beweis des
Zornes und unmittelbarer Einwirkung Gottes. Pharao entliefs durch diese
und andere Erscheinungen erschreckt die Israeliten aus Aegypten. Eine
Thatsache, die eine bekannte wichtige Geschichts-Epoche bildet.
Ob die rothen Staubmeteore in ihrer hier folgenden historischen Über-
sicht jene berühmte älteste Erzählung, welche bisher wissenschaftlich ganz
unbenutzt geblieben, als historische Thatsache entschieden in ihre Reihe
aufnehmen und wissenschaftlich nützlich machen können, bleibe anheim
gegeben.
Diese älteste Nachricht läfst sich zufällig durch das jüdische Passah-
Fest nach Jahr und Monat genauer als viele andere weit neuere Nachrichten
reguliren. Sehr entfernt von einander können offenbar die Zeiten, in denen
unter Moses die 10 ägyptischen Landplagen, welche die Auswanderung der
Juden einleiteten und bedingten, nicht sein. Der leichtfertig abschliefsende
Jesuit, Pater Stoecklein(?) nimmt den vorhandenen Nachrichten zufolge
(') Eine ausgewählte reichhaltige Übersicht wurde 1847 im Monatsbericht p. 336
niedergelegt. Eine reichere tabellarische Übersicht wurde 1848 in der Einleitungsrede
vom 27. Januar über das durch den Passatstaub bedingte Dunkelmeer (mare tenebrosum)
der Araber publicirt. Im Jahr 1826 wurde der Akademie meine Beobachtung der das
Rothe Meer im December bei Tor rothfärbenden Alge (Abhandl. 1829 p. 121) mitgetheilt.
Über die blutfarbigen Erscheinungen und rothen Wasserbildungen besonders in Aegypten
gab ich 1830 eine ausführlichere Darstellung in Poggendorffs Annalen der Physik und
Chemie Bd. 18 p. 504. Die rothe Alge des Rothen Meeres wurde Trichodesmium erythraeum
genannt. In dem gröfseren Infusorien-Werke findet sich 1838 eine Übersicht p. 118.
Seitdem ist die Erscheinung im Juli 1843 auch im südlichen Theile des rothen Meeres
von Hrn. Evenor Dupont beobachtet, und am 15. Juli 1844 von Hrn. Dr. Montagne
in der Akademie zu Paris bestätigend und erweiternd mitgetheilt worden. Annales des
sc. naturelles December 1844,
(°) Der neue Welt Bott (Bote) III, 4. Nr. 424 p. 17. 1732.
328 EHRENBERG:
an, dafs am 25. November des Weltjahres 2424 die Plagen mit dem bluti-
gen Gewässer angefangen und am 26. März 2425 (1577 a.C.) geendet haben.
„Den 6. Abib an einem Montag den 17. Mertzen haben Moses und Aaron
das Land Aegypten drei Täge und Nächt mit einer so dicken Finsternifs be-
deckt, dafs kein Heyd den andern sehn könnte.“ „Die Finsternifs (sagt er
p- 28) wird meines Erachtens den 19. Mertzen nachgelassen haben.“ Nach
Zumpt(!) war es das Jahr 1535 vor Christus wo die Juden auswanderten.
Andere (Sprengel)(?) haben das Jahr 1526 bezeichnet.
Nach der ältesten eigentlichen Quelle dieser Nachrichten, den mosai-
schen Schriften 2tes Buch Mosis (Exodus) 11, 5; 12, 6, 17; 23, 15 und
3tes Buch Mosis (Leviticus) 23, 5, soll die Feier des jüdischen Passah-Festes
am 14ten Tage (Vollmond) des ersten Monden (Abib) zwischen Abend sein,
weil die Juden in demselben am folgenden Morgen aus Aegypten gezogen
und vorher, am Abend, das Osterlamm gegessen. Abib oder Nisan ist nach
Bochart’s gelehrten Forschungen (Hierozoicon I. p. 557) sicher der erste
Frühlingsmonat und entspricht theils unserm März, theils dem April. Ma-
carius Aegyptius (im 4ten Jahrhundert n. Chr.) schreibt in der 47 Ho-
milia: Gott habe die Israeliten aus Aegypten geführt im Blumenmonat, wo
der herrliche Frühling zuerst erscheint. Allerdings ist der März der Früh-
lingsmonat Aegyptens, wo alles in schönster Blüthe und Frische steht, auch
meinen eigenen Erfahrungen nach, noch heut. Dafs im März und Januar
8
die rothen Staubwolken des Passatstaubes sich öfter als in allen andern Mona-
ten meist mit dicker, oft mehrtägiger Finsternifs, über verschiedene Länder
verbreitet haben ist mafsgebend für diesen Fall. Die ähnliche, deutlicher
hierher gehörige Erscheinung aus Palästina von 910 vor Christus, welche
im zweiten Buch der Könige erzählt wird, schliefst sich erläuternd an.
Da es aus den Nachforschungen nicht völlig deutlich wird, dafs Moses
den Pentateuch selbst aufgeschrieben hat, ihm vielmehr nur die Epoche
machenden ersten und schwerfälligen Versuche der fragmentarischen Ge-
schichtsschreibung sicher zufallen, so ist es nicht unmöglich, vielmehr wahr-
scheinlich, dafs die zwei in der Zeit getrennten Erscheinungen, dicker Finster-
nifs und darauf unmittelbar folgender rother Wasserfärbung im ganzen Lande
(') Annales veterum regnorum et populorum 1819.
(*) Sprengels Geschichte der Arzneikunde 1821. Tabelle im Anhang.
Passatistaub und Blutregen. 329
durch den (Nachts) gefallenen, an allen trockenen Stellen leicht vom Winde
verwehten Staub, noch weiter aus einander gerückt und sogar umgestellt,
das rothe Gewässer vorangestellt worden, weil man ihren Zusammenhang
nicht erkannte. Hätte Moses aber den Pentateuch wirklich selbst aufge-
schrieben, so wäre eine solche Umstellung nicht wahrscheinlich(!). Jeden-
falls wirft diese Erscheinung somit ein unerwartetes neues Licht auch auf die
Abfassung des Pentateuchs(?). Vergl. 30a. C.
1181? a.C. Aus der Zeit des Aeneas und der Dido findet sich ein Er-
schrecken vor blutigem Gewässer in Virgils Aeneide IV. 454.
Horrendum dictu, latices nigrescere sacros
Visaque in obscoenum se vertere vina cruorem.
Da jedoch nicht bekannt ist, dafs der sich oft frei bewegende Dichter damit
sehr speciel Geschichtliches aus Nordafrika vorträgt, so wird diese Idee,
welche ähnliche wahre Beobachtungen offenbar voraussetzt, nur ein Product
der späteren Zeit sein, jedoch nicht späterer als die Zeit vor Christi Geburt
in welcher Virgilius sein Gedicht abfafste. Er starb 19a.C. Da Ähnliches
von Xerxes 480 vor Christus, als er den Athos bestieg, berichtet wird, so
kann Virgil diese Nachricht auf die Dido übertragen haben. Das Factum
in der Aeneide würde also weder auf Afrika noch auf Italien bezüglich sein,
vielmehr wohl auf Griechenland, wenn es überhaupt berücksichtigt wird.
950 a.C. Eine völlig zweifelfreie sehr alte Kenntnifs des Phänomens blut-
artiger meteorischer Niederschläge findet sich aber schon bei Homer. Fast
tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung heifst es in den Gesängen Homers:
(Ilias XI. v. 52, 54.)
--- 2. - Ev de nUdernov,
’Qgre Kanov Kooviöns, zara 6° üboSIev Arev sepras
Aluarı mudurtas EE andegos - = - - -
EN HE HA in das Getümmel
(‘) Ewald, Geschichte des Volkes Israel, Göttingen 1843 Bd. I. glaubt den Penta-
teuch zur Zeit Davids abgefalst. Nach p. 86. habe man später eine allgemeine Weltgeschichte
aus Mosis Notizen gemacht. Nach de Wette Lehrbuch der histor. erit. Einleit. in die
Bibel I, p. 15. kann mit Moses die Einführung der Schreibkunst, aber nicht die Entstehung
der Litteratur unter den Hebräern angenommen werden. Diese entstand erst mit Samuels
5
Prophetenschule.
(?) Vergl. meine Einleitungs-Rede über das Dunkelmeer der Araber 1848 p. 15.
Phys. Kl. 1847. Tı
330 0 EHRENBERG:
Zeichnete Grauses Kronion, herab Thau senkend von oben
Blutig feucht aus dem Aether - - - - -
An einer anderen Stelle der Ilias steht: (X VI. v. 459, 460.)
Aluaroeovas Ö& Wutdas narexsuev egage
Ileida diAov rıuav - - - - -
Blutig träufelnden Regen ergofs er jetzo zur Erde
Ehrend den theuren Sohn (Sarpedon) - - - - -
Wegen der Wichtigkeit des Trennens dieser beiden Bilder Homers
vergleiche man die Note vorn pag. 323.
910?a.C. Zur Zeit des Propheten Elisa war Wassermangel in Palä-
stina und am Morgen kam ein Gewässer von Edom her und füllte das Land
mit Wasser. Da sich die Moabiter am Morgen früh zum Kriege gegen Israel
rüsteten und die Sonne aufging auf das Gewässer (des Regens) sahen sie, dafs
es roth war wie Blut. — Sie hielten es für ein gutes Kriegszeichen, wurden
aber geschlagen. II. Buch der Könige c. 3. v. 17-23('). Es ist aus der
kurzen Mittheilung überzeugend deutlich, dafs Regenwolken ungewöhnlicher
Art von Westen (Idumaea) her kamen, welche in der Nacht ein blutartiges
rothes Gewässer regneten. Ein starker Platzregen mit rothem Meteorstaub
würde von keinem Volke anders aufgefafst worden sein. Die Erscheinung
von 1814 bei Genua schliefst sich nahe an und die Auffassung der jetzigen
- Menschen war im Wesentlichen völlig dieselbe.
718a.C. Zu Romulus Zeit regnete es Blut gleichzeitig zu Rom und
Laurentum, kurz nachdem die Laurentiner den mit Romulus regierenden
König Tatius erschlagen hatten. Man hielt es für ein Zeichen des Zornes
der Götter. Romulus, als Schwiegersohn und Mitregent, vielleicht selbst
nicht unbetheiligt an jener That (nach Livius(?)) liefs zur Sühne einige der
Mörder hinrichten, worauf die Unglückszeichen aufhörten. — Die Nachricht
ist aus Livius und Plutarch(°) in Zonaras (ed. Paris. p.240) und Ly-
costhenes übergegangen (*).
x v £ =» N x > m m r
(') Kar idov Üdare noX,ovro = sdou Edum, za Erin Y yn üdaros: — Kaı woSgirev
3 e D \ un N z &
To mul, zo 6 NArog aversılev Em ra udare" Kar side Much 2Esvarrias va Vbare mugdc wg
[a . ’ a N
ci. — Septuaginta. Barırauv A v. 20 et 22. Vergl. 100 nach Christus.
(?) Livius Ic. 14. Eam rem (Tatii regis caedem) minus aegre quam dignum erat
tulisse Romulum ferunt.
©, m N x ’ e e [7
() Plutarch. Romulus c. 24. "YrSr de zaı saydsıw amaros % morıs, use moRANV moosıyeve-
Far m La N \ ı Er Es
FI rors avayzaloıs magerı deisıdamoviev" "Erreı de zur rois ro Aaugevrov oizöucı Snoe uveßeıwer.
(*) Wenn ich hier eine Reihe vorchristlicher Prodigien in die wissenschaftliche Unter-
Passatstaub und Blutregen. 331
461 a.C. Unter dem Consulat des Volumnius Amintinus Gallus
und Servius Sulpicius Camerinus gab es unter anderen Prodigiis
suchung ziehe, welche bisher absichtlich ganz bei Seite geschoben worden ist (auch von
Chladni und den Nachfolgern), weil man sie nicht für glaubwürdig hielt, so glaube ich
durch die Übersicht des Ganzen entschuldigt zu werden. Es scheint mir eine glückliche
Fügung, diese abergläubischen Prodigia für die Wissenschaft erhalten zu finden. Manches
was hier zu einem Jahresbilde zusammengedrängt ist, mag nicht auf dasselbe Meteor be-
züglich gewesen sein, dennoch zeigt die neuere Zeit deutlich, dals in Italien die mit
rothem Staub (Blutregen) begleiteten Stürme noch jetzt so häufig sind, dals man perio-
disch auffallende Anhäufungen derselben leicht zugiebt, so wie sie hier schmucklos geschil-
dert werden. Mehrere dieser Nachrichten geben aber ein so deutliches Bild richtig auf-
gefalster Meteorstürme solcher Art, dals ich den zuweilen übertreibenden, zuweilen weniger
treffenden Ausdruck im Einzelnen übersehen zu können meinte und der Wissenschaft
gerade diese blutartigen Staubmeteore aus Italien, oft in Verbindung mit Meteorsteinen
und Feuer-Meteoren als historische Vergleichungspunkte recht eigentlich empfehlen zu
müssen glaube, wie sehr auch vorsichtige Benutzung im Detail anzurathen ist. Es sind
besonders hier solche Fälle gewählt, wo eine mehr als lokale Verbreitung und eine mehr
als momentane Dauer, oder characteristische Massen angegeben sind. Die so einfache
gleichzeitige Aufzählung aller Mifsgeburten bei den Schriftstellern spricht für Glaubwür-
digkeit der Nachrichten, welche auch das ernste Institut der Haruspices zur Römer Zeit
verbürgt. (Ottfried Müller die Etrusker H, p. 17.)
Die öfter angegebene dreitägige Dauer mag zuweilen mystische Steigerung, so wie
mehrtägiger Steinregen Übertreibung sein. Die Verbindung von Blut- und Milch-Regen,
die öfter wiederkehrenden Plätze des Vulkans und der Concordia, der Altäre (vielleicht
ara für area zuweilen blos verschrieben) die Blut-Flüsse, -Ströme und -Quellen, für Regen-
Gerinne mit rothem Erdabsatz, die Trennung zusammengehörender und die Vereinigung
getrennter Erscheinungen verschiedener Meteore sind alterthümliche Darstellungsweisen, an
denen ich ohne Anstols vorübergehe, das historische Factum des häufigen rothen Meteor-
staubes in Italien mit Sturm und Blitz verbunden, scheint mir dadurch gesichert seit alter Zeit.
Was einen festzuhaltenden Maalsstab für vulkanısche Erscheinungen anlangt, welche
in Italien zur Zeit der Kraft Roms vorkamen, so ist im Gedächtnils zu behalten, dafs
Steinregen, Aschenregen, dunkler Himmel und Feuererscheinungen am Himmel darin man-
nigfache kesueekung Eden. Der Mons Albanus (Monte cavo) bei Rom hat den ersten
historischen, Verwunderung erweckenden, Auswurf von hagelartigen Steinen unter Tullus
Hostilius im Jahre 642 a. C. gemacht. Er war in den Jahren 344, 212 und 205 a.
€. noch in Thätigkeit. Der König Tullus schickte nach Livius I, 31 Beauftragte zur
Untersuchung der unglaublichen Erscheinung des Steinhagels, und veranstaltete neuntägige
Sühnung des Prodigiums. Seit fast 2 Jahrtausenden ist dieser Vulkan erloschen. Der
Vesuy hat bekanntlich im Jahre 79 nach Christus den ersten historischen Ausbruch gehabt. —
Viele Feuer-Meteore mögen elecirische Erscheinungen gewesen sein, die eine zu vermu-
thende beständige Gassäule über dem Berge erzeugte und die sich als Feuerbälle, Fackeln,
unerhörte Blitze u. s. w. in Italien gezeigt haben mögen, gleich den vielen feurigen Me-
AO.
332 EHRENBERG:
auch einen Fleisch-Regen, den die Vögel gröftentheils im Fallen auffingen.
Was zur Erde kam lag da mehrere Tage ohne faulen Geruch und ohne äufsere
Veränderung(!). — Es war wohl eine erdige rothe Meteorsubstanz, die, wo
sie gehäuft und feucht lag, geronnenem Blute oder rohem Fleische glich,
wie es öfter, auch neuerlich (1814), damit verglichen worden. Dafs die
Vögel, welche der Sturm vielleicht nur in Angst (wie 1846 in Lyon) umher-
trieb, es gefressen, ist weder beglaubigt noch wahrscheinlich. Ja Johan-
nes Lydus(?) (550 p. C.) sagt ausdrücklich, wahrscheinlich auch nach
älteren Schriftstellern, dafs kein lebendes Wesen dies Fleisch genossen habe,
dafs es nutzlos gefallen und geblieben sei. Auch von einem blofsen Blut-
regen wird 35 a. C. erzählt, dafs die Vögel ihn verschleppt hätten. Offen-
bar flüchteten sich die Vögel in solchen Fällen nur vor dem Orkane.
340 a.C.(?) Als Alexander der Grofse seine Armee gegen Theben
teoren, welche beim Erdbeben von 1805 zu Neapel nach Poli in Italien gesehen wurden
(Memoria sull tremuoto di 26 Luglio 1805 p. 37). Dennoch zeigen die Erscheinungen
von 1803, 1813, so wie von noch vielen anderen Jahren, dafs die Scirocco-Stürme, unab-
hängig von Vulkanen, zu einer Trennung der mit rothem Staubfall verbundenen
Feuermeteore aller Zeiten berechtigen und völlig nöthigen.
(') Livius II, 10. Valerius Maximus de prodigiis I, c. VI.
(*) Joh. Lydus de Östentis c, VI. p. 23. Koca — HaremETEV ÜmarSIav HL Elasıvev
ouruws. Oi yag av Sygiov Y Rryvov, Nr ToV einbuywv Auagav #z0Salaıro Exeivou TOU TWMaTOS.
(°) 480 a.C. Als Xerxes vor seiner Zerstörung Athens den Berg Athos (qui Idae
proximus est) bestieg, ereignete sich beim Essen ein auffallendes Wunder. Der Wein,
welchen er in die Trinkschaale gols wurde plötzlich in Blut verwandelt und dasselbe wie-
derholte sich nicht einmal, sondern 2-3 mal. Valerius maximus de prodigiis I, c. 6. Ver-
gleiche 1181 a. C.
Ob die gleichzeitig während der Seeschlacht des Themistocles mit Xerxes in
der Richtung von Eleusis in Attica vorgekommene helle Feuer-Erscheinung mit Geräusch
und sich (scheinbar) vom Lande erhebenden und auf die Schiffe zurücksenkenden Nebel einen
Staubfall ähnlicher Art bezeichne bleibt unsicher. Thätige Vulkane sind in Attica damals
nie gewesen.
400 a. C. Ctesias berichtet, dals es in Aethiopien eine fast zinnoberrothe Quelle
giebt. Sotionis Paradoxa.
344 a.C. Bei Einweihung des Tempels der Juno Moneta zu Rom folgte sogleich
ein Wunderzeichen, indem die Dunkelheit der Nacht den gröfsten Theil des Tages fort-
dauerte und aus den Wolken Steine fielen. Livius 7, 28. Orosius III, c. 7, welcher
aus einer anderen Quelle geschöpft hat. — Es war wohl vulkanische Thätigkeit des
Mons albanus, wie Livius schon auch vermuthet.
Passatstaub und Blutregen. 333
führte(!), schickten die Götter Wunderzeichen. In den Sümpfen bei On-
cheston (in Boeotien) hörte man einen furchtbaren anhaltenden Schall, wel-
cher den Hafen und die Häuser erschütterte. Darauf wurde die Dirce
genannte Quelle zwischen dem Flufs Ismenus und der Stadtmauer plötzlich
unerwartet mit Blut erfüllt. — Diese Nachricht könnte sich auf einen Me-
teorsteinfall mit Blutregen beziehen. Das Plötzliche der Erscheinung be-
günstigt diese Ansicht vor anderen. Lycosthenes Prodigia(?).
332. a.C. Als Alexander Tyrus belagerte kamen daselbst nach Dio-
dorus Sieulus und Curtius Rufus(?) mehrere bedenkliche Prodigien
vor. Im Tyrus selbst zeigte sich, sogar unter den Schmiede- Werkstätten
(sub ipsis flammis), wo Eisen zubereitet wurde, Strömungen von Blut (san-
guinis rivi), was die Tyrier zum Nachtheil der Macedonier deuteten und bei
der Armee des Alexander fanden die Soldaten Blut im Brode, was der Prie-
ster Aristander zum Nachtheil der Tyrier auslegte, weil es innerhalb sei.
Diese Deutung ermuthigte die Macedonier und schwächte die Tyrier, so dafs
Tyrus im 7ten Monate der Belagerung fiel. — Das letzte Prodigium ist ohne
Verbindung mit dem Meteorstaube (und neuerlich als Product eines Infusions-
thierchen, der auf feuchten Speisen lebenden Monas prodigiosa, erkannt).
Das erste könnte das Product eines, im Freien weniger bemerkbaren, Me-
teorstaub-Falles gewesen sein, so wie etwa der rothe Regen zu Brüssel 1646
nicht alle Häuser der Stadt traf und auch Blutströme veranlafste.
262 a.C.(*) Unter dem Consulat des M. Valerius Maximus und Q.
Mamilius Vitulus flofs an vielen Orten (Italiens) Blut aus Quellen und Milch
1
Nach Zumpt 335 a. C.
Der ebenda 333 a. C. erwähnte Staubfall gehört zu 88 a. €.
Diodorus Siculus XVII, c. 41. CGurtius Rufus IV, c.ı.
295 a.C. Nach Livius X. 31 war im Jahre 295 vor Christo eine schwere Pest
2
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und es gab Besorgnils erregende Prodigien, denn es regnete an mehreren Orten Erde.
Auch tödtete der Blitz mehrere Soldaten in der Armee des Appius Claudius. — War
es ein einzelner von Gewitter und Meteorstaub begleiteter Orkan?
294 a. C. Ein dichter, lange Zeit den Tag raubender Nebel, als dicke Finsternils
(caligo) begünstigte im folgenden Jahre nach Livius X. 32 einen Angriff der Samniter
auf das römische Lager und die Tödtung des Quästor L. Opimius Pansa. Auch in der
Nähe konnten sich die Kämpfenden am Tage nicht erkennen. — Die schnelle Einweihung
des Tempels der Victoria durch L. Postumius, den zu Hülfe eilenden Consul, scheint
Sühnung des Prodigii, als ungewöhnliche Nebel-Erscheinung gewesen zu sein.
Die Blutbäche zu Caura gehören nicht zu 264 sondern zu 143 a. C.
339 EHurEenBenrc:
fiel wie tropfender Regen aus Wolken herab. Furchtbare Regenstürme (diri
imbres) überschwemmten das Land. — Diese Nachricht ist in den Ergän-
zungen des Julius Obsequens von Lycosthenes dem Jahre 264 a. C. in
dem Werke de Prodigiis 265 zugetheilt, nach Paulus Orosius gehört
sie in das Jahr 274 (480 a. V.). Das Oonsulat ist nach Zumpt wohl
das obige Jahr. Der ausgesprochene Gegensatz von Wolken und Quellen
scheidet das bekanntere Blut-Meteor von dem noch unerklärten Milch-Meteor
und die gleichzeitigen Regenstürme erlauben anrothen Meteorstaub zu denken.
223 a.C. Unter den Consuln C. FlaminiusNeposund FuriusPhilus
wurde gemeldet, dafs ein Flufs in Picenum blutiges Wasser geführt habe,
dafs in Thuscien der Himmel zu brennen geschienen und zu Ariminum es in
der Nacht hell wie am Tage geworden sei. In demselben Jahre wurde auch
der Colofs zu Rhodus durch ein heftiges Erdbeben umgestürzt. — Die Er-
scheinungen in Italien lassen sich, wenn sie im Zusammenhange und gleich-
zeitig waren, als Product eines Feuer-Meteors mit Scirocco-Staube denken.
Paulus Orosius giebt das Jahr 517 (237 a. C.), Lycosthenes das Jahr
221 a.C.an
218 a.C.(!) Unter den Consuln Cornelius Scipio und Sempronius
Largus 218 a. C. im zweiten punischen Kriege, waren nach Livius XXI, 62.
viele Wunderzeichen im Winter zu 217 a. C., viele andere, sagt er, seien,
wie zu geschehen pflege, wenn die Gemüther in einer für Religion empfäng-
lichen Stimmung sind, gemeldet und ohne Grund geglaubt worden.
247 a.C. Unter den Consuln Cn. Servilius Geminus und Flaminius
Nepos wurden in Rom die Gemüther nach Livius XXI, 1. durch Prodi-
gien geängstigt, welche gleichzeitig aus mehren Orten gemeldet wurden
(ex pluribus simul locis nunciata). Aufser eleetrischen Lichterscheinungen
an Waffen der Soldaten und Meeres-Leuchten(?) hatten in Sardinien zwei
Schilde Blut geschwitzt und einige Soldaten waren vom Blitz erschlagen.
Die Sonnenscheibe erschien verkleinert. Zu Arpae sah man Schilde am
Himmel und Sonne und Mond schienen zu kämpfen (Nebensonnen?). Zu
Praeneste fielen brennend heifse Steine vom Himmel. Zu Capenae sah man
(') Das in den Monatsber. im Jahre 218 verzeichnete Prodigium von Rom gehört in
das Jahr 194 a. C.
() Diels und Livius XXIII, 31. von 215 a. C. ist die deutlichste älteste Nachricht
vom organischen, nicht vulkanischen Meeresleuchten, welche früher nicht beachtet worden.
Passaistaub und Blutregen. 335
2 Monde (Nebensonnen?) am Tage und zu Caere flofs Wasser mit Blut ver-
mischt, selbst die Hercules-Quelle flofs mit blutigen Flecken. Bei Antium
sammelten die Schnitter (im Sommer also) blutige Aehren. Zu Falerii schien
der Himmel einen grofsen Spalt bekommen zu haben aus dem ein starker
Lichtschein glänzte. — Gleichzeitig hatte zu Rom an der Via Appia die Statue
des Mars bei dem Denkmal der Wölfe Schweifs gezeigt. Zu Capua sah man
einen gleichsam brennenden Himmel und während des Regenwetters einen
fallenden Mond. Aufserdem wurden, wie Livius hinzusetzt, auch geringfü-
gigere Prodigien geglaubt. Grofse und kleine Opfer, dreitägige Gebete in
allen Tempeln, ein goldener Blitz für Jupiter, Silbergeschenke für Juno und
Minerva und viele andere Sühnungen wurden angeordnet. — Dieser Fall
scheint völlig deutlich ein erschreckender grofser Orkan mit feurigem Meteor
und Meteorsteinfall (wie 1813) gewesen zu sein, wobei der rothe Meteor-
staub eine wichtige Stelle einnimmt. Vielleicht bedingte der Passatstaub
gerade hier die Nebensonnen ebenso wie die scheinbare Verkleinerung
der Sonnenscheibe. Dafs ein so zusammengesetztes und so richtiges Bild
eines Meteorsturmes von Unwissenden erfunden werden könne scheint mir
unglaublich.
216 a.C. Im folgenden Jahre (zur Zeit der Schlacht bei Cannae) wurden
die Römer wieder durch ähnliche Wunderzeichen erschreckt. Auf dem
Aventinus in Rom und zu Aricia fielen Steinregen und die Kriegszeichen
(Statuen?) wurden im Sabiner Lande mit vielem Blut überzogen. Es ent-
stand eine heifse Quelle und einige Menschen wurden auf der Via Fornicata
vom Blitz getödtet. — Ein Meteorsteinfall mit Blutregen und starkem Ge-
witter ist hier wohl ebenfalls unverkennbar, vorausgesetzt, dafs die Annalen
der Haruspices von Livius, welcher offenbar religiösen Sinn hatte, gewis-
senhaft benutzt worden sind. Livius XII, 36.
215 a.C. Im vierten Jahre des zweiten punischen Krieges im Consulate
des T. Sempronius Graechus und Q. Fabius Maximus wurde wieder
Meeresleuchten als Prodigium gemeldet (mare arsit eo anno). Zu Lanuvium
beim Tempel der Juno Sospita wurden Statuen (oder Kriegszeichen, signa)
von flüssigem Blut überzogen und es regnete Steine bei diesem Tempel.
Dieses Orkans halber (ob quem imbrem) waren neuntägige Gebete. Auch
die übrigen Prodigien wurden mit Sorgfalt gesühnt. Livius XXI, 31. —
336 EHRENBERG:
Steinregen und Blutregen sind hier wieder gleichzeitig mit einem Orkan und
an gleichem Orte.
214a.C. Unter den Consuln Q. Fabius Maxim. Verrucosus und
Marcus Claudius Marcellus wurden nach Livius XXIV, 10. wieder
viele Wunder gemeldet und, wie er sagt, desto mehr je mehr einfache und
religiöse Menschen sie glaubten. Folgende gehören hierher: Zu Mantua sah
man einen sich in den Mincio ergiefsenden Teich blutig roth und zu Calae
regnete es Kreide, zu Rom auf dem Forum boarium regnete es Blut. — Der
Blitz traf das Atrium publicum im Capitol, einen Tempel auf dem Vulkans-
Felde und noch 4 andere Punkte. — Der Blutregen und die Blitze scheinen
ein einfaches rothes Staub-Meteor in Rom zu bezeichnen.
213 a.C. Unter den Consuln Q. Fabius, Qi. filius Maximus und
Tit. Sempronius Gracchus schlug der Blitz zu Rom in die Stadtmauer
und die Thore und zu Aricia in den Jupiters Tempel. Zu Amiternum sah
man einen Blut-Flufs. — Beides als gleichzeitig angesehen, erlaubt an ein
rothes Staub-Meteor zu denken.
211 a. C.(!) UnterCn.FulviusGentumalus und P.Sulpicius Galba
schlug der Blitz in den Tempel der Concordia zu Rom und warf die auf dem
Giebel stehende Victoria herab, so dafs sie zwischen den an der Fronte an-
gebrachten Victorien hängen blieb. Zu Anagnia und Fregellae wurde die
Mauer und das Stadtthor getroffen. Zu Forum Subertanum (Sudernatum)
flossen den ganzen Tag lang Blutbäche. Zu Eretum regnete es Steine. Li-
vius XXVI, 23. — Es scheint auch hier ziemlich sicher ein rothes Staub-
Meteor (Scirocco) gewirkt zu haben.
210 a.C. Im folgenden Jahre unter den Consuln M. Claudius Mar-
(') 212 a. C. Unter dem Consulate des Q. Fulvius Flaccus und Appius Clau-
dius Pulcher gab es grälsliches Unwetter. Auf dem Mons Albanus regnete es zwei
Tage lang Steine. Vieles wurde vom Blitz getroffen, zwei Tempel (aedes) im Capitol,
ein Wall im Lager jenseits Suessula wurde mehrfach getroffen, auch zwei Schildwachen
(oder Wächter) wurden getödtet. Eine Mauer und einige Thürme zu Cumae wurden nicht
nur vom Blitz getroffen, sondern gänzlich zerstört. Zu Reate schien ein grolser Stein
in der Luft zu fliegen. Die Sonne sah aulsergewöhnlich geröthet, fast blutroth. Livius
XXV,7. — Der Steinregen auf dem Mons Albanus ist wohl sicher vulkanischer Natur
gewesen, wie ihn auch Alex: v. Humboldt schon in seinem Reisewerke, deutsch IL,
p- 72, beurtheilt hat. Die übrigen Erscheinungen lassen an Complieation mit Scirocco
und sogar Meteorsteinfall denken.
Passatstaub und Blutregen. 337
cellus und M. Valerius Laevinus waren aus Städten und Ländereien in
der Umgebung Roms im Sommer wieder viele Prodigien gemeldet worden.
Hierher gehören nur folgende: Der Giebel des Jupiter Tempels wurde vom
Blitz getroffen und fast die ganze Decke wurde zerstört. Fast zu gleicher
Zeit brannte bei Anagniae die vom Blitz getroffene Erde einen Tag und eine
Nacht lang ohne allen Brennstoff. — In der Gegend des Capenates in Tos-
kana beim Haine der Feronia haben 4 Kriegszeichen (Statuen?) an einem
Tage und Nachts viel Blut geschwitzt. Livius XXVI, 4. — Gewitter mit
Scirocco-Staub.
209 a.C. Als die Consuln Q. Fabius Maximus Verrucosus und Q.
Fulvius Flaccus zum Kriege gegen Hannibal ausziehen wollten sühnten
sie erst die Prodigien. Es waren zu Rom am Albaner Berge, zu Östia,
Capua und Sinuessa viele Orte vom Blitz getroffen und im Albaner Gebiet
war blutiges Wasser geflossen. Auch Milch-Regen war vorgekommen. Li-
vius XXVH, 11. — Gewitter mit Scirocco-Staub.
208 a.C. Unter M. Claudius Marcellus und T. Quinctus Crispi-
nus wurden zu Capua zwei Tempel, der Fortuna und des Mars, samt einigen
Gräbern vom Blitz getroffen. — Zu Östia schlug der Blitz in die Mauer und
das Thor. Zu Bolsena (Volsiniis) war das abfliefsende Wasser des Sees
blutig gefärbt. Livius XXVIL, 23. — Auch hier erklärt ein Gewitter mit
Sciroceo-Staub die Erscheinungen, wenn sie gleichzeitig waren.
207 a.C. Im folgenden Kriegsjahre wurden vor Abgang der Consuln zur
Armee wie gewöhnlich wieder die vom Magistrate anerkannten Prodigia sehr
feierlich gesühnt. Zu Veji waren Steine vom Himmel gefallen, zu Minturnae
in Campanien hatte der Blitz den Jupiters Tempel und den Hain der Nymphe
Marica getroffen, zu Atellae die Mauer und das Stadtthor. Auf dem Armi-
lustrum fielen Steine. Zu Minturnae sah man überdies mit Schrecken einen
Blutbach im Thore. Livius XXVI, 37. — Der Blutbach im Thore zeigt
bei dieser Nachricht deutlich an, dafs man sich unter solchen Bächen kleine
Regen-Strömungen zu denken hat. Besonders merkwürdig ist auch der Zu-
satz bei Livius, dafs die zuerst genannten Prodigien, der Steinregen bei
Veji, die Blitzbeschädigungen zu Amiturnae und Atellae samt den Blutflüssen
im Thore zu Minturnae gleichzeitig waren und, dafs dergleichen mehrfache
gleichzeitige Prodigien gewöhnlich gemeldet zu werden pflegten. Hier-
durch wird die Annahme öfterer und die Gleichzeitigkeit ähnlicher Verhältnisse
Phys. Kl. 1847. Uu
338 EuRENnBERG:
historisch unterstützt(!). Es ist also hier ein sicherer Meteorsteinfall mit
Blitz, Regen und Seirocco-Staub oder Passat-Staub angezeigt.
206 a. C. Im folgenden Jahre wurden zu Rom wieder viele Prodigia ge-
meldet. Hierher beziehen sich vielleicht folgende: Zu Terracina wurde der
Tempel des Jupiter und zu Satricum der Tempel der Mater Matuta vom
Blitz getroffen. Aus Antium wurde gemeldet, dafs die Schnitter blutige
Ähren gefunden haben. Zu Alba sah man 2 Sonnen und zu Fregellae Nachts
eine Feuer-Erscheinung. Der Altar des Neptuns auf dem Circus Flaminius
soll vielen Schweifs gezeigt haben und der Blitz schlug auch in die Tempel
der Ceres, Salus und des Quirinus. Livius XXVII, 11. — Ob die Neben-
Sonnen, die Feuer-Erscheinung und die bluiigen Ähren mit einem der Ge-
witter gleichzeitig waren, wie es scheinen kann, ist freilich nicht weiter zu
ermitteln.
194 a.C. Unter den Consuln P. Scipio Africanus und T. Sempro-
nius Longus wurden zu Rom Prodigien theils gesehen theils gemeldet deren
einige bemerkenswerth sind. Einigemal regnete es Erde zu Rom und man
fand Blutstropfen auf dem Forum, dem Comitium und dem Capitolium.
(') Priusquam consules proficiscerentur, novemdiale sacrum fuit, quia Vejis de coelo
lapidaverat. Sub unius prodigii, ut fit, mentionem alia quoque nunciata,
Minturnis etc. a
205 a. C. Unter den Consuln P. Cornelius Scipio und P. Licinius Crassus
wurde der häufigen Steinregen halber, den sibyllinischen Büchern zufolge beschlossen,
den heiligen Stein, welchen die Phrygier als das Bild der Mutter der Götter, der Cybele,
verehrten, von Pessinus in Phrygien nach Rom zu schaffen (Livius XXIX, 10.), was
im folgenden Jahre ausgeführt wurde (ibid. c. 14.), wo es wieder Gewitter, Feuererschei-
nungen und Steinregen gab. Die von Lycosthenes ins Jahr 205 gestellten Erschei-
nungen sind nach Zumpts Angaben der Consulats-Jahre in anderen Jahren erwähnt
203 a. C. Auch im folgenden Jahre war die Atmosphäre eigenthümlich mit Dünsten
erfüllt. Livius XXX. c. 2.
202 a. C. Ebenso war es unter den Consuln M. Servilius Geminus und T. Clau-
dius Nero. Steinfälle, starke Gewitter, kleine Sonnenscheibe und ungewöhnliche Regen-
güsse ereigneten sich wieder. Liv. XXX, 38.
200 a. C. Unter den Consuln P. Sulpicius Galba Maxim. und C. Aurelius Cotta
hatte in Lucanien der Himmel zu brennen geschienen (Nordlicht? Feuer-Meteor?). Zu
Privernum war bei heiterem Himmel einen ganzen Tag lang die Sonne roth gefärbt.
Livius XXXlI. c. 12.
193 a. C. Im Jahre 193 a. C. waren so viele Erdbeben, dals ihre Meldung als Prodi-
gien vom Magistrat beschränkt wurde. Livius XXXIV, 55.
Passatstaub und Blutregen. 339
Der Kopf des Vulcans schien zu brennen. Aus Interamna wurde ein Milch-
regen gemeldet und aus Hadrianum ein Steinfall angezeigt. Livius XXXIV,
45. — Der Erdregen und die Blutstropfen zu Rom, an mehren Orten beob-
achtet, lassen wohl keinen Zweifel über einen rothen Seirocco-Regen. Der
Steinfall ist nur durch seine Vermehrung der Zahl bemerkenswerth.
190 a. C. Unter dem Gonsulate des L. Cornelius Scipio Africanus
und C. Loelius beschädigte der Blitz den Tempel der Juno Lucina zu Rom
und tödtete 2 Menschen bei Pozzuoli. Zu Nursia war bei heiterem Himmel
ein Orkan (nimbus) entstanden, der 2 Menschen tödtete. Zu Tusculum
regnete es Erde (nicht Blut). Von zehn Waisenknaben und ebensoviel Wai-
sen-Jungfrauen wurden wegen der Prodigien-Gebete angestellt. Livius
XXXVIH, 3. — Ist ein ansprechender Scirocco Typhon. Nur wird der
rothen Farbe des Staubes bei Livius, der alleinigen ältesten Quelle, nicht
erwähnt.
184 a.C. Unter den Consuln Q. Claudius Pulcher und L. Porcius
Lieinus regnete es am Ende des Jahres Blut. Zur Todtenfeier des ver-
storbenen Pontifex Maximus P. Lieinius waren nämlich Gladiatoren - Spiele
und grofses Todtenmahl angeordnet. Ein Ungewitter mit grofsen Stürmen
492 a. C. Unter L. Quinetus Flaminius und Cn. Domitius Ahenobarbus reg-
nete es zu Amiternum Erde und zu Formiae wurden Mauer und Thor vom Blitz getroffen.
Die Überschwemmungen der Tiber rissen Brücken und viele Gebäude weg. Liv. XXXV,
21. — Es fehlt zwar die rothe Färbung, aber die übrigen Anzeigen sprechen für unge-
wöhnliche analoge meteorische Niederschläge.
191 a. C. Unter P. Cornelius Scipio Nasica und M. Acilius Glabrio gab es
wieder Steinregen zu Terracina und Amiternum und zu Minturnae fuhr der Blitz in den
Tempel des Jupiters und in die Läden am Markt, verbrannte auch zwei Schiffe an der
Flufsmündung. Livius XXXVI, 37.
188 a. C. Unter den Consuln M. Valerius Messala und €. Livius Salinator
überschwemmte der Tiberfluls, der übermälsigen Regengülse halber 12 mal das Marsfeld
und die Ebenen Roms. Zwischen 3 und 4 Uhr (d.i. 8 und.9 Morgens) entstand eine
Finsternifs und auf dem Aventinischen Berge fiel ein Steinregen, weshalb neuntägiges
Opfer festgesetzt wurde. Livius XXX VII, 28 und 36. — An Sonnenfinsternils ist hierbei
keineswegs mit Drakenborg zu denken, denn dies unterschied man auch im Volke, wie
aus Livius XXXVII, 4 hervorgeht. (Ante diem quintum idus Quintiles coelo sereno
interdiu obscurata lux est, cum Luna sub orbem solis subisset —). Das Ereignils bestätigt
nur wieder die Häufigkeit solcher Erscheinungen in jener Zeit, ganz abgesehen von der
religiösen Spannung der Römer. Die damals so häufigen Pestkrankheiten mögen mit der
Besonderheit der Atmosphäre wohl auch nicht ohne Verbindung sein.
Uu2
340 EHRENBERG:
nöthigte Zelte auf dem Forum zu errichten und später wurde gemeldet, dafs
es zwei Tage lang auf dem Vulcans-Platze Blut geregnet habe, weshalb die
Decemvirn Gebete anordneten. Livius XXXIX, 46. — Sciroceo-Sturm mit
Blutregen.
183 a.C. Auch im folgenden Jahre unter M. Claudius und O. Fabius
Labeo regnete es auf dem Concordien-Platze zwei Tage lang Blut. Ferner
wurde gemeldet, dafs eine neue Insel bei Sicilien aus dem Meere hervorge-
treten sei. Livius XXXIX, 56. Bei Julius Obsequens sind diese beiden
letzten Erscheinungen vereinigt. — Vulkanische und meteorische Bewegungen.
481 a.C. Unter dem Consulat des P. Cornel. Cethegus und Baebius
Tamphilus wurden zu Rom viele schlimme Prodigien theils erlebt theils
gemeldet. Auf dem Platze des Vulcans und der Concordia regnete es Blut.
Auch die Pest war ungewöhnlich stark. Es wurden grofse Opfer veranstaltet
und in allen Tempeln Roms und Italiens wurde gebetet. Livius XL, 19.
172 a.C. Unter dem Consulat des C. Popillius Laenas und des P.
Aelius Ligus wurde zu Rom eine Columna rostrata bei einem nächtlichen
Sturme vom Blitz zerschmettert und es regnete zu Saturnia (nicht zu Rom
wie einige Berichterstatter sagen) drei Tage lang Blut. Ein Stier samt fünf
Kühen wurden zu Calatia durch einen Blitzschlag getödtet. Zu Oxinum
regnete es Erde. Dieser Unglückszeichen halber wurden grofse Opfer ver-
anstaltet und Gebete und Spiele angeordnet. Livius XLI, 20. — Es scheint
ein Scirocco-Orkan damals stattgefunden zu haben.
169a.C. Als Marcus Philippus und Servilius Caepio Consuln
waren, sah man (im Anfang des Jahres oder 170 a. C.) zu Anagnia ein Feuer-
Meteor am Himmel. Zu Minturnae hatte der Himmel gleichzeitig (Minturnis
quoque per eos dies) zu brennen geschienen (schwerlich ein Nordlicht). Zu
482 a. C. Ein furchtbarer Orkan mit Gewitter, welcher in Rom vielen Schaden an-
richtete, aber ohne rothen Staub und ohne Steinregen war, wird unter dem Gonsulat des
Cn. Baebius Tamphilus und L. Aemilius Paulus am Tage vor den Parilien Mittags
(29. April) gemeldet. — Bei Lycosthenes (Prodigia) ist der Blutregen des folgenden
Jahres mit Unrecht zu diesem Jahre hinzugezogen.
177 a. C. Unter C. Claudius Pulcher und T. Sempronius Gracchus fiel ein
grolser Stein im Crustumenischen Felde in den See des Mars. Zu Capua schlug der Blitz
an vielen Orten ein. Zu Puzzuoli wurden zwei Schiffe durch den Blitz verbrannt. Li-
vius XLI, 9.
Passatstaub und Blutregen. 341
Reate war ein Orkan mit Steinfall. Der Apollo in der Burg zu Cumae hat
3 Tage und 3 Nächte geweint. Der Castellan des Tempels der Primigenia
Fortuna auf dem Hügel meldete, dafs es am Tage Blut geregnet. Zwei an-
dere Meldungen von Prodigien wurden nicht anerkannt. Jener und der
übrigen anerkannten halber wurden zur Sühnung 40 grofse Opferthiere ge-
schlachtet und der ganze Magistrat betete und opferte an allen Altären, wo-
bei das Volk mit Kränzen geschmückt erscheinen sollte, was genau nach der
Vorschrift der Decemvirn ausgeführt wurde. Livius XLIHN, 13. Am Ende
desselben Consulats-Jahres sind nach Livius noch 2 Steinregen vorgekom-
men XLIV, 18. — Wenn die grofse Lichterscheinung, der erste Steinfall,
der Orkan und Blutregen gleichzeitig waren, wie es, auch der Wirkung auf
die Gemüther nach, scheint, so ist dies wieder eins der sehr merkwürdigen
Ereignisse, welche damals häufig waren, später seltener geworden.
167 a. C. Unter den Consuln Q. Aelius Paetus und M. JuniusPen-
nus war der Tempel der Penaten in Velia (nach Jul. Obsequens zu Rom)
vom Blitz getroffen und zu Minervium hatte er in die Mauer und 2 Thore ein-
geschlagen. Zu Anagniae hatte es Erde geregnet, zu Lanuvium (Lavinium)
hatte man am Himmel eine Lichterscheinung gesehen und zu Calatia meldete
auf dem ager publicus der römische Bürger M. Valerius, dafs aus seinem
Hause (e foco suo) drei Tage und zwei Nächte lang Blut geflossen (nach
Jul. Obsequens hatte es auf dem ager publicus selbst Blut geregnet). Die
Decemvirn wurden beauftragt die Bücher einzusehen und verordneten ein
eintägiges Volksgebet und ein Opfer von 50 Ziegen auf dem Forum. — Es
scheint wieder ein Orkan mit Feuermeteor und lokalem Blutregen eingetre-
ten zu sein. — Livius XLV. c. 16.
Da die auf uns gekommenen Bücher des Livius hiermit zu Ende sind,
so ist zunächst Julius Obsequens die weitere Gewähr. Weil aber die
Consulatsnamen bei J. Obsequens oft unvollständig sind, so ist die von
Zumpt in den Annales vet. regn. et pop. gegebene Ausführung und nähere
Bestimmung benutzt.
166 a.C. Unter M. Claudius Marcellus und C. Sulpicius Gallus
regnete esin Campanien und vielen Orten Erde. Zu Praeneste fiel Blutregen.
Zu Vejentum trugen die Bäume Wolle. Zu Terracina wurden drei Frauen
bei der Arbeit im Minerven - Tempel vom Blitz erschlagen. — Dem Tempel
der Salus traf der Blitz und auf dem Quirins-Hügel flofs Blut an der Erde.
342 EHrREnBERG:
Zu Lanuvium war Nachts eine Feuer -Erscheinung am Himmel und der Blitz
beschädigte Verschiedenes. Zu Cassinum wurde einige Stunden lang in der
Nacht die Sonne sichtbar. (Das kann weder Nordlicht noch Feuerkugel
gewesen sein). Jul. Obsequens Lycosth. c. 71. — Es mögen leicht meh-
rere, vielleicht zwei Orkane mit Feuer-Erscheinungen und MeteorstaubFall
hier bezeichnet sein. Die Grade der Sühnung, welche nicht erwähnt sind,
lassen sonst einigermaafsen auf die schreckhafte Intensität der Meteore
schliefsen.
147 a.C. Im Consulat des Publ. Cornel. Scipio Aemilianus und
C. Livius Mamilianus Drusus flossen Blutbäche in Caere aus der Erde
und der Himmel schien Nachts zu brennen. Zu Rom und in der Umgebung
ward vieles vom Blitz getroffen. Zwei farbige Sonnenzirkel sah man zwischen
3 und 4 Uhr (9 und 10 Morgens) zu Lavinium. Einer war roth, der andre
weils. Jul. Obsequens c. 79.
143 a.C. Unter App. ClaudiusPulcherundQ. Caecilius Metellus
Macedo sah man zu Caura Blutbäche an der Erde fliefsen. Jul. Obse-
quens c. 80.
137. a.C. Im Consulat des M. Aemilius Lepidus Poreina und C.
Hostilius Mancinus war zu Praeneste eine Feuer-Erscheinung am Himmel.
Zu Terracina ward der Praetor M. Claudius im Schiffe vom Blitz erschla-
gen und verbrannt. Der Fuciner See trat auf 5000 Schritte überall ans den
Ufern. In der Griechen-Station (in Graecostasi) zu Rom und dem Comitium
flofs Blut. — Der Blitz beschädigte mehreres. Jul. Obsequens c. 83.
136 a.C. Unter P. Furius Phflus und Sex. Atilius Serranus ent-
stand ohne alle wahrnehmbare menschliche Ursache ein grofser Brand zu
163 a. C. Unter T. Sempronius Gracchus und M. Juventius Thalna sah man
zu Capua die Sonne zur Nachtzeit. Zu Stellatum wurde eine Widderheerde zum Theil
vom Blitz erschlagen. Zu Formiae sah man zwei Sonnen am Tage und der Himmel schien
zu brennen. — Zu Gabiae war Milchregen, im Palatium zerschlug der Blitz Mehreres. —
In Cephalonia glaubte man vielstimmigen Gesang vom Himmel zu vernehmen. Es fiel
Erdregen. Durch den Sturm wurden die Dächer abgerissen und die Felder verwüstet.
Dabei waren häufige Blitze. Zu Pisaurum sah man die Sonne des Nachts. Jul. Obsequens 73.
452 a. C. Unter M. Cl. Marcellus und L. Valerius Flaccus stürzte ein Wirbel-
Orkan eine Säule vor dem Jupiters Tempel zu Rom mit einer vergoldeten Statue um,
und zu Ariciae fiel ein Steinregen. Julius Obsequens Lycosthenis c. 77.
140 a. C. Unter den Consuln Q. Servilius Caepio und €. Laelius Sapiens
<
zeigte der Aetna Siciliens viel Feuer. Jul. Obsequens c. 82.
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Passatstaub und Blutregen. 343
Rhegium, der es fast ganz verzehrte. Zu Puzzuoli sah man die warmen
Quellen blutig gefärbt. Die Blitze beschädigten vieles. J. Obsequensc. 84.
134. aC. Das Consulat des P. Corn. Scipio Aemil. Africanus und
Q. Fulvius Flaceus zeigt zu Amiterrum eine nächtliche Sonne, die einige
Zeit andauerte. Es regnete Blut. Ein ligustischer Schild im Tempel der
Juno Regina wurde vom Blitz getroffen. — Zu Rom flossen Milchbäche,. —
Zu Ardea regnete es Erde. Schilde wurden (in Rom) mit frischem Blut
befleckt. Dreimal 9 Jungfrauen sühnten durch Singen die Stadt. Jul.
Obsequens c. 86.
128 a.C. Unter den Consuln On. Octavius und T. Annius Luscus
Rufus wurden viele Orte in und um Rom vom Blitz getroffen. — Eine
Feuer Erscheinung war am Himmel (zu Rom). In Caere fiel Blutregen.
Jul. Öbsequens c. 88. Das früher 130 a. C. erwähnte Meteor gehört zu
9a.C.
114 a.C. Auf dem Aventinischen Berge regnete es im Jahre Roms 640
Milch und Blut, überdies auch Fleisch. Lycosthenes Prodigia p. 185.
106 a.C. In Cicero’s Geburtsjahre regnete es im Perusinischen Gebiete
und zu Rom an einigen Orten Milch. Der Blitz traf Vieles und zu Atellae
schlug er einem Menschen 4 Finger wie mit einem Schwerdte ab. Silbergeld
war geschmolzen. — Man hörte Geräusch am Himmel und es schien eine
Kugel (pila, sich drehende Feuerkugel?) vom Himmel zu fallen. Es regnete
Blut. Jul. Obsegq. c. 101. — Diese Nachricht scheint wieder eine der
wichtigeren zu sein.
Unter Servius Fulv. Flaccus und Q. Colpurnius Piso waren die Feuer-
Ausbrüche des Aetna ungewöhnlich stark. Jul. Obsequens c. 85.
126 a.C. Unter M. Aemilius Lepidus und L. Aurelius Orestes waren Erd-
beben zu Rom, Blitze schlugen ein und der Aetna hatte grofse Feuer-Ausbrüche. Bei
den Liparischen Inseln kochte das Meer, Schiffe wurden angebrannt und die Leute durch
Dämpfe getödtet. Die zahlreich getödten Fische brachten durch ihren Genuls eine pest-
artige Darm.Krankheit unter die Liparenser. Jul. Obsegq. c. 89.
125 a.C. Zu Vegentum regnete es Öl und Milch, zu Arpae drei Tage lang Steine.
Jul. Obsegq. c. 90.
124 a. C. Milchregen in der Graecostasis zu Rom. Zu Crotona erschlägt der Blitz
eine Schafheerde, den Hund und 3 Hirten. Ibid. c. 9.
118 a. C. Milchregen zu Rom. Ibid. c. 95.
417 a. C. Milchregen zu Praeneste. Ibid. c. 96.
111 a. C. Dreitägiger Milchregen zu Rom. Ibid. c. 99.
344 EHrRENBEREe:
102 a. C. Zur Zeit des Krieges der Römer mit Jugurtha war ein grofser
Meteorsteinfall in Toskana, weshalb Rom entsühnt und die Asche von Opfer-
Thieren von den Decemvirn ins Meer gestreut wurde. Neun Tage lang
machte der Magistrat Umgänge in die Tempel. Beim Flufse Anio fiel Blut-
regen. Auf dem Aventinus regnete es Lehm (gelben Schlamm). Jul. Ob-
sequens c. 104. — Dieser Lehm- und Blutregen ist ohne Zweifel wichtig.
100 a.C. Durch Sturm wurde zu Nuceria eine Ulme umgeworfen und
sogleich wieder auf die Wurzel aufgerichtet, so stand sie wieder fest. In Luca-
nien regnete es Milch, zu Luna in Hetrurien Blut. — Es gab eine Sonnen-
finsternifs, welche den Tag verdunkelte um 9 Uhr Morgens (3te Stunde).
Im Comitium regnete es Milch, ebenso im Tarquinischen Gebiete. In Picenum
sah man 3 Sonnen, im Vulsinischen Gebiete eine von der Erde zum Himmel
aufsteigende Flamme. Jul. Obseq. c. 103. — Der ersie Sturm- und Blut-
regen bilden wohl ein hier zu bemerkendes Meteor. Die Sonnenfinsternifs
ist wieder scharf abgeschieden. Die Bezeichnung der Consulate bei Jul.
Obsequens scheint irrig zu sein. Der Stellung des Capitels nach gehören
diese Meteore in das Jahr 104 a. C.
99 a.C. Durch Wirbel-Orkan und Sturm wurde Vieles umhergetrieben,
Vieles wurde vom Blitz getroffen. Zu Lanuvium fand man im Tempel der
Juno Sospita im Gemach der Göttin Blutstropfen. Zu Nursia wurde ein
Tempel durch Erdbeben zerstört. — Dieser Fall von Blut kann zum Insec-
ten-Auswurf gehören.
96 a.C. Zu Rom wurde mehreres vom Blitz getroffen. Von einer ver-
goldeten Jupiters Statue wurden Kopf und Säule fortgeschleudert. Zu
Fesulae flofs Blut am Boden. Jul. Obsequens c. 109. — Ungewitter mit
Blutregen ?
94 a.G. Ein Steinfall bei den Volskern wurde mit neuntägiger Feier ge-
sühnt. — Zu Vestinum regnete es Steine in ein Landhaus. Am Himmel sah
man ein Feuer-Meteor und der ganze Himmel schien zu brennen. An der
Erde flofs Blut und dasselbe gerann (vergl. 1814). Ibid. ce. 111. — Auch
hier giebt eine Verbindung der letzteren Meteore ein richtiges Bild.
108 a. C. Zweimal Milchregen (zu Rom).
98 a. C. Während der Spiele im Theater regnete es zu Rom Kreide. Es donnerte
auch bei heiterem Himmel. Jul. Obsegq. c. 107.
95 a.C. Zu Caere fiel Milchregen. Ibid. c. 110.
Passatstaub und Blutregen. 345
93 a.C. In Rom und Umgegend schlug der Blitz an vielen Orten ein. —
Zu Carseolum flofs ein Blutstrom. — Zu Bolsena war am Morgen ein gro-
fses Feuer-Meteor. Ibid. c. 113.
92a.C. Man sah zu Fesulae eine Fackel am Himmel. Zu Volaterra
flofs ein Blutstrom. — Der Blitz traf Manches. Es wurde öffentlich gebetet.
Ibid. ec. 118:
75 a.C. Als Sertorius die Armee in Spanien befehligte, wurden die
Schilde der Soldaten äufserlich samt den Lanzen und der Brust der Pferde
mit Blut gefärbt. — Es wird dabei auch eines grofsen Sturmes erwähnt,
welcher die feindlichen Wacht-Thürme umwarf. Jul. Obsegq. ec. 121.
Nach Jul. Obsegq. ist es im Jahre 73 a. C., die daselbst genannten
Consuln gehören aber nach Zumpt zum Jahre 75.
53 a.C. Dafs der Wochenmarkt, die Nundinae, auf den ersten Januar
fiel erschreckte die Römer als üble Vorbedeutung im Jahre Roms 701. Auch
hatte eine Götter-Statue 3 ganzer Tage lang Schweifs gezeigt. Eine Feuer-
Erscheinung war in der Richtung von Süden nach Osten fortgezogen, viele
Blitze hatten eingeschlagen und es hatte öfter Erde (BöAc), Steine und Mu-
scheln, auch Blut geregnet (za: aiu« dia Tod aegos jveySn). Dio Cassius
XL, 47. In dasselbe Jahr zieht Fabricius bei Dio Cassius den folgenden
Ziegelsteinregen des Plinius.
48 a.C. Während Annius Milo eine Vertheidigungsrede hielt regnete
es nach Plinius Hist. nat. II. c. 56. zu Rom gebrannte Ziegelsteine (lateri-
bus coctis pluisse). Da die durch Cicero’s Rede sehr bekannt gewordene
Rechtssache des Milo, eben wegen der ganz genau aufgezeichneten Neben-
umstände, wobei Cicero eines Prodigiums eben so sicher, als der Gewalt-
thaten Erwähnung gethan haben würde, besonders da die Rede pro Milone
941 a. C. Ein Feuerball erscheint mit sehr starkem Knall am Himmel. Als bei den
Arretinern bei Tische von Gästen das Brod gebrochen wurde, flols Blut mitten aus
dem Brode, wie es aus den Wunden des Körpers flielst, überdies traf das Land in weiter
Ausdehnung bei Vestinum ein 7 Tage lang fortdauernder Steinhagel mit Muschel -Frag-
menten gemischt. — Mehrere Römer, welche unterwegs waren, sahen zu Spoletum eine
goldene Kugel vom Himmel gegen die Erde fallen, gröfser werden und von der Erde
wieder nach Osten aufsteigen. Durch ihre Gröfse verdeckte sie die Sonne. Paulus
Orosius Historiarum libri. p. 335.
88 a.C. Zu Athen soll es im Jahre vor der Ankunft Sulla’s daselbst, Asche geregnet
haben. Lycosth. Prodig.
Phys. Kl. 1847. Xx
346 EHurEnBEre:
später zur Publication von ihm mehr ausgearbeitet worden ist, nicht gemeint
sein kann, so ist auch schwerlich an Steinwürfe zu denken und Chladni
mag ganz recht gethan haben, diese Nachricht unter den historischen Meteo-
ren aufzuführen. Im Koran (s. 570 n. Chr.) wird ebenfalls von Meteor-
steinen aus gebranntem Lehme berichtet. Daher glaubt Chladni, dafs bei
Plinius „wie angebrannt aussehende Steinemitschwarzer Rinde“
gemeint seien. (Chladni Feuermeteore p. 179). Mir scheint diese Erläu-
terung dadurch ganz behindert, dafs es nicht lapidibus, sondern lateribus,
und nicht adustis, sondern coctis heist. Ich sollte meinen, dafs man dabei
mit mehr Recht an gebrannten Ziegeln gleiche Erde, an zerbröckel-
ten Ziegelsteinen, Ziegelmehl, ziegelfarbenem Sand und Staub
ähnliche Substanzen zu denken habe. Durch diese ungezwungene Erklä-
rung würde dann die Wissenschaft um eine merkwürdige Thatsache anderer
Art bereichert.(!)
48 a. C?(?) Unter dem Consulat des Julius Caesar wurden Blutregen,
Schweifs der Götterstatuen und öfteres Einschlagen des Blitzes gemeldet.
Lycosthenes Prodigia p. 219.
43 a.C? Cicero spricht sich um diese Zeit in seiner Schrift de Divi-
natione II. über die blutartigen Färbungen bei den Prodigien aus. Er läugnet
ihre Existenz nicht, ist aber ebenso entfernt dieselben für wahres Blut zu
halten, erklärt vielmehr, dafs nach den verständigen naturwissenschaftlichen
Grundsätzen es offenbar nur eine meteorische Färbung durch beigemischte
blutfarbige Erde sein möge(°). Übrigens stellt Cicero den Schweifs der
(!) Dies wird auch dadurch annehmlich, dafs die Erscheinung des Ziegelsteinregens
öfter vorgekommen ist, da Lydus de Ostentis c. VI. p. 23 sagt: Karywzy,Sysav de
aawSIor mOrAazıS Omrai.
(2) 44 a.C. Nachdem Julius Caesar am 15. März ermordet worden, waren viele
Erdbeben und mehrere Schiffe wurden vom Blitz getroffen. Die von Cicero vor dem
Minerven- Tempel aufgestellte Götterstatue wurde umgeworfen und zerbrochen, Bäume
wurden entwurzelt, Dächer abgerissen. Man sah 3 Sonnen (Nebensonnen) und Cirkel um
die Sonne. Fast ein Jahr lang hatte die Sonne keinen Glanz. Plinius 2, 30. Julius
Obsequens 128. — Eine auffallend getrübte Atmosphäre mit starker electrischer Spannung.
(°) Sanguine pluisse senatui nunciatum est; atratum etiam fluvium fluxisse sanguine:
Deorum sudasse simulaera. Num censes his nunciis Thalem et Anaxagoram aut quemquam
physicorum crediturum fuisse? nec enim sanguis nec sudor nisi in corpore est; sed et
decoloratio quaedam ex aliqua contagione terrena maxime potest sanguinis similis esse.
Passatstaub und Blutregen. 347
Statuen dabei so zu den Blut-Prodigien, dafs es fast scheint, als sei dieser
Schweifs öfter roth gewesen, was nur zuweilen ausdrücklich gesagt wird,
wie im nächstfolgenden Jahre.
42 a.C. Es scheint ein grofser Seirocco-Sturm in Rom stattgefunden
zu haben, wobei Wölfe und andere ungewöhnliche Thiere sich in die Stadt
flüchteten. Einige Götterstatuen zeigten Schweifs, andere Blut, man hörte
starkes Geräusch ohne alle sichtbare Ursache. Es fielen Steine vom Himmel.
Die Statue des Antonius auf dem albaner Berge, obwohl von Stein, schwitzte
viel Blut aus. Durch einen Ausbruch des Aetna wurden viele benachbarte
Ortschaften gräfslich vernichtet. Lycosth. Prodig. 229. 230. — Da der
Aetna thätig war, so ist es ganz unwahrscheinlich, dafs der Mons albanus
damals auch in Thätigkeit gewesen. Vielmehr scheinen ein oder mehrere
Wirbelstürme mit Passatstaub gleichzeitig geherrscht zu haben.
41 a.C. In einer stürmischen Nacht war es so hell, dafs man wie am
Tage an die Arbeit ging. Zu Mutina wurde eine nach Mittag sehende Statue
der Victoria nach Norden gewendet. In der dritten Tagesstunde (9 Uhr
Morgens) sah man 3 Sonnen, die sich dann in eine zusammenzogen. Beim
Opfer auf dem Mons albanus sah man Blut aus dem (Fufs-) Daumen des
Jupiter fliefsen. Lycosth. Prodig. p. 230. — Es scheint ein grofser Wir-
belsturm gewesen zu sein und die Blutfärbung, wenn überhaupt alle diese
Erscheinungen gleichzeitig waren, giebt eine, freilich sehr lokale, Anzeige
von Staubmischung.
37 a.C. Unter den Consuln M. Agrippa und L. Caninus Gallus
regnete es zu Aspis an der afrikanischen Küste, zwischen Carthago und Adru-
mentum, Blut, das die Vögel sogleich verschleppten. Nach Dio Cassius
XLII, 52. Lycosth. Prodig. 232.(')
30 a.C. Es fiel in Aegypten zur Zeit als Caesar Octavianus nach der
Schlacht bei Actium und dem Untergange des Antonius und der Cleopatra
dasselbe in eine römische Provinz verwandelte, nicht blos an Orten, wo es
nie zu regnen pflegt, Regen, sondern auch Blut. In den Regenwolken sah
man Kriegswaffen und man hörte das Geräusch von Trompeten, Pfeiffen,
Trommeln und Pauken. Dio Cassius LI. c. 17. — Es ist dies ein die
mosaische Erscheinung erläuternder Fall, dessen Nebenumstände einen star-
1 T 22 700 oÜ Ü ousv, doviSes Ö 2
(') ame &= 7 Vpavov gusv, opvıTas OLehogyTav.
Xx9
348 EHRENBERG:
ken Orkan vielleicht mit Platzen eines Meteors bezeichnen, da sich das er-
wähnte Geräusch durch Donnern allein schwerlich erklären läfst.
10 a.C. Dafs man zu Livius Zeit an die Prodigien wenig mehr glaubte,
geht aus mehrfachen beiläufigen Äufserungen desselben hervor, besonders
aber XLII, 15. sagt er ausdrücklich: „Es ist mir nicht unbekannt, dafs aus
derselben Vernachlässigung, womit fast jedermann jetzt gegen die Götter-
zeichen ungläubig ist, auch fast gar keine Prodigien öffentlich bekannt und
in die römischen Jahrbücher eingezeichnet werden. Es entwickelt sich abeı
in mir beim Schreiben der alterthümlichen Geschichte ich weifs nicht warum
ein alterthümlicher Sinn und ein religiöses Gefühl drängt mich, das, was
jene hocherfahrenen Männer der Öffentlichkeit für werth hielten nicht für
unwürdig zu halten für mein Geschichtswerk.“
Die christliche Aera beginnt auch nach Zumpts Annahme mit dem
Jahre der Welt 3983.
54 p.C.(!) Alsder Kaiser Claudius den Sohn der Agrippina, Nero, mit
Zurücksetzung seines Sohnes Britannicus, an Kindesstatt angenommen hatte,
schien vor seinem Tode der Himmel auf eine wunderbare Weise zu brennen.
Es erschien ein Comet und es fiel Blutregen. Der Blitz schlug in die Kriegs-
zeichen der Leibgarde ein. Dio Cass. LX, 35.
61 p.C. Der Canal zwischen England und Frankreich wurde blutroth
und brauste auf. Dio Cassius LXII. Polydorus Vergil. III, 242. —
Da sich die rothe Färbung durch eine untere vulkanische Thätigkeit nicht
erläutern läfst, so mag das Aufbrausen von einem starken Wirbelsturm mit
Passatstaub zu verstehen sein.
68 p.C. Kurz nach Kaiser Nero’s Tode fiel auf dem Albaner Berge
ein so starker Blutregen, dafs Blutströme entstanden. Dio Cass. LXIII, 26.
(') 14 p. C. Im Todes-Jahre des Caesar Octavianus Augustus ward die Sonne
verdunkelt und ein grolser Theil des Himmels schien zu brennen. Dio Cass. LVI.
70 p. C. Eine eigenthümliche blutrothe Färbung des Mondes erschreckt die Soldaten
des Vitellius. Dio Cassius LXV.
79 p. C. Der erste und stärkste Ausbruch des Vesuvs war am 23. August (am 9ten
vor dem ersten September) wobei Herculanum und Pompeji verschüttet wurden und Pli-
nius umkam.
90 p. C. Plutarch spricht bei Gelegenheit der Homerischen Verse, welche des Blut-
regens erwähnen, die Ansicht aus, dals der Regen durch feuchte Ausdünstungen gebildet
werde, und dafs diese ebenso gemischt niederfallen, wie sie emporgehoben seien. Plutarchus
Passatstaub und Blutregen. 349
100 p. C. Eine merkwürdige Nachricht über rothes Gewässer in Syrien
findet sich bei Lucianus Samosatensis, welcher zu Trajans Zeit in
Antiochien Advocat war, im 3ten Buche de Syria Dea p. 455. ed. Reitzii.
Er sagt: „Vom Berge Libanon entspringt ein ins Meer ausmündender Flufs,
welcher Adonis heifst. Dieser Flufs wird jährlich blutroth und trägt seine
Farbe ins Meer, das er in weiter Ausdehnung ebenso färbt, und womit er
den Bewohnern von Biblus (bei Bairut, welche den Adonis verehrten) seine
Trauer verkündet. — Man erzählt sich, dafs in jenen Tagen auf dem Liba-
non der Adonis verwundet werde, sein Blut in den Flufs komme, und ihn
verunreinige, woher auch der Name des Flusses stamme. So spricht das
Volk. Mir hat aber ein Mann aus Biblus, der die Wahrheit zu sagen schien,
eine andere Ursache der Wasserfärbung angegeben. Er sagte so: Der Ado-
nisflufs kommt vom Libanon her. Aber der Libanon hat viele rothe Erde.
Heftige Winde, welche regelmäfsig an jenen Tagen wehen, führen Erde in
den Flufs, welche dem minium (Mennige) sehr gleicht. Diese Erde giebt
jene Blutfarbe, und nicht Blut ist die Ursache, sondern die Umgegend.“ —
Diese Nachricht aus dem Anfange des zweiten Jahrhunderts nach Christus
scheint sehr deutlich die fast jährlich um dieselbe Zeit wiederkehrenden
Scirocceo-Stürme mit rothem Staubfall in Syrien zu bezeichnen, was zur Er-
läuterung jener alten Nachricht aus dem Buche der Könige 910 a. C. dienen
kann. Da ich selbst die Gegend bei Bairut besucht habe und die Erdarten
des Libanon aus eigener Erfahrung recht wohl kenne, so darfich hinzufügen,
dafs es zwar sehr lokale eisenschüssige Erden hie und da giebt, dafs aber
dort, wie in Libyen, mir nirgends eine grell rothe Färbung aufgefallen ist.
de Homero. Im Leben des Marius sagt derselbe Ähnliches bei Gelegenheit der cimbri-
schen grofsen Schlacht. Daraus hat man, wie es scheint (Franciscus Luftkreys 1680 p. 733)
das unrichtige Factum gebildet, dals es nach dem ceimbrischen Treffen einen Blutregen
gegeben habe, wofür ich keine bestimmte Autorität habe auffinden können.
202 p. C. Zu den meteorischen bisher unerklärten Merkwürdigkeiten gehört der silber-
farbene Regen, welcher unter Kaiser Severus mit einem Feuermeteore bei heiterem
Himmel auf das Forum Augusti in Rom fiel, und welcher Kupfermünzen drei Tage lang
silbern färbte. Dio Cassius. Lycosthenes.
266 p.C. Nach Eusebius und Cyprian war im Jahre 266 ein sehr verheerendes
hitziges Fieber. Erdbeben, schauerliches Getöse in der Erde, Aufbrausen des Meeres,
Untergang ganzer Städte im Orient, Verdunkelung der Luft, ganz trübe Atmosphäre, ver-
pestende Nebel und stinkender Thau, welcher dem Geruche faulender Körper glich und
Alles bedeckte. Baronis Hist. eccles. VII. 22. Schnurrer Chronik d. S. I. 98.
350 EHREnBERre:
Das Hauptgestein des Libanon ist ein weifser oder weilsgrauer Kalkstein.
Staubige Flächen giebt es gar nicht, es giebt dort nackten Fels und feuchten
pflanzentragenden Humusboden. Daher scheint mir die alte Nachricht als
meteorisches Zeugnifs recht wichtig. Offenbar ist wohl jene, für Italien an
solchen Meteoren überreiche Periode vor unsrer Zeitrechnung es auch für
Syrien gewesen und von da her mag sich die Sage damals erhalten haben.
333? Ein Meteorsteinfall in China mit Feuermeteor von dem sich eine
gelbe Wolke weit umher verbreitete. Nach Ma-tuan-lin von Abel Remu-
sat. Journal de phys. Mai 1819.
434. Bei Toulouse flofs Blut, nachdem wenige Tage vorher ein Comet
erschienen war. Lycosth. Prodigia 292.
464. Im vierten Jahre der Regierung Kaisers Leo 1. flofs bei Toulouse
in Frankreich mitten aus der Stadt einen ganzen Tag lang ein sehr breiter
blutfarbiger Wasserstrom. Lycosthenes Prodigia p. 297. — Sehr wahr-
scheinlich sind diese beiden Nachrichten auf eine und dieselbe Erscheinung
zu beziehen.
473. Im November dieses Jahres, als Kaiser Leo I. kurz vor seinem
Tode (474) ein kleines Kind, Leo II., zum Kaiser gekrönt hatte, entstand
während der Feste in der 6ten Stunde (Mittags) grofse Dunkelheit in Con-
stantinopel und es fiel aus Wolken, die zu glühen schienen, bis zur Mitter-
nacht eine ungeheure Menge Asche, so dafs jedermann meinte es regne Feuer.
358 am 22. August bald nach Tagesanbruch bildeten sich in Nicomedien (Ischmid in
Vorderasien) bei heiterem Himmel schwarze Wolken, die sich schnell zusammenzogen und
solche Dunkelheit verbreiteten, dafs man die nächsten Gegenstände nicht erkennen konnte.
Darauf entstand ein entsetzlicher Sturm, der mit starkem Brausen an die Berge schlug,
und die Meeresfluthen gegen das Ufer trieb. Nun erst erfolgte unter Wirbelwinden das
Erdbeben. Nach 2 Stunden endlich wurde die Luft wieder hell, so dals man die ange-
richtete Zerstörung erkennen konnte. 150 Städte sollen gelitten haben. Ammianus
Marcellinus XVII. 7. — Vielleicht ist auch das scheinbare Erdbeben nur Wirkung
des entsetzlichen Typhons gewesen.
367. Als die Juden auf Befehl des Kaisers Julianus den Tempel zu Jerusalem wie-
derherstellen wollten, soll erst ein furchtbares Erdbeben entstanden sein, dann fiel Feuer
vom Himmel und verbrannte das Werkzeug, endlich entstanden in der Nacht Kreuze auf
den Kleidern der Juden, die sich nicht auswaschen lielsen.
Auch bei einer Reise des Kaisers Julianus Apostata in Thracien fiel ein Thau,
welcher auf den Mänteln Kreuze bildete. Lycosth. Prodig. 276, 277. — Es scheinen
doch wohl rothe Kreuze gemeinnt und die Erzählung erinnert an einen Meteor-Fall.
Passatstaub und Blutregen. 351
Die Asche war handhoch gefallen, übelriechend, in den Wolken roth und
am Boden schwarz. Nach Cedrenus Histor. compend. p. 277. Glycos
P. III. Theophanes spricht von diesem feurigen Staubregen im Todes-
jahre Leo I. (Chronographia p. 193) Zonares bringt dieselbe Erscheinung
unter Leo I. mit einem Erdbeben zu Antiochien in Verbindung (p. 50) Pro-
copius und Marcellinus Comes haben es dem Vesuy zugeschrieben, bei-
des hypothetisch und ohne Wahrscheinlichkeit. Nach dem Menologium,
dessen November-Monat Nicephorus Hieromonachus bearbeitet hat, fiel
die Asche glühend und verbrannte alles Kraut und Pflanzen. Lycosthenes
erwähnt dieselbe Erscheinung im 2ten Jahre der Regierung Kaiser Leo 1.
(402 p. C.) Prodigia p. 296. Chladni hält es für Wirkung eines Feuer-
Meteors (p. 361). Ob es eine grofse in der Luft entzündete Wolke eines
rothen Meteorstaubes war, dessen organische Theile verbrannten, vorher
schwebend roth aussahen, dann als wirklich brennender Himmel erschienen,
zuletzt als schwarze Asche niederfielen, ist nicht weiter zu ermitteln. So allein
konnte aber die Asche heifs fallen. Bedeutend mufs die Erscheinung ge-
wesen sein, da sie vielfach aufbewahrt ist und alle Einwohner und der Kaiser
selbst aus der Stadt flohen. Ähnliche erschreckend feurige Wolken werden
1813 in Calabrien bei dem rothen Meteorstaube beschrieben, welchen ich
analysirt habe.
Dafs 6 Jahre vor dem Tode des Kaisers Anastasius, also 512, in
Constantinopel der Himmel zu brennen geschienen, was Joh. Lydus de
Östentis p.23 ed. Hase berichtet, bezieht sich wohl auf jene ältere Er-
scheinung.
541. Nach Siegebertüs Gemblacensis war in Frankreich zur Öster-
zeit Blutregen, und es erschienen wunderbare rothe Flecke an den Häusern.
Nach Lycosthenes Prodigia 1557 p- 302 erschien am Östertage ein Comet,
der Himmel schien zu brennen und wahres Blut flofs aus den Wolken auf
die Kleider der Menschen. Fincelius theilt 1566 mit es habe Blut geregnet
das den Leuten auf die Kleider gefallen, und ein Haus habe inwendig allent-
halben Blut geschwitzt.
570° Im Geburtsjahre Muhammeds. . Wenn dem Koran zufolge Sura 8
v. 16 und 105 v. 3. 4 in dem Gefecht der Koraischiten Araber und Christen
541. zeigten sich plötzlich wieder unaustilgbare Kreuze auf Kleidern, Gefälsen und an
Häusern in Ligurien und bei den Longobarden. Lycosth. Prod. 301.
352 EHRENBERG:
bei Beder in Arabien die zum Theil auf Elephanten streitenden Christen (Ha-
bessinier) durch glühende Steine von in der Hölle gebranntem Lehm (Sig-
gihl), welche Schaaren grofser Vögel übers Meer (von Westen) hertrugen,
getödtet oder erschreckt wurden, so schlofs sich an den Meteorstein-Hagel
wohl ein ziegelfarbner Staub, zumal auch wolkenbruchartiger Regen die
Feinde bedrängt haben soll. Im Koran heifst es Sura 8 v. 16: „Ihr seid es
nicht, die den Feind in der Schlacht bei Beder ermordet haben. Gott hat
ihn ermordet. Auch Du (o Muhammed!) hast ihnen den Sand nicht in die
Augen geworfen, Gott hat ihn hineingeworfen.“ Ferner heifst es Sura 105
v.3. 4: „Weifst Du nicht was der Herr Dein Gott an den Reitern der Ele-
phanten that? Hat er nicht ihre List in verderblichen Irrthum geleitet und
Heerden Vögel wider sie gesandt, welche Steine aus gebranntem Thon auf
sie herabgeworfen?* Bruce erzählt in seiner Reise (Travels in Abyssinia
Vol. I. p. 513 deutsche Übers. p- 556) nach Hamisi, dafs die Araber eifer-
süchtig auf eine prächtige christliche Kirche waren, welche der habessinische
Vicekönig Abraha Ibn Elzebahh zu Sana (San) im glücklichen Arabien
hatte bauen lassen, und die ihren alten Tempel zu Mecca beeinträchtigte.
Sie schickten daher einen Araber ab, der den Altar und die Mauern mit
Koth verunreinigte. Diese Schmach brachte Abraha zu dem Entschlusse,
den Tempel zu Mecca zu zerstören. Er zog mit 13 Elephanten nach Mecca
und zerstörte den Tempel bei Taife, ward aber durch falsche Berichte abge-
halten den eigentlich gemeinten in Mecca zu zerstören. Daher kam er noch-
mals mit seinem Heere, er selbst auf einem weifsen Elephanten reitend.
Diesmal wurde er durch Vögel mit feurigen Steinen im Schnabel in die
Flucht geschlagen. Hamisi hält die Erzählung für eine allegorische Dar-
stellung der ersten Erscheinung der Pocken und Bruce's Mittheilung hat
bei Curt Sprengel und den neueren Aerzten (Schnurrer Chronik der
Seuchen I. p. 144.) diese Idee eingeführt. In der zweiten Ausgabe von
Sprengels Geschichte der Arzneikunde II. 225. 1823 ist aber diese Ansicht
mit Rücksicht auf Chladni’s Urtheil zurückgenommen und die Erscheinung
als Meteor anerkannt. Der im Koran erwähnte Staub, welcher den Feinden
(Christen) ins Gesicht getrieben wurde, neben den feurigen Steinen der
Vögel, oder dem Meteorsteinregen, mag wohl Meteorstaub gewesen sein.
Jedenfalls ist der bei den Arabern sehr gefeierte Elephantenkrieg, oder die
Schlacht bei Beder, damals durch einen Typhon mit Steinfall, ein Staub-
Passatstaub und Blutregen. 398
und Stein-Meteor zum Unglück der Christen entschieden worden und das
gab den Ausschlag für die kräftige Feststellung und Verbreitung des späteren
Muhamedanismus.
Schwarze Vögel, welche feurige Kohlen in den Schnäbeln trugen,
glaubte man auch 1189 und 1191 in Deutschland und 1226 in Italien bei
Meteorsteinfällen gesehen zu haben. Schnurrer Chronik d. S.
570 gab es auch in England Feuererscheinungen an den Bäumen (Elms-
feuer) und in York (in Eboraco) flossen Blutquellen. Lycosth. Prod. p. 307.
In Italien soll im selben Jahre Blut vom Himmel geflossen sein. Es
gab Feuererscheinungen mit Blutfall und mehrere Tage lang fortgesetzten
Regenstürmen, wodurch der Tiberflufs so angeschwellt wurde, dafs er die
niedern Stadttheile sehr beschädigte und überschwemmte. — Man hörte
Trompetenton vom Himmel her. Polydorus Vergil. III, p. 242 ed. Basil.
Lycosthenes Prodig. p. 308.
583.(') Am Österfesttage schien bei Soissons in Frankreich im 7ten Jahre
des Königs Childebert der Himmel zu brennen, so dafs 2 Brände gesehen
wurden, ein gröfserer und ein kleinerer. Nach 2 Stunden flossen sie zusam-
men, bildeten eine grofse Lichterscheinung und verschwanden. Bei Paris
aber flofs wahres Blut aus einer Wolke und fiel auf die Kleider vieler Men-
schen, welche es so mit Jauche verunreinigte, dafs diese sich ihrer eigenen
Kleider mit Abscheu entäufserten. An 3 Orten im Gebiete der Stadt erschien
das Wunderzeichen ; in Senlis aber war das Haus eines Mannes, als er am
Morgen aufstand, inwendig mit Blut befleckt. Gregorius Turonensis
Historia francorum LVI, 14.
594. Es gab in diesem Jahre nach Paulus Diaconus Blutregen und
Blutströme in Italien. De gest. Longobard. IV, 4.
610? Im Koran giebt es ein vieldeutiges Kapitel, Sura 96, welches über-
schrieben ist: das g
geronnene Blut, el Alak, worin, den Interpreten zu-
583 sah man am 31. Januar Morgens früh bei Tours in Frankreich einen grolsen
Feuerball bei Regenwetter, der eine grolse Strecke des Firmaments durchzog und eine
Helle wie bei Tage verbreitete, endlich aber hinter eine Wolke trat, worauf es so finster
wie bei Nacht wurde. Gregor. Turonensis Histor. francor. VI, 25.
586 war bei Venedig ein See mit einer Lage von blutartiger Flüssigkeit eine Elle
hoch bedeckt, wovon Thiere und Vögel in ungemessener Zahl Tag für Tag leckten.
Gregor. Turon. VII, 8. 17.
Phys.- Kl. 1847. My
394 EHurRENBERG:
folge, die erste Entstehung des Menschen aus geronnenem Blut gelehrt wird.
Es fängt an: „Lies im Namen Deines Herrn der (alles) erschaffen hat, den
Menschen erschaffen hat aus geronnenem Blute.“ Ibn Abbas und Med-
schahed, angesehne muhamedanische Gelehrte (letzterer starb 722 p. C.),
behaupten, dafs dieses Kapitel des Koran die erste Offenbarung enthalte,
welche Muhammed vom Engel Grabriel erhalten. Ist daher nicht doch wohl
Muhammed durch vom Himmel gefallenes Blut (Blutregen, Fleischregen) auf
eine solche Vorstellung und Lehre geleitet worden? War es mystische schein-
bare Gelehrsamkeit, war es mystische Auffassung einer eigenen für Offen-
barung gehaltenen Erfahrung um das Jahr 610, wo er Blut vom Himmel
fallen sah? Aus Sure 23 und anderen Stellen des Koran scheint freilich her-
vorzugehen, dafs er auch Adam aus Letien geschaffen sein lasse, und dafs
nur die Folge der Zeugung aller übrigen Menschen ein Blutklumpen sei, der
in sich allmählig Knochen entwickle und das Kind ausbilde. Das wäre denn
blos eine rohe Vorstellung der Entwickelung. Allein, dafs die erste Offen-
barung Muhammeds gerade jenen Ausspruch enthält, bleibt um so bemer-
kenswerther, je einflufsreicher die mystischen Vorstellungen und Andeutungen
Muhammeds geworden sind, und je mehr auch in den religiösen Vorstellungen
anderer Völker das Blut eine directe Beziehung zur Gottheit erhalten hat.
Hat eine auffallende Naturerscheinung Muhammeds Nachdenken erregt, so
läfst sich freilich die eigne Überzeugung und der Ernst in seinen Handlun-
gen natürlicher erklären.(') Vergl. Wahl Übersetz. des Koran. Note.
640. In Deutschland erschienen Kreuze auf den Kleidern der Leute und
es fiel blutiger Regen mit Sturm (imber). Joh.W olf Lectiones memorabiles.
782(?) regnete es Blut, wie es scheint, in oder bis Constantinopel und
es flofs auch Blut aus der Erde. Lycosth. Prodigia 1557.
(') 587 gab es in der Ausbreitung von Chartres, Orleans und Bordeaux und allen
dazwischen liegenden Städten in Frankreich unaustilgbare Flecke am Hausgeräth (vasa per
domos diversorum signis nescio quibus caraxata sunt). Gregor. Turon. IX, 5.
(?) 652 fiel unter Heraclius in Constantinopel Staub wie Regen bei heiterem Him-
mel (e£ ovgavot). Theophanes Chronograph. p. 286.
742. Die syrische Chronik von Edessa (Assemanni Biblioth. orient. P. 1. p. 403)
giebt Nachricht über einen Staubregen nach Quatremere Memoire sur l’Egypte IH, p. 486.
746. Im öten Jahre des Kaisers Constantin erschienen in Calabrien, Sicilien und an
anderen Orten an den Kleidern der Menschen und an den Vorhängen der Kirchen Kreuze
wie mit Oel gezeichnet. Lycosthenes Prodig. p. 331.
Passatsiaub und Blutregen. 395
786 regnete es in England Blut und es erschienen Kreuze auf den Kleidern
der Leute. Joh. Wolf Lectiones memorabiles 1671.
787 nahmen manche Flüsse eine blutrothe Farbe an und aus der Luft
fielen brennend heifse Tropfen, wem sie auf den Leib fielen der starb, die
denen sie auf die Kleider fielen kamen davon. Vergl. 1629. Avent. Chron.
p- 324.
811 im 3ten Mond am Tage Wou-Siu zwischen 3 und 5 Uhr Nachmittags
sah man eine grofse Feuerkugel zwischen Yan und Yun fallen. Mehrere 100
Li weit hörte man den Donner. Über dem Orte, wo die Feuerkugel her-
abfiel, blieb ein röthlicher Dampf 3-8 Meter schlangenförmig bis zum Abend.
Abel Remusat Annales de Chemie et de Physique Mai 1819.
859? sah man bei einem sehr schneereichen kalten Winter in Italien auch
rothen Schnee. Nach Hermannus Üontractus war der schneereiche kalte
Winter 860. Der rothe Schnee wird von Anderen erwähnt. S. Schnur-
rers Chronik d. S. I, 178.
860 fiel unter Kaiser Michael III in Constantinopel blutrother Staub bei
heiterm Himmel nach Georgius Monachus p. 399. Kevıs ainarwöns En rev
ougavov. S. Chladni F. M. p. 362.
860 fiel ein Regen von geronnenem Blut zu Balkh nach Kaswini in Syl-
vester de Sacy Chrestomatie arabe 3. p. 526.527. S. ChladniF.M.p. 362.
860. Nach Bartholinus (Consultationes de ulcere syriaco c. 4.) sagt
der unbekannte Autor der Annales Franeici, dafs im Jahre 860 bei strenger
Winterkälte in den meisten Örtern ein blutiger Schnee gefallen. S. Fran-
eiseus Lufikreys p. 827.
864. Es war in diesem Jahre ein überaus langer und strenger Winter,
so dafs das adriatische Meer bei Venedig zugefroren war. Dabei fiel bluti-
ger Schnee (Nive sanguinea pluit). Lycosthenes Prodigia.
869. In der Koenigshovener Chronik findet sich p. 104. Bi disen Ziten
regnete es zu Italia itel Blut drige Tage anenander.
784. Unter Karl den Grofsen sah man Kreuze auf den Kleidern der Leute, auch
war damals um 2 Uhr im September eine Sonnenfinsternils. Lycosth. Prodig. 336.
839 röthete sich der wolkenlose Himmel des Nachts und es durchliefen viele sternähn-
liche Feuerfunken den Himmel mehrere Nächte hindurch. Ruodolfi Fuldenses Annales
Pertz I, p. 361. 362.
869 gab es zu Mainz bei bedecktem Himmel anhaltende Sternschnuppen und der
Himmel sah mehrere Nächte blutroth aus. Annales Fuldenses.
Yy2
356 EHrEnBEre:
Wahrscheinlich dieselbe Nachricht ist es, wonach es in Brixen 369
drei Tage lang Blut geregnet, und es ist somit nicht Brixen in Tyrol, son-
dern Brescia in der Lombardei gemeint. Sie ist aus Barlandi historiarum
libri ed. 1603 Uolon. p. 16. Eine ganz ähnliche Nachricht wird vom Jahre
874 gegeben. Nach Platina vita Hadriani II ist es kurz vor dem Tode Ha-
drians 872 gewesen. Happelius p. 561.
874? Im 19ten Jahre des Kaisers Ludwig hat es in Italien in Brescia
(Brixiae) 3 Tage und 3 Nächte lang Blut vom Himmel geregnet nach Lyco-
sthenes Prodigia p. 356. und nach Fincelius ist dasselbe im gleichen
Jahre zu Brixen in Welschland vorgekommen.
897 war nach Ibn el Athir’s arabischem Manuscript, welches Quatre-
mere in den M&moires sur [’Egypte citirt, im Jahre der Hedgra 285 ein Me-
teorsteinfall mit Staub in der Stadt Kufah am Euphrat. Es erhob sich ein
mit gelben Dünsten beladener Wind, welcher bis zur Sonnenhelle (candeur
du soleil)(!) blies und dann seine Farbe in Schwarz verwandelte. Vergl.
473. Bald darauf fiel heftiger Regen, mit fürchterlichem Donner und Blitz.
Nach einer Stunde fielen weifse und schwarze Steine, die in der Mitte runz-
lich waren, in dem Dorfe Ahmed Abad.
929. Im Jahre 318 sah man zu Bagdad den Himmel geröthet und es fiel
auf die Dächer der Häuser eine Menge rothen Staubes (sable). Die Nach-
richt ist von Quatrem£re ]. c. aus einem persischen Manuseript Moudj-
mel el tawarikh mit anderen ähnlichen aus arabischen Manuscripten entlehn-
ten und bei Chladni vermischten ausgezogen.
935. In der ersten Zeit des Pabstes Johann des 11ten flofs zu Genua
ein reichlicher Blutquell nach Lycosthenes Prodigia p. 360. Zu Genua
flofs aus einem Brunnen nichts als Blut. Johannes der elfte was Bobest.
Koenigshoven Chronik p. 104.
936. Zur selben Zeit flofs ein sehr reichlicher Blutquell. In Januensi
urbe quae est in alpibus Coceis, 80 stadiis a Papia distans super africanum
mare constituta fons sanguinis largissime fluxit. Annales ecclesiastiei. — Diese
2 sich in der Zeit so nahe liegenden Notizen scheinen zu einer einzigen Er-
scheinung zu gehören, die wohl auch einem Scirocco -Sturme angehören
könnte.
(') Chladni übersetzt: bis Sonnenuntergang, hält daher das Wort candeur für Druckfehler.
Passatstaub und Blutregen. 397
990. Man schreibt von Blut, welches zur Zeit Königs Roberti am Ende
Brachmonats (Junius) geregnet und sowohl an dem Fleisch als an Kleidern
und Steinen so fest geklebt, dafs mans mit Wasser nicht abwaschen können,
ausgenommen diejenigen Tropfen so auf Holz gefallen. — Peiresk erklärt
es für Insecten- Auswurf. Gassendus vita Peirescii 2. p. 154. Francisei
Luftikreys p. 736. Vergl. 1017.
990°? Im der Aventinischen Chronik p. 438 heifst es: Man schreibt auch,
dafs (vor den Kreuzzügen) ganze Blutströme geflossen sind. Es fiel Blut
aus frischem Brod und man fand Zeichen auf den Kleidern.
1006 am 1. Mai hat es bei Magdeburg Blut geregnet. Spangenbergs
Mannsfeld. Chronik.
1009 fielen am Palmsonntage (März?) an verschiedenen Orten rothe Tro-
pfen wie Blut aus der Luft. Ein Höhrauch deckte gegen Ende des Aprils
drei Tage lang die Sonne und den Mond und gab beiden Gestirnen ein grau-
senvolles Ansehen. Crusius Annales.
1017. In Gascogne (Aquitania) fiel ein dreitägiger Blutregen vor dem
Johannistage (24. Juni), der wenn er auf die Haut der Menschen oder auf
Steine fiel nicht abgewaschen werden konnte, aber von Holz vertilgbar war.
König Robert von Frankreich fragte den gelehrten Bischof Fulbert von
Chartres (Carnotensem) um Auskunft, welcher erklärte, unter den Steinen
seien die Gottlosen, unter dem Fleische die Sinnlichen und unter dem Holze
die Übrigen zu verstehen. Baronis Annal. eccles. Ist wohl dasselbe von 990.
1056 war in Armenien (in Edessa?) die Erde bei heiterem Himmel vor
Sonnenaufgang nach allen Seiten mit rothem in der Nacht gefallenen Schnee
bedeckt. Nach Mathaeus (Eretz) von Edessa. Bibliotheque du Roi T.
IX. Chladnil. c. 362.
963. Blutige Kreuze erschienen plötzlich auf den Kleidern vieler Leute. Wolf Lectio-
nes memorabiles.
1010. Im Dorfe Bruhesare auf dem Gute Aufrede Nofs 25 Tage lang eine Blutquelle
und steckte, jedermann augenscheinlich, einen nahen Sumpf an. Lycosth. Prod. p. 370.
1011 ist im Herzogthume Lothringen ein Wasserbrunnen in Blut verwandelt worden. —
Beides kann Euglena sanguinea gewesen sein.
1076 fiel in Irak ein Regen mit Hagel und Kugeln von Erde, die den Sperlingseiern
glichen und angenehm rochen. Quatreme&re nach dem arabischen Manuscript Mirat el
zeman. Memoire sur l’Egypte II. 486.
358 EHRENBERG:
4104. Das Gemüth der Menschen wurde durch viele Wunderzeichen
erschreckt. Es sollen Blutbäche entstanden sein, und nach Abbas soll Blut
aus dem Brode geflossen sein. Lycosthenes Prodigia.
1110. In Armenien in der Provinz Vaspuragan sah man während einer
sehr dunkeln Nacht einen freurigen Körper mit Getös in den See Wan stür-
zen. Das Wasser des Sees wurde blutroth, über die Ufer getrieben und
die Fische waren gestorben. Man bemerkte Schwefelgeruch. Bibliotheque
du Roi T. IX. 307. Armenische Chronik des Mathaeus Eretz. — Feuer-
erscheinung, Meteorsteinfall, rother Staubfall.
4113. Blutregen im Juni (13) in Italien. Staindorf Chronie. In agro
Aemiliano et Flaminio Id. Juniis sanguis pluit.
4414. Unter Heinrich V. hat es in Italien auf dem Acker des Hemilia-
nus und Flaminius, wie auch bei Ravenna und Parma, sowohl auf dem
Lande als in den Städten am 13. Juni Blut geregnet. Lycosth. Prodigia.
1117. Im Mai (5 nonas) war zu Lüttich, als man in der grofsen Kirche
Abend-Gottesdienst hielt, ein plötzlicher Donnerschlag mit Erdbeben, wel-
cher Alles zur Erde warf. Beim Abendläuten am Sonntag (Sabbatho) hatte
jemand, als er einem Knaben den Kopf waschen wollte, die Hände voll rothes
flüfsiges Blut. — Offenbar rothes ‘Wasser, vielleicht in Folge jenes Donner-
schlags. Das Erdbeben ist vielleicht auch nur eine durch das Meteor erfolgte
Erschütterung gewesen. Lycosthenes Prodigia.
1120. Blutregen zu Lüttich. Einer, der sich den Kopf wäscht findet
seine Hände blutig. Die Erde zitterte, Städte und Häuser wurden umge-
stürzt (urbes, domus eversae). Schlatende wurde aus den Betten geworfen.
Donnerschläge, häufige Blitze erschreckten die Menschen. Zu Lüttich ent-
stand bei stiller Luft plötzlich ein Wirbelsturm. Der Blitz erschlug am
Tage vor Ostern 3 Priester in der Kirche. Mauern und Häuser wurden um-
geworfen. Ein Pest-Geruch folgte, Wolkenbruch trat ein. Blutige Wolken,
ein Kreuz, eine weifsglühende Menschenfigur sah man am Himmel. Die Leute
glaubten der jüngste Tag sei gekommen. Lycosthenes Prodigia. — Bei-
des ist wohl nur ein Meteor gewesen.
4121 Im Osten (Orient?) sah man bei Tagesanbruch ein ungeheures unermelsliches
Feuer, das 6 Stunden lang Flammen answarf, bis ein Wirbelsturm von Westen mit gro-
(sen Regenmassen es auslöschte. Lycosthenes Prodigia.
Passatstaub und Blutregen. 359
1128. regnete es in Italien Blut. Wolf Lectiones memorabiles.
1147. wurde eins der Kreuzfahrerheere, die im April und August unter
Kaiser Conrad und König Ludwig aufgebrochen waren auf dem Marsche
durch Griechenland am Abend von einer sehr dichten Wolke eingehüllt,
die nach ihrem allmähligen Weiterziehen die Zelte und alles, was unter freiem
Himmel sich befand so durchaus mit einer blutartigen Substanz überzogen
zurücklies, als wenn die Wolke Blut geregnet habe. Helmoldi, Presbyteris
Lubeecensis, Historiarum liber. 1556. c. 61. p. 131.
1160. Edrisi giebt die erste Beschreibung des Dunkelmeeres oder Ne-
belmeeres, mare tenebrosum, an der Westküste von Afrika. Er war in
Ceuta geboren und hatte in Spanien studirt. Das Mittelmeer nennt er Bahr
schami, im Gegensatz des Dunkelmeeres (Bahr el mudslim, nicht moslim)
„all ‚di. Es wird durch diese Nachricht die Beständigkeit der staubigen
Atmosphäre oder des fallenden Passatstaubes seit jener Zeit erläutert und
die Erzählung läfst erkennen, dafs seit alter Zeit die Erscheinung dort be-
kannt war.(!) Die Furcht vor diesem Dunkelmeere, mithin der Passatstaub
bei Westafrika, hinderte die Schiffer sich von der Küste zu entfernen, wo
er freilich gerade am stärksten war, und so hinderte der westafrikanische
atlantische Passatstaub jahrtausende lang die Kenntnifs der transatlantischen
amerikanischen Länder.
1163. Im August fiel Blutregen in der Bretagne bei Rochelle. Mense
Augusto sanguis pluit in Retbel in Episcopatu Dolensi. Georg. Fabricii
rerum Misnic. Tom. I. p. 32. Schnurrer Chr. d. S. I. 247.
1163. Im Juni regnete es Blut. Mense Junio in Britannia minore, secili-
cet in Recello, sanguine pluit et de ripis cujusdam fontis ibidem effluxit nec
non etiam de pane. Lycosthenes Prodigia 1557. So hat es auch anno
1163 bei Rochelle in Frankreich Blut geregnet. Happelius p. 561. — Im
Jahre 1163 ist bei Rochelle in Frankreich dergleichen (Blutregen) geschehen.
Franeiscus Lufikreys. 1680. p. 731.
1165 regnete es am 8. August im Bischofthum Dol Blut vom Himmel.
Lycosthenes Prodigia. — Diese 3 Nachrichten beziehen sich offenbar auf
ein und dasselbe Phänomen.
1144. In England quoll in der Kirche zu Rames im August Blut aus der Kirchen-
mauer. Rogerius in Annalibus. Annales eccles.
(') Vergl. die Einleitungsrede über das Dunkelmeer der Araber 1848 p. 9.
360 EHrRENBERG:
1194. Eine sehr merkwürdige Mittheilung findet sich bei Eustathius
zu Ilias A p. 8. ed. Lips. 1827. In den armenischen Gebirgen soll auch
rother Schnee fallen, weil eine der Mennige ähnliche Erde durch die Aus-
dünstung emporgehoben den fallenden Schnee ähnlich färbt. Vor nicht
langer Zeit hat man auch in Macedonien in der Gegend des Axius oder Bar-
darion einen herabfallenden blutrothen starken Hagel erlebt, der wie es
scheint Unglück bedeutet.(!) Vgl. A. v. Humboldts rothen Hagel 1802.
1222. Zu Weihnacht war rother Regen in der Gegend von Viterbo und
zu Rom sah man einen Tag und eine Nacht lang rothe Erde fallen. Aus
Godofred. Anon. Leob. Chronicon und Chron. Mont. Seren. Lauterberg
bei Schnurrer Chronik d. Seuch. p. 272. Vergl. Nees v. Esenbeck in
Rob. Browns bot. Schrift. I. 624.
4226. Im Winter, der aufserordentlich kalt war, fiel rother Schnee in
Steyermark. Annales Fuldens.
1269. Am 6. December in der Dämmerung entstand am Himmel ein un-
erhörter ausgezeichneter Glanz in Form eines Kreuzes, der nicht nur die Stadt
Krakau sondern die ganze Umgegend erhellte. — In Schlesien soll beim
Dorfe Machelow zwischen der Oder und Neifse drei Tage lang Blutregen
gefallen sein. Lycosthenes Prodigia.
1272. Marco Polo bezeichnet in Mittelasien eine Gegend jenseits der
Tartarei als die Gegend der Finsternisse. Hist. generale des Voy. IX. 371.
1274 regnete es Blut in Wales in England nach einem Erdbeben. Ly-
costhenes Prodigia.
1319? Als in Schweden Birger, Sohn des Königs Magnus II. auf den
Thron gelangt „seynd bei Ringsstaholm bald hinnach aus den Wolken blutige
Tropfen gefallen.“ Scheferus in Memorabil. Suec. c.2.p.9. Francis-
cus Luftkreys p. 639.
1334 gab es im Frühjahr beim ersten Mond einen Blutregen zu Pien-tcheou
€) Hagı yap 7a "Agıevice on za Yıoves, pacıv, EpuSgei zaragönyvuvrer die 70 &2 WıhrW-
dovs Hs AvaSunaseis Todvres avapsgopzves OMorov Amorsdeiv ov MimroVre vuberov. TeSeu-
enraı dE oV ao moAroÜ zaı TS TWV Mazedovwv Yyns megt Fov eire "Agıov eirs Bagdegıov HaragS-
bayeısa Uheaımov döge Yarıada, SYWalwoure wg Enıze Ösivd.
1304 fiel ein Regen feuriger Steine wie Hagel oder Schlofsen am St. Remigii Tage
bei dem Städtchen Urdeland in der Mark Brandenburg so das Feld verwüstet. Cranz
Saxon. 8. c. 37. Happelius p. 564. Franciscus Luftkreys. p. 764
Passatstaub und Blutregen. 361
und Leong-tcheou. Deguignes Histoire generale des Huns, des Tures et
des Mongols T. IV. p. 226.
1337 gab es Blutregen an einigen Orten Deutschlands. G. Fabricii
Misnie. II. Lycosthenes Prodig.
1348 war im October in Syrien ein heftiger Sturm von Mitternacht bis 2
Stunden nach Sonnenaufgang, dann trat Dunkelheit ein, so dafs keiner den
anderen erkennen konnte und wonach alle Gesichter gelb gefärbt erschienen
(ob vom Staube?). Schnurrer Chronik d. S. 322.
1348 war Blutregen in Deutschland (an der Donau). Schnurrer. 321.
1349. Am 25. Januar regnete es Blut und es flossen Blutflüsse. Bei
Kehlheim an der Donau brach ein Blutstrom hervor, der, wie den Natur-
forschern bekannt ist, sagt Lycosthenes, nichts weiter ist als ein feuchter
Dunst, welcher durch Anblasen eines irdischen und feurigen Windes roth
wird). Zum Andenken wurde dort ein steinerner Tempel gebaut, welcher
zum heiligen Blute genannt ist. Lycosthenes Prodigia.
1416 Am Freitag nach Corpus Christi (23. Juni) war rother Regen und
Finsternifs in Böhmen sechs Meilen weit und breit. Nach Spangenbergs
Mannsfeld. Chronik (nicht 1406).
1438 fiel eine Plüssigkeit wie geronnenes Blut mit einem Steinfall und
Feuermeteore bei Luzern im Sommer. Das Meteor zog vom Rigi nach dem
Pilatus (von NO. nach SW.), wie ein fliegender Drache. Der Stadtschreiber
4348. Ein Dunst von furchtbarer Ausdehnung kam von Norden, zog zum Schrecken
der Zuschauer über den Himmel und senkte sich auf die Erde. Lycosth. Prod.
4365 fiel nach Makrisi während einer Schlacht der Bewohner von Zeila mit den Ha-
bessiniern (753 d. Hedjra) ein Regen von verdorbenem Wasser (pluie d’eau eroupie) und
darauf fielen eine grolse Menge Schlangen, welche viele Habessinier tödteten. Quatre-
mere Memoire sur l’Egypte II. 486. — Rothe Schlangen (glühende Meteorsteine?) fielen
auch 590 in Italien ins Meer. S. Lycosthenes Prodigia.
1434. In der Schweiz sahen die Einwohner von Burg-Mellingen im Flusse Rusa einen
Blutbach hervorbrechen. Lycosthenes Prodig.
1438. Aus weilsen, die Sonne bedeckenden Wolken fiel beim Dorfe Roa unweit Bur-
gos in Spanien, als König Johann dort auf der Jagd war, eine Stunde lang eine sehr
grolse, ein Feld dicht bedeckende Menge ganz leichter grauer ‚und schwärzlicher Steine,
wie Kopfkissen u. s. w., deren gröfste nicht 4 Pfd. wogen. Sie glichen verdichtetem
Meerschaum. Aus dem Journal de physique 'T. 60. Mars 1805 und Gilberts Anu. d.
Phys. B. 24. S. 263 bei Chladni p. 203. — Dies erinnert an das Meteorpapier von
Rauden 1680 und an meine Beobachtung in Ostende s. 1818.
Phys. Kl. 1847. Zz
362 EHRENBERG:
Cysat zu Luzern hat es 1661 p. 176 beschrieben (Beschreibung des Luzer-
ner- oder Vierwaldstädter-Sees). Der Stein, welchen Blumenbach selbst
gesehen, soll einem verhärteten Thone ähnlich sein und sich im Besitz der
Familie des Dr. Beatus F. Maria Lang zu Luzern befinden. Chladni
Feuer-Meteore p. 203. Vergl. 1499.
1446. Am 27. Januar war bei Zofingen, Lenzburg, Sursee und Araune
ein nächtliches Unwetter, wobei die beständigen Blitze bei furchtbaren Don-
nerschlägen eine Stunde lang Tageshelle verbreiteten (instar meridiani diei)
worauf wieder Finsternifs folgte. Am 1. Februar fanden die Leute zu Sursee
welche in der Morgendämmerung zur Kirche gingen auf dem Kirchhofe und
anderwärts auf 2 Häusern viel geronnenes Blut. Lycosth. Prodig.
1456. Am Venus-Thore (apud Veneris portam) zu Rom war Blutregen.
Lycosthenes Prodig. Nach Palmerius in Callisto III. und Bonfinius
Dec. 3. Lib. 8. hat es zu Rom im Jahre 1456 nicht allein Blut, sondern
auch Fleisch geregnet. Franeisci Lufikreys 1680 p. 732.
1501 sind Blutstropfen vom Himmel gefallen. Barlandi histor. lib. p. 39.
Nach Thuanus gab es um diese Zeit einen Blutregen in Preufsen.
Franciscus Luftkreys p. 732.
1531 waren zu Lissabon in Portugall feurige Zeichen am Himmel und
Blutstropfen fielen aus den Wolken. Lycosthenes Prodigia. Bei Fin-
celius ist es zu 1532 gezogen.
5
1534 war nach Frommont Blutregen in Schwaben mit Kreuzen auf den
Kleidern. Nach Fincelius ist im Jahre 1534, da Ludovicus der andre
1500 fielen zu Herrenberg in Schwaben Kreuze und andere Zeichen auf die Menschen.
Das erste sah Simon Lamparter an Barbara, der Frau des Jacob Dachtler. Am Tage vor
Ostern sah derselbe auch dergleichen an der Tochter des Conrad Holtz. Es waren grüne,
blaue, gelbe Linien und Kreuze. Wolf Lectiones memorabiles.
1502 gab es Kreuze auf den Kleidern in Würzburg. Würzburg. Archiv des hist.
Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg X. B. 1.H. p. 161.
4503 waren blutige Kreuze auf den Kleidern. Fincelius II.
4510 fielen in der Lombardei gegen 1200 sehr harte Steine von rostrother Farbe mit
einem Feuermeteor, nachdem 2 Stunden vorher ein grolser Knall gehört worden war.
Lycosthenes nach Cardanus. Chladni hat p. 209 das Factum ausführlich erörtert
im Jahre 1511.
1529 war ein merkwürdiger Feuerregen mit Brandmäler hinterlassenden Tropfen in
Schweden. Scheferus. Happelius p. 564.
1530. In Italien (Welschland) ist eine Quelle mit Blut geflossen nach Fincelius.
Passatstaub und Blutregen. 363
regiert hat, viel Blut und Feuer durch einander, drei Tage und Nächt vom
Himmel gefallen. Cardanus de subtilitate lib. 16 scheint besonders von
diesem Fall die Erklärung entnommen zu haben, dafs der mit dem Regen
fallende Staub auf grober Leinwand, der Fadenkreuze halber, Kreuze bildet.
1539 hat es an etlichen Orten teutschen Lands Blut geregnet, sonderlich
aber im Niederlande. Fincelius hat diese Nachricht im I. und im III.
Theil seines Werkes „Wunderzeichen“. In den Niederlanden war es im
October von 2 bis 4 Uhr Nachmittags. Man habe solch Blut aufbewahrt.
1540 hat es bei Chemnitz nach Georg. Agricola eine gelbe Erde (luteam
terram) mit Wasser geregnet.
1543 fiel rother Regen in Westphalen im Münsterschen nahe bei Waren-
dorp und Schlofs Sassenburg. Surii Comment. ed. Col. 1574 p. 39.
Lycosthenes und Fincelius haben es zum Jahre 1542 gezogen. Letzte-
rer hat noch eine andere Nachricht von 1543.
1546 wurde in Syrien das Meer bei einem Erdbeben (?) blutroth. Fince-
lius Wunderzeichen. Vergl. 53.
1548. Am 6. November zog Nachts zwischen 1 und 2 Uhr von Abend
nach Morgen im Mannsfeldischen eine mit ungeheurem Knalle platzende
Feuerkugel, dabei fiel eine röthliche Flüssigkeit, „wie zertriebenes und ge-
liebertes Blut.“ Nach Spangenbergs Mannsfeld. Chronik. S. Chladni 364.
1548 war zur Erndtezeit das Getreide beim Dorfe Hausdorf in Schlesien
unweit Neunburg mit vielem Blut überflossen. Fincelius,
1550. Bei Trebin nicht weit von Wittenberg sah man am 19. Juli wun-
derbare Zeichen am Himmel (Wolken) aus denen ein Blutregen fiel. Die
Sonne war erschreckend. Lycosth.
1551 waren in Deutschland, namentlich in Sachsen, Blutwunder, auch in
Frankreich (oder Franken). Vor Östern war ein ungeheurer Sturm. Lycosth.
1546 fand man in Ungaren Blut in Weinbeeren. Lycosthenes.
1547 war eine dreitägige Verfinsterung um die Zeit der Schlacht bei Mühlberg, wo
der Churfürst von Sachsen gefangen genommen wurde.
1549 flols auf einem Acker in Braunschweig viel Blut. Lycosth.
1549. Beim Dorfe Unstmalen bei Koburg in Franken war eine Ackerfurche voll Blut,
das man in Fläschehen füllte. Auch im Stadtgraben zu Koburg war Blut. Auch zu Zor-
begk (Zörbig) bei Magdeburg war ein Teich voll Blut. Fincelius. Diese Nachrichten
gehören wohl sämmtlich zu Euglena sanguinea.
Zz2
364 EHRENBERG:
1551 regnete es am 28. Januar Blut zu Lissabon in Portugall. Gleich-
zeitig war grofses Erdbeben, wobei 1000 Menschen umkamen. Lycosth.
1552. Am St. Bartholomaeus-Tage (August) war in Holland ein grofser
Sturm, mit pfundschwerem wunderbar gestaltetem Hagel, welcher beim
Zerfliefsen entsetzlichen Gestank verbreitete, wodurch viele Thiere starben.
Lycosthenes. — Waren es vielleicht nur vom Meere gleichzeitig ausgewor-
fene Quallen, die dann faulten? War er mit verrottetem Luftstaub gemengt?
1552 regnete es zu Hoffstat in Franken Blut und Fleisch. Lycosthenes.
Fincelius. Am 15. Juni war (um St. Veit) zu Schönfelt im Königreich
Böhmen die Sonne blutig. Man sah viele runde Kugeln aus der Sonne hin-
und herfahren und alles war wie ein gelbes Tuch. Fincelius.
1553 hat es im Sommer zu Greufsen, Erfurt und an anderen Orten in
Thüringen Blut geregnet. Fincelius.
1553 war ein grofser Sturm, welcher 2 Zelte des Churfürsten Moritz
von Sachsen am Tage vor der Schlacht (9. Juli), in welcher er blieb, um-
warf. Am 8. Juli war zu Leipzig Blutregen. Lycosth. — Am 5. Juni war
ein Blutregen zu Erfurt. Fincelius. — Am 8. Juni hat es um Leipzig Blut
geregnet. Fincelius. Im Juni, kurz vor dem Tode des Churfürsten Mo-
ritz von Sachsen, der bei Sivershausen blieb, fand man rothe Tropfen auf
Bäumen, Kräutern und an Häusern. Tharsander. — Der Sturm scheint
hier den Blutregen aufser Zweifel zu stellen.
1554. Am 26. Mai regnete es bei der Stadt Dunkelspühel (Dünkelspiel)
in Deutschland Blut nach Marcus Frytschius. Lycosthenes p. 696.
Fincelius. Zwei Meilen von. Würzburg in dem Dorfe Reimlein flofs eine
1550. Im Juni war zwischen Halle und Merseburg in Sachsen eine blutrothe Wiesen-
quelle, die, mit der Hand bewegt, gelb wurde. Lycosth.
1552 war ein Teich bei Merseburg blutig. Fincelius.
1555 war der Schlofsgraben zu Weimar 3 Tage lang blutig, Zu Erfurt war eine
Quelle blutfarbig und eine kleine Quelle zwischen Weimar und Erfurt, die schon 1524
vor dem Bauernkriege blutroth gewesen war, färbte sich am 12. und 13. Juni wieder
blutig. Fincelius. Lycosthenes. Diels ist wohl Monas Okenii gewesen, welche ich
in Ziegenhayn bei Jena 1836 den Grund einer Quelle stark roth färbend sah. Infusions-
ihierchen 1838 p. 15.
1555. Zu Freiberg bei Meilsen gab es im Juni eine grofse Menge Schmetterlinge, die
Kräuter, Bäume, Blätter und Wäsche mit Blutflecken verunreinigten. Einige meinten es
habe Blut geregnet. G. Fahricius de Fribergo oppido.
®
Passatstaub und Blutregen. 365
Quelle 3 Stunden lang blutig. Fincelius. Vielleicht gehört beides zusam-
men zu Einem Meteor.
1556. Am 14. Mai fiel zu Herblingen bei Schafhausen Blutregen, was
einige läugneten, beim Nachforschen aber bestätigt wurde. Lycosth.
1556. Am 31. December war in Algei in Schwaben (in Algoea Sueviae)
nicht weit von Lowingen am Sonntag nach der Christnacht häufiges Blitzen.
— Am gleichen Tage war in Böhmen und Schlesien ein furchtbares Unge-
witter, welches viele Menschen und Thiere tödtete. In vielen deutschen
Städten zündete der Blitz und es fiel Blutregen. Lycosth.
1557. Am 20. November 1556 segelte de Lery von Honfleur ab. Am
18. December war das Schiff bei den canarischen Inseln. Ende Januars
etwa 4° vom Aequator (nördlich) hatten sie viele Stürme. Überdiefs war
der Regen, welcher unter der Linie fiel nicht nur stinkend und höchst übel-
riechend, sondern auch so ätzend (contagieuse), dafs wenn er auf die Haut
fiel sich Pusteln und grofse Blasen bildeten, auch befleckte und verdarb er
die Kleider. Am 4. Februar passirten sie die Linie. De Lery Voyage.
1557 hat sichs zu Schlage in Pommern den Freitag für Fastnacht (Februar)
zugetragen, dafs daselbst Blut geregnet hat, auch ist von vielen Leuten ge-
sehen worden, dafs grofse Stück Bluts auf die Erde gefallen, faustgrofs und
gröfser, darin sind gemeiniglich Menschenangesicht gewest. Dieser Blutregen
hat 5 Acker lang und breit geweret. Aus Micrelius Beschreib. d. Pom-
merlandes. Fincelius.
1557. hat es in Thüringen Feuer und Blut geregnet. Fincelius.
1559 am 15. Januar um 7 Uhr ist zu Strafsburg ein grofs Erdbiden ge-
schehen, dergleichen ist auch dazumal am Himmel eine schreckliche Feuer-
kluft erschienen, dafs diejenigen so für der Stadt gewesen, anders nicht
gemeynt, denn die Stadt steht in eitel Feuermeer, dazu hat es eben zu der
Zeit Blut und Feuer geregnet. Fincelius.
1560. 24. Decbr. Mittags fiel ein rother Niederschlag mit Feuermeteor
bei heiterem Himmel vielleicht auch Meteorsteinfall bei Lillebonne Depart.
1555 fand Towtson so starke Nebel an der afrikanischen Goldküste in der Nähe des
Riviere del Oro, dafs man die Segel auf den Schiffen nicht sehen konnte. Hist. gener.
des voyages I. 255.
1556 am 2. September um 11 Uhr Vormittags war ein furchtbarer Südsturm (Scirocco)
zu Locarno, welcher einen Theil des Schlosses herabstürzte.e. LycosSthenes.
“
366 EHRENBERG:
de la Seine infer. Das Meteor entzündete ein Pulvermagazin. Aus Natalis
Comes Hist. sui temp. XIII. 259 bei Chladni 364.
1568 Am Östertage (April) fiel zu Trier 10 bis 11 Meilen breit rother
Regen. Nach Fromondi Meteorologia. S. Chladni p. 364. Nach Hap-
pelius war es am Pfingstage, ebenso nach Franciscus Lufikreys p. 732.
1571 fiel Nachts zu Pfingsten ein Blutregen bei Emden an dem Damm
(Ostfriesland) der 5-6 Meilen weit alles Kraut und ausgehängte Wäsche be-
deckte. Fromondi Meteorol. aus Gemma Frisius Cosmocrit. c. 2.
1572? Am 9. Januar Abends nach 9 Uhr als die Weichsel 3 Tage blut-
roth gewesen, darnach wiederum ihre rechte Farbe bekommen, ist zu Thorn
ein Erdbeben und ein verheerender Wolkenbruch mit Steinfall von 40pfün-
digen Steinen gewesen, wobei Leute getödtet wurden. Ein Blitz zündete
das Kornhaus der Stadt. Nach Sebastian Münster Cosmographie L. V.
p- 1290. S. Chladni p. 216. (— Die rothe Farbe im Winter vor dem
Wolkenbruch kann schwerlich rothe Lehmfärbung gewesen sein, sicher auch
keine Algen- noch Infusorien-Färbung, auch war es offenbar kein Erdbeben,
sondern ein erschütternder Orkan. Die historische Auffassung scheint durch
Münster, der es für Übertreibung hielt, unrichtig geworden.)
1536 ist am 3. December in der Nacht bei Verden (im Hannöverschen)
eine theils blutrothe, theils schwärzliche Substanz niedergefallen. Der Frost
hörte auf, es donnerte und auf Jost Berends Teich fiel vieles Blut einen
Finger tief ins Eis. Unten war es schwarz wie Dresch, hat auch die Planke
verbrannt als ob es Feuer gewesen. Dieses Blut ist auch zu Uchtenhausen,
wo Evers v. d. Linth wohnt, gesehen worden. Aus einer handschrift-
lichen Chronik von Heinrich Salomons, Rathsherrn in Bremen, der 1597
gestorben ist, durch Chladni p. 366.
1576. Peucer (Melanchthons Schwiegersohn) sagt in seinem Buche Te-
ratoscopia (de praecipuis divinationum generibus): Zu seiner Zeit hätten
die Völker oft Blutregen, Feuerregen und andere ungewöhnliche Dinge
erlebt. Bei Boekelheim im Hildburghausenschen sei ein starker Blutbach
geflossen. Bei Merseburg sei ein Teich öfter mit Blut gefärbt (1552), in
Schlesien seien die Ahren auf den Feldern mit Blut befleckt gewesen (1548).
Zu Bernburg haben Bilder (simulacra) Schweifs gezeigt.
1579 sagt der Seefahrer Stephens, dafs zwischen den Capverdischen In-
seln und der afrikanischen Küste die Luft oft dick und neblich ist, und oft
Passaistaub und Blutregen. 367
durch Gewitter und so ungesunde Regen getrübt werde, dafs wenn der ge-
fallene Regen nur kurze Zeit auf Fleisch steht, sich sogleich Würmer bilden.
Histoire generale des Voyages I. 316.
1597 sah man zu Stralsund in den Gärten vor dem Frankenthore früh an
Bäumen, Kräutern, Blumen, Gras und Zweigen Blutstropfen, auch das nackte
Erdreich war mit Blut befleckt und roth. Man schlofs allgemein auf Blut-
regen in der Nacht. Die Fischer auf dem Meere hatten ebenfalls auf ihre
Kähne, Netze und Kleider während der Nacht Blutflecke bekommen. Eine
Frau, die ein leinenes Halstuch zum Trocknen und Bleichen ausgehängt
hatte, wollte die Blutflecke mit Seife abwaschen. Da vertheilte sich das
Blut in mehrere Kreuze, so dafs 13, jedes einen Finger lang, so schön zum
Vorschein kamen, als wären sie absichtlich gemalt worden. Wolf Lect.
memorabiles.
1606. Jobson hat in seiner Untersuchung der Goldküste (Jobson Gol-
den Trade) die Ursache schädlicher Luft am Gambia aufzufinden sich be-
müht. Er überzeugte sich, dafs dort viel Giftiges in der Luft sei. Es fällt
mit dem Regen herab. Die ersten Regen(tropfen) machen Flecke, nicht blos
auf die Haut, auch auf die Kleider, und wenn man diese nur kurze Zeit in
der Feuchtigkeit läfst, bilden sich Würmer. Die späteren Regen haben das
nur selten. Er erklärt damit die Sterblichkeit auf dem Schiffe St. Jean.
Hist. gener. des voy. IV. 275.
1616 sah Wendelinus zu Forcalquier nahe bei Marseille einen rothen
Regen, wie der in Brüssel 1646 im Juli (30 Jahre später) gefallene, den er
analysirte. Happelius p. 562. Franciscus Luftkreys p. 737.
1617 fiel ein Blutregen zu Sens, Depart. de la Yonne in Frankreich und
dessen Umgegend am Frohnleichnahmstage (7) Juni. Der Chirurg Thomas
1580. Zu Weimar verschwand ein Blutquell bei einer Sonnenfinsternils und kehrte
dann an 4 Stellen des Bodens zurück. Wolf Lect. memorabiles.
1585. John Davis sah am 6. August 1585 nahe der Davis-Strafse schöne goldfar-
bene Abhänge in einer Bucht am Mount Raleigh, die vielleicht gelbrother Schnee (Sprae-
rella nivalis) waren.
1608 war Anfangs Juli zu Aix ein Blutregen. Nach Gassendi vita Peirescii L. I.
p- 117 ed. Quedl. soll es Insecten-Auswurf gewesen sein, was aber doch zweifelhaft bleibt,
da die Untersuchung offenbar mangelhaft war. Blos der Mangel eines Sturmes könnte
für Gassendus Ansicht sprechen.
368 EHRENBERG:
Mont-Sainet hat ihn 1617 beschrieben. Hist. miraculeuse des eaux rouges
comme sang tombees etc. (Paris 8.) Nur dem Titel nach bekannt.
1618 war in der zweiten Hälfte Augusts ein grofser Steinniederfall mit
Blutregen und Feuermeteor in Steyermark, District der Mur, Gränze von
Ungarn, mit schwarzen Wolken. Nach furchtbaren Donnerschlägen, die
Menschen und Thiere betäubten, fielen mehre bis 3 Centner schwere Steine.
Aus Naimas osmanischer Reise von Hammer in den Fundgruben des Orients
V. 2. 163. Chladni F. M. p. 221. 361.
1620 war ein heftiges Donnerwetter am 19. Mai zu Wien. Man bemerkte
dabei schwefliche brennbare Materie. Das Wasser des Stadtgrabens blieb
8 Tage lang röthlich. Schnurrer Chr. d. S.
1623 am 12. August zwischen 4 und 5 Uhr war Blutregen zu Strafsburg,
nachdem man vorher eine finstere dicke, rothe oder rauchfarbene Wolke
gesehen hatte. Nach Elias Habrechts Bericht von 1623 bei Chladni
F. M. p. 366.
1627 ist das holländische Schiff, Geldern genannt, bei Guinea auf das
Castell Nassau zu gesegelt, hat einen harten Sturm erlitten und unter dem-
selben sind in kurzem alle Segel, Schiffseile, wie auch das auswendige Schiff-
Getäfel als mit Blut gefärbt erschienen. Aus Ricciolo lib. 10. Geograph.
reform. c. 12. fol. 443. bei Erasmus Franeiscus Luftkreys p. 797. All
ihre Segel, Schiffseile und das Schiff selbst sind in kurzer Zeit blutroth ge-
worden von einem blutigrothen Regen. Ibid. p. 1152.
1629 fiel 4 Tage nach Pfingsten Feuerregen in Schweden. Feurige Tropfen versengten
die Kleider. Tharsander 1738. Happelius 1683. (1529). Ist aus Scheferus Me-
morabil. Suec. Es fielen kleine Stücklein, wie angebrannte Blätter der Bäume dabei. Nach
Fischerberichten kam eine schwarze dicke Wolke von Norden, welche Feuer und Wasser
zugleich regnete. Franciscus Luftkreys p. 748.
1634 am 27. Oct. Morgens 8 Uhr sah man in Charollois (Burgund) eine sehr rothe
und flammende Wolke bei heiterem Himmel, woraus mit grolsem furchtbarem Getöse
Steine fielen. Nach Morinus dissert. de atomis 1650 p. 30 bei Chladni p. 99. 224.
1635? Bei Baldivia in Chile und der Stadt Lima, besonders bei Porto formoso werden
die Schiffe oft in einen seltsamen trocknen Staubnebel, wie von (weilsem) Mehl einge-
hüllt. Diese Nebel dauern oft einen ganzen Tag. Franciscus Luftkreys p. 811. — Milch-
und Kreide-Regen in Italien. Vulkanisch? Vergl. 1812.
1637 am 6. Dec. fiel auf das Schiff des Capt. Badily im Meerbusen von Volo 2 Zoll
Asche. Es dauerte von 10 Uhr Morgens bis andern Nachmittags 2 Uhr, ohne Wind. 100
engl. Meilen weit entfernte Schiffe hatten den Staubfall bei St. Jean d’Acre. Der Capi-
Passalstaub und Blutregen. 369
1638 war rother Regen bei Turnholt und Duisburg in holländ. Seeland
21 Tage andauernd und alles roth färbend. Nach Ruhland in Schweiggers
Journal 1812 #6, Bd. 44S. Chladni F. M. 367.
1643. Blutregen im Januar zu Vaihingen an der Ens und Weinsberg nach
einer handschriftlichen Chronik bei Chladni p. 367.
1645. Zwischen dem 22. und 24. Januar rother Regen zu Herzogenbusch
in den Niederlanden. Chladni p. 367.
1646. Rother Regen am 6. Oct. zu Brüssel um 7 Uhr Morgens, welcher
plötzlich eintrat und 7-8 Stunden dauerte, anfangs mehr, später weniger
geröthet war. Das Wasser schmeckte säuerlich und setzte ruhend einen
purpurfarbenen Niederschlag ab. Nach Marcus Marci aKronland philo-
sophia vetus restituta P. II. sect. 7. Chladni p. 367. Ein Kapuciner
bemerkte es und zeigte es dem Dr. Wendelin, der sich erinnerte vor 30
Jahren auch so einen rothen Regen bei Marseille erlebt zu haben. Er war
lieblich warm und schmeckte wie Spaa-Wasser, traf auch nicht alle Häuser
und Plätze. Etwa 5 Meilen von Brüssel sind in einem Städtchen ganze Blut-
ströme durch die Strafsen gerauscht. Weilse Kleider wurden davon gefärbt.
Happelius.
1648. Ist ein Wunderblut über Malchin in Mecklenburg aus den Wolken
gekommen, wobei ein Blitz war, und man hörte die Stimme: Wehe! Wehe!
Franeisei Lufikreys p. 740.— Feuer-Meteor (mit Steinfall?) und Blutregen.
1665? Erasmus Franciscus schreibt in seinem Luftkreys p. 739 im
Jahre 1680, dafs vor wenigen Jahren ein Blutregen in der Mark gewesen,
worauf der Krieg zwischen Frankreich und Schweden erfolgt sei.
1668? Derselbe Autor sagt in seinem indisch-chines. Lustgarten Bd. II.
p- 929. 1668. Unter der Linie fällt ein röthlicher Regen. — Im Lande Ci-
tain hat ein Maals Asche an die K. Soc. der Wiss. in London abgegeben. Man hielt es
für Asche des Vesuvs. Philosoph. Transact. I. p. 377. Tharsander. Happelius (1683).
Letzterer fügt hinzu: Sonsten berichtet auch ein Schiffer, dafs er ungefähr 6 Meilen von
den canarischen Inseln unter einen Aschenregen verfallen. — Passatstaub? Von 1631?
1647 ist am 42. März Abends 7 Uhr zu Buchau (Würtemberg) am Feder-See Feuer
wie kleine Regentropfen vom Himmel gefallen eine halbe Stunde lang, so dafs die auf
dem See schiffenden zu verbrennen glaubten. Francisci Luftkreys p. 748. — Electri-
scher Luftregen? Leuchten des zerseizten organischen Luftstaubes im Regen?
1652 im Mai sah Menzel bei Rom eine Sternschnuppe glänzend niederfallen und er
fand eine Gallerte. Wahrscheinlich Verwechslung eines Pilzes (Tremella meteorica) damit.
Phys. Kl. 1847. Aaa
370 EHRENBERG:
bola fallen Steine. — Dasselbe wird auch im „Luftkreys“ 1680 p. 712 mit
dem Zusatz wiederholt, dafs diese Regen höchst ungesund sind.
1669 fiel am 17. März zu Chatillon sur Seine ein stinkige rötbliche Flüs-
sigkeit, die wie Blut aussah. Richard Hist. nat. de l’air V. p. 502.
1676. Röthlicher dicker klebriger und stinkender Regen bei Fere in der
Picardie. Schweiggers Journal 6. 45. — Beides ist wohl ein und dasselbe
Meteor.
1676 fiel ein rother Regen in Mitwayda. Chladni p. 619.
1678 fiel bei Genua am St. Josephs Tage (19. März) auf die Berge Le
Longhe erst weifser, dann in grofser Menge rother Schnee oder Blutschnee,
von dem als er schmolz ein gleichfarbiges Wasser enstand. Nach einem
Briefe aus Genua an den Venetianischen Residenten Sarotti in London.
Philosoph. Transactions 1678 p. 976. Chladni p. 368.
1630. Ein wunderbarer Wolkensturm ist im arabischen Meere (rothen
Meere). Eine dicke schwarze Wolke mit feurigen Wölkchen wie ein glühend
lohender Kamin, verfinstert den Tag. Daraus fährt ein heftiger, kurze Zeit
dauernder Sturm, welcher viel rothen Sandes aufs Land und ins Meer wirft.
Ganze Caravanen sollen davon begraben worden sein. — Der Niederländer
Twist bezeuget solche Sandwolken in Gusurate (Guzerate, Indien). Fran-
eisci Luftkreys p. 1082. — Erinnert sehr an die Nachrichten des Korans
(570?) und erläutert dieselben.
1689. Rother Regen (polverosa pioggia) in Venedig und den benachbarten
Inseln, salzig sauer, verdirbt die Pflanzen und macht beim Genufs nicht wohl
gereinigter Gemüse Durchfall und Übelkeiten. Nach Vallisneri verlor
1665. Eine niederländische Retourflotte aus Ostindien (11 Schiffe) hatte am 8. Febr.
in 24° SB. einen starken Ost-Sturm bei ganz dunklem Wetter, am 27. Febr. bei Mauri-
tius starken Sturm mit dickem Nebel, am 1. März dunkelbraune Wolken im Südmeere
mit Donner, Blitz und Hagel wie Hasselnüsse. — Ob hierbei an Staubnebel zu denken,
ist zweifelhaft, zumal sonst aus dem Australmeere directe Nachrichten fehlen. Aus Wal-
ter Schulzens ostind. Reise 3. Bd. in Franciscus Luftkreys p. 1191.
1677. Am 1-7. Juni war ein blutfarbiges Wasser in Gräben bei Berlin, das aufwallte
und gohr. Collectiones academicae VI. 577. Hoff Veränderungen der Erdrinde IV. 326.
Bei Euglena sanguinea ist das Wasser oft schäumig an der Oberfläche.
1691. Am 40. Februar hatte man zu Frankfurt a. M. einen Blutregen, der aber durch
ausfliegende Bienen in der Galgengasse veranlalst zu sein schien. Lersners Chronik
von Frankfurt a. M. p. 526. — Bienenauswurf ist nur local bei den Stöcken.
Passatstaub und Blutregen. 374
sich nach einigen Tagen die rothe Farbe. Er hielt es für rothe Asche des
damals thätigen Vulkans (Vesuvio). Vallisneri Opere Physico mediche
T. H. p. 65. S. Chladni p. 369.
1692 schreibt Pater Gabriel Sepp aus Uruguay, dafs er am 6. Februar
(Hornung) bei Capoverde vorbeigefahren, welches wegen den Dämpfen so
von deren Pfitzen ewig aufsteigen in sehr ungesunder Luft stehe. Stoeck-
lein, Weltbott 1. ır. 42.
1711 war am 5. und 6. Mai rother Regen in Orsioe in Schonen. Acta
litteraria Sueciae 1731. p. 21.
1712 waren Blutstropfen auf Pflanzen in Delitzsch in Sachsen. J. C.
Westphal de pluvia sanguinea. Ephemerid. Nat. Cur. Cent. V. et VI.
p- 282. Es wird eine alchemistische Erklärung gegeben. Insecten-Auswurf
soll es nicht gewesen sein.
1716. Rothe Flecke mit übelriechenden Nebeln gab es im August und
September in der Ukräne und bei Lemberg. Der Bischof von Lemberg
ordnete deshalb Fasten und Beten an. Schnurrer Chronik d. S. II. 252.
1721 war man in ziemlicher Bestürzung wegen eines Feuer-Meteors, das
gesehen wurde und worauf am folgenden Tage Blutregen eintrat, so dafs
das Blut mit Händen aufgefangen werden konnte. Wo es hingefallen konnte
1719 war auf dem atlantischen Meere unter 45° NB., 322° 45’ L. P. ein Staubregen
mit kurzer Lichterscheinung, die man für ein Nordlicht hielt. Me&m. de l!’Acad. de Paris
1719 hist. p. 23. Feuillee hat ein Päckchen Staub der Academie übergeben. Chladni p. 370.
1720 schreibt Le Maire der Luft die gefährlichen Krankheiten zu, welche die Fremden
auf den canarischen Inseln befallen, Fieber, Cholera, Fulsgeschwüre mit tödtlichen Con-
vulsionen. Hist. gen. des Voyages IV. 274.
1729 war zu Trecenta in Italien Abends 6 Uhr ein grausames Gewitter mit Blitz und
Schlofsen. Es dauerte an 3 Minuten. In den Wiesen von Massa sah man dann einen
dicken finstern Nebel aus der Erde aufsteigen, welcher sich in ein fliegend Feuer ver-
wandelte und Alles in Brand steckte, wodurch grolser Schaden geschah. 'Tharsander,
Schauplatz — der Magia naturalis. Berlin 1753.
1731. Feuerregen wie glühende Metalltropfen am 3. Juni zu Lessay in der Normandie.
Chladni p. 241 hält es für electrisches Leuchten des Regens.
1737 fiel ein besonderer Aschenregen am 30. Dec. auf den Chilo& Inseln, der als grofse
feurige (rothe) Wolke (nube de fuego) Nachmittags im Norden über die Inseln des Archi-
pels zog und alles mit Asche bedeckte, so dals erst 1750 (nach 13 Jahren) wieder Pflan-
zen hervorkamen. Viaggero universal XV. 366. S. Schnurrer II. 285. — Scheint
nicht vulkanisch gewesen sein zu können, weil er noch glühend und heifs gefallen zu
sein scheint.
Aaa?
372 EHRENBERG
es nach einer Woche zum Theil noch gesehen werden. Die Nachricht hat
Chladni aus Familienpapieren in Stuttgart erhalten. p. 370. — Rother
Schlammregen, auch dem Fleischregen ähnlich.
1741 fiel nach sehr kaltem Winter in Nord-Amerika im Januar bei ganz
umzogenem Himmel und schnell nachlassender Kälte etwas Regen. Der
Himmel erschien mit einbrechender Nacht ganz in Feuer, so dafs man die
Gegenstände unterscheiden konnte und der nun fallende Regen hatte eine
blutrothe Farbe. S. Schnurrer II. p. 29.
1744 fiel rother Regen bis San Pietro d’Arena bei Genua. Man fand ihn
durch eine besondere Erde gefärbt, die man für von den nahen Bergen weg-
gewehthielt. Richard Histoire natur. de l’air. T. V. p. 447. Chladni p.371.
1748. Rother trockner Nebel bei Verdun. Die Erde bedeckt sich dabei
mit kleinen leuchtenden Punkten. Der Nebel, an sich selbst trocken, färbt
ausgesetzte Leinwand roth und wo er sich ansetzt erscheint er beim Reiben
als schwarzes Pulver. Ruhland inSchweiggers Journal 1812 6. Bd. p. 44.
1755 am 14. October war gegen 8 Uhr Morgens ein heifser ungewöhnlicher
Wind mit rothem Nebel, der alles röthete, zu Locarno im Tessin am Lago-
Maggiore. Um 4 Uhr war Blutregen mit röthlichem Bodensatz bis zu z-
Die Verbreitung des Regens war 40 Stunden im Quadrat bis Schwaben.
Dabei fiel 6 Fufs rother Schnee auf den Alpen. Der Regen dauerte 3 Tage.
In der Nacht war 6 Stunden lang entsetzliches Gewitter. Der Regen belief
sich in der Nacht auf 9 Zoll, in 3 Tagen auf 23 Zoll. Der See stieg um 15
Fufs. (Die gefallene Staubmasse läfst sich auf 100 Tausende von Oentnern
berechnen). Aus den Göttingischen gelehrten Anzeigen von 1756 6. Stück.
12. Januar p. 44. Chladni p. 44. Vergl. vorn p. 321.
1755 den 20. October zwischen 3 und 4 Uhr Nachmittags fiel auf einer
Shetlands Insel schwarzer Staub wie Lampenrufs, der alles schwärzte und
nach Schwefel roch (wie 472 und 1814). Hierauf folgte Regen. Der Wind
kam von Süd-West. Der Staub kann daher nicht vom Hecla gekommen
sein, welcher nordwestwärts liegt. Philosophical 'Transactions Vol. L.
P. 1. p. 298. Vergl. 1849.
Vom 23. zum 24. Oct. fiel in der Nacht bei stiller Witterung zwischen
Shetland und Island schwarzer Staub in Menge auf ein Schiff, so dafs das
Verdeck und das Tauwerk dicht damit überdeckt worden sind. Ebenda
Vol. XLIX. p. 510. Chladni F. M. p. 372. — Diese beiden Nachrichten
Passatstaub und Blutregen. 318
betreffen allerdings vielleichteinen und denselben vulkanischen Staub desHecla.
Man vergleiche den von 1844, wo aber die Thätigkeit des Hecla sicher war.
1755 am 29. October fiel bei Kirsa in Rufsland mit dicker Finsternifs und
einem Schalle in den Wolken, wie Trompeten, viel Blut vom Himmel. Aus
der Sammlung von Meinungen über Wunderregen, Ulm 1755, bei Chladni
p- 372.
1755 am 15. November war gegen Mittag rother Regen nach zweitägigen
Südstürmen (Scirocco) in Ulm bei stillem, warmen, feuchten Wetter. Die
einzelnen Tropfen waren farblos, in Gefäfsen oder Tümpeln war er roth,
nicht blutroth, sondern tief crocusfarben, wie reiner Neckar-Wein. Von
den Dächern lief er weniger roth. Er war geruchlos, bitterlich und rufsartig
im Geschmack. Verdunstet zeigte sich ein gleichfarbiger Rückstand. In
starker Kälte fror das Wasser nicht ganz. Lackmus und Veilchen-Syrup
zeigten keine Wirkung. Durch Schwefelsäure wurde der Bodensatz schwärz-
lich, das Wasser hell. Bleiessig färbte das Wasser bräunlich mit schwärz-
lichem Niederschlage. Dr. Rau glaubte, dieser Analyse halber, feinste
schwefliche Theilchen darin annehmen zu können. Nova Acta Nat. Curios.
II. 1761 p.85. Chladni p. 372.
Diese sämmtlichen Meteore von 1755 könnten sich leicht auf eine und
dieselbe weit ausgedehnte atmosphärische Bewegung beziehen und dann mag
leicht auch der schwarze Staub der Shetlands Inseln ein verrotteter ursprüng-
lich rother nicht vulkanischer Staub gewesen sein.
1763? ist am 9. October im Herzogthume Oleve bei Utrecht, auch am
19. Oct. bei Ribemont in der Picardie, 3 Stunden von Fere, ein rother Regen
gefallen. Richard Hist. nat. de lair V. 502. Chladni 373. Bei Gem-
maFrisius ist der rothe Regen zu Cleve und Utrecht 1764 gefallen.
1765 am 14. Nov. fiel rother Regen in der Picardie als Schlammregen,
welcher öfter dort vorgekommen, wie Richard l. c. bemerkt. Chladni.
17580? Eine dunkle Wolke zeigte sich nach mehreren dünstigen Tagen
am 19. Mai zwischen 10 und 114 Uhr in Nordamerika. Sie schien über Con-
1759. Zwei electrische Feuer-Regen beobachtete Beckmann im September.
1774 fielen in England am 13. oder 18. Juli, nachdem vorher am 12. oder 17. Juli eine
grolse Feuerkugel gesehen worden war, Regentropfen von eigenthümlichem Geruch. Die
von Sussex bis Melun beobachtete Feuerkugel wurde 500 Toisen im Durchmesser und in
18000 Fufs Höhe geschätzt. Schnurrer I. p. 359.
374 EHRENBERG:
necticut zu stehen und verbreitete solche Dunkelheit, dafs man Licht an-
zünden mufste. Um 12 Uhr wurde es etwas heller, aber alle Gegenstände
sahen während des Tages gelblich aus. S. Schnurrer II. p. 377. Hinderte
electrisches Verhältnifs einen Staubfall?
1785? Ein ähnliches Verhältnifs wie 1780 wiederholt sich in Canada am
9. October, wobei die tief dunkle Wolke 7 Tage lang, bis zum 16. October,
herumzieht und wiederkehrt. (Ihr feuriger Schein spricht für röthlichen
Dunst, wodurch diese Lichtreflexe sehr erhöht werden). S. Schnurrer
II. p. 388. — Bei solchen Verhältnissen können die organischen Theile durch
die gleichzeitige Feuchtigkeit und Wärme in der Luft schwebend zersetzt
werden und stinkend oder chemisch verändert, kohlschwarz verrottet (wie
das Meteorpapier von Rauden) niederfallen.
1799? war am 20. October bis 3. November und am 13. Noy. in Cumana
die Atmosphäre mit einem röthlichen trocknen Dunst erfüllt, welcher Herrn
v. Humboldts Erstaunen und ganze Aufmerksamkeit hervorrief. Es war
die Zeit des so merkwürdigen grofsen Sternschnuppenfalles (12. Nov.). Das
Saussuresche Hygrometer zeigte dabei zunehmende Trockenheit. Der
Himmel war am Tage vorher völlig schön und rein. Es erschienen dann
Schaafwolken in ungeheurer Höhe, ungeachtet es sonst dort 3-4 Monate
lang keine Spur von Wolken oder Dünsten giebt. Diese Schaafwolken wa-
ren wunderbar durchsichtig. Ganz dieselben Wolken sah Hr. v. Humboldt
auf den Gipfel der Anden hoch über sich. Relation historique I. C.IV.
p- 510. (Diese Nachricht ist in ihrer Verbindung mit dem Sternschnuppen-
1783 war ein auffallend starker über Europa nach allen Richtungen verbreiteter Nebel
oder Höhrauch, im Dessauischen am 3. Juni, um die Zeit eines sehr starken vulkanischen
Ausbruchs in Island. In Schweden war während dieser Zeit ununterbrochener Südwind
(Sciroeco). Maret in Dijon glaubte zu bemerken, dals er sich alle Morgen neu bilde.
Der Schein der Sonne war sehr gemindert. Am 10. Februar zog ein empyreumatisch
riechender Nebel über Nord-Amerika. Gegen Mitte Augusts schien er sich zu verlieren,
mehrere auffallende Feuermeteore wurden dabei bemerkt, und ihre Höhe auf 57-60 engl.
Meilen geschätzt. Auch sah man in England Nebensonnen. Schnurrer II. 380-382.
1791 am 17. Mai Morgens in Toskana ein Steinfall mit Höhrauch, der einige Tage lang
die Sonne einhüllte. Journal des Savans 1791 p. 275. Chladni p. 260.
1501 wurde am Ende des Jahres in Isle de France und Isle de Bourbon zugleich eine
Feuerkugel gesehen, die platzte. Bory de St. Vincent Reise, Voyage aux 4 Isles,
deutsch p. 594.
Passatstaub und Blutregen. 373
falle höchst auffallend und ihrer Sicherheit, Umsicht und vielfachen Anre-
gung halber von besonderem Gewicht. Da so oft Feuer- und Steinmeteore
rothen Staub in ihrer Begleitung hatten — herabdrückten? — so liegt es nahe
genug, den Schlufs auch hierauf anzuwenden.)
1802. Rother Hagel war bei Bogota in 2300 Toisen (= 13800 Fufs)
Höhe, während Hr. Alex. v. Humboldts und Bonplands Anwesenheit
und nicht fern von ihnen gefallen. Annales de Chemie XIV. p. 42. XXVI.
p- 120. Nur aus dem Jahre 1194? habe ich noch einen früheren Fall rothen
Hagels aus Macedonien aufgefunden.
1803. In der Nacht vom 5. zum 6. März gab es auf den Bergen von
Tolmezzo im Friaul rothen Schnee, während fast überall von Wien ab über
ganz Italien und Sicilien rother Regen und Schnee aus einer rothschwarzen
von Süd-Ost kommenden Wolke fiel. Dabei Blitz, Donner und Hagel bis
Sieilien. Chladni p. 376. Amoretti Opuse. scelti I. 22. Gilberts
Annalen 18. p. 332.
1808 fiel rother Schnee im Veltelin in Krayn u. s. w. nach dem Giornale
di Fisica 1818.
1808. Am 16. Mai sah man 2 Stunden lang um Bischofsberg bei Skenninge millionen-
weise zum Theil Hutkopf grolse aufsteigende Kugeln wie Seifenblasen. Der Sekretär
Wettermark sah einige der grölsten neben sich niederfallen. Sie glichen farbigen Sei-
fenblasen. An der Stelle wo sie fielen lag ein dünnes Häutchen wie Spinngewebe. Neue
Verhandl. d. Akad. d. Wiss. zu Stockholm Bd. XXIX. IV. Ähnliches wiederholte sich
1818 in Dänemark.
Eine von mir bei Ostende 1847 beobachtete Erscheinung vermag für solche Phä-
nomene den Schlüssel zu geben. Wo Nache Küsten sind bilden die auslaufenden Wellen
einen sehr zähen Schaum, wie Seifenschaum, aber mit oft sehr grolsen Blasen. Ganze
kleine Berge solchen Schaums bleiben lange stehen und ein lebhafter Wind reilst die
Blasen mehr oder weniger vereinzelt fort. Hinter einer Sanddüne stehend sah ich in der
Luft vom Meere her zahllose dunkle Kugeln kommen, die mir so räthselhaft auffielen, dafs
ich dem Meere näher ging. Einige Schritte schon lösten das Räthsel auf. Gegen die
Sonne hin erschienen diese Blasen dunkel. Stand ich abgewendet von der Sonne, so sah
ich sie glänzend weils. Sollten nicht auch die den astronomischen Beobachtern zuweilen
vorkommenden zahlreichen dunkeln runden Körperchen dergleichen zähe Schaumblasen
sein, die in geringer Entfernung vom Teleskop vorüberziehen? Fern vom Meere wird
diese Erscheinung immer sehr selten sein, nahe dabei kann sie häufig sein. Denselben
Schaum trocknet der Wind am Strande ganz aus ohne ihm seine Form zu nehmen. Er
enthält auch sehr viele mikroskop. Seethiere mit Sand und formlosem Schleim zusammen-
gekittet. S. Monatsbericht der Akademie 1847 p. 350. Note.
376 EHRENBERG:
Im März wurde die ganze Gegend von Cadore, Belluno und Veltri
in einer einzigen Nacht bis auf eine Höhe von 20 Centimetern (7 -8”) mit einem
rosenfarbenen Schnee bedeckt, sowohl vor- als nachher fiel weifser Schnee,
so dafs der rothe eine Schicht zwischen beiden bildete. Dieselbe Erscheinung
wurde zu gleicher Zeit auf den Gebirgen vom Veltelin, von Brescia, Krayn
und Tyrol wahrgenommen. Agardh, aus dem Giornale di Fisica 1818; in
Nova Acta Leopold. 1824 XII. p. 739. Nees v. Esenbeck hält in Rob.
Browns botanischen Schriften I. p. 610 dies Phaenomen für einerlei mit
dem von 1810.
1809. Im April rother Regen in der Ghiara d’Adda im Venetianischen
nach Luigi Bossi. Giornale di fisica e chimica T. I. Dee. 2 (1808) p.109.
Chladni p. 377.
1810 am 17. Januar fiel auf den Bergen bei Piacenza, besonders auf den
Centocroce, erst weifser Schnee, dann, nach Blitz und Donner, rother
Schnee, dann wieder weifser. Chladni 377. Die Nachricht war 1810
zuerst im Moniteur, dann in der Jenaischen Litteratur-Zeitung— Juni. Gui-
dotti hat ihn analysirt.
1810 im October scheiterte das nordamerikanische Schiff Charles an der
Nebelküste des Cap Blanco. Der Matrose Adams gerieth in Gefangenschaft,
kam nach Tumbuctu und seine Reiseabentheuer sind im Druck erschienen.
Robert Adams Narrative of Travels in the interior of Africa London 1816.
4. Es war am 11. Oct. so dicker Dunst, dafs man kein Land sehen konnte
und das Schiff, unter Capitain Horton, scheiterte $ Meilen vom Lande bei
el Gazie, 400 Meilen nördlich vom Senegal. Am völlig flachen Lande sah
man keinen Baum, noch irgend ein Kraut. Es gab keine Spur von Bergen
oder Hügeln noch irgend etwas aufser Sand, so weit das Auge reichte. Es
ist dabei von gewöhnlichem Sande, nicht von rothem Staube die Rede.
1810 am 23. November 3 Uhr Morgens strandete ein englisches Schiff an
der Nebelküste zwischen Cap Nun und Bojador. Der Matrose Alexander
Scot gerieth in 6jährige Gefangenschaft, entkam aber 1816 glücklich nach
Mogador. William Lawson und Stewart Trail zeichneten in Liverpool
seine Nachrichten auf, so entstand der Aufsatz im Edinburgh Philosophical
Journal 1821 mit Anmerkungen des bekannten Geographen Major Rennell
Account of the captivity of Alexander Scott among the wandering Arabs.
Passatstaub und Blutregen. 377
1810. Sir Henry Pottinger beschreibt eine überaus eigenthümliche
und merkwürdige Gegend in den Wüsten von Beludschistan, wo er am 31.
März 1810 ankam. Sie ist die einzige auf der ganzen bekannten Erde, welche
in einer massenhaften Verbindung mit dem Passatstaube, oder dem unter dem
Jahre 1837 zu erwähnenden Kaschgar-Staube Oentral-Asiens gedacht wer-
den kann. In der Richtung über Regan, zwischen Sarawan und Kharan
durchwanderte Pottinger 60 Meilen lang eine Wüste von rothem so feinen
Sande, dafs er in seinen Theilen nicht fühlbar war. Die Oberfläche war
ganz eigenthümlich durch Sandwellen von 10 bis 20 Fufs Höhe gefurcht, die
auf einer Seite senkrecht, auf der dem herrschenden Nordwestwinde zuge-
kehrten sanft ansteigend waren. Die schroffe Seite erschien wie ein Wall
von neuen Ziegelsteinen. Zwischen den Wellen konnte man in der Tiefe
gehen, wie auf einem engen Fufssteige. In der heifsen Mittagszeit erhob
sich der Staub scheinbar von selbst, ohne Wind, zu einem Nebel. Ein Tor-
nado, furchtbarer Wirbelwind, brachte am 3. April völlige Dunkelheit durch
Staubwolken und Regen mit unerhört grofsen Tropfen. Diese, Julo genann-
ten, Tarnodos erscheinen häufig im Mai bis September und sind für Lebendes
oft tödtlich. Auch bis 150 Fufs tiefe Brunnen gaben in jenen Gegenden
noch brakisches Wasser und die Oberfläche überall hat und erlaubt gar keine
Vegetation. — Andere Wüstenstriche desselben Landes zeigten harten schwar-
zen Kiesboden, keinen Sand, keinen Busch, keine Unebenheit.
So leicht man sich auch geneigt fühlen mag, den rothen Staub der
Atmosphäre aus einer solchen Gegend abzuleiten, so schwer bleibt die Erklä-
rung seiner organischen Mischung, welche in den dortigen lebensfeindlichen
wasserlosen Verhältnissen, wenn sie überhaupt existiren sollte, nicht ur-
sprünglich, nur durch ein ihrem eigenen Leben feindliches Verhältnifs be-
dingt und abgelagert sein kann. — Pottinger Travels in Beludshistan.
1813. In Calabrien und Abruzzo sah man am 13. und 14. März eine
rothe Wolke von Süd-Ost kommen, welche Alles verhüllte, wobei der Him-
mel die Farbe des rothglühenden Eisens annahm. Hierauf ward es so finster,
dafs man um 4 Uhr Nachmittags Licht anzünden mufste. Die Leute in der
4812 am 25. März wurde in Venzuela weilse Erde vulkanisch ausgeworfen. Alex v.
Humboldt. Reise V. 14. (II. p- 17.)
1512 fiel auf ein Packetboot, das nach Brasilien bestimmt war, Staub, 1000 Meilen vom
Lande. Edinburgh. Philos. Journal Vol. VII. p. 404. Ist nicht näher bezeichnet.
Phys. Kl. 1847. Bbb
378 EHrRENBERG:
Meinung das Ende der Welt sei da, eilten in die Kirche um zu beten. Es
fiel rother Regen und Staub nicht nur dort, sondern auch in anderen Ge-
genden Italiens, so wie auch in Toscana und in Friaul rother Schnee fiel.
An mehreren Orten hörte man dabei ein Brausen, wie von Meereswellen,
so dafs man in etlichen Meilen Entfernung vom Meere wirklich dessen Brau-
sen zu hören glaubte. In einigen Gegenden bemerkte man auch Blitz und
Donner (ohne Zweifel eine damit verwechselte Feuererscheinung mit donner-
artigem Getöse bemerkt Chladni) und in der Gegend von Cutro in Cala-
brien zwischen Geraze und Cantazaro fielen Steine, deren einen man fand.
Sementini’s chemische Analyse ist bereits pag. 315 mitgetheilt. Er
nennt den Staub zimmtfarben, von erdigem, wenig merklichen Geschmack
und fettig anzufühlen. Es fanden sich darin kleine harte dem Pyroxen (Augit)
ähnliche Körner, die er absonderte. Durch Glühen wurde der rothe Staub
erst braun, dann schwarz, dann roth, nach den verschiedenen Oxydations-
graden des Eisens. Nach dem Glühen bemerkte er darin kleine gelbe glän-
zende glimmerartige Blättichen (wie im Meteorstaube bei Piacenza vom 17.
Januar 1810). — Sementini glaubt, dafs die ziegelartige Erde, welche
Horner auf der vulkanischen Insel Australiens Nukahiwa gefunden hat,
etwas Ähnliches und dafs der Staub etwas von Meteorsteinen ganz verschie-
denes sei. — Er meint der Staub sei vom Winde aus Afrika gebracht.
Nach Linussio fiel am 13. März 2-3 Finger dick röthlicher Schnee
Nachts zum 14ten auf den Bergen bei Tolmezzo in Friaul, der beim Schmel-
zen einen thonartigen Bodensatz gab.
Nach Fabroni fiel bei Arezzo in Toscana, als der Boden schon ganz
mit Schnee bedeckt war, eine neue Quantität rothen und rothgelben Schnees
von 9 Uhr Abends bis den folgenden Tag, am stärksten des Morgens um
3 Uhr. In der Nacht sah man Blitze (wohl Feuererscheinung? Chl.). Es
war starker Nordwind und in den Zwischenräumen hörte man immerfort ein
dumpfes gleichförmiges Getöse wie einen Meeressturm in der Ferne, (daher
meint Chladni sei das Brausen in Calabrien auch nicht vom Meere, sondern
vom Meteore gewesen). Einige wollen gelbrothe Wolken gesehen haben.
Bei dem stärksten (Schnee-) Fall hörte man 2-3 Donnerschläge (Explosio-
nen Chl.). Der Bodensatz des Schnees ist schon p. 315 beschrieben. Thon-
erde, Kalkerde, Eisen, Braunstein und Kieselerde und eine verkohlbare
geringe organische Substanz schienen nach Fabroni die Bestandtheile zu
Passatstaub und Blutregen. 379
sein. Das scheinbar Organische hält Chladni für Schwefel und Kohlenstoff
und das Ganze scheint ihm eine kleine chaotische lockere kometenartige
Himmelswolke oder Weltwolke gewesen zu sein, die als Meteor auf die Erde
niederfiel(!). Chladni F. M. 377-380.
1814. Am 3. und 4. Juli fiel schwarzer Staub bei Canada an der Mün-
dung des Lorenzflusses in der Bai der 7 Inseln bei der Insel Anticosti 49°
49' Breite, 65° 48’ Länge. Am 3. Juli Abends ward eine solche Finsternifs,
dafs man vom Verdeck des Schiffes die Masten und das Tauwerk kaum
sehen konnte. Um 9 Uhr fiel eine Art von Staub oder Asche und das dauerte
die ganze Nacht. Gegen Morgen ward die ganze Atmosphäre roth und feurig
auf eine wundervolle Art; der damals volle Mond war nicht sichtbar. Um
74 Uhr mufste man in der Cajüte Licht brennen; die Flamme desselben
erschien bläulich. Noch um 9 Uhr konnte man die Zeit einer Taschenuhr
kaum erkennen. Es war dabei völlige Windstille. Gegen Mittag erst nahm
die Atmosphäre ihre natürliche Eigenschaft an. Die Sonne war wieder sicht-
bar, aber roth und feurig, wie sie durch ein gefärbtes Glas erscheint und nach
und nach mehr gelb. Die See war mit Asche bedeckt und ein Becken mit
Wasser, das man in die Höhe gezogen hatte, war fast so schwarz wie Tinte,
wegen der grofsen Menge gefallener Asche. Diese war nicht sandig, sondern
leicht wie Holzasche, aber schwärzer. Der Geruch verursachte Kopfschmer-
zen. Den 4. Juli fiel die Asche in etwas geringerer Menge; um 34 Uhr
Nachmittags konnte man kaum die Stunde einer Uhr erkennen. Die Asche,
wovon etwas mit nach England genommen worden, hat keine Ähnlichkeit
mit der vulkanischen von St. Vincent. Die auf der Oberfläche der See ge-
sammelte Asche sieht getrocknet wie Schuhschwärze aus. Aus Tillochs
philos. Magazin Vol. 44. p. 91. Juli 1814 und Juli 1816 p. 73. in Chladni
F.M.p. 380. Chladni meint, dafs die Erscheinung der von 473 ähnlich sei.
1814. Vom 27. zum 28. October in der Nacht fiel im Thale von Oneglia
bei Genua ein Regen von rother Erde. Sie hatte eine Farbe wie Ziegelmehl,
war weich, fein, behielt das Wasser lange in sich und schien thonartig zu
sein. Es waren auch weilse und schwarze Körnchen darunter, erstere waren
schimmernd und brausten mit Salpetersäure. Lavagna, welcher im Gior-
nale di fisica e chimica Dec. 2. T. 1. p- 32 davon Nachricht giebt, sagt, dafs
es nicht von Insecten herrühren könne, er ist aber nicht abgeneigt es durch
einen Wirbelwind aus Afrika herüberführen zu lassen, (welches zwar eine
Bbb2
380 EHRENBERG:
der leichtesten aber auch eine der unnatürlichsten Erklärungsarten ist. Chl.)
Er bemerkt auch, dafs vor ungefähr 60 Jahren (1754) sich etwas Ähnliches
ereignet habe. Chladni p. 381. — Es ist wohl 1744 gemeint.
1815. Im August scheiterte die amerikanische Brig Commerce an der
neblichen Westküste von Afrika. Der Supercargo James Riley kam in
Gefangenschaft und ward später losgekauft. Er beschrieb in Mogador seine
Reise nach Tumbuktu. Lofs of the american Brig Commerce wrecket on
the Western Coast of Africa in the Month of August 1815.
1816 fiel am 15. April auf dem Berge Tonale und noch an anderen Orten
im nördlichen Italien aus rothen Wolken ziegelrother Schnee. Der Boden-
satz gab ein erdiges Pulver sehr leicht und fein, etwas fettig anzufühlen, von
dunkelgrauer Farbe (wahrscheinlich nach längerem Stehen), thonigem Ge-
ruch und etwas salzigem zusammenziehenden Geschmack. Es ward nicht
vom Magnet angezogen. In 26 Gran fanden sich:
Kieselerde 8, Eisen 5, Alaunerde 3, Kalkerde 1, Kohlensäure +4,
Schwefel +, brenzliches Oel 2, Kohlenstoff 2, Wasser 2, Verlust 24.
Es wird aus Afrika abgeleitet. Aus dem Giornale di fisica e chimica Dee. 2.
t. 1. sesto bimestre 1818 p. 473 in Chladni F.M. p. 382.
1816 sah Capit. Tuckey nachdem er am 2. April Madeira passirt hatte
(30° N.B.) die Atmosphäre bei NNO und NO Passat mehr trübe, Nachts
aber schien kein Stern zu fehlen. Zwischen den Capverdischen Inseln und
Afrika im 22° N.B. 19° 9’ L. war das Meer sehr trübe, man fand aber 120
Faden Tiefe. Es war 32 Leagues von Cape Cowaira. Die Atmosphäre war
aufserordentlich trübe. Da dieses trübe Meerwasser dort constant zu sein
scheine und bei Capo blanco viele Schiffe scheitern, so räth er nicht auf der
Ostseite der Capverden zu fahren. Tuckey Narrative of an expedition to
the River Zaire (Congo) p. 10. 11. Fehlte die trübe Atmosphäre zur Nacht,
oder sah man die Sterne nur besser durch den Staub als durch Wasserdunst
gleicher Stärke? Mir ist das letztere wahrscheinlich. Vergl. 1802.
1814. Am 5. November war in Doab in Ostindien ein grolser Steinfall, bei welchem
von vielem Staube gleichzeitig die Rede ist. S. Chladni F. M. p. 381. 306.
1815 zu Ende September ist ein grofser Staubniederfall im südlichen indischen Meere
in 13° 15’ S. B. und 34° 0’ Länge vorkommen. Nach 2 Tage Fahrt sah man die See
noch bedeckt in 10° 9’ S.B. Er wurde für ausgebrannte vulkanische Asche gehalten.
Chladni F. M. p. 382.
Passatstaub und Blutregen. 381
1817 fand der französische Admiral Baron Roussin grofse Schwierigkeit
bei Aufnahme der Küste von N.W. Afrika durch den dicken Nebel oder
Staub, der fast das ganze Jahr hindurch, wie er sagt, an diesen Küsten
herrscht. Er sei durch den Sand hervorgebracht, welchen die Winde aus
den Wüsten herbeiführen. Wenn der Wind parallel mit der Küste wehe,
sei die Trübung nur schmal, wenn aber der Harmattan eintrete, im Januar,
Februar, März und oft auch im April, dann komme der Sand direct aus der
Wüste, gehe sehr hoch, bilde Wirbelstürme und eine nebliche dicke Atmo-
sphäre. Man kann dann nicht eine Meile weit sehen, keinen Stern beob-
achten bis 30° über dem Horizont. (Wenn der Landwind den Staub erregt
warum ist die Atmosphäre denn doch trübe, wenn der Wind der Küste pa-
rallel weht? Sonderbar, dafs die Seefahrer daran keinen Anstofs genommen
und nicht andere Erklärungen versucht haben!) Nautical Magazin 1838
p- 825. — Bei solchem Staube dennoch Sterne!
Auch die rothe Farbe des fallenden Staubes und die weifse Farbe des
Wüstensandes ist offenbar als widersprechend den Seefahrern bekannt und
wohl deshalb ist zuweilen, wie 1838 im Nautical Magazin, die vulkanische
Natur des Staubes vermuthet und vorgezogen werden.
1819 fand im April am Euphrat nach unerhörtem Regen und Hitze in einer
Nacht eine Erhebung des Wasserstandes um 74 Fufs statt und der Flufs hatte
1818. Am 17. Juli sah man in Nord-Amerika eine grolse Feuerkugel und zwischen
Swendborg und Odensee auf Fühnen sah man Abends gegen 7 Uhr, gleich einem Regen,
eine unzählige Menge grolser und kleiner Kugeln, wie Seifenblasen, aus der Luft fallen,
die, so wie sie durch dıe Sonnenstrahlen fuhren, alle Farben des Regenbogens annahmen.
Beim Auffangen lösten sie sich in einen Dampf auf und liefsen gelbe Flecken und einen
schweflichen Geruch zurück. Man hat es ebenda schon früher auch bemerkt. — Schnur-
rer Chronik der Seuchen II. p. 549. Vergl. 1808.
1818. Der von Chladni unter diesem Jahre erwähnte rothe Schnee-Staub der Alpe
Aceindaz bei Bex, welchen Thomas und Charpentier gesammelt, (sammt dem rothen Schnee
der Baffıns Bay) gehört, meinen directen Untersuchungen nach, zu Sphaerella nivalis, nicht
zum Meteorstaube.
1819 hatte der zu Blankenburg, Dixmünde und Schwenningen in Flandern Nachmittags
25 Uhr fallende Regen eine zeitlang eine ganz dunkelrothe Farbe, so dals am folgenden
Tage noch das Wasser in den Cisternen schwach rosenroth gefärbt sich zeigte. Bei der
Analyse fand sich diese Färbung angeblich von kohlensaurem Kobaltoxyd entstanden und
solches Regenwasser konnte wirklich als sympathetische Tinte gebraucht werden, da auch
in den Cisternen die Kanne noch 14 Gran metallischen Kobalt enthielt.
3823 EHrRENBERG:
eine so eigenthümliche rothe Farbe, dafs das Volk im höchsten Grade er-
schreckt und das Ende der Welt befürchtete. Schnurrer Chronik der Seu-
chen I. p.22. Ebenda II. p. 563 wird anstatt des Euphrats der Tigris ge-
nannt. — Es ist wohl ohne Zweifel ein Staubmeteor dabei betheiligt gewesen.
1821 bemerkte am 29. März der Cadet James Alexander einen röth-
lichen Staub der Segel in grofser Menge in 11° 3’ N.B. 22°5’ W.L. bei
300 Seemeilen Entfernung von Afrika. Edinb. Philos. Journal VII. 1822.
p- 404. Darwin 1845. p. 50.
1821 am 3. Mai war rother Regen in Giefsen bei Windstille, Morgens
gegen 9 Uhr. In dem rothbraunen flockigen Bodensatze fand Prof. Zim-
mermann: Kieselerde, Eisenoxyd, Chromsäure, Kalkerde, Kohlenstoff,
flüchtige Theile, Talkerde. Zimmermann in Karstens Archiv I. 3. p. 267.
In sehr vielen Regen-Analysen fand Prof. Z. Eisen, Mangan, Kalk, Talk,
Salzsäure, organische Stoffe, Pyrrhin (Ammonium), Nickel. — Diese Ana-
Iysen sind interessant wegen des nun neuerlich entdeckten überaus häufigen
Gehaltes aller atmosph. Luft an mikroskopischen Thieren. 1848.
1822 waren am 22. Januar in 23° N.B. 21° 20’ W.L. 276 Meilen von
Afrika alle Segel eines Schiffes mit röthlichem Staube bedeckt, der in Kü-
gelchen reihenweis am Segelwerk hing. Annales de Chimie Vol. 30. p. 430.
Vergl. 1830.
1522 hatte das Schiff Kingston, von Bristol nach Jamaica bestimmt, als es
bei Fogo (Capverden) vorüberfuhr, die Segel mit einem braunen Staube
4819. Ein mehr schwarz gefärbter Regen fiel am 9. November bei Montreal in Canada
während einer nachtgleichen Verdunkelung der Atmosphäre und schien Ruls zu enthalten.
Diesen wollte man von einigen grofsen Waldbränden südlich von Ohio ableiten. Schnur-
rer I. c. p. 576. Scheint wohl zu den in der Luft verrotteten Passatstaub-Meteoren
zu gehören. Vergl. 1814.
1819 am 16. Nov. fiel bei Broughton in Nord-Amerika eine grolse Menge schwarzen
Pulvers auf den Schnee, mit welchem die Erde bedeckt war. Ebenda. — Gehört vielleicht
zu Einem Meteor mit Vorigem.
1822. Carl Ritter in seiner klassischen aus der reichsten Litteratur entnommenen
Übersicht von Afrika sagt: Die Küste von 32° bis 20° N.B. (schon bei Mogador fängt
sie an) also eine Strecke von wenigstens 150 geog. Meilen südwärts bis Capo blanco
ist hier zugleich Wüstenrand mit aulserordentlich grolsen Dünen (immense hills) losen Flug-
sandes bedeckt, die aus dem inneren Lande in verschiedenen Formen von den Winden
viele Meilen weit seewärts getrieben werden und das Meer wie die Atmosphäre mit
Sandtheilen erfüllen.
Passatstaub und Blutregen. 383
bedeckt, der dem auf dem Roxburgh 1839 beobachteten ähnlich war, und
nach Schwefel geschmeckt haben soll. Berghaus Almanach 1841 p. 179. —
Ein Schwefelgeruch wäre zwar ein wichtiger Charakter, aber ein Schwefel-
geschmack ist es nicht. Auch ist nicht bekannt, dafs der Vulkan von Fuego
damals in Thätigkeit war. Offenbar war es Passatstaub.
Der Meeresgrund ist hier Sandbank, die weit in den Ocean hineinreicht. Vom
trocknen Strande geht der Araber halbe Stunden weit in das Meer hinein nach gestran-
deten Schiffsgütern, ohne dals ihm das Meer über das Knie reicht. Diese Sandbank
erstreckt sich in 1-2 Stunden Breite oceanwärts, der Küste entlang fast im Niveau des
Meeres (von Wadi Nun oder dem Küstenflusse am Cap Nun bis Cap Bojador).
Dies ist die furchtbare Seeküste, auf welcher jährlich durch die kreisende Strömung
des atlantischen Oceans und durch den Wogenschlag gegen die Küste getriebene Schiffe
scheitern, denen selbst die mit Sandtheilchen erfüllte Luft, die weit hinaus in den Ocean
wie ein weilser Nebel (hazy weather) reicht, die Annäherung der Gefahr zu stranden
verbirgt.
p- 1015. Die beiden hohen Sanddünen (Mammelles) am Capo Verde sind 600 Fuls
hoch, Landmarken der Schiffer. (Durand Voyage au Senegal I. p. 61.)
Das Areal der Wüste im Ganzen beträgt 27000 geogr. OMeilen, mit Abzug der
Oasen 50000 IMeilen.
p- 1023. Man bedenke, dafs jährlich während des Aequinoctiums die furchtbarsten
Sandstürme wüthen und dals alle vorherrschenden Winde in diesem tropischen Flachlande
von Ost nach West als Land-Passat ziehen, oder wie Rennell will als Nordost-Monsoon
während der trockenen Jahreszeit, in Gegensatz als Südost-Monsoons während der weit
kürzeren Regenzeit (August bis November).
Das Fortrücken der Sahara gegen den westlichen atlantischen Ocean und das fort
und fort westlich vorschreitende Wachsthum Afrikas wird p. 1016 erörtert. —
(Für einen Land-Passat in Afrika sprechende direete sichere Beobachtungen fehlen
meines Wissens und auch eine den Monsoons vergleichbare Dauer und Regelmälsigkeit
ist nicht von Reisenden nachgewiesen. Meine eigenen Erfahrungen habe ich 1827 Abh.
d. Akad. p. 86 in der Art mitgetheilt, dals sich aus den oft 100 Fuls hohen südlichen
Sand-Anhängen der Felsen und Berge von Libyen bis Nubien fort, eine Regelmälsigkeit
des vorherrschenden Nordwindes mit Nothwendigkeit abnehmen lasse, welche dem Ost-
und West-Land-Passat oder einem Monsoon völlig entgegen ist. Der unregelmäfsige
Chamsin oder 50 Tage dauernde Südwind hat auf die Sand-Anhänge der Berge nur vor-
übergehenden geringen, nie einen dieselben abändernden Einfluls und kann nimmermehr
Passat oder Monsoon genannt werden. — Die Dünen sind weils, der Luftstaub ist roth.)
1822 am 16. April sah der damalige englische General-Consul Salt in Ober- Ägypten
einen Wasserstrom, der Lehmhügel mit sich zum Nil führte und diesen färbte. Aus
einem Briefe des Dr. Ricci an den General v. Minutoli in der Augsburger Allgem.
Zeitung No. 144. 3. September 1822. Schnurrer Chronik d. S. I. p. 22. Ob vorher
ein staubführender Regen-Orkan gewesen ist unbekannt. Wasserströme in Ober-Ägypten
sind ohne Orkan nicht leicht annehmbar. Die Lehmfärbung mag meteorisch gewesen sein.
384 EHRENBERG:
1825 am 19. Januar war das Schiff Olyde zwischen dem Gambia und Cap
Verd bei 200 Lieues Entfernung vom Lande mit feinem braunen Sand be-
deckt. Der Wind hatte zwischen NO. und O. stark geweht. Annales de
Chimie Vol. 30. p. 430. Auch der von mir analysirte Staub von 1803 wird
Sand (Sable) genannt.
1826. Herr Horsburg meldet, dafs die staubige Atmosphäre bei den
Capverdischen Inseln landwärts eine bei NO.-Wind stets vorhandene
und fortdauernde Erscheinung sei, in einem Werke (Directory for
sailing to and from the East Indies), welches der ganzen englischen Marine
als Vorschrift dienen soll. Er hält übrigens den Staub für afrikanisch (Dust
or dry vapour driven to seaward by the NE. winds from the hot sandy desert
p:44.) Vergl.u1817%
1830 fiel am 15. Mai rother Staub mit Scirocco auf das Schiff Revenge
bei Malta. Der Proviantmeister (Purser) Herr Didham sammelte davon.
Die Atmosphäre war orangegelb und dick. Ein Platzregen brachte den
Staub mit sich. Der Wind war OSO. Monatsber. d. Akad. 1845. p. 378.
Dieser Fall ist von mir mikroskopisch analysirt. Vergl. 1847. Monatsber.
p- 304 Tabelle und hier p. 275.
1830 am 27. October fiel ein rother Staub auf das Preufs. Seehandlungs-
Schiff Prinzefs Luise auf der Reise weit westlich von Afrika und den Oap-
verden in 11° 11’ N.B. 24° 24’ W.L. Dieser rothe Meteorstaub ist vom
Dr. Meyen, welcher sich als Arzt und Naturforscher auf dem Schiffe be-
fand, ausführlich beschrieben worden. Er sagt: „Am Morgen fanden wir,
daf swährend der Nacht das ganze Tauwerk, so wie einzelne Segel, besonders
nach der Windseite zu, bräunlich roth gefärbt waren. Wir sahen sehr bald,
dafs diese Färbung durch ein sehr feines Pulver hervorgebracht wurde, das
4825. Die von mir 1825 beobachtete Färbung des rothen Meeres ist p. 327 erläutert.
1825 behauptete der Prior Biselx im St. Bernhardt-Kloster, dafs noch Niemand habe
Schnee roth herabfallen gesehen. Nees v. Esenbeck in Rob. Brow.ns bot. Schrift T. p. 600.
4826. Ist in Alex. v. Humboldts Ansichten der Natur eine sehr merkwürdige
Stelle über vorherrschenden, durch die aufsteigende warme Luft der Sahara bedingten,
Westwind bei West-Afrika I. p. 83. (— Der Staub fällt nicht mit diesem Westwinde, son-
dern mit Ost- und Nordost-Passat.)
1829 hat Fee in den Anmerkungen zur französischen Ausgabe des Plinius den
Blutregen durch Insectenauswurf, Blüthenstaub und metallische Theilchen, den rothen
Schnee durch Vredo erläutert. (Sphaerella nivalıis).
ce Da
Passatstaub und Bluiregen. 335
wir (Dr. Meyen) mit aller Genauigkeit mikroskopisch untersuchten. Es
bestand aus sehr kleinen unvollkommen runden Bläschen, die aus einer
ungemein zarten und weichen Substanz gebildet waren, in ihrem Innern
nichts von besondrer Structur zeigten, sondern wasserhell waren. Sobald
die Sonne aus dem Nebel hervortrat, verschwand auch die rothe Färbung
der Segel und des Tauwerks und von dem merkwürdigen Luftgebilde war
nichts mehr zu finden. Wir nennen diese Pflanze (sagt Dr. Meyen) Aöro-
phytum tropieum es ist vielleicht die niedrigste aller Algenbildungen.“ —
„Auffallend ist es, dafs diese rothbraune Färbung des Tauwerks und der
Segel noch nirgends beschrieben worden ist (allerdings ist sie öfter beschrie-
ben), da sie, wie es scheint, nicht selten ist, denn Capitain Wendt ver-
sicherte schon auf seinen früheren Weltumsegelungen diese Erscheinung
beobachtet zu haben (also in den Jahren 1820-1830). Aus der Luft war
unser Aörophytum nicht gefallen, denn auf dem Verdeck war keine Spur
davon zu finden.“ — Am 28. October: „Den ganzen Tag über weht noch
immer der Ost-Passat und wir geniefsen des schönsten Wetters bei ziemlich
klarem Himmel.“
Die grofse Bestimmtheit dieser Meldung einer genauen Untersuchung
und die darauf zu basirenden und schon basirten Folgerungen auch der wis-
senschaftlich so wichtigen Generatio spontanea u. s. w. nöthigen auch hier,
wie so oft anderwärts, zu erinnern, dafs die Genauigkeit dieses Beobachters
als zweifelhaft zu bezeichnen ist.
Die Sache ist offenbar weder neu, wie der Beobachter ausspricht,
(s. 1822), noch ist sie genau von ihm beobachtet worden. Auch die Witte-
rungstafeln p. 156, verglichen mit dem Tagebuche der Reise p. 54 und 55
ergeben eine störende Ungleichheit. Den am Tage nach dem Staubfalle
wehenden Wind nennt er p. 55 den noch immer wehenden Öst-Passat, in
den Tabellen heifst er am 28: OÖ. zu N. Das Wetter am 27. Oct. wird in
den Tabellen sehr schönes Wetter genannt und die Nebel am Morgen „aus
denen die Sonne hervortrat“ übergeht er in den Tafeln sammt dem Staubfall,
den er p. 94 doch ein Pulver nennt, ganz, obschon er sonst trübe Luft notirt.
Ich würde diese Bemerkung unterdrückt haben, wenn nicht bereits ein treff-
licher Beobachter und Schriftsteller 1845 das Besondere dieser Beobach-
tung festgehalten hätte und somit durch dieselbe zu einem anderen Urtheile
verleitet worden wäre. Dazu hat noch besonders die Jahreszeit (October)
Phys. Kl. 1847. Oce
386 EHurEnBBEre:
mitgewirkt, allein die ganz ähnliche Beobachtung im Januar 1822 zeigt deut-
lich, dafs der Beobachter von 1830, so unglaublich es auch sei, doch den
gefärbten staubigen Thau als eine Pflanze beschrieben und benannt hat,
welche aber doch wohl manchen phantastischen Ideen über Entstehung orga-
nischer Körper wenig Vorschub leisten kann. Es scheint der alt homerische
Blutthau gewesen zu sein. Vgl. Monatsbr. 1845 p. 56. MeyensReise 1834.
1833 im Januar rother Staubfall in San Jago der Capverden als trockner
Nebel von Charles Darwin beobachtet und gesammelt. Die Atmosphäre
ist von solchem Staube dort gewöhnlich trübe, klare Luft seiten. Die erste
Nachricht über diesen Fall findet sich in Darwins Reisewerk Journal of
researches into the Geology and natural history 1840. Sie ist daselbst ge-
legentlich im Jahre 1932 aufgeführt, gehört aber der specielleren Mitthei-
lung zufolge, welche Herr Darwin in dem Quarterly Journal der Geologi-
schen Gesellschaft (Proceedings) vom Juni gegeben, zum 16. Januar 1833,
von welchem Tage an das Schiff Beagle 3 Wochen lang, bis zum 8. Febr.,
sich dort aufhielt. Es war NO. Wind, wie stets in dieser ganzen Jahreszeit,
die Atmosphäre war oft sehr trübe, so dafs von dem Staube die Instrumente
verdarben. Der am Bord des Beagle gesammelte Staub war übrigens fein
und röthlich braun, brauste nicht mit Säuren und gab vor dem Löthrohre
eine schwarze oder graue Perle. Dieser Staub ist mit der Bezeichnung San
Jago V von mir analysirt in dem Monatsber. 1845 p. 304. — hier p. 273.
Die direct beobachtete 3 wöchentliche Dauer der trüben Atmosphäre
und des Staubfalls vom rothen Staube ist hier besonders beachtenswerth,
da allgemeine Bezeichnungen langer Dauer keinen solchen wissenschaftlichen
Werth haben.
1833 im Februar rother Staubfall in San Jago. S. das Vorige.
1534. Tito Omboni, Gouvernements-Arzt in Angola, welcher 1834
auf der portugiesischen Fregatte il Prineipe Reale war, die den neuen Gou-
verneur nach Angola brachte, sah am Sten Tage nachdem das Schiff St.
Helena passirt hatte, im Laufe gegen Guinea hin das Meerwasser trübe und
erdig ehe noch das Land sichtbar wurde p. 30. Im November 1834 fuhr
T. Omboni von Villa da Praja auf San Jago nach Isola da Fogo (p. 30).
1833 im November grolser Meteorsteinfall in Cantahar in Indien bei dichtem 3 Tage
dauernden Nebel. L’Institut 1834 p. 365.
Passatstaub und Blutregen. 387
„Diese und die übrigen Inseln waren in dicken Nebel eingehüllt, ohne dafs
man Feuchtigkeit bemerkte. Unterm September schreibt er von der (afric.)
Insel St. Thomas „die Atmosphäre ist selten klar auf dieser Insel und zuweilen
ist die Insel so von Nebel eingehüllt, dafs man sie gar nicht sieht“ (p. 238).
Schon 80 Jahre vor der Entdeckung der Insel (1554) habe ein portugiesischer
Pilot aus Conde, die oft mit Blitz und Donner, den man 40-50 Meilen weit
hört, begleiteten immerwährenden Nebel, die er von der Sierra Leona ab-
leitet, angezeigt (p. 258). Das vorherrschende Erdreich in St. Thomas sei
Thon (l’Argilla) (p. 250). Er sah dann wieder (am 30. November) die Cap-
verdischen Inseln von fern in Nebel gehüllt. T. Omboni Viaggi nell’ Africa
occidentale. 1847.
1834 wurde am 10. März bei SO. Wind im atlantischen Meere ein rother
Staubfall auf dem englischen Schiffe Spey beobachtet. Der Lieut. James
sammelte 150 Fufs über dem Verdeck auf den Raaen davon und liefs es auf
Löschpapier trocknen. Eine von Herrn Darwin an mich gesandte Probe
ist analysirt in den Monatsberichten 1848 p. 64. 85 mit der Bezeichnung IV.
1834. Vergl. 1847 p. 304 Tabelle. — S. vorn p. 273.
1834 wurde am 15. Mai in der Palmas-Bay bei Sardinien von Herrn
Didham (Purser des Schiffes Revenge) ein Scirocco-Staub beobachtet aber
nicht gesammelt, welcher der Erscheinung von 1830 bei Malta ganz gleich
war. Monatsber. d. Akad. 1845 p. 378.
1836 im April sah Herr Burnett bei West-Afrika zwischen 4° und 8°
N.B. eine sehr trübe Atmosphäre und einen sich ablagernden rothen Staub
nach Nautical Magazin 1837 p. 291. (Darwin Quarterly Journal Procee-
dings of Geol. soc. 1845 p. 30.)
1837 im Februar beobachtete Herr Burnett 4 Tage lang rothen Staub-
fall in 4°20’N. B. 23° 20’ W.L. bis 8° N.B. 27°20’ W.L. mit Erstreckung
auf 300 Meilen bei NO. Passat (the regular NE. Trades). Erst war SE.
Wind, der durch ESE. inNE. überging. Der Staub fiel, als der Wind
NE. (N.Ost) wurde. Segelwerk und Masten wurden mit dem rothen Staube
bedeckt, der wie Ziegelmehl war (dust resembling that from red bricks),
ähnlich dem Strafsen-Staube von Calcutta. (Es ist wohl Madras gemeint?).
Die neuen Segel hatten mehr als die alten (weil sie rauher waren). Die At-
mosphäre war sehr trübe. Das nächste Land, West-Afrika, war 600 Meilen
entfernt. Nautical Magazin 1837 p. 291. (Darwin. c. p. 30).
Cce2
338 EHrEnNnBERG:
1837. Sylvestre de Sacy hat in der Übersetzung von Abdellatifs
Beschreibung Aegyptens (p. 3) zwei Sprüchwörter der Araber zugänglich
gemacht, welche hierher zu gehören scheinen. Abdellatif, der gelehrte
arabische Lehrer und Schriftsteller, starb 1231 zu Bagdad. Er schreibt:
„Die Araber sagen: je stärker die Winde, desto fruchtbarer die
Saat. Der Grund davon ist, weil die Winde eine fremde fruchtbare Erde
(terre vegetale) zuführen. Oder sie sagen auch: Viele Stürme, reiche
Erndte.”
1837. Herr Alexander Burnes, der Reisende in Cabul, sagt in seiner
Beschreibung, p. 223, das Clima in Cashgar sei sehr trocken, selten Regen
der Boden salzig und die Leute behaupten, dafs die gute Erndte von rothen
Staubwolken abhängig sei, welche in diesem "Theil Asiens beständig fallen.
Die fremde Erde dämpfe das Salz des Bodens. „Die rothen Staubwolken
in Turkistan, fügt Burnes hinzu, sind fürchterlich, aber ich habe nicht ge-
hört, dafs sie solche Ausdehnung haben, wie in jener Nachricht behauptet
wird und das Factum verlangt Bestätigung.“ Sir A. Burnes Travels in
Cabool 1836-38. Its productions, it is said, depends upon the clouds ofred
dust, which always fell, or are blown in this part of Asia. — The clouds of
dust in Turkistan are tremendous, but — (!).
(‘) In Herrn Ritters Asien Band V. p. 380 und 430 ist jene Gegend aus ver-
schiedenen Quellen wissenschaftlich geschildert. Es heilst da: „sehr verrufen ist das Land
der Wüste in Osten und Südosten von Pidschan. Dort sagt man sei der Tummelplatz
gewaltiger Stürme. — Jeder der Winde, der sich dort erhebt, kommt aus Nordwest
(also vom hohen Bogdo Oola?). Erst giebt es ein Getöse, wie ein Erdbeben, plötzlich
hört dies auf und der Wind kommt an. Er reilst die Dächer von den Häusern, wirbelt
grolse Steine in der Luft herum. — Im Frühling und Sommer weht er sehr häufig, im
Herbst und Winter äulserst selten. — So oft man bei Anbruch der Morgenröthe, sagt
der chinesische Beobachter (Chines. Reichsgeographie nach Neumanns Manuscript), die
nördlichen und südlichen Berge ganz hell und ohne Staub (Nebel) sieht, giebt es an die-
sem Tage keinen Wind, wenn aber ein schwärzlicher (nicht rother?) Nebel sich weit
verbreitet, so dals man beide Berge nicht sehen kann, so giebt es an diesem Tage ohne
Zweifel einen solchen Orkan und man darf sich nicht auf die Reise wagen. Auf der das
Siyn-wen-kian-lo begleitenden Landcharte ist diese Stelle durch das Zeichen „‚Fung‘“ d.
i. Wind angedeutet. — Schon 1254 erfuhr der Mönch Rubruquis die dortigen Stürme.
— Die Gegend um Scha-ma am Lop-nor ist berüchtigt wegen der Stürme. Man spricht
dort oft vom Schabernack der Bergkobolde, die den Menschen berücken.
Möge die hier gegebene Zusammenstellung Reisende der nächsten Zeit anregen,
Passatstaub und Blutregen. 389
1838 am 7. 8. und 9. März beobachtete und sammelte Lieut. James auf
dem Packetschiffe Spey wieder rothen Staub in 21° 40’ bis 17° 43’ NB.
und 22° 14’ bis 25° 54’WL. in 380, 356 und 380 Meilen Entfernung von
Afrika. Der Wind kam am 7ten von Afrika und war ein mäfsiger frischer
SO. Die Erscheinung war wie ein dicker trockner Nebel (like a dense fog).
Mit einem Schwamm wurde der Staub vom oberen Schiffsdeck aufgenom-
men und in reinem Süfswasser ausgedrückt, dann durch Löschpapier filtrirt.
— Am Sten war das Schiff in 19° 57’ Lat. und 24° 5’ Long. Der Staub
wurde mit dem Schwamm von dem Bramsegel und den Bram-Raaen, in 140
Fufs Höhe vom Deck, in rein Süfswasser aufgenommen, durch Löschpapier
filtrirt und in der Sonne getrocknet. Es war 356 Meilen von Afrika. Der
Wind war ein günstiger SO. Wind. — Am 9ten war das Schiff in 17° 43'
NB. und 25° 54’WL. Der Staub kam von Afrika mit mäfsigem frischen
SO. Wind. Entfernung von der Küste 380 Meilen. Er wurde ebenfalls
mit dem Schwamme vom obersten Bramsegel eingesammelt. — Diese 3 Pro-
ben sind durch die Herren Lyellund Charles Darwin an mich gelangt
und 1845 von mir mikroskopisch analysirt worden mit den Bezeichnungen
IA. IB. IH. II. No.]1. ist vom 9. März, No. II. vom 7., No. III. vom 8.
S. d. Monatsbericht 1844 Mai, 1845 p. 64. 85. Die 1846 p. 205 ebenda
abgedruckte chemische Analyse des Herrn Gibbs bezieht sich auf IB. IA.
und IB. unterscheiden sich dadurch, dafs IA. eine kleine Probe war, die
Herr Darwin 1844 zur Prüfung auf vulkanische Charactere an mich sandte,
von demselben Päckchen, das er mir 1845 ganz übersandt hat. S. ob. p.273.
1838 äufsert der Herausgeber des Nautical Magazin p. 824, dafs der Sand-
Staub im Meere bei West-Afrika entweder von den feinen losen Sandtheil-
chen der grofsen Sahara in Afrika komme, oder von den thätigen Vulkanen
einer der Capverdischen Inseln stamme. In Rücksicht auf die rothe
Farbe sei das letztere wahrscheinlicher. Der nächste thätige Vulkan
sei der von Fuego oder der St. Philipps-Insel der Capverden. Die sehr
flache Küste von Afrika zwischen 20 und 32° NB. sei eine Wüste voll uner-
mefslicher lockerer Sandhügel, die vom Winde verändert werden, und in
die dortigen Erscheinungen mit möglichster Critik zu ordnen und zu verzeichnen, beson-
ders auch die Farbe und Proben der dort den Boden bildenden und der durch die Stürme
getragenen Staubarten zur genaueren Vergleichung zu bringen. Giebt es begleitende
Meteorsteinfälle?
390 EHureneBEßge:
die Luft getrieben Staubnebel bilden. Man könne 1 Meile weit in die See
gehen und komme nur bis ans Knie ins Wasser. Hierdurch und durch die
starke Strömung nahe der Küste scheitern Schiffe in grofser Entfernung vom
Lande. So habe der amerikanische Capitain Paddock in 29° NB. (bei
nebliger Luft) daselbst Schiffbruch gelitten.
1838 sah Capitain Hayward auf der Brig Garland vom 9-13 Febr. 5 Tage
lang rothen Staubfall von 10° bis 2°56’NB. und 29° bis 26° WL. bei 450
Meilen Entfernung am 9. und 880 Meilen am 13. Febr. von den Capverdi-
schen Inseln als nächstem Lande. Der Wind war am 9. ONOst, am 10.
NO. bei Ost und an den 3 folgenden Tagen NOst. Nautical Magazin 1839
p: 364. Ch. Darwin Proceedings Geol. soc. 1845 p. 29.
1839. Am 14. und 15. Januar fand das preufs. Seehandlungs-Schift
Prinzefs Luise zwischen 24° 20’ NB. 20° 4% WL. und 23° 55’ NB. 28° 18’
WL. gelben Staub in der Luft des atlantischen Meeres bei 165 deutschen
Meilen westlicher Entfernung vom Lande. Berghaus Almanach 1841.
1839 am 4. Febr. Mittags war das engl. Schiff Roxbourgh in 14° 31’ NB.
25° 16 WL. Der Himmel war überzogen, das Wetter mistig und unerträg-
lich schwül, obgleich das Thermometer nur auf 17° 8’R. stand. Um 3 Uhr
Nachmittags tratt plötzlich Windstille ein, dann erhob sich ein Luftzug aus
SW. mit Regen begleitet und die Luft schien mit Staub angefüllt zu sein,
der die Augen der Passagiere und der Mannschaft affieirte. Mittags den 5.
Febr. war der Roxbourgh in 12° 36’ NB. 24° 413’WL. Das Thermometer
stand 17° 8’R. Barometer 30 Zoll, eine Höhe in der die Quecksilbersäule
seit der Abreise von England beständig geblieben war. Die vulkanische
Insel Fogo des capverd. Archipels war ungefähr 45 nautische Meilen entfernt
(es sind wohl Leagues, 135 Meilen, gemeint). Das Wetter heiter und schön.
Die Segel aber waren mit einem unfühlbaren rötblichbraunen Staube be-
deckt, von dem Rever. Clarke bemerkt, er habe der Asche geglichen,
welche der Vesuv bei Eruptionen auswirft und er sei augenscheinlich kein
aus den afrikanischen Wüsten herübergewehter Sand gewesen. — Rever.
Clarke war Passagier und berichtete in der geologischen Gesellschaft zu
London. — Herr Berghaus Almanach 1841 p. 179 fügt hinzu: So bestimmt
sich Rev. Clarke gegen den Sandstaub ausspricht, so möchte der Bericht-
erstatter geneigt sein, diesen für das Phänomen in Anspruch zu nehmen,
denn wäre es vulkanische Asche gewesen, so müfste man doch von einer
Passatstaub und Blutregen. 391
gleichzeitigen Eruption des Feuerberges von Fogo gehört haben und das ist
nicht geschehen.
Herr Clarke erwähnt noch des braunen Sandes auf dem Schiffe
Kingston 1822 und anderer Fälle.
1540 im Mai fiel vier Tage lang (6.-9.) gelber Staub auf das preufs. Schiff
Prinzefs Luise zwischen 10° 29’ NB. 32° 19’ WL. und 16° 44’ NB. 36°
37’ WL. Der Abstand vom Lande war 250 bis 290 deutsche Meilen. Herr
Berghaus vergleicht es mit einem etwa sich ereignenden Staubfalle in Co-
penhagen oder Riga, der vom Aetna abzuleiten wäre. Diese berichtigte
Angabe ist aus Berghaus Almanach 1841 p. 177, wo der Auszug aus dem
Schiffsjournal wörtlich gegeben ist.
1839 am 27. November sah Cap. Rofs in 8° NB. in der Gegend der variablen Winde
die Venus am Tage im Zenith beim herrlichsten Sonnenschein. Dabei bemerkte man, dafs
die höheren Wolken sich dem unteren Winde entgegengesetzt bewegten. (Es waren also
wohl die dort vermuthlich constanten oberen Staubnebel in scheinbare obere Dunstwol-
ken (Schaafwolken) vertheilt.)
Capt. Basil Hall sah dasselbe auf der Spitze des Pic von Teneriffa und Graf
Strzelecki beim Besteigen des Vulkans von Kirauea in Owaihi, wo er in 4,000 Fufs
oberhalb des Passats war und einen entgegengesetzten Lufstrom fand mit anderer Wärme
und anderem Feuchtigkeitsverhältnils. Bei 6,000 Fuls Erhebung fand St. einen Luftstrom
im rechten Winkel auf beide untere Ströme gerichtet, wieder mit anderer Feuchtigkeit
und Wärme, aber wärmer als der Zwischenstrom. Jam. Cl. Rofs Voyage in the Sou-
thern and antaretie Regions Vol. I. 1847 p. 13.
1839 sah Dr. Grube in Königsberg einen Teich der Hufen daselbst, Mitte Juli, durch
Euglena sanguinea roth gefärbt. Derselbe hat in einem am 16. October 1840 gehaltenen
in den Preuls. Provinz. Blättern und besonders abgedruckt erschienenem Vortrage über
das sogenannte Blutwasser, Blutregen und rothen Schnee die Vermuthung geäulsert, dafs
es wohl rothe Infusorien in der Atmosphäre geben möge, die den Regen und Schnee
färben und glaubt, dals Shuttleworihs Beobachtungen der rothen Infusorien im Glet-
scherschnee dies erweisen. — Rothe Infusorien sind aber im Passatstaube bisher nicht
vorgekommen, und die Beobachtungen Hrn. Sh. sind, wegen zu schwacher Vergröfserung,
nicht hinreichend scharf, betreffen auch nur die Begleiter der Sphaerella nivalis.
1839. Ob der in der vorletzten Woche Aprils zu Montfort und Rille mit einer grolsen
gelben von Norden kommenden Wolke, bei ziemlich hoher Temperatur, gefallene Gold-
regen von der Farbe der Corchorus-Blüthe hierher gehört, oder zu dem Schwefelregen
durch Blüthenstaub ist zweifelhaft. Er liefs gelbe Flecke zurück, die sehr schnell trock-
neten, und einen feinen sich leicht zerstreuenden Staub zeigten. Die Wolke trieb gegen
SW. und die Atmosphäre kühlte sich alsbald auffallend ab. Aus dem Courrier de Rouen
in Perty’s Allgem. Naturgesch. Bd. IV. p. 97.
392 EHRENBERG:
1840. Der Reisende Hermann Köhler giebt in einer kleinen Schrift:
Einige Notizen über Bonny (Niger) Göttingen 1848, Nachricht vom
trockenen Nebel jener Gegend aus dem Jahre 1840. Am 23. November
beginnen die Smokes oder trocknen Nebel, deutlicher aber am 2. Decbr.
Von 120 Beobachtungstagen waren 17 Nebeltage, 5 im October, 2 im No-
vember, 10 im December. Er sagt p. 98. Gegen Ende Novembers erschei-
nen zuerst die trocknen Nebel ekringa (engl. the smokes). Sie treten Anfangs
nur mit Unterbrechungen und vorübergehend auf, blofs am frühen Morgen.
Von Anfang des Decembers aber werden sie beständiger, kehren häufiger
wieder und sind von längerer Dauer, weichen aber doch leicht dem Seewinde
des Nachmittags. Sie bedecken als ein dünner durchsichtiger Schleier Flufs
(Bonny) und Land, sind bald nur leicht, bald und namentlich über dem Lande
mehr dicht. Im Zenith scheint oft der blaue Himmel noch schwach durch,
gegen den Horizont erscheinen die Nebelschichten dichter und dunkelgrau,
und geben der Sonne das röthliche matte Ansehen des Neumondes. Auf-
fallend ist die aufserordentliche Trockenheit der Luft. — Auf der See
herrscht während dieser Nebel Windstille, die mit Tornados abwechselt,
welche im März und April am häufigsten sind.
1841 den 19. Februar fiel schlammiger Regen bei Bagnone, Genua und
Parma auf mehrere TLieues Fläche. Herr Matteucci sandte davon an die
Pariser Akademie. Bei Parma war er nach Herrn Colla von gelblicher
Farbe, bitter und metallisch schmeckend. Comptes rendus de l!’Acad. des
sc. de Paris T. XI. p. 789. Poggendorffs Annalen 53 p. 224. 1841.
1841 am 29. März fiel ein Schlammregen zu Vernet les eaux in den Ost-
pyrenäen, welcher dem am 19. Februar bei Genua gefallenen ähnlich war.
Comptes rendus XII. 789. Poggendorff Annalen 53. p. 224.
1841. Der Geograph Berghaus sagt in seinem Almanach p. 177: Afrikas
Westküste zwischen dem Cap Bogador und dem grünen Vorgebirge und
drüber hinaus ist während der trocknen Jahreszeit, d. i. vom November bis
Mai, beständig in Nebel gehüllt; diese Nebelschicht, die man früher als das
1841 den 9. Aug. sah Capt. Rols auf dem Erebus in 33° 40’ SB. 164° 18° WL. bei
Neuholland, um 8 Uhr 20 M. Abends, ein glänzendes Meteor aus einer schwarzen
Wolke nahe am südlichen Kreuze kommen, in 10° Erhebung. Es stieg bis zu 25° und
im Fallen streute es 5 helle Lichter aus. Rofs Antarctic Voy. II. p. 52. — Ist eine
dieser seltenen Erscheinungen aus dem Süd-Meere.
Passatstaub und Blutregen. 393
Land selbst erblickt und ein sichres Zeichen von der Nähe desselben ist,
besteht aus weiter nichts als Staub und Sand, der wegen seiner aufserordent-
lichen Feinheit vom geringsten Luftzuge in die Höhe gehoben und in der
Schwebe gehalten wird. — Er schliefst daran den 1839 und 1840 erwähnten
Auszug aus den Schiffs-Journalen des Preufs. Schiffs Prinzefs Louise.
1843 sah Cap. Fremont im Winter (27. Nov.) in Californien rothen
Schnee am Morgen auf Mount Hood. Es war eine rosenfarbene Schnee-
masse. Der Himmel war klar, die Luft kalt 2° 5’ unter 0. Bäume und
Büsche waren bereift und der Strom trieb Eis. Report of the exploring
expedition 1845. p. 198. Er scheint nicht blofsen Lichtreflex der Sonne zu
meinen.
1845 hat Herr Ch. Darwin in einem kurzen aber reichhaltigen Aufsatze
in dem Quarterly Journal oder Proceedings of the Geological soc. June
p- 26 seine Ansicht über das Phänomen des Staubes bei den Capverden aus-
gesprochen, und dabei mehrere sehr interessante historische Facta geliefert,
welche hier benutzt worden sind. Er findet sich besonders deshalb zu der
Meinung veranlafst, dafs unzweifelhaft der Staub aus Afrika komme, weil er
entschieden aus dieser Richtung kommt und weil er in der Nähe Afrika’s
immer gröber sei. Den von mir damals schon angezeigten Mangel afrikani-
scher und die Anwesenheit amerikanischer Organismen, welche letztere da-
mals nur 2 waren, finde er zwar räthselhaft, wage aber nicht es zu erklären
(p- 29). Seitdem haben sich die Thatsachen freilich noch räthselhafter,
aber auch entschiedener gestaltet und sehr vermehrt. Ob die von mir (1844
bis 1847) versuchte Erklärung weiteren Halt gewinnt, ist von der weiteren
Forschung ganz allein abhängig. Ein in Amerika gesammelter Staub kann
durch völlig gleiche oder völlig verschiedene Bestandtheile schnell entschei-
den, vielleicht auch ein indischer.
1842 am 31. December sah Cap. Rols auf dem Erebus das Meer in 64° Sb. 55° 23
WL., 30 Meilen von der südöstlichen Landspitze des Erebus- und Terror-Golf, schmutzig-
braune, wahrscheinlich, wie er sagt, von kleinen rostrothen Infusorien, die in einem
grünlichen Schlamme waren, welche aus 207 Faden Tiefe heraufgezogen wurde. Antarctie
Voy. II. p. 332. 1847.
1843 am 23. November beobachtete Cap. Fremont einen Aschenfall, den er aus dem
St. Helena-Vulkan in Californien ableitet, in 50 Meilen Entfernung. Er sammelte Asche
und gab sie Herrn Brewer, einem Geistlichen im Columbia-Gebiete. Report. p. 194. —
War es Asche?
Phys. Kl. 1847. Ddd
394 EHRENBERG:
1846 im Mai fiel rother Regen, Blutregen und Staub in Genua und gleich-
zeitig in Chambery (und Syam) in Savoyen. Er bedeckte die Dächer und
Terrassen (s. vorn p. 279) der Stadt in Genua bei einem heftigen Scirocco-
Sturme. Von Herrn Prof. Pictet in Genf schon im Mai und von Herrn
Grafen della Marmora im October erhaltene Proben habe ich analysirt.
Auch bei Gigelly zwischen Bona und Algier wurde der Staub beobachtet.
Siehe vorn p. 312.
1846 am 17. October fiel Blutregen und rother Staub mit einem sehr hef-
tigen Seirocco-Orkane in Frankreich besonders in Lyon. Die Untersuchung
dieses von mir analysirten Staubes findet sich in den Monatsberichten 1846
p- 319 und 1547 p. 301 sind Nachträge aus Herrn Fournets ausführlichem
Berichte über den Verlauf des Orkans gegeben. Siehe vorn pag. 283.
Gleichzeitig fiel ähnlicher Staub zu Chambery in Savoyen. S. oben p. 312.
1846. In der Nacht vom 26. zum 27. Januar fiel zu Dou& la Fontaine (Maine et
Loire) nach Peltier reichlich ein Hagel, welcher deutlich nach Schwefelwasserstoffgas roch.
Er enthielt Schwefelwasserstoff-Ammoniak. Comptes rendus XXII. p. 376. Vergl. 1552.
1846 berichtet Henry Piddington, der Curator des ökonomisch-geologischen Mu-
seums zu Calcutta, über einen von Dr. Bellot, Schiffsarzt auf dem Schiffe Wolf, beob-
achteten atmosphärischen Staubfall zu Shanghae in Indien aus einem Briefe desselben vom
16. März 1846 an Dr. Macgowan. Am 15. März 1846 fiel in Shanghae ein feiner Sand
mit Nord-Ost-Wind. Mit Tagesanbruch war Windstille, die allmählig in NO.-Wind
überging und man glaubte eine gewöhnliche neblige Trübung zu sehen. Officiere aber,
die ans Land gingen bemerkten, dals ihre Kleider und Schuhwerk staubig wurden. Dr.
Bellot erfuhr selbst dieses am Nachmittag. Nach 8 Uhr war Staub auf den Kanonen,
an den Oberwerken und den polirten Oberllächen auf dem Verdeck sichtbar. Am folgen-
den Tage erschien die ganze Atmosphäre aus einem hellbraunen staubigen Nebel zu
bestehen, was den ganzen Tag anbielt. Die Pflanzen wurden mit Staub bedeckt. Die
untergehende Sonne war offenbar kleiner als sie an kalten Abenden ist und weilsfarbig,
blalsweils. — Obschon der fallende Sand sich auf die Geschütze lagerte, so fiel doch keiner
auf Papier (ausgebreitete Zeitungen), er wisse nicht, ob dies durch electrische Attraction
bewirkt werde oder nicht. Obschon der Himmel wolkenlos war, so waren doch Sterne
wie der grolse Bär ım Zenith nur schwach sichtbar. Der vor 3 Tagen voll gewesene
Mond war etwas verdunkelt (partially obscured) und warf auf die Hand einen sehr schwa-
chen Schatten. Um 15 Uhr nach Mitternacht hörte es auf. Das Barometer ging von
88 auf 33,00.
Auf das Kauffahrthei-Schiff Deina soll 308 Meilen vom Lande auch Staub gefallen
sein und Bimstein soll in der See geschwommen haben.
Der Staub selbst war nach Herrn Piddington olivengrau. Er sah darin mit dem
Mikroskop weilse, schwarze und braune Haare, auch röthliche feine Stacheln (reddish
Passatstaub und Blutregen. 395
4847 ist am 31. März ein rother Schneefall im Pusterthale in Tyrol und
am gleichen Tage ein Blutregen in Chambery in Savoyen und auch im Böh-
merwalde vorgekommen. Eine Probe des Schneestaubes ist von mir analy-
sirt und das Resultat vergleichend mit einer chemischen Analyse des Herrn
Oellacher in Innsbruck mitgetheilt (s. vorn p. 293 sq. Monatsber. 1847.
1848 p. 65). Ob der am 23. und 28. März in Vera-Cruz beobachtete staub-
führende Nord-Orkan (siehe vorn p. 312) sich, der Vermuthung des Herrn
Fournet gemäfs, hier anschliefst, ist später vielleicht weiter zu entscheiden.
Da im Pusterthale aus 2 OKlaftern Schnee 103 Gran Staub gesammelt wur-
den, so läfst sich berechnen, dafs auf je 1 DMeile etwa 100,000 Pfd. d. i.
1000 Centner gefallen sind.
IX.
Untersuchung des zimmtfarbenen Meteorstaubes von Udine 1803
nebst einigen Nachträgen.(!)
Auf eine Anfrage bei dem Kaiserlichen Custos Herrn Partsch in
Wien wegen des in dem Meteoriten-Verzeichnisse erwähnten, dort in Probe
vorhandenen Meteorstaubes von Udine 1803, sind mir sowohl von diesem,
als vom rothen Schnee der Alpe Aceindaz bei Bex, dessen Chladni aus-
führlich erwähnt, samt noch einigen andern, aber nicht für diesen Zweck
weiter wichtigen Fällen, kleine Proben mit grofser Liberalität übersendet
worden. Meine der Sache zugewendete ernste Bemühung möge als mein
freundlicher bester Dank dafür erscheinen.
Die rothe Schneefärbung der Alpe bei Bex ist, meiner stattgefunde-
nen Untersuchung nach, diesen hier berührten Verhältnissen ganz fremd,
es scheinen die zusammengebacknen Kugeln der rothen Sphaerella nivalis
zu sein, die der schmelzende Schnee im Sommer als festen Boden trägt, wie
ja besondere Alpen auch an den Glasscheiben der Fenster wachsen.(?)
strait spines). Diese Fasern hielten Cantor und Grant für Conferven. Journal of
the asiatic soc. of Bengal. Febr. 1847 No. 175 p. 195. — Da die Nachricht von dem
Bimstein nicht ganz sicher zu sein scheint, so könnte dieser Staub wohl auch ganz ohne
vulkanischen Character gewesen sein. Sehr einflulsreich ist die Beobachtung des electri-
schen Verhaltens.
(') Monatsberichte der Akademie 11. Nov. 1847 p. 360 und 427.
(2) Aulser diesen unter den Meteorsubstanzen verzeichneten nicht meteorischen Kör-
pern, habe ich früher schon der Akademie über ähnliche: das Meteorpapier von Rauden,
Ddd2
396 EHRENBERG:
Von sehr grofsem Interesse wird dagegen die Substanz von Udine
1803. Auf der Etikette heifst es: Terre de la pluie limoneuse tombee a
Udine 5 Mars 1803. Es ist mithin die Substanz, welche damals von Wien
anfangend, Udine, ganz Italien und Sicilien bedeckte, also in wahrscheinlich
mehreren 100,000 Centnern getragen und gefallen ist, und die eine Controlle
für die aus Klaproths Sammlung hier analysirte Masse bildet. Ich habe
diese Substanz mit aller Sorgfalt untersucht und zuerst sogleich erkannt,
dafs sie sowohl an Farbe, wie allen äufseren Characteren mit der Klaproth-
schen identisch ist, als auch mikroskopisch sich höchst übereinstimmend
verhält.
Folgende 28 Species kleiner organischer Körper habe ich in 40 Ana-
Iysen bis jetzt erkannt:
Kieselschalige Polygastern: 18.
Campylodiscus Clypeus. Gallionella granulata.
Cocconema? laminaris.
Discoplea atmosphaerica. procera.
Eunotia amphioxys. Himantidium Arcus.
gibba. Navicula affinis.
gibberula. Pinnularia borealis.
iridentula. Surirellae? fragmentum |
Gallionella crenata. Synedra Entomon.
distans. Ulna.
Kieselerdige Phytolitharien: 8.
Amphidiscus truncatus. Lithostylidium laeve.
Lithasteriscus tuberculatus. polyedrum.
Lithostylidium Amphiodon. rude.
crenulatum. Spongolithis acicularis.
Weiche Pflanzentheile: 2
Einfache glatte Pflanzenhaare. Pilzsaamen.
Es sind dieselben Species, welche in den atlantischen und übrigen
von mir „Passat-Staub“ genannten Meteoren bereits seit 4 Jahren angezeigt
sind. Dieselben Formen sind auch vorherrschend. Eine entschiedene See-
(Monatsber. 1838 p. 177. Abhandl. 1839 p. 45), über Chladnis harzige Substanz aus
Schlesien von 1796 (Abhandl. 1839 p. 48), über das Bohnenerz von Ivan in Ungarn
(Monatsber. 1841 p. 357) Bericht erstattet.
Passatstaub und Blutregen. 397
form ist nicht dabei, aber Synedra Entomon aus Südamerika mit ihren grü-
nen Ovarien (lebend) getrocknet zahlreich. Aufserdem ist noch Eunotia
amphioxys mit den Ovarien und in Selbsttheilung häufig, wie in der Masse
aus Klaproths Sammlung.
Eine kleine aus Wien mir zugesandte Probe des Meteorstaubes vom
Pusterthal, März 1847, gehört zu der etwas bräunlichen, später gesammelten
Form und zeigt sich, bei oberflächlicher Betrachtung schon, den früher
analysirten gleichartig.
Gleichzeitig mit den Proben aus Wien sind auch neuere Nachrichten
aus Innsbruck durch Herrn Oellacher an mich gelangt, welche das beson-
dere Interesse haben, dafs nach Ermittelung des Herrn Curat Villplaner
dasselbe Phänomen gleichzeitig im Böhmerwalde stattgefunden hat, von wo
aus es sich dann über Tyrol (bis Savoyen) erstreckte. Man hat in Bruneck,
dem Kreisamte des Pusterthales, eine Commission zur amtlichen Beurthei-
lung des Phänomens in dem Herrn Dr. Heinisch mit Zuziehung des dor-
tigen Apothekers niedergesetzt und Dr. Heinisch hat erklärt, dafs der rothe
Schneestaub im Pusterthale durch eine Lawine bei Lappach aufgetrieben
worden sei. Herr Villplaner und Herr Oellacher erklären, ersterer pri-
vatim, letzterer auch öffentlich sich sehr entschieden gegen diese Ansicht,
als rein durch die ganzen Local- und Winter-Verhältnisse unmöglich. Die
chemische Ähnlichkeit der gelben Erde bei Lappach konnte freilich wenig
entscheiden. Im Tyroler Boten No. 41 und 42 so wie 63 und später im
August finden sich diese Verhandlungen.
gen.
Ergänzun
X.
Uber den am 31. März 1847 auch im Gasteiner Thale in Salzburg
vorgekommenen rothen Stauhregen.(!)
Herr Haidinger in Wien, Correspondent der Akademie, meldet
unserm 27. Dec. folgendes: „Ich habe das Vergnügen Ihrem — Auge —
zwei neue Proben Passatstaub hier einzuschliefsen. Sie sind beide im Ga-
(') S. Monatsber. d. Akad. 13. Januar 1848 p- 69.
398 EHurEnBEere:
steiner Thale in Salzburg gesammelt und zwar, No. 1 vom Herrn Bergver-
walter Werkstätter in Böckstein, unmittelbar nach dem Falle. Das Pul-
ver No.2 aber vom Herrn Schichtmeister Reisfacher Anfangs Juni am
Rathhausberg und in Singlitz.“
„Der Fall des Pulvers erfolgte am 31. März zwischen 11 und 12 Uhr
Mittags mit heftigem Regen und Sturm aus Südwest.“
Barometer Thermometer
64 Uhr früh 24” 5” n ia BE
124 4, Mittage 24" 4.5 f Venen Mael- TOR.
„Der Niederschlag fand nur in der Meereshöhe zwischen 3000 und
7000 Fufs statt, darüber hinauf blieben die beschneiten Gletscher und Alpen-
köpfe weils. Der Absatz geschah nach Herrn Reisfacher gleichförmig an
den südlichen und nördlichen Gebirgsabhängen. Herr Reisfacher konnte
die Färbung deutlich über die ganze, das Gasteiner und Raurieser Thal süd-
lich begrenzende Central-Kette beobachten, die immer wieder den Sommer
hindurch hervortrat, wenn frisch gefallner Schnee abschmolz.“ — „Es ist
das Phänomen von Deffereggen aber weiter gegen Nord-Ost ausgedehnt.“
Die mit dieser Nachricht übersandten 2 Proben des Meteorstaubes
aus Salzburg bei Gastein sind beide gelblich braun. Die Probe von Böck-
stein No. 1, welche unmittelbar nach dem Falle gesammelt wurde, ist etwas
gelblicher als die Probe No. 2, die mehr ins Graubraune spielt und etwas
dunkler ist, aber auch 2 Monate nach dem Falle erst, wahrscheinlich vom
Schnee gesammelt wurde. Beide Pulver haben in Feinheit und Cohärenz
dieselben äufseren Charactere als die des Pusterthales, an Farbe sind sie
beide der daselbst später gesammelten Form am meisten ähnlich.
In diesen beiden Staubarten haben sich in 30 und 10 Analysen fol-
gende Formen mikroskopischer Organismen entdecken lassen.
Polygastrica:u21.
LIRAUNEE 1.1 1ER
Campylodiscus Clypeus + | -+ KEunotia gibba +
Closterium? + longicornis u
Coscinodiscus radiatus + Zebra 2”
Discoplea atmosphaerica | + | + Gallionella crenata +|+
_ ? + distans er
Eunotia amphioxys +|+ granulata +|+
Passatstaub und Blutregen. 399
sol EL 1. |).
Gallionella laminaris + Pinnularia viridis +
procera + | + Podosphenia Pupula +
Gomphonema gracile + |-+ Synedra Entomon +
Navicula Semen -- Ulna 2er
Pinnularia borealis + |+
Phytolitharia: 26.
Amphidiscus obtusus + Lithostylidium falcatum | -+
truncatus + |+ laeve +|+
Lithasteriscus tuberculatus| + Pecten +
Lithochaeta laevis + polyedrum | +
Lithodontium Bursa + quadratum | + | +
Jurcatum + rude +|+
nasutum + ‚Serra +
rostratum + spiriferum | +
Lithostylidium Amphiodon | + | + Taurus +
biconcavum | + Trabecula | +
calcaratum | + Spongolithis acicularis +|+
clavatum + aspera +
curvaltum + obtusa +
Particula siliceaincertae originis: 1.
Lamina silicea hexagona
I
Particulae plantarum molles: 9.
umbonata
Parenchyma, cellulae ocel- Pilus plantae simplex laevis| + | +
latae Pini + | + asper | +
Jibrosum + stellatus +
porosum + |-+ Pollen Pini + | =
clathratum _ ? +
Orystalli:o.
Crystalli virides columnares (Pyroxenä’) |+ | +
albi rhombei —
Seminis Tritici forma albi (calcarei?)| +
Im Allgemeinen gehören die Staubtheile zu den etwas gröberen For-
men dieser Art. Die Mischung ist sehr reich organisch und der der atlanti-
400 EHRENBERG:
schen Staubarten wieder in allen Hauptsachen völlig ähnlich und gleich.
Eigenthümlich ist dieser Staubart eine überaus grofse Menge von Fichten-
blüthenstaub (Pollen Pini) in einem offenbar durch Verrotten sehr gefalteten
und oft zerstörten Zustande, so dafs, selbst wenn man von den gleichzeitigen
3 Graden Kälte und der völligen Winterzeit in Tyrol und Salzburg absehen
wollte und an südeuropäische vielleicht schon blühende Fichten denken
wollte, deren Blüthezeit für den März überall zu früh ist, doch jedenfalls
dann frischen Blüthenstaub finden mufste, wie bei den bekannten Schwefel-
regen es jedesmal der Fall ist. Mit diesem Pollen finden sich auch überaus
viel verkohlte augenartig poröse Holzzellen, wie sie das Fichtenholz charak-
terisiren. Dieser Fichtenblüthenstaub samt den feinen Holztheilchen ist in
solcher Menge, dafs besonders ersterer sicher über + des Volumens der
Masse, vielleicht die Hälfte bilden mag.
Mit grünen Ovarien und in Selbsttheilung ist wieder Eunotia amphioxys
beobachtet. Ebenso wie im atlantischen Staube finden sich wieder Seefor-
men (Coscinodiscus, ein elegantes Fragment). Ferner finden sich in diesem
Staube wieder die charakteristischen südamerikanischen Synedra Entomon
und die noch auffallendere ihre Verwandte in China habende Discoplea atmo-
sphaerica(!). Das zahlreiche mit vorherrschende Vorkommen der Gallio-
nella granulalta, procera, distans und crenata schliefst sich samt der
Erscheinung der Eunotia longicornis dem Passatstaube völlig an. Auch
Amphidiscus truncatus ist sehr zahlreich und charaktergebend. Überhaupt
werden späterhin die Localformen, welche der Sturm hie und da zufällig
in diese fernher getragenen Staubarten bringt, sich leicht ausscheiden. Die
übereinstimmenden häufigeren Formen werden den Maafsstab geben und die
abweichenden und selteneren Formen wird man unberücksichtigt lassen
können.
Durch Herrn Curat Villplaners Mittheilung war früher gemeldet,
dafs aufser in Tyrol auch im Böhmerwalde gleichzeitig solcher Staub gefallen
sei. Die Nachricht stammt von Herrn Martin Tegischer, welcher es
selbst in der Grafschaft Winterberg, zu Sablath und Wallern gesehen hat und
(') Über die Infusorien China’s ist ein Vortrag in den Monatsberichten 1847 p. 476
abgedruckt. Gallionella granulata und procera, Discoplea sinensis, das Pilzsporangium und
der Farnsaame sind dort in der Culturerde denen des Passatstaubes theils gleich, theils
sehr ähnlich p. 483.
Passatstaub und Blutregen. 401
dessen Zuverlässigkeit Herr Villplaner rühmt. — Durch den von Herrn
Haidinger gesandten hier analysirten Staub ist nun die weitere Verbreitung
der gleichen Substanz direct festgestellt und das von ihr bedeckte Areal von
Winterberg in Böhmen bis Tyrol und wohl Savoyen aufser Zweifel gesetzt.
XI.
Über denrothen Passatstaub und das dadurch bedingte
Dunkelmeer der Araber(!).
In diesem zur Feier des 24. Januar 1848 gehaltenen Vortrage ist,
aufser der frühesten Geschichte des Dunkelmeeres, oder Meeres der Fin-
sternisse an der Westküste von Afrika, eine reichere gedrängte Übersicht
der Passatstaubverhältnisse gegeben und ganz besonders auf den Nebelberg
Bolor Takh in Mittelasien(?), als ein auffallend ähnliches paralleles Verhält-
nifs, aufmerksam gemacht worden, so wie auch der ziegelrothe überaus
merkwürdige Wüstenstaub von Beludschistan hervorgehoben worden ist.
Vorgelegte Tabellen erläuterten sowohl der Zeitfolge nach, als der Form-
Verschiedenheiten des Passatstaubfalles, auch der Jahreszeiten und der Be-
ziehungen zu Meteorsteinfällen und Feuermeteoren nach, diese Verhältnisse.
Die sämtlichen Materialien sind in den früheren historischen und den folgen-
den tabellarischen Übersichten mit enthalten.
X.
Über den Meteorstaubfall in Schlesien und Nieder-Österreich
am 31. Januar 1848.(°)
41. Meteorstaub von Breslau.
Herr Prof. Goeppert, Correspondent der Akademie, meldet unterm
31. Januar selbst aus Breslau folgendes:
„Nach heftigem Südwinde erschien heut Morgen beim Anbruch des
Tages der Schnee in der ganzen Umgegend von Breslau, so wie in Breslau
(') Meine Einleitungs-Rede bei der Gedächtnifsfeier Königs Friedrich I. in der
öffentlichen Sitzung der Akad. am 27. Januar 1848, besonders gedruckt 1848.
(2) Wahrscheinlich ist auch Marco Polo’s wunderbare Erzählung vom mittelasiati-
schen Lande der Finsternisse, nicht blols vom Eismeere und dem polaren langen Son-
nen-Mangel, sondern von den neckenden und lebensgefährlichen Staubverhältnissen mit
zu verstehen. (?) Monatsbericht 1848 p. 107 24. Febr.
Phys. Kl. 1847. Eee
402 EHRENBERG:
selbst mit einem grauen Staube dicht bedeckt, der auch noch Vormittags
bei übrigens halb heiterem Himmel die Atmosphäre erfüllt. Unverkennbar
finden sich darinn organische, thierische und vegetabilische Reste, über
deren Bestimmung ich mich — nicht erkühne etwas zu äufsern. — Die bei-
liegenden Portionen Staub sind an 2 verschiedenen Stellen gesammelt, a
vom Fensterbrett meiner nach Osten und ganz im Freien gelegenen Wohnung.
Der Staub war innerlich auch durch die sonst ziemlich gut anschliefsenden
Fensterrahmen gelangt und bedeckte in dichter Schicht das Fensterbrett.
b aus geschmolzenem auf der Oder gesammeltem Schnee.“
Die Untersuchung dieses Staubes hat bis jetzt folgende organische
Mischung ergeben:
Polygastrica 6, Phytolitharia 27, weiche Pflanzentheile 6 = 39 Arten.
Die Farbe des Meteorstaubes ist gelblich-grau. Die constituirenden
Theilchen sind nicht überaus fein. Überwiegend sind es unorganische Theil-
chen, weiche Pflanzentheile sind nicht selten, kieselerdige Pflanzentheile
sind zahlreich, Infusorien selten, doch aber so häufig, dafs in jeder Nadel-
knopfgröfse der Masse deren eins oder einige angetroffen werden.
Besonders merkwürdig ist, dafs Infusorien mit ihren grünen Ovarien,
also lebensfähig und in Selbsttheilung vorhanden sind.
Die Mehrzahl der Formen sind Süfswasserbildungen, allein Spongo-
lithis robusta (ingens?) ist wohl eine sichere Meeresbildung. — Ganz beson-
ders merkwürdig ist eine auffallende Menge von wahrscheinlich vulkanischen
grünen und bräunlichen COrystallen.
{eo}
Diese Resultate der Untersuchung
fseres Gewicht durch ein Schreiben des Correspondeten der Akademie Hrn.
Haidinger in Wien vom 16. Febr.
2. Meteorstaub von Wien.
erhalten ein noch ansehnlich grö-
„Kaum gaben Sie am 24. Januar Ihre neueste Übersicht, als wir in
Österreich schon wieder einen Staubfall hatten und zwar in der Nacht vom
31. Jan. auf den 1. Febr., an welchem Tage ich selbst und gleichzeitig Dr.
Reissek ihn bemerkten. Ich schliefse eine Probe ein, die aber unglück-
licherweise aus den 3 Fundorten: Wien Glacis vor der Münze, botanischer
Garten und Dürnkrut im Marchfelde, die übrigens von gleicher Beschaffen-
heit waren, gemischt ist. Herr Dr. Reissek hat sie bereits untersucht. —
Auch diesmal war Scirocco, aber nur bis Salzburg. Ich sammle jetzt einige
Passatstaub und Blutregen. 403
Daten um die Verbreitung des Südwest-Sturmes genauer kennen zu lernen.
In Wien hatten wir fast Windstille.” — „Ich versäumte (früher) zu
bemerken, dafs die Kohlenfragmente in dem Staube von Böckstein zufällig
beim Schmelzen in den Staub geriethen.”
Diese letztere Bemerkung ändert nichts wesentliches in den Mitthei-
lungen über den Schneestaub von Böckstein, da er voll von Fichtenblüthen-
Staub und unverkoblten Holztheilchen ist und sich dem Tyroler vom gleichen
Tage genau anschliefst. Die Verunreinigung durch Kohlenstaub konnte
daher nur unbedeutend sein.
Was den Wiener Meteorstaub anlangt, welcher beim gleichen Süd-
winde, wie in Breslau, aber um 24 Stunden später gefallen, obschon Wien
und Prefsburg genau im Süden von Schlesien liegen, so ist derselbe auf die
auffallendste Weise mit dem Breslauer in Farbe, Form und specielster Mi-
schung übereinstimmend.
Polygastrica 5, Phytolitharia 17, Polythalamia 1, weiche Pflanzen-
theile 4, Insektenfragmente 1.
Dieselbe Farbe und Cohärenz, so wie dieselbe Durchschnittsgröfse
der massebildenden Staubtheilchen begleitet die gleiche Mischung.
Die Infusorien sind dieselben Species in demselben Zustande der
Lebensfähigkeit und Selbsttheilung. — Die amerikanische Synedra Entomon
ist mit ihren Ovarien und in sehr grofsen Exemplaren darin. — Anstatt des
einen fraglichen Seekörpers im schlesischen Staube sind deren 2 und dabei
ein ganz entschiedener (Textilaria) im Wiener Staube. Der andre ist die-
selbe Spongolithis. — Auch hier sind viele pyroxenartige? und hornblende-
artige? (in Wasser und Säure unlösliche) Krystalle im Staube neben kalk-
spathähnlichen (in Säuren löslichen) Krystallen.
Aufser dieser Nachricht ist mir durch Hrn. Dr. Friedenberg später
der Aufsatz des Herrn Dr. Reifsek aus Wien zugekommen, welcher in
No. 55 der Wiener Zeitung unterm 24. Febr. abgedruckt ist. Demnach war
der meteorische Staubfall am 31. Januar 1848 im gröfsten Theile Nieder-
Oesterreichs so wie in der ganzen Umgegend von Wien beobachtet worden.
Nachdem in der ganzen letzten Hälfte des Januar bei einer durchschnitt-
lichen Temperatur von — 8°R. am Tage und — 10° bei Nacht, bei ziemlich
reicher allgemeiner Schneedecke, ein anhaltender, mitunter heftiger Ostwind
geweht und sich am 31. die Atmosphäre in ähnlicher Weise verdüstert hatte,
Eee?
404 EHRENBERG:
wie es in trocknen Sommertagen durch den aufgewirbelten Staub geschieht,
bemerkte man schon des Abends an diesem Tage, noch deutlicher aber am
Morgen des 1. Februar die Oberfläche des Schnees mit einem grauen erd-
artigen, wie durch ein feines Sieb ausgestreuten Staube bedeckt. Diese
Erscheinung zeigte sich allgemein. — Besonders auffallend war die Erschei-
nung in der Ebene des Marchfeldes, wo sie sich bis Prefsburg überall zeigte.
— Ein auffallendes Phänomen, das gleichzeitig mit dem Staubfall eintrat,
war das Steigen der Temperatur auf 0O°R. und das Aufhören des Ostwindes.
Ursache davon scheint der am 31. Januar im Salzburgischen bei + 6° we-
hende Scirocco gewesen zu sein. —
Eine mikroskopische Untersuchung wurde durch Herrn Dr. Wedl
gemacht. Der Staub in gröfserer Menge war einer gewöhnlichen grauen
feingesiebten Acker- oder Garten-Erde ähnlich. Es liefsen sich schätzen als
Bestandtheile: Quarzkörnchen 60-70, Glimmerblättchen 10-15, Humus
10-12, organische Reste 1 pC.
Die organischen Reste waren mannigfaltig, darunter mit freiem Auge
bemerkbare Holzsplitterchen und Kohlenfragmente. 41. Stückchen der
Oberhaut von grafsartigen unverwesten Gewächsen. 2. Eben solche ver-
kohlt. 3. Haare von mehreren Pflanzenarten, gröfstentheils nur in Frag-
menten. 4. Holzstückchen eines unbekannten Baumes oder Strauches,
verkohlt, selten. 5. Protococcusartige erstorbene Zellen, ziemlich selten.
6. Fragmente von Spiralfasern, Bastzellen, selten. 7. Fragmente eines Laub-
mooses, selten. 8. Vertrocknete panzerlose Infusorien vom Ansehen der
Bursaria, Colpoda oder Paramecium. 9. Kieselpanzrige Infusorien aus der
Gattung Navicula, 3 Arten, ziemlich selten, alle zu den kleinsten gehörig,
2 ellipsoidisch, eine länglich quergestreift. 10. Flügelfragmente einer klei-
nen .Lepidoptere (”) sehr selten.
Dr. Reifsek schliefst aus dieser Mischung, dafs der Staub aus — den
russischen Steppen (!) kommen müsse, wo Hirten die Steppe abbrennen
und grofse Ebenen wären. Ein wunderlicher Schlufs, welcher aus Unbe-
kanntschaft mit der Steppe entspringt, und die Winterverhältnisse auf unbe-
greifliche Weise (auch die veränderte Wind-Richtung) aufser Acht läfst.
Jedoch ist das Erkennen specieller organischer Verhältnisse wichtig, obschon
die vertrockneten Bursarien, Colpoden und Paramecien nimmermehr er-
weislich das gewesen sind, wofür sie gehalten worden und jedenfalls besser
Passatstaub und Blutregen. 405
unerwähnt geblieben wären, um den übrigen Mittheilungen ihren Credit
ungeschmälert zu lassen. (!)
Bemerkenswerth ist noch die Angabe der Menge des in Oesterreich
gefallenen Staubes, welche von Dr. Reifsek zu $ Cubikzoll auf die DKlafter
geschätzt ward, wodurch auf die OMeile 14 Cubikklaftern kämen.
Hieran schliefsen sich noch einige später eingegangene Nachrichten
aus Schlesien und der Lausitz.
3. Meteorstaub von Alt-Rauden bei Glogau.
Aus Alt-Rauden (bei Glogau) ward in der Breslauer Zeitung vom
1. Februar unter der Chiffer E. H.(?) gemeldet: „Der Sturmwind, der gestern
aus Ost-Süd-Ost wehte, hat die hiesige Gegend mit einer neuen Naturer-
scheinung überrascht. Es zeigte sich, — sobald die Nacht gewichen war,
der schöne weifse Schnee mit einem Überzuge, der je nach der Dichtigkeit
des Anfluges vom Aschgrauen ins Ockergelbe überging, bedeckt. — Die
Wolken aus denen direct Niederschlag kam, gingen bei mäfsiger Höhe in
ostsüdöstlicher Richtung oft mit solcher Unterbrechung, dafs die Sonne
klar durchscheinen und einen Theil der Gegend hell erleuchten konnte.
Oft aber hüllte eine einzige Wolke an und für sich ganz helle Gegenstände
gänzlich
unsichtbar wurden. Dies dauerte bis gegen Abend ununterbrochen fort.
in einen so dichten Schleier, dafs sie dem Auge des Beschauers
Abends legte sich der Wind auf einmal und der Himmel klärte sich auf.
Ich nahm nun eine Quantität solchen verunreinigten Schnees, denn es war
nur ein oberflächlicher Überzug, brachte ihn unter das Vergröfserungsglas
und erkannte ihn als wirkliche Asche. Eine Messerspitze davon auf die
Zunge gebracht, gab einen Salzgehalt mit einem bitterlichen Nachgeschmack
und verursachte ein Kratzen im Gaumen wie die Laugensalze. Eine Auflö-
sung in kleiner Quantität auf weifsem Papier hinterliefs einen ockergelben
Niederschlag, der im trocknen Zustande sich in Pulverform leicht ablösen
liefs. Eine gröfsere Menge in einem Gefälse aufgelöst hinterliefs nach Absei-
gung des trüben Wassers einen dunkelbraunen Bodensatz, der im trocknen
Zustande einige Festigkeit erlangte, lehmige oder schmutziggelbe Farbe
(') Es haben sich zwar neuerlich auch von mir im Luftstaube Colpoden und Pa-
ramecien erkennen lassen, allein nur lebende Formen erlauben Gattungsbestimmungen.
S. Monatsbericht 1849 p. 97. (2) Vom damaligen Hauslehrer Stud. Haertel.
406 EHRENBERG:
hatte, ganz feine crystallinische Spitzen zeigte und einen bittern salzigen
Geschmack auf der Zunge hervorbrachte. — Es schien mir also unzweifel-
haft, dafs die hiesige Gegend ein sogenannter Aschenregen getroffen hat.” —
Die Wolkenverhältnisse dieser Nachricht sind sehr interessant, ebenso
ist es auch die öfter ausgesprochene ockergelbe Farbe des Staubes. Die
Laugensalze und die Aschenvorstellung sind weniger beachtenswerth.
4. Meteorstaub von Spremberg bei Muskau.
Aus dem Monatsberichte der Königl. Regierung zu Frankfurt a. d. O.
an des Königs Majestät für Januar 1848 sind folgende Nachrichten von
Spremberg in der Lausitz.
„Nach einem starken Sturme in der Nacht vom 30. und 31. Januar
wurde am Morgen in der Umgegend von Spremberg der Schnee mit einer
scharfen gelblich-grauen Staubmasse überzogen gefunden, deren Ursprung
man sich um so weniger erklären konnte, als der Erdboden bis in weiter
Ferne mit Schnee bedeckt und gefroren war. — Zu derselben Zeit ist das-
selbe in Alt-Rauden in Schlesien als ein sogenannter Aschenregen beob-
achtet worden.”
5. Meteorstaub von Hirschberg.
Da auch von Hirschberg in Schlesien der Staubfall in den Berliner
Zeitungen gemeldet worden war, so habe ich dorthin, so wie nach Landshut,
geschrieben und um Nachricht gebeten. In Landshut hat man die Erschei-
nung nicht bemerkt. In Hirschberg ist derselbe meist für einen im Anfang
Frühjahrs nicht ungewöhnlichen Staubwind gehalten worden, ohne dafs
aufser dem unbekannten Zeitungsreferenten irgend jemand darauf geachtet
habe, da Stadt und Umgegend ohne Schnee waren. Durch Herrn Apotheker
Dubois in Hirschberg erhielt ich rückgehend folgende Nachricht:
„Bevor der Sturm am 31. v. M. eintrat, waren die Felder bereits von
dem zuvor gefallenen Schnee durch den wenige Tage vorher herrschenden
Wind entblöfst, und hatte sich derselbe in den Gräben und Schluchten
angesammelt. Der Erdboden war auf der Oberfläche ziemlich trocken.
Kein Wunder daher, dafs der Sturm am 31. den Staub von den Feldern
aufjagte, den Schneemassen zuführte und diese bedeckte.. Am anderen
Morgen waren jene Massen mit schwarzem Staube überzogen, wie wir dies
Passatstaub und Blutregen. 407
jeden Winter wahrnehmen können. — Gleich nach dem Empfange des ge-
ehrten Schreibens ging ich ins Freie, suchte mir eine von späteren Einflüssen
befreit gebliebene Stelle aus, mafs einen TIFufs Oberfläche ab und befreite
die Eisdecke vom Überzuge, der in einer latwergenartigen Consistenz wohl
ein halbes Quart fafste. Denn die Oberfläche betrug wohl 14 Linien. Die
ganze Masse trocknete ich bei gewöhnlicher Stubenwärme ab und erlaube
mir Ew. eine Kleinigkeit davon zu senden. —”
Herr Prorector Ender in Hirschberg hat während der Zeit täglich 3
Thermometer- und Barometer-Beobachtungen gemacht, wonach am Morgen
des 31. Decembers bis Mittag den 1. Febr. plötzlich sehr niedriger Baro-
meterstand und Morgens am 1. Febr. trübe Luft bemerkt ist. Am 31. Mor-
gens war 7°R. Kälte mit Ostwind. Am 1. Februar waren am Morgen und
Mittag + 2° R. mit Westwind. Abends — 2° mit Nordwind.
Meiner Untersuchung zufolge enthält dieser Staub an organ. Theilen:
Polygastrica 5, Phytolitharia 18, weiche Pflanzentheile 1.
Es sind fast insgesammt dieselben Species wie im Staube von Breslau
und Wien. Auch fehlen vermuthliche Pyroxen-Crystalle nicht.
Ferner habe ich unterm 4. März durch Herrn Pascal’s, Mitglie-
des der Akademie der Künste zu Berlin, Verwendung Nachrichten und
Meteorstaub vom Grafen Lüttichau aus Ober-Wangten und Nieder-Kum-
mernick bei Liegnitz erhalten.
6.-7. Meteorstaub von Ober-Wangten und Nieder-Kummernick.
Am Nachmittag des 30. Januars war in Ober-Wangten (2 Meilen von
Liegnitz) im Süden und Südosten eine eigenthümliche Erscheinung. Die
ganze Atmosphäre sah am Horizonte dick aus und hatte eine rothbraune
Färbung. Diese Bemerkung wurde um 5 Uhr Nachmittags gemacht und auf
nahen Sturm gedeutet. Um jene Zeit hatte die rothbraune Wand kaum
mehr als 15° am Himmel eingenommen. Es war 4° Kälte und über den
Scheitel war der Himmel heiter. In der Nacht vom 30-31 Dec. erhob sich
ein fürchterlicher Orkan, welcher den Niederschlag des Staubes brachte.
Vor diesem Sturme hatte die Gegend eine sehr schöne gleichmäfsige Schnee-
decke, nach demselben waren grofse Massen Schnee zu Haufen getrieben
und grofse Erdflächen ganz davon entblöfst. Der Niederschlag wurde so
gewaltig vom Sturme gepeitscht, dafs derselbe nicht allein durch die Doppel-
408 EHRENBERce:
Fenster getrieben ward, sondern auch in ziemlich beträchtlicher Menge in
die Zimmer drang. Im Garten hatte der Orkan an einer Akazien-Hecke
5 Fufs hoch den Schnee zusammengetrieben und darauf sich der Staub so
häufig niedergelegt, dafs noch am 4. März (wo das Gesuch um Nachrichten
eingetroffen) nachdem der Schnee unten weggeschmolzen war, nicht die
gewünschten Lothe oder Quentchen, sondern zu vielen Centnern dieser
Erde wegzunehmen war. Sie war durch am 1. Februar darauf gefallenen
Schnee, der am 4. Febr. einem wahren Frühlingswetter weichen mufste,
nafs geworden und es wurden einige Blumentöpfe voll als Brei gesammelt. —
Die Erscheinung erstreckte sich nur 1 Meile westlich von Wangten nach
Liegnitz hin. Graf v. Lüttichau fand später bei Prausnitz nahe bei Gold-
berg die Schneedecke noch unverändert. Sturm wollte man dort gehabt
haben, aber der Staubfall war nicht zu erweisen (vielleicht war auch die
Schneedecke erneuert).
In diesen 2 Staubarten fanden sich bis jetzt 35 bestimmbare organi-
sche Theile.
Polygastrica 9, Phytolitharia 24, Polythalamia 1, weiche Pflanzen-
theile 6, Insectenflügel-Staub 1.
Die Polygastern sind 2 einheimische, allen Passatstaubarten aber ge-
meinsame Formen. Desmogonium? ist eine nur aus Guiana bekannte Form.
Das Fragment ist jedoch unsicher zu bestimmen. Eunotia amphioxys ist
mit grünen Ovarien, also lebensfähig.
Von Meeresgebilden sind nur 3 deutlich, ein kalkschaliges Polythala-
mium, das aber aus fossilen Verhältnissen beigemischt sein kann und ‚Spon-
golithis robusta samt cenocephala? von denen dies weniger wahrscheinlich ist.
Die sämmtlichen übrigen Phytolitharien können einheimischen Pflanzen
angehören. — Lauchgrüne und gelbgrüne in Wasser und Säuren unlösliche
Crystalle giebt es ebenfalls.
Kurze Übersicht und Folgerungen.
So viel bis heute bekannt geworden, hat der staubführende Orkan
vom 31. Januar d. J. in südlicher Richtung von Glogau und Spremberg
bei Muskau bis Wien und Prefsburg in einer Länge von 70 deutschen Meilen
und in westlicher Richtung von Prefsburg bis Salzburg, so wie von Breslau
bis Spremberg in einer Breite von 30-50 Meilen seine Wirkung geäufsert.
Dieses Areal beträgt gegen 3500 DMeilen.
Passatstaub und Blutregen. 409
In Wien wurde der Staubfall ohne Sturm beobachtet, bei Goldberg
in Schlesien wurde Sturm ohne Staubfall beobachtet. In Hirschberg hat der
Staub 14 Linie hoch auf dem Eise gelegen. In Wien hat man die Masse
des gefallenen Staubes zu 14 Cubikklaftern auf jede TIMeile geschätzt. Da
in Landshut der Staubfall nicht beobachtet worden ist, so scheint derselbe
strichweise erfolgt zu sein. Die von den Wolken getragene Masse hat jeden-
falls viele 1000 vielleicht Hunderttausende von Centnern betragen. Den
Nachrichten aus Rauden zufolge hat der Staub dort getrennte tiefziehende
Wolken gebildet, zwischen denen Sonnenschein war. Mithin war der Staub
nicht blofs vom Winde getrieben, sondern offenbar durch electrische Ver-
hältnisse so geordnet, wie es die Wasserdunst-Wolken sind.
Schon am 30. Januar ist der Staub bei Liegnitz in Südost gesehen
worden und erst in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar ist er bei
Wien beobachtet worden. Diese der überall ähnlichen Windesrichtung ent-
gegengesetzte Verbreitung der Erscheinung scheint sich mit einem Wirbel-
Orkan und dessen Drehung weniger zu vereinen. Eine Senkung der Staub-
masse von oben, in der Nähe der Erdfläche sich verdichtend, zuerst über
Breslau, dann über Prefsburg scheint erläuternder zu sein. Die Verschie-
denartigkeit der Windrichtung spricht auch für eine wirbelnde Drehung in
einem weiteren Kreise und die Temperatur- und Barometer-Veränderungen
zeigen Theilnahme hoher atmosphärischer Schichten an.
Der Staub ist meist grau oder gelblich-grau gefallen, gewöhnlichem
Ackerstaube fast gleich, doch gelblicher, allein bei Rauden ist seine Farbe
ockergelb, lehmartig gewesen, wie die des Passatstaubes bei West-Afrika.
Wie der Passatstaub des atlantischen Oceans, so enthält dieser Staub
sowohl Süfswasser als Meeresorganismen in seiner Mischung. Die Meeres-
organismen sind nicht sämtlich aus fossilen Verhältnissen erklärlich. Ebenso
finden sich südamerikanische Charakter-Formen Synedra Entomon, Arcella
constricta,(!) Desmogonium? Keine afrikanische Charakterform.
Sehr auffallend ist, dafs der Meteorstaub vom 31. Januar keine an-
deren Polygastern enthielt, als solche, welche vorherrschend im Passat-
staube des atlantischen Meeres sind, und dafs diese so gleichartig vertheilten
Formen, auch allein nur mit Ovarien versehen, also lebensfähig, und in
(') Diese 2 Arten sind neuerlich im europäischen Baumstaube auch beobachtet worden.
Phys.- Kl. 1847. Ftf
410 EHRENBERG:
Selbsttheilung erkannt wurden: ‚Synedra Entomon, Eunotia amphioxys,
Pinnularia borealis.
Andererseits weicht der Staub vom 31. Januar in einigen wesentlichen
Punkten vom Passatstaube ab, nemlich:
1) ‘Er ist sehr viel ärmer an Polygastrieis und reicher an Phytolitharien.
2) Es fehlen die charakteristischen Gallionellen, die Discoplea atmo-
sphaerica und Campylodiscus, so wie die Eunotiae des Wendekreises bis
jetzt gänzlich.
3) Er ist weniger eisenhaltig, weniger gelb.
Beimischung vulkanischer Crystalle.
Das Vorkommen von Crystallen, welche Pyroxen- und Hornblende-
Crystallen an Form und lauchgrüner, bei auffallendem Lichte zuweilen dunkler
Farbe, ähnlich sind, hat mich veranlafst die früher analysirten Passatstaub-
Arten auf diesen Character sämtlich noch einmal zu prüfen, da auf die unor-
ganischen Verhältnisse so specielle Aufmerksamkeit früher nicht verwendet
worden war. Zu grofser Verwunderung hat sich ergeben, dafs alle früher
genannten Meteorstaubarten, sowohl die atlantischen als die europäischen
eine ganz bedeutende eben solche Mischung von grünen und gelben, oft sehr
schön ausgebildeten, in Wasser nicht und in Säuren schwer auflöslichen, nur
meist sehr kleinen und sehr durchsichtigen Crystallen enthalten, so dafs
dergleichen Crystallbildungen künftig als wesentliche Mi-
schungsverhältnisse des Passatstaubes betrachtet werden müs-
sen. Schwierig freilich wird es noch eine zeitlang bleiben, die wahre Natur
dieser Crystalle wissenschaftlich festzustellen, zumal sich im Sciroccostaube
von Malta nun auch lebhaft bräunlich-rothe (hyacinthrothe) Säulen-Crystalle
jedoch stets nur mit unausgebildeien beiden Endflächen, öfter nur als Split-
ter gefunden haben.
Gerade solche, im Mikroskop lauchgrüne und braungrüne, ganz
ebenso geformte, dem blofsen Auge nicht zugängliche, in ihren Flächenver-
hältnissen schwer bestimmbare Crystalle und deren Splitter finden sich als
wesentliche, oft sehr zahlreiche Bestandtheile vieler vulkanischer Staubarten
und Tuffe, namentlich auch sehr zahlreich in den Tuffen der Eifel. In allen
vulkanischen Staubarten wurden die lauchgrünen bisher von mir für Pyroxen
und die braungrünen für Hornblende-Crystalle vorläufig gehalten. In den
Passatstaub und Blutregen. 411
Eifel-Tuffen sind diese selben Crystalle öfter mit den deutlichsten Augit-
und Sodalit-COrystallen lagenweis dicht gemischt(')
Das wären also doch sichtbare Spuren eingreifender Thä-
tigkeit der Vulkane in die über dem unteren Passatwinde lie-
gende obere, vielleicht sehr ferne Atmosphäre und deren
Wechselbeziehung auch dort zu dem organischen Leben.
Die Formen-Übersicht wird im folgenden Abschnitt vereinigt gegeben.
XL
Über den Meteorstaub vom 31. Januar 1848 aus Muhrau und
Niesky in Schlesien.(?)
A. Von Muhrau bei Striegau.
Da das Staub-Meteor, welches am 31. Januar d.J. bei plötzlich sehr
tiefem Barometerstande und gefrornem Boden mit Schneedecke sich über
Schlesien und Nieder-Österreich verbreitet hat, den bereits gegebenen Mit-
theilungen zufolge mit den Seirocco- und Passat-Staubmeteoren in enger
Beziehung zu stehen scheint, so erlaube ich mir folgende, die Kenntnifs
jenes neuesten Meteors erweiternde Nachrichten den früheren zuzufügen.
(') Diese lauchgrünen Crystalle sind meist schmale linienförmige 4-6seitige Täfelchen
mit 2 breiten und 2 oder 4 schmalen Längsflächen. Die Zuspitzung ist selten auf beiden
Enden vollendet. Meist ist ein Ende unregelmälsig abgestumpft. Die vollendete Zuspitzung
ist gewöhnlich ungleich im rechten oder stumpfen Winkel, meist so, dafs bei Äseitigen nur
die schmalen Seiten sich zuspitzen und eine Zuspitzungslläche kürzer, die andere länger ist.
Da wo beide Enden auskrystallisirt sind, entspricht auf gleicher Seite die kurze Endfläche
der entgegengesetzten langen. Aulfserdem giebt es fast regelmälsige sechsseitige blalsgrüne
Säulen mit auf den Kanten stehenden Zuspitzungsflächen an beiden Enden.
Lielsen sich die bei durchgehendem Lichte lauchgrünen und bräunlich- grünen, auch
zuweilen, besonders in Splittern ziemlich hochgelben Crystalle, deren Existenz unabweisbar
ist, anstatt für Pyroxen und Hornblende, für Olivin und Chrysolith ansehen, so würde der
Passatstaub nothwendige Mengen von Nickel ( pC. der Crystalle) enthalten
und es würde der Grund, warum die chemische Analyse bisher in solchem Staube keinen
Nickel fand in der zu geringen Menge des auf einmal analysirten Staubes liegen können.
Durch Beobachtung dieser Meteorstaub - Crystalle ist somit, wenn nicht Gewilsheit, doch die
Möglichkeit gewonnen, dals 50-100 pC. Nickel-Eisen (zu 3 pC. Nickel mit 97 pC. Eisen) recht
wohl in 1000 Centnern von Meteorstaub (mit 14 pC. Eisen) wie ein einziger Tag ihn öfter
gebracht hat, enthalten sein könnten.
(2) Monatsbericht Mai 1848 p. 195.
Fff2
412 EHRENBERG:
Der Geheime Oberbergrath Steinbeck hat mir ein Schächtelchen
mit Meteorstaub übergeben lassen, welcher am 31. Januar in Muhrau bei
Striegau in Schlesien gesammelt worden ist. Nähere Umstände sind mir bis
jetzt nicht angezeigt worden, nur ging aus vorheriger kurzer mündlicher
Mittheilung hervor, dafs auch dort ein Sturmwind gleichzeitig eingetreten
ist, und dafs der Staub durch die verschlossenen Fenster in die Zimmer
getrieben wurde.
Die Untersuchung des hellgraubraunen ins Gelbliche ziehenden, an
Farbe und allen übrigen Äufserlichkeiten den gleichzeitigen Staubarten von
Breslau und Wien gleichen Staubes von Muhrau, giebt für das Mikroskop
wieder auffallend genau dieselben Mischungsverhältnisse an organischen und
unorganischen erkennbaren Formen.
Im Ganzen sind in 20 Analysen nadelkopfgrofser Theilchen, bis jetzt
47 Formen, namhaft zu machen gewesen, von denen bei weitem die grofse
Mehrzahl ganz dieselben, wie in jenen bereits analysirten Staubarten sind. —
Der Staub zeigte bis jetzt nur dieselben 2 eierführenden Arten kieselschaliger
Polygastern und beide öfter auch mit den Ovarien, daneben bis jetzt keine
anderen Arten. Beide sind Süfswasserformen aller Länder der Erde. Ame-
rikanische Polygastern wurden nicht erkannt, auch keine Seeformen. —
Von Kiesel-Phytolitharien fanden sich 28 Arten, darunter 2 Meeresgebilde,
Spongolithis Caput serpentis und Triceros in Fragmenten, die übrigen alle
sind Süfswasserbildungen. Nur Lithodontium Scorpius ist eine vielleicht
eigenthümliche, neue Art. — Von kalkschaligen Polythalamien fand sich das
gewöhnliche, noch jetzt lebende Kreidethierchen Textilaria globulosa.
. Von weichen Pflanzentheilen fanden sich 11 Arten von Formen, das-
selbe Pilzsporangium, eine im Scirocco-Staube von 1803 zuerst gefundene
Conferva, dieselben glatten einfachen Pflanzenhaare, dieselben Moosfrag-
mente, dieselben Parenchym und Gefäfsformen. — Von Insecten Theilen
fanden sich 4 Arten, 3 Formen von Schmetterlings-Schüppchen und ein
vermuthlicher Flügel eines Zweiflüglers. — Von unorganischen Formen fan-
den sich unter vorherrschenden nicht vulkanisch veränderten Quarzfragmenten
dieselben lauchgrünen und blafsgrünen Crystalle.
Passatstaub und Blutregen. 413
B. Von Niesky bei Görlitz.
Die Probe ist von Herrn Apotheker Burkhardtin Niesky gesammelt,
welcher durch die Zeitungs-Anzeige meines Vortrages sich angeregt gefühlt
hat dieselbe an mich zu übersenden.
Der Boden hatte in der Umgegend meist seine Schneedecke und war
damals überall hart gefroren. Den Staub brachte ein Sturm. Die äufseren
Charactere des Staubes sind vollständig denen des vorigen und der übrigen
gleichzeitigen Meteorstaubarten gleich. Die Mischung ist ebenfalls wieder
sehr übereinstimmend.
Bei 20 Analysen nadelkopfgrofser Mengen sind bis jetzt 35 Arten
von Formen beobachtet. — Unter den 9 Polygastern sind auch die beiden
der vorigen Staubart und nur diese beiden allein sind mit Ovarien versehen.
Dieselben sind im Scirocco und Passat-Staube ebenso bereits angezeigt.
Meeresformen und amerikanische Formen wurden vermifst. Unter den 19
Phytolitharien findet sich aber Spongotlithis robusta als Meeresgebild. —
Polythalamien wurden vermifst. — Die weichen Pflanzentheile sind denen
der übrigen gleichzeitigen Meteorstaubarten meist gleich. Der Fichtenblü-
thenstaub scheint mir anderen Fichten-Arten anzugehören, und erinnert an
den der Picea pectinata, während er bei den übrigen mehr dem der Pinus
sylvestris gleicht. Dieser ist gröfser, jener constant kleiner. — Insecten-
fragmente fanden sich nicht.
Die unorganischen Theile, welche dem Volumen nach, wie überall,
vorherrschende Masse sind, scheinen meist kleine Quarzfragmente ohne
Spuren vulkanischer Einwirkung zu sein. Säure verändert sie nicht. Dar-
unter sind aber die kleinen grünlichen Crystall-Prismen der vulkani-
schen Tuffe.
Beiden Staubarten fehlen wieder mehrere der Hauptformen des Pas-
satstaubes und des südeuropäischen Scirocco-Staubes, aber viele der wesent-
lichen sehr ins Einzelne gehenden Charactere der Mischung sind völlig
dieselben nach folgender Übersicht: (2)
(‘) Ein Lehrer in Berlin hat mir etwas spät nach diesen zur öffentlichen Kenntnils ge-
kommenen Mittheilungen die schriftliche Nachricht gegeben, dals er sich erinnere, wie am
gleichen Tage auch bei Berlin gegen den Gesundbrunnen hin eine starke Lage Staub auf dem
Schnee von ihm bemerkt worden sei. Da die Erscheinung sehr lokal und ohne Sturm gewe-
sen, so halte ich es nicht für hierher gehörig. Eine Probe ist nicht gesammelt.
414 EHRENBERG:
Meteorstaub vom 31. Januar 1848.
Breslau. a = & 8 3 =
ER a. a5s|2 = =) ir
ne (Ele een
Polygastrica: 16. a a a tz oe
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Enchelys (hyalina) ala | +
Desmogonium guyanense fragm. |\— | — | —- | —- | +
Difflugia areolaia lH
Discoplea a | — | > en
Eunotia amphioxys Firi el + | riererg
Fragilaria rhabdosoma? — |— |+
Gomphonema gracile -|-|1-|— | | (me
Navicula Semen te eepee | | nee
Pinnularia affinis — Dee |, — er
borealis +|+|+ | +|— | ae
viridis — 1er
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Synedra Entomon +/+|+|+
Ulna 1 — N le | 28?
? (an S. Entomon) | |+
Phytolitharia: 44.
Amphidiscus truncatus +|— | ||| — | Sr
Lithasteriscus tuberculatus +|- |-|-| - | - | +
Lithochaeta laevis | nl Eee
Lithodontium Bursa — ern error
curvalum — | — |+
excisum — 7 — 3 — ler
furcatum ++ +++ |+| + | +
nasulum +'+|i—-'—-|'+|—- ı +
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platyodon || — (Hier
rostratum er el NE Eee
Scorpius U BEZ ee ER 1 57 0 1 2
Lithostylidium Amphiodon Sri | Eee ee
angulatum IF | + Riesen
Passatstaub und Blutregen.
Lithostylidium biconcavum
clavatum
Clepsammidium
crenulatum
Emblema
Formica
laeve
obligzuum
polyedrum
Pecten?
quadratum
Rajula
rostratum
Rhombus
rude
serpentinum
Serra
spiriferum
spinulosum
Trabecula
unidentatum
ventricosum
Spongolithis acicularis
Caput serpenlis
cenocephala
fistulosa
Joraminosa
Fustis
robusta
Triceros
Polythalamia: 2.
Grammostomum
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416 EHRENBERG:
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Plantarum partes molles: 13.
Seminulum plantae reniforme lawe \— \— | — | — +
Sporangium Fungi Far + | Fer
Confervae utrieuli . - |-|-|- | -|-|+
Pilus plantae simplex laevis = | na ner || = || =
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Zusus | +
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Musci frondosi parlicula — I1— I#+|—- | —1-|+
Cellulae plantarum parenchymaticae | — |+ | — | — | —-| - | +
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Pollen Pini majus (P. sylvestris?) — Ne Al He
minus (Piceae pectinatae?)| — — | — | -| —- | -— Be
Insectorum particulae: 5.
Squamula Lepidopteri 5-dentata ee
integra re ae ur le
integra aia\— | — — — | +|- | +
Ala Dipteri Rn a a a EN IE |
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Anorganicae formae: 5.
Crystalli Spathi (albi) cubici er | —
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columnares pallide virescentesl ++ + | — | -| - | +
alliaceo virids |+ + + + | + | + |+ | +
Pumiceae particulae +
Passatstaub und Blutregen. 417
XI.
Kurze Übersicht der neuesten Zusätze bis zum Jahre 1849.
Da die Verhältnisse des westafrikanischen Küstenlandes als in einer
ganz direeten Beziehung zum Luftstaube des atlantischen Meeres stehend,
oft bezeichnet worden sind, so waren neuere Materialien vom Bonny-Flusse
(Niger) von besonderem Interesse, welche ich zu erlangen bemüht war, und
zu untersuchen auch Gelegenheit hatte. Das Detail dieser Untersuchung
wurde der Akademie vorgetragen und findet sich in dem Monatsberichte
Mai 1848 p. 227 gedruckt. Es möge hier nur bemerkt sein, dafs Eunotia
amphiosxsys und Pinnularia borealis nicht unter den Formen sind, welche
das Flufswasser in Guinea mit sich führt, wohl aber Fragmente von Gallio-
nella granulata und procera mit noch anderen Gallionellen. Die dort im
Flufswasser vorhandenen Meeresthierchen finden sich nicht im atlantischen
Luftstaube.
Eine neue Seite der mikroskopischen Forschungen wurde ebenfalls
im Mai 1848 der Akademie vorgetragen (!), welche später sehr fruchtbar
geworden. Es war dies die Beobachtung eigenthümlicher auf den
Bäumen des Urwaldes in Südamerika zahlreich lebender mikro-
skopischer oft kieselschaliger Organismen. Diese auffallende Er-
scheinung einer eigenthümlichen bisher nicht geahneten Baum-Fauna war zwar
nicht unmittelbar in ihrer Beziehung zu den Passatstaub-Organismen sogleich
entscheidend einflufsreich, allein sie war doch von hohem Interesse und
anregend zu beschleunigter Untersuchung mehrfacher Lokalitäten aus den
verschiedenen Erdgegenden, wodurch vielerlei Neues erlangt wurde, was
denn auch für diese Passatstaub-Verhältnisse speciell erläuternd geworden.
Die Kenntnifs der in der Atmosphäre hoch abgelagerten, mithin periodisch
getragenen Formen, war für Süd-Amerika, zumal für die Nähe jener Gegend
von woher man viele der grofsen Wirbelorkane ableitet, die sich bis Europa
erstrecken, wichtig.
Eine neue Beobachtungs-Methode mit Hülfe des polarisirten Lichtes
wurde gleichzeitig, als die Analyse und Unterscheidung der Substanzen be-
deutend erleichternd und schärfend, angewendet, und darüber der Akademie
() Monatsbericht 1848 p. 213.
Phys. Kl. 1847. Gag
418 EHRENBERG:
ebenfalls im Mai Vortrag gehalten, dessen Fortsetzung 1849 im Februar
erfolgte. (')
Das weitere lebhafte Nachdenken und Erwägen dieser Verhältnisse
führte in derselben, durch eine epidemische schwere Krankheit aufgeregten
Zeit zu der ernsten Beschäftigung mit dem gewöhnlichen Luftstaube oder
Sonnenstaube hin. Daher entstand die Mittheilung neuer Beobach-
tungen über das gewöhnlich in der Atmosphäre unsichtbar getra-
gene formenreiche Leben mit Übersicht von 109 Arten als Mafsstab
für Ungewöhnliches, welche im August 1848 der Akademie vorgetragen
wurde. (?)
Die in Berlin herrschende Cholera führte darauf die eigenthümliche
Untersuchung und Reihe von Aufschlüssen herbei, Erscheinungen betreffend,
welche bis dahin mit den blutfarbigen Meteoren verzeichnet wurden, die
sich aber nun völlig ausschieden. Es war das der Akademie im October
1848 vorgetragene seit alter Zeit berühmte Prodigium des Blutes
im Brode und auf Speisen als gegenwärtige im frischen Zustande
vorgelegte Erscheinung in Berlin, erläutert durch ein bisher
unbekanntes monadenartiges Thierchen (Monas prodigiosa).(°)
Dieser in kirchlichen Beziehungen überaus einflufsreich gewordenen Natur-
Erscheinung, welche Tausenden von Menschen durch Hinrichtung und fana-
tischen Mord das Leben gekostet, wurde ihre Parallele in den lebhaft him-
melblauen und orangegelben kleinen Organismen festgestellt, welche die
ebenfalls oft sehr unheilvoll gewordene blaue und gelbe Milch der Kühe
beim Sauerwerden, meist auch nur auf der Oberfläche bedecken, so dafs
die Lebensweise dieser Thierformen sich weniger den Wasser-Infusorien, als
den Dachsand- und Baummoosthierchen anschliefst. Da von der Monas
prodigiosa mehr als 884 Billionen (884,736 000,000,000) Einzelwesen in den
Raum eines Cubikzolls gehen und da binnen 6 Stunden sich aus der gering-
sten Spur eine Cubikzoll-grofse Masse bildet, so wurde hierin zugleich
das feinste und kräftigste bisher beobachtete selbstständige Le-
bens-Element erkannt, was gewils noch manche Räthsel einst lösen
(‘) Monatsbericht 1848 p. 238. 246. 1849 p. 61.
(2) Monatsbericht 1848 p. 325. Erste Tabelle p. 346.
(32) Monatsbericht 1848 p. 349. Blaue Milch p. 358. Die gelungene Aufbewahrungs-
methode wurde im December vorgezeigt. Ebenda p. 462.
Passatstaub und Blutregen. 419
wird. Ferner wurde ebenfalls im October eine zweite vergleichende Über-
sicht von wieder 121 mikroskopischen Atmosphärilien des gewöhnlichen
Luftstaubes, namentlich auch aus den Cholera-Verhältnissen, so wie von
Thürmen und Bergen naher und ferner Erdgegenden mitgetheilt. (1)
Eine fruchtbare einfache Untersuchungs- Methode der Luft auf ihre
Staubmischung wurde im December der Akademie vorgetragen. Sie hat
ihre Bedeutung besonders für solche Fälle, wo die electrischen Verhältnisse
die Ablagerung des Staubes hindern. (?)
Eine dritte Reihe von Untersuchungen und Übersichten der gewöhn-
lichen Staubverhältnisse der Atmosphäre wurde im Februar 1849 mit 108
Formen vorgelegt. Sie hatte den speciellen Zweck eine erste Basis und
Material zur Vergleichung der epidemischen Krankheitsperiode zu schaffen,
und sie hatte räumlich in fast gleicher Zeit von der Ostsee bis Ägypten aus-
gedehnt werden können. Der aus Agypten frisch,herbeigezogene und vor-
gelegte Häuserstaub der Atmosphäre von Cairo, von Farbe grau (vgl. p. 298.),
erwies sich zugleich direct als verschieden vom zimmtfarbenen Passatstaube.
Gleichzeitig wurde auch die, bisher nicht hinreichend begründete, Existenz
ungepanzerter Polygastern im Luftstaube nachgewiesen und ein Verzeichniss
derselben mitgetheilt. (?)
Auch die blutartige von diesen Meteoren nun ganz abzusondernde
Färbung im Brode wurde im März dieses Jahres von Neuem historisch und
physiologisch weiter erläutert. (*)
Am 28. März 1849 regnete es in Catania in Sicilien unter starkem
Südwinde einen feinen blutrothen Sand. In der Beilage zur Augsburger
Allgem. Zeitung vom 18. April ist zu dieser Nachricht bemerkt, dafs der
Sand wahrscheinlich von der afrikanischen Küste herübergetrieben worden.(°)
Am 14. April regnete es im südöstlichen Irland nach aufserordentlicher
Finsternifs unter Hagelsturm und Blitzen ohne Donner eine schwarze rufs-
artige Masse, wie Tinte.
(') Monatsbericht 1848 p.370. (2) Monatsbericht 1848 p. 440. (2) Monatsbericht
1849 p. 61. (*) Monatsbericht 1849 p. 104.
(5) Nach einer hierüber durch Herrn Dr. Peters auf meine Bitte von Herrn Gemellaro
eingezogenen Nachricht, ist der im Mai zu Catania gefallene rothe Staub, dort eine sehr häufige
Erscheinung (fenomeno frequentissimo in questo suolo), besonders bei starkem Scirocco (SO.),
wenn die Luft trübe und dunkel wird, dabei falle auch zuweilen leichter Regen. Die Pflanzen
Ggg2
420 EHRENBERG
Der Professor der Chemie, Herr Barker in Dublin erhielt eine Flasche
voll aus Carlow, und fand bei vorläufiger chemischer Prüfung einen deut-
lichen rufsartigen Kohlengehalt als schwarze Färbung, obwohl vielen Rufs
gebende Kohlen dort nirgends gebrannt werden. Derselbe erstattete darüber
Bericht in der Dubliner Societät der Wissenschaften. Der schwarze Nieder-
schlag war über 400 und nach späteren Nachrichten über 700 engl. TIMeilen
gefallen. Die betroffenen Ortschaften sind: Abbeyleix, Kilkenny, Carlow
und Athy. Der schwarze Regen war schr übelriechend von unangenehmem
Geschmack und machte Flecke auf Leinewand. Die mannichfachen bereits
vorn erwähnten historischen schwarzen Meteore regten mich an bei Herrn
Prof. Barker selbst das Nähere zu erfragen, und ich erhielt von ihm eine
Probe der schwarzen Flüssigkeit, welche am 5. Juli der Akademie samt
meiner Analyse vorgelegt wurde. Die bisher noch nie geschehene genaue
mikroskopische Untersuchung eines schwarzen Schlammregens, ergab bei
diesem: 1) dafs die schwarze Färbung weder durch vulkanischen
Staub (Asche), noch durch Rufs hervorgebracht worden, son-
dern durch eine Beimischung von, bald mehr bald weniger ver-
rotteten, schwarzen Pflanzentheilchen, 2) dafs in der Mischung
sehr viele andere organische theils Thier- theils Pflanzenkör-
perchen sind, nemlich, aufser den verbrennbaren, sowohl kieselschalige
Polygastern und Phytolitharien, als auch kalkschalige Kreidethierchen;
3) dals sehr viele lebende Thierchen, die freilich schon über
2 Monatealte Flüssigkeit erfüllten. Danach wurde dieser tintenartige
irländische Regen keineswegs als ein Rufsregen, sondern beobachtungsmäfsig
als ein (durch langes Herumziehen mit Wasserdunstwolken) verrotteter
und zersetzter, daher übelriechender sehr wahrscheinlicher
bedecken sich dann mit einem unfühlbaren Staube von ziegelrother Farbe (di color di mattone).
Die Landleute nennen es rossa und verwünschen es. Beim Regen färbe es das Wasser roth.
Der Geschmack sei zuweilen zusammenziehend, zuweilen salzig. Man leite es allgemein aus
den Wüsten von Ägypten und Syrien ab. An der Ostküste Siciliens sei dieser Wind fast
der herrschende. Die Erscheinung gehe aber nicht über 10 Meilen von der Küste ins Land.
In Palermo nenne man einen anderen Wind Scirocco, der aus den heilsen Thälern kommt,
derselbe heilse Levante caldo in Trepani, Tramontana calda in Girgenti und Sciacca, Ponente
caldo in Catania. Jener sei ein afrikanischer Wirbelwind (turbine africano), der sich über
Sicilien verbreitet. Proben vom Mai d. J. waren nicht zu erhalten.
Passaistaub und Blutregen.
421
Passatstaub- oder Blut-Regen bezeichnet, welcher dem bei Canada
1814 gefallenen Meteore sehr ähnlich sei.(')
Folgende 25 Bestandtheile wurden in Zeichnung und Präparaten vor-
gelegt:
Kieselschalige Polygastern:
1. Eunotia Amphioxys.
2. Navicula Semen.
3. Synedra Ulna.
Panzerlose Polygastern:
Monas viridis lebend und bewegt.
Ar
5. Spirillum Undula lebend und bewegt.
Kieselerdige Pflanzentheile:
6. Lithodontium Bursa.
7 Jurcatum.
8. rostratum.
9. Lithostylidium Amphiodon.
10. Clepsammidium.
Aal. laeve. “
19% quadratum.
18% rude.
14. spinulosum.
Negative wichtige
Kein Rufs, die schwarze Färbung
aus verrotteten Pflanzentheilen.
Kein Bimsteinstaub.
15. Lithostylidium Trabecula.
16. Spongolithis acicularis.
Kalkschalige Polythalamien:
17. Rotalia globulosa.
18. Textilaria globulosa.
Fragmenta varia multa.
Weiche Pflanzentheile:
19. Conferva tenuissima? lebend.
DD
==)
. Ulvae granulatae particulae.
21. Pflanzentheile: Epidermis.
DR Spiralgefäfse.
283. Fasergefäfse.
24. Zellgewebe.
Unorganische Theile:
25. Feiner unorganischer doppelt
lichtbrechender (Quarz-?)
Sand.
Characiere sind:
Kein Obsidianstaub.
Keine vulkanischen Crystalle.
Keine verbrannten noch gefritteten
Theilchen.
)
Athenaeum vom 12. Mai London 1849 p. 500 No. 1124. Monatsbericht Juli 1849.
Der von mir analysirte schwarze geruchlose Aschenregen von den Orkney-Inseln
vom 2. September 1845 (s. Monatsbericht 1845 p.
398 1846 p. 376), war unzweifelhaft vulkanisch,
ebenso der Maistaub von St. Vincent 1812 s. Monatsber. 1847 p- 152.
Am 6. Juni erschien in Kiew ein unerhörter Staub-Orkan aus Süd-West mit schwarzen
Wolken, Regen und Gewitter.
Vossische Berliner Zeitung 8, Aug. 1849 Beilage.
4923 EHuRrENBERG:
Monas viridis bildet eine so starke Belebung, dafs die schwarze
Farbe und sich absondernde klarere Flüssigkeit dem blofsen Auge grünlich
erscheinen. — Ausländische Körperchen sind nicht beobachtet.
— 1 LED Dr nn —
Historische Übersichts - Tabelle
des
Passat-Staubes so wie ähnlicher besonders blutfarbiger und
Nebel-Meteore in Verbindung mit Feuer-Meteoren und
Meteorsteinfällen.
Erklärung der Zeichen.
—+ Blutregen, Blutthau, Blutschweils der
Statuen.
*_—? Staubregen nicht vulkanischer Art,
nicht roth.
* _—! rother Staub.
N Nebel und Wolken ähnlicher Art.
AxX übelriechender Nebel.
! rothe oder gelbe Farbe des Meteors.
x übelriechender oder ätzender Regen.
ZI rother frischer Schnee.
HH-! rother Hagel. HHX stinkender Hagel.
& dunkle Kugeln in der Luft.
© Gleichzeitiges Feuer - Meteor.
@ Gleichzeitiger Meteorsteinfall.
& heiterer Himmel gleichzeitig.
A
Y Blutige Ähren im Felde (= Sommer).
—? fragliche Masse, (?) fragliche Zeit.
ww rothe Flüssigkeiten, Flüsse.
2 rothe Meeres - Färbung.
. Blut in Brod und Weinbeeren.
6 o rother Insecten - Auswurf?
( ) doppelte Zeit- Angabe.
A Milchregen.
& Blitze und Donner gleichzeitig.
+tr Kreuze auf den Kleidern der Leute.
—* verglichene Stellen der Geschichts-
Quellen.
** directe eigene Beobachtung je einer
Local - Erscheinung.
!! ununterbrochene Fortdauer des Staub-
Fleischregen. falles angezeigt.
& sezeas
Vor Christus.
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Passatstaub und Bluiregen. 42
Zahlen-Übersicht
der
directen Beobachtungen nach den Jahrhunderten.
Vor Christus.
16tes Jahrhundert 1 Fall. 4tes Jahrhundert 4 Fälle.
40tes « 3 Fälle. Ites « DDERe
Stes « 1 Fall. Ftes « 3 «
Dies « A Fälle. 1stes « 18 «
81 Fälle.
Nach Christus.
1stes Jahrhundert 5 Fälle. 11tes Jahrhundert 6 Fälle.
Ites « AwRalle 1Ptes « 11 «
Ites « 2 Fälle. 1dtes « 6 «
Ätes « 4 « 1Ates « SS «
Dtes « Ic 1dtes « 6 «
6tes « 10 « 16tes « DA «
Ttes « < 1 Ttes « BT v«
Sies « 6 « 18tes « 29 «
Ites « 109% 19ies « 63 «
7, i a 259 Fälle.
31 «
340 Fälle.
Phys. Kl. 1847. Hhh
426
EHrENBERc:
Monats-Tabelle
der
Passatstaub-Meteore und verwandten Erscheinungen,
Januar. |
|
+ 19()@ ©%
583 ©
859 (?)
860 (?)
364 (?)
I 1056
I 1226
+ 1349
A?-+ 1446 ©
+ 1532
+ 1551 ©?
+ 1557 ©?
x ae
+ 1559 ©
A512
—+- 1643
—+- 1645
+ 1741
ZI ısıo
N* asız !!
* 1822 !
#* 1825 |
*#* 1533 !
A* ıs37 !!?
* 1839 !
HIX 1846 ?
KR 4S4s?
HHH>
soweit die Nachrichten dafür ausreichen.
Februar.
ww} 1349
—+- 14416
+1557 ©
AN 1665 !
N 65?
(0° 0)+ 1691 ?
AN 1692 !
NAx 1753 ?
N* ısı7z !!
* 41933 !
A* 1ıs37 !!?
* 1538 !
* 1839 !
*ısdı !
14
Mara. MT
Vor Christus.
PA 1576 (?)| + 182
(179)
Nach Christus.
NA sıı @?
+ 1009
x+ 112008 + 1334
+ 54
x+ 55300) + 1117
A 1551 A-+ 1416
+ 1647 ? N 4547?
N 1665 & + 1551
—- 1669 —- 1568
I 1678 + 1809
+ 1721 © * 15101?
Fiss *L ısı6!
*% Sn * 46!
I ısos A* ısız!!
A# 1512 ? + 1819?
+I*#* ısı3 @!| *ısao!
N* asız !! | A%*ıs37 11?
* 4521! #4839?
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A* 1537 ?!!
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* 1541 |
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* 1849 |
23 18
| Mai. |
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+ 1006
+ 1554
—+- 1556?
+ 1571
mann 1620 ?
x 1629 ©?
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N 1750?
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* 1508?
NA*asız !!
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* 4534!
N* 1537 !!?
* 1840!
l/h
Ye 1846
Juni.
(0° 0)4990
(+ 1017 )
+ 1113
+ 1114
—+ 1163
+ 1416
am 1550 ?
— 1552 ?
+ 1553
++ 1555
55
+ 1617
am 1677
x A731
N 1783 ?©
Nyasız I!
* 1822
N* 1537 ?!!
* 1849 ?
Peer
nam
Passaistaub und Blutregen.
427
Juli. | August. |September. | October. | November. | December.
Vor Christus
A+ 217?@ © | 5 1577?) [A+ 184(?)
AY 206 ?® (+ 169 @O%)
Nach Christus
+ 1550 A 358 N 1556? | Aısas? * 473 ? * 49092!
+ 1553? | m 1144? AX-+ 1716? | + 1539 + 1548 © + 1269 ©?
+ 1608 ? + 1147 + 1759 @| A1634 ©?| + 1755 + 1549
+ 1646 + 1163 NAtısıs? | + 1646 * 1765 ! + 1556 ©?
x 1771 ©? -+ 1165 A*uısız!! | L1755 N 1799 O&| -+1560©
* 1sı4? + 1433 @O?| A* 1s34 * 55? * 4810 * 1586 ©
A* ısız !! |P+ 1548 N*ısa7 !ı?| # 55? * ısı4 @ # 1637?
* 1818? | HX 1552 + 550 |A*asır !! * 1737 O?
A* ıs37 !!?|) + 1618 @ + 1763 + 1819? 1801 ©
+ 1623 © + & * 49? A*# ısı7 !!
Ax# 1716? (1764 ) N 1834 ? A * 1837 11?
* 1515! NA ı7s5 ? N* ıs37 !!? A 1840 !
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A* 1837 !!? A ısıo! A 1340 !
1841 ©? * + 1814! I 1843 &
A* ısı7 !! * 0.459
—+* 1830 !&
A* 1837 !!?
—+* 1846 !
9 17 Mi 18 16 14
Hhh2
428 EHRENBERG:
Geographische Übersicht der Staubfälle nach den Ländern.
Europa.
1. Italien mit den naheliegenden Inseln.
Vor Christus. Nach Christus.
—— L . ..
718 215 202 182 143 117 95 42 14 746 1652 Bl aus
710 214 200 181 140 114 9A da 54 859 1689 869 p-C. 1510 217 2.C.
46 213 194 177 137 a1 93 37 61 86h rag 874 220 p.C.
344 212 193 172 136 108 92 30 68 1104 1791
295 211 192 169 134 106 91 10 70 1113 1803 Sicilien. Malta.
294 210 191 167 128 102 88 79 114 1808 ° 9172.C. 1830 p. C.
262 209 190 166 126 100 75 90 1128 1809 559p.C.
223 208 188 163 125 99 53 202 1222 1810 49803
217 205 184 152 124 98 48 570 1456 1813 4849 sehr häufig.
216 203 183 147 118 96 AA 594 1530 1816
2. Deutschland.
787p.C. Baiern. Mecklenburg. Ostfriesland. Schlesien.
1009 1502 1552 1648 1571 4548 1848
1010 1534 1554 Meiningen. Preufsen. 1556
1337 an 1556 1576 1006 1557 Schweitz.
1501 ass! Niellande, 1501 1572 1434 1556
21503 Bernburg. n. (Bekien 1545 1668 1438 1755
1539 1576 f 5 = 1548 1677 1146 1847
1548 Böh ee 1550 1848
en ; ö = 1120 1646 Westphalen.
1416 8 .
1555 2 ‘ ö. Holland. Rheinlande. IE
1556 155 1539 1645 1568 Würtemberg.
41691 Braunschweig. 1552 1763 ee 1643 1721
1745 1376 14549 1638 1764 ea 1647 1755
Hannover. Oesterreich. 1540 1555
1586 1226 1620 4547 1557
Hessen. 1348 1716 1549 4576
839 1821 1349 1803 1550 1676
869 1618 1848 1551
3. Frankreich. 4. Piemont. 5. Spanien. 6. Portugall.
434 860 1551 1617 1676 1830 1846 (Genua.) aNG. 275 531 1551
464 aor1 1559 1623 1731 1839 935 1814 p.C. 1438? 1531
541 1114 1560 1634 1748 1841 Elsafs. 1678 1841
581 1163 1608 1658 1763 Al 1559 1744 1847
583 1165 1616 1669 1765 1846 1623
Passatstaub und Blutregen.
429
7. Ungarn. 8. Griechenland. 9. Europäische Türkei.
1546 a.C.450 p.C. 1147 266 652
1848 488 1637 458 782
1194 473 860
412
10. England. 11. Schweden. 12. Polen. 13. Rufsland.
53 1755 1319 1629 1269 1755
570 1849 1529 1711 1550 1849?
1274
Africa.
(Nebelküste, ununterbrochener Staubfall).
Vor Christus. Nach Christus.
Atlantischer Ocean
mit den Inseln.
En n ab N Dunkelmeer. Capverden.
1577 1160 1627 1821 1838 1840 1579 1812 1579
400 1181 1810 1822 38 (1631) 1816 1692
37 1421 1810 1825 1839 1668 1830 1833
35 1555 1815 1826 39 1683 1833 PART:
1 .
30 1557 1817 1836 39 1692 1834
18 1606 1820 1837 1840 1719 1683?
Asien.
Arabien. Palästina Klein-Asien. Persien. Indien.
570 und Syrien. mit Armenien. 1076 (Nebelgebirg.)
1065 a.C. 910 1348 a.C. 950 929 1650
1365 332 4546|, p.C. 358 ,/,1819 1815?
1680 100 1637 860 1835
1825 p- C. 610 897 1846
China. Indischer Ocean.
333 1334 1665? 1801?
811 65 1815?
America.
Süd-Amerika.
1635? 1799
1680 1802
1737 1812
Australien.
1841?
Nord-Amerika.
1741 1814
1780 1843
1785 43
430
00-100 N.B.
10° -20°
20° -30°
30° -40°
40° - 50°
50° -60°
60° -Pol.
EHRENBERG:
Geographische Übersicht nach den Breiten.
Afrika’s Nebelküste von Ober-Guinea (Bonny,
Niger). Amerikas Staub-Orkane von Guyana.
Rother Hagel von Bogota. Staubfall
periodisch, jährlich, häufig.
Senegal, Gambia, Capverden.\ Nebelküste
Beständiger Staubfall bei | von Afrika.
Afrika. Im stillen Meere | Dunkel-
keine Beobachtung. Antillische Meer.
Staub-Orkane. Cumana. StauBe
Cap blanco, Bojador, Canarien,| Orkane der
Arabien, Beludschistan, China.| Antillen.
Beständige Haupt-Ne-| Beludschi-
belküste von Afrika. stan.
Nebelgebirg in Mittel-Asien. Sicilien, Süd-
Spanien, Aegypten, Syrien, Griechenland,
Türkei (Edessa, Bagdad). Mittelmeer.
Sehr häufiger Staubfall.
Italien, Frankreich, Süd-Deutschland, Schweitz,
Piemont, Ungarn. Jährlicher oder
häufiger Passatstaubfall.
Nord-Deutschland, England, Schweden, Polen,
Rufsland. Seltner Staubfall.
Keine Beobachtung.
0°-10°S.B. Aus den Sunda-
10° - 20°
30° -30°
30°- 40°
40° - 50°
50° -60°
60° -Pol.
Inseln,
Congo u. Süd-
Afrika keine
Beobachtung.
vom
1815?
Indisches Meer.
1665? 1665? 1801?
Mascarenen, in-
discher Ocean.
1635? Valdivia.
1737? Chiloe
1841? Südocean
bei Neuholland.
Keine Beobach-
tung.
Keine Beobach-
tung.
Passatstaub und Blutregen. 431
Übersicht der Resultate und Anregungen. (1,2)
Je mehr ich mich mit diesen Untersuchungen des atmosphärischen
Staubes beschäftigt habe, desto mehr fühle ich, dafs der Gegenstand von
grofser mannigfacher und rasch wachsender Bedeutung ist, dafs er mit nicht
wenigen herrschenden und wichtigen Vorstellungen in Widerspruch tritt und
neue wissenschaftlich wichtige Vorstellungen hervorruft und begründet. Es
ist nur ein Anfang einer künftigen grofsen Erkenntnifs. Möge der hier fol-
gende Versuch, aus den Beobachtungen, welche ich mühsam, sorgfältig mit
möglichster Prüfung und Umsicht sammelte, Resultate zu ziehen, weder
Unwichtiges zu scharf hervorheben, noch die wichtigeren, zu einer richtigen
weiteren Forschung anregenden Gesichtspunkte, übergangen haben. Der
Nachsicht in Worten und Formen glaube ich bei Edlen gewifs zu sein.
1) Die hier unter dem Namen Passatstaub zusammengestellten Erschei-
nungen der zimmtfarbenen und davon abhängigen Staub-Meteore sind bisher
als Staub-Orkane, rother Staubregen, rother vulkanischer
Aschenregen, Blutregen, Blutthau, blutiger Schweifs der Steine
und Statuen, blutiges Gewässer, blutige Ähren desFeldes, rother
frisch gefallener Schnee, Niederfall geronnenen Blutes, Fleisch-
regen, Schlammregen, Lehmregen, übelriechender ungesunder
Regen, Ziegelsteinregen, Tintenregen, Meteorstein-Gewölk,
Meteorstein-Staub und Gallerte, gelbe und feuerrothe dicke
Wolken, breunender Himmel, Nebelküste von West-Afrika und
atlantisches Dunkelmeer oder Meer der Finsternisse verzeichnet
worden, wahrscheinlich sind sie auch als Nebelgebirg in Mittel-Asien,
als Feuer-Regen, als rother Hagel, als trockner Nebel, als Höh-
rauch, als rother in Schaafwolken übergehender trockner Dunst
(') Da der Druck dieser Abhandlung im Jahre 1849 vollendet wird, so sind im Interesse
der Sache die geschichtlichen Materialien bis dahin in die Übersicht aufgenommen worden,
so wie auch die zur Erläuterung aller früheren Mittheilungen nothwendigen Abbildungen
hier erst beigegeben sind. Die Zusammenfassung der Mittheilungen in derselben historischen
Folge wie sie gegeben worden, schien als ein überzeugendes Element richtiger Entwicklung
derselben für künftige Forscher nützlich, während andere Leser aus den hier folgenden kurzen
Resultaten eine leichtere Übersicht gewinnen können.
(2) Im Monatsbericht 1847 p. 318 und 362 sind die wesentlichsten Resultate bereits in
anderer Folge bezeichnet.
4323 EHRENBERG:
der Atmosphäre, als Licht reflectirende Schaafwolken, als Hof
der Gestirne, als die Erde fegender Kometenschweif, sicher aber
als Weltstaub und als kleine chaotische kometenartige Weltwolke
(Chladni 1813) in mannigfache wichtige Betrachtung gezogen. Ob der
3tägige sonderbare Höhrauch von 1547 zur Zeit der Schlacht bei Mühlberg,
welcher Keplers Phantasie lebhaft beschäftigte, und ihm die Veränder-
lichkeit der Himmelsmaterie vor Augen legte, aus deren periodischer Ver-
dichtung zunächst Kometen entstehen könnten, welche durch die Sonnen-
wärme siderische Bewegung erhielten, und wovon mehrere der obigen Be-
zeichnungen ihren Ursprung nehmen, hierher gehört, ist nicht nachweisbar,
aber eben so wenig abzuweisen. Das Bekannte der Erscheinung ist bereits
fast grofs genug um auch dies in sich aufzunehmen. (')
2) Der Name Passatstaub wurde hier (seit 1847 Monatsbericht p. 312)
für die atlantischen Staub-Meteore zuerst angewendet. Die Verbindung des
atlantischen Staubes mit dem Passatwinde, nicht dem Harmattan, ist 1816
von Capitain Tuckey bestimmt ausgesprochen, sie ist durch das preufsische
Seehandlungsschiff Capitain Wendt von 1830 an erkannt und gemeldet,
1837 von Burnett, 1839 von Capitain Hayward ausdrücklich angezeigt.
Auch der Admiral Roussin sondert die beständigen Küsten-Nebel vom
periodischen Harmattan 1817.
3) Die zusammengestellte historische Übersicht, deren Einzelheiten bis
zu guten, oft den ersten Quellen, so weit sie bisher zugänglich waren, revi-
dirt sind, zeigt, dafs die hauptsächlichste sicher bekannte Verbreitung des
Phänomens an der Westküste von Mittel und Nord-Afrika und von da nord-
östlich ablenkend über Italien gegen Armenien in der Richtung des Mittel-
meeres ist, in ersterer Gegend ununterbrochen fortdauernd, in letzterer stets
periodisch, dafs sie sich aber zuweilen über das ganze auch das nördliche
(‘) Die ruhigen Beurtheiler begegnen sich in der wie durch Kepler, so durch Alex.
v. Humboldt in dem die Völker belehrenden Kosmos, empfundenen Nothwendigkeit einer
gestaltlosen und bildsamen kosmischen Materie. Sie mag wohl existiren und Störungen
siderischer Bahnen und Kometen erklären. Ob aber einzelne historische Fälle gerade dazu
gehören, wird bis auf directen Nachweis nicht terrestrischer Verhältnisse in denselben uner-
ledigt bleiben. Nie würden auch jene Forscher und Denker terrestrische Formen in kosmi-
schem Staube zugeben! Die Nothwendigkeit der speciellen Prüfung tritt jetzt mehr als sonst
hervor. Sie geschehe durch das Licht polarisirende Mikroskope oder Teleskope.
Passatstaub und Blutregen. 433
Europa und bis Schweden und Rufsland seltner verbreitet, in Asien aber
zwischen dem caspischen Meere und dem persischen Meerbusen (Balkh,
Kufah, Bagdad) durchziehend, vielleicht bis Turkistan, Beludschistan,
Kaschgar und China reicht. Ja in Kaschgar Mittelasiens tritt sogar ein Ver-
halten wie bei West-Afrika hervor, wo die warme stets aufsteigende Luft-
säule über dem breiten Continente der stetigen Fortbewegung des oberen
Passates und Staubstromes von Westen nach Osten ein beständiges Hinder-
nifs wird, auch vielleicht dessen Abweichung nach Norden veranlafst. Aus
Süd-Amerika sowohl, als Nord-Amerika sind nur vereinzelte Fälle bemerkt,
welche für Ablenkungen der Normal-Verbreitung wohl ebenfalls angesehen
werden können. Besonders bemerkenswerth dürfte sein, dafs die eigent-
lichste Nebelküste von Cap Bojador bis Capo blanco auch zugleich die Ge-
gend der gröfsten westöstlichen Breite und Verflachung von Afrika und die
Gegend des Bolar Takh auch die der gröfsten ähnlichen wärmeren Flächen-
Ausdehnung von Asien ist. So begleitet denn die Erscheinung das Mittel-
meer mit seinen Fortsetzungen von Afrika über Italien nach Asien hin und
vom Wendekreise ab immer nördlicher gewendet bis Mittel-Asien, wie es
die Special- Tabelle der geographischen Verbreitung weiter anschaulich
macht.
4) Der Passat-Stanb enthält bei chemischer Analyse Kieselerde,
Thonerde, Eisenoxyd, Manganoxyd, kohlensaure Kalkerde,
Talkerde, Kali, Natron, Kupferoxyd, Wasser und organische
(verbrennbare) Materien. Bei mikroskopischer Analyse: feinen Quarz-
sand und noch feineren gelblichen oder röthlichen Mulm (überaus feinkör-
nigen Staub, Gallionella ferruginea?) zwischen denen sich zahlreiche organi-
sche Formen und Fragmente befinden. Einzelner, obwohl fast stets, lassen
sich darinn auch seltene Bimsteinfragmente, besonders aber grüne Krystall-
Prismen erkennen, wie sie in vulkanischen Tuffen und Aschen häufig sind.
Ebenso sind weifse in Salzsäure schnell auflösliche Kalk-Crystalle fast stets
einzeln zerstreut vorhanden. Das Organische besteht aus Polygastern, Phy-
tolitharien, Polythalamien und weichen Pflanzentheilen. Dagegen sind Zoo-
litharien, Polyeystinen, und Geolithien (von Barbados) noch nie darin beob-
achtet. Die Gesammtzahl der Formen beträgt 320 Arten. Kieselerde, Eisen,
kohlensaurer Kalk und Kohle sind auch durch die organischen Formen
reichlich mit erläutert.
Phys. Kl. 1847. Li
434 EHRENBERG:
5) Bei weitem vorherrschend sind im Passatstaube die Süfswasser- und
Land-Formen. Nur folgende Genera gehören dem Meerwasser allein an:
Coscinodiscus. Grammatopkora.
Diploneis. Biddulphia.
Goniolhecium.
Aufserdem sind alle Polyihalamia und einige Spongolithen Meeresbildungen.
Sp. Clavus, cenocephala, Caput serpentis, obtusa, robusta.
Bekannte afrikanische Characterformen finden sich nicht. Die grofse
Mehrzahl der Formen finden sich in mehreren Welttheilen, auch in Europa
und Afrika. Folgende Formen sind amerikanisch (s. das kleinste Leben in
Amerika 1843):
Arcella constricta. Eunotia quaternaria. Stauroneis dilatata.
Desmogonium guyanense. quinaria. Surirella peruana.
Eunotia Camelus. Gomphonema FV ibrio. Synedra Entomon.
depressa. Himantidium Papilio. Fragmenta incerta 1.
Pileus. Zygodon. %
Navicula undosa. 3.
6. Es giebt im Inneren von Afrika keinen Passatwind und keine roth-
staubigen Oberflächen, welche den Passatstaub liefern könnten. Der Sand
der Sahara ist weils und grau, der Nebelstaub des Passates zimmtfarben.
Der Staub der Nebelküste ist also ein fremder Staub. Da dem unteren
Passatwinde erfahrungsmäfsig auf dem Pic von Teneriffa ein oberer Passat
entspricht und da der untere Passatwind kein afrikanischer Landwind, son-
dern vom Harmattan verschieden ist, so kann nur der obere Passatwind den
Staub bis Afrika führen und, da wahrscheinlich auch er nicht über Africa
fortweht, sich senkend und sich in den unteren Passat umwandelnd, dort
fallen lassen. Dafs südamerikanische Formen im Passatstaube beobachtet
wurden, hat gleich Anfangs diese Ansicht hervorgerufen und ist derselben
noch jetzt günstig, auch hat sich die Zahl dieser Formen stets vermehrt. Es
kehrt mithin der in der äquatorialen Region der Windstillen und aufsteigen-
den (südamerikanischen) Luftströme gehobene amerikanische Staub, welchen
der obere nach Osten gerichtete Passatstrom nach Afrika hin trägt, durch
dessen senkrechtes Herabströmen daselbst, als nach Westen gerichteter
unterer Passatstrom, nach Amerika zurück , wenn er nicht vorher im Dun-
kelmeere abgelagert worden.
Passatstaub und blutregen. 435
7) Dafs diese Staubnebel an der afrikanischen Westküste meist das
ganze Jahr hindurch stattfinden (sich senkrecht herabsenken) und zur Zeit
des Harmattan, vom Januar bis April, sich weiter horizontal in die See
erstrecken, hat 1817 dem Nautical Magazin zufolge Admiral Roussin aus-
gesprochen (the thick fog or haze prevails almost all the year on the coasts
ofNW. Afrika). Dafs sie bei den Capverdischen Inseln während des NO.
Windes (Passats) eine stets vorhandene und fortdauernde Erscheinung sind,
meldet Horsburg 1826. Dafs diesen Verhältnissen Ahnliches ohne Unter-
brechung das ganze Jahr hindurch (always) in Kaschgar stattfinde, berichtet
Alexander Burnes 1837. Von der Ostküste Siciliens meldet es 1849
Gemellaro.
8) Dafs der Staub bei Afrika am gröbsten ist, mag allerdings dadurch
begründet sein, dafs er dort aus der oberen Atmosphäre direct herabsinkt,
während er tiefer im Ocean meist gesichtet ist, allein der Staub vom 9. März
1838 ist nicht gröber als der von San Jago der Capverden 1833. So mag
der Senkungsort immer die gröbsten Theile zeigen.
9) Von den Jahreszeiten ist die Erscheinung offenbar ganz unabhängig,
da sie ununterbrochen bei Afrika, auch in fast allen Monaten in Europa
beobachtet ist und nur in der zu meteorischen Bewegungen und Ablenkungen
weniger geeigneten stilleren Sommerzeit seltner verzeichnet ist. Mitten im
Winter ist sie in Europa, ungeachtet der nassen mit Schnee und Eis bedeck-
ten Oberfläche oft, ja am häufigsten beobachtet. Im Ganzen sind von den
340 historichen Aufzeichnungen des Phänomens nur 199, gegen +, mit dem
Monat verzeichnet (s. die Tabelle), davon fallen 118 auf die erste Hälfte,
81 auf die zweite Hälfte des Jahres.
Januar 7. Juli 9
Februar 14 August 17
März 23 September 7
April 18 October 18
Mai 18 November 16
Juni 18 December 14
118 WB
October bis März, das Winterhalbjahr, enthält 112, April bis September,
das Sommerhalbjahr, enthält 87 Fälle; also in nahe gleichem Verhältnifs.
lii2
436 EurEnBere:
10) Bemerkenswerth erscheint, dafs Nordamerika nie häufig von dem
Staube berührt worden ist, auch kein im grofsen stillen Ocean segelndes
Schiff, woraus man schliefsen könnte, dafs die constante Staubnebel-Zone
der oberen Atmosphäre wirklich nur der atlantischen Nord -Passat -Zone
angehören und über Amerika, wo sie im Süden anzufangen scheint, im Nor-
den, wie über den Sandwichs Inseln, ganz fehle, mithin auch von Feuer-
Meteoren und Meteorsteinfällen nicht herabgedrückt werden könne.
11) Den bisherigen Forschungen nach würde die zuweilen 1600 und
mit Tuckeys Beobachtung 1800 Meilen breite Staubnebel-Zone der Erd-
Atmosphäre, von fern gesehen, eine Schlinge über dem atlantischen Meere
in der nördlichen Tropen-Gegend (der Gegend des Zodiakallichtes) mit
einem Streifen oder zweiten Schlinge (Niederbeugung, beständiger Senkung)
über das Mittelmeer und dessen Fortsetzungen hin bis Mittel-Asien bilden.
12) Sehr auffallend ist die häufige Verbindung von zimmtfarbenem
Passatstaub mit Feuer- Meteoren und auch mit Meteorsteinfällen. Vor
Christus scheinen 18mal mit ähnlichen Verhältnissen Meteorsteine gefallen,
jedoch ist die Gleichzeitigkeit nicht sicher und auch die vulkanischen Aus-
würfe sind schwer zu unterscheiden. Dennoch dürften einige wahrschein-
liche übrig bleiben, so im Jahre 217, 215, 207, 169, 102, 94, 42. Nach
Christus sind 14, zusammen 32 angezeigt. Von einem nur (1813) hat bis
jetzt die mit dem Steine herabgekommene Staubmasse untersucht werden
können. Beides zusammen ist wegen herrschender Vorliebe zu den festen
Meteorsteinen und noch herrschender Unachtsamkeit gegen die Staubmas-
sen, noch nie zugänglich geworden. Die folgenden Geschlechter werden
umsichtiger sein. — Mit Feuer-Erscheinung und Blutregen vereint sind vor
Christus 5 Fälle, nach Christus 2, 1438 und 1813, verzeichnet. Ohne
Feuererscheinung fielen historisch mit Blutregen 6 Meteorsteine vor Christus,
2 nach Christus 1618, 570. Mit gelbem Dunst und Staub fielen 3 nach
Christus 570, 897, 1814. — Feuermeteore mit und ohne Steintall sind bei
ähnlichen Staubfällen 21 vor Christus, 38 nach Christus, zusammen 59 ver-
zeichnet. Wenn auch einige dieser zahlreichen Fälle unsicher bleiben, so
sind es viele andere doch nicht (1548, 1559). — Bei ganz heiterem Himmel
erschien plötzlich Blutregen und Staubfall 4mal vor Christus, 9mal nach
Christus, zusammen 13mal. Die Meteore von 1056 in Armenien, 1560 in
Passatstaub und Blutregen. 437
Frankreich und 1799 in Südamerica verdienen grofse Beachtung. Ja täglich
fällt der Nebel des Dunkelmeeres bei heiterem Himmel.
13) Obwohl man den schon vielfachen Analysen des Passatstaubes ihr
Recht nicht vergeben kann und ihre Geltung beansprucht werden mufs, so
würde es doch sehr gewagt und ungerechtfertigt sein, nun alle beweglichen
Himmelslichter und Meteorsteine sogleich für terrestrische Producte zu hal-
ten. Vieles mag im Weltraume existiren und sich gestalten, einiges (seit
Kepler und Chladni) für kosmisch gehaltene wird terrestrisch werden
und ist es nachhaltig schon geworden. Das herrliche mit Vorliebe geschrie-
bene Kapitel des Kosmos über die kosmischen Nebel, Kometen und Aste-
roiden verschiedener Art, dämpft alle terrestrischen Phantasien, welche der
Scholle zu fest anhängen, hinlänglich, aber geläutert vom irdischen Nebel,
dessen Lichtreflexen und Concretionen kehre der Geist freier in jene Räume
des ungezähmten Denkens zurück.
14) Scirocco und Föhn tragen dieselben Formen und Mischungen des
atlantischen Passatstaubes. Ihre Wärme kommt nicht nothwendig von Africa,
s. p. 309 vielleicht von Verdichtung des Staubes. Vergl. Kosmos I. 158.
15) Obwohl es unbegründet und vollkommen unmöglich ist, dafs alle
Staubwirbelstürme von einem und demselben eng begrenzten Erdpunkte alle-
mal ihren Ursprung nehmen, so ist es doch nun scharf begründet, dafs die
seit 46 Jahren, seit 1803, von allen untersuchten Passat-, Scirocco- und
,„ getra-
genen Staubarten sich in Farbe und bis zu den gröfsten Einzelheiten ihrer
Föhnstürmen, vom atlantischen hohen Meere bis Tyrol und Salzburg
Mischung gleichen. Wo irgend also eine wirbelnde Luftbewegung so tief in
die oberen Schichten der Erd-Atmosphäre eingreift, dafs sie die oberen
bald sehr dünn ausgebreiteten, bald vielleicht sehr dicht gehäuften Staub-
wolken des Staubnebel-Stromes berührt, dessen Masse durch vielleicht
viel tausendjährige fortwährende Mischung gleichartig geworden, so bringt
ein solcher Orkan, bald in der Richtung von Amerika, bald von Afrika her
den zimmtfarbenen Staub gleicher Mischung mit sich. Vergl. p. 307.
16) Auch die über den thätigen Vulkanen ununterbrochen aufsteigen-
den Gassäulen, mögen die Veranlassung oberer wirbelnder Bewegungen, ge-
wisser Mischungen und Ablenkungen der Staubnebel werden, wie denn oft
den vulkanischen ähnliche Erscheinungen gleichzeitig bei Blutregen angezeigt
438 EHREnBERe:
sind, die man freilich früher nicht von den Wirkungen grofser Orkane
schied, während man, auch bei direeter Verbindung, dergleichen Staubfälle
unrichtig vulkanische nennen würde.
17) Die durch Luftströmung, Erdrotation und electrische Spannung
gehobenen und gehaltenen, obwohl erfahrungsmäfsig (Al. v. Humboldt,
Rofs) eigenthümlich durchsichtigen, Staubnebel der fernen Erd-Atmosphäre
müssen nothwendig, sobald sie existiren, eigenthümliche Lichtreflexe, viel-
leicht auch electrische Lichterscheinungen geben. Diese Lichterscheinungen
müssen, der Strömungen halber, meist ein gestreiftes Ansehen haben und
müssen der steten raschen Bewegungen der Masse halber matt und wechselnd
sein. Ob die regelmäfsigen Erscheinungen einiger der bekannten streifigen
matten Himmelslichter hier einen Anhalt finden, will ich der Neuheit der
Vorstellung halber, späterer noch gründlicherer Erörterung vorbehalten.
18) Die früher vorhandene Schwierigkeit, so viel feste Masse in der
Atmosphäre schwebend und schnell vereint zu denken, als zu einem einzigen
Meteorsteine von 1 Centner gehört, ist dadurch nun beseitigt, dafs, den
p- 324 gegebenen Erläuterungen zufolge, ein einzelnes Passatstaub - Meteor
öfter Tausende und Hunderttausende von Üentnern fester Masse mit 7 bis
44 pC. Eisen, 37 pC. Kieselerde, 16 pC. Thonerde (s. p. 282) historisch
getragen hat, dafs das bei Afrika im Dunkelmeere auf ein Areal von mehr
als 1 Million Meilen fortdauernd niederfallende unmefsbar viel ist. Alle
bekannten Meteorsteinfälle zusammengenommen sind jetzt eine unbedeutende
Kleinigkeit von Masse gegen das Mögliche der Atmosphäre. Es fragt sich
jetzt nur noch, ob die Höhen-Messungen und die Geschwindigkeits-Messun-
gen bei Feuermeteoren und Meteorsteinen jetzt noch für Annahme ihres kos-
mischen Ursprunges und Laufes stets genügen. Nur wenige dieser Beobach-
tungen erscheinen ganz sicher und das flache, öfter kaum Fufs tiefe Einfallen
mancher Meteorsteine in lockeren Boden, so wie die geringen Luft-Compres-
sions-Erscheinungen dabei, stimmen nicht wohl mit einer Weltkörper-Ge-
schwindigkeit, auch wenn diese durch Spiral-Umlaufum die Erde und Platzen
als geschwächt gedacht wird. Ein Wirbelsturm könnte wohl auch in hoher
Atmosphäre die vorhandenen Nebel rasch auf einen Punkt massenhaft vereinen
und was dann eine hohe electrische Kraft in solcher Masse ungeschmolzen
verwandtschaftlich zu ordnen oder zu schmelzen vermag, ist vielleicht so
Passatstaub und Blutregen. 439
wenig zu beurtheilen, als die Kraft der Vulkane. — Die p. 410 gegebene
Anzeige leicht auch vorhandenen Nickels in hinreichender Menge, um das
kohlen- und nickelhaltige Schwefeleisen zu erklären, ist der weiteren Prü-
fung anheimgegeben und zugänglich gemacht.
19) Eins der wichtigeren Ergebnisse ist die nun gleichzeitig festgestellte
fast immer theilweise, zuweilen erstaunenswerthe Belebung dieser atmosphä-
rischen Staubarten, s. p. 325. Als lebensfähige mit Ovarien und grünen
Körnern versehene oder wirklich bewegte Formen sind bisher nur im Passat-
staube direct 9 Arten beobachtet
Eunotia amphiowys. Monas viridis.
Pinnularia borealis. Spirillum Undula.
Synedra Entomon. Conferva tenuissima.?
Fragilaria Synedra. Ulva.
rhabdosoma.
Noch sehr viel mehr Arten fanden sich im hochabgelagerten gewöhnlichen
Luftstaube, worüber 1848 und 1849 Mittheilungen gemacht wurden. Jedes
geringste untersuchte (nadelknopfgrofse) Staubtheilchen einiger der Seirocco-
Staubarten enthielt einige oder doch 1 lebensfähiges Thierchen, besonders
häufig sind Eunotia und Pinnularia. Vollstes Leben zeigte der Tintenregen
von Irland 1849.
20) Einige welthistorische Begebenheiten im Völkerleben der Menschen
haben durch diese Art von Meteoren theils allein, theils mit anderen Dingen
zugleich eine bestimmte nachhaltige Richtung bekommen. Dahin gehören
vielleicht die Auswanderung der Juden aus Aegypten unter Moses und Aaron
1576 Jahre v. Christus, sicher die Schlacht der Moabiter gegen Joram, etwa
900 Jahre v. Christus, die Schlacht der Koraischiten-Araber und Christen bei
Beder, als erste Basis des Islam, 570 nach Christus, die anthropogenetischen
Ideen Muhammeds im Gegensatz der mosaischen. Die Ansicht und irrige
Auffassung des Dunkelmeeres hinderte die Entdeckung von Amerika bis auf
Columbus (s. 1160). Die Trübung der Sonne bei der Schlacht bei Mühl-
berg 1547, wo der Churfürst von Sachsen Johann Friedrich durch Kaiser
Carl V. gefangen wurde und die Thronfolge von der Ernestinischen auf die
Albertinische Linie überging, diente auch, durch Kepplers Auffassung,
zur Erläuterung des Weltgebäudes. Der Scirocco-Sturm mit Blutregen
440 EHRENBERG:
von 1553, welchem die Niederlage und der Tod des Churfürsten Moritz von
Sachsen in der Schlacht (bei Sivershausen) unmittelbar folgte. — Dafs der-
gleichen Meteore Hinrichtungen von Menschen zur Sühnung der Gottheit
veranlafst, wird aus Romulus Zeit berichtet. Grofse kirchliche Ceremonien
haben sie in den neusten Zeiten (1813) noch bei ganzen Volksmassen bedingt,
wie sie in den ältesten Zeiten auch ohne verhältnifsmäfsigen Schaden, stets
das Gemüth besonders angeregt haben.
21) Diese Mittheilung betrifft keinen mineralogischen Erdstaub, keinen
astronomischen Weltstaub, keine einfachen meteorischen Luftströmungen,
sie betrifft einen Einflufs einer bisher dunkeln Art des organischen Lebens
in seiner Beziehung zu allgemeinen Verhältnissen der Atmosphäre der Erde.
Sie möge und wird der Physiologie, aus deren Studium sie entsprossen, eine
breitere Basis und intensivere Anwendung, gewils nicht die leizte, geben
helfen.
———— — m S——
Passatstaub und Blutregen. 441
Erklärung der Kupfertafeln.
Sämmtliche Zeichnungen sind übereinstimmend bei 300maliger Linear-Vergröfse-
rung entworfen.
Auf diesen 6 Kupfertafeln sind, ohne die Übersichtsgruppen, über 1200 Darstellungen
einzelner Körper enthalten, welche die Vergleichung aller Einzelheiten der bis zum Jahre 1848
der Untersuchung zugänglich gewordenen Staubmeteore möglich machen und die vom Jahre
1303 einen Zeitraum von 45 Jahren in direeter Beobachtung umfassen. Es sollte hierdurch die
eigene Vergleichung Vielen zugänglich werden, so gut sie nämlich auf graphischem Wege,
durch Abbildung zu erreichen ist. Jede Tafel enthält in einem Cirkel eingeschlofsne Total-
Ansichten der Masse, welche das Mischungsverhältnils anschaulich machen sollen, und nebenbei
alle die specifisch verschiedenen bei vielen Untersuchungen vorgekommenen im Luftkreise ge-
tragenen Einzelformen.
Alle Zeichnungen sind von mir selbst verfertigte Abzeichnungen aufbewahrter,, stets
der Vergleichung und Revision zugänglicher Präparate mit canadischem Balsam.
Der grüne Inhalt mancher Polygastern bezeichnet die eingetrocknet erhaltenen Ova-
rien, gewöhnlich sind diese durch eine dunkle Luftblase mit hellem Centrum begleitet.
Die bunte Figur auf Tafel V ist mit polarisirtem farbigen Lichte beobachtet, um durch
ein Beispiel zu zeigen, wie ein an sich farbloses Körperchen dadurch hervortritt, wenn es dop-
pelt lichtbrechend ist.
Auf Tafel IT ist ein künstlich geglühter Zustand des Staubes vergleichend anschaulich
gemacht.
Auf diesen Tafeln sind auch alle die Formen aufgenommen, welche die neueste Unter-
suchung noch ergeben hat. Sie sind weit reichhaltiger als die ersten Verzeichnisse. Alle For-
men sind jedoch in das Hauptverzeichnils der Abhandlung aufgenommen worden.
Tafel Il.
Diese Tafel enthält die ältesten bisher direct zugänglichen Meteore von 1803 und 1813,
deren ersteres Wien und Italien bedeckte, deren zweites von einem Meteorsteinfalle in Cala-
brien begleitet war. In beiden Fällen mus der Analogie nach die meteorisch gefallene Masse
Hunderttausende von Centnern betragen haben.
I. Scirocco- Staub von Udine und Italien 1803.
Nach den Proben welche in Berlin und Wien aufbewahrt werden.
A. Links im getheilten Cirkel ist der Gesammt -Eindruck des Staubes aus Klapp-
roth’s Sammlung zu Berlin; Rechts ist der jener aus Wien erhaltenen Probe, beide stellen
Phys. Kl. 1847. Kkk
443 EurEnBERe:
das Mischungsverhältnils dar. Die groben eckigen Theilchen sind, bei chromatisch polarisirtem
Lichte iridescirende, Quarz-Sandtheilchen. Das feine ist ein gelblicher Mulm (vielleicht von
Gallionella ferruginea mit bedingt), dazwischen liegen organische farblose Formen und Frag-
mente. a. Gallionella granulata. b.idem. c. Gall. procera. d. Gall. crenata. e. Gall. distans.
f. Amphidiscus truncatus. g. Lithostylidium rude. h. Lithost. Armphiodon. 1. Gallionella distans.
k. Pinnularia Fragm. 1. Navicula Semen. m. Fibrilla plantarum. n. Crystalli viridis Fragm.,
welche die Farbe von Fig. 108 hat.
1
2% Gallionella granulata
3
marchica
5 _— decussata
6
gi — procera
fl
8
nn crenata
)
10 4
— distans
11
12 — laminaris
13 Pyxidicula? Coscinodiscus?
14 Coscinodiscus radiolatus ?
15 Discoplea atmosphaerica
16 Campylodiscus Clypeus
17 Eunotia longicornis
18 — Argus
19
\ — _ zebrina?
20
21 — gibba
22
23
24 — tridentula
25
26
27 Eunotia amphioxys
28 26 28-30cum oyarlis.
29
30
31
32 Fragilaria rhabdosoma ?
33 Pinnularia viridis? Fragm.
34 Meridion vernale
35 Gomphonema gracile ?
36 Fragilaria diophthalma ?
37 Cocconema lanceolatum ? Fragm.
38 — Fusidium
39 _ (gracile?) leptoceros
40 Navicula Scalprum
4 — (affinis ?) dubia
42 — Semen
43 Pinnularia borealis?
44 Pinnulariae Fragm.? (viridis Achnanthes?)
45 Stauropterae cardinalis ? Fragm. 5
46 Surirellae undulatae Fragm. ?
47 Synedra Ulna
48
49
50 Fragilaria amphioxys?
\ — Entomon cum ovario.
51 Desmogonium guyanense?
52 Adrcella? costata
53 Amphidiscus Rotella
54
55 —
56
57 Lamina (Assula) umbonata hexagona
truncaltus
58 Lithasteriscus tuberculatus
a Lithodontium furcatum
60
61
a — rostratum
63 — obtusum ?
64 —_ Scorpius
65 — Bursa
66 — curvatum
67 Lithostylidium Ossiculum
68 — Trabecula
69 — rude
a
74 — clavatum
172 — quadratum
Passatstaub und Blutregen. 4483
73 Lithostylidium obliquum 94 Spongolithis obtusa? (Fustis ?)
er 95 Spiroloculina — ?
— Serra
75 96 Polythalamii Fragmentum
76 — angulatum 97 Rotalia globulosa? Fragm.
77 = Taurus ? (denticulatum ?) 98 — senaria? Fragm.
78 _ denticulatum 99 Semen Fungi triloculare
79 — Amphiodon 100 Cellulae plantarum obtusae prosenchy-
so _ serpentinum maticae
s1 — Ossiculum 101 —_ — — parenchy-
82 —_ biconcavum maticae
83 — calcaratum 102 —_ _ acutae prosenchy-
54 — Rectangulum (cum quadra- maticae
85 to olim conjunctum) 403 Pilus plantae basi turgidus
856] Zithosphaeridium irregulare 104. — — simplex laevis
r Lithostylidium Clepsammidium 105 Parenchyma Pini (Vasa fibrosa)
88 _ Formica 106 Conferva
89 _ Fibula 107 Lepidopteri squamulae integrae fragmen-
90 _ spiriferum Zum
9 = rude? 108 Crystallus columnaris viridis
2
JL
93
ps 5 $ 109 — rhombeus
Spongolithis aciceularis
II. Scirocco -Staub aus Calabrien von 1813.
Von Sementini stammend in Chladni’s Sammlung.
II 4. Mikroskopischer Gesammt-Eindruck des Staubes. Es sind viele gröbere ver-
schiedenfarbige Sandkörnchen, zwischen denen ein feiner gelblicher Mulm befindlich ist, der
zum grolsen Theil der Gazlionella ferruginea ebenso gut als anderen Dingen angehören könnte.
Zwischen diesen Substanzen liegen zerstreute organische Kiesel-Formen. a. Gallionella gra-
nulata. b. Gall. procera. c. Gall. crenata. d. Pinnularia borealis. e. Discoplea atmosphaerica
Fragm. f. Lithostylidium Clepsammidium. g. Pinuulariae fragmentum. h. Eunotiae granulatae
Fragm. i. Lithostyl. rude. k. Eunotia amphinxys cum Ovario. 2. Crystalli viridis fragmentum.
1 e
N Gallionella granulata 12 Coscinodiscus ? (minor ?)
3 13
_ rocera
a 14 f Discoplea atmosphaerica
4 _ crenata
\ 15
5 = a ’
6 16 —_ sinensis?
—_ distans 17 , Campylodiscus Clypeus
g 18 Eunotia Argus
a — laminaris ? 19 — _longicornis
n R 20 — ibberula
10 Coscinodiscus lineatus ? 1 g
21 — granulata?
Kkk2
11 _ flavicans ?
444
2} Eunotia Textricula
24 — _ zebrina
25 — Diodon
26 — (Camelus?
7
amphioxys, cum Ovarlis.
2
28
29
30
31
3 Himantidium Arcus
33]
34
35(f Synedra Entomon, cum ovario.
36
37 — Ulma
38 — Entomon?
39 Biddulphia ?
40 Gomphonema rotundatum
1a .
. Fragilaria Synedra, cum ovario.
43 — diophthalma
44 Staurosira construens ?
45 Fragilaria rhabdosoma ?
46 Navieula lineolata
u —_ Semen
49 — fulva
50 — undosa
51 — emarginata
= Pinnularia borealis
53
54 — viridis
55 — ? (Eunotia gibba ?)
56 Stauroneis Legumen n. sp.
57 —
58 Stauroptera cardinalis ?
linearis
59 Cocconeis finnica juv. ?
60 Surirella? paradoxa
61 —
62 —
63 Arcella Enchelys
? Entomon
Craticula
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
17
78
79
80
81
82
83
84
100
101
102
103
EHRENBERG:
} Amphidiscus truncatus
ne ne
clavatus
Lithodontium furcatum
rostratum
platyodon
Bursa (L. Rectangulum ?)
nasutum
curvatum (cf. Lithost. c.)
Lithostylidium Fibula
Rectangulum
biconcavum ?
quadratum
Trabecula
obliguum
spiriferum
rude ?
denticulatum
— cum Lithosphaeridio.
irregulare
spinulosum
Amphiodon cum Lithosphaeridio,
serpentinum ?
Serra
ventricosum
Triceros (cum L. furcato olim).
Ossiculum
laeve ?
Securis
clavatum
Glepsammidium
Lithosphaeridium irregulare
Passatstaub und Blutregen. 445
104 Lithostylidium Clepsammidium A415 Parenchyma plantae (Musci?)
105 — Formica 116 Pilus laevis simplex
106 —_ ? Cassis 17 = — — _ basi constrictus (pedicellatus)
107 Lithostomatium Rhombus as I — — _ asper
108 Spongolithis acicularis 119 Fibra plantarum nodosa
109 Miliola? 120 Pilus plantae articulatus asper
110 Polythalamii fragmentum 111. — — ornithorhamphus
111 ‚Semen reniforme tuberculosum 1422 Confervae utriculi
4 } Sporen al erapernih 123 Crystallus columnaris viridis
113 124 — Tritici forma
114 Semen constrictum costatum
Tafel’
Diese Tafel enthält 3 Meteorstaub-Arten von 1830, 1833 und 1834. Es sind der Me-
teorstaub von Malta 1830 und 2 Formen jenes Passatstaubes des atlantischen Dunkel - Meeres, bei
San Jago der Capverden vom Januar 1833, welchen Herr Darwin gesammelt, und des vom 10.
März 1834 von der afrikanischen Nebelküste.
I. Sciroeco- Staub von Malta 1830.
I 4. Total- Eindruck des 300mal vergrölserten Staubes. Es ist im Ganzen eine grö-
bere Masse. Die eckigen unförmlichen Theilchen sind doppelt lichtbrechender Quarzsand. Da-
zwischen liegen zerstreut Polythalamien, Polygastern und Phytolitharien. Gallionella granulata,
procera und distans finden sich leicht heraus. In der Mitte liegt ein Fragment der Discoplea
atmosphaerica, links oben liegt Eunotia amphioxys, unten liegt Rotalia globulosa: Zwischen
Gall. distans und procera liegt ein grüner Crystall.
4
Eunotia Textricula
Gallionella granulata
19 ;
h Er — amphioxys
5 —_— decussata 21 — gibba?
H 22 Gomphonema gracile?
A — procera
j Al Fragilaria pinnata
8 24
" _ distans | Synedra Ulna
41 27 — Entomon?
12 — crenata 23 Navicula Bacillum
13. Discoplea atmosphaerica var.? 29 Lithasteriscus tuberculatus
14 = — integra 30 Amphidiscus truncatus ?
15 Campylodiscus Clypeus 31 — clavatus ?
16 Eunotia gibberula (longieornis ?) 32 — obtusus
446 EHREnBERrR:
zu ind 63 Lithostylidium. denticulatum
34 64 — quadratum
35 65 —_ angulatum
2 — furcatum a _ unidentatum?
31 67
38 68 — calcaratum
39 Rn)
: —_ biconcavum
40 — Bursa 70
A s 2
12 KL: BEER } pongolithis acicularis
43 73 — inflexa
“| _ nasutum 7% —_ obtusa (Fustis?)
45 75 —_ philippensis?
46 Lithostylidium Securis 76 — Fistulosa
47 —_ Triceros 77 Textilaria striata
48 — Emblema 78 —
49 — Emblema? 79 — Don
50 — curvatum sS0 Grammostomum?
51 — Rectangulum s1 _— carıinatum
52 — clavatum 82 Spirillina
58 83 ARotalia ?
54 — Clepsammidium sä — globulosa
55 85 senaria?
56 = Formica 86 Sporangium Fungi 5-spermum
57 — laeve 87 Plus plantae asper turgidus simplex
58 — obliguum 53 Antenna Insecti
59 — Trabecula s9 Crystallus rhombeus albus
60 — dentieulatum 90 — viridis columnaris
61 — Serra 9 — ruber columnaris
62 — Amphiodon
II. Nebel-Staub des atlantischen Dunkelmeeres
von San Jago der Capverdischen Inseln Jan. 1833.
II A. Total-Eindruck des von Herrn Darwin gesammelten Staubes im Sehfeld des
Mikroskops. Die feinkörnige gelbe Grundmasse, welche den Eisengehalt vorherrschend hat,
kann zur Gallionella ferruginea gehören. Darin liegt oben ein Fragment der Discoplea atmo-
sphaerica, daneben links ist Gallionella procera, unten rechts Gall. granulata, links Gall.procera.
Gallionella distans in verschiedenen Ansichten ist 4mal sichtbar, sowie auch andere Fragmente
der obigen Gallionellen. In der Mitte liegt ein Pflanzentheil von 3 Fasergefälsen, einige kleine
Samen- und verschiedene Sandtheilchen, durch eckige unregelmälsige Form kenntlich, sind
zerstreut vorhanden.
Passatstaub und Blutregen. 447
1 Gallionella granulata 27 Navicula lineolata
2 28 Pinnularia viridis
— procera es
3 29 — viridula
4 30 Stauroneis dilatata?
m crenata
5 31 Cocconema Lunula
6 32 _ Leptoceros? Fragm.
s} — distans 23 a 2
: R Synedra Ulna
8 Discoplea atlantica ? 34
9 —_ atmosphaerica 35 JAmphidiscus truncatus
10 Coscinodiscus flavicans ? 36 —_ obtusus
11 Campylodiscus Clypeus 37 Lithodontium rostratum
12 Eunotia longicornis 38
13 — Triodon (Zygodon?
= (Zrs ) Lithostylidium GClepsammidium
14 — tridentula? 40
15 — gibba 4A
16 > 42 Lithostomatium ellipticum
— amphioxys
ji 2 Lithostylidium Serr
ithostylidium Serra
18 — Pileus u ”
19 Himantidium Ärcus 45 — Amphiodon
20 — gracile 46 Spongolithis fistulosa ?
21 Fragilaria diophthalma 47 — aspera
22 —_ pinnata? AS Seminulum Fungi ovatum
23 49 Sporangium dispermum
N Gomphonema gracıle
50 — trispermurm
25 51 Vasa fibrosa plantae
seh Navicula affınis Fi P
III. Staub der Nebel-Küste von West-Afrika
vom 10. März 1834. ')
III 4. Total-Eindruck des von Lieut. James an der Küste von Afrika gesammelten
Staubes (Dust from coast of Afrika) dessen Lokalität nicht näher bekannt ist. Der Kreis des
Sehfeldes ist in 2 Hälften getheilt, deren linke den natürlichen Zustand, deren rechte den ge-
glühten Zustand des Staubes darstellt. Der Staub enthält einen sehr feinen, körnigen, gelben,
nach dem Glühen rothen Mulm, welcher an Gallionella ferruginea im jungen Zustande erinnert.
Darin liegen unförmliche, eckige, doppelt lichtbrechende Quarztheilchen und organische For-
men und Fragmente. Rechts erkennt man leicht Gallionella procera und Synedra Ulna. In
der Mitte liegt Zithostylidium Clepsammidium und ein Pinnularien- Fragment, oben Gallionella
distans als Scheibe. Rechts ist nach oben Gallionella granulata, unten ein Fragment einer
Eunotia und der Gall. distans. Techts am Rande ist ein Theilchen der Surirella.
‘) Die sämmtlichen 1834 und 1838 von Lieut. James auf dem Schiffe Spey gesammelten Staub - Pro-
ben wurden mit einem feuchten Schwamm von den Segeln und Raaen aufgenommen und in Sülswasser
ausgedrückt, das Wasser dann filtrirt. Diese Methode ist, wo sie vermeidlich ist, nicht zu empfehlen, da
im Schwarnme leicht fremde Seeformen befindlich sind, auch das Wasser nicht ganz rein ist.
A48 EHurENnBERG
1 Gallionella granulata
2 — procera
3 — crenata
4 — distans
5 Discoplea atlantica
6 — sinensis
7 — atmosphaerica
3 Campylodiscus Clypeus
9 Eunotia Argus
10 — _ zebrina?
41 — gibberula
12 — quaternaria
13 — _ quinaria
14 — amphioxys
15 s 58 Er
‚c} Himantidium Papilio
17 == Arcus
18 Cocconema Lunula
19 — Leptoceros
20 Gomphonema gracile
21 Grammatophora oceanica
22 = parallela?
23 Synedra Ulna
24 — _ capitata?
25 — Entomon
26
\ Desmogonium guyanense?
-
{
28 Navicula affınis?
29 — _ Baeillum
30 Pinnularia viridis
31 _ amphioxys
32 —_— viridula®
33 — borealis
34 = offinis
35 Stauroneis Phoenicenteron
35 Stauroptera paroa
37 Surirella undulata
38 Chaetoglena volvocina?
39 Trachelomonas laevis
40 Amphidiscus Rotella
41 — Zruncatus
42 _ obtusus
43 Lithodontium furcatum
44
= — rostr atum
46 Lithostylidium Amphiodon
a7 — ?
48 — Serra
49 — denticulatum
50 — rude
51 — quadratum
52
5 nn Trabecula
54 no obliguum
55
5 s D clavatum
57
58 ? a
59 — Clepsammidium
60) Lithosphaeridium irregulare
61 Lithostylidium Formica
62 —_ ventricosum?
63 — angulatum
64 u biconcavum?
65 Spongolithis acicularis
66 _ robusta
67 Polythalamii fragmentum
68 Semiculum Fungi ovatum?
69 Musci frondosi particula
70 Grystallus seminis Tritici forma
71
=
rhombeus albus
viridis columnaris
Dates all.
Die aut dieser Tafel dargestellten 2 Staub-Arten sind im hohen atlantischen Ocean,
im eigentlichen Dunkelmeere, im Mai 1838 auf das englische Schiff Spey gefallen. Es sind ganz
eigentliche Passatstaub - Arten.
Passatstaub und Blutregen. 449
I. Passat-Staub des atlantischen Oceans
vom 7. März 1838, 300 Meilen von Afrika.
I. 4A. Gesammteindruck des obwohl fern von Afrika gesammelten doch ziemlich gro-
ben Staubes im Sehfelde des Mikroskops. Die unförmlichen eckigen meist bunten Theilchen
sind Quarzsand, doppelt lichtbrechend. Dazwischen liegen ohne verbindenden gelben Mulm
die gewöhnlichen farblosen organischen Theile und auch grüne Crystall-Splitter. Man unter-
scheidet rechts Zizkodontium nasutum, links am Rande Lithostylidium Clepsammidium, ebenda
gegen die Mitte Lithost. rude, oberhalb Zithodont. Bursa, Lithostylidium Serra und Spongo-
lithis acicularis, unten Gallionella procera und Lithostylid. Ossiculum.
1 33
Gallionella granulata. ; Me; ‚
2 34 Lithostylidium Securis
3 35
— rocera
A A 36
N — curvatum
5 — distans 37
6 — crenata, 38 Lithodontium curvatum
7 Coscinodiscus flavicans? 39
8 Eunotia longicornis. 40 —_ nasuturm
9 — Argus. 4A
10 ? 42 Lithostylidium Emblema
— gibberula. 2
11 43 — obliquum
12 — longicornis? Au
—_— clavatum
13 Veipas 45
14 ebrina 16
15 — Zebra? 47 —_ Rhombus
16 — gibba 48
17 Himantidium gracile 49 — irregulare?
18 Stauroneis Phoenicenteron. 50 — Triceros
419 Navicula fulva? 51 — biconcavum
20 Campylodiscus Clypeus 2
— Taurus
21 Synedra Ulna? 53
22 Asula hexagona 54 — Rajula
23 Amphidiscus Rotula 55 _ Trabecula
2 —_ Martii 56 — rude
25 — armatus? 57 — unidentatum?
26 58 —_ quadratum
— Zruncatus P)
27 59 — Trabecula‘!
28 60 -- calcoratum
Lithodontium furcatum
a an 61 —_ undatum
4 62 — Serra
E — rostralum .
31 63 — Amphiodon
32 _ Bursa 64 _ Clepsammidium
Phys. Kl. 1847. Lil
450 . EHRENBERG:
65 74 Spongolithis mesogongyla
66 f Spongolithis acicularis 75 Polythalamii fragm.
67 76 Tertilaria globulosa
68 — robusta (ingens?) 77 Particula fibrosa Pini.
69 ae 78 Pe u ER |
70 79 Lithostylidium spinulosum
71 _ cenocephala 80 Crystallus viridis columnaris.
12
u obtusa
73
II. Passatstaub des atlantischen Dunkelmeeres
vom 8. März 1838, 356 Meilen von Afrika.
II. 4. Gesammt-Eindruck des Staubes im Mikroskop. Der feine Quarzsand ist mit
noch feinerem körnigem gelbem Mulm vermengt. Dazwischen zerstreut liegen die organischen
Formen. Rechts liegen Gallionella distans, procera und granulata, sammt einem weilsen
kronartigen Crystall, unten LitRodontium furcatum, links Lithostylidium Amphiodon, Lithost.
‚Serra, in der Mitte ist Gallion. granulata und procera.
26 Navicula lineolata
c
1
Gallionella granulata i x x
27 Pinnularia borealis
3 — decussata 28 — viridis?
4 29 — viridula
— procera X
5 30 — aequalis
6 2 31 Fragilaria rhabdosoma
— distans a
Mi 32 Amphidiscus truncatus
8 — taeniata 33 — clavatus
9 34 — obtusus
== erenata z 2
10 35 Lithodontium furcatum
11 — erenata 36 —_ Bursa
12 Discoplea atmosphaerica 37 — nasutum
13 Campylodiscus Glypeus 38 — rostralum
141 Eunotia Zebrina 39 — platyodon
15 40 Lithostylidium falcatum
16 — Zebra? A — Triceros?
17 2 — clavatum
— Triodon ar x
18 43 — obliquum
19 — gibba 44 - laeve
20 — amphioxys 45 — Trabecula
21 Synedra Entomon? 46 — quadratum
22 7
Hımantidium Arcus ?
23 48
24 Synedra Entomon 49 _ unidentatum
25 Cocconema Fusidium 50 — Serra
Passatstaub und Blutregen. 451
51 Lithostylidium Amphiodon (denticulatum?) 58 Spongolithis Fustis?
BO — irregulare 59 Pilus ornithoramphus
53 —_ Clepsammidium 60 Lithochaeta laevis
54 — biconcavum 61 Sporangium Fungi tetraspermum
55 — ' spiriferum 62 Wasa fibrosa plantae
56 Spongolithis acieularis 63 Crystallus triticeus albus.
57 —— mesogongyla
Tafel IV.
Die Tafel enthält die 1844 und 1845 gefertigten Zeichnungen der zu verschiedenen
Zeiten mir von Herrn Darwin überschickten Proben eines und desselben Passat - Staubes
vom 9. März 1838. Obschon dieser Staub in weit grölserer Ferne von Afrika gesammelt wurde,
als die beiden gleichzeitigen der vorigen Tafel, so ist seine Mischung doch nicht feiner als
die vom 8. März, was einen Maalstab für die sogenannten Sichtungen giebt.
C. Gesammt-Eindruck der Mischung des Staubes A. Es sind in einem feinkörnigen
gelblichen Mulme liegende feinere, zuweilen auch gröbere Sandtheilchen,“ zwischen denen
zahlreiche grolse und kleine Organismen gesehen werden. Links Gallionella distans stärker
und dünner. Oben Zithostylidium crenatum und Gallion. procera. Rechts Lithoszyl. spinulo-
sum, clavatum, Gallion. distans. Unten Gallion. granulata. In der Mitte zwischen verschie-
denen Fragmenten Spongolithis acicularis.
A. Passatstaub des hohen atlantischen Meeres
vom 9. März 1838, 380 Meilen von Afrika.
Es ist der vom Lieut. James auf dem Schiffe Spey mit einem Schwamm aufgesam-
melte und dann filtrirte Staub, und zwar die erste 1844 mir übersandte Probe.
1 Gallionella marchica 17 Discoplea atmosphaerica
2 18 Campylodiscus Clypeus
— granulata > Fe
3 49 Himantidium Arcus
4 20 Surirella peruana?
— procera
5 21 b :
} Eunotia amphioxys
6 22
—_— distans N f
7 23 — longicornis
Ss 24 — gibberula a ventre
— cerenata
9 25 — Argus
10 \ 26 — _ gibberula a latere
Chaetotyphla? reticulata ?
11 27 — zebrina
12 28 — Zebra?
Trachelomonas laevis {
13 39 — granulata?
14 Himantidium Papilio 30 — depressa
15 Eunotia Camelus 31 — Triodon
16 Discoplea sinensis 32 Synedra Ulna
L11l2
EHrEnBERG:
33
34
35 ==
36 Pinnularia aequalis?
\ Gomphonema gracile
rotundatum
37 Navicula Semen
38
— _ affınis?®
4 ff
40 Pinnularia gibba
u } — viridula
42
43 — viridis
44 — borealis
45 Fragilaria pinnata?
46 — ? (Nav. Bacillum?.)
47 — rhabdosoma
48 — _ pinnata?
49 — _ diophthalma?
50 Amphidiscus armatus
51 — truncatus
52 (51-52 Lithostyl.
53 Ossicul.?)
54
a — clavatus
56 — ‚fistulosus
57 — obtusus
55 Lithodontium Bursa
59 Lithostylidium Amphiacanthus
60 )LZithodontium curvatum
bla
615
62 — nasutum
a
B. Zweite Analyse
1 Gallionella granulata
2 — procera
3
4 — crenata
5
6 _ distans
7 Gomphonema rotundatum?
— Vibrio?
8
9 Cocconema Fusidium
e1 Peinodontium curvatum
65 — Bursa?
66 —_ platyodon
67 —_ furcatum
68 Lithostylidium clavatum
69 — angulalum
70 _ laeve s
7a
— angulatum
73 — sinuosum
74 — ‚Serra
75 — Clepsammidium
76 — Taurus ?
Ar — biconcavum
78 — spiriferum
79 — calcaratum
s0 _ denticulatum
ii \ — Amphiodon
82
83 — Serra?
84 ‚Spongolithis aspera
85 — amphioxys
36 — mesogongyla
\ — obtusa
89 2. (Fustis?)
90 — acicularis
91 Epidermis plantae
92 Parenchyma plantae
93 Polythalamii fragmentum.
desselben Passatstaubes.
10 Nawvicula gracilis
14 — lineolata (Pinnul. aequalis?)
42 Pinnularia viridula?
13 Siynedra Entomon?
14 Campylodiscus Clypeus
15 Synedra Ulna
16 Eunotia amphioxys
17 — Triodon
15 — Zebra?
Passatstaub und Blutregen. 453
19 Eunotia gibberula 38 Lithostylidium biconcavum
20 — zebrina 39 —_ Clepsammidium
21 — longicornis 40 — Serra
2 — granulata ? 4 — Amphiodon
23 Fragilaria pinnata? 42 — rude
24 Amphidiscus obtusus 43 — laeve
25 Lithodontium furcatum Al — ventricosum
26 — rostratum 45 — articulatum
27 _ Bursa 46 Spongolithis obtusa
28 — curvalum 47 —_ aspera
29 _ Amphacanthus 48 — robusta
30 — nasulum 49 —_ acicularis
31 2 er, \ 50 — Fustis ?
Lithostylidium irregulare ”
32 \ 51 Polythalamii fragmentum
a In a 52 = aliud
2 92 Plantarum particulae
35 — Rectangulum? 5 h
36 — quadratum 55 Confervae utriculus
37 — unidentatum
Tafel V.
Diese Tafel enthält Übersichten des süd-europäischen Scirocco-Staubes von Genua
März 1846 und von Lyon October 1846, erlaubt die Vergleichung mit dem atlantischen Passat-
Staube und stellt dessen Übereinstimmung vor Augen.
I. Scirocco-Staub von Genua
16. Mai 1546.
Die Zeichnungen der Analyse sind nach der von Hrn. Prof. Pictet gesandten Probe
von blals-rostrother Farbe gemacht worden.
I. 4. Gesammt-Eindruck des 300mal vergrölserten Staubes. Es ist ein feiner, wegen
der Vergrölserung blasser gelblicher und körniger Mulm mit vielen gröberen doppellichtbre-
chenden Sandtheilchen (wie Quarzsand). Dazwischen liegen die organischen Formen zer-
streut. Oben liegt Zithostylidium Clepsammidium, Gallionella procera, Lithostylid. laeve, links
Fragment eines Pflanzenhaares, unten Spongolithis Fragment; rechts Gallionella distans und
grüne Crystall-Splitter, auch ein Weizenkorn-Crystall; in der Mitte Eunotia amphioxys und
Gallionella granulata.
}
1 6
\ Gallionella granulata 7 Gallionella distans
je>1
— procera S Goniothecium erenatum n. sp.
4 9 Discoplea atmosphaerica
— crenata
5) 10 Cocconeis lineata
454
11 Chaetotyphla saxipara?
12 Campylodisceus Clypeus
13 Eunotia Monodon?
14 — zebrina?
15 — Diodon?
16 — _ zebrina
17 — _ Triodon
18 — _ tridentula
19
20 _ amphioxys, c. ovar.
21
99
22 Cocconema cornutum
23 Fragilaria rhabdosoma?
24 Himantidium Arcus?‘ jue.
25 Teabellaria®
26 Fragilaria Synedra (Synedra bilunaris)
Desmogonium guyanense?
28 Navicula gracılis
29 —_ (affinis = Stauroneis Semen)
30 — Semen
31}
32 _ gracilis
33 Pinnularia Termes
34 _ nobilis
35 —_ borealis
36 .Diploneis didyma
37 Surirella Craticula
38 Synedra Ulna
39 _
40 Lithasteriscus Zubereulatus
Entomon
41 Amphidiscus clavatus
42 _ obtusus
A) — truncatus (nec Martü)
45 Lithodontium furcatum
na —_— rostratum
nasutum
EHurEnBERG:
49 Lithostylidium fulcatum
50 Lithodontium Scorpius? (L.platyodon !)
51 Lithostylidium laeve
52 Lithosphaeridium. irregulare
53 Lithostylidium Ossiculum
54 E Clepsammidium
35 _ Formica
N _ biconcavum
97
58 _ quadratum
59 Lithomesites ornatus
60 Lithostylidium Rhormbus
61 —_
curvatum
62 _ obliguum
63
_ erenulatum
a}
65 _ Serra
66 —_ Amphiodon
67 5
} — denticulatum
68
69 _ unidentatum
70 _ spiriferum
71 Lithostomatium Rhombus
72 Spongolithis Clavus
73 _ Caput Serpentis
74 —_ acicularis
75 Squamula plantae radiata
76 _ _ —_ al. sp.
77 Pollen? tricoccum
78 — triqueirum
79 Seminulum ovatum
80 Sporangium pentaspermum
81 Pius ornithorhamphus
82 — fascieulatus
83 Crystallus rhombeus albus
84 —_ triticeus albus
85 _ columnaris alliaceo viridis
86 Idem ab apice visus
II. Scirocco-Staub von Lyon
17. October 1846.
Es ist der von Herrn Fournet gesandte Staub von Labillardiere bei Lyon, dessen
gefallene Masse nach Quinson Bonnet’s Berechnung (s. oben p. 310) 7200 Gentner be-
tragen hat.
Passatstaub und Blutregen. 455
II 4. Gesammt-Eindruck der Masse im Mikroskop. Es sind viele gröbere Sandtheil-
chen, dazwischen aber auch etwas gelblicher Mulm, der sich beim Glühen röthet. Die einge-
streuten Organismen sind sehr mannichfach, zum Theil lebensfähig. Oben ist Eunotia amphio-
ays, links oben Gallionella granulata, mehr nach unten ist Eunotia amphioxys mit den Ovarien
und eine Luftblase, unten ein grünes Orystall-Fragment, rechts unten Eunotia longicornis, nach
der Mitte zu Gallionella procera.
} Gallionella granulata
3 _ decussata
4 _ procera
5
6 _ distans
7]
8
\ Discoplea atmosphaerica
10 Coscinodiscus?
11 Trachelomonas laevis
12 Campylodiscus Clypeus
13
14f Gomphonema gracile
15
j) Cocconema cornutum (nec gracile)
Ä
18 _ Lunula
= Eunotia longicornis
20
21 S /
_ longicornis
99
22
23 — Argus
24 _ longicornis
25 — granulata ?
26 _ zebrina? (Argus?)
27 _ Monodon?
28
29
30 — __ amphioxys
31 (31 cum ovario)
32
“ —_ gibberula
35 _ zebrina?
36 Himantidium zygodon?
37 Eunotia gibba
38 Eunotia tridentula
39 —? lawvis
40 Himantidium Arcus
41
2. Tabellaria — ?
43 Fragilaria pinnata ?
44 Cocconeis lineata
45 _ atmosphaerica
46 Navicula Bacillum
47 _ amphioxys
48 \ _ Semen
49
50 —_ lineolata?
51 Pinnularia borealis
52 _ viridula
53 _ viridis
54 _ taeniata n. sp.
55 —_ aequalis?
36 Surirella Craticula ?
.-
3 ; \ Synedra Ulna
58
59
Fragilaria pinnata ?
Fi R
61 Grammatophora ? parallela ?
9
. Incerti generis 1
63
64 _ 2
65 _ 3 (Arcella costata ?)
66 SE
er} Amphidiscus truncatus
1
68 _ obtusus
69
70% Lithodontium furcatum
71
72 _ Scorpius
ni :
= rostratum
74
EHRENBERG:
en
ou
[>3}
75 99 Lithostylidium irregulare
76 Lithodontium Bursa 400 Lithomesites ornatus
77 401 Lithostylidium Triceros ?
78 _ angulosum 102 —_ calcaratum
79 en nasulum 103 _ spiriferum
s0 _ triangulum ? 104 _ laeve
81 Lithostylidium clavatum 105 — unidentatum
S2a _ Serra 106 Spongolithis Fustis?
82b —_ Taurus ? 107 _ acicularis
83 108 Nodosoria?
84 _ curvatum 109) Polythalamii Fragm.
85 110 \ _ _
36 _ biconcavum 411 Textilaria globulosa
87 u Clepsammidium 112, Rotalia globulosa?
88 Lithosphaeridium irregulare 113
89 Lithostylidium Clepsammidium 114 Rotalia al. sp.
90 _ crenatum 115 Pilus simplex asper
91 _ Ossiculum 116 _ — lawis
92 _ Amphiodon 117 Pilus stellatus dichotomus
93 a Terebra ler 6y porangium tetraspermum
94 _ angulatum 119 _ pentaspermum
95 _ rude 120 Pollen Pini majus laeve
a Fr nn 121 Syuamula Lepidopteri tridentata
97 122 Crystallus columnaris viridis
98 _ Emblema ? 123 _ triticeus albus
Tafel VI.
Diese Tafel enthält den Föhnstaub und das rothe Schnee-Meteor vom Pusterthale
und Gastein vom März 1847 und den in Schlesien und Nieder - Österreich im Januar is48 ge-
fallenen Scirocco - Staub.
I. Rother Schnee vom Pusterthale
31. März 1847.
Es ist der vom Curat Villplaner gesammelte, von Hrn. Öllacher übersandte Staub,
welcher vom Böhmerwalde über Gastein bis Savoyen verbreitet war und von dem auf jeder
DMeile etwa 1000 Gentner niederfielen.
I A. Gesammt-Eindruck des Staubes bei 300 maliger diametraler Vergrölserung.
Grober Sand, feiner gelber Mulm und zerstreute Organismen bilden die Mischung. Nach
oben ist Gall. granulata, links Campilodiscus Clypeus Fragm.; unten ist ein gitterförmiges
Pflanzenparenchym, daneben Gall. granulata und Amphidiscus truncatus, auch Gall. procera.
1
3 \ Gallionella granulata ; } —_ procera
-
Passatstaub und Blutregen.
a Gallionella erenata
rd . .
{ _ laminaris
Joe
li Discoplea atmosphaerica
distans
12 Coscinodiscus radiolatus?
13 Trachelomonas laevis?
14 Gomphonema truncatum
15 Campylodiscus Clypeus
16 Eunotia zebrina
17 \ _ amphioxys
18
19 — longicornis
20 _ Argus?
21 _ longicornis?
22 Fragilaria?
23 Pinnularia taeniata
24 _ aequalis
92
Al —_ borealis
26
27 Fragilaria (Biblarium?)
28 Pinnularia viridis
29 ?
30 Fragilaria pinnata?
31 Stauroneis Semen
32 Surirella Craticula
S4f Amphidiscus truncatus
36 —
obtusus
Sn, i
38} Lithodontium furcatum
39
10}
41 —
42 Lithostylidium calcaratum
rostratum
platyodon
43 Lithodontium angulosum
44 —_ Bursa
45 _ nasulum
46 — Bursa
Phys. Ki. 1847.
47
48
49
Na BoD Mo
DE) u u
{oe}
IAAUTITUTaN
9
80
81
Lithostylidium denticulatum
_ (lacerum ?)
_ clavatum
— denticulatuwuı
= quadratum
- Serra
—_ undatum!
— curvalum
_ quadratum?
—_ Rectangulum
— Securis
—_ irregulare
_ serpentinum
—_ laeve
—_ Taurus
_ calcaratum
_ spiriferum
—_ sinuosum
_ angulatum
_ unidentatum
_ articulatum
_ biconcavum
—_ Clepsammidium
Lithosphaeridium irregulare
Lithostylidium Lima
Epidermis plantae
Spongolithis obtusa
—_ acıcularis
82
} Spiroloculina
83
84
85
86
87
88
Pollen Pini majus granulatum
Semen Filicis
Pollen? flexuosum
Pilus dichotomus
Squamula stellata
Mmm
4
7
458 EHurEnBERG:
89 Pilus ornithoramphus 97 Cellulae parenchymaticae hexangulares
90 — dentatus 98 WVasis ocellati (Pini) particula
91 — laevis apice spiralis 99 — porosi particula
20 — — basi turgidus 100 Fibra plantae nodosa
3. — — simplex 101 Lepidopteri sqguamula integra
u —- —- — basi contractus 102 Crystallus cubicus albus
95 Pilus laevis articulatus acutus 103 _ column. viridis
96 Vasa fibrosa 104 _ rhombeus albus
II. Rother Schneestaub vom Gasteiner Thale
vom 31. März 1847.
Es ist der von Herrn Prof. Haidinger im Dec. 1847 gesandte Staub, welcher in
Böckstein und Singlitz gesammelt wurde, in zwischen 3000 und 7000 Fuls Höhe die nördlichen
und südlichen Gebirgsabhänge der das Gasteiner und Raurieser- Thal begrenzenden Central-
Alpen -Kette bedeckt hat und sich an das Meteor des Pusterthals anschlielst.
IT 4 giebt den Gesammt-Eindruck des Staubes im Mikroskop. Ein mittelgrober,
doppeltlichtbrechender (Quarz-) Sand- und Fichten-Blüthenstaub sind sehr vorherrschende
Elemente. Auf dem kleinen Sehfelde liegen 5 Fliegenkopfartige Pollen - Körper der grölsern
und platten Art. Die schwarzen Zellen sind mit Luft erfüllt, die farblosen sind: Gallionella
distans in der Mitte, G. granulata rechts, links ein grüner Crystall ; unten liegt eine ästige,
verrottete, schwarze Pflanzenfaser.
1 Gallionella procera 23 Pinnularia viridula
2 24 es viridis? Fragm.
—_ granulata e
3 25 Synedra Ulna
4 — crenata 26
Ei R Ex _ Entomon
65) —_ distans 27
6 _ erenata 28 Lithasteriscus tuberculatus
7 Discoplea atmosphaerica 29 Amphidisceus truncatus
8 —_ sinensis 30 _ obtusus
9 Campylodiscus Clypeus 31 Assula hexagona umbonata
10 Coscinodiscus radiatus? 32 Lithodontium furcatum
11 Eunotia longicornis 33 _ curvatum
12 _ Zebra? 34 _ rostratum
13 . 35 _ nasutum
—_ amphioxys , ER
14 36 Lithostylidium curvatum
b) — amphioxys c. ovario 37 _ clavatum
16 — gibba 38 _ denticulatum
17 Pinnularia borealis? 39 _ calcaratum
18 Gomphonema gracıile 40 _ crenulatum
19 Podospheria Pupula 41 _ laeve
20 42 _ Taurus?
2 Navicula Semen Die Ma
2 43 Spongolithis apiculata
22 Pinnularia borealis? 44 Lithostylidium denticulatum
Passaistaub und Blutregen. 459
45 _ angulatum 34 Wasa fibrosa
46 _ spiriferum 39 Epidermis silicea
47 _ ventricosum 36 Vasa reticulata
48 Spongolithis acicularis 57 — ocellata Pini
49 _ obtusa 98 Crystallus rhombeus albus
50 Pollen ? tricoecum 59 _ triticeus albus
51 Lithochaetus laevis 60 _ cubicus albus
32 Pilus faseiculatus 61 _ columnaris viridis
53 — asper 62 - column. lamin. viridis
IIL Scirocco-Meteorstaub aus Schlesien und Nieder-Österreich.
31. Januar 1848.
Es ist der von Hrn. Göppert, von Hrn. Haidinger aus Wien u.s. w. gesandie
Meteorstaub. Hauptsächlich beziehen sich die Abbildungen des Details auf den Breslauer
Staub, doch sind characteristische Gruppen der anderen Lokalitäten, soweit der Platz es er-
laubte, aufgenommen.
III 4. Dieser Gesammt - Eindruck ist vom Breslauer Staube gezeichnet, doch war bei
allen übrigen wenig Abweichung im Wesentlichen. Es ist ein ziemlich grober, quarziger (dop-
peltlichtbrechender) Sand, ohne den gelben Mulm (ohne Gallionella ferruginea?) des atlanti-
schen Passatstaubes, aber mit wunderbar ähnlicher Mischung. Oben liegen Zithoszylidium Am-
phiodon, Lithost. Clepsammidium (im Kreuz), links ist Eunotia amphioxys mit dem Ovarıum
und mit Luftblase, unterhalb Zizhosz. Serra, unten ein grüner Säulen - Crysall und Zithost. rude,
rechts Lithost. crenatum, in der Mitte Zithost. guadratum und Pinnularia borealis. 1-48 sind
Formen des Breslauer Staubes, 44 und 49-59 sind aus dem Wiener Staube, 60-68 sind aus
dem Staube von Hirschberg, 69-75 sind von Nieder - Kummernick, 76-86 sind von Muhrau.
1 18 5 a
Lithodontium rostratum
2 : 19
Eunotia amphioxys, c. ovar. ö
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4 21 _ Scorpius
3 Synedra Entomon 22 _ obtusum
6 23 _ nasutum
7\ Pinnularia borealis 24 E
E — zriangulum
8 2:
9 Synedra Entomon? 26 Lithostylidium clavatum
10 Pinnularia viridis? 27 _ calcaratum
11 Navieula Semen 28 _ Fibula
12 Arcella constrieta 29a ER
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153 Lithasteriscus tuberculatus 29h
14 Amphidiscus truncatus 29Ic _ spiriferum
15 s ; 30 _ 7
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460
Eurengenrc: Passatstaub und Blutregen.
32 Lithostylidium biconcavum
33 _ quadratum
34 Spongolithis robusta
39 Ase BR;
36 —_ acicularis
37 Vasculum spirale plantae
38 Vasa fibrosa plantae
39 Pilus inflexus
40° —
41 Sporangium triloculare
artliculatus obtusus
42 Cellulae plantarum
43 Crystallus columnaris pallide viridis
44 — cubicus albus (Wien)
45 _ columnaris pallide viridis
46 columnaris viridis
47 _ hexagonus regularis viridis
48 Particula pumicea
507 Eunotia amphioxys, cum ovarlis
52 Fragilaria rhabdosoma! cum ovarlıs
3
Ju
1 Synedra Entomon, cum ovariis
54
55 Eunotia amphioxis.
56 Spongolithis Fustis?
57 Vasa fibrosa (Pini)
53 Musci foliosi stolones
59 Textilaria globulosa!
60
61
62
63
64
65
Trachelomonas laevis
Difflugia areolata
Navicula dubia
_ Semen
Arcella Enchelys
Lithostylidium Formica
Lithomesites Pecten
Seminulum (triticei forma)
Crystallus columnaris albus
Desmogonium guyanense?
Difflugia cellulosa
Gomphonema gracıle
Fragilaria constricta
Synedra Ulma?
Spongolithis cenocephala
Seminulum reniforme
Spongolithis Triceros
— Caput serpentis
Lithostylidium comtum
Denticulus plantae marginalis
Textilaria globulosa
‚Sporangium 6 loculara
_ 4 loculare
Pollen?
Pollen Pini minus
Lepidopteri sguamula 5 dentata
Crystallus columnaris aurantiacus.
I —
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Passatstaubl Scirocco-Staub
-Meer (mit Meteorstein 1813)
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Vergleichende Übersicht
N der vom regelmälsigen Passat-Wind, so wie bei Scirocco - und Föhn-Stürmen von 1803 bis 1849 in 17° bis 5% N. Br. getragenen mikroskopischen organischen
und unorganischen Formen und deren übereinstimmender Mischung.
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und unorganischen Formen und deren übereinstimmender Mischung.
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Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
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Aus dem Jahre
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Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königl. Akademie
der Wissenschaften.
1849.
In Commission in F. Dümmler’s Buchhandlung,
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STEINER: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, und über einige damit
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die Asträa.
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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 14. Januar 1847.]
Sa einem Jahre ist unser Sonnensystem durch zwei neuentdeckte Haupt-
planeten so erweitert worden, dafs wir jetzt schon mehr neue Planeten zäh-
len, als die Alten uns an sehr hellen Planeten überliefert haben. Zugleich
sind auch die Entdeckungen derselben von so vielen verschiedenen Theilen
der astronomischen Wissenschaft, diese als Ganzes betrachtet, ausgegangen,
dafs besonders durch den neuesten Planeten, Neptun, der Kreis der Möglich-
keiten auf diesem Felde fast abgeschlossen erscheint. Die optische Volkom-
menheit der Instrumente, die Genauigkeit der Meridianbeobachtungen und
die consequente Durchführung derselben, die specielle Ortskenntnifs durch
vieljährige Bemühungen erworben, die Vervollkommung der graphischen
Hülfsmittel, selbst eine kühne, durch die Erfahrung keineswegs bestätigte,
Hypothese hatten bis dahin zu der Entdeckung der Planeten geführt. Die
theoretische Vervollkommung der Wissenschaft war noch im Rückstande ge-
blieben, obgleich es angedeutet war, dafs auch sie, unterstützt von langjäh-
rigen genauen Beobachtungen, schon vor längerer Zeıt zu einer solchen Ent-
deckung hätte führen können. Um so erfreulicher ist es, dafs durch Herrn
le Verrier es vermieden worden ist, dafs ähnlich wie etwa bei der Aberra-
tion, eine Erscheinung, die theoretisch hätte vorausgesehen werden können,
erst durch die Erfahrung nachgewiesen werden mufste, um hinterher theore-
tisch erklärt zu werden. Vielmehr hat diesesmal die Theorie die Erfahrung
bestimmt und überraschend richtig geleitet, und daraus hauptsächlich ist die
grofse freudige Anerkennung zu erklären, welche die Männer vom Fache die-
ser Entdeckung geschenkt haben. Entfernt läfst sich hiermit nur die Voraus-
Verkündigung der Nutation der Erdaxe durch Newton vergleichen, bei
Math. Kl. 1847. A
b) Encke
welcher ebenfalls der Umstand stattfand, dafs durch die Theorie eine Bewe-
gung im Voraus angedeutet war, welche durch die besseren Instrumente der
neueren Zeit unfehlbar gefunden worden wäre, wenn man auch nicht gewufst
hätte, dafs sie vorhanden sein müsse. Es findet aber hiebei der bedeutende
Unterschied statt, dafs bei der Nutation nur das Gesetz und die Periode theo-
retisch vorhergesagt war, während die Gröfse der Bewegung, wegen mangeln-
der Kenntnifs der Elemente und theoretischer Unvollständigkeit, erst durch
die Erfahrung ermittelt werden mufste. Bei dem Neptun scheint mit weit
gröfserer Annäherung auch das Maafs vorherverkündigt worden zu sein.
Es ist natürlich, dafs bei einer solchen Gelegenheit Vergleichungen
zwischen den verschiedenen Arten der Entdeckung angestellt werden und
angestellt worden sind. Es möge mir deshalb erlaubt sein, ebenfalls eine
kurze Zusammenstellung hier folgen zu lassen.
Die alten Planeten, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, zeich-
nen sich durch den Glanz ihrer Erscheinung so aus, dafs ihre Bewegung un-
ter den Fixsternen keinem aufmerksamen Beschauer des Firmaments entge-
hen konnte, selbst wenn er aller äufseren Hülfsmittel entbehrte. Ihre Ent-
deckung fällt deshalb auch in die vorgeschichtlichen Zeiten. Uns Bewoh-
nern der nördlichen Hemisphäre kann es dabei nur höchst merkwürdig er-
scheinen, dafs die Alten den Lauf des Merkur, einen an sich sehr hellen
Stern, der aber nur 27° von der Sonne sich entfernt und deshalb bei uns
fast immer der Dämmerung wegen für das blofse Auge unsichtbar bleibt,
schon so richtig erkannt haben, da nach dem Macrobius und andern Zeug-
nissen, die alten Ägypter schon ihm einen Kreislauf um die Sonne zugeschrie-
ben haben. Allerdings konnte die Analogie der Venus sie darauf führen.
Die Grenzen des Sonnensystems blieben selbst anderthalb Jahrhun-
derte nach der Erfindung der Fernröhre unverändert dieselben. Daher die
ungemeine Überraschung, als am 13. März 1781 Herschel in Bath einen be-
weglichen Stern mit merklicher Scheibengestalt auffand. Die Überraschung
war so grofs, dafs man in der ersten Zeit ihm, trotz seiner Ähnlichkeit mit
den älteren Planeten, eine ungewöhnliche Cometen - Natur zuschrieb.
Diese Entdeckung wurde durch einen grofsen Fortschritt herbeige-
führt, den Herschel in der Verfertigung der Spiegeltelescope gemacht hatte,
verbunden mit dem Vertrauen, welches seine Instrumente ihm einflöfsten,
durch sie die Parallaxe der Fixsterne, das Problem, welches schon die
über die Asträa. 3
Aberration und Nutation hatte finden lassen, zu lösen. Die Anstrengungen,
die er machte, gehören zu den ehrenvollsten in der Wissenschaft. Über-
zeugt, dafs die vollkommenste Gestalt der Spiegel, wenn ihre Brennweite
6 Fufs übersteigt, nicht von der theoretischen Befolgung der Regeln, wel-
che man zur Hervorbringung einer parabolischen Gestalt besitzt, abhängt,
da die letzte Politur häufig diese Gestalt ändern kann, sondern von den prak-
tischen Kunstgriffen, machte er sich zu seinen 7-, 10- und 20 füfsigen
Telescopen, zu jedem 3 Spiegel. Den besten derselben setzte er jedesmal
ein und durchmusterte mit ihm den Himmel, die andern schlif er um, und
wählte dann von neuem unter den corrigirten den besten aus, so dafs er stets
als Prüfstein bei den folgenden Arbeiten, das beste übrig behielt, was seine
früheren Leistungen ihm gewährt. Er verband damit eine leichte mechani-
sche Handhabung der langen Röhren, die ihm jeden Punkt des Himmels
leicht und ohne Anstrengung einzustellen erlaubte. Endlich liefs er sich
durch ungünstige äufsere Verhältnisse nicht abhalten, den Himmel mit Ver-
gröfserungen zu durchmustern, die damals zu den unerhörten gehörten.
Mit Anwendung einer 227 maligen Vergröfserung, die nur ein Feld von 44’
gewährte, fand er an dem angegebenen Abend einen Stern zwischen den
Hörnern des Stiers und den Füfsen der Zwillinge, da wo die Milchstrafse
durch den Thierkreis geht, der eine merkliche Scheibe zeigte und bei 460
und 932 mal sie noch ansehnlich vergröfserte. Seine Mittel zur Messung
(die tägliche Bewegung betrug damals etwa 4’) würden ihm schwerlich er-
laubt haben, ihn an der Bewegung zu erkennen, selbst wenn er darauf aus-
gegangen wäre. Die Entdeckung war die reine Frucht seiner vortrefflichen
selbstverfertigten optischen Hülfsmittel, verbunden mit einer Beharrlichkeit
in der Verfolgung seines Ziels, und in der Anwendung der Instrumente, die
nur der innere Trieb einem höchst energischen Manne geben kann. Das
Telescop war 7 füfsig, folglich keineswegs von so ungewöhnlicher Gröfse.
Diese merkwürdige Entdeckung führte eine Zeit lang darauf, auf ähn-
liche Weise mit starken Vergröfserungen den Himmel zu durchmustern, um
an der Scheibengestalt andere Planeten zu erkennen. Herschel selbst soll
es längere Zeit fortgesetzt haben, aber ohne Erfolg. Erst am 1. Jan. 1801
ward ein zweiter neuer Planet von Piazzi in Palermo aufgefunden.
Piazzi hatte den Auftrag bekommen, eine Sternwarte anzulegen, und
war zu dem Ende selbst nach England gereist, um die Instrumente bei dem
A2
4 Encke
berühmten Ramsden zu bestellen und bei ihrer Ausführung gegenwärtig zu
sein. Es ist für den gegenwärtigen Zweck Nebensache, dafs das für ihn gear-
beitete Instrument in gewissem Sinne Epoche in der beobachtenden Astro-
nomie macht, da es der erste gröfsere Vollkreis ist, welcher die Vorzüge
dieser Construktion vor den sonst gebräuchlichen Quadranten und Sextan-
ten in die Augen fallen liefs, so sehr, dafs man in der neueren Zeit ganz den
Vollkreisen sich zugewandt hat, da die Vervollkommung der Theilmaschinen
die Vergröfserung des Radius, welcher sich bei Instrumenten, welche nur
Abtheilungen des Kreises enthalten, anbringen läfst, nicht von so grofsem
Werthe erscheinen läfst, als die geschlossene Gestalt des ganzen Kreises.
Merkwürdiger ist die Anordnung, die Piazzi bei seinen Beobachtungen be-
folgte, und die wesentlich zu der Entdeckung des Planeten beitrug. Piazzi
begann sogleich die Beobachtung eines grofsen Sternkatalogs, bei welchem
ihm Wollaston’s Sternverzeichnifs zur Grundlage diente. Um möglichst
schnell und bequem und doch dabei mit hinreichender Genauigkeit sein Ziel
zu erreichen, schlug er folgenden Weg ein, der erst jetzt durch den höchst
verdienstlichen Druck der Piazzischen Beobachtungen, den Littrow in Wien
in den Wiener Annalen veranstaltet hat, völlig aufgeklärt ist. Der schöne
Sieilianische Himmel wird selten durch Wolken getrübt, welche eine be-
stimmte Beobachtung verhindern könnten, fast das ganze Jahr hindurch ist
er wolkenfrei. Piazzi wählte daher für mehrere Tage hintereinander (mei-
stens 6) bestimmte Sterne aus, die er vorzugsweise und bestimmt beobach-
ten wollte. Einen solchen Satz nannte er Corso, und ordnete dann die Be-
obachtungen desselben Sternes an den verschiedenen Tagen eines solchen
Corso zusammen. Bei der raschen Aufeinanderfolge der Tage und der sehr
seltenen Unterbrechung konnte die Reduktion der Beobachtungen ohne
Nachtheil nur mit dem Mittel aus den Beobachtungen desselben Sternes an-
gestellt werden, und zugleich gab die Vergleichung der einzelnen Tage unter
sich einen sichern Maafsstab zur Schätzung der Genauigkeit und Ausmerzung
des Fehlerhaften. In den Zwischenzeiten zwischen den ausgewählten Ster-
nen nahm er solche Sterne, die in der Nähe befindlich, ohne die Beobach-
tungen der bestimmten Sterne zu stören, mitgenommen werden konnten.
Aus dieser für sein Klima und seinen Zweck sehr angemessenen Anordnung
ist es allein zu erklären, dafs ihm die Ceres nicht entging. Denn als er am
ersten Abende sie beobachtet, brachte es die Reihefolge der folgenden Tage
über die Asträa. b)
mit sich, dafs er auch an den folgenden Tagen sie erwartete, und sofort an
der merklichen Verrückung erkennen konnte, es sei ein beweglicher, einer
besondern Betrachtung würdiger Stern. Die Entdeckung war daher die
Folge einer umsichtigen consequent durchgeführten Vertheilung einer grofsen
Arbeit. Für unsere ungünstigen climatischen Verhältnisse, wo längere Zeit
häufig zu bestimmten Stunden die Meridianbeobachtungen unterbrochen wer-
den durch Wolken, würde diese Vertheilung höchst unzweckmäfsig sein, wenn
man sie ausschliefslich beibehalten wollte.
Die Entdeckung der Ceres war durch den Aufschwung, den sie durch
Hrn. v. Zach der deutschen Astronomie verschaffte, von den wichtigsten
Folgen. Die Gewinnung von Gaufs für praktische und theoretische Astro-
nomie, die sich unmittelbar daran knüpfte, da er allein das durch die Ent-
deckung der Ceres hervorgerufene Problem der Bahnbestimmung aus nicht
mehreren Beobachtungen, als dazu nöthig sind, löste, gehört nicht unter die
kleinsten Vortheile, welche die Wissenschaft davon hatte. Aber weder die
Genauigkeit der Piazzischen Beobachtungen, noch die Dauer derselben in
Bezug auf die Ceres, konnte selbst bei den Berechnungen eines Gaufs den
Platz, wo die Ceres nach ihrer Rückkehr von der Sonne sich finden mufste,
genau genug angeben, um nicht der Hülfe der genausten Kenntnifs des Stern-
himmels sehr bedürftig zu sein. Nur mit grofsem Bedauern kann man be-
sonders in der neuern Zeit bemerken, dafs dieser Theil der astronomischen
Wissenschaft sehr und unverdient meistens zurückgesetzt wird. Allerdings
nur von denen, welche aus Bequemlichkeit sich nicht damit bekannt gemacht
haben, und meistens von Solchen, die es angenehmer finden (leichter ist es
gewifs), sich in Worte ergehen zu lassen, als selbst Hand anzulegen. An sich
schon sollte in keiner angewandten Wissenschaft irgend ein Theil hintange-
setzt werden, am wenigsten ein so wichtiger, wie der der Kenntnifs des Ma-
terials. Wenn in allen Naturwissenschaften die Kenntnifs des Materials einen
grofsen und von keinem Bearbeiter des Faches hintanzusetzenden Aufwand
von Kräften und Zeit erfordert, dem keiner ungestraft sich entziehen kann,
so findet dasselbe eben sowohl in der Astronomie statt, wenn auch bei ihr
die Klassen und Eintheilungen weniger auf wesentliche Merkmale sich grün-
den. Es ist gewifs ein Nachtheil der zur genauen Ortsbestimmung allerdings
unentbehrlichen Meridianbeobachtungen, dafs bei den eigentlichen Astrono-
men vom Fach diese astrognostischen Kenntnisse immer seltener werden.
6 Encke
Wenn sie auch mechanisch gesammelt werden können, so zeigt doch nament-
lich auch das Beispiel von Olbers, dafs bei ihrer Einsammlung leitende
Ideen gar nicht ausgeschlossen zu werden brauchen, und mehrere der inter-
essantesten Abhandlungen von Olbers gründen sich auf diese seine umfas-
sende Kenntnifs der Einzelnheiten des Sternsystems. Sind denn in den rein
theoretischen Wissenschaften nicht ganz ähnliche grofse Theile, die als rein
mechanisch angelernt werden müssen, und die häufig selbst nur so eingelernt
werden, während eine geistvolle Auffassung auch dieser unentbehrlichen
Übungen nicht selten den Fingerzeig zu Entdeckungen gegeben haben? Frei-
lich werden sie später meistens mit Vorliebe von ihren Entdeckern so hinge-
stellt, als seien sie die Frucht des angestrengtesten Nachdenkens. So wie
Euler’s Beispiel, wie ich glaube, in 9 Mare vorzugsweise den Werth
einer beständigen Übung in den mechanischen Theilen am deutlichsten her-
vorhebt, so haben Bessel und Olbers in der Astronomie bewiesen, dafs
nur der, der auch die mechanischen Arbeiten in diesem Fache nicht scheut,
in ihnen die Vorbereitungen findet, die erforderlich sind, um mit wirklichem
Erfolge die theoretischen Vorschriften in fruchtbare Anwendung zu setzen.
Ich erwähne diese Sache hier speciell, weil es mich verwundet hat, selbst
von Astronomen die Behauptung aufgestellt zu lesen, die Auffindung des
Neptun sei ihnen unmöglich gewesen, weil die von Hrn. Dr. Bremiker ge-
zeichnete Karte des Theils des Himmels, wo sich der Planet hefand, nicht
in ihren Händen war, ja in einer Druckschrift findet sich ganz unumwunden
ausgesprochen, da am 23. Sptbr. 1846 die Bremiker’sche Karte ausgegeben
sei, so habe auch vorher der Planet gar nicht gefunden werden können.
Als ob das, was ein Astronom entworfen hat, nicht auch von einem Andern
gemacht werden könnte. Als Entschuldigung, wenngleich nur eine sehr
ärmliche, und nur vor einem Auditorium, bei dem man keine Kenntnifs der
Sache voraussetzt, auszusprechende, kann es höchstens gelten, weil aller-
dings die Karte die Aufsuchung wesentlich erleichtert hat. Aber wenn das
Vertrauen zum angegebenen Orte vorhanden gewesen wäre, so bin ich über-
zeugt, in höchstens zwei Abenden hätte ein zu diesem Zwecke hinreichend
grofser Raum gezeichnet werden können, und bei einer Vergleichung nach
14 Tagen, in welcher der Planet sich etwa 4° bewegt haben würde, hätte
er auch ohne die Bremiker’sche Karte gefunden werden müssen. Ich kann
es um so unbedenklicher aussprechen, als man gewifs bei mir voraussetzen
über die Asträa. 7
kann, dafs ich den grofsen Werth der akademischen Karten nicht herabsetzen
werde. Diese Karten geben für das Ganze auf einmal die Mittel, die man
in den speciellen Fällen auf einem kleinen Raume sich erst verschaffen müfste.
Wäre es aber ohne sie unmöglich, einen beweglichen Stern zu finden, wie
hätte Olbers unter weit schwierigeren Verhältnissen damals die Ceres auf-
finden können?
Denn allerdings war die Auffindung der Ceres beträchtlich schwieri-
ger als die des Neptun sich ausgewiesen hat, weil, obgleich Gaufs aus den
Piazzischen Beobachtungen eine elliptische Bahn berechnet hatte, doch eine
Zwischenzeit von 10 Monaten zwischen der letzten Piazzischen Beobachtung
und der Zeit, wo man zuerst wieder hoffen konnte, sie am Morgenhimmel
zu finden, die Vorausberechnung etwas unsicher machte; aufserdem hatte
durch seine verspätete Bekanntmachung Piazzi die übrigen Astronomen
verhindert, sie auch nur einmal zu sehen, folglich waren Piazzis Beob-
achtungen allein die Grundlage und endlich hatten ähnlich wie bei Neptun,
die theoretisch richtigen Angaben von Gaufs, da sie von den genäherten
Kreisbahnen anderer Astronomen abwichen, nicht im Voraus das Vertrauen,
welches erlaubt haben würde, sich auf einen sehr kleinen Raum am Him-
mel bei der Durchsuchung zu beschränken. Während jetzt bei Neptun eine
Karte von vielleicht 4 Quadrat-Graden hingereicht haben würde, wurden
bei der Ceres eine genaue Erforschung und Verzeichnung von 12 bis 16 er-
fordert. Gerade aber diese gröfsere Ausdehnung der Gegend des Himmels,
welche Olbers (unter den Astronomen der neueren Zeit wohl der gröfste
Kenner des gestirnten Himmels) genau sich versinnlichen mufste, durch die-
selben, bei weitem nicht einmal so vortrefflichen Mittel, wie die neuere Zeit
bei Neptun sie darbot, führte am 28. März 1802, vier Monate, nachdem Ol-
bers die Ceres aufgefunden hatte, fast an derselben Stelle, nur 30’ entfernt
von dem Ort, wo die Ceres bei der Rückkehr aus den Sonnenstrahlen ge-
standen hatte, zu der Entdeckung der Pallas, die folglich als eine reine Frucht
der genauesten, auf einen beträchtlichen Raum ausgedehnten Ortskenntnifs,
unter den Sternen anzusehen ist. Die Bemerkung eines neuen Sternes in
einer Gegend, die er sich genau bekannt gemacht hatte, führte Olbers auf
eine fortgesetzte Beobachtung dieses Sterns, welche eine nicht unbeträchtli-
che Bewegung, und damit die Gewifsheit eines neuen Wandelsterns ergab.
8 Encks
Diese raschen aufeinanderfolgenden Entdeckungen zweier Planeten,
welche nahe in derselben Entfernung von der Sonne sich befanden, machten
die Vermuthung rege, es könnten noch mehrere in derselben Gegend befind-
liche vorhanden sein; in jedem Falle erforderte aber die Beobachtung der
schon gefundenen neue Hülfsmittel, um sie mit Bequemlichkeit und Erfolg
anstellen zu können. Hier reichten nicht mehr die Oppositionen allein aus,
auf welche man bei den alten Planeten in den neuesten Zeiten fast allein sich
beschränkt hat. Es war nothwendig, wenigstens in den ersten Jahren die
schwachen Sterne auch aufser dem Meridian, die ganze Zeit hindurch, in
welcher sie durch die Sonnenstrahlen nicht verdeckt waren, zu verfolgen,
wäre es auch nur gewesen, um genäherte Elemente gleich in den ersten Jah-
ren aufstellen zu können. Die damaligen Himmelskarten reichten aber zu
einer leichten Auffindung so schwacher Sterne nicht hin. Denn entweder
waren sie von zu altem Datum, wie die Flamsteedschen, und enthielten
doch nur die allerhellsten Sterne, so wenige, dafs unter der grofsen Anzahl
schwächerer der Planet nicht herauszufinden war, oder sie waren, wenn Meh-
rere Sterne aufgetragen waren, nicht mit der gehörigen Kritik angefertigt, so
dafs durch Druck-, Schreib- und Rechnungsfehler Sterne auf den Karten
standen, die am Himmel nicht zu finden waren, oder Sterne auf ihnen ver-
mifst wurden, welche beobachtet und schon genau genug bestimmt waren.
Der Schatz von Beobachtungen in Lalande’s Histoire celeste war dabei noch
gar nicht benutzt worden, weil die Karten vor der Publikation erschienen
waren. Um den Lauf der bisher bekannten kleinen Planeten verfolgen zu
können, fing der Herr Prof. Harding die mühsame Arbeit an, die er so
glücklich zu Ende geführt hat, Sternkarten zu entwerfen, ohne allen Schmuck
der Zeichnung in den Figuren der Constellationen, welche indessen alle
Sterne enthalten sollten, die in bewährten Catalogen, der Hist. celeste, und
einigen Beobachtungsjournalen enthalten waren, welche zur Ausfüllung der
Lücken der Hist. cdleste angestellt worden waren. Es sind dieses die ersten
Sternkarten, welche eine ganz sichere Basis haben. Sie enthalten nur Sterne,
welche an den angegebenen Stellen als beobachtet angegeben sind und nach-
gesehen werden können, und zur Verhütung der so schwer ganz zu vermei-
denden Fehler in den aufgezeichneten Zahlen unterzog sich Prof. Harding
der ungemein mühsamen, aber allein zuverläfsigen Prüfung, jeden einzelnen
Fleck am Himmel nachzusehen und dadurch bestimmt in Bezug auf die wirk-
über die Asträa. 9
lich vorhandenen Fixsterne zu controlliren. Diese Karten, da sie über den
ganzen Himmel ausgedehnt sind, bilden noch jetzt die Haupt-Grundlage bei
allen Nachforschungen und sind im Grunde von allen späteren Herausgebern
von Karten benutzt worden.
Die Frucht dieser ersten, nach einem festen Principe veranstalteten,
Zeichnung des Himmels war die Entdeckung der Juno durch Harding am
1. September 1804.
Wenn bisher die gröfsere Kraft der optischen Instrumente, die conse-
quente Durchmusterung des Himmels an einem festen Instrumente, die ge-
naue Ortskenntnifs an einem kleinen Theile des gestirnten Himmels, und die
Vorbereitung zu einer solchen über das ganze Firmament die Zahl der Pla-
neten vermehrt hatte, so trat nun eine leitende Idee hinzu, nicht unwahr-
scheinlich dem ersten Anblicke nach, nicht festgegründei durch theoretische
Schlüsse, aber doch aus einem geistreichen Bestreben hervorgegangen, sich
die auffallende Erscheinung zu erklären, dafs drei, und zwar sehr kleine Pla-
neten, nahe in demselben Abstande um die Sonne sich bewegen, während
die gröfseren in Bahnen kreisen, welche so weit von einander geschieden
sind, dafs wenn man den Ort der drei kleinen Planeten als einen solchen an-
sieht, der von einem einzigen grölseren hätte eingenommen werden können,
die Abstände eines Planeten zum nächstfolgenden etwa wie 2:3 oder selbst
wie 1:2 sich verhalten. Diese Erklärung, welche darauf hinauskommt, an-
zunehmen, dafs die drei kleinen Planeten in gewissem Sinne Stücke eines
gröfseren sind, entweder durch wirkliche Zersprengung entstanden, oder
doch in dieser Gegend durch denselben Procefs hervorgerufen, der in an-
dern Gegenden einen einzigen gröfseren entstehen liefs, wird gewöhnlich mit
dem Namen der Olbers’schen Hypothese bezeichnet. (!) Indessen hat Ölbers
sowohl vor der Entdeckung der Vesta, als auch nachher, sie nur und zwar
auch nur sehr selten gleichsam hingeworfen, niemals hat er sie theoretisch
zu begründen versucht. In der That, so viel sich bis jetzt urtheilen läfst,
widerspricht ihr die Theorie, wenn nämlich an eine Zersprengung gedacht
wird. Wäre das der Fall, so müfste der Ort des Zerspringens allen aus dem
einen Planeten entstandenen kleinen Körpern auf ihren Bahnen als gemein-
schaftlicher Kreuzungspunkt geblieben sein, abgesehen von den Störungen
€) M. C. VI. 88, 313. X. 377.
Math. Ki. 1847. B
410 Encke
unter sich, welche kleine Modifikationen eintreten lassen können. Unter al-
len Punkten, die dazu geeignet scheinen, ist vorzugsweise einer, wo Üeres
und Pallas bei dem niedersteigenden Knoten der Pallasbahn auf der Ceres-
bahn sich jetzt in ihren Bahnen ungemein nahe kommen. Die Secularände- .
rungen der Elemente können zwar noch nicht genau sein, allein sie sind doch
mit grofser Näherung so weit entwickelt, dafs der Sinn der etwanigen Ände-
rungen in der Lage dieses Kreuzungs - Punktes daraus abgeleitet werden kann.
Wendet man sie aber an, so werden sich die Pallas- und Ceresbahn niemals
in einer früheren Zeit wirklich gekreuzt haben, wohl aber in Zukunft einmal
sich schneiden können. (!) Hiernach kann an eine eigentliche Zersprengung
vor einer Reihe von Jahrhunderten nicht gedacht werden. Immer indessen
bleibt es eine merkwürdige Thatsache, die aber erst vor einigen Jahren sich
ergeben konnte, dafs höchst wahrscheinlich die Dichtigkeit der Planeten,
welche zwischen der Region der kleinen Planeten und der Sonne stehen,
nahe einander gleich oder sehr nahe der Dichtigkeit der Erde kommt, wäh-
rend die Dichtigkeit der Planeten, welche weiter entfernt von der Sonne sind
als die Region der kleinen Planeten, sehr beträchtlich kleiner ist, und der
Dichtigkeit des Sonnenkörpers oder etwa — sich weit mehr nähert, als der
der Erde, die letztere bei dem Bruche — als Einheit angesehen.
Leitende Ideen dieser Art, wenn sie sich auch nicht strenge beweisen
lassen, sind bei Verfolgung von Hypothesen immer von dem grofsen Nutzen,
die Fortführung der Untersuchung angenehmer zu machen und dazu anzu-
spornen. Auch sind sie in der Astronomie nichts Ungewöhnliches, da schon
Kepler durch mangelhafte Analogien auf die Entdeckung seiner Gesetze,
namentlich des sogenannten zweiten, dafs die Flächenräume den Zeiten pro-
portional sind, geführt worden ist, und selbst bei dem Neptun hat das soge-
nannte Bodesche Gesetz geleitet und die Untersuchung wesentlich erleich-
tert. Wenn deshalb nur den Erscheinungen nicht Gewalt angethan wird,
um sie in das vermeinte Gesetz einzupassen, so sind sie keinesweges ganz zu
verwerfen. Namentlich schwebt über die Art der Massenbildung im Anfange
ein so starkes Dunkel, dafs ein Widerspruch mit unsern jetzigen Theorien
noch gerade kein ganz stringenter Beweis für die gänzliche Falschheit ist.
Olbers benutzte seine Hypothese ganz auf die rechte Weise, indem er die
(1) M. C. XXVE299:
über die Asträa. 11
Schneidungslinie der Pallas- und Ceresbahn nach der Stelle zu, wo beide
Bahnen sich am nächsten kommen, verlängerte, und darnach die Himmels-
gegend bestimmte, in welcher Asteroiden, die einen solchen Ursprung eben-
falls gehabt hätten, sich irgend einmal aufhalten müfsten. Er durchsuchte
deshalb jeden Monat den nordwestlichen Theil des Gestirns der Jungfrau,
und den westlichen Theil des Gestirns des Wallfisches, nämlich immer den,
der seiner Opposition unter diesen beiden am nächsten ist. Am fruchtbar-
sten für diese Nachforschungen war die dadurch erlangte genaue Bekannt-
schaft mit allen Sternen dieser Gestirne. Sonach war es nicht ganz Zufall,
dafs er am 29. März 1807 (') im nordwestlichen Flügel der Jungfrau einen
unbekannten hellen Stern, mindestens von der 6. Gr., sogleich als Planeten
erkennen konnte. Die regelmäfsige Bewegung der folgenden Abende bestä-
tigte dieses vollkommen, und Vesta ward sehr schnell in die Reihe der Pla-
neten mit festen Elementen eingeführt.
Auch nach dieser Zeit hat Olbers fortgefahren, denselben Gang zu
befolgen, ohne weiteren Erfolg. Man kann hieraus vielleicht schliefsen, dafs
Asteroiden von der 6., 7. und vielleicht 8. Gr. nicht mehr vorhanden sind,
obgleich es doch auch möglich ist, dafs bei dem grofsen Umfang der zu
durchsuchenden Gestirne einzelne selbst einem Kenner der Gegend, wie Ol-
bers war, entgangen sind. Der Sterne 9. Gr. sind zu viele, als dafs man
glauben könnte, es sei möglich das Bild der Gegend so fest im Gedächtnisse
zu behalten, dafs nicht ein solcher übersehen werden könnte.
Der Aufschwung der beobachtenden Astronomie nach der Gründung
der Königsberger Sternwarte, welchen sie fast allein B esseln verdankte, liefs
für die nächsten Jahre das freie Nachsuchen zurücktreten, gegen die so
höchst verdienstvollen Bestrebungen, durch möglichst genaue Beobachtun-
gen mit den Meridianinstrumenten alle Grundlagen der Wissenschaft zu ve-
rifiziren und zu vervollkommen. Selbst die Entdeckung mehrerer Gometen
von kurzer Umlaufszeit bewirkte doch kein so anhaltendes Nachsuchen nach
solchen Himmelskörpern (woran sich die Möglichkeit der Entdeckung neuer
Planeten angeschlossen haben würde), dafs nicht besondere Veranstaltungen
erforderlich gewesen wären, um diesen Zweig der Wissenschaft zu beleben.
(') Astr. Jahrb. 1810. p. 194.
B2
19 Enck#
Zu diesen gehören die akademischen Sternkarten. Bessel hatte im
Jahre 1825 seine Zonenbeobachtungen bis zu 15° nördlich und südlich vom
Äquator vollendet, welche sowohl in Bezug auf Genauigkeit, als auf die
Menge der kleinen darin beobachteten Sterne die Hist. cel. von Lalande
übertrafen, übrigens denselben Zweck verfolgten, für eine möglichst grofse
Anzahl schwacher Sterne bis zur 9. — 10. Gröfse etwa herunter, eine Orts-
bestimmung zu geben, die sowohl das Wiederfinden sicherte, als auch für
die meisten Cometenbeobachtungen schon an sich eine hinreichende Ge-
nauigkeit gewährte. Ähnlich wie man sagen kann, dafs die Hardingschen
Karten die graphische Auftragung der Lalandeschen Histoire celeste sei,
wünschte er auch seine Zonen verzeichnet zu sehen, und um damit zugleich
den wichtigen Zweck zu verbinden, nicht blofs die schon auf das Gerade-
wohl hin beobachteten Sterne verzeichnet zu haben, sondern eine Grundlage
zu besitzen, welche versicherte, man habe wirklich alle am Himmel befindli-
chen Sterne bis zu einer bestimmten Gröfse auf den Karten, ohne dafs Einer
fehle, so schlug er der Akademie vor, die Zone des Himmels von — 15° bis
+ 15° Decl. in 24 Blätter zu vertheilen, für die Zeichnung jedes Blattes zu
verlangen, dafs alle beobachteten Sterne in Bradley und Piazzi’s Catalog, so
wie den Zonen von Lalande’s Hist. cel. und Bessel gehörig eingetragen wür-
den und bezeichnet, dafs sie beobachtet wären, aufserdem aber alle Sterne
bis zur 10. Gr., d. h. solche, die man in einem gewöhnlichen Cometensu-
cher noch sehen könnte, nach dem Augenmaafse so nachgetragen würden,
dafs jedes Blatt ein getreues und ganz vollständiges Bild des Himmels bis zu
der angegebenen Helligkeit wäre und den späteren Beobachtern zeigte, was
noch zu bestimmen sei. Die Akademie ging auf diesen Vorschlag ein. Es
ward noch die Bedingung eines vollständigen Catalogs Aller bis jetzt beob-
achteten Sterne hinzugefügt und für die Anfertigung jedes Blattes eine Prä-
mie ausgesetzt, der Stich ward jedesmal, sobald ein Blatt vollendet war,
gleich begonnen. Es sind 15 von diesen Blättern beendigt und das 16te be-
reits gestochen.
Die Absicht war, durch Vertheilung an Viele, zugleich eine gleichzei-
tige Revision des ganzen Himmels zu veranstalten und eben dadurch einen
Planeten, wenn er sich in dieser Zone befinden sollte, zu entdecken. Die-
ser Zweck ist nicht erreicht. Theils fand die Arbeit nicht die Theilnahme,
welche sie ihres Zweckes wegen verdient hätte, so dafs viele Liebhaber mit
über die Asträa. 13
in die Reihen der Bearbeiter aufgenommen werden mufsten, theils schritt sie
langsam, sehr langsam, vor, da Viele sich wieder lossagten, die einen Theil
begonnen hatten, Andere immer nur sehr unterbrochen daran arbeiteten und
bis auf diese Stunde noch nicht fertig sind. Die meisten Blätter wurden in
Berlin gemacht.
Dennoch haben diese Sternkarten ganz direkt die Entdeckung der bei-
den Planeten herbeigeführt. Für den Liebhaber, der unter dem grofsen
Heere schwächerer Sterne nach beweglichen oder Planeten suchen will, ist es
immer die gröfste Schwierigkeit, eine genaue und hinlänglich specielle Stern-
karte zu haben, die ihm die Resultate der früheren Beobachtungen graphisch
und folglich ihm am leichtesten verständlich darlegt, verständlicher als die Zah-
len der Cataloge esthun. Diesem Bedürfnifs helfen die akademischen Stern-
karten ab. Sie sind genau genug, um bei 5--” auf einen Grad, oder 10° auf
eine Linie, noch bis auf etwa 2’ den Ort des Sterns finden zu können, und
sie sind speciell genug, um fast mit derselben Sicherheit die nicht beobach-
teten nachtragen zu können, besonders da der Catalog die beobachteten
Sterne genau den einzelnen Zeit-Secunden und Zehntheilen der Minute nach
angiebt.
So benutzte die Blätter der akademischen Sternkarten ein eifriger
Liebhaber der Astronomie, der frühere Postsekretair Hencke('!) in Driesen,
der mir seit 1828 bekannt war. Seine Liebhaberei zur Astronomie hatte ihn
den Staatsdienst aufgeben lassen, und mit einem Cometensucher und einem
stärkeren Fernrohre durchmusterte und verzeichnete er die Theile des Him-
mels, bei welchen ihm die bis dahin herausgekommenen akademischen Stern-
karten als Grundlage dienen konnten. Als Beispiel seines Verfahrens kann
ich die Hora X. von Göbel, vielleicht nicht ganz dem Plane gemäfs gezeich-
net, vorlegen, die Hencke 9mal vergröfsert hat. Er hat auch 16 mal ver-
gröfserte Karten sich entworfen. Die Sterne des Verzeichnisses sind nebst
den nachgetragenen auf einem Blatte verzeichnet, während auf einem Neben-
blatte die nachgetragenen durch besondere Farbe ausgezeichnet sind, und
bei jedem derselben angezeichnet, wie oft er ihn nachgesehen hat, wobei
mehr als 4mal in demselben Jahre nicht beachtet ist. Die häufigen Zahlen
(') Carl Ludwig Hencke, geb. den 8. Apr. 1793, verwaltete das Postamt Driesen
bis zum 1. Juli 1837, wo er nach 2 Militair- und 29 Civil- Dienstjahren auf seinen Wunsch
mit Pension entlassen ward.
14 Encke
12 etc. zeigen folglich eine 3jährige oder längere Aufmerksamkeit, wobei
aus der nächsten Constellation sogleich eine Verrückung geschlossen werden
konnte. Dafs auf diese Weise ein Planet mit Sicherheit erkannt werden
könne, wenn er auf der Karte erscheint, ist von selbst einleuchtend, und
eben deshalb konnte Hencke, als er am 8. Dechr. in der Hora IV. einen
Fremdling Iter Gr. fand, mit grofser Bestimmtheit ihn als Planeten bezeich-
nen, da selbst, wenn es ein veränderlicher Stern sein sollte, die mehrjährigen
Nachforschungen wahrscheinlich schon früher eine Spur hätten entdecken
lassen. So ward die Asträa gefunden, von der ich die Beobachtungen und
Bahnbestimmung nachher angeben werde.
Wenn man diese verschiedenen Entdeckungen betrachtet, so geht da-
raus hervor, dafs der praktische Theil der Astronomie in seinen verschiede-
nen Theilen Alles erfüllt hat, was zu einer solchen Entdeckung führen kann.
Die Instrumente sind so vervollkommt, dafs das äufsere Merkmal einer
Scheibe, wenn sie hinreichend grofs ist, den Planeten erkennen läfst, und
es ist dadurch einer gefunden, wenngleich mit der Kleinheit der Scheibe
nothwendig die Schwierigkeiten, besonders in unserm Clima, so wachsen,
dafs man auf diesem Wege keine Hoffnung hatte, noch entferntere Planeten
zu finden. Die Aufmerksamkeit auf etwanige Bewegungen war gespannt,
und wurde, so weit es die regelmäfsigen Beobachtungen zuliefsen, angewandt,
wodurch der zweite Planet gefunden ward. Die sehr specielle Ortskenntnifs
am Himmel eines der gröfsten Astrognosten führte zur Entdeckung des drit-
ten, die Vorbereitung zu einer consequenten Verbreitung dieser Kenntnifs zu
der Entdeckung des vierten, und die noch weiter vervolikommten Bestre-
bungen in derselben Absicht zu der des sechsten. Endlich leitete eine ge-
wagte, aber nicht ganz verwerfliche, Hypothese, verbunden mit einer ener-
gischen Ausdauer, zu der Entdeckung des fünften. Die Mittel, welche die
Praxis allein darbieten konnte, waren sonach, was die Methoden betrifft,
so gut-wie erschöpft. Durch die Verbindung der Praxis mit der Theorie ist
jetzt auch der siebente gefunden, und diese Verbindung, die von jeher der
Astronomie eigenthümlich war und der sie ihre schönsten Früchte verdankt,
wird hoffentlich künftig auf diesem Felde die Schritte auch noch sicherer leiten.
Seit der Erscheinung der Uranustafeln von Bouvard, im Jahre 1821,
war eine Differenz zur Sprache gekommen, welche nach den damaligen Da-
ten der Praxis und der damaligen Anwendung der Theorie sich mit den an-
über die Asträa. 15
genommenen Gesetzen nicht vereinigen liefs. Uranus war vor seiner Ent-
deckung 19 mal von Flamsteed, Bradley, Lemonnier und Mayer be-
obachtet worden, als ein Fixstern sechster Gröfse. Nachdem er als Planet
erkannt war, hatte man von 1781-1821 eine fortlaufende Reihe von 40 jäh-
rigen Beobachtungen, so dafs von der ersten Flamsteedschen Beobachtung
bis zu 1821 130 Jahre, oder etwa 1 Umläufe des Uranus verflossen waren.
Es war folglich hier wie immer die Aufgabe, nicht blofs einzelne Gruppen,
sondern das Ganze der Erscheinung innerhalb der möglichen Beobachtungs-
fehler darzustellen. Dieses aber war dem verdienten Herausgeber der Ta-
feln nicht gelungen. Die Beobachtungen vor der Entdeckung liefsen sich
mit denen nach derselben nicht vereinigen, wenn man nicht Beobachtungs-
fehler annehmen wollte, die schon bei den einzelnen der genannten älteren
Astronomen, auch bei flüchtiger Wahrnehmung, unwahrscheinlich waren;
durch ihren Gang aber und durch die übereinstimmende Gröfse der Abwei-
chung bei allen es zur Gewifsheit erhoben, dafs hier eine andere Fehlerquelle
sei als die der zufälligen Beobachtungsfehler.
Diese Frage wurde von den verschiedensten Seiten betrachtet. Man
vermuthete einen Fehler in der Anwendung der Theorie bei Bouvard, der
indessen, wenngleich die strengste Schärfe fehlte, doch bis zu dem Betrage
nicht nachgewiesen werden konnte. Bessel scheint mit durch diesen Um-
stand veranlafst zu sein, die Frage in unsern akademischen Abhandlungen
aufzuwerfen: ob eine Wahlverwandtschaft bei den verschiedenen Planeten
in Bezug auf die Anziehung nicht stattfinden könne, ähnlich wie in der Che-
mie, und dadurch sowohl diese Differenz als eine andere zu erklären sei,
nach welcher die Masse des Jupiters anders aus den Störungen, die er auf
Saturn ausübt, herauszukommen schien, als aus den Störungen, welche die
kleinen Planeten durch Jupiter erleiden. Beides indessen hat sich nicht er-
wiesen. Aus den Störungen der Vesta hat sich wenigstens ergeben, dafs eine
solche Wahlverwandtschaft zwischen Sonne, J upiter und Vesta nicht besteht,
und da die Störungen, die Jupiter auf den Pons’schen Cometen, Vesta, Juno,
Pallas und Ceres ausübt, fast genau dieselbe Masse geben, als diejenige welche
aus den Jupiterstrabanten nach Bessel’s und Airy’s genauen Beobachtungen
folgt, so liegt der Grund, warum die Saturnsstörungen einen andern Werth
geben, höchst wahrscheinlich in der nicht streng genug geführten Entwickelung
der Störungsglieder. Sonach blieb zur Erklärung des anomalen Laufes des
16 Encks
Uranus nichts anderes übrig, als eine besondere störende Kraft, einen neuen
störenden Planeten, anzunehmen, ein Gedanke, der früh schon ausgespro-
chen und von Eugene, Bouvard, Hansen, Bessel, Airy und Andern ventilirt
war, ohne dafs eine besonders geführte Untersuchung darüber gemacht wäre.
Selbst, eine Preisfrage der Göttinger Societät hatte keinen Erfolg.
Die Gründe, warum die Frage früher nicht ernsthaft angegriffen war,
lagen theils darin, dafs namentlich die Bestimmung der Jupiters- und Saturns-
Masse erst vor wenigen Jahren mit voller Befriedigung festgesetzt ist, dieses
aber sind die hauptstörenden Kräfte in unserm Sonnensysteme, die man am
genauesten kennen mufste, wenn man den Betrag ihrer Wirkungen auf den
Uranus bestimmt angeben wollte, und darnach bestimmen, wie grofs der
aufsergewöhnliche unerklärte Betrag der beobachteten Abweichung bei dem
Uranus sei. Theils in der Kleinheit, numerisch betrachtet, dieses Einflusses,
der zusammen etwa einen Unterschied von 5 Bogenminuten während eines
Jahrhunderts ausmachte. Man glaubte daher auf indirektem Wege sich Ein-
sicht verschaffen zu müssen von dem Haupt-Einflusse, welcher auf die Bahn
des Uranus ausgeübt werde. In der That hat auch Airy im Jahre 1835
(Astr. Nachr. 349) aus den Beobachtungen von 1833-1836 direkt nachge-
wiesen, dafs der Abstand des Uranus von der Sonne, wie die Tafeln ihn ge-
ben, merklich zu klein für diese Jahre sei, so dafs wenigstens eine Form der
Bahn, wie sie ausfallen müsse, nachgewiesen war. Theils aber lag allerdings
der Hauptgrund in der Complication der Aufgabe. Zwar wenn der Ort des
störenden Planeten und seine Bewegung gegeben ist, so hatte man immer
schon aus der Gröfse der Störungen die Masse, welche stört, bestimmt, dabei
handelte es sich aber nur um die Ermittelung eines einfachen Faktors, wobei
die Zahlen, mit denen dieser Faktor multiplizirt ist, als genau angesehen
werden konnten. Hier waren blofs die Gröfsen angegeben, welche mit Hülfe
eines störenden Planeten weggeschafft werden mufsten, und es fand die Auf-
gabe statt, mit Hülfe der allein noch bekannten Form der Störungsglieder,
die ungemein verwickelt ist, die Zahlenwerthe der einzelnen Elemente, aus
denen sie zusammengesetzt sind, abzuleiten. Die Anzahl der Unbekannten
wächst dabei um so mehr, als man die Unterschiede zwischen Beobachtung
und der bisherigen Theorie gar nicht rein als die wahre Wirkung des unbe-
kannten Planeten ansehen darf, sondern auch die Änderung berücksichtigen
mufs, die die bisherigen Uranuselemente durch ihn erleiden. Die Zahl der
über die Asträa. 17
Unbekannten, welche aus den gegebenen Differenzen der Rechnung und Be-
obachtung gefunden werden soll, steigt damit im Allgemeinen auf 13, näm-
lich die sechs Elemente der beiden Planeten und die Masse des unbekannten,
oder wenn, wie es hier der Fall war, man die Ebene des unbekannten Pla-
neten mit der Ekliptik zusammenfallen lassen kann, so bleiben immer noch
neun Unbekannte übrig, deren Ermittelung eine besondere Geschicklichkeit
und einen grofsen numerischen Takt erfordert, da eine strenge Lösung nicht
erreicht werden kann.
Diese Untersuchung hat Herr le Verrier in Paris musterhaft durch-
geführt und die jedesmaligen Resultate in den Comptes rendus vom 10. Nov.
1845, 1. Juni 1846 und 31. Aug. 1846 sogleich bekannt gemacht. Eine noch
vollständigere Übersicht der ganzen Arbeit giebt indessen die Abhandlung
Recherches sur les mouvemens de la planöte Herschel par U. J. le Verrier,
Paris 1846. Man ersieht hieraus den eben so consequenten als sicheren
Gang, den-Herr le Verrier befolgt hat und der es vollständig erklärt, warum
er in seinen Bekanntmachungen so wenig die Gefahr zu fürchten brauchte,
es möge der Erfolg seine Bemühungen nicht krönen.
Der Gang, den er genommen, ist in kurzem der folgende. Zuerst
entwickelt er die Störungen des Uranus durch Jupiter und Saturn, mit den
neueren genaueren Massen, und bei weitem vollständiger als es bisher ge-
schehen war, und verbessert dadurch und durch Wegschaffung von Schreib-
und Rechnungsfehlern die Bouvard’schen Tafeln. Dann leitet er für alle
alten und neuen Beobachtungen den berechneten Ort her, mit Beibehaltung
der Bouvard’schen Elemente. Er bestimmt nun die Bedingungsgleichungen,
welche angeben, wie viel für jeden Ort der Einflufs einer Änderung jedes
der vier Elemente des Uranus, Epoche, mittlere Bewegung, Excentrieität
und Perihel bewirken, da er die Breiten ausschliefsen kann, und folglich
Knoten und Neigung ebenfalls vernachläfsigen. Er discutirt dann, ob die
Annahme von wahrscheinlichen Beobachtungsfehlern es möglich macht, durch
Änderung der Elemente des Uranus allein, eine Übereinstimmung hervorzu-
bringen. Bei der Unmöglichkeit, dieses zu erhalten, bildet er die Störungs-
gleichungen für einen unbekannten Planeten, dessen Distanz von der Sonne
zweimal so grofs ist als die des Uranus, und behält so die 8 unbekannten
bei, nämlich die 4 Correetionen der Elemente des Uranus und die 3 noch
zu bestimmenden Elemente des unbekannten Planeten nebst seiner Masse.
Math. Kl. 1847. C
18 Encke
Durch Elimination der 4 Elemente des Uranus, welche dadurch erleichtert
wird, dafs er aus den gegebenen Gleichungen 8 interpolirt, die um 60° Be-
wegung des Uranus von einander abstehen, giebt er den 3 Elementen des
unbekannten Planeten, Excentrieität, Perihel und Masse, die Form einer pe-
riodischen Funktion der Epoche des unbekannten Planeten, und findet dann,
dafs eine positive Masse aus den numerischen Werthen nur hervorgeht, wenn
diese Epoche innerhalb zwei bestimmt begrenzter Bogentheile liegt. Die
möglichen Beobachtungsfehler in den entfernteren Flamsteedschen Beobach-
tungen modifiziren aber diese Grenzen und beschränken selbst die Annahme
der Epoche auf den kleinen Bogen von 9°, der merkwürdigerweise aufserhalb
der Grenzen liegt, welche eine völlige Wegschaffung aller Unterschiede in
den letzten S0 Jahren erfordern würde, und bei Versuchen über die noch
zu wählenden Annahmen zeigt sich, dafs die Masse jedesmal gröfser wird als
die des Uranus.
Bei der zweiten Verbesserung dieser Resultate berechnet er die Stö-
rungswerthe für etwas verschiedene Gröfsen der halben grofsen Axe, und
etwas verschiedene Werthe der Epoche, und erhält dann Elemente für den
unbekannten Planeten, die sehr wenig verschieden von der ersten Annähe-
rung, eine sehr befriedigende Übereinstimmung aller älteren und neueren
Beobachtungen geben.
Eine Discussion über die mögliche Ungewifsheit beschliefst die Ab-
handlung. Herr Galle fand bei der Vergleichung des Himmels mit der
Karte des Herrn Dr. Bremiker am 23. Sept. 1846 den Planeten bekanntlich
kaum um etwas mehr als 50’ entfernt von dem angegebenen Orte.
Dieses glänzende Resultat kann mit vollem Rechte als ein wahrer
Triumph des Herrn le Verrier angesehen werden, sowohl der Gröfse des
Zweckes wegen, als auch für die musterhafte Auswahl der dazu hinführen-
den Wege und Benutzung der vorhandenen Data. Aber eben so sehr, ja
vielleicht noch mehr, giebt es das ehrenvollste Zeugnifs für den Zustand der
astronomischen Wissenschaft, in so fern es den innigen Zusammenhang und
die consequente Ausbildung aller Theile zeigt. Wenn, wie sich hier zeigt,
jeder Fortschritt so angedeutet wird, dafs die Mittel, deren man bei ihm be-
darf, sorgfältig herbeigeschafft werden und der Grundsatz fest im Auge be-
halten wird, dafs Praxis und Theorie beständig Hand in Hand gehen, jede
beobachtete Erscheinung genau geprüft wird, ob sie den bisherigen Annah-
über die Asträa. 19
men entspricht, und wenn ein Widerspruch stattfindet, die Versuche ihn zu
erklären so lange vervielfältigt werden, bis die Erfahrung einen derselben be-
stätigt, so läfst sich mit Recht behaupten, dafs die wissenschaftliche Form
sich immer mehr und mehr ihrem Ideale genähert hat. Es gewährt einen
wahren Genufs zu sehen, wie alle verschiedenen Theile der Astronomie ge-
hörig vorbereitet waren und zu der Entdeckung mitgewirkt haben. Die ein-
fache Form der astronomischen Beobachtungen, welche erlaubte, auch 1-
Jahrhundert alte Beobachtungen doch nach ihrem wahren Werthe mit den
neueren vollkommneren zu verbinden; die strenge Regelmäfsigkeit der Aufbe-
wahrung auch einzelner, für den Augenblick werthlos scheinender Wahrneh-
mungen, welche allein die Auffindung des Planeten in den alten Beobach-
tungsjournalen möglich machte; die consequente ununterbrochene Durch-
führung von Beobachtungsreihen länger als 70 Jahre hindurch, worin die
Engländer uns das Muster aufgestellt; die Vergleichung alles Vorhandenen
mit den, wenn auch mangelhaften theoretischen Daten, welche den Wider-
spruch erkennen liefs und ihn klar aussprach, ohne durch eine theilweise
Übereinstimmung sich befriedigen zu lassen; die verschiedenartigsten Bemü-
hungen, alles was zur Erforschung der Ursache mitwirken konnte, sicher zu
ermitteln, namentlich auch über die Gröfse der bereits vorhandenen Kräfte
nicht in Zweifel zu bleiben; die consequente Durchführung der Untersuchung
mit gewissenhafter Berücksichtigung alles Vorhandenen; die sehr weit aus-
gebildete graphische Darstellung des schon Bekannten, um auf den ersten
Blick das Neuhinzugekommene unterscheiden zu können; endlich die Ge-
nauigkeit der neuern Instrumente, die in der kürzesten Zeit es zur Gewils-
heit brachte, dafs der angekündigte Planet gefunden sei.
Als ob dieser innige Zusammenhang des Ganzen und die dadurch be-
stimmt indieirte Entdeckung auch recht augenscheinlich hätte dargelegt wer-
den sollen, so hat die einfache thatsächliche Darlegung von Airy es unwider-
leglich dargethan, dafs ein Engländer Adams, durch ähnliche Berechnun-
gen, unabhängig von le Verrier, fast identische Angaben für den Ort des
Planeten gefunden hatte, und dafs die auf diese Angaben angestellten Nach-
suchungen am Himmel von Herrn Challis in Cambridge wirklich bereits
den Planeten gefunden hatten, so dafs eine Discussion derselben, die nur
aufgeschoben war, aber bereits begonnen, ihn unfehlbar hätte entdecken
lassen. Diese Notiz kann auf das Verdienst von le Verrier gar keinen Einflufs
CG3
20 EnckE
haben, da seine Arbeiten unabhängig geführt sind, vollständig Alles benutzt
haben und allein vor der Entdeckung publizirt sind. Eben so wenig auf das
Verdienst des Herrn Galle, der mit der bestimmten Absicht den Planeten
zu finden, die besten ihm zu Gebote stehenden Mittel verband. Aber es be-
festigt das Zeugnifs für den Zustand der Wissenschaft, wonach solche Fort-
schritte allerdings befördert werden durch ausgezeichnete Männer, aber nicht
ganz allein in der Persönlichkeit Einzelner begründet sind, sondern in dem
consequenten Gange, den die Bearbeiter im Allgemeinen verfolgen.
Ich habe geglaubt, mich hier so aussprechen zu können, da es meiner
Ansicht nach der gröfste Nachtheil sein würde, wenn diese durch eine so schöne
Vereinigung der Beobachtung und Theorie erfolgte Entdeckung das innige
Band, welches beide vereinigen sollte, auch nur einen Augenblick locker
machte. Als Erfahrungswissenschaft bleibt in der Astronomie die Beobach-
tung stets die Grundlage. Bisher hat die Beobachtung so gut wie alle Er-
scheinungen ohne Hülfe der Theorie, wenigstens ohne eine ganz direkte,
kennen gelehrt, die Theorie hat sie dann erklärt und in Verbindung gebracht,
so wie die Punkte angedeutet, auf welche ferner das Augenmerk zu richten
sei. Ohne die Data der Beobachtung kann die Theorie nichts ableiten, und
wenn sie jetzt mit Hülfe der anderthalbhundertjährigen Anstrengung der
Beobachter einen neuen Himmelskörper nachweist, so zeigt dieser Glanz-
punkt eben darin die Nothwendigkeit der Verbindung beider. Käme es auf
Zahlen an, so könnte man, wenn dieser unheilbringende und in der That
etwas kindische Streit geführt werden sollte, die sechs aus der reinen Beob-
achtung, ganz ohne Hülfe der Theorie gefundenen Planeten, dem einen mit
Hülfe der Beobachtung von der Theorie ermittelten, mit um so gröfserem
Erfolg entgegenstellen, als die Zahl jener auf dem Wege der Beobachtung
zu findenden höchst wahrscheinlich stets bei weitem überwiegender blei-
ben wird.
Denn in den nächsten Jahren, man kann wohl sagen Jahrhunderten,
läfst sich schwerlich hoffen dafs eine ähnliche Entdeckung gemacht werden wird,
wenigstens nicht bei entfernteren Planeten als Neptun. Die Beobachtungen
seit der Entdeckung des Uranus, etwa 60 Jahre hindurch, konnten allerdings
eine Incongruenz indiziren, und eine Nachforschung veranlassen, aber allein
würden sie schwerlich dahin geführt haben, wenn nicht die 90jährigen vor
der Entdeckung direkt auf eine solche Differenz hingewiesen hätten. Es war
über die Asträa. D2 1
deshalb ein fast doppelter Umlauf des Uranus erforderlich, um die nöthigen
Data zu sammeln. Bei Neptun ist es kaum zu hoffen, dafs viel ältere Beob-
achtungen aufgefunden werden, als in der Hist. celeste, oder höchstens bei
Bradlei, da Sterne 8ter Gr. von Flamsteed selten beachtet werden. Es wird
folglich der Zeitraum, ın welchem die Möglichkeit einer früheren Beobach-
tung stattfindet, kaum so grofs absolut genommen wie bei Uranus, und rela-
tiv, wenn man die viel gröfsere Umlaufszeit von etwa 200 Jahren gegen die
84 jährige des Uranus berücksichtigt, beträchtlich kleiner. Nimmt man nun
dazu, dafs die Störungen, die der Neptun durch einen noch entfernteren
Planeten erleidet, wahrscheinlich beträchtlich schwächer sind, als die des
Uranus durch Neptun, und dafs ein Jahrzehnt vielleicht verfliefsen kann,
ehe man so genaue Elemente des Neptun erhält, dafs man mit Sicherheit die
älteren Beobachtungsjournale durchsuchen kann, und auch dann noch genö-
thigt sein wird, eine längere Prüfung anzustellen, damit nicht eine irrige An-
nahme in den einzelnen älteren Wahrnehmungen zu fehlerhaften Elementen
verleite, so tritt eine fernere Erweiterung unseres Sonnensystems auf ähnli-
chem Wege in eine sehr entfernte Zukunft zurück.
Hoffentlich wird die Beobachtung inzwischen nicht müfsig bleiben und
die Erkenntnifs unsers Sonnensystems von ihrer Seite unabläfsig zu fördern
bemüht sein. Sie wird gewils nie die Leitung, welche die Theorie ihr geben
kann, verschmähen, vielmehr eben so bereitwillig wie bisher sich bestreben,
die erforderlichen Data mit der sorgfältigsten Genauigkeit darzubieten. Aber
hoffentlich wird sie eben so fortfahren wie bisher, das Beste der Wissen-
schaft jedem persönlichen Bestreben nach augenblicklicher Auszeichnung
vorzuziehen und mit der wahren Klugheit anzunehmen, was in andern Krei-
sen ihr Förderliches geboten wird, und mitzutheilen, was sie gefunden hat,
unbekümmert ob dieser ächte Sinn anerkannt wird oder nicht.
Folgendes sind nun die ersten Beobachtungen der Asträa, so wie die
Resultate der ersten Störungsrechnungen und Bahnbestimmungen.
In der hiesigen Vossischen Zeitung vom 13. Decbr. 1845 fand sich
folgendes Inserat:
Driesen den 10. Dechbr. Bei der Gelegenheit, als ich vorgestern
die Vesta ihrer jetzigen Lichtstärke wegen betrachtete, durchmusterte ich
auch ihre Umgegend und fand einen Stern von der 9ten Gröfse, den ich
früher nie gesehen, daher auch auf meinen Karten, welche noch viele Sterne
>» EnckE
der 9ten bis 10ten Gr. und alle helleren enthalten, nicht verzeichnet hatte.
Auch auf den akademischen Sternkarten, Zone IV Uhr, fand ich ihn nicht,
obgleich Herr Prof. Knorre diese Gegend mit ungemeinem Fleifse bearbei-
tet und fast sämmtliche Sterne bis incl. 9- 10ter Gr. vermerkt hat. Für 1800
reduzirt war die Stelle des Fremdlings 4 19° 9’ = 64° 47,3 AR. und 12°
34,7 Decl. bor. am Sten um 8", so dafs er sich beinahe in der Mitte jener
2 Sterne, welche in den akademischen Sternkarten unter den nachgetragenen
9. — 10. 4b 18457 + 12° 4139
9. — 10. 4 2020 + 12 311
aufgeführt stehen, mithin unweit 579 Tauri befindet. Er ist mit jenen beiden
Sternen fast von gleicher Lichtstärke, des hellen Mondscheins und der Dünste
wegen waren nur die Sterne 9-10ter Gr. nicht sichtbar. Ungünstige Witte-
rung hat gestern sein Aufsuchen verhindert, und wahrscheinlich wird dieses
Hindernifs hier noch einige Zeit andauern, daher diese Nachricht für Jene,
welche durch besseres Wetter begünstigt, diesen Fremdling verfolgen kön-
nen und wollen. Es bleibt übrigens sehr unwahrscheinlich, dafs man es etwa
nur mit einem veränderlichen Sterne zu thun habe, denn bei meinen sehr
oft und mehrere Jahre lang wiederholten früheren Beobachtungen dieser
Himmelsgegend habe ich nie eine Spur von ihm gesehen.
K. Hencke.
Eine Vergleichung der akademischen Sternkarte Hora IV. mit dem
Himmel, am 13. Decbr. Abends, führte zu keinem entscheidenden Resultate,
da das Wetter bald ungünstig ward. Aber am 14. Dechbr. wurde ich und
Herr Galle auf einen nicht in der Karte verzeichneten Stern 9ter Gr. auf-
merksam, der rückläufig sich bewegt haben mufste, wie auch die Zeit der
Culmination es mit sich brachte, wenn er der Planet sein sollte. Eine vor-
läufige Bestimmung um 6." Abends, verglichen mit einer späteren um 12"
Nachts, bestätigte die Verrückung, die auch schon dem blofsen Anblicke
sichtbar war und stimmte überein mit der Bewegung, welche seit dem 8. Dec.
stattgefunden haben mufste. Die tägliche Bewegung aus der Vergleichung
von 6" 28’ und 14° war etwa = 1421” im Bogen rückläufig, woraus sich
schon schliefsen liefs, dafs der Planet in der Region der kleinen Planeten sich
wahrscheinlich befinden werde. Der Parallel war nahe derselbe.
Bei der so erfreulichen Thätigkeit auf den europäischen Sternwarten
und der raschen Verbreitung der Nachricht von dieser Auffindung war es
über die Asträa. 23
natürlich, dafs jetzt überall der Planet aufgesucht und verfolgtwurde. Ich.über-
gehe die ersten Beobachtungen jetzthier und werde später allezusammenstellen.
Das nächste Interesse hatte eine beiläufige Bahnbestimmung, welche
dadurch etwas erschwert wurde, dafs, so genau auch die Vergleichungen der
Asträa mit benachbarten Sternen am hiesigen Refractor ausfielen, doch der
Ort dieser Sterne selbst nicht ganz scharf bestimmt war. ‚Sie waren alle aus
Bessels Zonen oder der Hist. celeste entlehnt. Herr Conferenzrath Schuma-
cher hatte die grofse Güte, zu den Bestimmungen dieser Vergleichungssterne
so mitzuwirken, dafs sich ein günstiger Erfolg auch aus sehr naheliegenden
Beobachtungen mit Sicherheit hoffen liefs.
Ich übergehe hier den ersten Versuch, den ich machte, mit Hülfe des
von Herrn Hencke angegebenen Ortes am 8: Dechr., und zweier hiesiger
Beobachtungen vom 14ten und 20ten eine Bahn herzuleiten. Sie sollte nur
dienen, um die Aufsuchung in den nächsten Tagen zu erleichtern, da die un-
günstige Jahreszeit es nöthig machte, jeden heitern Augenblick sofort zu be-
nutzen. Der für die Genauigkeit der Angaben des Herrn Hencke und für
die Sicherheit, mit der man aus den akademischen Sternkarten Ortsbestim-
mungen herleiten kann, gleich ehrenvolle kleine Fehler von 2‘, der sich spä-
ter auswies, mufste natürlich das Resultat entstellen.
Die erste zuverläfsigere Bahnbestimmung erhielt ich aus den drei hie-
sigen Beobachtungen am 14ten, 21ten und 27ten Dechr., bei welchen ich
die Distanz der früheren roheren Ermittelungen benutzte, um einigermafsen
auf Aberration und Parallaxe Rücksicht nehmen zu können. Die Data, von
denen ich ausging, nachdem diese Correctionen angebracht waren, die Län-
gen und Breiten hergeleitet, und diese auf das mittlere Äquinoctium von
1846 reducirt, waren:
Berl. Zeit | Länge T | Breite T | Länge ö lg. Rad. vect. Ö
1845 Dec. 14,56926 64° 23’ 0/6 — 8° 30 36,4 82° 58° 25.6 9,9929692
21,31399 63 146,4 — 8 13 20,8 | 89 50 27,9 9,9927769
27,46628 692 236,2 | —7 54243 | 96 642,8 9,9926895
Aus ihnen folgte das Elementensystem I.
Elemente q<I1
Epoche 1846. Jan. 0. Berl. Mittl. Zt.
Mittl. Länge L. 94° 48’ 1178
Mittl. Anom. M.319 2 54,8
Länge d. Peri. # 135 45 17,0
Länge d. aufst. Kn. Q 141 10 ne
M. Äqu. 1846. Jan. 0.
24 Encke
Neigung iy.Iolıau Ja 2 ins 2ni 1772
Eccentr. Winkel... $11 16 30,4
Mittl. tägl. sid. Bew. . # 850/473 _Umlaufszt. 1523,86 Tage
Lg. halbe gr. Axe . Ilg.a 0,413564.
Diese aus 13 Tagen abgeleiteten Elemente geben die Bahn mit sehr
grofser Annäherung und beweisen dadurch auf das einleuchtendste die grofsen
Fortschritte, welche die Astronomie seit der Entdeckung der andern kleinen
Planeten, in der Bestimmung ihrer Grundlagen und ihrer Beobachtungsmit-
tel, gemacht hat. Für die Dauer der Sichtbarkeit der Asträa, im Anfange
von 1846, hätte eigentlich keine andere Bahnbestimmung nöthig gethan, wenn
es blos der Zweck gewesen wäre, den Ort so genau anzugeben, dafs man auf
die Beobachtung sich vorbereiten konnte; denn noch nach vier Monaten, am
gänzlichen Schlusse der Beobachtungen, Ende April, betrug die Abweichung
dieser Elemente nur 44’ in AR. und 1’ in Decl. Gröfsen, die für den
angegebenen Zweck in gar keinen Betracht kommen.
Sobald indessen eine Reihe von Beobachtungen gemacht war, die so
gelegen war, dafs die mittlere Beobachtung nahe auf 1846 Jan. 0. fiel und
die Zwischenzeiten dabei gleich blieben, schien es zweckmäfsig, eine zweite
Bahnbestimmung zu versuchen. Diese wurde gemeinschaftlich von mir und
Herrn Dr. Galle ausgeführt. Ich bleibe indessen bei dem Resultat von Hrn.
Dr. Galle stehen, weil es in der siebenten Decimale noch etwas genauer in
den Prüfungen übereinstimmt, als das meinige. Die Örter, von denen wir
ausgingen und die bei den Zeiten und Planetenörtern durch die Werthe der
früheren Bahn von den kleinen Correctionen der Aberration, Nutation, Prä-
cession und Parallaxe befreit sind (das mittlere Äquinocetium von 1846 ist
wiederum angenommen), wobei aber bei den Erdörtern aufserdem, zur Be-
rücksichtigung der Breite der Sonne, der Punkt gewählt ist, wo die rück-
wärts verlängerte Gesichtslinie nach dem Planeten hin, die Ebene der Eklip-
tik durch das Centrum der Sonne gelegt, trifft, sind folgende:
M. Berl. Zt. | Länge T | Breite T | Länge ö | lg. Rad. vet. &
Fe
0. ” or " Nam
Dee. 14,57357 64 22 57,76 — 3 30 32,98 82° 58 40,4 9,9929750
31,32549 61 34 14,97 — 7 41 18,10 100 2 51,9 9,9926634
46,43347 60 54 32,26 — 6 45 31,57 115 26 18,8 9,9929066
Diese werden vollkommen genau dargestellt durch das folgende Ele-
mentensystem !
über die Asträa. 25
Elemente II.
Epoche 1846. Jan. 0. M. Berl. Zt.
L= 94° 7 1539
M = 318 51 235,08
” = 135 15 50,31
Q = 1Ul 25 47,74
i= 519 17,78
$= 10 51 53,30
# = 857,4096 Umlfszt. 1511,530 Tage.
lga = 0,4112122
M. Ägq. 1846. Jan. 0.
Diese aus einer Zwischenzeit von 32 Tagen abgeleiteten Elemente
reichten völlig bis zum Ende der damaligen Sichtbarkeit aus, da ihre Ab-
weichungen' Ende April nur 14’in AR. und noch nicht 4’ in Declination
betrug. Auch haben die späteren Beobachtungen nach der Rückkehr der
Asträa von der Sonne gezeigt, dafs diese Elemente unerwartet genau sind.
Diese Übereinstimmung ist allerdings und bis auf einen solchen Grad
als eine zufällige anzusehen. Denn nach der grofsen Thätigkeit der Astro-
nomen, deren sich die Wissenschaft in Deutschland, Rufsland, England und
Frankreich erfreut, waren eine sehr grofse Anzahl von Bahnbestimmungen,
vorzugsweise von Herrn Peters in Pulkowa, und Herrn Hind in London,
auf eben so gute ja noch sicherere Beobachtungen als die hier angegebenen
gegründet, gemacht, die indessen, soweit bis jetzt der Erfolg gezeigt hat, in
den einzelnen Elementen mehr von der Wahrheit abweichen.
Sobald die Elemente sich als so sehr angenähert auswiesen, ersuchte
ich Hrn. d’Arrest, der eine so gründliche Kenntnifs und Übung in Rech-
nungen dieser Art sich erworben hat, die Bahn der Asträa mit eben der
Schärfe zu untersuchen, mit welcher bei den andern kleinen Planeten ver-
fahren wird. Er bestimmte deshalb zuvörderst den Einflufs der Störungen
auf die einzelnen Elemente während der 6 Monate 1846 Debr. bis 1847 Mai.
Die Rechnung ward in Intervallen von 20 zu 20 Tagen geführt, und der Ein-
flufs von Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn und Uranus mitgenommen, da
eine vorläufige Rechnung gezeigt hatte, dafs der Einflufs von Merkur ganz
unmerklich sei, dieser Planet auch überdiefs, wenn man ihn hätte berück-
sichtigen wollen, nach der gewöhnlichen Form eine grofse Weitläufigkeit
herbeigeführt haben würde, da das Intervall von 20 Tagen bei ihm zu grofs
gewesen wäre. Die folgende Tafel enthält den Betrag der sämmtlichen Pla-
Math. Kl. 1847. D
96 Encke
netenstörungen mit ihrer Summe. Die Constanten sind in den summirten
Reihen so bestimmt, dafs für Jan. 0. 1846. der Werth 0 überall erhalten
wird, wenn man die Correction der Summe für das einfache Integral, und
das Argument von der Form {+ w gehörig anbringt, nämlich + 4, f’ (t
+4) — „I, /”"(t+5) bei dem einfachen Integral, und bei dem doppelten
Integral den zum Argumente z gehörigen Werth bildet durch "f(2) + 4, / (2)
— 7,/ (t); oder wenn das arithmetische Mittel zweier aufeinander folgen-
den Werthe in der zweifach summirten Reihe, der Reihe der Differential-
quotienten und ihrer geraden Differenzen mit "f(£+4), f(t+ 4), / (++),
und ebenso das arithmetische Mittel zweier auf einander folgenden Werthe
in der einfach summirten Reihe, den ersten und dritten Differenzreihen mit
fit), f(O), f(t) bezeichnet wird, für das Argument t; die Function des
ersten Integrals gebildet wird durch
JO-:SO+aF"0):
und bei dem doppelten Integral für das Argument (£ ++ 4)
11
720
IECrz) - HaIE Hz) Fan) e+r,)
t Ai AR As Ar
0" Berlin SB \ra+H| FO |Fu+Y9| so |YU+H| SO | Yu+s)
1845 Debr. 1 |-+0,236 — 8,434 — 7,286 +47.929
0,252 + 6,406 + 6787| _ — 45,188
21 |-+0,252 6,473 — 6,802 +45,308
0,000 — 0,067 — 0,015 + 0,120
1846 Jan. 10 [-+0,255 rn — 6,432 -+42,414
+0,25 — 4,928 SM edar + 42,534
30 |+0,237 — 3,636 — 6,136 -+38,877
+0,492 — 8,564 — 12,583 + 81,411
Febr. 19 |+.0,222 — 2,706 — 6,048 —+-33,991
+0,714 — 11,270 — 18,631 -+115,402
März 11 1-H0,215 — 2,045 —5,721 +28,326
+0,929 —13,315 — 24,352 +143,728
31 |-+0,200 — 1,523 — 5,118 422,171
+1,129 — 14,838 — 29,470 +165,899
Apr. 20 |+0,186 — 1,076 — 4,208 —+-16,279
+1315 — 15,914 — 33,678 + 182,178
Mai 10 [-+0,160 —.0,670 — 3,012 +11,406
+1,475 116,584 — 36,690 +193,584
30 |++0,121 — 0,334 1 ses] + 8.219
t ja A (20 a) dr MWAM) ATAUTH|
0° Berlin TORE |. ft FÖ |)
1845 Debr. 1 |+1,64033| , + 160530 | —51,063
— 1,54477 + 46,107
21 |+-1,54922 + 0,06053 | —46,126
-+0,00445 — 0,019
1846 Jan. 10 |-+1,45276 ++ 0,06498 | — 41,461
+-1,45721 — 41,480
30 |+1,34595 + 1,52219 | — 36,641
-+2,80316 — 78,121
Febr. 19 |+1,24270 + 4,32535 | —31,295
+4,04586 — 109,416
März 11 |-#1,10477 + 8,37121 | — 25,425
+5,15063 — 134,841
31 |-++0,93272 +-13,52184 | — 19,318
+-6,08335 | — 154,159
Apr. 20 |-+-0,73060 -+19,60519 | — 13,614
+6,81395 — 167,773
Mai 10 |+0,50505 +26,41914 | — 8,940
+-7,31900 — 176,713
30 40.276290 +33,73814 | — 5,904
Die hier zum Grunde gelegten Massen sind
über die Asträa.
1
2 hl her 401839
1
OR mel: EUER
1
“772680337
1
”"4047,871
1
ne SE
1
ER OEE . .—
Aus diesen Werthen fand Herr d’Arrest folgende Incremente der
einzelnen Elemente, welche zu den Elementen von 1846 Jan. 0 gelegt wer-
den müssen, wenn man die jedesmaligen Elemente für die verschiedenen
Zeitpunkte haben will.
D2
28 EnckE
l..a: | asian] Ar. [ah aa
1845 Dechr. ı | —0,37 | -r10.41 | -+10,39| — en —0,11792 | + 73.09
21 | —0,13|-+ 3,02| + 3,38
+
— 22,27 | —0,03781 | + 22,65
1846 Jan. 10 | +0,12 | — 2,62 | — 3,27 | + 21,59 | +0,03695 | — 21,14
30 | +0,37 | — 6,84| — 9,53 | + 62,31 | +0,10693 | — 58,77
Febr. 19 | -+0,60 | — 9,99 | — 15,62 | ++ 98,84 | +0,17071 | — 89,98
Mz. 11 | +0,82 | —12,35 | — 21,53 | -+130,07 | +0,23054 | — 114,30
31 | +1,03! — 14,12 | — 26,98 | +155,36 | -+0,28162 | — 131,50
Apr. 20 | +1,22 | —15,42 | — 31,66 | +174,56 | +0,32331 | — 141,82
Mai 10 | +1,39 | — 16,28 | —35,30 | +188,32 | +0,35427 | — 146,02
30 | +1,53 — 1678| 37.61 +197,97 | +0,37379 | — 146,24
wo bei AM die Summe des BIER und des einfachen Integrals san an-
gesetzt ist.
Trotz der bedeutenden Änderungen in den Elementen, wird doch
der Einflufs auf den geocentrischen Ort nur sehr gering, wie es auch in der
Natur der Sache liegt. Bildet man nämlich die Differentialgleichungen der
geocentrischen AR. und Decl., so wird für jeden Tag die Gröfse um welche
der Einflufs der Störungen den mit constanten Elementen gültig für 1846
Jan. 0 berechneten Ort ändert, nur folgende kleine Gröfsen betragen:
185 Debr. 1 | +16 | +04
21 | + 0,8 0,0
1846 Jan. 10 0,0 0,0
301 —07| —01
Febr. 9 | —19 | — 01
März 1 | —28 | — 02
31 as 01
Apr. 20 | —61| -+ 0,3
Mai 10 | — 7,4 | + 0,8
Gröfsen, welche bis Mitte Februar kaum die gewöhnlichen Fehler der Be-
obachtungen übersteigen, besonders wenn berücksichtigt wird, dafs auf al-
len Sternwarten (mit Ausnahme der Pulkowaer), die Vergleichungssterne
aus den verschiedenen Zonenbeobachtungen in der Regel entlehnt werden
über die Asträa. 29
mufsten, und deshalb häufig die Fehler einer einzelnen Meridianbeobachtung
in den Bestimmungen des Planeten enthalten sind.
Herr d’Arrest wandte dann das gewöhnliche Verfahren an, die Be-
obachtungen mehrerer auf einander folgender Tage zu einem einzigen mög-
lichst sicheren Orte dadurch zu vereinigen, dafs er bei der Vergleichung der
Beobachtungen mit nahe richtigen Elementen (hier den obigen Galleschen),
die Unterschiede zwischen Rechnung und Beobachtung für eine nicht zu
lange Zeit der Zeit proportional wachsend annahm, so dafs das Mittel der
Unterschiede zu dem Mittel der Zeiten gehört. Diese sogenannten Normal-
örter, durch Abzug der Störungen auf den rein elliptischen Ort für das Ele-
mentensystem 1846 Jan. 0 gebracht, und von den Correktionen der Aber-
ration, Nutation und Parallaxe befreit, so wie auf das mittlere Äquinoctium
von 1846 Jan. 0 reducirt, sind die folgenden, welche daher als der Inbegrif
sämtlicher Beobachtungen angesehen werden können. Auch für die Zukunft
werden sie nur solche Modifikationen erleiden können, welche vou den ver-
besserten Positionen der Vergleichungssterne herrühren; klein werden diese
immer sein. Denn wengleich namentlich zur Zeit des Stillstandes, fast auf
allen Sternwarten dieselben Vergleichungssterne benutzt wurden, und so-
nach ein constanter Fehler allerdings stattfinden wird, der trotz der gröfse-
ren Anzahl der Beobachtungen nicht aufgehoben wird, so findet dieser be-
sonders nachtheilige Umstand hauptsächlich nur bei dem Normalort Jan. 10
und Jan. 30 statt. Bei den übrigen bis zur Mitte März, sichern die Meri-
dianbeobachtungen und die Beobachtungen, bei denen die Vergleichungs-
sterne bestimmt werden konnten, vor solchen constanten Fehlern, und selbst
bei den letzten 3 Normalörtern von Mz. 11, Mz. 31 u. Apr. 20, welche aus
Berliner und Königsberger Beobachtungen allein hergeleitet werden konn-
ten, ohne die Vergleichungssterne verificirt zu haben, ist es ein sehr erfreu-
licher Umstand, dafs eine spätere, erst nach der Bildung der Normalorte
eingegangene Pulkowaer Beobachtung, bei der diese Berichtigung schon
statt fand, so gut wie vollkommen bis auf 3” durch das abgeleitete Elemen-
tensystem dargestellt wird. Man kann deshalb zu den folgenden Orten ein
grofses Vertrauen hegen.
30 ENckKE
Mittl. Normalörter 2 bezogen auf das Mitt]. Aequinoet. 1846.
Zahl d. Beob.
8: Mittl. Berl. Zt. AR. Decl. ST erg
i ng ? RT AR. | Decı.
1845 Decbr. 21 | 6235 599 | +ı2 42287 | 20 | ıs
1846 Jan. 0 |60ı16 26| 13%5305| 38 | 33
solsıma3| 1ussızo| 28 | 3
Febr. 19|65 11255 | 1644561 | 9 | 10
Mz. 11 | 71 34 42,3 18 38 22,5 4 4
sılm9a 40! mr! 9 | 9
Apr. 20 | 9175| ammsıl 3 | 3
Mit Recht glaubte Herr d’Arrest bei diesen Örtern nicht auf die
gröfsere oder geringere Zahl der Beobachtungen, aus deren Mittel jeder ge-
schlossen ist, Rücksicht nehmen zu dürfen, da die erwähnten Umstände das
Vorhandensein von Fehlern vermuthen lassen, die diese Schätzung ganz un-
sicher machen.
Aus diesen 7 Örtern wurde nach der Methode der kleinsten Quadrate
das Elementensystem abgeleitet, welches ihnen am besten genug that. Um
immer nur kleine Verbesserungen zu haben, ward eine Ellipse zuerst an den
ersten mittleren und letzten Ort angeschlossen, deren Aufführung indessen
hier überflüssig scheint. Folgendes ist das Elementensystem III, welches
als das Resultat der ersten Periode der Sichtbarkeit der Asträa angesehen
werden kann.
Elemente g Ill.
Epoche 1846. Jan. 0. M. Berl. Zt.
L= 94 5 5/96
M = 318 40 43,68
a = 135 24 22,28
Q = 141 26 16,55
i= 5 19 17,76
$= 10 49 13,62
w = 858,12561 Umlaufszt. 1509,76 Tage.
Iga = 0,4108692
M. Ägq. 1846. Jan. 0.
Die Übereinstimmung der Rechnung und Beobachtung bei den Nor-
malörtern war, wie sich erwarten liefs, eine ungemein befriedigende. Es
fand sich nämlich:
über die Asträa. 31
Deb. 21 | +19 | +16
Jan. 0| —45 | — 12
| —38 | — 19
Febr. 9| — 13 | —03
Mz.1ı| +12 | —12
3ıl +01 | —01
Apr.20| —29 I+11
Der mittlere Fehler würde aus ihrer Quadratsumme (= 56,35) nur
etwa 2’ folgen. Noch gründlicher läfst sich aber auf den Erfolg der Bemü-
hungen des Hrn. d’Arrest, aus der vollständigen Vergleichung mit allen
einzelnen Beobachtungen schliefsen, deren Zahl 161 beträgt.
| 1545, 1846 | M. Zt. Berlin | Beob. AR. T Beob. Decl. 7 | Au | AS | Beobachtungsort
1 | Dechr. 14 | 13"56 59.7 | 64° 0 31.3 -F12°39 50.9| ++ 3.6| + 3.2 | Berlin
2 15| 712 93 | 63 50 54,1 12 40 05| + 9,7| — 7,7 |Berlin. Dollond
3 16 | 10 20 16,5 | 63 36 0,9 12 39 58,3| + 9,0|-+ 0,4 | Berlin ::
4 7a 35434 163, 247752 ers Hamburg
5 17| 9 431,0 12 40 7,4 + 3,8 | Hamburg
6 17 | 9 58 12,0 | 63 23 33,7 12 40 65| — 15| + 5,3 | Altona
7 17 | 9 58 12,0 | 63 23 25,4 12 40 15,1| + 6,8| — 3,3 | Altona
8 17 | 10 41 43,5 | 63 23 9,7 12 40 18,7) — 1,1) — 6,3 | Hamburg. Mer.
9 17 | 10 41 513 | 6523 83 12 40 22,4| + 0,2| — 10,0 | Altona. Mer.
10 20 | 7 11 30,0 | 62 48 22,3 12 41 47,7| — 4,3| — 12,4 | Berlin. Dollond
11 20 | 7 38512 | 6248 233 12 41 32,7| + 0,9) + 3,2 | Berlin
12 21 | 7 49 38,4 | 62 36 23,0 12 42 18,1 + 23|/ + 28 |Berlin
13 24 | 617409 | 62 439,1 12 44 53,7 — 0,1 | +25,4 | Hamburg ::
14 2414| 643 23|62 425,2 12 45 18,0! + 2,8| + 2,5 | Altona
15 24| 7 2 26|62 423,0 12 45 34,2| — 2,7| — 12,8 |London. (Hind)
16 26 | 8 38 34,5 | 61 43 58,5 12 48 83| + 1,6) + 1,5 | Pulkowa. Merc.
17 27| Ss 150,9 | 61 35 17,8 — 12,4 Hamburg
18 27 | 843 55,7 | 61 34 50,9 — 1,7 Altona
19 27 | 9 41 22,9 12 49 50,8 — 2,4 | Hamburg
20 27 | 11 13 39,2 | 61 33 48,5 12 50 12,8| + 25| — 18,0 | Berlin. Dolld.
21 27 | 11 29 14,6 | 61 33 42,4 12 49 52,7|-+ 2,6/-+ 3,2 | Berlin
22 28 | 841 42,0 | 61 26 11,7 — 5,0 Hamburg
23 28 | 846 14,7 12 51 29,1 — 2,0 | Hamburg
24 28 | 9 50 57,4 | 61 25 36,6 12 51 30,5 | -+ 4,4| + 1,3 | Hamburg. Mer.
25 30| 8 0175 |6110 5,1 1255 5,7| +11,0| + 6,4 | London. (Hind)
26 30 | 820 359 | 6110 79 12 55 13,6 — 0,3 — 0,5 | Pulkowa. Mer.
27 30 ı 1059515 | 61 9 171 12 55 16,0) +12,2, + 7,7 London. (Hind)
28 SI" ralelT.2 Wo. 312512 12 57 11,3) — 13,0 | + 1,0 Hamburg
29 31 [#7 '— 1,5 |Altona
33482 |6ı 3 28| 1257169! — 1,0
32
EnckE
| 1845, 1846 |m. Zt. Berlin | Beob. AR. T | Beob. Decl. 2] Aa
——
30 | Dechr. 31
31 3l
32 | Januar I
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
SBEsawmnnmun ap eu CK VUBKPDRNDPRRFrTT =
60
61 12
62 12
63 12
64 13
65 13
66 13
67 14
68 14
69 14
70 14
7ı 15
72 15
73 15
74 16
75 17
17
Wo
8 0189
9 23 41,7
719 04
742 6,0
10 41 35,5
11 50 38,9
6 57 38,6
712 6,0
835 12,0
10 33 26,4
11 5121
15 25 56,3
14 34 30,2
7 2 60
7720078
8 14 33,7
9 24 16,6
10 37 29,0
6 30 19,3
7360
719 53,6
13 48 10,5
7460
757 36,0
8 32 15,8
9 27 40,6
12 7104
6 31 24,9
713 6,0
850 18,4
7 644,0
713 43,1
753572
9 16 41,0
6 37 57,7
7 8182
1032 98
6 20 46,2
6 52 20,7
8 36 43,0
839 35
854 8,9
9 7445
10 36 40,6
7 9555
| 7636
12 48 59,6
(IR) ” or ” [2
61 257,4 | +12 57 16,9 |— 3,7
61 233,8
60 56 27,8
60 55 25,0
60 55 15,9
60 54 54,0
6050 2,8
60 49 10,0
60 49 28,2
6049 2,0
60 48 48,9
60 48 16,6
60 47 58,3
60 43 10,0
60 43 59,6
60 43 37,4
60 43 24,9
6043 5,4
60 38 39,5
60 37 55,0
60 38 37,2
60 36 51,9
60 32 55,0
60 33 28,1
60 33 24,8
6033 6,6
60 32 36,6
60 29 12,9
60 28 17,0
60 14 21,3
6013 5,3
60 13 12,0
6013 4,4
60 12 57,3
60 12 11,3
60 12 14,5
6012 1,5
60 11 50,8
60 11 50,6
60 11 44,8
60 11 52,5
60 11 53,9
60 11 57,4
60 11 57,6
60 12 22,5
60 13 29,5
60 13 51,9
| As | Beobachtungsort
—+ 1,0] Berlin
12 57 23,6 |— 6,2|+ 1,8] Berlin. Mer.
12 59 27,1 |—14,9,+ 0,7) Hamburg
12 59 27,0 |+-40,5/— 3,8| Marseille
12 59 46,7 |+ 1,3 + 0,9lLondon. (Hind)
12 59 56,2 |— 0,11— 1,6| Paris
13 147,1)— 9,3 + 0,2| Hamburg
13 146,0 |+38,4 + 3,4] Marseille
13 2 1,7|— 13 — 4,2| Altona
13 2 89|— 3,4+ 0,6] Hamburg
13 2165 |— 1,9) — 3,5| Paris
13 225,0 I— 6,1-+ 1,6|Bonn
13 234,3 |— 7,9)— 0,9|Bonn
13 434,0 |+45,6| — 16,3| Marseille
13 4 17,8|— 2,4|— 0,1) Hamburg
13 423,1 /-+ 0,6|-+ 1,9| Berlin
13 426,7 |— 4,2|+ 5,6 Hamburg. Mer.
13 4436 |— 2,9] — 2,9] Paris
13 652,9 |— 2,0) — 2,2] Bonn
13 7 0,0 |+33,3| — 4,8] Marseille
13 644,0 |—11,4|+-12,2] Hamburg
13 7415 |-+ 5,7/— 1,8jLondon. (Hind)
13 940,0 |+38,5)— 0,1] Marseille
13 9473| — 6,2 — 1,5|Bonn
13 954,0 |— 10,4 — 4,1) Bonn
13 955,8 |— 377/+ 0,5) Bonn. Mer.
13 10 16,8 )— 6,8 — 1,5} Paris
13 12 31,3 /— 1,2! — 3,8] Berlin
13 12 50,0 |+46,4 — 16,9] Marseille
1329 1,6 |— 4,8 — 5,6] Altona
13 32 13,4 |— 5,8 + 1,6) Königsberg. Mer.
13 32 19,3 |— 11,9J— 3,1| Bonn
13 32 19,1 )— 6,9/+ 3,2] Bonn
15 32 34,1 |— 5,8)+ 0,6] Königsberg
13 35 50,4 |— 4,4 + 1,1] Bonn
13 35 56,3 |— 8,8 -+ 0,2| Bonn
13 36 30,4 |— 4,2) — 2,2| Paris
13 39 36,6 |— 8,6 + 0,6| Bonn
13 39 41,1 |— 9,0+ 0,1| Bonn
13 39 56,8 — 7,0,+ 0,9| Königsberg
— 13,2 Göttingen. Mer.
13 43 57,8 |— 7,31 — 3,0| Königsberg
13 43 58,3 |— 9,9) — 1,3] Hamburg
13 44 13,5 ,— 10,4— 1,8] Berlin
— 06 Pulkowa. Mer.
1351 44,6 — 0,9)— 1,7|Pulkowa. Mer.
13 52 40,2 — 6,8-+ 1,8| Paris
|
über die Asträa. 33
1846 M. Zt. Berlin | Beob. AR. ? | Beob. Decl. T | Au | AS | Beobachtungsort
I}
77| Januarıs | 7 ausm | „ ,,„ |+1855582| „| «e|Pulkowa. Mer.
78 20 | 736585 | 6020 3,1 14 451,0 —10,6 — 10,9) London. (Hind)
79 20 | 815527 | 6019579 | 14 450,8 ,— 1,9— 3,7) Hamburg. Mer.
80 20 | 856108 | 602011,7| 14 5 9,2)—11,3) —14,7| Hamburg
81 20 | 9 929,5 | 60 20 10,5 — 82 Liverpool. Mer.
82 20 | 929 24,8 | 60 20 19,2 14 5 0,1/)—14,6 + 1,0| Makree Castle. Mer.
83 21 | 11 35 57,0 | 60 23 36,4 14 954,6 /— 85)— 1,4| Königsberg
84 25 | 636223 | 6040 6,9 14 27 39,9|— 2,6 — 0,2| Pulkowa. Mer.
85 25 | 1025273 | 6041 07 | 1428289 — 7,3) — 2,1 Königsberg
86 25 | 1158 21,0 | 60 41 19,0 14 28 46,4 |— 6,2 — 2,0) Königsberg
87 26 | 63249,0 | 60 45 38,0 14 32 31,6 — 2,8 — 0,2| Pulkowa. Mer.
88 26 | 955 8,0 | 60 46 29,9 14 33 16,0 |— 6,11— 3,1| Königsberg
89 27 | 629 16,0 | 60 51 36,1 14 37 30,8 l— 0,9) — 3,3 Pulkowa. Mer.
90 27 | 655421 | 6051 43,6 14 37 30,4 |— 1,3/+ 3,0| Berlin
9 27 | 71341,4 | 6051 58,4 14 37 40,4 —11,4|— 2,9) Hamburg
92 27 | 720593 | 605153,1 14 37 34,4 )— 4,7)+ 4,2| Berlin
93 27 | 91922, | 6052 18,6 1438 7,3|)— 0,4— 4,1) Hamburg
94 27 | 1020 7,4 | 6052 40,1 14 38 17,6 |— 7,2]— 2,1) Königsberg
05 28 | 62546,0 | 6058 0,4 14 42 28,3 + 2,2!— 0,5 Pulkowa. Mer.
96 28 | 73235,0 | 60 58 25,8 14 42 43,8 |— 3,7/— 1,7) Paris
97 28 | 844555 | 6058479 | 144259,1|— 7,51— 1,9] Königsberg
98 28 | 1119 4,5 | 60 59 22,3 14 43 42,8 |+ 2,0 — 13,7) London. (Hind)
99 28 | 11 37 57,9 | 60 59 29,4 1444 3,9|+ 1,4 —25,4| Wien
100 29 | 85242%,4 | 61 549,1 14 48 5,9|— 6,8|— 1,7| Königsberg
101 30 | 61852,0 | 61 12 22,8 14 52 40,3 |— 0,4|— 0,5 Pulkowa. Mer.
102 30|ı 9 4 10 | 6113 21,4 14 53 16,5 |— 7,9) — 0,7) Königsberg
103| Februar 1 | 10 56 45,7 | 61 30 27,7 15 4 8,8) —16,2-—+- 0,3) Hamburg
104 2| 6 842,9 | 61 37 21,0 15 825,5 |— 3,3 — 0,6) Pulkowa. Mer.
105 5| 833424 | 62 722,8 15 25 19,4 |— 3,1 — 6,0) Makr. C. Mer.
106 7| 827 6,8 | 62 28 57,0 15 36 17,0 |— 6,0 — 1,4| Makr. C. Mer.
107 7| 852565 | 6229 11,1 15 36 20,7 |— 9,0+ 3,8 London. (Hind)
108 8| 930245 | 62 40 47,5 1542 8,7 |— 2,5— 3,2|London. (Hind)
109 8| 93311,8 | 62 40 45,2 1542 6,2 |-+ 0,4 — 0,5| Königsberg
110 9| 546 4,9 | 6250 48,4 15 46 49,5 |— 4,3 0,0 Pulkowa. Mer.
111 9 | 82050,7 | 6252 5,4 15 47 28,1 J— 3,4 — 1,7|Makr. C. Mer.
112 9| 833562 | 6252 13,2 15 47 31,8 |— 5,7/— 2,3] Berlin
113 9| 852 98 | 62 52 21,0 15 47 38,1 |— 4,01 — 4,2| Wien
114 9| 916 7,9 | 62 52 29,0 15 47 38,4 |— 1,4 + 0,4| Königsberg
115 9| 95414,9 | 62 52 47,2 15 47 46,9 |— 0,3) + 0,9| Königsberg
116 10 | 542555 |63 3 03 15 52 27,7 I— 6,7, + 0,1|Pulkowa. Mer.
117 10| 817344 | 63 415,1 1553 6,6 |— 1,0!— 1,9 Makr. C. Mer.
118 11 | 11 24 30,4 | 63 18 32,7 15 59 30,4 )— 3,2)— 1,5) Königsberg
119 13 | 746412 | 6343 51 — 45 Liverpool. Mer.
120 16 | 738328 | 64 25 26,5 16 27 13,5 — 0,8|+ 5,2] Königsberg
121 17 | 756489 | 6440 33,9 16 33 11,7 !— 0,3'— 0,8) Makr. C. Mer.
122 18 | 9 30 35,4 | 64 57 15,2 | 16 39 35,2 — 25,5 — 15,1) Hamburg
123 19 | 516 0,0 16 44 6,9 + 0,6 Pulkowa. Mer.
Math. Kl. 1847. | E
34
|
1846
Encke
Im. Zt. Berlin | Beob. AR. T | Beob. Decl. ? | Au | AS | Beobachtungsort
ä ho ”
124 |Februar21| 9 56 47,5
125
126
127
128
129
130
131
132
133
334
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160 |
161
22
22
24
26
26
27
28
28
24
28
Maäi ı
12
13
18
22
90
9 43
9 36
856
10 17
9 43
9 56
10 37
10 39
10 39
ei
ei
DD EOEODTOCDTDTOTS SE SO 5 5S
o
10 20
9 48
43,4
32,7
9,4
32,3
25,3
12,7
24,0
13,8
42,4
42,4
30,9
32,1
28,3
17,8
26,3
50,4
7,6
49,9
47,0
59,3
42,3
6,8
30,0
30,9
5,1
27,1
27,2
8,2
o ’ ” o ’ ”
65 45 18,9 | +16 56 57,2
66 1 30,2
66 2 3,4
66
67
67
67
67
67
67
67
69
69
70
71
75
75
75
76
76
77
77
78
79
79
833
83
833
83
89
90
91
93
94
100
101
36
11
12
30
49
50
50
33
59
0
18
45
24
52
53
43
13
16
17
20
51
44
16
18,6
35,9
45,1
40,6
41,9
15,2
13,1°
6,4
41,9
49,6
25,2
7 50,7
59,1
23,5
57,0
50,1
23,4
32,6
34,8
29,1
39,9
39,1
59,4
49,6
13,6
30,1
33,8
18,0
12
32,1
44,2
8,1
1,8
103 59 44,4
106 10 32,0
17
17
17
17
17
17
17
17
17
17
18
18
18
18
19
19
19
19
19
19
19
19
20
20
20
20
20
21
21
21
21
21
21
21
21
21
21
2
2
14
25
25
3ı
30
25
23,3
44,4
20,2
34,9
57,2
56,1
20,5
30,0
28,2
29,3
4,0
33,6
42,3
56,8
35,3
27,8
28,9
37,2
58,8
35,6
5,5
16,9
59,0
15,7
55,1
11,3
14,2
51,6
4,4
16,4
50,7
32,5
42,9
02
25,2
56,2 |
8,3
”
— 2,6
+15,4
+ 54
— 99
Er
4,7
1,6
92
9,7
0,5
11
— 125,2
FH l+HH HH I HT
IH I+ttH tr HH I HT
2,0
1,8
0,3
0,8
4,0
02
1,0
1,5
0,3
2,6
6,4
5,5
1,6
1,0
0,0
2,7
0,8
5,0
0,6
0,7
0,5
03
1,0
01
1,0
nttknänänuseeeessesessz ll ji — —
Wien
Berlin
Wien
Wien
Berlin
Hamburg
Hamburg
Berlin
Hamburg
Königsberg
Königsberg
Berlin
Wien
Berlin
Königsberg
Berlin
Berlin
Senftenberg
Senftenberg
Berlin
Königsberg
Pulkowa
Königsberg
Königsberg
Berlin
Berlin
Pulkowa
Berlin
Pulkowa
Pulkowa
Berlin
Berlin
Berlin
Pulkowa
Berlin
Berlin
Berlin
Berlin
Diese Vergleichung, bei welcher auf alle kleineren Einzelheiten, auch
der Störungen, Rücksicht genommen ist, giebt zu der höchst erfreulichen
Bemerkung Veranlassung, dafs die Beobachtungsmittel an Genauigkeit, seit
der Entdeckung des letzten kleinen Planeten, ganz ungemein zugenommen
über die Asiräa. 35
haben. Das arithmetische Mittel aller Unterschiede, ohne einen einzigen
auszuschliefsen, obgleich offenbar fehlerhafte Angaben bis zu 4576 vorkom-
men, ist bei 156 Unterschieden in AR. 654, und bei 154 Unterschieden in
Declination 3733, so dafs sich in der That behaupten läfst, der wahrschein-
liche Fehler einer solchen Ortsbestimmung eines Planeten, sowohl mit grö-
fseren als mit kleineren neueren Instrumenten, werde kaum 4” übersteigen,
eine Genauigkeit, die hauptsächlich den grofsen Fortschritten zuzuschreiben
ist, welche die Instrumente zur Beobachtung aufser dem Meridian gemacht
haben, und der Vortrefflichkeit der Besselschen Zonenbeobachtungen. Bei
weitem am genauesten sind die Pulkowaer Beobachtungen, bei denen über-
dem auch die Berichtigung des Ortes der Vergleichungssterne schon gemacht
ist. Am längsten wurde die Asträa in Berlin verfolgt, nämlich bis zum 22.
Mai, obgleich diese letzte Angabe, wo bei der Lichtschwäche der Asträa der
Stern mehr errathen als scharf wahrgenommen wurde, nur gemacht wurde,
um sich zu vergewissern, wie lange überhaupt der Planet im äufsersten
Falle noch sichtbar bleibe, und also auch wieder aufgesucht zu werden
brauche. Dagegen sind die Beobachtungen bis zu Mai 13. inel. ganz zuver-
lässig. Asträa glich bei ihrer ersten Beobachtung einem Stern 9. Gr., und
war damals, relativ gegen andere Stellungen, die bei ihr stattfinden können,
noch sehr lichtstark. Verglichen mit der mittleren Lichtstärke in den Op-
positionen war die Lichtstärke etwa 1,8. Am Schlusse der Beobachtungen
g auch
wohl ihren Antheil hatte. Fast ist zu befürchten, dafs sie in der Regel nicht
heller als 9-10. oder 10. Gröfse in den Oppositionen sein wird. Dafs eine
konnte man sie kaum 11. bis 12. Gröfse halten, woran die Dämmerun
Scheibe unter diesen Umständen nicht merkbar war, ist für sich klar.
Die Angabe der Data, wodurch die angeführten Beobachtungen noch
verbessert werden können, wenn die Vergleichungssterne sorgfältiger be-
stimmt werden, halte ich hier für überflüssig, da sie den einzelnen Beob-
achtungstagebüchern vorbehalten bleiben müssen.
Herr d’Arrest setzte nun die Störungsrechnungen für die nächsten
zwei Jahre fort, wobei er das Intervall von 20 Tagen beibehielt, die Ele-
mente aber alle halben Jahre den Störungen gemäfs änderte, und sich auf
Erde, Mars, Jupiter und Saturn beschränkte. Er berechnete dann eine
Ephemeride, um die Aufsuchung nach der Rückkehr von der Sonne vor-
E2
36 Encke
zubereiten. Man konnte der Auffindung wohl mit einer grofsen Spannung,
aber doch mit beträchtlicher Gewifsheit entgegensehen, und sicher hoffen,
dafs, sobald die Dämmerung es gestattete, die Vergleichung der Epheme-
ride mit dem Himmel den Planeten sogleich erkennen lassen würde. In der
That fand auch Hr. Dr. Galle an dem ersten Morgen, wo nach dem Stande
der Sonne und des Mondes schwache Sterne in der Gegend der Asträa am
Morgenhimmel sichtbar wurden, den Planeten sofort, und eine halbstündige
Beobachtung reichte hin, durch seine Bewegung ihn erkennen zu lassen.
Noch früher war er indessen in Pulkowa aufgefunden, nämlich schon am
4. Nvbr., während in Berlin der Planet est am 17. Nvbr. beobachtet ward.
Die Übereinstimmung mit der Ephemeride konnte eine sehr befriedigende
genannt werden, denn die Unterschiede zwichen Rechnung und Beobach-
tung waren bei den zwei Pulkowaer und den zwei Berliner Bestimmungen
folgende:
Bechn. — Beob.
1846 M. Berl. Zt. | Beob. AR. T | Beob. Decl. T | ——— ———| Beob. -Ort
cosd AR. | Decl.
IN. ” OR. ” one " ”
Novbr. 4 | 16 51 6,0 | 193 55 29,6 | — 3 14 24,8 | + 55,7 | — 35,4 | Pulkowa
13 | 16 56 28,0 | 198 12 42,8 | — 4 47 41,6 | + 66,6 | — 39,6 is
17 | 17 48 24,8 | 200 6538| —5 28 0,1| + 733 | —38,0 | Berlin
18 | 17 37 7,5 | 200 34 50,0 | — 5 37 39,7 | + 76,0 | —43,5 |
”»
Um indessen, da schon ein die Fehler vergröfsernder Gang hier sicht-
bar war, eine für die Dauer der jetzigen Sichtbarkeit näher sich anschlie-
fsende Bahn zu erhalten, bestimmte Hr. d’Arrest im Mittel aus diesen Be-
obachtungen für Novbr. 16,5 den Unterschied zwischen Rechnung und Be-
obachtung auf + 73/0 und — 3875, berechnete den Einflufs der Störungen,
der auch hier sehr gering war, um das Elementensystem für 1846 Jan. 0
beibehalten zu können (man hat nur + 29/2 in AR. und — 1478 in Deel.,
zu dem mit dem Elementensystem III. berechneten Ort für Novbr. 16,5
hinzuzulegen, um den gestörten zu erhalten) und erhielt so den 8. Normal-
ort, bezogen auf das Äquinoctium von 1846 Jan. 0
1846 Nov. 16,5 M.B. Zt. AR. 2 = 199°30' 59/0
Dec. = —5 15 19,1
über die Asträa. 37
Eine Ellipse an 1845 Deb. 21, 1846 Apr. 20 und 1846 Nov. 16,5
angeschlossen, diente als Grundlage, worauf nach der Methode der klein-
sten Quadrate die wahrscheinlichste Ellipse zufolge dieser 8 Normalörter
bestimmt ward. Diese ergab sich so
Elemente 2 IV.
Epoche 1846. Jan. 0. M. Berl. Zt.
L= 94° 9 27)98
M = 318 51 48,99
rs = 135 17 38,99
= 141,257 4772
i= 519 25,32
$= 10 53 31,92
# = 856,13474 Umlaufszt. 1513,780 Tage.
lg a = 0,4116430
M. Ägq. 1846. Jan. 0.
Durch diese Elemente werden, mit Zuziehung der Störungen, die 8
Normalörter so dargestellt:
| cos? Aa | A»
1845 Deb. 21 | +02 | +29
1846 Jan. 10 — 21 —+ 1,2
30| +16 — 2,7
Febr. 9 | +27 |! — 0,8
Mz. ıı| #25 | —-ı9
31 — 12 — 0,4
Apr. 2 | +03 | +16
Nvb. 16 | #10 | +15 |
und die vier neuesten Beobachtungen so:
1846 Nvb. 4 +26 + 3/4
13 +04 +11
17 +04 +33
18 +02 —21
Es ist hiernach grofse Wahrscheinlichkeit vorhanden, dafs dieses Ele-
mentensystem, da es aus einem Zeitraume von 11 Monaten hergeleitet ist,
der Wahrheit ungemein nahe kommen mufs, und dafs die Elemente IV.
38 Enexs
sehr nahe die wirklichen oseulirenden Elemente der Astraea für den An-
fang von 1846 sind. Merkwürdig ist es, dafs dieses System den Elementen
IT. von Hrn. Dr. Galle in jedem einzelnen Stücke näher kommt als den
Elementen III, wenngleich die letzteren auf einer vierfach längeren Beob-
achtungsreihe beruhen. Alle Elemente liegen zwischen den Elementen I.
und II, und ungemein nahe dem letzteren Systeme. Abgesehen von den
Eigenthümlichkeiten der Beobachtungsreihen, die dieses paradoxe Resultat
herbeigeführt haben können, mögen in der That kleine Rechnungsfehler bei
Hrn. d’Arrest stattgefunden haben. Denn in der That stellt das Elemen-
tensystem IV die 7 ersten Normalörter noch befriedigender dar als das Sy-
stem III, obgleich das letztere ganz allein auf sie gegründet war. Eine Er-
scheinung, die nothwendig einen, glücklicherweise aber nur sehr kleinen
Rechnungsfehler bedingt.
Überträgt man, um einen den jetzigen Beobachtungen näheren Stand-
punkt zu haben, die Elemente auf die Epoche von 1847 vermittelst der Stö-
rungen, so erhält man:
Epoche 1847. Jan. 0. M. Berl. Zeit.
L = 181° 0 28,89
M= 45 36 48,99
r” = 135 23 39,90
Q2 = 141 25 29,07
i= 519 3,59
o= 1053 16,67
vw = 856,28299 Umlaufszt. 1513,518 Tage.
lg a = 0,4115929
M. Ägq. 1847. Jan. 0.
Wenn man bei dieser kurzen Zusammenstellung der ersten Bemü-
hungen den ruhigen, festen und sicheren Gang übersieht, den die Untersu-
chung solcher neuen Erscheinungen jetzt nimmt, wenn man dabei die grofse
Anzahl vortrefflicher Beobachtungen auf einer sehr grofsen Anzahl von Stern-
warten in Deutschland, Rufsland und England, so wie auch einiger franzö-
sischen berücksichtigt, von denen eine weit kleinere Anzahl hingereicht ha-
ben würde, den Planeten nicht verloren gehen zu lassen, deren Verbindung
aber nach wenigen Monaten schon mit festem Vertrauen die einzelnen Di-
mensionen der Bahn erkennen läfst, wenn man dabei erwägt, dafs vor 45
über die Asträa. 39
Jahren das hier gegebene Problem noch erst gelöst werden mufste, und die
Störungen erst bei allen kleineren Planeten weit später berücksichtigt wor-
den sind, so kann auch die Entdeckung, Beobachtung und Berechnung der
Asträa mit Recht als eine schöne Frucht der ausgebildeten Wissenschaft an-
gesehen werden, und wesentlich beitragen kräftig zu ermuntern, das enge
Band zwischen Erfahrung und Theorie festgeknüpft zu erhalten.
a —
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4
Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
und über einige damit in Beziehung stehende
Eigenschaften der Kegelschnitte.
Von
H”" STEINER.
nnnannnnannnnn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 19. April 1847.]
$.L.
Aufgabe I. „Aus der Spitze C eines Dreiecks ABC nach irgend
einem Punkte D der Grundlinie AB eine solche Gerade CD zu ziehen, deren
Quadrat zu dem Rechteck unter den Abschnitten der Grundlinie, AD und
BD, ein gegebenes Verhältnifs hat, wiem :n.” Und
II. „Wenn die Grundlinie AB der Cröfse und Lage nach gegeben,
so soll die Grenzlage für die Spitze C gefunden werden, über welche hinaus
die Forderung (1.) unmöglich wird.”
Erste Auflösung.
Man setze m: n=g, so soll sein
eDE=q4ADNBD:
I. Was zunächst die Construction der geforderten Geraden CD, so
wie deren Möglichkeit und Unmöglichkeit betrifft, so ergiebt sich dieses Alles
leicht wie folgt.
Man beschreibe um das Dreieck ABC (Fig. 1.) den Kreis und ziehe
mit seiner Grundlinie parallel die Geraden Uund V, deren gleicher Abstand
p von derselben sich zu der Höhe A des Dreiecks verhält, wie n: m, so dafs
also
sp m.on=g.
Zieht man nun weiter aus der Spitze € durch die Schnitte Eund E,,
F und F, der Parallelen U, Y und des Kreises die Geraden CE, CE,, CF,
Math. Kl. 1847. F
42 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
CF,, welche die Grundlinie in Dund D,, DO und ®, treffen, so sind CD,
CD,, CD, CD, die vier verschiedenen Geraden, welche der Forderung (I.)
genügen. Denn vermöge des Kreises ist z.B.
CD.DE=AD.DEB,
und zufolge der Construction
CD=DEZh pP Sg,
folglich ist
CD’=qgAD.DB.
Von den vier Punkten der Grundlinie, nach welchen die verlangten
Geraden gezogen sind, liegen allemal zwei, D und D,, zwischen den End-
punkten der Grundlinie AB, wogegen die beiden andern, D und D,, auf
ihrer Verlängerung, und zwar entweder auf jeder Seite einer, wie Fig.1.,
oder beide auf einerlei Seite wie Fig 2., liegen, je nachdem nämlich bezieh-
lich m>n, oderm<n ist. Ist insbesonderem =nundh=p, so geht
V durch die Spitze C, F vereiniget sich mit C, und dann fällt CD, auf V,
so dafs der Punkt ®, sich ins Unendliche entfernt, und die Gerade CD wird
Tangente des Kreises im Punkte C.
Hiernach ist es auch klar, wie die construirten vier Geraden paarweise
unmöglich oder imaginär werden können. Denn je nach Beschaffenheit der
gegebenen Gröfsen m, n, h, kann die eine oder andere Parallele U oder Y,
oder es können beide zugleich jenseits des Kreises liegen, wo dann das eine
oder beide Paar Gerade unmöglich werden. Beim Übergangsfall, wo eine
der Parallelen U oder Y den Kreis berührt, fallen das bezügliche Paar Ge-
rade in eine zusammen.
Bemerkung. Die vier Geraden CD, CD,, CD, CD,, oder ein-
facher bezeichnet, d, d,, d, ö,, bilden paarweise mit den Schenkeln des Drei-
ecks, CA und CB, oder a und 5, gleiche Winkel, nämlich es ist
Wink. (ad) = (bd,), und Wink. (ad —= (bd,),
weil Bogen AE = BE,, und Bogen AF=BF..
Es folgt daraus umgekehrt: Dafs wenn man aus der Spitze eines Drei-
ecks nach der Grundlinie zwei Gerade zieht, welche mit den Schenkeln gleiche
Winkel machen, und welche entweder beide innerhalb oder beide au/serhalb
des Dreiecks liegen, dann die Quadrate dieser Geraden zu den Rechtecken
unter den respectiven Abschnitten der Grundlinie allemal gleiches Verhält-
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 43
nifs haben, d.i. d’:AD.DB=d}: AD, .D.B, oder 69: AD.DB=}
AD, D.B:
Ist insbesondere die Gerade CE, Durchmesser des Kreises (Fig.1.),
so ist der Winkel CEE, ein rechter, und dem zufolge CD oder d das Per-
pendikel aus der Spitze C auf die Grundlinie 4B. Somit hat man den bekann-
ten Satz: „Zieht man aus einer Ecke eines Dreiecks den Durchmesser des
umschriebenen Kreises und das Perpendikel auf die Gegenseite, so bilden die-
selben mit den anliegenden Seiten gleiche Winkel.”
Nimmt man für einen Augenblick das Dreieck ABC als gegeben, dage-
genp oderg=h:p als unbestimmt an, so ist klar, dafs q ein Minimum
wird, wenn die Parallele U oder Y den Kreis berührt, in E, oder F, (Fig.2.);
dabei fallen d und d, in eine Gerade d,, oder ö und d, in eine Gerade Ö, zu-
sammen, und diese Geraden d, und d, hälften also die Winkel (innern und
äufsern) an der Spitze C. Seien D, und D, die Punkte, in welchen diese
Geraden die Grundlinie treffen, so ist also einerseits d; : AD, . BD,, und
andererseits 6: AD, . BD, ein Minimum. — Ist insbesondere das Dreieck
an der Spitze C rechtwinklig, so ist:
di »AD,.BD, = AD, :Bd.:
II. Was nun die zweite Frage: Die Grenzlage der Spitze C betrifft,
wenn die Grundlinie AB als fest und q als gegeben angenommen wird, so
läfst sich dieselbe getrennt, das eine Mal in Betracht der inneren Geraden
d, d, und das andere Mal in Rücksicht der äufsern Geraden 6, ö,, wie folgt
leicht beantworten.
A. Wir haben bereits gesehen, dafs d und d, nur so lange möglich
sind, als die Parallele U den Kreis schneidet, und dafs also der Zustand, wo
U den Kreis nur noch berührt, die Grenze bildet. Dabei vereinigt sich der
Punkt E, mit E, D, mit D, und die Gerade d, mit d. Der Punkt E (Fig. 3.)
ist die Mitte des Bogens ABC, und sein Ort — wenn das Dreieck und der
ihm umschriebene Kreis sich ändern — ist die auf der Grundlinie AB, in deren
Mitte M, senkrechte Gerade Y. Die Gerade d hälftet den Winkel (ab) an
der Spitze C. Wird unter diesen Umständen AD=a,, BD=b,, unda, +
b, = 2y, oder MA = MB =y gesetzt, so hat man zunächst
#00, — asad,.
b
9) en
.
a; db;
44 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
Da nach einem bekannten Satze über das Dreieck:
adb=d’+ab,
so ist ferner (1.):
3. d=(+9).0,5,=!.d.
Aus (2.) und (3.) folgt:
a b
4. Vırg= En?
und daraus weiter
9. a+b=(a +5)Vır9=2yVi+g,
d.h. die Summe der Schenkel « + Bist constant. Man setze diese Constante
2yVYırg=2a, unda —y’=b*,
so ist
b
6. Vi — 2=_, oder
> A a b,’
2 b z d? 2 d?
Us = ee u a ee
y a,b, [17 19 ab y a,b;
8. a= I vab= Vab..
Man setze ferner CE=e, DE=fund AE=BE=3g, so ist
d:f=h:p=g wde=d+f,
oder
9, =g.J; und e= (149). f= — d,
und weiter:
10. e:d:f=a?:*:y°;
110, de =.eb; dA ab; ef E a ar .. ab.
Da die Dreiecke DEB und DAC ähnlich sind, so ist
= = Belt. (6.),
und weiter:
13. g=— J=L.e=5.d=7 .Vab.
Wird der Winkel (a5) oder ACB durch $ bezeichnet, und bemerkt, dafs
Winkel BAE= - $, so ist
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 45
oder
14. Yab.cos+o—=R.
Die vorstehenden Gleichungen enthalten nebst der Lösung der obigen
Aufgabe zugleich auch viele, theils bekannte, Sätze über die Ellipse, nämlich
in Worten enthalten sie folgendes:
„Alle Dreiecke ABC, deren Spitzen C in der verlangten Grenze liegen,
haben die gemeinsame Eigenschaft, dafs die Gerade d den Winkel (ab) an
der Spitze hälftet; dafs die Schenkel a und b zu den ihnen anliegenden Ab-
schnitten a, und b, der Grundlinie constantes V erhältni/s haben, nämlich wie
Vırg:1; dafs daher auch die Summe 2a der Schenkel constant ist und
sich zur Grundlinie 2% ebenfalls wie Vırq :ı verhält (6.); u.s.w.” Oder:
„Die gesuchte Grenze ist eine Ellipse, welche die Endpunkte A, B der
‚festen Grundlinie zu Brennpunkten hat, und deren grofse Axe 2a sich zur
Grundlinie oder doppelten Excentricität 24 verhält, wie VYırq : 1, oder de-
ren halbe grofse Axe a, halbe kleine Axe B und Excentricität y sich verhal-
ten, wie Vı+g: vg: 1
„Jede Ellipse hat folgende Eigenschaften: Zieht man aus irgend einem
Punkte C derselben die beiden Leitstrahlen a, b und errichtet die Normale
CE, so theilt letztere das Stück AB der Hauptaxe X zwischen den Brenn-
punkten allemal in solche Abschnitte, a, und b,, welche zu den ihnen anlie-
genden Leitstrahlen constantes Verhältnifs haben, und zwar wiey: a, d.h.
wie die Excentricität zur halben grofsen Axe”. „Ebenso hat das Rechteck
unter den genannten Abschnitten, a, b,, zum Quadrat der Normale d’ — diese
bis an die Hauptaxe X genommen — constantes V erhältnifs, nämlich wie
y°:ß?, d.h. wie das Quadrat der Exceniricität zum Quadrat der halben klei-
nen Axe.” „Desgleichen hat das Quadrat der Normale, d’, zum Recht-
eck unter den Leitstrahlen ab, constantes Verhältnifs, wie B? : a’, d.h. wie
die Quadrate der halben Axen; u.s.w.(7).” „Die drei Abschnitte der Nor-
male, zwischen ihrem Fufspunkt C und ihren Schnittpunkten D, E mit den
Axen X, Y haben unter sich constantes Verhältnifs, und zwar wie die Qua-
drate der halben Axen und der Exceniricität, nämlich es verhält sich e:d:f =
a’ :ß° :y° (10); also verhalten sich die Stücke, d und e, der Normale bis
an die Axen X, Y umgekehrt wie die Quadrate der respectiven halben Axen;
46 Steiner: Elementare Lösuug einer geometrischen Aufgabe,
1.5.0.” „Das Rechteck, de, unter den Stücken d, e der Normale bis an die
Axen ist gleich dem Rechteck, ab, unter den Leitstrahlen; u.s.w. (11).”. —
„Die Gerade g, welche einen der Brennpunkte mit dem Schnittpunkt E der
NVormale und der zweiten Axe Y verbindet, verhält sich zum Stück der Nor-
male bis an diese Axe, e,wie die Excentricität zur halben grofsen Axe (13.),
und zum Stück der Normale zwischen den Axen, f, wie die halbe grofse Axe
zur Excentricität (13.); so dafs also g die mittlere Proportionale zwischen
e und f, oder g’= efist, usw” — Die mittlere Proportionale, Vab,
swischen den Leitstrahlen, a und b, multiplieirt in den Cosinus ihres halben
Winkels, +, ist constant, nämlich gleich der halben kleinen Axe ß (14.).”
Man setze den Halbmesser CM=,, und denke sich den conjugirten
Halbmesser MH = a, gezogen, so ist letzterer bekanntlich gleich der mittle-
ren Proportionale zwischen den Leitstrahlen @ und 5 aus C, also. «, = Vab,
und somit ist (14.)
a, cs+o=A.
Wird der Winkel, welchen die Leitstrahlen aus dem Scheitel 7 ein-
schliefsen, durch X a so ist eben so
ß,.cstt=ß.
Nun ist bekanntlich «? +? = a’ -+Q?; daher folgt für die Winkel
$ und X leicht die interessante Relation:
15. WFtH +igyV’= RE = —
d.h. „Die Winkel, welche die zwei Paar Leitstrahlen aus den Scheiteln C,
H irgend zweier conjugirten Halbmesser der Ellipse unter sich bilden, haben
die Eigenschaft, dafs die Summe der Quadrate der Tangenten der halben
Winkel constant ist, nämlich gleich ist dem Quadrat der Excentricität dividirt
durch das Quadrat der halben kleinen Axe.”
y?
Für die Axen-Scheitel ist tg — ®° = und tg +Y/?’=0, was auch
stimmt.
Für die besondere Ellipse, deren Axen sich verhalten, wie die Diago-
nale des Quadrats zur Seite, oder bei welcher «® = 28° = 2y”, hat man
16. 4’ Hg ıV’ =.
Für diese besondere Ellipse treten überhaupt in den obigen Gleichun-
gen und Sätzen ähnliche interessante Modificationen ein. Sie entspricht der
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 47
vorgelegten Aufgabe für den speciellen Fall, wo das Quadrat der aus der
Spitze C des Dreiecks zu ziehenden Geraden, CD oder d, dem Rechteck
unter den Abschnitten, AD und BD, der Grundlinie gleich, oder qg = ı
sein soll.
B. In Rücksicht der äufsern Geraden & und d, findet nun Analoges
statt. Nämlich sie sind nur so lange möglich, als die Parallele / den Kreis
schneidet; berührt sieihn, so befindet sich Cin der gesuchten Grenze, und
alsdann vereinigt sich der Punkt F, mit F, D®, mit D, und die Gerade d, mit
ö, und es ist der Punkt F die Mitte des Bogens AFB, so dafs sein Ort die-
selbe, auf der Grundlinie AB in deren Mitte M senkrecht stehende Axe Y
ist, und dafs ö den äufsern Winkel an der Spitze C des Dreiecks hälftet. Für
diesen Fall setze man
AD—=a,; BO—=D,; und ABZzZıy=b,— a,
so hat man gleicherweise, wie oben (A.):
13,0 ga,
a b
2 RER
3. d=ab,—®=(—-g).0b,= — ur.
4. h-g= =.
5. db-a=(b, —a,).Vı—g=2yVı—gq,
d.h. die Differenz der Schenkel a, 5 des Dreiecks ist constant. Man setze
2yYı—g=2e, udy” — ae =ß%,
so ist
@ —— a b
6. N
a? ao Br ab 1 ß? DR q A a Bin AR); }
T. ye 577 a Qab5a 2 a 1—g Ei Tab? y° rg Zu
Bu van DO voz,
« 2
Wird Cr =e, DOF=f, und AF=BF= g gesetzt, so ist ferner
o:f=h:p=gq, unde=f— oder
I. d=g.h unde=(h— d)f= —
10. erier: ße ig;
48 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
HE ab Nee 7 ad= Te Nab:
Da die Dreiecke OBF und DCA ähnlich, so ist weiter:
9 ge = N = u — . .
1 7 = > etc. (6.), oder
13 = - [= e=g°=7 /a
Wird der äufsere Winkel an der Spitze C durch ®, bezeichnet, so hat man
cos dd, = = — , oder
14. Vob.coo+g,—=ß.
Diese verschiedenen Gleichungen besagen in Worten Ähnliches, wie die obi-
gen (A.), z.B.
„Alle Dreiecke, deren Spitzen C in der gesuchten Grenze liegen, haben
die Eigenschaft, dafs die Gerade ö den äufsern Winkel an der Spitze hälftet;
da/s die Schenkel a, b zu den ihnen anliegenden Abschnitten a,, b, der Grund-
linie constantes Verhältnifs haben, wie vı—q : 1, (4) und dafs daher die
Differenz 2a der Schenkel(b— a, oder a— b) constant ist (5.) und sich zur
Grundlinie 24 ebenfalls wie Yı — g : ı verhält (6.), u.s.w.” Oder:
„ Die gesuchte Grenze ist im gegenwärtigen Falle eine Hyperbel, welche
die Endpunkte A, B der festen Grundlinie zu Brennpunkten hat, und deren
Hauptasxe 2a sich zur Grundlinie oder doppelten Excentricität 2% verhält, wie
1% 1—g :ı, oder deren Halbaxen «, ® und Excentricität y sich verhalten,
wieVyı—qg:Vg:ı, (wenn ß als reell angesehen wird).”
Für die Hyperbel enthalten die Gleichungen analoge Eigenschaften, wie
oben für die Ellipse, was ich nur anzudeuten brauche.
Wie man sieht mufs hier qg <ı, und also ö° > a,b, sein, wenn die
Hyperbel reell sein soll.
Ist insbesondere g = —, so wird die Hyperbel gleichseitig, näm-
licha=@=-yV2, und dann treten in den Formeln und Sätzen Modifi-
cationen ein, wie oben bei der speciellen Ellipse, bei welcher g = ı.
Bemerkung. Die in der Aufgabe (II.) verlangte Grenze besteht
demnach im Allgemeinen aus zwei Kegelschnitten, einer Ellipse und einer
Hyperbel, welche confocal sind und zudem die zweite Axe 2@ gemein haben
(abgesehen davon, dafs dieselbe für die Hyperbel imaginär ist); ihre Haupt-
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 49
axen verhalten sich, wieYı+g:Vı —gq. Die Kegelschnitte schneiden ein-
ander in vier Punkten C,, und zwar rechtwinklig. Somit giebt es vier solche
besondere (einander gleiche) Dreiecke ABC,, deren Spitzen C, in beiden
Kegelschnitten zugleich liegen. Für jedes dieser Dreiecke ist daher
dab, — 0 20,02 =g,
woraus man schliefst, dafs dieselben an der Spitze C, rechtwinklig sind (s.
oben I. Bemerk.). Demnach folgt:
„Bleibt die Grundlinie AB constant und in fester Lage, während die
Verhältni/szahl q sich ändert, so ändern sich auch die beiden Kegelschnitte,
aber der geometrische Ort ihrer vier Schnitipunkte C, ist ein Kreis, welcher
die feste Grundlinie zum Durchmesser hat.” Oder
„Soll ein Dreieck ABC,, dessen Grundlinie AB in fester Lage gege-
ben, die Eigenschaft haben, dafs die Quadrate der beiden Geraden d und 8,
welche die Winkel $ und $, an der Spitze C, hälften, sich zu den Rechtecken
unter den respectiven Abschnitten der Grundlinie gleich verhalien, so mu/s
es an der Spitze rechtwinklig sein, oder so ist der Ort seiner Spitze C, ein
Kreis, welcher die Grundlinie zum Durchmesser hat.”
Werden die beiden Kegelschnitte, Ellipse und Hyperbel, oder kürzer
Eund H, gezeichnet gedacht, so theilen sie zusammen die Fbene in 7 Theile
oder Räume A. Von diesen Räumen liegen: 1) zwei sich gleiche R,, inner-
halb E und H zugleich; 2) einer A, innerhalb E allein; 3) zwei gleiche 2,
innerhalb H allein; und endlich 4) zwei gleiche A, aufserhalb E und H.
Liegt nun die Spitze C des Dreiecks ABC entweder: 1) in einem der beiden
Räume A,, so sind sowohl zwei Gerade d (d.h. d und d,) als zwei Gerade
ö möglich; 2) im Raume A,, so sind nur zwei Gerade d möglich; 3) in einem
der zwei Räume A,, so finden nur zwei Gerade d statt; und endlich 4) in
einem der zwei Räume A,, so findet weder d noch d statt, d.h. die Auf-
gabe (I.) ist unmöglich.
Zweite Auflösung.
Von der in der Aufgabe (II.) verlangten Grenze, kann man sich durch
folgende Betrachtung eine klare Anschauung verschaffen.
Wird in der gegebenen Grundlinie AB der Theilungspunkt D irgend
wo angenommen, so ist, wenn zudem auch g gegeben, die Länge der Gera-
den CD oder d bestimmt, dad’ =g.AD.BD sein soll. Daher ist für
Math. Kl. 1847. G
50 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
jeden Theilungspunkt D der Ort der Spitze C des Dreiecks ein Kreis, der
D zum Mittelpunkt und d zum Radius hat. Und daher ist klar, dafs die
gemeinsame Enveloppe E aller dieser Kreise D die gesucht® Grenze ist.
Jeder Kreis wird von der Enveloppe E in denjenigen zwei Punkten € be-
rührt, in welchen er von dem ihm zunächst folgenden geschnitten wird, oder,
wenn man sich so ausdrücken darf, in welchen er von dem mit ihm zusam-
menfallenden (oder von sich selbst) geschnitten wird. In jedem andern Punkte
C, wird er von einem der übrigen Kreise geschnitten, aber nur von einem.
Jene zwei Berührungspunkte € lassen sich z.B. durch die Eigenschaft der
Ähnlichkeitspunkte zweier Kreise leicht geometrisch bestimmen.
Es seien D und D, zwei der genannten Kreise, und F und F, seien
ihre Ähnlichkeitspunkte: so sind diese (nicht allein zu den Mittelpunkten D
und D,, sondern zugleich auch) zu den gegebenen Punkten A und B har-
monisch, was leicht zu erweisen ist. Eine äufsere gemeinschaftliche Tan-
gente Z, die also durch den äufsern Ähnlichkeitspunkt F geht, berühre die
Kreise beziehlich in € und €,, und der diesen Punkten zunächst liegende
Schnittpunkt der Kreise heifse C,. Bleibtnun D fest während D, ihm nä-
her rückt, bis er endlich mit ihm zusammenfällt, so rücken die Punkte E
und C, auf dem festen Kreise D einander auch näher, bis sie zuletzt sich in
einen Punkt C vereinigen, welcher der verlangte Berührungspunkt ist; dabei
fällt auch €, in C, und der innere Ähnlichkeitspunkt F,, der stets zwischen
D und D, liegt, fällt in D. Demnach werden die zwei Punkte C, in welchen
ein beliebiger Kreis D von der Enveloppe E berührt wird, wie folgt ge-
funden:
„Zu den drei Punkten A, D, B suche man den vierten, dem D zuge-
ordneten, harmonischen Punkt F, und lege aus ihm Tangenten an den Kreis
D, so sind deren Berührungspunkte die verlangten zwei Punkte C.”
Zieht man aus einem der construirten Punkte C nach den Punkten
A, D, B, F Strahlen a, d, b, f, so sind diese auch harmonisch; und dad und
f zu einander rechtwinklig (als Radius und Tangente des Kreises D), so hälf-
ten sie die von aund d gebildeten Winkel. Hierdurch gelangt man, für die
Bestimmung des Orts von C, zu denselben drei Fundamentalgleichungen,
wie bei der ersten Auflösung (II. A. 1, 2, 3.), woraus also, wie dort, folgt,
dafs die Enveloppe E eine Ellipse sei.
Der Kreis D kann mit der Enveloppe E reelle oder imaginäre Berüh-
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 51
rung haben. Ob das Eine oder Andere statt findet, hängt davon ab, oder
wird bei der obigen Construction daran erkannt, ob aus # Tangenten an den
Kreis D möglich sind oder nicht, also ob F aufserhalb oder innerhalb des
Kreises liegt, oder ob d kleiner oder gröfser als DF’ ist. Es finden immer
beiderlei Kreise statt, und der besondere Fall, wo gerade d= DF, oder
zur Unterscheidung, d, = D,F,, bildet den Übergang von den einen zu den
andern. Bei diesem Übergangsfalle vereinigen sich beide Berührungspunkte
C, mit F,, und der Kreis D, wird der Krümmungskreis der Ellipse £ im
Scheitel F, ihrer Hauptaxe 2«. Die Lage des Mittelspunkts D, wird durch
die zwei Gleichungen
de gi AD; BD, und MA>= MD, "ME,
oder, wenn MD, = x und MA = MB = y gesetzt wird, durch
d=g4(y’ — a’), undy’=x(x +d,)
bestimmt. Daraus ergiebt sich:
2 2
= — = I%;,unddd, =ae—ı= h
Vi+g [2 @
Von den auf diese Weise bestimmten zwei Punkten D, und D; liege der er-
stere nach A und der andere nach B hin. Die Mittelpunkte der beiderlei
Kreise D vertheilen sich nun so: „Die Strecke D, D; enthält die Mittelpunkte
aller reell berührenden Kreise D, wogegen die Mittelpunkte der imaginär
berührenden Kreise D in den beiden Strecken AD, und BD; liegen.” Da-
bei ist
D,D, =, und AD, =BDi= 2 («— 9).
Die Berührungspunkte C der Kreise D mit der Enveloppe E können
ferner auch auf folgende umständlichere Art gefunden werden, was hier noch
um eines unten folgenden Satzes willen in Betracht gezogen werden soll.
Zieht man in allen Kreisen D parallele Durchmesser GG, = 2d nach
einer beliebigen Richtung A, so liegen ihre Endpunkte G und @, jedesmal
in irgend einem Kegelschnitte X [denn dd’ =g.AD.BD, so ity’=q
(y— x) (Y+x), wenn man d=y, MD=x und MA= y setzt]. Wird
nun an diesen Kegelschnitt X im Punkte G die Tangente GF gelegt, so trifft
diese die Axe X im nämlichen Punkte F, aus welchem die an den Kreis D
gelegten Tangenten die verlangten Berührungspunkte C geben (wie bei der
G2
52 Steinen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
obigen Construction). — Für den oben genannten Übergangsfall, d.h. für
den besondern Kreis D,, hat man dabei das Merkmal: dafs die Tangente
GF mit der Richtung R und mit der Axe X gleiche Winkel bildet, oder dafs
D,F=D,G ist; und je nachdem sie mit A einen gröfsern oder kleinern
Winkel bildet, als mit X, berührt der zugehörige Kreis D die Enveloppe
E reell oder imaginär. Bei dem besondern Kegelschnitte X,, der entsteht
wenn R zu X senkrecht, bildet also für jenen Fall die Tangente GF mit der
Axe X einen Winkel von 45°, und je nachdem sie mit derselben einen kleinern
oder gröfsern Winkel bildet, berühren sich D und E reell oder imaginär. —
Da beim Übergangsfall D,F=D,G = D,G,, so folgt, dafs die Tangenten
GF und G,F dabei einen rechten Winkel bilden. Beiläufig mag noch be-
merkt werden, dafs aus der Bestimmungsart der Kegelschnitte X unmittelbar
folgt, dafs dieselben die Grundlinie AB zum gemeinsamen Durchmesser ha-
ben (somit unter sich und mit E concentrisch sind), und dafs der demselben
conjugirte Durchmesser für jeden X der zugehörigen Richtung R parallel und
für alle X von constanter Gröfse ist, nämlich er ist zugleich ein Durchmesser 2d
desjenigen Kreises D oder D,,, dessen Mittelpunkt in M fällt, so dafs also 2d, —
e@=2yVg. Ferner folgt, dafs jeder Kegelschnitt X die Enveloppe E in
zweiPunkten H und H,,in den Endpunkten eines ihnen gemeinsamen Durch-
messers, berührt; dieser Durchmesser ist dadurch bestimmt, dafs die Nor-
malen (der E) in seinen Endpunkten der jedesmaligen Richtung A parallel
sind. Demzufolge ist E zugleich auch die Enveloppe der Schaar Kegel-
schnitte X, welche sämtlich Ellipsen sind und innerhalb der Ellipse E liegen.
Jener oben erwähnte besondere X, hat mit E die Axe 28 gemein und berührt
sie in den Scheiteln derselben. — Für die obige specielle Ellipse, die ein-
tritt, wenn g= 1, und bei dere = @VYa=yV2, ist AB für jeden Kegel-
schnitt X einer der gleichen conjugirten Durchmesser, indem 2d, = ß=
2y, und daher wird in diesem Falle X, ein Kreis über dem Durchmesser
AB.
Wird oben anstatt des Theilungspunkts D, zwischen A und B, ein
Theilungspunkt D in der Verlängerung der Grundlinie AB, also jenseits A
oder Bangenommen, und wird sodann mit der dadurch bestimmten Geraden
ö um ihn ein Kreis ® beschrieben, so gelangt man zu analogen Resultaten.
Nämlich die Enveloppe E aller Kreise ® ist eine Hyperbel; die Kreise zer-
fallen in zwei Abtheilungen, die einen haben mit E’reelle, die andern imaginäre
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnilte. 53
Berührung, und der Übergang von den einen zu den andern geschieht durch
die Krümmungskreise D, in den Hauptscheiteln der Hyperbel E, etc. Ferner:
Zieht man in den Kreisen je ein System parallele Durchmesser GG, so lie-
gen deren Endpunkte in einer Hyperbel X, welche die Hyperbel E in zwei
Punkten H und H,, in den Endpunkten eines gemeinsamen Durchmessers
(eines reellen oder imaginären) berührt, u.s. w.
Bemerkung. Dafs die obigen Kreise D eine Ellipse E zur Enve-
loppe haben, und dafs die Endpunkte G und G, je eines Systems paralleler
Durchmesser derselben in einer andern Ellipse X liegen, u.s.w. davon kann
man sich durch stereometrische Betrachtung, durch Projection, eine klare
unmittelbare Anschauung wie folgt verschaffen.
Man denke durch den Mittelpunkt M einer Kugel eine feste Ebene p,
die sie in einem Hauptkreise P schneidet; ferner einen der Kugel umschrie-
benen (geraden) Cylinder T, dessen Axet, die immer durch M geht, gegen
die Ebene p unter beliebigem Winkel A geneigt ist, und welcher die Kugel
in einem Hauptkreise € berührt, der mit dem Kreise P einen Durchmesser
QR oder Y gemein hat. Der Cylinder T schneidet die Ebene p in einer
Ellipse E, die M zum Mittelpunkt und OR zur kleinen Axe (2) hat. Sei
Z der auf der Ebene p senkrechte Kugeldurchmesser, und X und 8 dessen
Endpunkte. Jede durch Z gelegte Ebene schneidet die Kugelin einem Haupt-
kreise 8; geht die Ebene insbesondere durch Z und Y, so heifse der Kreis &,.
Jeder Kreis $ hat mit dem festen Kreise € einen Durchmesser HN, gemein.
Alle Kreise & haben den Durchmesser AB (oder Z) gemein, und die dem-
selben conjugirten Durchmesser haben sie einzeln mit dem Kreise P gemein.
Eine mit der Ebene p parallele, aber bewegliche, Ebene p, schneidet die Kugel
in einem kleinen Kreise D, dessen Mittelpunkt D den Durchmesser AB zum
Ort hat. Der Kreis D schneidet den festen Kreis € in zwei Punkten €, die
reell oder imaginär sein können, nämlich es giebt zwei besondere Kreise D,
und D;, welche den Kreis E nur berühren, und über diese hinaus schneiden
sich D und & nicht mehr reell, aber die Schnittlinie CE ihrer verlängerten
Ebenen bleibt immerhin ihre ideelle gemeinschaftliche Chorde. Die Schaar
Kreise D werden von der Ebene jedes Kreises & in einem System paral-
leler Durchmesser G®&, geschnitten, deren Endpunkte & und ©, in & lie-
gen; U.S.W.
54 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
Werden nun diese auf der Kugel beschriebenen Elemente nach der
Richtung der Cylinder-Axe # auf die feste Ebene p projicirt, so ergiebt sich
folgendes:
Der Kreis P entspricht sich selbst. Dem Kreise entspricht die Ellipse
E;, dem senkrechten Durchmesser Z entspricht die grofse Axe X von E; den
Endpunkten X und B entsprechen die Brennpunkte A und Bvon E. Jedem
Kreise D entspricht ein ihm gleicher Kreis D, dessen Mittelpunkt D die Stre-
cke AB der Axe X zum Ort hat; den zwei Schnittpunkten € von D und €
entsprechen die zwei Berührungspunkte € von D und E; den besondern zwei
Kreisen DO, und D; entsprechen die Krümmungskreise D, und D; in den
Scheiteln der grofsen Axe X; und überhaupt je nachdem der Kreis D den Kreis
& schneidet oder nicht, hat D mit E reelle oder imaginäre Berührung, und
der Schnittlinie @& der Ebenen von D und € entspricht immer die reelle oder
ideelle Berührungssehne CC von D und E. Die Kreise 8 gehen in eine Schaar
Ellipsen Aüber; je einem System paralleler Durchmesser &G&, der Kreise D
entsprechen parallele Durchmesser GG, der Kreise D, deren Endpunkte G
und @, in Je einer Ellipse X liegen; den Schnittpunkten 9 und 9, von & und
& entsprechen die Berührungspunkte H und H, von K und E, und HA, ist
allemal gemeinsamer Durchmesser der letztern; dem gemeinsamen Durchmes-
ser AB aller Kreise & entspricht der gemeinsame Durchmesser AB aller Ellip-
sen X, und die diesen beiden Durchmessern beiderseits conjugirten Durch-
messer fallen zusammen und sind zugleich die Durchmesser des Kreises P.
Dem besondern Kreise &, entspricht die besondere Ellipse X,, u.s.w.
Die Verhältnifszahl oder der Coefficient q wird hierbei bestimmt durch
g=tang‘”.
Ist insbesondere der Winkel A = 45°, so ist g= ı, und dann wird
E die mehrerwähnte besondere Ellipse, bei der « = Bye.
Anstatt der Kugel können auch andere Umdrehungsflächen zweiter
Ordnung zu Hülfe genommen werden, nämlich die Sphäroide und das zwei-
theilige Umdrehungs-Hyperboloid. Dabei ist gleicherweise die feste Ebene
p durch den Mittelpunkt M der Fläche und senkrecht zu ihrer Drehaxe Z
anzunehmen. Beim Hyperboloid ist dann der umschriebene Cylinder 7 ein
hyperbolischer, und sein Schnitt E mit der Ebene p ist eine Hyperbel, und
ebenso werden alle Kegelschnitte X Hyperbeln, u.s. w.
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 55
Bei diesen Fällen wird die Gröfse q durch den Winkel A und durch
die zwei verschiedenen Axen 2a, 2@ der jedesmaligen Fläche bestimmt, näm-
lich es ist
up tang A”
De ana,
wo 2« die ungleiche Axe ist, die in der Drehaxe Z liegt.
$.ı.
Die vorstehende Untersuchung führte auf ein System Kreise, welche
einen Kegelschnitt doppelt berühren. Aber es kamen dabei einerseits nicht
alle Kreise in Betracht, welche den Kegelschnitt doppelt berühren, und
andererseits stellten sich nicht alle Arten Kegelschnitte ein. Dies giebt An-
lafs diesen Gegenstand für sich etwas ausführlicher zu erörtern. Es bieten
sich dabei noch einige nicht ganz uninteressante Eigenschaften und Sätze dar.
1. Ein gegebener Kegelschnitt A kann von zwei Systemen oder zwei
Schaaren Kreise P und Q doppelt berührt werden, deren Mittelpunkte in den
beiden Axen X und Y des Kegelschnitts liegen, und zwar ist jeder Punkt
in der einen oder der andern Axe als Mittelpunkt eines solchen Kreises an-
zusehen, der reell oder imaginär ist. Die Kreise P, deren Mittelpunkte in
der Hauptaxe X liegen, berühren den Kegelschnitt X von Innen und liegen
ganz innerhalb desselben, wogegen die Kreise @, deren Mittelpunkte in der
zweiten Axe F liegen, denselben entweder von Aufsen berühren, oder ihn
umschliefsen und von ihm von Innen berührt werden. Die erste Kreisschaar
P besteht aus reellen und imaginären Kreisen, wogegen die andere Schaar
Kreise Q sämmilich reell sind. Die reellen Kreise P der ersten Schaar zer-
fallen in zwei Abtheilungen, wovon die einen mit Ä reelle und die andern
imaginäre Berührung haben, (was bereits im Vorhergehenden sich heraus-
stellte). Bei den Kreisen Q hängt es von der Art des Kegelschnitts A ab,
ob ihn dieselben alle reell berühren, oder ob sie, ebenso wie jene, in zwei
Abtheilungen zerfallen, wovon die einen ihn reell und die andern imaginär
berühren.
Sei AA, = 2a die Hauptaxe, in X, und BB, = 2ß die zweite Axe,
in Y,, ferner Fund F, die Brennpunkte (in X) und FF, = 2y; seien ferner
56 Steinen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
A und AX,,Bundß, beziehlich die Krümmungsmittelpunkte der Axen-Schei-
tel 4 und A,, B und B,, und sei endlich M der Mittelpunkt des Kegel-
schnitts K: so läfst sich das Gesagte bei den verschiedenartigen Kegelschnitten
wie folgt specieller angeben.
a. Bei der Ellipse. 1) Die Kreise P werden von der Ellipse umschlos-
sen. Die Mittelpunkte der reellen Kreise P sind auf die Strecke FF, be-
schränkt, und jeder derselben berührt die Ellipse reell oder imaginär, je
nachdem sein Mittelpunkt in der Strecke AW,, oder in einer der beiden Stre-
cken AF oder A,F, liegt. Der Kreis P wird am gröfsten, ein Maximum,
wenn er M zum Mittelpunkt und BB, = 2ß zum Durchmesser hat; er wird
um so kleiner, je weiter sein Mittelpunkt von M absteht, bis er in den Gren-
zen F und F, sich auf seinen Mittelpunkt redueirt. 2) Die Kreise Q um-
schliefsen die Ellipse und berühren sie reell oder imaginär, nachdem der
Mittelpunkt in der Strecke BB,, oder auf der einen oder andern Seite jen-
seits dieser Strecke liegt. Der Kreis Q wird ein Minimum, wenn er M zum
Mittelpunkt und AA, = 2« zum Durchmesser hat; er wird um so gröfser,
je weiter sein Mittelpunkt von M absteht. — Im beiden Fällen findet der
Übergang von den reell zu den imaginär berührenden Kreisen bei den Krüm-
mungskreisen in den Scheiteln der respectiven Axen AA, und BB, statt.
b. Bei der Hyperbel. 1) Die Kreise P werden von der Hyperbel
umschlossen. Die Mittelpunkte der reellen Kreise P liegen zu beiden Sei-
ten jenseits der Strecke FF,, von deren Endpunkten an bis ins Unendliche,
und jeder Kreis P berührt die Hyperbel reell oder imaginär, nachdem sein
Mittelpunkt jenseits der Strecke AA,, oder in einer der beiden Strecken AF
oder 4,7, liegt; in den Grenzpunkten Fund F, wird der Radius des Krei-
ses—= 0, etc. 2) Die Kreise Q@ berühren die Hyperbel von Aufsen, jeder
berührt beide Zweige derselben, und alle berühren reell, so dafs jeder Punkt
der unbegrenzten Axe Y Mittelpunkt eines die Hyperbel reell und doppelt
berührenden Kreises Q@ ist. Der Kreis Q wird ein Minimum, wenn er M
zum Mittelpunkt und 44, = 2a zum Durchmesser hat; er wird um so grö-
{ser, je weiter sein Mittelpunkt von M entfernt.
c. Bei der Parabel. 1) Die Kreise P werden von der Parabel um-
schlossen. Die Mittelpunkte der reellen Kreise P liegen von Fan nach dem
Innern der Parabel, bis ins Unendliche, und jeder Kreis P berührt die Pa-
rabel reell oder imaginär, je nachdem sein Mittelpunkt jenseits X, oder in
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 57
der Strecke FA liegt; bei wird der Radius des Kreises 0, ete. 2) Hier
ist die zweite Axe Y unendlich entfernt; als ihr entsprechende Kreise Q kann
man die gesammten Tangenten der Parabel ansehen.
Bemerkung I. Die Radien der Kreise P und Q, welche nach deren
Berührungspunkten mit dem Kegelschnitte X gezogen werden, sind zugleich
die Normalen des letztern. Somit sind umgekehrt die beiden Kreisschaaren
durch die Normalen des Kegelschnitts X bestimmt, nämlich dieselben bis an
die Axen X und Y genommen, sind die Radien der respectiven Kreise. Aber
wie aus dem Obigen ersichtlich, erhält man hierdurch nicht die ganze Kreis-
schaar P, sondern nur diejenige Abtheilung derselben, welche mit X reelle
Berührung haben. Ebenso verhält es sich mit der zweiten Kreisschaar Q,
im Falle, wo X eine Ellipse ist. —
II. Von den zwei Kreisschaaren P und Q, die einen Kegelschnitt X
doppelt berühren, will ich hier beiläufig folgenden Satz angeben:
„Die gemeinschaftliche Sekante SS irgend zweier Kreise aus der näm-
lichen Schaar und ihre Berührungssehnen CC und C,C, mit dem Kegel-
schnitte K sind parallel, und die erstere liegt immer in der Mitte zwischen
den beiden letztern” (Dabei können die genannten drei Geraden reel oder
ideel sein). Oder:
„Werden zwei gegebene Kreise N und N, von irgend einem Kegel-
schnitte K doppelt berührt, aber beide gleichartig, so sind die beiden Berüh-
rungssehnen CC und C,C, immer mit der gemeinschaftlichen Sekante SS der
Kreise parallel, und stehen gleichweit von ihr ab” — Die zwei äufsern, so
wie die zwei innern gemeinschaftlichen Tangenten der Kreise V und NV, sind
als ein solcher Kegelschnitt X anzusehen: und für diesen besondern Fall ist
der Satz bekannt. — Übrigens findet der Satz auch etwas allgemeiner statt,
was ich bei einer andern Gelegenheit nachzuweisen mir vorbehalte.
IH. Die zweite Schaar Kreise Q haben, unter andern, folgende be-
sondere Eigenschaft:
„Zieht man aus den Brennpunkten F und F, nach allen Tangenten
des Kegelschnitts K Strahlen unter demselben beliebigen Winkel ®, so liegen
ihre Fufspunkte allemal in einem solchen Kreise Q, so dafs durch Änderung
des Winkels $ die ganze Schaar Kreise Q erhalten wird.” Oder umgekehrt:
gegebener Winkel $ so, dafs der eine Schenkel
stets einen festen Kegelschnitt K berührt, während der andere beständig durch
Math. Kl. 1847. H
„Bewegt sich ein beliebiger
58 Sreıner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
einen der beiden Brennpunkte F oder F, desselben geht, so beschreibt sein
Scheitel einen solchen Kreis Q, welcher den Kegelschnitt doppelt berührt (re-
ell oder imaginär) und seinen Mittelpunkt in der zweiten Axe Y des letztern
hat”— Für den besondern Fall, wo = 90", ist der Satz allgemein bekannt;
ebenso für den Fall, wo X insbesondere eine Parabel aber $ beliebig ist, und
wobei der Kreis Q unendlich grofs, d.h. eine Gerade, eine Tangente der
Parabel wird. — Zur weitern Entwickelung dieses Satzes und seines Zusam-
menhanges mit andern Eigenschaften, ist hier nicht der geeignete Ort.
2. Kürze halber wollen wir die obige Annahme (1.): „dafs X die
erste, oder die Hauptaxe des gegebenen Kegelschnitts X sei”, für einen Au-
genblick aufheben, und vielmehr es unbestimmt lassen, ob X die erste oder
zweite Axe, und ob die ihr zugehörige Kreisschaar P die erste oder zweite
sei, wobei dann gleicherweise unbestimmt bleibt, ob die in X liegende Axe
AA, = 2a, so wie die Brennpunkte Fund 7,, und deren Abstand FF, =
2%, u.s.w. reell oder imaginär seien. Alsdann braucht man nur von einer
Kreisschaar Pzu sprechen und kann doch die übereinstimmenden Eigenschaf-
ten beider Schaaren zugleich beschreiben.
Einige schon im Frühern angedeutete Sätze ($.I, 2te Auflös.) lauten
nun vollständiger wie folgt:
„Werden in einer Schaar Kreise P, welche einen gegebenen Kegel-
schnitt K doppelt berühren, nach beliebiger Richtung R parallele Durchmesser
GG, gezogen, so liegen deren Endpunkte G und G, in irgend einem andern
Kegelschnitte K,, welcher FF, zum Durchmesser hat, der mit den Brenn-
punkten F und F, zugleich reell oder imaginär ist. Der diesem Durchmesser
FF, conjugirte Durchmesser G’G? in K,, ist der Richtung R parallel, näm-
lich er ist zugleich der Durchmesser GG, desjenigen Kreises P, dessen Mit-
telpunkt in M liegt, und somit ist er auch gleich der andern Axe BB' = 28
des gegebenen Kegelschnitts K (1.), und mit derselben zugleich reell oder
imaginär. Daher ist die Summe der Quadrate dieser conjugirten Durchmes-
ser FF, und G’G? von K, gleich dem Quadrat der Axe AA, = 2a von K.”
Werden diese conjugirten Durchmesser von ÄX,, als solche, durch 2/ und 2g
bezeichnet, soitf=yundg= ß, und da in X @? +y?=.«°, so ist auch,
wie behauptet,
He
Ferner: „Der Kegelschnitt K, berührt den gegebenen K in denjenigen zwei
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 59
Punkten H und H,, in welchen die Normalen, auf K, der Richtung R pa-
rallel sind, somit in den Endpunkten eines gemeinsamen Durchmessers HH,
—=.2h. Die diesem Durchmesser in beiden Kegelschnitten K und K,, conju-
girten Durchmesser LL = 2l und L,L, = :l, fallen also aufeinander,
und die Differenz ihrer Quadrate ist gleich dem Quadrai der andern Axe
BB, des gegebenen Kegelschnitts K.” Denn in Rücksicht auf X, ist h’+7,
—=g’+f’=.a°, und in Bezug auf Kit + =a’ + ß*, folglich ist
P_e—Bt.
Wird die Richtung R so viel wie möglich geändert; so entsteht eine
Schaar Kegelschnitte X,, oder abgekürzt $. X,, welche insgesammt folgende
Eigenschaften haben.
„Die S. K, haben FF, zum gemeinsamen Durchmesser und sind da-
her unter sich und mit K concentrisch. Die diesem Durchmesser conjugirten
Durchmesser G’G? in der S.K, sind zugleich die gesammten Durchmesser
desjenigen Kreises P, welcher M zum Mittelpunkt hat, also alle gleich und
auch gleich der andern Axe BB, des K. Daher ist für alle K, die Summe
der Quadrate conjugirter Durchmesser constant, und zwar gleich dem Qua-
drat der fixirten Axe AA, des K; (denn es ist g + f” =«°). Der über
der Axe AA, = 2a, als Durchmesser, beschriebene Kreis M hat daher die
Eigenschaft, dafs die aus irgend einem Punkte m seines Umfanges an je ei-
nen K, gelegten Tangenten allemal einen rechten Winkel bilden. Die 5. K,
haben den gegebenen Kegelschnitt K zur gemeinsamen Enveloppe, nämlich
jeder von jenen berührt diesen in den Endpunkten eines ihnen gemeinsamen
Durchmessers HH,, und zwar in denjenigen Punkten, in welchen die Nor-
malen der zugehörigen Richtung R parallel sind. Die diesem Durchmesser
HH, in dem jedesmaligen K, und in K conjugirten Durchmesser L,L, = el,
und LL=2l fallen aufeinander, und die Differenz ihrer Quadrate ist con-
stant, nämlich gleich dem Quadrat der andern Axe BB, = 2ß des K;, (oder
= %, oben)” — „Legt man aus irgend einem Punkte p des gemein-
samen Durchmessers FF,, oder dessen Verlängerung, an jeden K, zwei
Tangenten pg und pg,, so liegen die Berührungspunkte g und g, sämmtlich
in einem der Kreise P, und die Berührungssehnen gg, sind Durchmesser
desselben, und schneiden sich somit in einem Punkt.” — „Die S. K, sind
unter sich und im 4llgemeinen auch mit K von gleicher Art, nur wenn K eine
H2
60 Sreisen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
Ellipse und X ausdrücklich die zweite oder kleine Axe derselben ist, sind die
S. K, anderer Art, nämlich Hyperbeln.”
Gemäfs einer früheren Bemerkung (1.1.) kann man den ersten Satz
auch so aussprechen:
„Werden die Normalen eines Kegelschnitts K bis an eine seiner Axen
X gezogen und um die Punkte, in welchen sie diese treffen, so herumbewegt,
bis sie irgend einer gegebenen Richtung R parallel sind, so liegen ihre End-
punkte allemal in irgend einem andern Kegelschnitte K,, welcher jenen ersten
in den Endpunkten eines ihnen gemeinsamen Durchmessers HH, berührt,
und welcher allemal den Abstand FF, der in der Axe X liegenden Brenn-
punkte des K von einander zum Durchmesser hai.” U.s.w.
3. Aus dem Vorhergehenden ergeben sich durch Umkehrung fol-
gende Sätze.
„Zieht man in einem gegebenen Kegelschnitte K, ein System parallele
Sehnen GG, nach beliebiger Richtung Rh, so liegen ihre Mitten P in einem
Durchmesser FF, =2/f desselben: und beschreibt man über den Sehnen, als
Durchmesser, Kreise P, so haben diese irgend einen bestimmten andern Ke-
gelschnitt K zur Enveloppe, und zwar berühren sie ihn doppelt, jeder in zwei
Punkten C. Eine Axe AA, = 2a des K fällt auf den Durchmesser FF,
und die ihr zugehörigen Brennpunkte fallen in dessen Endpunkte F und F,,
so da/s also FF, = 2y die doppelte Excentricität des K und dieser mit K,
concentrisch ist. Die andere Axe BB, =2ß des K ist dem zum System der
Sehnen GG, gehörigen, und dem FF, conjugirten, Durchmesser G’G, =2g
des K, gleich. Daher ist das Quadrat jener Axe AA, des K gleich der
Summe der Quadrate der conjugirten Durchmesser FF, und G’G} des K..
Die aus einem Scheitel A der Axe AA, an K, gelegten Tangenten A und
A®, bilden einen rechten Winkel, und die Berührungssehne &&, gehört
mit zum System Sehnen GG, sie ist der Durchmesser des Krümmungskrei-
ses, oder ihre Mitte ist der Krümmungsmittelpunkt X des Kegelschnitts K in
jenem Scheitel A ($. 1. 2te duflösung.) — Der Kegelschnitt K berührt den
gegebenen K, in den Endpunkten eines ihnen gemeinsamen Durchmessers
HH,, und zwar in denjenigen Punkten H und H,, in welchen die Normalen
des K, der Richtung R und somit auch den Tangenten in F und F, an K,
parallel sind. Daher sind die Brennpunkte F und F, und die Berührungs-
punkte H und H, des K zugleich auch die Berührungspunkte der Seiten eines
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 61
dem K, umschriebenen Rechtecks. Die dem Durchmesser HH, = 2h beid-
seitig conjugirten Durchmesser 2l und 21, fallen aufeinander und es ist
aut B = ß@? = ge?
Wird die Richtung AR so viel wie möglich geändert, so entsteht auf
diese Weise, bei demselben gegebenen Kegelschnitte X, eine Schaar Kegel-
schnitte X, oder S. X, welche folgende gemeinsame Eigenschaften haben.
„Die 5. K haben mit K', denselben Mittelpunkt M. Alle K haben eine
gleiche Axe dA, deren Quadrat der Summe der Quadrate je zweier conju-
girter Durchmesser des K, gleich ist; daher sind sämmtliche Axen AA,
Durchmesser eines Kreises M, welcher in Bezug auf K, der Ort der Schei-
tel der ihm umschriebenen rechten Winkel ist. Die in den Axen 4A, liegen-
den Brennpunkte F und F, der $. K sind zugleich die Endpunkte je eines
Durchmessers FF, des K,, und somit ist K, ihr geometrischer Ort. Der ge-
nannte Kreis M ist ferner für jeden Kegelschnitt K der Ort der Fufspunkte
der aus seinen Brennpunkten F und F, auf seine Tangenten gefällten Perpen-
dikel” — „Die andern Axen BB, der S.K sind respective den einzelnen Durch-
messern des K\, gleich, nämlich je dem, der dem Durchmesser FF, conjugirt
ist. Der Ort der Endpunkte dieser Axen BB, ist eine Curve Aten Grades(*).
„Jeder Kegelschnitt K berührt den gegebenen K, in den Endpunkten eines
ihnen gemeinsamen Durchmessers HH, in welchen Endpunkten nämlich die
5
Normalen der jedesmaligen Richtung R parallel sind; die beiden Brenn-
punkte F und F, und die beiden Berührungspunkte H und H, jedes K sind
immer zugleich die Berührungspunkte der zwei Paar Gegenseien eines dem
K, umschriebenen Rechtecks, und es giebt allemal einen zweiten K, welcher
verwechselt H und H, zu Brennpunkten und F und F, zu Berührungspunkten
hat. Und umgekehrt: Die zwei Paar Berührungspunkte der Gegenseiten
eines jeden dem K, umschriebenen Rechtecks entsprechen in diesem Sinne
zweien Kegelschnitten K.” — „Die gemeinsame Enveloppe aller K besteht
aus zwei Theilen, aus dem gegebenen Kegelschnitte K, und aus dem genann-
ten Kreise M; letzterer berührt jeden K in den Endpunkten A und A, seiner
Axe AA,.”— „Das dem K, eingeschriebene Viereck, dessen Ecken in
(*) Die Gleichung der genannten Curve ist
(x? +y?) (a? x? en b?y°+a°b°) — (a? + 5°) (a®x? er b?y?),
wobei a, 5 die Halbaxen des gegebenen Kegelschnitts X, sind.
62 Sreınre: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
den Berührungspunkten eines umschriebenen Rechtecks liegen, wie FHF,H,,
ist ein Parallelogramm, seine Seiten sind den Diagonalen des Rechtecks pa-
rallel, und von den sich anliegenden Seiten desselben ist die Summe oder der
Unterschied constant, und zwar gleich der Diagonale des Rechtecks, also
FH+F,H= AA, = 2a. Die im vorstehenden Satze genannte besondere
Sehne ©&,, Durchmesser des Krümmungskreises P, im Scheitel A jedes K,
berührt oder hat zur Enveloppe einen bestimmten Kegelschnitt M,, nämlich
die Polarfigur des Kreises M in Bezug auf den gegebenen Kegelschnitt K ,;
dieser Kegelschnitt M, hat ebenfalls M zum Mittelpunkt. Der Ort der Mit-
ten der Sehnen &®&, oder der Krümmungsmittelpunkte A aller K in ihren
Axen-Scheiteln A (und A,), ist eine Curve Aten Grads, deren Gleichung
(a? + B°) (a’y? + b’x°)? DW (y? Fr x°)
ist, wo a, b die Halbaxen des K, sind. Die Curve hat M zum Mittelpunkt
und zudem die Eigenschaft, dafs je zwei Durchmesser derselben, AA, und
A’A;, welche auf irgend zwei conjugirte Durchmesser FF, und G’G‘/ von
K, fallen, constante Summe oder constanten Unterschied haben, und zwar
dafs A, HA AU = AA, = 2e ist, und dafs ferner die Durchmesser AA}
der Curve einzeln den Durchmessern &&, der genannten Krümmungskreise
P, gleich sind.” Denn auf je zwei conjugirte Durchmesser FF, und G’G/
des X, (Fig. 4.) fallen immer die Diagonalen AA, und 4° A} eines umge-
schriebenen Rechtecks AA°A, A}, und auch umgekehrt, und dabei sind
die Seiten des zugehörigen eingeschriebenen Parallelogramms &&, 6, ©,
(gleichbedeutend mit dem genannten FH F,H,) den Diagonalen des Recht-
ecks parallel, so dafs AA, = 66, und A’A} = 66,, und somit AA, +
WA = 66, + 66, = AA, = 2a ist. Übrigens ist auch nach früherem
(8-1. 2° Aufl.) MA= T- und MA° = &, und somit MA+ Me -I +
=&.
Es folgt ferner:
„Die Tangenten jedes Kegelschnitts K schneiden alle den Kreis M;
und umgekehrt: jede Sehne mn des Kreises M, die den gegebenen Kegelschnitt
K, nicht schneidet, berührt irgend zwei bestimmte Kegelschnitte K, und zwar
sind diese dadurch bestimmt, dafs die auf die Sehne, in deren Endpunkten
m und n, errichteten Perpendikel mm, und nn, den K, in den zwei Paar
Brennpunkten F und F, derselben schneiden. Wenn insbesondere die Sehne
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 63
mn den gegebenen Kegelschnitt K, berührt, in einem Punkte H, so berühren
ihn auch die Perpendikel mm, und nn, in einem Punkten- Paar F und F,,
und alsdann fallen die zwei K in einen zusammen, welcher die Sehne mn
und den K, in jenem Punkte H zugleich berührt; etc.”
„Die S. K sind im Allgemeinen mit K, von gleicher Art; wenn jedoch
K, eine Hyperbel ist, so können die S. K sowohl Ellipsen als Hyperbeln sein,
so wie auch imaginär werden.” — Überhaupt treten bei den angegebenen
Eigenschaften verschiedene Modificationen ein, wenn der gegebene Kegel-
schnitt X, eine Parabel, oder eine besondere Hyperbel (gleichseitig, oder
mit stumpfem Asymptotenwinkel) ist.
Aus der Bestimmungsart und aus den angegebenen Eigenschaften des
dem X, eingeschriebenen Parallelogramms FHF,H, (oder 66,6, 6&,,
Fig. 4.) geht hervor, dafs seine Winkel durch die respectiven Normalen (und
Tangenten) des X, gehälftet werden, so dafs daher, im Falle X, eine Ellipse
ist, sein Umfang ein Maximum sein mufs (*), was den interessanten Satz giebt:
„Unter allen einer gegebenen Ellipse K, eingeschriebenen Vierecken
hat dasjenige den gröfsten Umfang, dessen Ecken in den Berührungspunk-
ten der Seiten eines der Ellipse umschriebenen Rechtecks liegen; es giebt un-
endlich viele solche Vierecke, nämlich jeder Punkt der Ellipse ist Ecke eines
solchen Vierecks, dessen Umfang ein Maximum ist: aber alle diese gröfsten
Umfänge sind einander gleich, und zwar gleich der doppelten Diagonale
des genannten Rechtecks, oder gleich der vierfachen Sehne, welche zwei Axen-
Scheitel der Ellipse verbindet, also = ıYya® +b’=4a. Alle diese Vierecke
von gröfstem Umfange, die sämmtlich Parallelogramme, sind zugleich einer
bestimmten andern Ellipse M, umgeschrieben, deren Axen 2a,, 2b, auf die
gleichnamigen Axen 2a, 2b der gegebenen Ellipse K, fallen, und welche mit
letzterer confocal ist. Nämlich zwischen den Axen beider Ellipsen finden
folgende Gröfsen-Relationen statt:
2
a 2 2; u 2
1. aa E 2.10 ba bb:
und daraus
a? b®
a a, m und b, a ——
Va® + b2 Va? + 2?
(*) S. meine Abhandl. im Journal de mathem. de Mr. Liouville, tome VI., oder im Journ.
f. Mathem. Ba. 24 8.151 von Crelle.
64 Sreiwen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
4. a =a, (a, +5,), und5B’=b, (a, +5,);
5. (a, +b), =u+rb’=au°;
6. a,b, =
7. 05a, +0.) Va,0., eic.®
Hierbei will ich noch eines interessanten Umstandes erwähnen. Aus
einem Satze nämlich, der zu meinen Untersuchungen über Maximum und
Minimum gehört, läfst sich leicht darthun, dafs die nämlichen genannten
Vierecke (FHF,H, oder &6, &,6,) in Bezug auf die zweite Ellipse M,
zugleich auch die Eigenschaft haben, dafs sie unter allen ihr umschriebenen
Vierecken den kleinsten Umfang haben, so dafs man mit dem vorstehenden
zugleich den folgenden Satz hat:
„Unter allen einer gegebenen Ellipse M, umschriebenen Wierecken
hat dasjenige den kleinsten Umfang, bei welchem die Normalen in den Berüh-
rungspunkten seiner Seiten eine Raute (gleichseitiges Viereck) bilden. Es
giebt unendlich viele solche Vierecke, deren Umfang ein Minimum ist, jede
Tangente der Ellipse ist Seite eines derselben, aber der Umfang ist bei allen
gleich, und zwar gleich der doppelten Summe der Axen der Ellipse, also =
4a, +b,. Alle diese Vierecke, Parallelogramme, sind zugleich einer be-
stimmten andern Ellipse K, eingeschrieben, und haben unter allen ihr einge-
svphrnP Viprprk > N 2) Dar 22,
schriebenen Vierecken den gröfsten Umfang; _ete.
Für je zwei Ellipsen, deren gleichnamige Axen aufeinander liegen und
nach Gröfse den obigen Gleichungen (1.) und (2.) genügen, finden also die
angegebenen Eigenschaften statt, nämlich: dafs unendlich viele Parallelo-
gramme der einen ein- und zugleich der andern sich umschreiben lassen, und
dafs der Umfang derselben constant ist, und dafs dieser Umfang bei der er-
sten Ellipse ein Maximum, dagegen bei der andern ein Minimum ist, in Be-
zug auf alle andern Vierecke, welche jener ein- und dieser umgeschrieben
sind. Auf je zwei conjugirte Durchmesser der innern Ellipse M, fallen die
Diagonalen FF, und HH, eines der genannten Parallelogramme, sie werden
durch die äufsere Ellipse A, begrenzt.
Der Inhalt der verschiedenen Parallelogramme (FHF, H,) ist nicht
constant, so wenig als der Inhalt der zugehörigen (der Ellipse X, umschrie-
benen) Rechtecke, „vielmehr ist jener ein Maximum oder ein Minimum, und
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 65
dieser gleichzeitig umgekehrt ein Minimum oder ein Maximum, wenn die
Seiten des Parallelogramms beziehlich den gleichen conjugirten Durchmes-
sern oder den Axen der Ellipse K, parallel sind, oder wenn die Diagonalen
des Rechtecks auf jene Durchmesser oder auf diese Axen fallen” Wird der
Inhalt des Rechtecks durch R und der Inhalt des zugehörigen Parallelo-
gramms durch P bezeichnet, so ist stets
et —sab —sab, (a, T0,),
also das Product der Inhalte constant. Werden ferner die Maxima der In-
halte R und P durch A, und ?,, und die Minima durch R, und P, be-
zeichnet, so hat man
R,„=2(a +b’)=2(a, +5), undR, =4ab=4il(a, +b,)Vab,;
EN ee —1a,b,undP,=2ab=e(a, +5,)Vab,
RER =2(a*b)‘;
P,+P,=:(Va, #Vb,)‘Va,b,; etc.
Über die der Ellipse X, umgeschriebenen Rechtecke A A° A, A? und
die zugehörigen eingeschriebenen Parallelogramme & &, &, &, (oder FH
F,H,) will ich hier noch folgende Eigenschaften angeben. Man bezeichne
die Brennpunkte der Ellipse X, durch B und B,, und setze BB, = 2b.
„Die vier Ecken jedes der genannten Rechtecke liegen mit den beiden
Brennpunkten B und B, in einer gleichseitigen Hyperbel 9, welche mit der
Ellipse K, concentrisch ist, nämlich 44 ,, A’A}, BB, zu Durchmessern und
M zum Mittelpunkte hat; und ebenso liegen die Ecken des Parallelogramms
6 6,6,6, mit den Brennpunkten B und B, in einer andern gleichseitigen
Hyperbel 9,, welche mit $ den Durchmesser BB, gemein hat, und also mit
ihr und mit K, concentrisch ist. Die Hauptaxen 2a und 2a, dieser beiden
zusammengehörigen gleichseitigen Hyperbeln 9 und 9, bilden einen constan-
ten Winkel von 45°, und zudem ist die Summe der Biquadrate dieser Axen
constant, und zwar dem Biquadrate jenes Durchmessers BB, oder 2b gleich,
oder
a +ra=b".
Die auf diese Weise bestimmten zwei Schaaren gleichseitige Hyperbeln, S(9)
und 5 (9,), sind im Ganzen nur eine und dieselbe Schaar, S(9,9,), und
als solche einfach dadurch bestimmt, dafs sie den reellen Durchmesser BB,
Math. Kl. 1847. I
66 Steinen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
gemein haben. Ihre Tangenten in den Scheiteln ihrer Hauptaxen berühren
sämmtlich diejenige, 9,, unter ihnen, welche die gröfste dxe, nämlich den
Durchmesser BB, zur Hauptaxe hat. Daher liegen die Hauptscheitel der
$(9,9,) in einer Lemniscate, welche BB, zur Axe und M zum Mittel-
punkte hat!” In dem Gesagten ist somit auch der Satz enthalten: „Die Lem-
niscate hat die Eigenschaft, dafs die Summe der Biquadrate je zweier Durch-
messer derselben, welche einen Winkel von 45° einschliefsen, constant, und
zwar dem Biquadrat ihrer Asxe gleich ist.”
Durch Umkehrung folgt:
„Jede gleichseitige Hyperbel 9 (oder 9,), welche mit einer gegebenen
Ellipse K, concentrisch ist und durch deren Brennpunkte B,B, geht, schnei-
det dieselbe in den Ecken (©, ©,, ©,, ©,) irgend eines ihr eingeschriebenen
Parallelogramms, oder in den Berührungspunkten der Seiten eines ihr umge-
schriebenen Rechtecks.” Oder:
„Die Schaar gleichseitige Hyperbeln 9, welche einen nach Gröfse und
Lage gegebenen Durchmesser BB, gemein haben, besitzen die Eigenschaft,
dafs die Tangenten in ihren Hauptscheiteln sämmtlich eine und dieselbe und
zwar diejenige, 9$,, unter ihnen berühren, welche jenen Durchmesser zur
Hauptaxe hat; dafs ihre Hauptscheitel in einer Lemniscate liegen, welche
denselben Durchmesser BB, zur Axe hat, und da/s auch ihre Brennpunkte
in einer Lemniscate liegen, etc.” Und ferner: „Jeder mit den Hyperbeln
concentrische Kreis M, dessen Durchmesser gröfser als BB,, schneidet jede
derselben in den Ecken eines Rechtecks AA’A, A, und alle diese Rechtecke
sind einer und derselben Ellipse K,, welche die Endpunkte B und B, jenes
Durchmessers zu Brennpunkten hat, umgeschrieben und berühren sie in sol-
chen 4 Punkten etc” Oder: „Jede Ellipse K,, welche die Endpunkte des
Durchmessers BB, zu Brennpunkten hat, schneidet jede Hyperbel 9 in den
Ecken eines Parallelogramms, alle diese Parallelogramme haben gleichen
Umfang und sind zugleich einer andern Ellipse M, umgeschrieben, welche
mit jener concentrisch ist; u.s.w. —
4. Die obige Betrachtung der beiden Kreisschaaren P und Q (1.u.f.),
welche einen gegebenen Kegelschnitt A doppelt berühren, ist übrigens nur
ein besonderer Fall von der allgemeinen Betrachtung, wo der gegebene Ke-
gelschnitt A von solchen beliebigen andern Kegelschnitten Pund Q berührt
werden soll, welche durch zwei gegebene Punkte a und d gehen. Denn un-
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 67
ter dieser Bedingung finden bekanntlich gleicherweise zwei Kegelschnitt -
Schaaren P und Q statt, welche die Eigenschaft haben, dafs ihre Berührungs-
sehnen PP, und DD, mit A beziehlich durch zwei feste Punkte p und g in
der Geraden ab gehen. Diese Punkte p und q sind auch dadurch bestimmt,
dafs sie sowohl zu den gegebenen Punkten a und d, als auch zu den Schnitten
s und Zi der Geraden ab und des Kegelschnitts X zugeordnete harmonische
Punkte sind. In jenem speziellen Falle nun, wo blos verlangt wird, die
Kegelschnitte P und Q sollen Kreise sein, werden durch diese Bedingung
die Punkte a und 5 stillschweigend gesetzt, aber sie sind imaginär und lie-
gen auf der unendlich entfernten Geraden ad der Ebene; dagegen bleiben
die genannten festen Punkte p und q reell und liegen nach den Richtungen
der Axen X und F des Kegelschnitts X auf der unendlich entfernten Gera-
den ab, so dafs die Berührungssehnen PP, und DD, beziehlich diesen Axen
parallel laufen.
5. Wollte man die obige Betrachtung in der Art umkehren, dafs man
zwei beliebige Kreise M und I als gegeben annähme und sodann die sämmt-
lichen Kegelschnitte ‚X berücksichtigte, welche dieselben doppelt berühren,
so würde man zu neuen Resultaten gelangen, deren Entwickelung hier zu
weit führen würde. Aber auch diese Betrachtung wäre wiederum nur ein
besonderer Fall von derjenigen, wo statt der gegebenen Kreise zwei belie-
bige Kegelschnitte M und N angenommen werden, und worüber ich das Nä-
here bei einer andern Gelegenheit mitzutheilen mir vorbehalte. Hier will
ich mich auf folgende, darauf bezügliche, Angaben beschränken.
Die Aufgabe:
„Einen Kegelschnitt K zu finden, welcher jeden von drei gegebenen
Kegelschnitten M,N,O doppelt berührt”,
ist im Allgemeinen mehr als bestimmt, und nur unter gewissen beschränken-
den Bedingungen möglich. Diese Bedingungen lassen sich wie folgt näher
angeben.
Ein Kegelschnitt hat unendlich viele Trippel zugeordnete harmoni-
sche Pole x, 5, und zugeordnete harmonische Gerade X, Y,Z. Je zwei
(in derselben Ebene liegende) Kegelschnitie haben ein solches Trippel zu-
geordnete harmonische Pole x, y,z und Gerade X, Y, Z gemein, und zwar
sind jene die Ecken und diese die Seiten eines und desselben Dreiecks, oder
sie haben drei Paar sich zugehörige Pole und Polaren x und X, y und F,
I2
68 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
z und Z gemein (Abhäng. geom. Gestalten. $. 44. S. 165 u. 166.). Ferner
haben die zwei Kegelschnitte drei Paar gemeinschaftliche Sekanten x und x,,
y und 9,, 5 und 3,, (reell oder imaginär), welche sich beziehlich in jenen
Polen x, y, z schneiden.
Nun seien aund A irgend eins der drei Paare sich zugehörige gemein-
schaftliche Pole und Polaren der gegebenen Kegelschnitte M und N; ein
eben solches Paar seien 5 und B von den Kegelschnitten M und O, und ein
gleiches Paar seien c und € von den Kegelschnitten N und O; ferner seien
aunda,@ und ß,,yundy, die in den Polen a, 2, c sich schneidenden ge-
meinschaftlichen Sekanten der respectiven Kegelschnitte M und N, M und
O, N und O; und endlich seien A, B,, C, die Seiten be, ac, ab des Drei-
ecks abc, so wie a,, d,, c, die Ecken des Dreiseits ABC: so sind die ge-
nannten Bedingungen folgende:
„Die Dreiecke abe und ABC (oder a, b, c,) müssen perspectieisch
sein, d.h. die drei Geraden aa,, bb,, cc, durch ihre entsprechenden Ecken
müssen sich in einem Punkte treffen, oder, was gleichbedeutend, die drei
Schnittpunkte ihrer entsprechenden Seiten (A und A,, Bund B,, Cund C,)
müssen in einer Geraden liegen; und ferner müssen die Seiten B, und C, zu
den Sekanten a und a,, so wie die Seiten A, und C, zu den Sekanten ß und
ß,, und ebenso die Seiten A, und B, zu den Sekanten y und y, harmonisch
sein.”
Finden sich diese Bedingungen erfüllt, so giebt es einen Kegelschnitt
K, welcher die drei gegebenen Kegelschnitte M, N und O doppelt berührt,
und zwar sind dann die Seiten A,, B,, C, des Dreiecks abc zugleich seine
Berührungssehnen mit den respectiven Kegelschnitten M, IV, O; auch sind
aund A, bund B, cund € drei Paar sich entsprechende Pole und Polaren
in Bezug auf den Kegelschnitt X, und dieser ist durch dieselben bestimmt.
Und umgekehrt: wenn ein Kegelschnitt Xirgend drei andere Kegelschnitte
M, N, O doppelt berührt, so finden die genannten Eigenschaften statt. —
Läfst man jeden der drei Kegelschnitte M, I, O entweder 1) in zwei Punkte
oder 2) in zwei Gerade übergehen, so resultiren aus den angegebenen Be-
dingungen die bekannten Pascal’schen und Brianchon’schen Sätze über
das einem Kegelschnitte A ein- oder umgeschriebene Sechseck. Ferner
erhält man andere specielle Sätze, wenn von den drei Kegelschnitten M,
N, © entweder 3) zwei in zwei Paar Punkte und der dritte in ein Paar Ge-
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 69
rade, oder 4) einer in zwei Punkte und jeder der beiden übrigen in zwei
Gerade übergeht.
6. In Rücksicht auf blos einfache Berührung der Kegelschnitte un-
ter einander ist meines Wissens bis jetzt noch wenig geschehen. In älterer
und selbst bis in die neueste Zeit hat man sich fast ausschliefslich nur mit
dem sehr beschränkten Falle, mit dem Berührungsproblem bei Kreisen be-
schäftigt, aber nicht mit den entsprechenden Aufgaben bei den allgemeinen
Kegelschnitten. Die letztern sind aber auch in der That ungleich schwie-
riger. Um dies zu zeigen, wird es genügen, hier nur die folgende Haupt-
aufgabe hervorzuheben, nämlich
„Einen Kegelschnitt K zu finden, welcher irgend fünf gegebene Ke-
gelschnitte berührt.”
Beschränkt man sich darauf, nur die Anzahl der fraglichen Kegel-
schnitte Ä, nicht diese selbst zu finden, so läfst sich schon an gewissen spe-
ciellen Fällen ermessen, dafs dieselbe bedeutend gröfser sein mufs, als bei
dem Problem über die Kreise, wo bekanntlich drei gegebene Kreise von 8
verschiedenen andern Kreisen berührt werden können. Denn z.B. schon
für den Fall, wo jeder der fünf gegebenen Kegelschnitte aus zwei Geraden
besteht, giebt es 32 Kegelschnitte A, welche der Aufgabe genügen; und eben
so viele giebt es, wenn jeder der gegebenen Kegelschnitte aus zwei Punkten
besteht. Und wenn ferner von den fünf gegebenen Kegelschnitten drei aus
drei Paar Geraden und zwei aus zwei Paar Punkten bestehen, so finden schon
128 Auflösungen statt; und eben so viele finden statt, wenn zwei der gege-
benen Kegelschnitte aus zwei Paar Geraden und die drei übrigen aus drei
Paar Punkten bestehen. Diese respectiven 32 und 128 Kegelschnitte X sind
übrigens auch selbst leicht zu finden, und zwar auf elementarem Wege, wie
aus meinem kleinen Buche (‘) zu ersehen ist. Hiernach wird man um so
mehr eine hohe Zahl von Lösungen zu gewärtigen haben, wenn die gegebe-
nen fünf Kegelschnitte beliebig sind.
Durch eine gewisse geometrische Betrachtung glaube ich nun gefun-
den zu haben:
(*) Die geom. Construetionen ausgeführt mittelst der gerad. Linie u. eines festen
Kreises. $. 20. S. 97. u. 99. Berlin 1833. bei F. Dümnler.
70 Srzıner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
„Da/s fünf beliebige gegebene Kegelschnitte im Allgemeinen (und
höchstens) von 7776 andern Kegelschnitten K berührt werden.”
Mein Verfahren erhebt sich stufenweise bis zur vorgelegten Aufgabe.
Nämlich zuerst stelle ich die Frage:
„Mie viele Kegelschnitte K giebt es, welche durch vier gegebene Punkte
gehen und einen gegebenen Kegelschnitt berühren?”
Hier ist leicht zu beweisen, dafs es im Allgemeinen 6 solche Kegel-
schnitte Ä giebt. Sodann ist die zweite Frage:
„Wie viele Kegelschnitte K können durch drei gegebene Punkte gehen
und zwei gegebene Kegelschnitte berühren?”
Hier stellt sich heraus, dafs es 6 . 6 = 36 solche Kegelschnitte giebt.
Und wird auf diese Weise fortgefahren, so gelangt man zuletzt zu 6° —= 7776
Kegelschnitten X, welche der obigen Aufgabe entsprechen.
Bemerkung.
7. In Bezug auf den obigen Satz über die der Ellipse ein-oder umge-
schriebenen Vierecke von beziehlich gröfstem oder kleinstem Umfange ist zu
bemerken, dafs derselbe nur ein einzelner Fall eines umfassendern Satzes
ist, welchen ich hier, nebst noch einigen andern Sätzen mittheilen will, die
sämmtlich aus meinen anderweitigen Untersuchungen über Maximum und
Minimum entnommen sind.
„Einer gegebenen Ellipse lassen sich unendlich viele solche convexe
n Ecke einschreiben, deren Umfang ein Maximum ist, nämlich jeder Punkt
der Ellipse ist Ecke eines solchen n Ecks. Alle diese n Ecke sind zugleich
einer bestimmten andern Ellipse umgeschrieben, und in Rücksicht auf alle
andern derselben umgeschriebenen convexen nEcke ist ihr Umfang ein Mi-
nimum.” Oder auch umgekehrt:
„Einer gegebenen Ellipse lassen sich unendlich viele solche convexe
n Ecke umschreiben, deren Umfang ein Minimum ist, nämlich jede Tangente
der Ellipse ist Seite eines solchen n Ecks; und alle diese n Ecke sind zugleich
einer bestimmten andern Ellipse eingeschrieben und haben unter allen ihr ein-
geschriebenen convexen n Ecken den gröfsten Umfang, und zwar haben alle
denselben Umfang. ,
Dieser Satz gilt nicht allein für die gewöhnlichen 2 Ecke von nur
einem Umlaufe, sondern eben so für diejenigen von 2, 3. 4, .... u Umläufen,
welche, trotzdem ihre Seiten einander durchkreuzen, dennoch convex sein
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 71
können, (so z.B. bilden die 5 Diagonalen eines regelmäfsigen Fünfecks ein
convexes Fünfeck von zwei Umläufen). Nämlich etwas allgemeiner gefafst
hat man statt des vorstehenden Satzes den folgenden.
„Von irgend einem Punkte A eines gegebenen Kegelschnitts K gehe
ein Lichtstrahl unter beliebigem Winkel a aus und treffe den Kegelschnitt
in einem zweiten Punkte B, werde hier von demselben reflectirt, oder (falls
der reflectirte Strahl den Kegelschnitt nicht trifft) so gebrochen, dafs der
gebrochene Strahl gerade die enigegengesetzte Richtung des reflectirten hat,
eben so geschehe es in allen folgenden Punkten C, D, E,...., in welchen der
Lichtstrahl den. Kegelschnitt trifft: so berührt der Lichtstrahl fortwährend
einen bestimmten andern Kegelschnitt K',; und lä/st man sodann ferner von
einem beliebigen andern Punkte A, des ersten Kegelschnitts K einen neuen
Lichtstrahl A,B, so ausgehen, dafs er den zweiten Kegelschnitt K, be-
rührt, dann aber von dem ersten, eben so wie der erste Lichtstrahl, wieder-
holt reflectirt oder gebrochen wird, so berührt er gleicherweise auch Jortwäh-
rend den nämlichen zweiten Kegelschnitt K,.”
Bei diesem Satze findet je einer von zwei verschiedenen Fällen statt,
nämlich der Lichtstrahl kehrt entweder
a) nach bestimmter Anzahl, z, Umläufen in den Anfangspunkt A
zurück, oder
6b) er kehrt nie (oder nur nach unendlich vielen Umläufen) dahin
zurück.
Im ersten Falle (a) durchläuft der Lichtstrahl die Seiten eines geschlos-
senen Vielecks V, etwa von n Seiten und u Umläufen, welches dem Kegel-
schnitte A ein-und zugleich dem Kegelschnitte A, umgeschrieben ist; und
dabei kehrt der Lichtstrahl unter gleichem Winkel @ nach dem Anfangspunkte
A zurück, wie er von da ausgegangen ist, so dafs er bei fortgesetzter Be-
wegung das nämliche n Eck N wiederholt beschreibt. Und in diesem Falle
beschreibt dann ferner auch jener genannte zweite Lichtstrahl A,B,, der
von einem beliebigen andern Anfangspunkte A, ausgeht, allemal ebenfalls
ein geschlossenes, mit dem vorigen gleichnamiges, Polygon V,, d.h. von
gleicher Seitenzahl n und gleicher Umlaufszahl x.
Ist nun der erste Kegelschnitt X eine Ellipse und soll das Polygon
N convex sein, so ist dann auch der zweite Kegelschnitt Ä, eine Ellipse,
und alsdann haben die verschiedenen nEcke N, N, .... die oben genannte
72 Srriner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe,
Eigenschaft: dafs sie unter allen der Ellipse K eingeschriebenen oder der EI-
lipse K, umgeschriebenen gleichartigen n Ecken beziehlich den gröfsten oder
kleinsten Umfang haben, und da/s sie unter sich gleichen Umfang haben.
Der Leitstrahl aus einem Brennpunkt der Ellipse X nach jeder Ecke
des nEcks N (oder N,, ....) theilt den zugehörigen Polygonwinkel in ir-
gend zwei Theile x und y: wird die Summe der Cosinusse aller dieser Win-
keltheile x, y mit der halben grofsen Axe der Ellipse A multiplieirt, so er-
hält man den Umfang U des nEcks; oder in Zeichen
U=a.xZ(cos®+cosy)=2a. 3[cos- (x +y).cos4 (= — Yy)]-
In der oben citirten (3. Note.) Abhandlung über Maximum und Mi-
nimum finden sich die Bedingungen angegeben, unter denen der Umfang ei-
nes geradlinigen Polygons V, welches einem beliebigen Curven-Polygon P
oder einer einzelnen Curve P oder einem andern gleichnamigen geradlinigen
Polygon P eingeschrieben ist, ein Minimum oder ein Maximum wird. Den
dortigen Sätzen sind die nachfolgenden zur Seite zu stellen.
a. „Unter allen einem gegebenen (geradlinigen) nEck N umgeschrie-
benennEcken kann der Umfang nur bei demjenigen, N,, ein Minimum sein,
welches die Eigenschaft hat, dafs in Betracht jeder Seite desselben das aus
der in ihr liegenden Ecke desn Ecks N auf sie errichtete Perpendikel mit den
beiden Strahlen, welche die an dieser Seite liegenden Aufsenwinkel des n Ecks
N, hälften, in einem Punkte zusammentrifft.”
Mag auch die Construction des nEcks N, schwierig sein, so ist dage-
gen, wenn umgekehrt dasselbe als gegeben angenommen wird, alsdann das-
jenige nEck N, welchem es mit kleinstem Umfange umgeschrieben ist, sehr
leicht zu construiren, wie aus dem Satze selbst erhellet.
ß. „Unier allen einem gegebenen Curven- Polygon P, oder einer ein-
zelnen gegebenen Curve P umgeschriebenen geradlinigen Polygonen P, von
gleicher Seitenzahl, kann nur bei demjenigen der Umfang ein Minimum sein,
welches die Eigenschaft hat, dafs in Betracht jeder Seite desselben die Nor-
male in ihrem Berührungspunkte mit den beiden Geraden, welche die der Seite
anliegenden Aufsenwinkel des Polygons P, hälften, in irgend einem Punkte
zusammentrifft.”
Diese beiden Sätze (« u. ß) finden übrigens auf analoge Weise auch
für die sphärischen Figuren statt.
u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 73
Für den speciellen Fall, wo das umzuschreibende Polygon P, nur
ein Dreieck sein soll, hat die angegebene Bedingung (®.) zur Folge: „dafs
die drei Normalen in den Berührungspunkten der Seiten des Dreiecks sich
in einem und demselben Punkte treffen.” Und in Rücksicht des ersten Satzes
(«) folgt ebenso: „dafs die in den Ecken des Dreiecks N auf die Seiten des
Dreiecks N, errichteten drei Normalen in einem Punkte zusammentreffen”
zu——
Math. Kl. 1847. K
Au Hrn. Steiner's Abhdlg: Malh: Abhälg: von. 1847.
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Philologische und historische
Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
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Aus dem Jahre
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Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie
der Wissenschaften.
1849.
In Commission in F. Dümmler’s Buchhandlung.
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BEKKER: Der Roman von Aspremont, Altfranzösisch, aus der Handschrift der K.
Bibliothek (Ms. Gall. 4° 48) abgeschrieben .............
H. E. Dirksen über die, durch die griechischen und lateinischen Rhetoren ange-
wendete, Methode der Auswahl und Benutzung von Beispielen
römisch-rechtlichen@ Inhalts Sr Eee a:
WELCKErR: Die Composition der Polygnotischen Gemälde in der Lesche zu Delphi
H. E. DiRKsEn: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus und die alte Glosse
der Turinerölnstitusionen- Handschrüte. 2 Sasse:
JAcoB GRIMM über das pedantische in der deutschen sprache... .........
PERTZ über ein Bruchstück des 98*te® Buchs des Livius . ..... 2 222.2...
TRENDELENBURG über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme .. .
NEANDER über Matthias von Janow als Vorläufer der deutschen Reformation und
Repräsentanten des durch dieselbe in die Weltgeschichte einge-
treteneneneren® Brin cin a ee N
ScHOTT über das Altai’sche oder Finnisch - Tatarische Sprachengeschlecht ... .... .
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GERBARD über Agathodämon und Bona Dea .i. 2. en.
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Der Roman von Aspremont,
Altfranzösisch,
aus der Handschrift der K. Bibliothek (Ms. Gall. 4°. 48)
abgeschrieben von HB EKKER.
nnwmnnwwnaren
[Der K. Akademie vorgelegt d. 11 März 1847]
fol. .
155que par son sens el par sa baronie,*)
Te
par sa proece, par sa cheualerie
de sept roiaumes acroist ma seignorie.
n'est mie rois qui tel seruice oublie.”
Hiamunt parla: bien se sunt tuit teu.
son voloir dit: par tot est entendu.
mes li message ne sunt plus arestu.
em piez se drece; s’a Agolant veu.
et dit Balant qui moult iert irascu,
“Agolant sire, g’ai bien aperceu,
l'en soloit dire que g’estoie vos dru.
mau guerredon m’en auez hui rendu.
caaınz n’a homme sı viel ni sı chanu,
ne haut ne bas, de sı fiere vertu,
s’enconlre moi emportoit son escu,
ge ne vos rende sempres coi et veuchu.”
Em piez s’en drece Hector le fiz Lampa;
par maulalent au roı respondu a.
“Agolant sire, dehez ait qui croira
que Balant eroie de ce qui vos conta,
que Karles ost contre vos venir ia.
aincois qu'il viegne, si grant ost vos croistra,
l’ost crestiene ia ne la sofferra,
qui por poor cete terre lera.
tot soit honniz qui autre li dourra.”
Gorhan se lieue, irez comme lion,
tout deffubl&; en sa main un baston.
vestuz estoit d’un hermin pelicon.
seneschax iert Agolant le baron,
druz la roine qui n’aime se lui non.
deuant le roi se mist ä genoillon.
moult hautement les a mis & reson.
“Agolant sire, or oiez, gentius hom.
tant ai soufert qu’or me tien por bricon,
que tuit me blament caainz mi compaignon.
mes por mon pere cest mien gage vos don
vers le mellior qui soit en vo roion,
qu’il n’a fete neis nule traison.”
ä ce mot abessa la tencon.
or lerai ci de cete mesprison
et d’Agolant et de son fiz Hiamon
et du message qui Balan out ä non;
si vos diırai du riche roi Karlon.
a Aes fu et il et si baron.
ä pentecouste, apres l’acension,
puisque Balant fu partiz de la cort,
fet crier Karlon li barnage seiort:
chascus aura son gage ainz que se mort.
don sunt remes et deduit au behort.
ä fol tien qui son cheual i cort.
*) Den Anfang des Gedichts s. Abhandl. vom Jahr 1839 $. 252 ff., den Anfang der Berliner
schrift /oman von Fierabras S.170a.
Philos.- histor. Kl. 1847.
A
Hand-
I BEKKER:
n’en i out nul, ne tant lonc ne tant cort,
qui n’en sospire et qui des cuz ne plort.
Karlon quemande que nul plus n’i demort.
en sa contree chascus d’eus s’en retort;
au mieuz que peust s’apareille et atort.
s’iront secorre le besoign qui lor sort.
Nostre emperere a moult grant ioie eu
que li message fu ä& la cort venu
et que Francois l’ont tres tuit entendu.
et l’apostoiles meismement....
here en. neldemorailmiess)
Quant li baron ont entendu li roi,
entre eus parolent, et dient bien par foi
ne li faudrunt ni ä bien ni ä poi.
mieuz voudroit estre chascun boliz en poi
qu’o lui ne voisent por fere grant desroi
sor Agolant qui desdeigne li roı.
congie demandent; si s’en vunt ä esploi
en lor contrees por fere lor conroi
aparellier, et dient bien par foi
voudrunt aidier lor droit seignor, lı roi.
La cort depart que Karles tint li bers:
car l’emperere se uoloit moult haster
des Sarrazin de sa terre geler,
et li baron s’en veolent moult pener
de lui aidier sa terre a gouuerner.
en leur pais s’en vont sanz demorer
por lor hernois fere tost atorner
et as mesnies vestir et conreer,
por lor cheuaus querre et acheter.
en Engleterre vint li roi Caboer.
par le pais fet les letres porter
qu’aue viegnent si demeine et si per,
por Karlemaigne garanlir et tenser
contre Agolant, qui l veut desseriter.
quant cis l'oirent, ne l’oserent veer;
A lui en uindrent sanz plus de demorer.
x mil furent, que viel que bacheler.
la fet li rois son grantl tresor trosser
et en ses nes encharger et trosser.
en mer s’enpeignent, se peinent de sigler.
ainz ne finerent de nagier et d’aler
duqu’& Hincant, ou durent ariuer.
des nes isirent, ne uoudrent arester.
as chevas montent, qu’orent fet enseler.
forment se peinent du pais Lrespasser,
qu’einz ne uoudrent en nul liu arester
duqu’ä Paris, ou l’ost dut assembler.
Rois Gondebues s’en est venuz en Frise.
ses hommes mande, munt les cuite et alise
qu’o Ini viegnent; chascun li doit seruise:
car aidier doit Karlon de saint Denise
contre Agolant, que dieu n’aime ne prise,
qui a sa lerre embrasee el esprise.
deuers Calabre l’ont ia toute porprise.
“sire” ce dient, “tot A uostre deuise
yıons secorre Karlon et sainte iglise.”
Gondebuef l’ot; bien fu ä sa deuise.
grant goie en out de moult estrange guise.
il fet chargier son Lressor seinz feintise
et ses dromunz, qui fuerent en falise;
et sa mesniee s’est dedenz tole mise.
lıeuent lor voiles; forment vente la bise.
tant ont nagie par mer et par falise
qu’il sunt venuz par moult grant aalise
droit ä Paris qui sor Seine est assise.
xv mil furent embrieu& par deuise.
Moult se hasta rois Brimox de Hongrie
de l’asembler sa grant cheualerie
por Karlon fere et secors et aie,
que o lui maine tote sa baronie.
il lor manda qu’il ne targassent mie;
et il si firent par moult grant seignorie.
tot lor conta l’annuie et l’enhalie
qu’Agolant fet li roi de saint Denie,
si con il a ia sa terre sesie. :..
459en Aspremont ....-..-
r
- . . et sans danger.**)
Girart du Frate ä la chiere membree,
si tost con out sa terre deuisee,
a ses neuez et A ses fiz donee,
depart son or aA sa grant gent mandee,
ä dos millier de bone gent armee,
des plus vaillianz du mieuz de sa contree.
*) Die hier weggelassenen Verse s. Fierabras S
*) S. Fierabras 8.173.
.169.
le roman d' Aspremont.
ceus en merra li uieus ä l’asenblee.
la veissiez tante targe doree
et tant vert hiaume et tante bone espee
et tante lance A bon fer aceree
et lante enseigne de paile gironee
et tant destnier & la grant croupe lee.
de garison, de uin, de char salce,
jusqu’ä un an, s’il n’en trouent dervee,
en auront il et soir et matinee.
dame Ameline a Girart apelee;
moult li a bien sa reson demostree.
“je m’en vois, dame, en la sainte meslee”
(lors l’a Girart em plovant acolee)
“sor Sarrazin, cele gent desfnee.
se ge vos al corecie ne iree,
ge vos proie, dame, que Il m’aiez pardonce.”
& tant s’en vait; A dieu l’a quemandee,
au deparlir mainte lerme a ploree.
Girart cheuauche A sa grant ost armee.
li uelz en iure sa grant barbe meslee
que Sarrazin ont fait male iornee;
creslient& mar ı ont destorbee.
Girart cheuauche et soir et malinee;
lost Karlon suit A grant esperonee,
qui fu ä Romme logie et trauee.
159Karlon quemande ......
ir .. .. el chief lerme . . .*)
467 vient en treuf belement en requoi
”" vez quel Francois con est de grant bofloi.
tant par li siet richement ce conroi:
se tuit li autre sunt de si fier agroi,
n’en remerront destrier ne palefroi.
Va s’en du Nayme; Balant le conuoia.
mes ne vet mie la voie qu'il ala,
mes loign ä destre, si con li oz ala,
par une tor que Ayolant ferma.
Hiaumont son fiz garder Ja quemanda
ä cent mil Turs que auec lui mena.
Balant le guie, outre l’ost le passa.
tant cheuaucherent que Balant li mostra
l’ost Karlemaine qui cheuauche de ca.
lä prent congi€ Naymes; si l’acola.
moult doucement li dus l’aressona.
“sire Balant” dist il, “entendez ca.
il est bien droiz, et diex le commanda,
que compaign soit qui compaing trouera.
vos creez dieu, et diex vos aidera.
ä nos vendroiz, sire, quant vos plera.
li apostoles, cil vous baptizera.”
dist a Naymon “ge ia alasse sa:
mais Agolant mis sires norri ma,
et cheualier me fist et corona.
s’or li failloie et aloie de la,
ce seroit max; ia mes cors n'usera,
ne mauues hom neu me reprouera,
qu’ä cest besoing li doie faillir ia.
mais ge voi bien comment li plez ira:
car en la fin n’i durero nos ia.
mais or vous pri, por dieu qui tot forma,
qu’en vos proire soie o ceu de la.
lor ouroisont croi bien que m’aidera
enuers Jesu qui le mont estora.
saluez moı Karlon et ceus de la.”
Naymes li donne une croiz que ıl a,
que l’apostoile l’autre ior li donna.
si granz vertuz cele sainte croız a,
cil qui Ja porte o lui, craace a:
tant com ıl iert en estor, ne morva.
Naymes l’encline; ä itant s’en torna.
de si qu’ä l’ost mes ne s’arrestera.
Va s’en du Naymes qui tant a de valor.
Karlon troua dedenz son tref maior.
trete out Joiose, dont tant recut honor.
s’ot mis le branc desus un couertor.
oste les renges; est&E i ont maint ior.
si i met autres asez de grant valor.
quant voil venir Naymon som poinoior
et de ses armes a choisi la luor,
et le destrier si blane comme une flor,
qu’en li enuoie en foi et en amor,
“he diex” dist Karles, “biau pere, ge t!aor,
qui m’as rendu mon bon conseilleor.”
*) S. Fierabras S. LIN-LXVI, wo die Blattzahl nachzutragen ist: f.160r zu V.93, v zu V.185; f.161 r
zu V.276, v zu V. 370; £.162 zu V. 462; f.163 zu V. 646; £.164 zu V. 828; £.165 zu V. 1011; f.166 zu
iv. 1195:
A2
4 BEKKER:
Quant Karles voit Naymon son messagier,
“he diex” dist il, "toi puisse gracier,
qui m’as rendu Naymon mon messagier.
moult a souffert por moi grant encombrier.
de sor toz homes le doi ge tenir chier.
quant or le voi sain et sauf repairier,
ne crien mes homme qui me puisse empirier.”
ä lui descendre vint li rois tot premier,
et desarmer fu il son escuier.
quant Naymes fu descendu du destrier,
Karles le vet acoler et besier,
et puis li fet son hiaume deslacier.
apres li fet son hauberc desdossier.
robe de soie li fet aparellier.
“Naymes” dist Karles, “es tu sain et haitie?”
“oil” dist Naymes, “eins n’i oi encombrier,
fors solement en Aspremont poier,
ou li oisel me cuidierent mangier,
moi et Morel, par de soz un rochier.
ä moult grant tort em blamai ier Richier.
eins de mes euz ne vi cel cheualier:
son esperon troud el sahlunier,
et si troue les os de son destrier.
Sire” dist Naymes, “n’i a mestier celee.
ja Aspremont niert par vos sormontee;
que la montaigne par est si desrubee
qu’il semble bien qu’as nues soit fermee.
l’autrier i tres une dure iornee.
tant i souflii de noif et de gelee
que n’i dormi de si qu’en la iornee.
illee me vint une beste face,
qui prist Morel ä la gueule baee.
bien le leua une aune mesurce.
ge l’affolai au trenchant de m’espee.
vez en ci l’ongle, que vos ai aportee.”
167 Naymes l’a trete; si l’a Karlon liuree.
N grant merueille l’a li rois regardee;
A ses barons l’a entor lui mostree.
“or oiez, emp”” dist Naymes au uis fier.
“la merci dieu et le bon messagier
que Agolant vos enuoia l’autrier,
reparie sui sain et sauf et enlier.
membreroit vos du felon paulonnier
que vos tensistes caainz un an enlier,
que faisiez par deuant vos mangier?
espie estoit Agolant au vis fier.
quant ge cuidai mon message noncier,
oiez que fist adonc le pautonnier.
moult tost ala a Agolant noncier
que ge estoie du Naymes de Baiuier,
li hon el siecle que plus auiez chier.
qui vos voudroit de noient corecier
et toz les Frans durement esmaier,
si me feist toz les membres trenchier.
ge fuse mort sans autre recourier,
quant ci Balant vint & lui pledoier.
ä moult grant poine me pout du tref sachier.
Rois’ ce dist Naymes, “pres eire du morir,
quant vi Balan venir par grant air.
dist ä Scebrin qu’i li feroit tolir
tres toz les membres et male fin tenır.
puis quist congie, qu’il me feist seruir.
a son ostel me mena por dormir.
que vos diroie? quant vint au departir,
deuant moi fist un bon destrier venir.
il le vos donne. fetes le recullir,
par tel couent qu’i voudra dieu seruir.
mes ne ueut mie & son seigneur fallir:
car il le fist coroner et norrir.
ne ne veut ne boisier ne trahir.
mes se poez de la guerre cheuir
que li couigne son droit seignor foir,
adonques primes vos vodra il venir:
car de deu croire a il moult grant desir.”
“Naymes” dist Karles, “ne me celez noient.
auez veu la Sarrazine gent.
que vos en semble? dites vostre talent.
porront li nostre endurer lor content?”
“oil voir, sire; ne sunt c’un pou de gent.”
si dist em bas, que li roi ne l’entent,
“par ceu seigner & qui li munt apent,
ä chacun Franc sunt bien Sarrazin cent.
mes ge nes pris mie si fetement.
je vos dirai et por coi et comment.
quant paien murent ä ce conquerement,
par haute mer vindrent moult fierement;
si arriueirent tres toz & lor talent.
or ont tel tens qu’i n’ont pain ne forment;
si est lor oz encheree forment:
car li cheual maiuent li auquant.
le roman d’ Aspremont. b)
afame& sunt plusors veraiement;
et qui fain a, que vaut son hardement?
se vos venez ä eus au chaplement,
petit vaudra tot lor eflorcement.
ge quenois bien et vi a lor semblant
que li plusors se vont moult esmaiant.
cheuauche, rois; ne te ua atariant.
se lant puet fere ta mesnie et ta gent
qu’il les tornent de fier aiostement,
tant troueront roge or et blanc argent,
riche en seront vostre poure parent.
Riche rois sire,” ce dist Naymon li ber,
“ge vos dirai par ou porron passer.
ge saı la voie; bien vos sarai mener
jusqu’ä la tor qu’Agolant fist fermer.
la est l’entree; la porron nos passer.
Agolant la commandee ä garder
son fil Hiaumont, o lui cent mil escler,
toz esleuz, que il li a fet liurer.
Hiaumont n’est mie meins fiers que un cengler.
qui sainz les autres porroit A& lui joster,
bien les porroit legierement mater.
si est tant fiers (bien l’ai oi conter),
ne deigneroit aide & l’ost mander.
qui de cent mil le porroit deliurer,
meins en feroit li autre A redoter.”
adone fist Karles toz ses barons mander,
ses rois, ses princes, maint baron et maint per,
et l’apostoile, qui viegne ä lui parler.
li rois meismes les print & apeler.
“baron” dist ıl, “fetes moi escouter.
il nos conuient le malinet errer.”
Karles apele Fagon et Aubelin,
le duc Sanson et le bon duc Elin
et Salemon et li roı Tyorin,
Jeban de Nantes et Giffroi l’Angeuin,
Huon du Mans et d’Elbois Anquetin.
168° aronend ist
u re ileuuentABedom‘?.”)
Li rois apele li bon duc Neuelon,
le conte Autihaume, le Poiteuin Droon,
et auec eus furent li Borguengon.
“x mil nouel que vos soiez par non,
errez ä destre, quant nos cheuaucheron ;
et ä senestre ira li dus Grifon,
et auec lui son enffant Guenelon.
si iert o vos Gondebuef le Frison.
errez soef, si que nos vos voion.
nostre hernois par deuant nos metıon,
chars et charetes, escuier et garcon,
et la vitalle de coi nos nos viuron.
et au malın, se dieu plest, combatron.”
Au malinet, quant vint ä l’aiornee,
lx mil, chascun la teste armee
o l’auangarde fierement atornee,
d’aubers et d’hiaumes fierement atornee,
de totes armes garnie et conree.
quant l’auantgarde fu tres bien apreslee,
sonent les cors: et le vos arotee.
puis cheuauchierent le fonz d’une valee.
le pais ont et la terre passee.
Karles apres a sa grant ost menee,
tiex cent milier qui sunt de grant poruee.
la veissiez tante lance leuee
et tant enseigne ä fin or estelee:
einz ne veistes forest lant dru plantee
con sunt les lances l’une en l’autre meslee.
tant vet li ost le pui et la valee,
desus une iaue s’est ires tote arestee,
pres de la tor a demie loee
qu’Agolant out et baslie et fermee.
enuiron uoient la contree gastee
qui n’i trouerent vailliant une derree
de nes un bien dont el soit gouernee,
se il ne l’ont auec eus aportee :
car Sarrazin ont la terre robee.
Karles le voit; mainte lerme a ploree.
Quant logie furent Alemant et Baiuier,
Bret et Normant, Frison et Pohier
et Loheren et Braibencon li fier,
tot coiement, quant vint & l’anuitier,
de l’ost Karlon, le noble iostisier,
se departirent coiement, sanz noisier,
bien xır contes qui sunt goflanonier,
*) S. Fierabras S. 170b.
6 BEXKER:
qui l’auangarde auoient A ballier;
ensemble o lui xxx mil soudoier.
tuit sunt arme et noble guerroier.
la veissiez lant escu de quartier
et tant bon hiaume, tant espee d’acier.
droit & la tor prennent & cheuauchier.
en un angarde, de soz un oliuier,
la s’arresterent de soz l’ombre en ramier:
car il voudront Sarrazin esmaier, »
qui lor loi uolent cliner et abessier.
Francois s’esturent de soz les oliuiers,
escuz as cous, en lor poinz lor espiez.
tot coi se tesenl; sont lor conroi rengier.
il se regardent. parmi un pui plenier
voient venir moult merueillios pondrier.
estoit Hiaumunt, le fort voi guerroier,
qui reparoit de garder ses foriers.
demore ot quatorze iors entiers.
citez ot prises et maint chastel brisiez,
et maint fıane homme i out ost& les chies,
et les mameles ostees des molliers;
et des puceles, filles ä cheualiers,
plus de xx mil (ce raconte li bries)
orent liurees deuant as pauloniers,
si acoplees con fussent li anuers.
celes s’escrient, don grant fu li tempiers,
“he Karles sire: car nos venez aidıers.”
Hiaumont l’entent, li fort roi enforciez.
partot commande serianz et escuiers
que chascun France soit bien estroit liez,
et des puceles facent tot lor daintiez.
Yun uent A l’autre A or.et & deniers.
Hiaumunt li rois, li preuz et li membrez,
A cent mil Turs fu de l'ost retornez.
quatorze iors ı ourent demorez;
168 viles ont prises, chastiaus et fermetez,
” et homes morz et eflanz decoupez.
prisons en meinent, qu’il ont enchaennez,
affanz et dames qu’il ont enchaennez.
assez en ont el morz el desmenbrez.
cil erient haut qu'il ont einsi menez
“he Karles sires, tant nos as oubliez.
que fetes vos que ne nos secorez ?"
paien responent "de folie parlez.
ia par Karlon voir secors n'i arez,
qui n'est pas tius qui soit vers nos lornez.
foiz s’en est; james ne le verrez.”
einsi disoit li pueples desfaes.
chascun venoit et chargiez et trossez.
vitalle aportent et pain et char et blez.
lor quatre diex ont auece eus portez.
sor les chastiaus fu chascun d’eus leuez.
tot orent les flans et les costez,
beent les gueules; chascun semble ınafez.
et Sarrazın les ont moult enclinez,
treschent et balent; s’ont les tabors sonez.
estrangement sunt grandes lor fiertez,
et chascun s’est haulement escriez
“he Mahon sire, por coi vos arestez
que pieca n’estes de si qu’ä Romme alez?
saint pere fust de son mostier ielez.
illec fussiez hautement coronnez.”
dist Hiaumunt “ia ne vos en hastez.
ia en Aufiique n’ere mes retornez.
si aurai France tot A ma volentez:
si n’i ruis plus de tres toz mes barnez
fors vos cent mil, qui auec moi venez.
quant vos aurai outre les monz passez,
de beles armes voir chascun trouerez:
lx ou xxx voir chascun en aurez.
tvop vos dorrai auoir et richetez,
toz les tressors que Frans ont amassez,
et ver et gris el hermin angollez,
or et argent el destriers seiornez.
Mahon sera richement honorez.”
Hiaumunt parloit issi con vos oez.
li xxır contes les ont moult regardez,
qui lä estoient as oliuiers mellez.
oent Je duel de leur enchaenez.
si lor ennuie, ia mar le demandez.
dist un & l’autre “baron, or esgardez.
diex nos ameine lol ce que vos veez.
qui les lera aler a sauuelez,
ia neu consoit li roi de maiestez.”
Affiiquant vienent de forrer liement;
assez ameinent de forrer bele gent,
de dras de soie et or fin el argent.
ei chetif pleurent qui sunt en grant torment.
Hiaumont lor dit “cheuauchiez belement:
car de uitaille auons A remanent.
nos aurons France, ie saı A escient:
car Karlemaine vient contre nos moult lent.
le roman d’ Aspremont.
foiz s’en est, ie sai A escient.
ä Romme irai ä mon coronement.”
en dementiers qu’i dient son talent,
li xır per oent le parlement.
Huet du Mans parla premierement.
“baron” dist il, “or errez sagement.
vez ci Hiaunont o grant eflorcement,
qui moult se peine de destruire no gent.
li Sarrazın sunt chargi& moult forment:
s’or sunt feru auques apertement,
tost torneront a grant destorbement.
corons lor sus tost et isnelement;
tolons ce pain, ce vin et ce forment.
m nos fet diex hui cest ior biau present.
qui ci endroit penra son finement,
por amor dieu pregne le liement.
li xxx mil respondent erranment
“nos i ferrons au dieu commandement.
il sunt ııı tanz mon escient de gent:
mes ia por ce ne lesserons noient.”
ä ces paroles s’eslessent fierement ;
ves Sarrazin s’en vont ireement.
qui ot bon arc, isnelement le tent;
qui bone enseigne, si la desploie ä vent;
qui ot destrier, sin broche et destent.
Hiaumont d’Aufrique la bruiere en entent.
il ot la noise que funt li Aufriquant;
dit a ses hommes “qui sont or cele gent?
ne se se c'est mes oncles Moisant,
rois Mahargons, ne li rois Esperchant.
contre nos vienent par esbanoiement:
car nos sauons de uoir cerlainement
qu'il ont en l’ost besoing gıant de forment.”
et dist Justins, un paien d’Orient,
“par Mahomet, ce ne sunt il noient.
169paien si ne vont mie eisi fetierement;
"ne portent mie oeus tan ganement.
ce sont Francois: bien voi lor herement.
defflendon nos: ne nos aiment noient.
c'est des genz Karle: je le sai veraiment.
n'est mie loign: jeu voi bien et entent.
bataille aurons par le mien escient.”
Li rois Hiaument qui la teste out armee,
quant vit venir no gent si ascesmee
et tant enseigne contre le vent leuee
et tant brun hiaume, tanle targe doree,
-T
Hector apele, li roi de Valpenee,
cut il auoit s’oriflamble liuree.
“Hector” dist il, auez vos esgardee
icete gent qui ci nos vienl armee?
ne sai qui’] sont, ne quex est lor pensee.”
et dist Hector “ia ne vos iert celee.
c'est de l’ost Karle l’auangarde montee.
cest l’olifant sonez e la menee.
vegnent repare qu’ele soit assemblee:
car nos arons et bataille et meslee.”
“voir” dist Hiaumont “onques n’oi em pensee
que por tel gent con voi ci assemblee
deignase fere de ma bouche cornee.
trop en seroit nostre loi auilee.”
Hiaumont fu forz et fier, emperial:
se il creust en deu l’esperital,
miudre de lui ne monta sus cheual.
il regarda deuant lui contreual.
les xır contes vit venir le costal,
et maint destrier et maint autre cheual.
il en apele Mauduit le Pinceval.
“or m’entendez, france homme natural.
eit ne sunt mie de nostre general:
einz sunt Francois. bien vont querant lor mal,
et il auront encui un fort iornal.
rengiez les tuit; si lor liurez estal.
poi en i voi; genes redot un al.
n’en remeront ne armes ne cheual.”
N’est pas merueille se Hiaumont fu forz et fiers.
ensemble o lui out cent mil forrier,
ne sunt li nostre nemes xxx cheualier.
“yoir” dist Hiaumont “moult m’a Mahomet chier,
qui plus me donne que ge ne li requier.
moult auions ore de ces armes ınestier,
et cit en ont: il lor couient lessier.
va, si lor di, facessen despollier;
et s’il me font les armes empirier,
il i leront les testes de loier.”
et cil monta; si lor uoit anoncier.
de si qu’as Frans ne se uout alarier.
quant il vint pres, si commence a hutier.
“baron Francois, ne vos chaut d’airier.
Hiaumont vos mande, qui le corage a fier:
toles vos armes vos couient ä lessier
sanz contredit et sanz point detrier.
ou se ce non, as espees d’acier
169 fjert sor Francois par merueillios air.
2».
b) BEKKER:
vos couendra les membre detrenchier.”
Dist li paien “or me festes entendre.
Hiaumont vos mande d’Aufrique et d’Alixandre,
li miudre rois qui puist espee ceindre.
par tel couent uoudra vos armes prendre
qu’en sa merci vos venez tres loz rendre.
ne vos vaudra enuers lui le deffendre.
ne vos voudra, ce dit de plus, raembre,
ne mes les cous de soz l’espee tendre.”
dient Francois “voudra se donc deflendre.
pechiez le fet nostre bataille atendre.
sempres sera qui nous sous acox rendre.
ce li redites et li fetes enlendre:
se il iert pris, nos le feromes pendre.”
Li mes retorne, que diex puist maleir.
dist ä Hiamont “ia pensez du ferir.
Francois vos mandent: bien m’en poez creir:
pas ne se ueolent des armes dessesir.
ne il n’ont cure, ce dient, de foir.
bataille aurez; bien ı uoudront ferir.
cel olifant vos conuendra tentir.”
Hiamont respont, qui fu de grant ahır,
“Mahom mes diex me puist don maleir.”
ses hommes fet arıner et fer vestir.
e vos Francois quis vienent assallır.
A lassembler oissiez cors bondir.
par de soz eus font la terre bondir.
la veissiez tant ruiste coup ferir
el tant escu el trouer et partir
el tant clauen fauser et desertir
et lant vasax trebuchier et chair
et tant destrier parmi ces rens foir,
tant Sarrazin et Lranchie et morir.
Hiamont les voit; le sanc cuide merir.
wet Durendart qui moult fet ä cherir,
cui il consuit, ne puel de mort garir;
cui il ataint, ne puet de lui ioir.
si con il vet, fet toz les rens fremır.
qui fu el champ, adone se puet garir.
Cil primerain qui assemblent au roi,
c'est Anquetin et Hues et Gieflvoi.
ııt mil hommes mena chascun 0 soi.
Anquetin broche contreval le sablei.
sor son escu fiert Pinceval un roı.
tot le porfent, et armes et conroi,
qu’il l’abat mort soz un arbre tot coi.
A la retrete refiert Malsapinoi,
un Sarrazin qui iert de male loi.
tot le porfent entre ci qu baudroi.
Hue du Mans rabatı Galefroi,
cosins Hiaumont, ol moult out grant bofloi.
el cors li fer deslacier un espoi;
mort le trebuche de lez un brueroi.
vet le li rois; grant ire en out en soi.
tint Durendart & la regne d’or froi.
le chief li fiert; si l’abatı tot coi.
et puis rocit Emorant de Sapoi,
Guerin d’Orlieus et Garin et Eloy.
Francois le voient; s’en sunt en grant!effroi.
li plus hardi en ont esmai en soi,
et ne quierent b ... . tindret le chaploi.
lä veissiez commencier tel tornoi
don vır milier en reinaitrent tot coıi.
En l’autre eschiele furent v mil baron.
iceus conduit li riche dus Sanson,
quens de Poitiers; moult estoit nobles hon;
et ses conduit Gondoin le baron.
la poissiez veoir tant goflanon,
tant hiaume A or, tant escu A lion.
cil se refierent en l’estor & bandon.
la veissiez fiere de foloison,
dars et saieles voler ä grant foison.
rois Gondebuef va ferir Gardion,
un roi paien: d’outre Gafarnaon ;
et Sanses fiert Otemant l’Aragon.
ces deus paien i font tel liuroison :
mort les trebuchent, qui qu’en poist ne qui non.
lä veissiez une fiere tencon,
et sor ces hiaumes tele marteloison :
qui la chai, einz puis n’out garison.
Fors fu li chaples et meruellios li huz.
la veissiez maint, ruiste cop feruz,
escuz perciez, maint hiaume porfenduz,
tant Sarrazin contre terre chauz.
ne fu meruelle se n’i out des perduz.
tant en ia parmi les cors feruz,
escuz perciez, les hiaumes porfenduz.
et tant destrier vont les regnes rumpuz,
qui vont fuiant parmi les puiz aguz,
le roman d’Aspremont.
dont li seignor gisent morz es paluz.
mes lant i ot des paien mescreuz:
contre un des noz en i a quatre ou plus.
s’or ne fet diex por Crestiens vertuz,
jamais un seul n'iert par Charlon veuz.
Fier sunt li eri et li estor mortal.
l’enseigne Hiaumont si fu el fonz d’un val.
Hector la porte, un paien desloial.
de nostre gent i torne moult a mal.
Francois adrecent; la ot estor mortal.
evos Hiaumont deseur un noir cheual:
dex le confonde, le pere esperital.
tint en som poign l’espee Durendal.
enmi la presse lor rent si fort estal,
lasche la regne, lait aler le cheual.
Garin encontre, un Francois moult loial.
si le feri li paien desloial:
l’escu li fent et troue et met ä& mal.
ä l’autre cop fiert en l’iaume ä cristal.
tot Je porfent iusqu’as denz contreual.
i point auant, lint trete Durendal.
ceus qu’il encontre, fet trere mau iornal.
fiert mainte targe tres parmi le bouglal,
seles, estrieus; si coupe maint cheual.
tuit Je maudient de deu l’esperital.
Fier sunt li cri et li estor pesant.
tant par i out de la gent mescreant:
contre un des noz i out quatre Persant,
que nostre gent se vet moult esmaiant.
Jesu reclaiment, le pere roinant;
batent lor coupes, ä deu se vont rendant.
et paien prient Mahon et Tervagant
que il lor soit vers Crestiens ardant.
lor conroi vont noslre gent vremuant.
sı sunt serre et ensemble tenant:
se gelissiez sor lor hiaumes un gant,
ne fust ä terre d’une ruee grant.
o evous Hiaumont, o lui li Aufriquant.
la recommencent un estor si pesant,
dont orfelin remeistrent maint effant.
Fort fu l’estor, ruistes li fereiz.
par la bataille uint Gieffroi de Paris,
grise gonnele, un duc de moult grant pris,
l’espee trete, couert de l’escu bis.
fiert un paien qui ot non Escriuis,
qui nos Francois auoit moult mauballis.
Philos.-histor. Kl. 1847.
l’iaume li trenche et li front iusqu'au uis.
tres deuant lui l’abati el aris.
l’ame emporteirent Pilate et Antecris
droit en enfer, ou remaindra tos dis.
adonc commence et la noise et ]i cris.
la n’out mestier ne li uers ne li gris;
po i ualut pourpre ne sebelins.
lä ueissiez les couars esmarriz
et les hardiz fierement esbaudiz.
en cui dex ot le riche cuer asis,
cil pout auoir mestier A ses amis.
Fier sunt Ii cri et riche li cembel.
par la bataille es Huun le Mansel.
l’espee trete, tint l’escu en chantel.
en tote France n’out cheualier plus bel.
einz puis le tens Assalon et Abel
nus plus biaus hons n’afubla de mantel.
fiert Rondoin le fiz au roi Cadel.
tot le porfent entre ci qu’au ceruel.
apres celui rocist un domoisel,
cosin germain au roı Salatiel.
fiert et refiert con feiures de martel.
x en a mort tres enmi le prael.
paient trebuchent; grant en sunt li maisel.
Hiamont le voit; ne li fu mie bel.
quant voit sa gent torner ä tiu maisel,
il en iura Mahon et Jupitel
que il fera Crestiens mauchaudel.
tint Durendart, dont trenche li coutel.
tres enmi eus demeine tel reuel:
l’un fiert eu col et l’autre eu haterel.
de Durendart Jor donne maint bendel.
par deuant lui en chient li boel.
ausi les tue con bouchier fet pourcel.
nes puet garir ne hiaume ne clauel.
Fort fu l’estor, moult fist ä redoter.
et Salemon, un roi tentiux et ber,
(Bretaigne tint par de deuers la mer),
icil ala & Bedoin ioster.
roi Julien grant terre out a garder.
l’escu li perce et fet outre passer.
tant con tint hainste, le fet mort grauenter.
Monioie crie por sa gent conforter,
don bien i uint cing cens por lui garder.
qui lor ueist Sarrazin decoper,
ä grant merueille fu lions prinz et ber
B
10 BEKKER:
qui les osast voir ni esgarder.
Parmi l’estor euos un roi moult fier.
Hector out non; si fu goffanonnier ;
Hiamont ]i ot fet s’enseigne ballier.
moult se penoit de no grant damagier.
maint en a mort deuant lui en l’erbier.
quant le percoit li bons vasax Richier,
don Karlemaine fist ia son messagier,
cele part torne li vasax son destrier.
parmi paien commence ä chaploier ;
fiert ca et la, n’a soign de l’esparnier.
ne semble pas as cos donner lanier.
et voit Hector nostre gent mehaignier.
ä lui mesmes s’en prent & consellier
qu’or ieir maues, s’il ne les vet vengier.
point le cheual as esperons d’ormier,
et va ferir le felon pautonier.
sor son escu apia son espier.
tot le porfent, l’aubere li fet percier;
parmi le cors li fet le fer percier.
si bien l’empaint li vassax droiturier
qui li a fet les deus arcons vuidier.
mort Je trebuche enmi le sablonnier.
l’enseigne Hiamont couient ius trebuchier.
h vos le cri qui cuida redrecier,
quant d’autre part i paruint Berengier,
Droes de Petou A l’'iaume le pohier,
et Tiorins et Fagon et Reignier
et bien des nos plus de quatre millier.
ou uielle ou non, Hiamont se tret arier;
par droite force le champ li font vidier.
don veissiez Sarrazin desrengier,
de totes pars la place aclaroier.
chascun s’en fuit por sa vie aloignier.
lor quatre dieu remestrent estraier.
Hiamont mesmes, quant voit l’encombrier,
de lui garir pense de l’auancier.
170 Richier l’enchauce, qui ne le uout lessier.
v.
souent li crie “retornez, cheualier.”
Hiaumont l’entent; se sens cuide changier.
moult volentiers i retornast arier
por son damage restorer et vengier,
quant sor lui vinent des nos tes trois millier,
qui l’enbatirent ä force en un viuler.
Fort fu l’estor et fiere la tencon
et forz li criz; maint grant coup i fier on.
evos Richier poignant ä esperon;
moult fierrement a enchaucie Hiaumon.
Affriquant voient chaer lor goffanon ;
en fuie tornent senz nule arestoison.
Teruagan lessent, Apollin et Mahon.
lor quatre diex lessierent el sablon.
soi tierz de rois s’en uet fuiant Hiamon.
Richier l!’enchauce, et maint autre baron,
qui ne demandent ä dieu nul autre don
fors qu’il puissent retenir l’Esclauon.
Va s’en Hiamon, perdu a son espoir.
il euidoit bien tot Je monde ualoir.
ia reuerroiz orgueil et non sauoir
que l’un ou l’autre n’estuise remanoir,
le queque soit estuisse remanoir.
vint A la tor qu'il ferma l’autre soir.
quant il en puet le pont a senz voeir,
onques ne fu si liez por nul auoir.
Richier l’enchauce et sieut par estoueir.
quant voit li ber qu'i l’estuet remanoir,
ne qu’il ne puet acomplir son voloir,
l’espie tresmoie par merueillios sauoir,
estent son braz de trez tot son poier
qu’einz eu chies li cuida assoer.
parmi la crope feri le cheual noir.
de l’autre part li fist le fer peroir.
s’or i poist un petil receuoir,
perdu eust rois Agolan son oir.
La bataille est uencue et li estris.
paien s’en vont matd et desconfis.
li xxx mil ont le ior feru si,
li forrier sunt par force departis.
deuant la tor out un merueillos cris.
quant rois Hiamon de son cheual chais,
poor ot grant que il ne fust choisi.
cil de la tor sunt encontre sallı.
Hiaumont abessent le grant pont torneiz.
leenz le meinent; puis si l’ont desgarniz
des pesanz armes, qui li pesoient sis.
du chief li ostent le bons hiaume burniz;
puis li desceignent Durendart le forbi.
du dos li traient l’aubere qu'il ot vesti.
don li escrient ensemble si amı.
“sire” font il, “moult vos prisent si vi
ci Crestien, cil gloton enemi.”
“voire” dist il “mi diu m’i ont fallı.
le roman d' Aspremont.
la sunt remes el champ tot estordi.
tuit mi parent sunt par eus desconfi.
qui en eus croit, moult a le sens maıri.”
Bien ont feru no cheualier vailliant
quant . il Hiamont le riche roi puissant.
par uiue force le font aler auant;
et s’ ont conquis Mahon et Teruagant,
leurs dieus, Jupin Apollin le p .. ant.
conquis ront roge or et blanc argent;
totes leur vies en seront mes manant.
Francois reparent, qui vencu ont l’estor;
einz tant de gent ne soflrirent greignor.
cele nuit iurent tres toz ä la froidor,
et l’endemain endroit prime du ior
vint Karlemaine, lor natural seignor.
li ague passerent li gentil poignoior.
ä la fontaine par dedenz la... or
ilec tendirent le tref l’empereor,
et tote l’ost s’est trauee entor.
A la fontaine qui cort par le chanal
se herberia Karles l’emperial.
son tref li tendent ilec li mareschal.
sor le pont d’or cele ä cristal
fu l’egle d’or pose an son estal,
qui reluisoit con estoile iornal.
li douze contes, qui sunt preu et loial,
arrier reparent du grant estor champal.
perdu i ont maint homme et maint cheual.
o lor eschec descendent du rochal.
Mahon ameinent trainant contreual,
les quatre diex qui moult sunt . . tal.
les flans lor batent et roillent de maint pal,
ausi con fussent quatre barons ... tral.
onc n’aresterent de si qu’au tref roial.
lä descendirent lı baron natural.
Descenduz est Droes lı Poiteuin
et Salemons et li roi Tiorin,
Hoiaus et Hues et Gieffroi l’ Angeuin
171et Anquetin et Richier et Helin
” et tuit li autre qui ne sunt pas frarin,
qui ont Hiamont ocis maint Sarrazin.
descendu sunt deuant le fiz Pepın;
si li presentent Mahon et Apollin
*) S. Fierabras S. 184b.
et Teruagant et lor compaign Jupin.
puis li eserient tuit ensemble & un brin
“ne t’esmoier, Karles o le cuer fin.
ier matinet fumes Hiamont voisin.
la merci dieu, nostre pere deuin,
auques auon abatu de lor brin.
de cent mil Turs l’auon fet orphelin.
foiz s’en est et toz mis au chemin.
venduz vos fust en vostre tref samin,
ne fust la tor que firent Sarrazin.
mais loteuoies, ce sachiez, en la fin
nos est remeis et le pain et le vin
et vingt sommiers auec de lor or fin.
ces t'amenons A ioie et A hustin.”
Dient Francois “sire, soiez ioianz.
iostE auons ä l’ost roi Agolant.
ne fust la tor qui siet au derrubant,
iames Hiamon ne fust alez auant.
mes sommiers vint de l’or au mescreanz
vos amenons por fere vo talent,
et lor vitaille, lor pain et lor forment,
les quatre diex ou paien sont ereant.”
Karlon.lientenb, Area a
222... 0U que vos le metez.” *)
En Karlemaine n’auoit qu'esleecier.
quant voit les diex que paien ont tant chier,
ä maus de fer et ä picois d’acier
les quemanda li rois ä depecier.
adonc i vient corant cil escuier.
mainte coignie aportent, maint leuier.
la veissiez toz les diex debruisier.
n’ont tel vertu qu’il se puissent aidier.
a ses barons donne Karles l’ormier.
un braz en done Droes le berruier,
1 iol Salemon le coste senestrier,
et Anquetin la cuisse o le braier.
la destre espaulle a done Berengier,
et la senestre ä Huan le guerrier.
la teste en donne au bon vasal Richier
pour l’oriflambe qu’il fist ius trebuchier
et pour Hiaumont qu’il osa enchaucier.
apres si furent destrosse le sommier.
tes tot l’auoir en fist Karles ballier
11
12
ä ses barons qui l’orent gaaignier;
einz n’en retint vaillissant un denier.
departi sunt li maues dieu lanier.
c’est une chose qui Hiaumont fera irier.
en l’ost Karlon out assez ä mangier.
tex quatre pains donon por un denier:
en l’un en out assez trois cheualier.
et por deus sols a l’en un buef entier.
il n’a en lor si affam& destrier
qui n’ait aueine assez por un denier.
et Sarrazin si n'ourent que manger.
en l’ost Hiaumont out tens si tres chier
qu'un pain i uent xv sols de denier,
et de moton vaut v... . quartier.
Hiaumont atendent, qui lor deuoit aidier.
mais or porront par leisir baallier.
d’icest conquest n’aront il recourier :
c’or le mainent Alemant et Baiuier
et la grant ost Karlemaine au uis fier.
Seigner baron, or vos doi acointier.
de duc Girart vos redoi acointier,
qui de Viane se departi l’autrier
et qui s’esploite de damledieu vengier.
en sa compaigne sunt einquante millier
de bones genz, qui ne sont pas lanier.
ä nueues targes ni a ceul n’ait destrier.
Bueues et Qlaires et Hernaut et Renier
de l’oriflambe furent goffanonier,
ı7Let douze contes, qui moult font ä proisier,
” qui de lor terre sont A Girart renlier,
et il le seruent quant il en a mestier.
Girart parla con nobile princier.
“Baron” dist il, “des or seroit mestier
que nos pensons de damledieu vengier,
qu’en Aspremont puissons monter premier.
s’einz i est Karles, trop seromes lanier.
la deuez vos vostre pris essaucier.”
Li dus Girart durement se hasta
ä tant de gent, comme li frans hons a.
cincante mil auec lui amena.
tant fist li vieus et tant fort esploita
qu'il et sa gent en Aspremont puia.
a une lieue, ce dist cil qui l’esma,
de la grant tor que Agolant ferma,
Girart du Frate la nuit se herberia.
et dist li vies que ia ne se moura
BEKKER:
se... par forceene...edeli:
mes Agolan, ce dit, i atendra.
li rois Hiamon forment se dementa.
grant duel demeine et tendrement plora
de la uilte qui desbarete l’a
crestiente que il onques n’ama.
tant fist li rois et tant se porchaca
que moult grant gent ensemble rauna.
Mahomet iure qu’encor se combatra,
ne ia son pere Agolant nu sara.
Hiaumon cheuauche; o luisunt moult grant gent.
einz ne fu hons tant eust hardement,
se il creust en dieu omnipotent.
il et si homme cheuauche fierement.
encor se cuide vengier moult fierement.
et dan Girart ne s’ataria noient,
li uiez du Frate, qui moult ot hardement.
Clairon apele, et Bouon ensement,
Hernaut, Renier tost et isnelement.
et dist Girart “or m’entendez, eflant.
vez ci Hiamont par le mien escient,
qui moult se peine de destruire no gent.
issiez vos en tost et isnelement.”
et dist Girart “or entendez, enflant,
et con g’emploi en vos mon chasement.”
et cil responnent “tot ä vostre commant.”
pregnent les armes tost et isnelement;
es cheuax montent, qui ne sunt mie lent.
lor s’en issirent arm& moult noblement.
la veissiez maint riche garnement
encontre Fiaumont cheuauchier fjierement.
a l’asembler i out fier noisement;
de dars, de lances moult fier aiostement;
maint escu fraint et maint hauberc sanglent;
de brans d’acier si fier chaploiement.
moult les reculent nos Francois asprement.
saietes volent, quarriaus espessement
Grant fu la noise, l’estor et la tencon.
moult fierement iosteirent Borgueingnon.
deuant les autres evos poignant Claron.
l’espie drecie, destort le gonfanon,
fiert Pinaprant le conseiller Hiaumont.
Vescu li perce, l’auberc et l’auqueton ;
le cuer li fent, le foie et le pomon.
mort le trebuche tres enmi le sablon.
et puis rocist Fauel et Glorion
le roman d’ Aspremont. 13
et Phodiant le fiz au roi Pharon.
sept en a mort tres tot en un randon.
Boues rebroche;; s’ala ferir Margon,
un Sarrazin d’otre Guapharnaon.
einz li clauen ne li fist garison:
le cuer du uentre li fent et le reignon.
puis tret l’espee qui li pent au giron,
et fiert Griant, un Sarrazin felon.
tot le porfent de ci qu’es el pomon.
paien i uienent & grant destrucion ;
dix en a mort tres enmi le sablon.
apres rocist Fantrou de Val grifon.
nez fu d’Aufrique; si estoit moult gentis hon.
mort le trebuche; ne li uaut riens poison.
puis ra ocis Pharoc, un Turc felon,
qui fiz estoit au roi Dagolion.
tant en out mort, n’est se merueille non.
mout le font bien li quatre compaignon.
Hiaumon le voit; si tint le chief en bron.
moult dolent fu; sı apela Mahon
et Teruagant et son dieu Baratıon.
“he maues diex, ne ualez un boton,
quant vos soffrez si grant destrucion,
con ci me font Francois et Borgueingnon.
mais c'est por ce qu’estes en la prison
roi Karlemaine: par tant le uos pardon.”
Renier, le mendre fiz Girart le baron,
point le cheual qui li cort de randon,
172et voit ferir le roi Matefelon.
” mort le trebuche deuant les piez Hiaumont.
quant il le vit, si dolent ne fu hon,
que seneschaux estoit de sa meson.
onques anfant puis le tens Salemon
si bien nu firent con Boues et Olaron.
Hernaut Renier moult sunt bon enflancon.
Girart en rit, li vieus ä rox guernon.
ses cheualiers les mostra enyiron.
“diex” dist li dus, “con gentius norricon.
cil les garisse qui souflri passion.”
Quant Girart voit l’estor einsi melle,
il en apele Anseis faucheble
et Heriueus et Soufre maure
et les barons qui la sunt assemble.
“seignor” dist il, “auez uos esgarde
se ie ai tant de mon tens afıne?
cit mien eflant m’ont tot regenere,
que j'ai norri docement et soef.
secoron les por sainte charite.”
ainceis que Girart eust ä ceus parle,
s’escrie Hiamon, qui ot le cuer enfflle,
“que fetes vos, Sarrazin et Escler?
vengiez vos diex qui sunt emble,
et vos amis qui ci sunt mort gete.”
A ice mot sunt tot resuigore.
fierent auant; si ont le cri leue.
adonc a Ülaires et Boues recule.
lor quatre mil, qui lor furent liure,
dusqu’ & Girart ne se sunt areste.
quant Girart voit qu’i furent refuse,
Claron apele; si l’a moult ramporne.
“biau sire nies, or est bien merci de.
un des biaus estes de la crestiente.
mes ne puet estre, dex ne l’a commande,
que proece ait la ou il a biaute.
fiz A putain, maues garcon enfle,
onques ne fustes de mon frere engendre,
le duc Milon, qu’en a forment loe.
mauesement l’auez hui resemble.
einz ne deigna foir en son ae.
adone ra son fil Claron troue
en la bataille ou il iert assemble.”
A ice mot s’est Girart tant ire
qu’il deschauca son esperon dore;
sı la Claron envers le uis gete.
li ber guenchi; moult s’en est uergonde.
lors acuilli hardement et firte.
dist A Bauon “il a droit, en non de:
maueserment nos i somes proue.
qui mes fuira, donc ait ıl mau deh£.”
adonc retornent; moult furent aire.
es Turs se fierent par moult ruiste fierte.
Grant fu la noise et li cri sunt hautor.
In dutGirante se: A
ser: entre cing cens des lor. *)
“Eufrate” crie o fiere voiz hautor:
“ferez, baron: dex vos olroit honor,
*) S. Fierabras S.M84b.
14 BEKKER:
einz que ci viegne Karlon l’empereor,
en cui voudroit sor vos auoir l’enhor.
se poons tant ferir en cet estor
que nos puissons melre entr’ eus et la tor,
lor s’en fuiront li grant et li menor,
que il aroit perdu tot lor retor.”
Girart du Frate fu nobile vassax.
ses gens en guie par delez un costal
grant aleure le pendant lez un val,
qu’einz ne le sorent li paien desloial.
si fu Girart si pres de lor chasal,
il et sı homme, parmi le fonz d’un val,
qu’entre la tor et le grant batestal
crient Eufrate plus de sept mil vasal.
se Hiaumon veut prendre ä la tor son estal,
trouer i puet un felon seneschal.
Moult sot Girart d’estor et de tencon ;
ne sourent mot li Sarrazin felon.
si fu Girart tot droit au tref Hiaumon,
il et si homme, qui ont maint cheual bon
et armes bones & plenie, ä foison.
Girart du Fra, qui euer out de lyon,
le tref abat, il et si compaignon.
ceus que il troue, n’i orent garison;
toz les ocient a grant destrucion.
puis sunt mont& enz en la tor Hiaumon.
la fet Girart drecier son gofanon,
172la ville enseigne qui fu au duc Boison.
" cete est A or; si Juit comme charbon.
Hiaumon le voit; s’en out au cuer frison.
si le mostra au roi Dagolion.
“or esgardez” dist li rois, “par Mahon.
perdu auons nostre mestre donien.
veez vos lä ce mestre gofanon?
il ne est mie de nostre region.
c’est la tor ol james n’enterron.”
Quant Hiamon voit l’enseigne & uız Givart
desus la tor, qui reflamboie et art,
perdue l’a: n’i a mes nul regart.
par mal talent empoigna Durendart;
si fiert un Franc qu’en deus moitiez le part.
et puis ra mort Acelin et Benart
et Rocelin Guielin et Guichart
et Euroin et Robert et Richart.
quant qu’Hiamon fiert, qui a cuer de lipart,
ne puet garir que de mort n’ait sa part.
voit Je Renier, un domoisel gueilliart,
qui moult iert fel: fil fu au due Girart.
par mautalent iure saint Lienart
“eit Sarrazin est moult de male part.
se il vit auques, donc me tien pour musart.”
ä ice mot point auant le liart.
s’or nel requiert et ne vet cele part,
Girart ses peres le tendra por musart.
Renier le mendre fu vyailliant cheualier.
quant voit Hiamon, si lui ueut manoier.
forment l’en poise; n’out en lui qu’airier.
il iure dieu, ne se prise un denier
se il ne fet son pooir du vengier.
ä ice mot point auant le destrier,
et vet ferir le gloton pautonier.
tel cop li done de son trenchant espier
que il en fist Je vermeu sanc raier.
mes einz ne pout remuer l’auresier.
Hiamon tres torne, ou il n’out qu’airier.
ferir le cuide sor son hiaume d’ormier:
mes i guenchi; si consiut le destrier.
le col li trenche; mort l’abat sur l’erbier.
s’or i peust autre cop emploier,
bien i cuidast son damage vengier.
A grant merueille fu Hiamon orguellos,
du fiz Girart occire couoilos,
quant i soruint Boues, Clares li ros,
Girart et Guis et Hiantiaume li pros,
et auec eus plus de quarante dous.
cil ont Renier ä grant force rescous:
car Hiamon iert forment cheualeros,
fiers et hardiz et de mal enartos.
Durendart tint, dont il fiert ä estvos
parmi ces hiaumes qui erent painz & flors.
ausi les fent comme coutel fet tros.
de nostre gent i fet maint doleros.
Hiamon voit bien qu’i n’ira autrement:
desconfiz iert il et sa grante gent.
fuiant s’en vet parmi un desrumbant,
a tant de Turs con a de remanant.
remet el fuerre Durendart la trenchant,
maudit ses diex Mahon et Teruagant
et Apollin et Jupiter le grant ;
ne les croit mais, tuit les tient recreant.
se il eust sone son olıfant,
venuz i fust tot ä tens Agolant.
le roman d’' Aspremont.
Va s’en Hiamon dolenz et corecous.
Girart du Frate est retornez li prous.
il et si homme se sunt tres bien rescous:
auoir em portlent et fier et merueillios;
que l’ont conquis comme bon fereors.
Hiamon s’en vet dolenz.........
lc ENOLUENFSHNEL ESS)
173 Va s’en Hiamont forment ä grant ahan.
” “ha las,” dist il, “entre sui en mal an.”
il en apele et Barre et Butran
et Salmaquin, son neueu Lanudan.
“alez A l’ost, que nu sache Agolan;
et si me dites mon seneschal Gorhan
qu’il me secore et son pere Balan,
Triamodes et le roi Hesperan,
li roi Cador et li roı Moisan,
Salatiel et li vroı Boidan.
bien lor contez la honte et le mehaign,
que i'ai perdu Mahon et Teruagan.”
“Baron” dist il, “n’alez mie tariant;
a ceus de l’ost alez hastiuement.
si lor contez tot le destorbement,
que i’ai perdu Mahon et Teruagant,
ma tor perdue que n’i ai mais naient.
de toz mes hommes i a mais pou viuant.
dites lor bien, ne lor alez celant,
c’or me secorent tost et isnelement.
en sor que tout n’alez mie obliant
(moult vos em pri, et si Je uos commant)
que ia nu sache mes pere Agolant.”
et cil responent “tot A vostre commant.”
Chascus des mes est montez ä cheual.
passent li pui et li mont et li val,
vienent A l’ost de la gent desloial.
descendu sunt au tref le seneschal.
et quant les voient cele gent desloial,
petit et grant lor corent communal;
de Hiıamont demandent, le nobile vasal.
“est il encore deuale contreual?”
cil lor acontent le damage mortal,
tot ce qu’Hiaumont chai de son cheual;
naiez dut estre en une augue coral.
si a perdu sa grant tor principal;
*) S. Fierabras S. 184a.
tuit si paien i sunt tornd A mal.
“secors vos mande; que il n’en puet fere al,
si que nu sache Agolant le roial.
nos quatre diex i ont tret fort iornal,
sachiez en fu et ä ioie et A bal
par Aspremont traine contreual,
ausi con fussent quatre baron mortral.
Hiamon fet doel, iames ne verrez tal.”
paien l’entendent; si font grant batestal.
ilecques ont derompu maint cendal.
et dist Gorhan “por coi prenois estal?
car secorons tot le melier vasal
qui portast lance ne qui mont sor cheual.””
paien l’entendent; si s’arment communal.
grant noise meinent destrier mul et cheual.
lors s’en vet l’ost et A mont et ä val.
quatre mil cors, qui toz sunt de metal,
parmi le tref i sonent contreual.
chargent lor armes, el mainent maint cort gal,
haubers et lances et maint escu boglal.
et enselerent le ior maint bon cheual.
issent des tres cele gent desloial.
par sept foies sunt cent mil en estal.
Paien seufment si ont lessie Ii tre.
par sept foies sunt sept mil Turs arme.
serr&e cheuauchent, et se sont moult haste.
lı vrois Balan a un conroi mene.
ıx mil sunt de ferir apreste,
preuz et hardi, de mal entalente.
or ait dex Karlon et son barne:
bataille aura ä grant estor chapl£.
li rois Balan a sa gent regarde,
et dist en bas qu’en ne l’a escoute.
“diex” dist il, “sire, qui me feistes ne,
si con vos iestes la sus en maeste
et estes dieus verais en trinile,
vos requier ge par la vostre bonte,
ne soit mes cors de l'’ame deseur&
tant que ge soie en fonz regenere.”
Triamodes cheuauche empres Balant.
moult ot o lui de Sarrazine gent;
soixante mil sunt bien li mescreant.
en cel conroi out tant bel garnement
16
et tant clauen et tant hiaume luisant
et tant ensengne A or reflamboiant.
Triamodes parla tot en oiant.
“esploities vos, fran cheualier vailliant.
vengiez vos diex Mahon et Teruagant,
qu’en fist mener Karles en trainant.
moult en deuez tres tuil estre dolent.
se tant pouons esploitier en auant
que nos puissons uenir ou sunt li Franc,
n’en estortront li petit ne li grant.
Karlon meisme, li felon souduiant,
en merron nos contreval trainant.”
Li tierz conroi fu Boidan liurez.
173Salatiel fu o lui aiostez.
2».
soixante mil en i out aprestez.
la veissiez tant bon hiaume gemez,
et maint espie fu, maint penon fermez.
des hiaumes bruns i est une tel clartez,
la terre en luist enuiron de tot lez.
li dui roi vindrent chascun moult airez.
desus Mahon ont ambedui ıure,
s’en la bataille est Karles encontre,
qu’il en sera contreval trainez.
La quarte eschiele conduit li voi Cador
et Aniaudras li roi de Tintagor;
c’est une terre ou ior ne prent essor.
si les conduit Lamas le fiz Octor.
en lor compaigne furent Persant et Mor,
li Agolaflve et tuit li Licanor.
soixante mil furent el premier cor.
lä veissiez maint destrier baı et sor.
Karlon manacent et dient bien encor
que le prendront de soz un eicamor,
feront li honte et le dure du cor.
La quinte eschiele conduient dou vasal:
c'est Rodoans et Butran l’amiral.
soixante mil sont bien lı desloial.
la veissiez maint paien A cheual
et tant escu et tant hiaume aesmal
et tant enseigne de paile et de cendal.
Karlon menacent, li roi emperial,
qu'i le feront trainer a cheual;
si li toudront France son herital.
BExKKER:
La siste eschiele conduient dou baron,
rois Esperant et li rois Maragon.
ce sunt dou roi orguellios et felon.
en lor compaigne soixante mil baron.
cil ont el dos maint riche gamboison
et maint cler hiaume, qui reluist enuiron,
et mainte lance portant maint gonfanon,
et mainte espee, mainte mace de plon.
et cil conduient l’estandart roı Huan.
la fleche est d’or, qui vet en contremon;
et tot en son out fichie un Mahon.
par nigremance et par enchantoison
li font huchier A moult haute reson
“car cheuauchiez, franc cheualier baron.”
lä ueissiez aler maint compaignon.
entre les Frans sunt enclos enuiron.
“or sachiez bien qu’en prendrai vengoison
et Karlemaine vous rendrai ge prison;
A saint Denis coronerai Hiaumon.”
Tant cheuauchierent les oz A grant destroit
qu’ Hiamont encontrent, qui forment fu destroit
et courouciez et en son cuer estroit.
quant voit ses hommes, ses princes et ses rois,
tos em plorant les bese trois et trois,
et puis lor conte ses deus et ses ennois,
que li ont fet Borgueingnon et Francois.
descomfit l’ont em bataille trois fois,
mes hommes mors et tolu mon henois.
si m’ont tolue ma tor et mes destrois.
or passera Karlon tot a son chois.””
dient paien “or ne vos esmaois,
que tot le vostre en cort terme raurois.”"
Hiaumon sospire, «.. rec...
>... . d’esperuier, ne d’ostor.” *)
paien responent “ne soiez en error:
car einz demain que vos voiez le ior,
vos aurons Karle mis en si grant freior,
ne li lerons ne chastiaus nı honor.”
Ce dit Hiaumon, ou i n’out qu'airer.
“quant vi mes diex trebuchier et verser,
tant m’enchaucierent lı gloton pautonier
qu’ez en un augue firent mon cors pligier.
einz ne croi mon pere A iostisier,
*) 5. Fierabras S. 184a.
le roman d' Aspremont. 17
qui me loa les bons asso haucier
et les prodommes amer et tenir chier.
174einz ai norri maint gloton pautonier,
z qui por lor bordes moult fet moult abessier.
mes s’en Aufrique puis jamais reparier,
ie les ferai destruire et essillier,
ou ies ferai de ma terre chacier.”
Si con Hiamon ot tant sa gent menee
de l’ost Girart ä demie loee,
Borgueingnon oent la noise et la criee
des Sarrazin, qui sonent la menee.
au vielz Girart est Ja nouele alee.
“sire Girart, frans hons, chiere menbree,
Hiaumon reuient. tel gent a recouree,
n'a bomme el siecle qui ia l’eust nonbree.
dos liues pleines est la terre pueplee;
de totes parz en coure la contree.
oiez quel noise et con fete criee.
or sachiez bien, nostre mort est iuree.
tant en i uient, c’est verit€ prouee,
se nostre gent iert cuite et bien salee,
les mangeroient eus en une disnee.”
et dist Givart (ne l’a pas redoutee)
“frans cheualier, vez la chose prouee.
de Paradis est ouerte l’entree.
dex nos apele en sa ioie honoree.
or sunt venuz A la inte jornee.
qui dix aura li la mort destinee,
de moult bon hore fu sa char engendree.
et qui morra, c'est verile prouee,
si grant honor li iert abandoncee,
tele ne fu veue ne trouee.
se dex me meine ariere en ma contree,
ma riche chanbre lı sera deffermee,
qui a toz iors nous seut estre fermee.
de haute dame, de gent afere nee,
vos en sera l’amor abandonnee.
tele ne fu veue ne trouce.
mollier auroiz tot si con uos agree.
grans garison iert A chascun donee.”
Borgueingnon l’oent; si li font escriee.
puis li eserient & moult grant alenee
“sire Girart, vez vo genz aprestee
de vos aidier au trenchant de l’espee.”
adon s’armeirent sanz nule demoree.
la veissiez mainte targe doree,
Philos.-histor. Kl. 1847.
et tante lance, riche enseigne fermee,
et tant destrier ä& la crope tiulee.
li dus Girart a sa gent ordenee.
paien entendent el fonz de la valee.
Girart du Frate fu moult gentis et ber;
einz ne deigna Sarrazin redoter.
tote sa gent fist par rens ordener.
de saint Morise fist l’enseigne fermer.
ce se ne fie, puisqu'il la fet mostrer,
qu’i ne conuiegne A bataille assembler.
mes A& Charlon doi hui mes retorner.
ne fu tius rois, iu prince ne tiu ber,
qui miez seust sa terre gouerner.
la soe gent auoit fet ordener.
Ogier les baille et Naymon ä garder.
“alez” dist il; “Jesu vos puist sauuer.
secorrai vos sanz plus de demoreır. ”
et cil responent “ce fait ä graanter.”
As auangardes ä riche roi Karlon
soixante mil Francois i a par non.
Naymes ı fu, Ogier et Salemon
et Tiorins, le seneschal Fagon.
douze roi furent el Iıs roi, ce sauon.
lä veissiez maint riche gofanon.
bien sunt arme con nobile baron ;
A plein cheuauchent ä coite d’esperon.
Givart choisisent par de lez Aspremont,
qui s’apareile d’aler encontre Hiamont.
voient maint hiaume et maint riche penon ;
cuident ce soient li Sarrazin felon.
dist l’un & l’autre “voir la bataille auron.”
li couart dient “si voist en A Karlon,
qu’il nos face secors et garison.”
“geu vos otroi,” ce dist roi Salemon.
Dist Saleınon “car i alez, Richier.
ge n’i sai homme que li rois ait plus cher.
por diu li dites qu’il penst de l’esploitier,
que maintenant face l’ost herbergier :
car Hiamon vient, l'orgueillios et le fier:
sor nos ameine moult merueillos tı .. ier
de Sarrazin, cui diex doinst encombvrier.
batallie aura, s’ıl ose commencier.”
Richier respont “ne sui pas nouelier.
se ie pert l’ame por le cors esparnier,
don me puis ge mauesement proisier.
o les apostres me veil hui herbergier,
C
18 BExKKER:
en Paradis, oü bon fet delicier.
querez un autre qui i voist por noncier.
174foi que doi vous, ia n'en irai arier.”
2 Roi Salemons apela Amauri,
un ckeualier qui quens iert de Berri,
qui moult iert preuz ; si out le cor hardıi.
“alez ä Karle, sire, ge vos em pri;
et si li dites qu’Hiaumon est pres de cı.
de l’ost qu’il meine, et que ıl a basti,
sunt ia li mont et li val reuesti.”
“je n’ivai pas” li quens li respondi;
“ge ne veoil pas mon cors aucir gari,
ancois le uoeil por deu auoir affli
et ledengie si comme i l’out por mıi.
s’auraı mon chief em Paradis flori
o les apostres qui bien ont dieu serui,
ou toz iors a ioie [este et deli.
qui que i voist, je remaindvat icı.”
Roi Salemons apela Godeffroi,
un cheualier otı moult out de boufloi ;
quens de Boloigne estoit, si con ge croi.
“car alez, sire, A Karlon nostre roi,
et li dites, por deu ge vos em proi,
que Hiaumon ameine sor nos moult grant conroı.
viegne li rois; s’ameint sa gent o sol:
car nos aurons, ce cuit. aspre conroi.”
li quens respont “non ferai par ma foi.
es ai bones et cheual et conroi:
si ne ferai que granz cox ni emploi,
et rendrai deu tot ce que ge li doi.
l’ame et mon cors quitement li otvoi.
por lui morrai: car i morut por moi.
m . vos. . volez prendre corroi,
dont i alez qui auez tel effroi.”
Roi Salemons apela a estrous
le due Antiaume qui fu sire de cors.
“car alez, sire, por nos por le secors
de Karlemaine, le fort roi coraious.”
et cil respont “trop iestes peuros.
ie n'ire pas par la foi que doi vos.
ne place deu, qui nos gouerne los,
que ie ja aje les fies ne les honors,
de coi je uiue entre mes pers hontos.
ge ne sui ge ä Karlon ne & vos,
einz sui ä dieu le pere glorious,
qui le suen cors mist por moi a dolors;
et ie le mien metrai por lui toz iors.
se de la mort volez estre rescous,
dont i alez qui si estes doutos.”
dist l’arceuesque “ge irai por vos tous
moult volentiers. ne soiez si irous.”
Li arceuesque enlendi la reson,
que de l’aler s’airent li baron.
il s’en torna A coile d’esperon.
einz n’aresta, ne A val neä mon,
deciqu’il vint deuant le roi Karlon.
il le troua sor un paile grifon ;
en une lance fermait un gofanon.
et l’arceuesque l’en a mis ä reson.
“dex beneie l’empereor Karlon. ”
li rois respont par sens con yentius hon
“sire arcevesque, dex vos face pardon.
cil destrier a en vos mau compaignon ;
sanglent li voi les costez enuiron.
dites, biau sire, que font don mi baron
et m’auangarde que deuant enuoion?”
“par foi, biau sire, veu auons Hiaumon.
tant a paien, n'est se merueille non.
sor Aspremont en sunt 1a li penon.
bataille aurez; ne uos en mentiron. ”
et respont Karles “damledieu la nos don.
tolir nos cuident ce que de deu tenon:
mes par mon chief nos lor contrediron,
ge veu ä dieu et son glorios non.
feles soner mes granz cors de laton,,
si ssarme l’ost entor et enuiron.”
Chales quemande que l’ost soit tost armee;
et il sı furent sanz nule demorce.
quatre mil grelles i sonent la menee.
la veissiez mainte broigne endosee,
sor maint vert hiaume la uentaille fermee,
maint haut baron ceindre sa bone espee.
ä maint destrier fu la sele cenglee.
li connoistable l’out moult bien ordenee.
li roı sallı en la sele doree.
li fiuz d'un duc a s’enseigne portee.
son seneschal a tote l’ost liuree.
einz roi de France n’out mes tele aunee.
preng l'oriflambe que Lant ior as gardee.”
tot em picant li a li roi donee.
dist Fagon “sire, honor m’auez portee.
Fagon” dist Karles,” voiz con riche asemblee::
le roman d’ Aspremont. 1
or m’otroit diex qu’ele soil bien gardee. "
175 Tant cheuaucha li bon roi Karlemaigne;
” enuiron lui li baron de son regne
et li Breton et la gent de Toroine,
de Normendie, de Flandres, de Louiene,
de Loherenne et de ceus d’Alemaine.
cent mil furent A une vert enseigne.
tant chenachierent le pui et la montaigne
qu'a Salemon s’asembla la compaigne.
Tant cheuaucha Karles l’empereor,
ensemble o Jui maint bon conbateor,
qu’ä Salemon assembleirent le ior.
de l'ost parti Karles sanz nul demor.
o lui auoit maint moult bon pognoior
et li dus Naymes, son bon conseilleor.
eing en i out, qui tot furent contor.
Barlessnezarnd eg Er re
EEE, vers la gen paienor. *)
n’en connuit nul; s’en out eu pouer.
“baron” dist Karles, “or n’i a autre tor.
Sarrazin vienent; ie voi ia lä des lor.”
Challes apele et Naymon et Ogier,
le duc Fiauent et le duc Berengier.
“seignor” fist ıl, “celer ni a mestier.
vez ci paien; ge nel vos puis noier.
bien sai que Hiaumon ne uoudra pas lessier
qu'il ne viegne ses quatre diex vengier.
vez le la ia seur ces tertres puier.
sachiez de Hiaumont con voudra esploitier. ”
lors veissiez ces Francois eslessier,
les forz escuz contre les piez drecier.
Girart du Frate les apereut premier.
Clairon et Boeues em prist a aresnier
et ses dos fiz et Hernaut et Renier.
“baron” dist il, “des or seroit mestier
que nos pensons de damledeu vengier.
se vos ces quatire poez descheuauchier,
estrangement vos em poez prisier. ”
et cil responent “ce fet ä otroier.”
ä ice mot lor vont A l’encontrier.
Li quatre poignent ä ce sine fierement,
contre Francois moult orguelliosement.
Ogier choisi Clairon premierement,
deuant les autres plus qu’un ar ne destent.
vint l!’un & l’autre assembler fierement.
Ogier feri Claron premierement:
Vescu li perce ä la bougle d’argent.
sa lance bruise; li trons volent A vent.
et Claires fiert Ogier plus hautement
sor son escu, qu’i li perce et porfent.
fort fu laubere que mallie n’en desment,
et rede fu la lance dont ıl fist leprient.
et li cheual ne furent mie lent.
ge ne di mie qu’Ögier chaut souent:
mais A cele hore auint si fetement
que ses cheuax glacha; n’en pout noient.
Ogiers chai; ses cheuax ensement.
et li duc Boeues qui moult out hardement,
ala ferir le preu conte Flauent;
et Flauent lui referi durement.
ci dui chairent tres tol communement.
Bueues reliue {res tot premierement,
l'’espee trete o le pommel d’argent,
et son escu par les enarmes prent.
Flauent feri sor l’iaume durement.
l’espee qu'il .. auques li porfent;
si Je naura el chief moult durement,
einz puis en l’ost ne porta garnement.
puis en dura le hain longuement.
Boeue en fu mort et ocis voirement,
et tote France en fu puis en torment,
el mainte dame em perdi son anflant.
Naymes brocha, et li dus Berengier.
Yun fiert Hernaut et Ii autre Renier.
cil s’ entrefierent; n’ont soign de l’esparnier.
granz cous se donent: car preu sunt et legier.
tuit quatre chient lı vasal droiturier.
cil qui aincois pensa du redrecier.
adonc est Claires descendu contre Ogier,
et lez Hernaut fu li quens Berengier,
et li duc Naymes se tint apres Renier.
la veissiez un estor commencier
qui dut torner a mortel encombrier.
Se lä fusiez Je ior sor Aspremont,
deuant la tor que Girart li frans hon
auoit tolue au riche roi Hiaumont.
°) S. Fierabras S.1SAb.
C2
20
li un escrie “Monioie la Charlon,”
li autre escrie “Monioie Borguegnon.”
IB Ogier apele li preu uasal Clairon,
et dıst li dus “vasal, comme auez non?”
“sire” dist il, “pas ne vos celeron.
Claires ai non; fiz sui au duc Milon,
nies sui Girart du Frate le baron.
por dieu vengier en cest pais venon.
et vos qui estes? dites moi vostre non.”
“ge ai non Ögier; eisi m’apele en non,
et sui hon Karle, li roi de Moulaon,
qui m’a norriz toz iorz en sa meson,
tres donques fui moult petit valleton.”
Claires l’entent; si l’encline en parfon.
Li dus Naymes, qui moult fit a proisier,
son compaignon a apele Renier;
et dist li dus “qui estes, cheualier?
bien sez ioster; de ce te puez proisier.”
“sire” dist il, “aceler neu vos quier.
fiz sui Girart; si m’apele Renier,
celui du Frate, l’orgueillios et li fier.
vez la mon pere sus ce tertre puier,
ou il atent Hiaumont et son empier,
qui tant ameine de la gent lauresier.
dieu ne fist home qui nes puist resogner.”
“he diex” dist Naymes, “qui tot as ä ballier,
glorios peres, toi pui ge gracier.
de cist secors auions bien mestier.”
lors se corurent acoler et besier.
Soz Aspremontg. FuEa in.
an: ..... en a maues matin.” *)
Girart et Karles quant or sunt aprochiez,
Lot li barnages en fu merueilles liez.
et dist Girart “sire roi, cheuauchiez,
et si soiez moult seurs et liez:
car de soixante mil hommes haubergiez
as noeues targes el A coranz destriers,
de tant sera vostre criz eflorciez.”
Karles respont, qui bien fu enseigniez,
“sire Girart, ganz merciz en aiez.”
Ce dist Girart li uiuz au peul mesl®.
“sire emperere, trop auez demore.
je vous ai ia Hiaumont desbaret£,
BEKKER:
et la tor ai par force conquest£.
par lä irons: car ge l’ai esyarde.,
Sarrazin vienent; trop auons demore.
Karles respont “se ge ere escoute,
je vos diroie auques de mon pense.
de plusors terres somes ci assemble.
se uos n’ iesles lol por moi aune,
si estes vos venus por amor d£.
por ce le di; ne m’en saciez mau gre;
que vos faciez de moi vostre auoe,
tant que aiez ce iornel trespasse.”
Girart respont “que mal n’i ait pense.
ge l’otroi bien endroit moi de bou gre.”
li roi l’entent: si l’en a mercie.
Karles descent soz un arbre rame.
isnelement a son cors adoube.
il vest l’aubere qui fu roi Macabre,
que il conquist de soz Tolose el pre.
tote iert la maille de fin acier trempe,
176 qu’ele ne crient dart ne branc acere;
” tves tuit li pan en sunt sorargente.
en son chief a un tel hiaume ferme:
pieres i a qui ont tel poeste,
ia qui le porte en champ o liu male,
ne crient coup d’arme un denier monee,
ne si n’a garde qu'il soit en champ naure.
puis ceint Joiose au seneslre cosle,
li pont est d’or; sil’ out on seel&
de saint Denis et de saint Honore.
qui l’a sor lui, ia mar ara doute
c’on l’ait en champ honni ne uergonde.
et puis li ont son escu aporte;
la guige en fu de paile d'or roe.
et Karlemaine l’a ä son col gete.
le blane destrier li a l’en amene,
que Balan ot par Naymon present£.
Francois li ont richement atorne.
frein ot a or richement Iresgele ;
et li poitrax fu ä or estele,
enuiron d’escheletes oure.
quant li cheuax a un petit ale,
l’or relenlist et a un son gelte:
ne geu ne harpe n'i fusent escoul£.
*) S. Fierabras S. 1735.
le roman d’ Aspremont.
et fu tres tot de fer acouete.
eisi garni et eisi apreste
ont il Karlon baillie et presente.
li rois i monte, en cui ot grant firte.
a son estriu rot cing rois encline.
et puis li ont son roit espie liure;
il fu de frene; si ot fer acere.
evos li roi richement atorne.
anges resemble du ciel ius deuale;
ne semble pas cheualier emprunte.
tuit li baron l’ont forment regarde.
Girart apele Anseis faucheble
et Herneis et son freire Maure
et les barons qui lä sunt assembl£.
“baron” dist il, “auez vos esgarde&?
bien doit ci estre roi de crestiente.”
dont a li rois dan Girart apele,
et il s’en est tot droit & lui ale.
moult belement l’en a Karle apele.
“sire Girart, or est bien merci de.
Agolans est en mon reaume entre,
qui a mon regne essillie et gaste.
puisque ge sui en mon cheual monte
et en mon chief ai mon hiaume ferme&,
si cit ior nez nos estoit eschapez,
g’en deuroie estre escharni et gabez.”
dist Girart “sire, vos dites verile.”
“Droiz emperere,” ce dit Givart. li ber,
“vez ci Hiaumont qui moult fet ä douter.
tant a paien que nus nu puet nonbrer;
que lot en voi cest regune acoueler.
ge les voi ia de ce tertre aualer.
il nos couient moult sagement ourer,
qu'il ne nos puissent de ce champ eschaper.
vostre auantgarde fetes hui mes crier
et asprement ferir et assenbler.
et vos apres n’aiez soin d’arester ;
et ge irai ma gent reconforter.
parmi ce val les en voudrai meneı;
par de de lä ueul & eus assembler.
se de dos parz les poons eserier,
puis les ferons esmaier et douter,
et ses porrons moult miuz desbareter.
*) S. Fierabras S.185 a.
qui & honor porroit ce ior passer,
ja en sa vie nu deuroit oblier.”
distPapostoile. Want 2 else
een ner en. jderbienkferiniu)
“baron” dist Karles, “trop poomes soffrir.
ge voi paien aprochier et venir.
alez encontre par le seint esperir.”
“Baron” dist Karles, “or tot de maintenant.
vez ci paien qui nos vont aprochant.
deuisez moi mes eschieles deuant,
que l’une ira apres l’autre ferant.”
et il si fiert tost et isnelement.
sept millier furent en corroi par deuant.
rois Salemons les vet moult pres guiant
a dos enseignes de paile flamboiant.
en .iii. semblant vet li dragons maschant,
et cil n’en font ne chiere ne semblant
quil...a de retorner talent.
En l’autre eschiele sunt quatorze baron.
iceus conduit lı riche dus Milon,
quens de Poitiers; moult estoit riches hon.
et ses conduit Gondebues le Frison.
la poissiez voir maint goffanon
et maint hauberc et maint hiaume roont
et mainte espee, maint escu & lion.
or sache bien Agolant et Hiamont,
ja n’auront France tant con ci dureron.
La tierce eschiele fist moult ä resoignier,
quant sunt arme; bien sunt quinze milier.
si les conduit dus Naymes de Bauier,
ensemble o lui li bons Danois Ogier,
et auec eus li bons vasax Richier,
don Karlemaigne fist ia son messagier.
la veissiez maint hauberc doublier,
tant hiaume ä or, tant espee d’acier.
moult cuida bien Agolant esploitier
qu’il passa mer por France chalengier.
einz qu'il la puist A son eons desrenier,
i morra tiex qui i fist commencier.
La quarte eschiele cheuauche tot un val.
Garin li bons, un fianc quens natural,
li quens Antiaumes du chastel de Niual,
rois Anseis la conduit tot un val.
22
vingt milier sunt li nobile vasal.
lä veissiez maint mul et maint cheual
et tant espee, lant escu Aa cristal.
rois Agolant n’out mie bon consal,
qui veut Karlon tolir son herital.
mieuz lı venist, einz qu’il eust plus mal,
qu’il retornast ä sa gent desloial.
mes se diex plest, le pere esperital,
hui en treront un doleros iornal.
Vinte cınc mil furent el quint corroi;
sı ot dos contes et un duc et un roı.
lä veissiez maint bon hiaume ä paroi
et mainte enseigne de poile et de bloi.
trop par pensa Agolant grant desroi,
qui cuida Karle desheriter, no roi:
einz en girront soixanle mil tot coi.
La siste eschiele ot trente mil escuz;
li ro Drouns en fu guerre et dus
li rois Brimox, qui est de Hongrie issus.
trois rois ı oul des melliors esleus.
li veissiez maint blanc hauberc vestus,
et tant espee el tant hiaumes agus,
tant bon destrier sor et baucein quernus.
ci li ferront as brans d’acier loz nus.
einz qu’Agolant soit a Paris venus,
Hiamont ses fius, qui tant a de vertus,
i aura tant des mors et des chaus,
jamais n'iert jor qu'i n’ en soit irascus.
La seme eschiele firent cıl d’Alemaine,
de Loherene, de Pulle, de Romaine.
roi Desier porta le ior l’enseigne,
li dus Fagon l'oriflambe soueine;
et auec eus furent ceus de Toraine
et li Lombart et toz ceus de Toscane.
soixante mil sunt en icele compaigne.
177 c'est la bataille au fort roi Karlemaigne.
\ Quant Karlemaigne out deuise sa gent,
point par les rens; ses va reconfortant.
moult belement les va aseurant.
“or cheuauchiez, Francois et Alemant,
Flamenc et Fris et Englois et Normant,
cil de Tolouse et tot li Lohereut,
li Angeuin, li Mansel, li Torant:
car diex et ge vos serai bon garant,
et vos espees, don bien trenche lı branc.
vez ci les oz Hiamont et Agolant.
BEKKER:
tant een ia, et de diuers semblant,
qu'il n'est homme qui les alast nombrant.
mes ne soiez de riens redoutant.
cheualier dieu soiez hui combatant:
car ä tort vont nos honors chalengant.”
ä tant s’en vet Karlemaigne plorant.
et l’apostoile, par l’ost esperonant,
le braz saint Jorge lor vet ä toz mostrant,
enuolepe en un chier boguerant.
de renc en renc en voit no gent seignant.
“bon cheualier, or cheuauchiez auant,
el si solez seur et conbatant.
Paradis est ouert des l’aiornant;
la nos atendent li anges en chantant.
contre vos ames vont grant ioie menant.”
adonc s’en vont Francois resbaudisant,
et vont le pas l’un ä l’autre prenant.
par ce seront lor ames ä garant.
de roges croiz se vont tres tuit croisant:
par ce ira l’un l’autre connoisant.
lors demanderent lor eseuz aitant;
les grosses lJauces vont contremont leuant.
ä ces paroles lor vient Auffriquant,
soixante mil el premier chief deuant
A bones armes et A maint arc tralant.
cors et tabors et timbres vont sonant.
une tel noise uont entr’eus demenant,
n'i oistent nes damledeu torant.
deuant les guie li riche roi Balant.
en son escu ot tel reconnoissant.
troi lions d’or; petit est li plus grant,
li quart des rois de la gent mescreant.
des que les oz se uont entraprochant,
l’or et l’azur en vet resplendissant.
n’en i a nul tant orguellios Persant,
ne tant hardi, ne de si grant bonbant,
qui de poor ne remut son talent.
hui mes orez un iornel moult pesant,
don puis remestrent orphelin maint anflant.
fir sunt li cri de la paiene gent;
ä l’assembler i out grant noisement.
sonent ci grelle plus de mil et sept cent.
li set millier de la paiene gent
murent tot droit vers la Francoise gent.
c’est Anquetin qui les conduit deuant,
Gieffroi et Hues. or lor soit dex aidant.
le roman d’ Aspremoni. 23
cit assemblerent tres tot premierement.
destrier ont bon, qui ne uont mie lent,
haubere et hiaume A or et ä argent.
li troi baron poignent moult fierement,
et li baron uienent moult durement.
l’un uint vers l’autre moult orgueillosement,
et nos Francois les hurtent asprement.
maint en abalent et occient uiument.
Balan feri si Huon de clauent
qu'il l’abatı contre terre sanglent.
ne l’ocit mie: car dex ne le consent.
lieue la noise; si fremisse lı dent.
la veissiez mortel encombrement,
et tant paien contre terre sanglent,
et tant vasal affoler cruelment,
don mainte dame out puis son euer dolent;
de dars, de lances itel aiostement,
et des espees si dur chaploiement:
einz ne uil on si dolereus torment.
Grant fu la noise. or commence l'estor.
de totes parz i uienent poigneior,
bruisent ces lances sor ces escuz A or,
vuident ces seles, vuident ces misoudour.
la trebuchierent cheualier et contor,
et moult i muert de la gent paenor.
ä lor espiez fierent de tel vigor,
pou en ı out au besoign nul mellior.
Sor Aspremont fu moult grant lab... ıe,
ou la bataille des Turs fu commencee.
Crestien fierent de sus la gent haie.
cil hiaume fendent, et cil clauen d’orbree.
tant en ı chiet, n'est nus qui le vos die.
se ne fust ce que des ars est garnie,
tote fust morte la pute gent haie.
mainte saiete ot sor Frans decochie
ul . . . destriers ferue et estachie
ER es tornast A la folie
. . t une eschiele que Jesu beneie,
qui bien eroent dieu, le fiz sainte Marie,
que Karles out en sa terre norrie,
vint assembler ä la gent paenie.
A l’aioster l’out si bien envaie,
paiene gent reculent une archie.
ıa eussent Ja champaine yuidie,
quant ci Balan les chaele et guie.
sona un cor, les conforte et ralıe.
Grant fu la noise et li eriz et li huz.
Girart du Frate ne s’est mie arestuz.
soixante mil de vasax esleuz
auoit li ber as lances, as escuz,
a bons destriers, A blans haubers vestuz.
de sor le pui est & val descenduz,
par deuers destre lor est sore coruz:
ne remaindra qu’i n'i ait abatuz.
Grant fu la noise et merueillos li ton,
quant Girart vint en l’estor & bandon. .
versent paien et tumbent el sablon.
demie liue guenchisent li felon.
Boeues et Claire lor meine tel tencon,
quant qu'il encontrent, abatent u sablon.
Claire feri li roi Dangolion.
rois iert d’Aufrique; moult i out mal gloton.
parmi le cors li mist le gofanon.
mort le trebuche, qui qu’en poist ne qui non.
Boeues rocist l’amarant Malaton.
de deuant eus vuidierent maint arcen.
et puis seescrie “or i ferez, baron.
li droiz est nostre. se diex plest, si ueintron.”
Boeues s’escrie, qui en dieu se fia.
parmi l’estor forment esperona.
fiert Nabugant roi que il encontra.
rois iert d’Asbiesme, une terre de la.
li rois Hiamont, qui durement l’ama,
tote Borgoingne a uenir li donna.
evos Girart qui la chalengera.
brandist la lance et au deuant li ua.
si le feri li dus et asena
que son escu li fendi et perca,
et le clauen li rompi et desmeilla.
parmi li cors son espie li baigna.
mort le trebuche, et puis s’en retorna.
dist A ses hommes “ne vos esmaiez 1a.
cent dehez ait qui james vos faudra.
ge sui Girart, qui bien vos aidera,
et damledeu bon garant nos sera.
cil iert gariz qui en cest champ morra ;
trop sera riches qui en eschapera. ”
et cıl responnent “ne vos esmailez 1a.
cent dehez ait qui jamais vos faudra.”
Soz Aspremont, el fonz d’une valee,
la commenca cele dure meslee.
des le matin, que prime fu sonee,
24
desiqu’& none, que ele fu chantee,
que li soleuz reuint & la vespree,
don& i out mainte pesant colee.
li chaus dura du lonc d’une loee.
terre deliure ne fust pas tant trouee
ol une mule peust estre establee,
n’eust hauberc ou escu ou espee
ou homme mort ou teste ensanglentee.
Hiamont cuidoit France auoir conqueslee,
mais einz qu'il l’ait asson eus aiostee,
ne que sa teste en soit d’or coronee,
de cele gent qu’ il i a amenee
poi en ira en la soe contree;
et nostre gent l’aura si comperee,
po ot en France duchee ne contee
ne remasist de seignor esgaree.
a ceus des bers fu la terre aclınce.
tant fort dura ceste pesme iornee
que ior lor faut; se reuint la uespree.
la bataille est par itant deseuree.
paien s’en Lrestent loign une arbalestee;
entr’eus et Frans out une grant cauee.
Sarrazin ont lor ost eschargailee,
et Crestien ausi la lor gardee.
la nuit fu bele, et la lune est leuee.
de nostre gent i ot moult de nauree,
et de la lor occise et malmenee.
En l’ost des Frans out cele nuit granz plors.
li naurez getent granz criz et merueillios.
li sain en font un sospirs angoissos
por lor amis, dont morz i a plusors.
li paien meinent d’autre part grant dolors.
li auquant ont les braz et les mains ronz.
dist l!’un A l’autre des Turs maleuros
“he Agolan, trop fustes couoitos,
173 qui voliez des Francois les honors.
7”° mes li Francois ne sunt pas pereceos.
einz qu'aiez France ne teigniez deuers uos,
reseroiz vos de secors angoissos.
ne puet remaindre, ne solez corecos:
car Francois sunt de conbatre airox.”
Entre les oz n’auoit c’un plein.
n’en i out nul, ne cortois ne vilain,
c’onques la nuıt maniast ne char ne pain,
ne li cheual ne d’orge ne de fain.
cil vassal gissent et trauellie et vain.
BEKKER:
li auquant tienent lor cheuax par le frein
et tote nuit l’espee en l’autre main.
Soz Aspremont, enz u fonz contre val,
la nuit i gisent maint nobile vassal,
qui par le frein tenoient lor cheual.
li mort i gisent et A mont et & val.
grant duel en meinent li baron natural;
moult lor ennuie desiqu'ä l’eniornal.
bien poez croire, n’i ot. ne iu ne bal.
Cele nuit ont no Crestien vellie.
li uiz Girart ot l’ost eschargaitie.
n’i ol un seul, tant se fust aaisie,
qui la nuit ait ne beu ne mangie,
ne son escu de son col despendie.
li naure sunt auques afebloie.
lor cheuax n'ont ne beu ne mangie.
Hiamon d’Aufrique ni a riens gaaigne:
car de sa gent ii est si alegie,
el champ en gist bien plus de la moilie,
qu'ocis que morz, que naurd que plaie.
et li sain sunt ia si fort esmaie,
james el champ ne remetront le pie,
se il n’i sunt par force rachacıe.
Hiamon le voit: & poi n'est esragie.
ses paien a toz ensemble aresnice.
“fiz A putein, com m’auez engingnic.
par vo conseil ai ge cetu meschie,
don iames n’ere en cest siecle haitie.”
don s’est Balant vers Hiamont aprochie,
a son seignor errament respondie.
“n’est pas meruelle, sire, s’esles irie.
quant vos m’eustes A Karlon enuoie
et ge ä vos fui arier reperie,
lors m’ourent il en vo cort si iugie,
a par un poi, li gloton renoie,
que il ne m’ourent en vo cort foriugie;
et lot auoient cest pais gaaignie.
s’or en esloient un pelilet proie,
a poi de uent l’auroient il lessie.'
et dit Hiamon “tart m’en sui chaslıe.
ce qui fet est, ne puet estre lessi£.
se ge vif tant, bien en serai vengie.
il et lor hoir seront desheritie
et a grant honte de ma terre chacie.”
A grant meruellie fu corecies Hiamon,
quant voit tant Turs moız gesir el sablon.
le roman d' Aspremont.
dist a Balant “mai esploiti& auon.
perdu auon Jupiter et Noiron
et toz les diex en cui nos croion.
se en cest ior recourer nes poon,
ia en nul ior recourer nes poron,
ne a nul ior Francois ne conqueron.”
et dist Balan “ce ont fet li gloton.
bien vos contai le message Karlon.
se vos dis voir, or endroit le trouon.
jamais la mer, ce cuil, ne passeron.
loign est Aflrique; iamais n’i enteron,
et ci Francois n’atendent se nos non.”
La nuit trespase, et le ior aprocha.
l’aube est creuee, et li soleuz leua.
grems fu Hiamon, et forment s’aira.
toz ses paien durement conforta:
plus lor pramet que il ne lor dorra.
ses granz eschieles li rois aparella:
vingt mil en out lä ou il meins en a.
sonent lor grelles, et Hiamon s’escria
“car cheuauchiez; ne vos atargiez ia.
vengiez vos diex, que ceus ont par de la.”
et Crestien, qui furent par de ca.
et Karlemaigne par l’ost esperona.
toz les barons en deu reconforta,
et ses conroiz l’emperere renia.
prametent dieu, qui vif en estortra,
ia en sa vie mes pech& ne fera;
et sil le fel, penitance en prendra.
a ces paroles Karles lor commanda
qu’il esperonent; et il si feront ja.
moult ot grant noise la ol ce rassembla.
Francois cheuauchent contre la gent grifaigne.
au commencier i out fiere bargaine;
iamais n’iert ior que France ne s’em plaigne.
175la veissiez une fiere compaigne
v.
et tel batallie qui fu fiere et estraigne.
percent escuz et maint cheual de graine.
ce ior 1 out perciee mainle entraigne.
du sanc des cors est couerte la plaingne.
heuos Hiamont sor un cheual d’Espaigne.
il ot haubere de l’ueure de mitaigne,
et hiaume A or, ol ot ueure soulaine.
ID
ou
pierres i ot qui bien valent Bretaigne.
espiez fresnin, el si ot grant enseine.
de lui vengier ne qui pas qui se feingne.
deuant paien vint tres tot une plaigne,
et fiert un duc Antiaume d’Alemaigne.
n’a si bone arme qui son cop li destraigne.
parmi le cors son roit espie li baigne.
mort le trebuche; ne li chaut qui le plaigne.
empres rocist un moult riche chastaigne.
tant i feri le Turc de pute cheigne:
parmi le cors son roit espie li baigne.
Triamodes vint poignant l’auancele.
bien fu armez el destrier de Chastele,
et vet ferir Gieffroi grise gonnele.
l’escu li fause et l’aubere desclauele.
l’espie li met tres parmi la mamele.
mort le trebuche parmi outre la sele.
Hiamon meismes, ä la targe nouele,
tint Durendart, don trenche la lemele.
sinos amort Garnier de la Tornele
et Herneis et Renaut d Orbendele.
li rois Brimox qui les Ongrois chaele,
ä icel mot le grant duel renouele.
“dix” dist Ogier,” con ci paien reuele.
s’or nu requier, ne vail une cenele.”
Ogier fu preuz; :
ee que charbon en brasier.” *)
a la retrete sı va ferir Ögier,
a mont en l’iaume le cuida essier.
li fers fu listes; si eschiua l’acıer.
ne l’empoira, qui l’estut ius glacier.
l’arcon deuant et le col du destrier
a tot coupe au brant qui fu d’acier,
que i couint li Danois trebuchier.
Ogier saut sus, qui se uoudra vengier;
et Anquetin, qui moult fist ä proisier,
point cele part; le Danois uout vengier.
mes Boidan lı uint & l’encontrier.
li ber le fiert (n’out soign de l’esparnier)
A ses deus mains d’une hache d’acier.
tot le porfent desiqu’el chapelier.
estor son cop; siu fet ius trebuchier.
fiert ca et la en guise d’homme fier.
*) S. Fierabras S.17Sb.
Philos.- histor. Kl. 1847.
236 BERKER:
en cele eschiele n’out mellior cheualier.
la gent Hiamont fet moult aclaroier.
En Anquelin out moult hardı Normant.
quant voit Hiamont et Ogier en estant,
aidier li va; sı ferı Boidant.
tot le porfent desiqu’es denz deuant.
prent le cheual, Ogier vet escriant
“montez, Danois; ne vos alez tariant”.
et Ögier viut; si saut en l’auferrant.
et Hiamont tint Durendart la trenchant.
de sor son hiaume fiert le conte Elinant;
iuqu’es arcons le va tot porfendant.
isnelement salli en l’aufferrant ;
puis suit Ogier A esperons brochant.
179]a rasemblassent andui de maintenant,
quant une fole se fiert entr’eus poignant.
les departi: car la presse fu grant.
garde lez lui; si vit un Alemant.
onques nule arme ne li valut un gant:
tot le fendi desiqu’es denz deuant.
puis regarda son homme Boidant.
en son language va Mahon creantant,
ne croira mes lossengier souduiant,
ne homme nus qui trop se voist vantant.
Soz Aspremont, en la valee grant,
Karlon i pert des melliors de sa gent,
don damledieu fist son quemandement.
erestiente ı perdi durement,
etä Hiaumont reua moult malement;
qu’ä chascun homme que il a or viuant,
i gisent mort trois ou quatre el pendant.
une loee tienent li mort gesant.
n'i a de terre vuide demi arpent,
n’ait Sarrazin ou Creslien gesant,
hiaume ou escu ou espee trenchant
ou bon destrier qui son seignor atent.
Hiamon le voit; ä pou d'ire ne fent.
tint Durendart qui si trenche forment.
qui il consuit, de sa vie est noient;
mort est enfin sor qui il la descent:
car li paien a trop d’efforeement,
et Durendart trenche trop malement.
se rois Hiamon puet viure longuement,
ocestra France, se diex ne la deflent.
Grant fu l’estor; onques tel ne vit hon.
conte vos ai du riche roi Hiamon,
qui en l’estor fet tel destrucion.
mes or oez de Girart le baron,
qui se conbat d’aulre part en un mon.
Beoues et Claires et Renier l’enffancon,
ä grant merueille i fierent Borguengnon.
ınes tant i out de la geste Mahon,
contre un des nos sunt bien quatre gloton.
voit le Girart; si s’apuie A l’arcon.
de sa main destre s’apuie a son menton.
de chaudes lermes li molle le guernon,
et de sa bouche ambedui Iı forcon.
“dex” dist Girart, “par lon sainlisme non,
je vinge, sire, par vos en Aspremon.
de tant france homme i a fet norricon,
don je vos fis ier matin liuroison.
ne vos en sai traire plus lonc sarmon.
por nos morustes, et nos por vos morron.
frans cheualiers, des or nos eflforcon.
rendons ä dieu tot ce que li deuon.”
et cil responnent “volentiers le feron.
iln’ia plus, mes, or nos quemandon
ä ceu seigneur qui soflri passion,
qu'il nos garise de mort et de prison.”
Girart cheuauche par le champ dolerous,
cincante mil o lui de fereors.
lä ou il tornent, font paien dolerox.
mais qui soit liez ne qui que soit ioiox,
Karles est moult dolenz et corecoux
por ses amis qu’il voit des chies blox.
plus de quatorze entre dux et contors
ä lui acuerent alquant et li plus hors,
qui li demandent “sire, que feronos?
se or n’en pense Jesu le glorios,
perdue iert France; mes n’i aurons recors.”
moult en fu Karles dolenz et corecous.
ne ia n’eust enuers paien secors,
se ne fust dex et dan Girart le rous.
Grant fu la noise, et li estor fu fier,
et Crestien prennent ä esmaier:
car la leur gent voient si empoirier,
les eriz chaoir et la noise abessier ;
et si s’en fuient par les chans estraier,
ca dix ca vingt; n’i a homme en estrier.
par deuant Karle evos le duc Gaifier
de Lohereine, li enforcier Garnier,
li dus Antoines et Sanses et Renier.
le roman d’ Aspremont. 7:
n'i a celui, tant se seust gailier,
qui n’ait perdu son escu de quartier,
son hiaume fraint, et coupe son espie.
ne vienent pas, sachiez, de donoier,
mes de l’estor de damledieu vengier.
Karles les voit de l’estor reperier.
lors a tel duel, le sens cuide changier.
des euz du chief commence & lermoier.
qui don l'oist a damledieu tenchier.
“glorios dex” dist Karles au vis fier,
“qui m’as done ce people ä iostisier,
que ge voi ci deuant moi detrenchier
a cete gent qui point ne vos ont chier,
qui ne se veolent leuer et baptizier
ne vostre non aorer ne proier.
quant ge les pert par si grant enconbrier,
moult vos deuroit, sire diex, ennoier.””
a ces paroles evos poignant Ögier,
einc fers de lance el col de son destrier.
l’escu qu'il porte, ne fu pas si entier
qu’a nul france homme eust james mestier.
ses hiames brun iert au brans detrenchier
deuers senestre, fause l’aubere doublier.
le sanc vermel en couint ä raier,
que l’esperon en couint & mollier.
en son poign destre Cortain son bran d’acier.
dient Francois Alemant et Baiuier
“en cetui a nobile cheualier.”
Ogier parole, ou il n’out qu’airier.
“he Karles sire, pensez de l'esploitier.
or einz prismes un paien latinuer,
qui lor couine nos sot bien acoilier.
Hiamon ne deigne por son pere enuoier:
ainz se leroit toz les menbres trenchier.
et Sarrazin se ueolent esmaier.
enuoiez tost au tref un messagier;
n'i lessiez qui se puist aidier.
vienent as chans por lor amis aidier:
car s'il nos voient un petit esploitier,
ja lor verrez la fuie commencier.”
“Ogier” dist Karles, “bien fet & otrier;
hastiuement 1 couint enuoier.”
Par le conseil Ogier le fiz Gaufroi
.ra.. .Karles Droon et Andefroi.
“alez ä l’ost, seignor A grant esploi.
dites lor tot que il viegnent ä moi.
qui n’a destrier, si mont em palefroi,
ou acore ä pie tot le sabloi.”
et cil responnent “biau sire, & vostre otroi.’”
a tant s’en tornent par le quemant li roi,
et l’emperere cheuache o son corroi,
a vingt mil homme, qu'i mena auee soi.
Hiamon regarde parmi un brueroi;
si a choisi l’oriflambe li roi
et toz ses hommes qu’il auoit auec soi.
dist li paien “trop grant meruelle voi.
trop a en Karle orguel et grant desroi,
qu’ä tant de gent se veut conbatre ä moi.
trop me dist bien Balan ce que ge voi.
fel soie ge, se james le mescroi.”
Nostre emperere out moult le cuer dolent
de sa mesnie que il voit mort el champ.
a vingt mil hommes vint en l’estor poignant.
fiert un paien qui ot non Moridant.
V’escu li perce et le clauent li fent.
parmi le cors li mist l’espi& trenchant.
Karles trestorne; si referi Morant,
un aumacor; cosin fu Agolant.
el cors li bruise son escu en botant.
puis tret Joios; ne sai plus riche brant
fors Durendart; cele m& ge deuant.
deuers Affiique rocit un Aflriquant.
crie Monioie hautement en oiant.
“or i ferez, france cheualier vailliant.
defend& uos vers la gent mescreant,
que nostre honor nos vont si chalengant.”
Naymes le voit, li hardi conbatant,
si l’a mostre Anquetin le Normant,
Fagon li preu, Gaudin et Helinant,
et as barons qui la ierent estant.
“vez noslre roi, con il se va mostrant:
ce poise moi qu’il se met si auant.
se le perdons, nos n'i arons garant
que nous ocient Sarrazin et Persant.”
Ogiers et Naymes vindrent au roi poignant.
moult belement le vont aresonant.
“droiz emperere, por dieu le roi amant,
ne vos metez huimes si en auant.
se vos perdons, tiop remaindrons dolent.
tant seron nos hardi et conbatant
con nos sarons le vostre cors viuant.”
Karles respont “de ce n’i a noient.
D2
28
ja ne ruis viure tant con solez morant:
car ensement m’ociroient Persant.
ne place dieu, li roi de Belleent,
que je eschape, se vos iestes failliant.”
dont vet dus Naymes moult tendrement plorant.,
il et li autre, qui moult furent dolent,
lors s’en tornerent d’ilueques maintenant.
puis se refierent es Turs par mautalent.
de ce dix mil n’i a nul seiornant.
vingt mil paien ocient maintenant,
qui tuit crioient Mahon et Teruagant.
jusqu’a Hiameont s’en fuient tel sept cent.
li plus en vont lor boiaus trainant.
lor seignor voient; si li vont escriant
A he Hiamont sire, veci no finement.
Atoi uenons: car nos soiez garant.”
Hiamon l’entent; & poi d’ire ne fent.
tint Durendart sa entese le brant
tote mollie de si au poign de sanc.
par la batalle vet tost esperonnant.
fiert Anquelin, un preu conte vallian:
Karles n’ot homme gueres miuz conbalant.
li rois Hiamon le fiert par tel semblant,
onques de l’iaume ne pout auoir garant;
coife de fer ne li valut un gant.
iuqu’as espaules le vet tot porfendant.
oez merueille por dieu le roi amant.
li cors chai; tant ala tornoiant
que il reuint ariere en son soiant,
ses mains tendues au ciel vers oriant.
l’ame emporterent li ange en chantant.
Karles le voit, qui bien fu dieu creant.
he diex, que duel il en voit demenant.
Dolenz fu Karles (onques mes ne fu si),
quant il vil mort Anquetin qui chai.
il le regrete. “tant mar fustes, amı.
he sire dus, vos m’eustes norri,
quant tot Ji mont A estros me fallı.
por vos m’out en A Romme reculli.
la vostre terre a la moie verti.
onques nul homme mieuz autre ne serui.
se onques diex de nule rien m’ oi,
don li proi ge qu'il ait de toi merci.”
don brocha Karles. un Sarrazin feri,
por Anquetin iuqu’es denz le fendı.
“Monioie” escrie; “cheualiers, ferez i.”
BEKKER:
et il si firent quant il l’ont entroi.
li iosters fu de tot mis en oubli;
as brans d’acier sunt li chaple verti.
s’un pelitet se tensisent issi,
Sarrazin fussent iusqu’ä poi departi.
Grant fu l’estor, moult fist ä vesoignier.
mes des messages vos redoi acomlier,
qui sunt ale lor message noncier.
vienent as tres, commencent A noncier.
“or tost, seignor, venez Karlon aidier.
soz Aspremont est en grant destorbier.
et vostre ami en ont si grant mestier:
se tost ne fetes, nient est du reperier.
qui au besoign ne li uiendra edier,
Karles li rois le fera detrenchier.”
quant cil l’oirent, n’i voudrent atargier.
as armes cuerent seriant et escuier,
grant et petit, et vallet et huissier.
nes li naure& vont lor plaies lier.
es palefroi monta qui n’out destrier
chascun s’arma qui miuz poist esploitier.
qui n’a espee, baston quiert ou leuier,
pesant machue ou grant d’acier,
perches de isier
coupent et tendent doblier
goffanon font por paien esmaier.
en Rollandin ne fu
Haton apele G et Berengier
“baron” dist il, “pensez de l’esploitier.
or verrai ge certes qui m’ara chier.”
Rollans saut sus en un sommier;
ä son col prist un grant pel de quartier.
cort aval l’ost; si commence A huchier.
“or tost, baron, pensez de l’esploitier.
ge serai hui vostre goflanonier.”
dist !’un A l’autre “eist hon sera moult fier
et orguellos por estor commencier.”
du tref s’en issent tel quarante millier.
toz sunt meschin et bachelier legier.
ne faudront Karle por les menbres trenchier.
et Rollandis tot tens el chief premier;
de ioste lui Haton et Berengier.
diex, con il pensent d’errer et d’esploitier.
Hiamon d’Aufrique cuida bien esploitier,
qui lor cuida deu fere renoier
et Mahomet et orer et proisier,
+
le roman d’Aspremont. 239
qui ne vaut mie le monte d'un denier.
en cest message ne me weil plus targier.
de la bataille vos doı bien acomter,
de la grant noise et du grant destorbier,
et de Girart la chancon commencier,
celui du Frate, l’orguellios et le fier.
Or fetes pes, seignor, por dieu amor:
Je dan Girart dirai, le poignoior,
celui du Frate, le bon tornoior.
n’asembla mie as gens l’empereor;
mes ou Hiamont fist tenir s’oriflor,
lä vint Girart; o lui maint poignoior.
cine mil estoient ensemble d'un ator.
180 dıx mil estoient de la gent paienor.
” ]i dus Girart les assalli le ior.
diex le maintiengne, le pere criator,
que l’estandart conquist par sa valor.
Girart se fiert einz el conroi Hiamon.
soixante mil sunt o lui Borgueingnon,
li Griuoudain entor et enuiron.
or le gart diex par son saintisme non
que ne l’ocient li Sarrazin felon.
Girart parla et cria & haut ton.
“or m’entendez, et Claires et Beouon,
Renier, Hernaut et tres tot mı baron.
ne sommes mie lA ou nos solion.
s’un mien uoisin mouoit vers moi tencon,
tant aloit l’eure que nos racordion,
ou geu metoie, ou il moi, em prison.
si m’achacoit ä coite d’esperon,
ge reuenoie la nuit a ma meson.
mes ci paien olı nos nos conbaton,
se il nos chacent, dites ou nos fuiron.
nos sommes pris quel part que nos tornon.
iln’i a plus, mes or nos commandon
a ceu seignor cui baptesme tenon,
qui toz nos fist quant encor n’estion.
si vraiement con sofl'i passion,
nos defen hui de mort et de prison.”
ä ice mot que ci nos vos dison,
li dus Girart a brochie l’Aragon,
brandist la lance destor le gonfanon,
fiert un paien qui Maucabre out non.
Vescu li perce et l’aubere fremillon ;
en deus li part le foie et le poumon.
entre paien l’abat mort de l’arcon.
“Eufrate” crie, “or i ferez, baron.
li droiz est nostre: se diex plest, si veintron. ”
Girart du Frate s’est en haut escriez.
“ferez, seignor; onques n’i arestez.
un don vos ruis; ge veil queu me donez:
cel estandart Hiamont car mer rendez.
geu veoil auoir: tex est ma volentez.
se vos ne fetes, ves vos desheritez.”
dient si homme “est no sire deuez.
ce nos demande ou n’auons poestez.
se dex nu fet par se saintes bontez,
encor sera cist plet A mal tornez:
car tant i a de Sarrazin armez
qu’ä moult grant paine les aroit en nonbrez.
plus de cent mil en i a d’aprestez.”
Et dist Girart “Claires, alez auant,
Beuoue, Renier et Hernaut, mi enflant.
cel estandart vos requier maintenant.
se vos ne fetes, dirai vos mon semblant.
se ge en Borgoigne sui iamais reperant,
de toz vos fiez ne vos lerai plein gant.
desheritez en ierent vostre anflant.”
dient si homme “Girart se va desuant,
et nequendent fere estuet son commant.
sonnent ci grelle, et rehurtent auant.
tant ont feru et ariere et auant
que l’estandart vont si aprochant
qu’en ı porroit d’iluec geter un gant.
rois Maragons et li rois Esperant,
qui l’estandart auoient en commant,
quant voient, Frans les vont si aprochant,
grant poor ont quant les vont perceuant.
li uns ä l’autre le vet soef mostrant.
“bien nos dist voir li message Balant
que Crestien ierent preu et vailliant
et en bataille hardı et conquerant.
trop est Hiamon orgnellios et proisant,
qui se conbat sanz son pere Agolant.
on tel outrage ne fist mes tel enflant.
fust ci lı roi o tot le remanant,
vencuz fust Karles; ia n’en alast auant.
France eusons tot A nostre commant.
ja ne verra einz vif soleil cochant ;
de son orgueil porra voir semblant.
cete folie nos iert aperissant.
moult nos deuons tenir por non sachant
30 BEKKER:
qu’ä l’estandart auons demore tant.
que feson nos que n’en alon fuiant?”
A l’estandart sunt paien esperdu,
quant ont Girart le viel aperceu,
tote sa gent qu’apres Jui sunt venu.
dist !un & l’autre “trop auons atendu.
vez l’estandart iuqu’ä petit perdu.”
Girart du Frate li hardı conneu
a vois s’escrie “nies Claire, que fes tu?
Beuoue et Renier et Hernaut, ou es tu?
et mi baron qui 0 moi sunt venu.
se ne m’auez cel estandart rendu,
ne vos doi mes amistiez ne salu.
131! ne ja par moi, foi que je doi Jesu,
* ne seroiz mes en estor maintenu.”
quant Borgueingnon ont Girart entendu,
dedenz se fierent; n’i ont plus atendu.
as brans d’acier i ont maint cop feru,
qu’&a une lance en sunt ia pres uenu.
Grant fu la noise; les prez font retentir.
li Borgueignon s’i font tres bien oir.
lestandart veolent as Sarrazin tolir:
s’il le poient enuers eus retinir,
petit porroient puis Sarrazin garir
ne la bataille endurer ne soffvir,
que iuqu’ä pou nes estuise fuir.
lä veissiez fier estor maintenir,
paien verser, trebuchier et chair.
les genz Girart sorent tres bien ferir.
tant ont feru que pres sunt du sesir.
einz Sarrazin ne se pourent tenir.
la veissiez maint hauberc desartir,
maint Sarrazin parmi le cors ferir,
et maint cheual sanz son seignor foir.
Girart escrie por sa gent esbaudir.
“ mi france baron, or pensez du souffrir.
se ci morez, vous seroiz tuit marlır.
auec ses sainz vos fera diex seruir,
en Paradis coroner et florir.
illec arez tres tot vostre desir.”
dist Esperans et Maargons de Tir
“nos ne porrons plus l’estandart tenir.
vez le perdu; nos en couient fuir.
Hiamon no sire nos met el couenir.
tant puet li hons son seignor chier tenir
que il i pers quant vient au departir.”
ä ice mol ne pourent plus soffrir.
tornent les regnes; si pensent de fuir.
Fir sunt li criz, et li estor pesant.
Girart s’escrie “"Borguengnon, or auant.
li Griuodain mar iront detriant.
cil de Cosence, qu’alez vos demorant?
li Auernat mar alez deloiant.
cel estandart me rendez maintenant.”
et cil responnent “vos l’aurez, sire, esrant.”
lors se refierent as Sarrazin auant.
rois Maargon et li rois Esperant,
qui l’estandart auoient en commant,
tornent les regnes, et si s’en vont fuiant;
l’estandart lesent en mi le pre estant.
li Borguengnon l’ont sesi maintenant.
li duc Girart i meinent pie estant,
et si neueu l’ont desarme& errant.
“sire” font il, “or auez uo talent.”
Girart respont “grant merciz, bel anfant.
or ne plain mie que vos ai norri tant.
j'ai este fel: mes or vos ferai tant
por ce seruise, se sommes reperant,
tot mon tresor vos irai deliurant.”
Girart fu las qu'il out conbatu tant;
parmi le nes li vet le sanc reant.
plourent si homme, et le vont regretant.
et dist Girart "ja n’en alez plorant.
ce est por deu que nos soffrommes tant.
remontez tost, et si ferous auant.
querons Hiamont que ge miez ne demant.
Jesu de gloire, li roi de Bialiant,
nos iert A toz huimes ior bon garant.
le cuer me dit que nos veintrons le champ.”
Grant fu la noise, l’estrif et le content.
l’estandart out Girart tot voirement.
grant noise i a et grant bateclement.
Karles l’oi; si regarda sa gent.
Ogier apele, et Naymon ensement.
“j’oi moult grant noise en ce tornoiement.
li viel Givart se conbat moult forment.
se ge le pert, moult remaindrai dolent.”
et dan Girart ne s’ataria noient:
il en apele des suens desiqu’ä cent.
“cel estandart prenez isnelement.
ä Charlemaigne, enuers qui France apent,
de moie part li fetes un present.
le roman d’ Aspremont. 31
et si li dites qu'il ne s’esmait noient:
car ci paien vont moult afebloiant.”
et cıl responent “tol A vosti'e commant.”
Cil s’en tornerent ä coilte d’esperon
qui de Girart ont la quemandoison ;
vienent A Karle le pas et le troton.
salue l’ont; si l’ont mis & reson.
“diex beneie l’empereor Karlon.
de part Girart un present li feson
de l’estandart au riche roı Hiamon.
paien affoiblent; nos n’auon se bien non.”
“he dex” dist Karles, “par ta beneicon
gardez Girart de mort "et de prison.
baron” dist Karles, “entendez ma reson.
saluez moi Girart le Borguengnon,
et si li dites que nos l’en mercion.
se dex ce donne par sa beneicon
que ge repaire en France ä Monloon,
ge l’en rendrai tres bien le guerredon.”
li mes l’entendent; merueilles li fu bon.
“sire” font il, “a vo conge iron.”
“affant” dit Karles, “a dieu beneicon,
qu’i vos garise el Girart le baron.”
et cil retornent ariere A& la tencon,
ou Hiamont iert A la deffension.
de l’estandart ne seit ne ce ne non:
quant le saura, moult iert en grant fricon.
Durendart tint, et fet grant marvison.
fiert sor Francois en guise de felon;
tant en ocit, n'est se merueille non.
ce ior a fet dolent maint bon baron.
par la batalle vet poignant de randon.
un Franc encontre, qui fu ne de Loon.
de Durendart, don ä or est li pont,
l’a porfendu desiqu'einz el menton.
fiert ca et la si comme deuez hon.
eui il consuit, n’a mestier de poison.
A grant meruelle fu Hiamon bien armez;
tint Durendart, don li pont fu dorez.
Triamodes l’en a aresone.
“par foi, Hiamont, trop par as mal erre
quant sanz ton pere les A Karlon melle.
ä moult grant blame voir vos sera torne:
car ci Francois ne sunt mie emprute.
bien nos chalengent la lor grant herite.
ia ci damages n'en iert mes reslore.
perdu auez du mieuz de vo barne.
et car soit ore vostre olifant sone.
li rois l'orra A Rise la cite;
secora vos: la n’en iert Lrestorne.
ou se ce non, mal sommes atorne.”
Hiamont l’entent; si l’en a regarde.
“Triamodes” respont par grant fierte,
“par Mahon, oncles, il est bien auer&
quant que Balant m’a dit et deuise.
vos vos solez vauter em mon regne,
qui vos auroit outre la mer passe,
se vos trouiez Karlon en champ mesle,
por vo cor seul le m’auriez liure.
mauuesement le m’auez auere,
qui dites qu’aie mon olifant sone.
vos et li autre m’auez mal enchante,
qui prametez ou n’auez poeste.
mes s’en Aufrique sui james retorne,
et vos et il seront desherite.
j’ai pieca A Mahomet voe,
ja por Francois n'i ara cor sone.
ia voir n'istra mon ami reproue
qu’on en ma uie aie fet mauestE.”
es un paien cerant tot abriue.
de son escu out un quartier cop&,
de son hauberc ot un pan descire.
le sanc li iest tres parmi le coste.
sa regne est route et le fust troncone.
forment pert bien qu’en estor out este.
ou voit Hiamont, si l’en a escrie.
“que vos diroie? tuit sunt desbarete.
vostre estandart en ont 0 eus men&,
et si l'’ont ia & Karlon presente.”
Hiamon l’entent;; si l’en a regarde;
de mautalent a tot le sens mu£.
“tes toi” dit il, “lechierres nature.
ce n’est pas voir que tu m’as ci conle,
que Francois aient si fetlement oure:
car s’il estoient de fin acier trempe,
n’auroient il enuers moi poest£.
eil A qui (’ai mon estandart liure,
le me rendront par Mahomet mon de.”
et cil respont “c'est Lres tot trespase;
de l’estandart vos ont il deliure.
rois Maargons s’en est fuiant torne,
ei Esperans est en apres ale.”
32
Hiamon l’entent; por poi qu’il n’est desue.
moult dolenz s’en est desconforte.
tint Durendart, son riche brant letre ;
por lui venger est en l’estor entre.
Mahomet iure c’or iert guerredone.
fiert Priuorant, un cheualier membre
de la mesnie Salemon le barbe.
ä mont en l’iaume l’a sı bien asene,
tot li trencha quant qu'il a encontre.
jusqu’en la sele a Durendart cole.
se li destriers ne se fust trestorne,
Hiamont l’eust tres par miliu cope.
li tierz fendi iuqu’en mi le baudre.
152 de nostre gent a tel essart mene,
r.
devant lui fuient: car moult l’ont redote.
A voiz escrient “Karles, ou es al&?”
se ci deables vit longues par a6,
tuit serons mort; ia n’en iert trestorne.
France iert perdue ä tres tot nosire ae.”
A ice mot, que il out tant crie,
evos Ogier, qui ce out regard&,
de Danemarche le preuz et le sene.
conbateor out en lui esproud;
ıniudre de lui ne fu adonc troue.
tint un espid trenchant et afıle.
“dex” dist li dus, “par la toe bont£.
cist Sarrazin nos a hui tant greue.
une autre foiz l’ai ge hui encontre.
se nu requier, done aie mau dehe.”
point le cheual; si l’a esperon&,
et fiert Hiamont qui ne s’en a garde.
sor son escu li a tel cop done
qui tot enuers le trebucha el pre.
hauberc a bon, quant ne l’a dessafre ;
que Durendart li a du poign cole.
Ogier saut ius du destrier abrieue;
prendre la cuide. mais Hiamon l’a haste;
reprent s’espee, Ogier a escrie.
“par mon chief, gloz” dist Hiamon le fae,
“de vo cheual mar iestes desmonte.”
A grant merueille fu coreciez FHiamon,
quant voit tant Ture mort gesir el sablon.
reprent s’espee, lieue soi contr’e mon.
BEKKER:
dist A Ögier “or te tien por bricon,
qui contre moi te mez si a bandon.
or est bien droiz que aies gueredon.”
il passe auant ä icete reson,
et fiert Ogier sor son hiaume reon.
li dus guenchi; li cous va par enson,
ne l’empira vallissant un boton.
mes de l’escu li coupa un cornon,
reist li Ja chauce moult pres de l’esperon.
Ogierifuiprenzs ll
ee. ienifornes’abitasee.iH)
Ögier fu fier; out la chiere membree.
estent le brant; si l’a 4 mont leuee,
et fiert Hiamont. tele li a donnee
ä mont en l’iaume, en la cercle doree:
se Hiamont n’eust la teste trestornee,
jamais & Karle n’eust ior fet iornee.
sor son escu est l’espee colee.
tot li trencha si comme ele est alee;
mainte grant bende de fer en a coupee.
pres de la jambe de la chauce doree
en a cent mailes de l’espee copee.
desiqu’ä terre en est ä val alee.
s’ele fust longue, ja i fust bien entree.
Hiamont la voit; si l’a moult redotee.
dist ä Ogier “bone m’auez donee.
bien te connois A cele corte espee.
toz soit honiz qui tele l!’a trempee.
une autre foiz fui o toi A meslee.
tu ies prodon, ne te ferai celee.
se moi et toi volions l’acordee,
que tu lessasses la loi crestienee,
de Femenie t’estroit l’enor donee;
roi te ferai, corone el chief fermee,
quant ge aurai tote France aquitee. ”
“voir” dist Ogier, “onques n’en oi pensee.
en moi et vos n’aura ia deseuree;
si aura l’un einz la teste copee.
se ge i mur, ferai bone iornee:
em Paradis sera ma vie posee.
mes se tu muers, la toe estra dampnee:
car li tuen dex ne vaut une derree.”
“voir” dist Hiamont, “or est ta mort ıuree.”
*) S. Fierabras S.179a.
1
le roman d' Aspremont.
Que que Hiamont vet Ogier manecant
et il estoient illeques pie estant,
evos Naymon et Salemon poignant,
le duc Fagon, Gaudin et Elinant,
en lor compaignes mil hommes conbatant.
Ogier rescoustrent, le preuz conte vailliant ;
82 si li ameinent son destrier afferrant.
de totes pars vont Hiamont auironant.
il li demandent. ....
. tot li .mont apendant. *)
mes Karlemaine la me vee et deffent.
si ne fust honte ä moi el ä ma gent,
mande euse & Rise lä deuant
tot le secors qui lä vet seiornant.
il sunt moult plus par le mien escient
que amenai auec moi en cest champ.”
dient Francois “dex, soiez nos aidant.
qui cest riche homme auroit en son commant,
bien en poroit Karlon fere present;
n’estroit nul ior que n’en fussons auant.”
a ice mot leissent Jor parlement.
Hiamont assaillent et deriere et deuant.
mes li paien a moult le cors puissant.
entre ij euz pleine paume tenant
tret Durendart don bien trenche li brant.
eui il consuit, ne puet aler auant.
et ne porquant ne li vausist naient,
ne fust Aufrique qu'il va escriant.
auant i uint roi Moisant poignant,
Salatiel un moult riche amirant,
Cador d’Egypte li percreuz li grant,
Triamodes et li forz roi Balant,
et Sarrazin plus de mil et sept cent.
la veissiez un estor moult pesant.
Hiamont rescostrent: car il en i out tant.
et son destrier li liurent maintenant.
A la rescosse du riche roi Hiamon
vindrent li roi brochant ä esperon.
Triamodes vint & la cortencon
et fiert du Miles sor l’escu ä lion,
que il li perce l’auberc et l’auqueion
et ses samnis et l’ermin pelicon.
par mi le cors li mist le gofanon,
183
Tr
que la boele en chit einz u sablon.
Triamodes se mist el reperier.
qui li veist sa lance paumoier,
qui ne pooit ne fendrre ne ploier ;
iusqu’as espalles l’out fet en sanc baignier.
le duc Milon nos a mort el grauier.
a voiz s’escrie et commence ä huchier.
“he Hiamont sire, pense de toi vengier.
james ci dus ne nos merra dangier,
ne ne vendra contre toi guerreier.”
a tant evos apoignant Berengier.
troue son freire gisant mort seur l’erbier,
li dus Milon qui tant fist & proisier.
quant il le voit, le sens cuide changier::
s’or ne le venge, iamais ne s’ aura chier.
qui le veist l!’escu au piz sachier,
la grosse hanste tenir el paumoier.
Triamodes feri & l’encontrier.
einz li paien ne se sout si gaitier
que son espie ne li face baignier
par mi le cors et derrier essauier.
lant con tint lance, la fet mort trrebuchier.
outre dist il “dex te donst encombrier.
mort m’as mon freire: or en as ton loier.”
Triamodes gist, mort en mi le champ.
Hiamont le voit; s’en out le cuer dolent.
en son langage le vet moult regretant;
des elz du chief le pleure tendrement.
li alquant uont de sor le cors pasmant ;
entre lor braz le portent trainant.
es desrengiez et Richier et Morant.
l’un sist el bai et l’autre el baucant.
Morant fiert Macre d’outre Jerusalant.
parmi le cors li mist l’espie trenchant;
mort le trebuche deuant lui el pendant
et Cibrichier et.....
cosin Hiaımon et neueu Agolant
lesemalipier- gg
d...äpieli fer trespasse ... ant
montant,
. aubere iazerant
que la poitrine fiert le poign et le gant.
estort son cop, mort l’abat maintenant.
puis lor a mort Cador et Modulant.
sept en a mort Lres tot en un tenant.
*) S. Fierabras S. 171a.
Philos.- histor. Kl. 1847.
E
34
el Vapostoile, qui bien fu dex creant,
quant voit Richier vet si Turs grauentant,
leua sa men, de deu le ua seignant.
“dex” dist il, “peres, cest homme vos quemant.
garissiez le: car mestier nos a grant.”
Quant Hiamont voit ses bons amis morir
et voit des suens la champaigne courir,
tel duel en a, le sanc cuide marir.
dist A Balan “ que porron deuenir?
moult voi no gent mater et dechair;
la s Karlon ne la porrons garir.
ceus qui me firent hors de ma terre issir,
par qui cuidai ma bessoigne fornir,
voi deuant moi detrenchier et morir.”
“voir” dıst Balan “merueilles puis oir
que ge vos voi de si poi esmarir.
rois qui tant tient con vos deuez tenir,
et qui volez Karlon France tolır,
ia de gaaign ne deuez esbaudir,
ne de grant perte ne deuez esbahir.
celi deuez tot vos conseil gehir
qui ast vostre terre A tenir.
ge fui en France vo bessoigne fornir.
bien m’apercui aincois le reuenir
que Francois n’ierent mie gent por matir
et qu'il estoient de merueillos air.
il n’erent mie gent por espeourir.
ou ci viuront ou cı voudront morir.
vostre olifant ne deignastes tentir.
tart en irons sempres au par issir.”
Hiamont l’entent; si a fet un sospir.
prent l'olifant, ne puet mes consentir ;
sı l’a son& par merueillos air.
Rise fu loign, ne le puet en oir:
mes il a fet les fuianz reuertir,
quant l’olifant oirent retentir.
don commenca la noise A renforcir
et la bataille du tot A veuenir.
se dex
li Crestien cui dex plust garantır.
contre un des noz, ce saciez sans menlir,
sunt bien cine Turs de Damas et de Tir.
Hiamont fu grius et soupris de dolor.
son olifant sona par tel vigor.
trop fu loign Rise, la grant cite maior:
neu puet oir Agolant l’aumacor,
BEKKER:
ne les grahz oz qui lä ierent entor.
mes li fuiant pristrent tres tuit relor.
ä l’assemblee i out si grant dolor,
onques nul hon ne vit tel A nul ior.
moult en i chiet et des noz et des lor.
sonent ci grelle, ci cor et ci tabor.
grant noise meinent cheual et nussoudor.
et l’apostoile va criant par l’estor
“tenez vos bien, nobile gent Francor.
rendez vos tuit & dieu le criator,
qui nos trest hors de la grant tenebror.
qui en cest champ sera bon fereor,
toz si pech&, le grant et li menor,
soient sor moi: car or sommes au ior."
Grant fu la noise et meruellios li hu.
evos Ogier d'une batalle issu
d’entre paien, ou moult s’out conbatu.
il sist u bai qui de Chastele fu,
que il auoit l’amuafle tolu,
sa lance frainte et tolu son escu.
sans et poudriere l’ont si desqueneu
que nus nu voit qui l’ait reconneu.
et Sarrazin l’ont si pres porseu
qu’il ne seuent se il eroit en Jesu
por Crestiens don esloigni se fu.
Li dus Ogier cheuauche fierement,
par la bataille s’espee paumoıant.
Salatiel voit venir chaploiant
par la bataille et nos genz domaiant;
et tenoil l’arc de cor moult bien traiant.
ves ses saieles n’a nul homme garant.
morz est enfin de cui il en tret sanc.
“dex” dist Ogier, “biaus peres, roi amant,
con ai grant duel que ci glout dure tant.”
il s’abessa, prist un espie trenchant
en mi sa voie, ou le troua gisant.
encontre mont leva le fer luisant.
au Sarrazin est venu par deuant.
l’eseu li perce et l’aubere iazerant;
par mi le cors li mist l’espie trenchant.
mort le trebuche du destrier remuant.
Par mi l’estor e Nayme de Baiuier.
bien fu armez sor Morian son destrier.
n’a beste en l’ost plus fort ä estanchier,
ne cheualier, meins se sache esmaier.
fiert un paien, ne uout mie espernier.
le roman d’ Aspremont. 35
de soz la bougle li fet l’escu percier,
le blanc haubere rompre et desmeillier.
par mi le cors li fist le fer glacier;
mort le trebuche de l’auferant destrier.
don commenca li criz A enforcier
et la bataille du tot A commencier.
Grant fu la noise et li cri et li brin,
quant ä l’estor reuindrent Sarrazin.
tuit s’esbahirent, Francois et Sarrazin
et Loheren, Normant et li Morin.
Karles meismes en tint le chief enclin ;
tenca ä dieu si con fust son voisin.
“he dix” dist Karles, “qui d’eue feis vin
et conuerlis saint Pol et saint Fermin,
souflervez vos de vo gent tel train
que vostre loi soit ä paien enclin?
se de ce champ traien paien & fin,
iamais en France n’orra messe A matin,
einz m’ocirai A mon brant acerin.”
adonc plorent maint riche palain.
au duel qu'il meinent et au pesant hutin
es Andefroi apoignant le chemin.
ou qu'il voit Karle, si s’escrie & haut brin
“que te dementes, Karles le fiz Pepin?
ne t’esmoier de la gent Apollin.
secors le vient, mes n'est mie frarin,
en un conroi quaranle mil meschin.
n'i a un seul tant poure miserin
qui n’ait enseigne ou de soie ou de lin.
el premier chief ton neueu Rollandin
et Berengier, Haton et ton norin.
ceus conperront li cuuer Bedoin.”
Quant Karlemaigne Andefroi en entent,
qu’ä lui secore venoient si anflant,
quarante mil arme en un tenant
ä peis ä armes et ä maint arc traiant
(coutiaus et haches et pestraus vont portant.
et de venir se vont forment hastant),
deu en mercie, nostre pere puissant.
greignor merueille out Karles de Rollant,
de Berengier, de Hatonet l’effant.
“he dex’ dist Karles, “biau pere, roi amant,
ge les euidoie en France lä deuant.
quex bon eurs les va ca conduisant.”
Karles esgarde; si les voit aitant
d'une valee, moult grant noise fesant.
du bruit qu’il maineut, et ge la noise grant,
en retentissent li pui et li pendant.
Karles l’entent; s’en’out le cuer joiant.
leua sa main, de dieu les va seignant.
Tant cheuaucherent li gentil escuier _
et li message et tuit li chamberier,
que Karles out lessie au tref derrier,
qu’en Aspremont commencent & puier.
lor gofanons n’eirent mie trop chier;
li plus en sunt de toile et de doublier.
qui les veist quant vint ä l’aprochier,
a grant merueille se puist d’eus seignier.
l’un porte pel, et li autre leuier,
l’autre macue qu'il prist el cuisinier.
li alquant portent grant maches d’alier,
que il ont fet de dos parz aguisier ;
li alquant maces et granz coutiax d’acier.
ce semble deels, ce soit un bois entier.,
Rollant soeit le ior sor un sommier;
n'i out poitral ne cengle ni estrier.
ne ne seit tant ferir ne manecier
que il le puist de som pas efforcier.
ce fet Rollan desuer et marvoier,
qui moult se peine de son bon oncle aidier.
puis i out il le ior maint bon destrier.
Droes d’Estampes iert lor gofanonier.
vienent au champ ou out grant destorbier.
Rollandis garde; s’a veu un destrier.
son somier lesse; si saut sus par l’estrier.
un paien mort vait l’aubere despollier.
du dos li tret; si s’en vet haubergier.
un hiaume d’or troua en un senlier:
cel hiaume fist ä la teste lacier.
espee nule n’i uout onques ballier:
car il n’ert mie encore cheualier.
mes il sesist A deus mains un leuier.
sept foreins homnıes en feissent leuier.
Rollant iert ieones, mes fort estoit et fier.
ensement s’arment Hates et Berengier
et tuit li autre qu’armes puent ballier ;
qu’assez en trouent el auant et arrier,
2 dont lı seignor gisent mort en l'erbier.
quant sunt arm&, Rollan prent & huchier.
“pensez hui mes, baron, de l’esploitier.
chascun tant vaille con s’il iert cheualier.
querez vos peres par ce grant destorbier.
E2
36
s’il ont besoign, bien lor deuez edier.
en l’enor dieu qui tot a ä iugier,
ferrai paien por eus ä domagier.”
vint en la presse; si commence ä maillier.
fiert sor ces hiaumes ä deus mains du leuier.
dedenz les froise; si embarre l’acier.
vont lor les testes et les cos par derier.
deuant lui fet paien aclaroier.
dient paien “mai ait ce charpentier.
par Mahomet, moult fet a resoignier.”
Rollan retorne vers les anffanz arrier.
“Monioie” crie. “ferez, france cheualier.
mes oncles Karles dorra chascun mollier.
lä veissiez tant meschin eslessier
et sor paien ferir et chaploier,
et tant hauberc derompre et desmellier,
tant Sarrazin morir et trebuchier.
a ice poindre en chiet quatre millier,
qui n’auront iames de redrechier.
paien esgardent, voient l'ost espoissier,
la gent Karlon acroistre et aloignier.
dist l’un A l’autrre “confort u’i a mestier.
mande a Karles son riere ban arier.
ne nos i vaut ne ferir ne lancier.
fuions arier: car n’auons d’el mestier.
Hiamont no rois mar i uint tornoier.
bien nos dist voir Balan le messagier
que Karles iert trop posteis et fier.
soe estra France; nus ne l’en puet chacier.
n’auons nul droit de se honor porchacier.”
a ice mot prennent ä desrengier;
fuiant s’en vont li gloton pautonier.
Hiamont regarde et auant et arier,
et voit des suens la place aclaroier
et les batalles refuser et plessier,
ca dix ca vingt foir et esloignier.
de mautalent cuide vis esragier.
il point auant por sa honte uengier,
et crie Affrique, et fet moult grant tempier:
car il cuidoit ses hommes ralier,
quant sor lui print Girart a cheuauchier,
Beoues et Ulaires et plus de vingt milier
de bone gent qui moult font ä proisier.
Hiamont d’Aufrique fu moult hardiz et os,
fort et puisant; assez out pris et los.
quant voit sa gent si fuiant et desclos,
BERKER:
voit bien que Frans l’ont en toz lieus enclos,
et ses amis voit par le champ toz mors.
tel duel en a, ne puet auoir repos.
tint Durendart dont li brant fu mignos.
fir Anseis, un duc de grant conplos.
le chief li trenche et la char et les os.
deuant les piez en chai ius li cors.
mes n’i li vaul; ia n’ı aura confors,
qu’au dos le sieut Renier Qlaires et Bos
et tant maint aulre A rotes et & flos
et Karlemaigne ä tres tout son eflors.
se il le tienent, mal sera ses depors;
le chief perdra, ce sera ses escos.
Va s’ent Hiamont corecous et dolent,
enz en sa main sa lance paumeant,
quant voil sa gent de totes pars fuiant.
por un petit ne s’ocit o son brant.
destrier out bon isnel et remuant:
il n’out mellior desiqu’en oriant.
lez une roche s’en vet Hiamont fuiant,
ä soi meisme meruellios duel fesant.
n’enmeine o lui ne mes le roi Balant
et Sinagon et li fort roi Gorhant.
“Balant” dist il, “ge cuidai valoir tant.
maluesement m’est hui aparissant,
a moult grant tort aloie ceus blasmant
qui desloerent A mon pere Agolant
que coronez ne fuse en son uiuant,
fox est li hons qui trop croit son anfant.”
Balant respont hautement en oiant
“he Hiamont sire, que te vas dementant?
estes vos dame qui plaigne son anfant?”
Va s’en Hiamont (n’i a que corecier)
soi quart de rois qui moult l’auoient chier.
qui li veist sa lance paumoier,
qui ne pooit ne fendre ne ploier.
souent s’apue al col de son destrier ;
ploroit ses hommes que morz lessoit arier.
de son grant duel neu seit nul conseillier.
Karles le suit et li Danois Ögier,
li dus Girart et Naymes de Baiuier
her Rollandis et tuit li escuier.
“ “baron” dist Karles, “nobile cheualier,
vez la Hiamont et cel escu d’or mier.
soi quart de rois en cuide reperier.
s’or nos eschape, poi nos poons proisier.
le roman d' Aspremont. 37
or tost apres pensez de l’enchaucier.
et ge meismes vos voudrai ge edier.”
lors l’aeuillirent; si lieuent le poudrier.
et li sıır roi n’ont soign de l’atargier.
Hiamont meismes pense moult de coitier.
soz Synagon estanche son destrier.
“he Hiamont sire: car me venez edier.”
et dit Hiamont “ne me sai consellier.
Synagon voi son cheual estanchier.
mes meslres est; si me norri premier.
se ge le les, gi aurai reprouier.
. „. „ Francois nos siuent par derrier.
loign sunt li autıe le tret ä un archier.
car les alons ore descheuauchier.
se poions un cheual gaaignier,
& Synagon poist auoir mestier.”
et dist Balant “n'i yaut riens li pledier.
lessiez ester; pensez tost de coilier.
se il i uienent, n'i aurez en pallier.
ne vos couiegne morir ä lor chacier.
il n’em prendroient ne argent ne or mier.”
Hiamont nes uoul par seul itant lessier.
brandist la hanste et broche le destrier,
et voit ferir du Naymon de Baiuier
einz en la targe, el primerain quartier.
desoz la bougle li fet fendre et pereier.
fort fu lauberc; ne le pout empoirier,
neu pout en char ferir ni empoirier.
mais il li fist les deus arcons vuidier.
Naymes le voit; le sens cuide changier.
il saut en piez, bien se cuide vengier,
et tret le brant que li dus out tant chier.
fiert Synagon qu'il encontra premier,
& mont en l'iaume qui reluist d’argent mier.
coife ne broigne ne li vaut un denier;
le chief li fet voler en mi l’erbier.
Quant Ögier voit le duc Naymon chau,
de duel et d’ire a le cuer esmeu.
le cheual broche, brandist l’espie molu,
et fiert Gorban ä mont en son escu.
desoz la boucle li a fraint et fendu
et le haubere desmellie et rompu.
par mi le cors li a l’espie costu.
mort le trebuche en mi le pre herbu.
quant voit Hiamont que si est auenu,
son seneschal et son mestre a perdu,
de grant dolor a le sanc commeu.
Durendart tint, ä Ogier est venu.
“ glot” dist Hiamont, “ailliors Vai hui veu;
tant m’auras hui greue et confondu.
moult sui dolent quant ge nu t’ai rendu.”
Durendart hauce ä moult par grant vertu;
ferir le cuide par mi le hiaume agu.
Ogier guenchi, qu’il ni a pas feru.
sor son arcon est li branz descendu ;
au cheual coupe le chief deuant le bu.
Ogier descent, du cheual est issu.
se Hiamont l’eust bien ä plein consiu,
la mort Gorhan lı eust chier vendu.
Quant Balant voit cete dolor mortal,
son fiz Gorhan voit mort sor le terral,
A cuer en out un deol issi coral,
ne puet mot dire, einz broche le cheual,
brandist la lance au fer oriental,
fiert Karlemaine l’empereor roial.
l’escu li perce: mais il out auberec tal
qu'il ne crient arme ne acier ne metal.
et l’emperere referi le vasal.
n’en pout tenir ne cengle ne poitral.
de son destrier l’abat el sablonal;
terrox en out son bon hiaume ä esmal.
puis siut Hiamon parmi le fonz d’un val.
porcoi le fist nostre roi natural?
ne reuendra; si aura tret fort iornal.
Or fu Balant chau de son estrier.
il saut em piez, n'i ot que corecier,
qui se cuida reprendre a son estrier.
mais li dus Naymes li vint ä l’encontrier.
V’espee trete, li ala chalengier.
li rois Balan retret Je brant d’acier,
qui se cuida vers le duc ostagier,
quant i soruint li bons Danois Ogier,
Estoz li enfes, Haton et Berengier.
et Rollandis out brisie son leuier;
encor en out un Lroncon tot entier.
ä Karlemaine aura encui mestier.
Balant voit bien, ne s’i povra edier.
dist ä Naymon “estez, dan cheualier.
que porviez en ma mort gaaignier?
185 se ge trouase duc Nayme de Baiuier,
r L, AR
ge me feise leuer et baptizier.
ge sai moult bien que li dus m’a tant chier
38
qu'il me feist A ma mort respiter.”
et dist due Naymes “qui es tu, cheualier?”
“sire, ge sui Balant li messagier,
qui fui en France le message noncier.”
“diex” dist dus Naymes, “toi puise gracier.
Ogier” dist Naymes, “por dieu ne le tocier:
onques nus hons ne m’out si grant mestier.”
Et dist du Naymes “ies tu ce don Balant
qui si m’ edas vers le roi Agolant,
ou me iugoient Sarrazin et Persant ?
tu m’en tresis, la toe merei grant,
et me deis que cres en deu creant.
voudras tu deu tenir son couenant?”
“oil voir, sire, de cele ore en auant.”
et Rollandin par mi le champ poignant.
tant out coru le destrier aflervant,
ne puet aler, soz lui va recreant.
treue Morel le suen le a tant.
monlez i est: car mieuz cort et destent.
son oncle suit ä esperon brochant,
qui vet Hiamont ä grant esles chacant.
“Damledeu pere” dist Naymes de Bauier,
“com mar vi ainz cest estor commencier.
perdu i ai mon seignor droiturier,
et auec lui Morel mon bon destrier.
se deu n’en pense, le pere iustisier,
au departir i aura enconbrier.”
Naymes s’asist par de lez un rochier;
tot li viaires li commence ä changier.
Li dus Ogier a lez destre garde.
voit son escu qui vit en mi le pre,
que Hiamont a tres par mi tronchone,
et son cheual qui iert par mi coupe,
et soi meisme moult durement naure.
de mautalent a un sospir gele.
ou voit Naymon, sil’en a apele.
“que feron nos, france cheualier membre?
vesci Balant, qui s’est uers nous torne.
bien croit en dieu que Juis ont pene.
veistes vos de ce des
du roi Hiamon qui resenble maufe.
moult m’out hui tot mon fort escu ... .
et mon cheual par milieu troncone.
185
2.
BEKKER:
ne s’en vait mie esgare,
la lance el traltre et l’escu acole.
et nostre rois le suit tot arole.
s'il l’apercoit, ia n’en iert trestorne,
juque li uns iert & l’autre ajoste.
et s’il assemblent, ia n’iert trestorne
juque li uns aura le chief coupe.
alons apres por deu de maest£.
vez le cheual Balant tot apreste,
et Berengier m’a le suen presente.”
einz plus ni out de lor bouche parle;
sont li baron sus les cheuax monte.
mes ainz qu'il l’aient ne veu ne trou&,
sera il si de son cors agreue,
ne voudroit estre por tote serite.
Karlon cheuauche, ...2........
. . calorze piez auant. *)
de lez un tertre, soz un rochier pendant,
choisi d’Hiamont le vert hiaume luisant,
qui s’en aloit ä esperon brochant.
Vet s’en Hiamont, ou n’out que corecier.
change est l’ore de si con el fu ier.
hier matinet, quant vint ä l’esclerier,
auoit Hiamont soz lui ä iustisier
par sept foies cent mil Turs & ballier ;
et or n’enmeine le peor escuier.
o il sunt mort, ou il sunt prisonier.
foi s’en sunt li sain et lı entier.
Karles cheuauche, mes il nu puet ballier.
li rois en iure li pere droiturier
qu’i ne lera en nul leu l’auersier
qui tant baron li a fet martirier.
por coi le fist, biau pere droiturier?
encui en iert en si grant destorbier:
se dex neu fet, n’en porra reperier.
et Rollandis le suit par de derier;
son bon parent doit en auoir moult chier.
va s’en Hiamont; si auale un rochier.
el fonz d’un val, desoz un oliuier,
sort la fontaine. moult i ot bel grauier.
Hiamont la voit, prent la & couoilier;
ne cuida mes qu’en le doie chacier.
bien a Lroi iors, ne se pout aaisier :
*) S. Fierabras S.178b.
le roman d’Aspremont. 39
tant entendi toz tens & tornoier
que ne li lut ne boiure ne mangier.
en mi le pre va sa lance atachier,
a l’oliuier son escu apoier.
lors descendi; s’aregna son destrier,
mist ius son hiaume s’espee et son espier.
a la fontaine s’est ale apoier.
lı rois en but, qui en ot grant dessirier.
einz que du tot se peust razasier,
evos Karlon, qui descent du rochier.
entre les armes se mist et le destrier.
mes einz Hiamont ne se sout tant coitier
que ıl tant face que puise reperier
& son cheual ne ses armes baillier.
de ce se prist Hiamont ä vergoignier.
“paien” dist Karles, “ne te chaut d’esmoier
que hons soupris ait par moi enconbrier.
or pren tes armes; si monte en ton destvier:
car la fontaine te vien ge chalengier.
mar en beustes; vos le comperrez chier.”
Hiamont l’entent; n’i ot qu’esleechier,
quant ä ses armes puet auoir recourier.
errant les prent; n’a soign de l’atargier,
V’escu, l’espee et le trenchant espier.
de pleine terre est salliz el destrier;
puis commenca l’escu ä enbracier.
ou voit Karlon, seu prent ä esregnier.
“Certes” dist Karles, “ci a fiere bargaigne;
soef a terre qui issi la gaaigne.
ne puet fallir que li plet si remaigne,
li quex que soit, au partir ne s’em plaigne”.
Challes parole o le viaire cler.
“vassax” dist il, “ge te veul coniurer
par ce seignor que tu doiz aorer,
qui te dona tel empire & garder
con te vi ier en ce camp amener?
par sept foies les fis cent mil armer.”
et dist Hiamont “ge nu vos quier celeır.
rois Agolant mes peres, qui est ber,
qui a cincante reaumes A garder,
et ge li doi son pueple en ost mener.
il est mes peres; si me fist coroner.”
“vassax” dist Karles, “moult es gentil et ber.
ber, car te f& baptizier et leuer.
eroi en celui qui se lessa pener
einz en la croiz por son pueple sauuer ;
qui fist la terre et le ciel et la mer
et les estoiles et les oisiaux voler.
moult par auras grant honor ä garder. "
Hiamont l’entent; sel prist ä regarder,
qui plus fu fiers que lieparz ne sengler. »
“dan roi” dist il, “bien sauez sarmoner.
il vos parra encui au deseurer.
se issi poez sanz meschief eschaper,
quant a vostre ost en puissiez retorner,
icelui dieu don ge vos oi parler,
saurez moult bien seruir et enhorer.”
“Rois” distHiamont, “moultas fole membrance,
qui de tes diex me fez ci ramembrance.
par Mahomet, qui tres toz biens auance,
qui me dorroit tot le mont en balance,
ne guerpiroie mes diex ne ma craance.
mes d’une chose puis fere ma vantance.
riche present m’as aport& de France,
tes cleires armes, ol mout a de boubance.
se nes conquier par escu et par lance,
ia nu frans hons n’ai ia en moi fiance. ”
Karles parla, qui en dieu a fiance.
“he diex” dist il, “qui par tot as puissance,
car me donnez de ce paien veniance,
qui m’a ocis par grant desmesurance
maint gentil hon, dont ai au cuer pesance.”
torne sa main, lieue sa connoissance;
et rois Hiamont encontre lui s’auance.
“Par Mahomet’ dist il, “dan cheualier,
pechie vos fist cele eure commencier.
ne sui pas homme qui on doie chacier.
tıop vos poez fier en vo destrier,
qui vos a fet vo gent si esloignier.
n'es pas arme en guise de fornier:
car moult auez riche haubere doblier,
et en cel hiaume voi verdoier l’acier.
tu ne fus onques enfes A pautonier.
gentix hons ies; ne me pues pas noier.
je sai tres bien des que vi l’aprochier,
que sanz mes armes ne me deignas tochier,
einz me lessas monter sor mon destrier.
tu m’as serui; or l’aura ia mestier.
ge ten lerai sain et sauf reperier,
mes que les armes te couendra lessier.
et se voloies le tuen dieu renoier
et Mahomet aorer et prier,
40
ge te voudroie moult richement paier:
tot tes lignages i auroit recourier. ”
dist l’emperere “fort est A commencier.
trop volez ore por noient gaaignier
mes cleres armes et mon corant destrier.
moult me cuidiez soutement engingnier.”
“con as lu non” dist Hiamont, “cheualier?"
Karles respont “ge neu te doi noier;
par un paien n’iere ia mencongier.
ge ai non Karle; si ai France & baillier;
si sunt 4 moi el Normant et Pohier
et Loheren, Mansel et Berruier
et Alemant et Frison et Bauier
et Braibencon et tuit li Hernoier.
de si qu’ä Rome ai tot ä iustisier.
venu lä sui contre toi ostagier.”
Hiamont l’entent; n’i ot qu’esleecier.
dist A Charlon “or ai ce que ge quier.
tote ma perte ne pris mes un denier.
tres tot mon duel voudrai sor toi vengier.”
Et dist Hiamont “ies tu ce Karlemaigne
qui m’as tolu tante riche compaigne,
tant riche roi et tant riche chastaine
et tant riche hom de la terre loigntaigne?
or te deffent sanz nule demoraigne.
sor toi chaleign et Calabre et Romaine
et Lombardie, Baiuiere et Alemaigne,
Borgoigne France Normendie et Bretaigne,
Poitou Gascoigne et jusqu’as porz d’Espaigne.”
“ Vassax’” dist Karles li rois emperial,
““ » damledeu le pere esperital
et de mon cors le chalon herital
ne doi tenir de nul homme charnal
ne mes de deu le pere esperital.
ge vos defi quant vos ne dites al.”
lors s’entreuient ambedui li vasal.
lances beissies, as fers poiteuinal
granz cous se donent communal.
les escuz percent par desus le bouglal.
tant roidement corurent lı cheual,
et tant sunt fort li dui roi par igal,
que de lor seles vuidierent lor estal.
ne les retint ne cengle ne poitval
que li dui hiaume fichent el sablonnal.
tuit sunt terrox de si qu'es el nasal.
Hiamont saut sus; si a tret Durendal,
BExKKER:
et l’emperere Joiouse la roial.
bien se requierent li dui roi natural.
Li dui roi sunt orgueillios et puissant,
de grant richece orgueillios et manant,
fier et hardı et bien entreprenant.
tant con la nue et |ı ciel vet corant,
ne sunt dui roi qui tant soient puissant.
li uns est sires par deuers occident,
li autres est rois par deuers oriant.
entre ces deus a un orgueil si grant
que tot li pires ne prise l’autre un gant.
Hiamont escrie “Karlemaigne, or entent.
es tu mes hons? di moi seen as talent.
rendras tu France? car me di ton talent.
et croiras tu en mon deu Teruagant?”
“neni” dist Karles; “ne m’en vigne talent.”
a ces paroles resaut Hiamont auant;
fiert Karlemaigne un ruiste cop pesant
a mont en l'iaume el premier cop deuant.
se ce fust autre, ia ni eust garant
que duqu’as denz ne l’alast porfendant.
mais l’iaume Karle estoit fort et tenant.
une pierre out sel nasal par deuant,
que dex auoit done vertu si grant,
ne dotoit homme un denier valissant.
Karles li rois, qui douce France apent,
vefiert Hiamont (nu vet mie espargniant)
ä mont sor l’jaume (nu va pas esparnant)
que flors et pierres en vet ius grauentant.
186... es li brant vet A ual esclicant
2.
par mi l’escu qu’il out & or luisant,
que un quartier li ala ius raiant.
se or n’alast l’espee en esclichant,
feru eust Hiamont le pie deuant.
selonc la iambe en vet le cuir rasant,
que de la chauce n’i out onques garant.
li sanc en ist soz l’erbe verdoiant.
jusqu’ä la terre vet le brant ius colant.
Greins fu Hiamont; si out la chiere marrie.
quant voit son sanc, de mautalent formie.
tint Durendal qui toz iors est forbie.
fiert Charlemaine & dos lez de l'oie.
pieres ı out des le tens Geremie,
qui nostre sires dona tel seignorie
que ia par arme ne sera emporie.
le hiaume Karle ne maimast d’une alie.
le roman d' Aspremont. 41
Hiamont le voit, n’a talent que il rie.
tret soi ariere, s’espee a ledengie.
“he Durendal, mar fustes vos forgie.
porte uos ai los ten grant seignorie.
de vos pris lo... e de ma cheualerie.
puis n’en feri nul homme en ma uie
qui deuant vos em poist ... . ure mie.
einz mes n’ oi ge mestier de vostre aie,
et or vos voi si forment redoisie
ne trenchiez mes ne qu’une coignie.”
Hiamont et Karles se tindrent en la pree;
espees tretes se tindrent d’une alee.
l’un saut A l’autre; moult i out grant meslee.
li rois de France Lint Joiose leuee;
enuers Hiamont l’a par trois foiz getee.
la mellior broiyne li a ront et fausee.
en ij lius a Hiamont la char copee.
voit leli tin... . mie ne li agree.
Hiamont li a Durendal regetee.
refiert en l’iaume mainte dure colee;
ne l’enpoira vailliant une derree:
car dedenz l’iaume auoit enscelee
une grant piere, que dex out tant amee,
ä cui dex out tant de vertu donnee:
tant con el soit el cercle enseelee,
niert empoirie valliant une derree
l’iaume Karlon a la cercle doree.
vegarde Hıamont; s’a la pierre visee,
que dex auoit la grant vertu donnee.
tost la quenut, mais paint ne li agree.
puis dist en bas, ä parole serree,
“he Durendal, A tort vos ai blasmee:
n'est pas merueille s’estes si redoisee.”
Moult est Hiamont dolenz et plein d'air,
quant ıl ne puet le hiaume desconfir
et Durendal voit arıer resortir.
ne puet Karlon son corage courir,
que par sa boche ne li yoist tot gehir.
“rois Orestiens, moult par ai grant desir
que ge te puisse de l’iaume dessesir.
tant con ces pierres puissent desus gesir,
ne te puis ge empoirier ne ledir.
mes s’or te puis a mes dos poinz tenir,
ge te ferai de male mort morir.”
or ot bien Karles se en le puet ballır.
s’or ne le garde dex et le saint espir,
Philos. -histor. Kl. 1847.
james en France ne porra reuenir.
Hiamont voit bien que plus ne li vaudra::
con plus en l’iaume Karlemaigne ferra,
et Durendal plus li resortira.
mes se il puet, iuqu’ä pou li toudra.
“Karles” dist il, “ne vos celerai ia.
par Mahomet, merueilles vos ama
qui de cel hiaume les pierres vos dona.
moult valent mieuz, certes teles i a,
que le harnois que ge amenai ca.
ne puet morir nus hons qui sor lui j’a.
mais par Mahon, il ne vos demorra.”
Karles respont “se dex plest, si fera.”
A la fontaine, soz l’oliuier follu,
sunt li dui roi fierement conbatu.
einz par dos rois ci grant estor ne fu.
Hiamont fu forz et de moult grant vertu.
Karles le fiert du brant d’acier molu.
son hauberc a fause et desrumpu;
endroit les costes l’a naurd et feru,
qu’en quatre lieus en est le sanc issu.
Hiamont le voit; si n’a plus atendu
qu’i li ait le hiaume as dos mains esıneu.
Mahon en iure, ne se prise un festu
se de la pierre qui a si granl vertu
n’a Karlemaigne maintenant desuestu.
Hiamont aiert Karlon & poil quernu,
et l’emperere retint lui par le bu.
moult ruistement se sunt des poinz feru.
tant a l’un l’autre sachie et estendu
17 Que li paien a li hiaume tenu.....
z. et poure gent destruire et violer.
cil ne doit mie corone demander.”
dist Papostoile “ce doit on escouter.
qui sens veut querre, ici le puet trouer.
li emperere me fist por vos aler.
une merueille vos veut li rois mostrer.
onques nus hons n’oi de tel paller.”
Li apostoiles et Karles et Girart
et auec eus estoit Balan li quart;
mais nus des autres ne sauoit de cel art.
ä quatre foiz tant con l’en tret d’un arc
de l’ost s’en issent ensemble ä une part.
dist l’apostoile “entendez ca, Girart.
soz ce pomel, ou cel escharbougle art,
poez voer la merueille du fart,
F
42
mainte galie, mainte nef, maint chalart,
et l’ost d’Aufiique, qui de Rise se part.
quatre batailles estre lor estandart.
se damedieu ne prent de nos regart,
nos i perdrons einz que li Giu depart.”
Dist l’emperere, qui moult ot le cuer noir,
“Balan, biau frere, f& moi aperceuoir
que lor estoire puisse de ci voer;
car volentiers saroie Jor poier.”
“volentiers, sire, solonc le mien espoir:
car volentiers veil lor perte voer.
ge qu’en diroie? einz que voiez le soir,
le porrez bien ä vos dos euz voer.”
Et dıst Balan “sire rois, entendez.
se vos auoir cete terre volez,
si cheuauchiez, ne vos asseurez.
o se ce non, la terre deliurez.
il la prendront, se vos vos en fuiez.”
quant ce oi Karles, tot fu resuigorez.
li rois li a les braz au col getez.
apres li dist “se issı vos lenez
que nostre loi ne froisiez ne lausez,
toz iors seroiz mes druz el mes priuez.”
Li duc Girart commenca ä parler.
“baron” dist il, “fetes moi escoter.
le mien conseil ne vos doi pas celer,
tot le mellior qu’en moi porroi trouer.
fetes, biau sire, parmi cel ost crier,
viegnent auant li legier bachelier,
que nous solons escuier apeler
as seles metre, as cheuax conreer,
ceus qui porront en champ armes porter,
l’iaume lacier et l’auberc endoser.
res toz les fetes cheualiers adober.
se damlediu nos done retorner,
vos lor ferez tant de terre doner
dont il porront lor haubere gouerner.
et ge iral ma gent reconforter:
car d’autel chose les veil aresoner.”
et dist li rois “bien le veil craanter.”
quatrre serianz fist maintenant monter,
qui vont par l’ost les noueles conter.
Li seriant montent, n’i ol qu'esleecier,
qui vont par l’ost les noueles noncier.
viegnent auant li bacheler legier,
cil de coisine, seneschax, boteiller
BExKKER:
et damoisel iugleor et princier,
et tres tuit cil qui se puent edier.
en cest bessoign seront tuit cheualier.
se dex en France les lese repairier,
Karles li rois lor fera tant ballier,
toz lor lignages i aura recourier.
qui done oist vallez esleecier,
ces escuiers iurer et afıchier
que tuit sunt mort ci cuuert pautonier.
Par tote l’ost est la nouele alee;
quatre serianz l’ont mainlenant criee.
cil qui vendront o Karle en la mellee,
l’aubere vestu, la ventalle fermee,
se dex l’enmeine en France sa contree,
sa grant richece lor iert abandonee,
que lor lignie en iert tote aleuee.
he dex, quel ioie il en ont demenee.
dont i fist lä le soir mainte criee
les uns as autres consellier A celee
que Sarrazin ont fet male iornee.
Rollandin a la nouele escoutee:
Estoz li a et Berengier contee.
Grant fu li bruz, onques tel ne vit hon,
que font paien li encrieme felon.
Estoz de Leugres, Berengier et Haton
A Rollandin dient qu'il la feron.
“li rois nos lient longuement em prison ;
en l’ost gison pourement con garcon.
n’a en cest ost escuier ne geldon
ne damoisel ne poure valleton,
se il veut armes, que il n’en ait le don.
alons sauoir s’ausi nos les auron.
s’i nu veut faire, si nos porchaceron.”
137 Rollant respont “a dieu beneicon.”
Rollant monta moult aireement;
son conpaignon auec lui ensement.
li roi trouerent moult escheriement
for seul du Nayme Ogier et Graalent.
li rois sospire moult angoissosement.
l’eue du cuer li monte es euz deuant;
a val la face contre val lı descent.
Naymes li dist soef et belement
“sire, lessiez cest descofortement.
n'afiert A roi de si grant tenement
que ıl demeint si fet dolosement.
tost porriez desconforter vo gent,
le roman d' Aspremont. 43
et en duel fere ne gaaigniez noient.
ei vez ici les vassax em present
qui armes voelent auoir nouelement.
vos lor donez tost et deliurement.
se dex lor done proece et hardement,
vengeront vos de la gent mescreant.”
““Naymes” dist Karles, “vos dites vos talent.
quant nos venimes el champ premierement,
que rois, que dus, que contes ensement,
que de hauz princes de fier contenement
auons perdu sor la paiene gent.
bien douze contes et princes iusqu’ä cent,
don dex a fet le suen commandement.
or me couient reuerlir ä tel gent
qui seolent estre en coisine souent,
li mangier fere et estre chanbellenc.
par un petit que li euers ne me fent.”
et Rollandin el pauellon descent.
ou voit du Nayme, par le mantel le prent
et le Danois par noel d’argent.
puis lor a dit tres tot cortoisement
“que dit li rois, et qu’a il en talent?
tendra nos il em prison longuement?
en l’ost venismes o lui si powrement.
ge cheuauchai un cheual dur et lent;
dedans ma boche n’a une sole dent
qui ne me duelle moult dolerosement::
tant ont hurte ensemble durement.
et en cest host n’a si poure dolent,
s'il veut auoir armes et garnement,
que l’emperere ne li doist liement.
se il A nos ne vet fere ensement,
bien le sachiez tres tot cerlainement
que ne serons mie o Jui longuement.”
et li Danois par les faces les prent;
ses a besiez soef et docement.
“seignor” dist il, “or ne dotez noient.
vos aurez armes tost el isnelement. ”
Entre du Naymes...... ISO
Bee Ah lo; le vet sus redrecier. *)
Li emperere a fet par l’ost crier
que le malin, sanz plus de demorer,
chascuns se face baignier et conreer.
or redirons de dan Girart le ber,
qui ä ses hommes s’en prist ä retorner.
Va s’en a cort Girart le fiz Boson.
il descendi au mestre pauellon.
contre lui vindrent-si prince et si baron,
qui li demandent du riche roi Challon.
respont li dus “ıl ne fet se bien non.
155] n’a en lost escuier ne garcon
Tr
ne damoisel ne vallet ne guiton,
se il veut armes, qu’il n’en ait le don.
tot aulresi veil ge que nos facon.”
et cil responnent “ä dieu beneicon.”
Or entendez con Girart esploita.
ses dos neueuz et ses fiz apela,
et ses barons, tant con o lui mena.
“seignors” dist il, “qui nos conseillera?
conseil nos donst qui doner le sara.
nos ne sauons que Agolant fera,
se il s’en fuit ou s’il nos atendra.
cheualier soit qui estre le voudra.
il aura terre, quant cheualier sera,
se dex me meine arrier ou ge fui ia.”
quant cil oirent que terre lor dorra,
dist l’un & l’autre “dex quel seignor ci a.
toz soil honi qui ia ior li faudra.”
li viel Girart tant en aparella:
quatre cens furent le ior qu’il adouba.
Au tref Hiamont fu Karles li membrez.
moult ot le ior de vallez adobez.
li uns as autres consellierent assez.
moult par est Karles et cremuz et dotez,
qui tant barons a eci assemblez.
mes einz que eussent les quatre iors passez
ot Agolant si grant ost assemblez,
que, se tuit cil estoient assemblez
et que il ot auec lui amenez
fussent tres Luit et pain et char et ble,
n’eusent pas lant vitalle d’assez
dont chascun Tur peust estre disnez.
Al tref Hiamont ot Karles grant barnage,
et cheualier i ot de maint lignage,
par cui il fet proesce et vasselage.
onques n’ı ot aconte nul parage;
°) S. Fierabras S.151b.
44 BEKKER:
et s'il est sers, quites iert de seruage.
mes ne dorra, ne lui ne son lignage,
ne par sa lerre ne treu ne passage.
Karles les claime quites de treuage ;
deu et saint pere lor en done en ostage.
“assemblez vos ä cele grant sauage.”
et cil responent “nos lor feron hontage.
voiant vos euz en feron tel cheuage
don ia n’aront restor& lor damage”.
Or ’fetes pesi. 1.0.0.0. &:
2.2... du fort roi Agolant *).
ses rois manda, et il vindrent auant.
“Baron” dist il, “moult me vois merueilliant.
li fet Hiamon semblent estre d’enfant.
par ııı foies s’est conbatuz em champ
qu’einz n’en oimes ne mes ne contremant.
tolu li ont Mahon et Teruagant
et Apollin et Jupiter le grant.
destruit a Karles de la nostre gent tant:
ja restor€ n’iert en nostre viuant.”
Emipiezisiendxecenrer. ee.
OO OR . comment veut esploitier. **)
oez que fist Karles o le vis fier,
qui ses batailles ot fetes arengier.
ses nies Rollant fu el conroi premier ;
Ogier le duc out & gonfanonier,
et auec euls furent bien sept millier,
tres tuit jeone homme et bacheler legier.
Vne autre eschiele fist li rois Salemon,
et Angeuin et Mansel et Breton.
et en la tierce mist on li roi Droon
ıs9de Normendie..... antetB. ou.
“ serre cheuauchent senz noise et senz tencon.
La quarte eschiele fist Desier de Pauie
et li quens et li dus Geremie.
Richart li preuz fu en lor compaignie,
qui les paien durement contralie.
einz nule eschiele ne fu plus esbaudie.
paien manacent; nes asseurent mie.
En la quintaine est Naymes de Baiuier,
Richart li preuz, qui moult fist & proisier.
et l’apostoile ne se vout atargier
de ceus qu'il ot sor lui & iostisier.
einz n’i remest ne que ne botellier,
ne chambrier, senescal, ne usier,
clerc, ne chanoine, ne prestres de mostier,
por coi fust tex qu'il se peust edier,
don l’apostoile ne feist cheualier.
ja se il puet, n’i aura reprouier
que il ne voist el grant estor plenier.
La siste eschiele fist Girart o ses fiz,
et Gondebues et Mienz de ses norriz.
et li Englois et Normant s’i sunt mis.
et l’emperere a un bastoncel pris;
s’a ses batailles et ses conroiz assis.
Or vet li rois sa gent aparellier,
unes et unes ses batailles rengier;
en sa main tient un baston de pomier.
et li message n’ont pas soign d’atargier.
Galindres porte un ramsel d’oliuier;
ce senefie qu'il estoit messagier.
soz le mantel auoit le bran d’acier.
ses crus ot fet menuement trenchier,
qui li batoient iuqu’ä l’arcon premier.
sor les espaulles les ot fet arengier.
Ulien sist el vos liart destrier.
ses pesanz d’or nu peust esligier.
soz ciel n’a dame, tant feist ä prisier,
por qui | amast un pelit le mestier,
ne si deust soflrir A donoier.
Or vet li rois ses batailles vengant;
unes A unes les vet amonestant.
einz ne fina; si vint A renc deuant.
Ogier apele hautement en oiant.
“Ogier” dist il, “tenez moi conuenant
de mon neuou, por ce quel sai enfant:
car nule rien n’aime ge atretant.”
et dist Ogier “sire, ce dit Rollant:
ia en se vie n’ara Je cuer ioiant,
se il ne ua le premier cop donant.”
“par foı” dist Karles, “ge l’otroi et creant.
ä damledieu et ä toi le quemant.””
li rois le seigne; si Iı dist en plorant.
et li message ne se vont areslant;
un et un vont les conroiz Lrespassant.
einz ne finerent iusqu’au conroi plus grant.
°) S. Fierabras S. 152.
*) S. Fierabras S. 180b.
le roman d’ Aspremoni.
li vies Galindres parla premierement;
ou voit li roi, siu va aresonant.
“cheualier freire sor ce cheuai ferant,
mostrez moi Karle l’empereor puissant.
je nu quenois; por ce le vos demant.”
il rois respont hautement en oiant
“voi me ci, freire; ne me va plus querant.”
dist li paien “assez en voi semblant.
ne vos salu, que ge ne vos pris tant.
a vos m’envoie li fort roi Agolant.
envoiez li Mahon et Teruagant
et Apollin et Jupiter le grant,
se volez viure seinz nul terme prenant.”
“amis” dist Karles, “atempre ton talent.”
Li mes parolent, ne se volent Largier,
a Karlemaigne qui France a & ballier.
et dist Galindres “nos sommes messagier ;
si vos venons un message noncier.
nos quatre dex nos fetes tost ballier ;
mar les veistes; vos le comperroiz chier.
et si nos fetes cent sommiers caballier,
d’or et d’argent tres bien aparellier.!
aulant puceles, que ia n'i ait mollier,
qui por puceles se puissent derengnier ;
qu’il enmerra por sa terre aaingier,
si que chascune soit fille & cheualier.
nus piez, en langes vos couient despollier :
si aiderez le treu ä chargier.
n’ı poez mie la corone lessier.”
Karles respont “ci a moult dur mestier ;
d’aler ä pie me se petit edier.”
“Tor et largent ce vos couient lessier,
nostre loi prendre et la vostre lessier.
Agolant a entor lui tant princier,
tant aumacor et lant roi droiturier,
qui si vos voient enuers lui souploier,
que tuit iront A Agolant prier
que il vos voille la corone lessier.”
“par foı” dist Karles, “de noient vos oi pledier.
> l’or et l’argent vos couient ä lessier.
ja s@ ge, puis n’en arez un denier,
einz l’aront cil qui l’osent gaaignier.
et des puceles ira si grant dangier,
soz ciel n’a home qui les poist porchacier.
les quatre diex metrons en resploilier.
a mes barons en fis tot l’or ballier ;
en
©
n'i remest teste ne membres ä trenchier.”
qui dont oist Galindres manecier,
le raım d’oliue estreindre et embracier,
et Uliens les soreis abessier.
ses veissiez es estrius afıchier
que tot en font le cuirien aloignier.
par un petit n’en font le fer bruisier.
Moult furent fier (nu mescreez vos ia)
li dui message qu’Agolant enuoia
& Karlemaine por oir qu’il dira.
l’un a parle, li autre pallera.
dist Uliens “dan roi, entendez ca.
rois Agolant qui ä vos m’enuoia,
soe est Affrique, cele terre de la.
en cest pais, quant il i ariua,
Hiamont son fiz deuant lui enuoia.
ses quatre dex ensemble o lui porta.
un mois tot plein enfuerre demora.
vos li tolites, quant il s’en retorna.
rendez les lui: li rois le nos manda.
et le treu si con le mand6& a.
se vos nu fetes, sauez qu’en auendra.
pres sui: querez qui vos en defendra
que vostre lois la nostre aclinera.
vois Agolant forment iurd en a
qui vos querra tant qu’i vos trouera.
tot droit a Rome batant vos enmerra;
Hiamont son fil ilec coronera ;
vostre corone sor le chief li metra."
“certes” dist Karles, “se dex plest, nu fera.
l'or et l’argent tres tot nos remandra;
et des puceles sauez qu’en auendra?
A nestre sunt celes que il aura.
ses fiz Hiament est coronez pieca
a la fontaine ou Rollant le lessa. ”
Respont Galindres “sire rois, enten moı.
auez vos gent fors ce que ci er voi?
moult en voi poi en cest premier conroı.
par Mahomet, que ge aor et proi,
les arınes furent as genz de nostre loı.
Mandaquins est nies Agolant le roı:
il a vingt mille de bone gent o soı;
partiz des autres Jes meine en son conroi.
s’il vos encontre, fera vos grant desroi:
tuit seroiz pris con oiselet em broi.”
Li dui message furent moult espris d’ire.
2
46
dist Uliens “dan roi, lessiez moi dire;
tot soauel en atemprez vostre ire.
voir vos vienent trois cent et soixante mile.
mes au riuage auon lessie l’empire,
qui le tresor gardent et le nauire,
et ä garder la plus bele roine,
qui noche d’or portast a sa poitrine.
en cest Jeu vient por vostre loi destruire.
volant vos euz les verroiz toz ocire.
mes li rois veut que lant vos lest en viure
que de ses mains relenreiz le martire.”
Li emperere n’i vout plus demorer.
let l’apostoile et dan Girart mander,
et ses neueuz et ses fiz amener,
le due Ogier et Salemon le ber.
A une part du champ les auet fet torner.
“baron” dist Karles, “fetes moi escouter.
vez les messages Agolant d’outre mer.
etä dieu etä vos ne veoil de luı clamer.
Jor quatre dex me vienent demander;
et cent sommiers lor facon aprester,
et autre tant puceles assembler,
si que puceles les puisse l’en prouer,
prestes, garnies de cheualiers amer.
et en Auffrique m’en veut o lui mener.”
li baron l’oent; n’out en eus qu’airer.
Li emperere et tuit si cheualier
des mes se prennent entre eus ä merueillier.
li viel Girart ne s’i vout alargier.
en haut parla: car moult ot le euer fier.
“bharon” dist il, “ne vos doit ennuier
se ge parol deuant vos tot premier.
soixante anz ai des l’entrer de feurier,
que ge soi primies mon hiame deslacier.
envoiez tot de soz cel oliuier
ou vos feistes le roı Hiamont lessier.
le braz li fetes et la teste trenchier.
itel treu li fetes enuoier.
soz ciel n’a homme qui tant face ä prisier,
ne se deust durement ennuier,
ne se deust durement corecier.
ıgoquant le saront li Sarrazin guerrier,
” il entendront lor grant duel amener.
itant vos di, bien le puis afichier.
chascun de vos entende ä soı vengier.
puis cheuauchons sanz point de deloier,
BEKKER:
s’as primerain nos poons affichier.
cent dehez ait ijamais querroit mangier,
boiure de vin, dormir ne sommellier.
si les arens tres toz mis au frapier.”
il i enuoient et Bernart et Richier.
et cil monterent ; ne voudrent detrier.
“auez vos fet vo treu aparellier?”
“amis” dist Karles, “ge fez aparellier.’”
Li dui baron sunt einz el pui mont£,
a cui li rois l’ot dit et commande.
Hiamont vont querre, qui tant ot de fierte.
soz l’oliuier la ont lı ro: troue.
tot maintenant li ont le chief cope;
einz ne li orent le hiaume deferme&.
le braz lı trenchent IA ou l’auoit casse.
ne lı ont mie l’anel du doit oste,
ne son escu changie ne remu£.
il ont le braz ioste le chief pose.
don l’a Bernart A duc Richier mostre£.
ambedui montent; si s’en sunt retorne.
il ont les rens durement trespasse.
onc ne finerent de ci au mestre tre.
et li message auoient lant este
et ä Karlon et tencie et parle.
Li dui vasal sunt A pie descendu.
deuant li roi s’estoient arestu,
ou li message auoient tant estu.
li vieuz Galindres les a as euz ueuz,
le chief et !iaume son seignor conneu.
deuant parlerent: or sunt tesant et mu.
quant Ulien a le hiaume veu,
le grant anel enz el doi coneu.
einsi tres fort l’auoit Rollan feru
que li dui oil sunt de son chief eissu.
dist Ulien “Mahomet, que fez tu?
quant tu ne fez miracles et vertu.”
dist Karlemaigne “par foi, tu l’as perdu.
ier matin furent mes soudoiers rendu.
ä maux de fer et ä picois agu
orent les cors depeciez et rompu.
qui plus en out, poi en ont retenu.
manece m’as; ge l’ai bien entendu.
ge qu’en diroie? voi en ci le treu
que vos m’auez hui tant ameteu,
la teste Hiamont, son braz et son escu,
qui par orgueil s’ iert sor nos embatu:
le roman d' Aspremont.
car ia n’aura certes autre treu.
quant tu l’aras & ton seignor rendu
et ıl aura ce present receu,
don li demande s’i s’est aperceu
que folement est de sa terre issu.”
“Tlien frere’ dist Karles le vailliant,
“vos et Galindres m’aliez deloiant.
ce me diroiz au fort rei Agolant,
que le treu que il vet demandant,
les quatre diex qui erent d’or luisant,
l’or et l’argent et li sommier amblant,
et les puceles dont domages fust grant
qui em putage fusent tot lor viuant,
et ma corone qui est d’or flamboiant,
ja ne l’aura (por voir le vos craant)
tant con ge puise feriv de mon nu brant.
ses quatre dex que i va demandant,
mes soudoiers les deliurai errant,
qui lor bruisierent le costez et le flanc.
tres parmi l’ost les menerent batantı.
en lot mon regne ne sai un paisant
qui sı vile ait sa femme et son enfant
qu’i la liurast ä paien tan ne quant,
par nul auoir, par le mien escient.
mes le treu portez isnelement,
que France enuoient au fort roi Agolant,
l’escu et l’iaume et le chef son enfant,
et le braz destre et l’anel flamboiant.
ia ne uerrai einz nuit soleil cochant
de lui meismes en fere autretant.”
Ulien sist el ros liart ferant,
le veil Galindres sor un mulet amblant.
la teste vont lor seignor regardant.
par en son hiaume li vet li sanc issant;
si oil li gisent sor la face deuant;
par les orelles li ceruiax li espant.
Ulien plore; moult le va regretant.
droit a Karlon en est venuz ervrant;
si li a dıt hautement en oiant
“tenez mon gage mainlenant em present
ver le miudre homme qui soit en dieu creant.”
“amis” dist Karles, “atempre ton talent.
tu perz bien estre preudons A ton semblant.
1900r me diras au fort roi Agolant
v
“ que Hiamont a ce quiil aloit querant.
ge ai le cors le cheual et le brant
que ge ai done ä mon neueu Rollant.
or me diras au roi que ge li mant.
ge li enuoi le chief de son enfant,
le destre braz des le cote en auant.
s'auques l’amoit, le cuer aura dolant.”
Uliens a la targe regardee,
que Hiamont auoit en l’estor aportee.
jouste le braz vit la teste posee,
et vit la face teinte et descoloree.
trois foiz sospire; s’a la targe miree.
puis dist em bas, & parole serree,
“Hiamont Hiamont, ci a male iornee.”
dist a Karlon “d’ou te vint tel pornee?
tu n’as pas gent auec toi amenee,
de coi la nostre puist estre disnee,
se ele estoit por mangier conreee.
vostre grant joie ert a grant duel tornee.
ne vos lerons iuque ä la mer betee.”
“par foi” dist Karles “tieus iert la destinee.
a Agolant soit la teste portee;
ele n’iert mes A Rome coronee.
il a & tort sor moi la mer passee
et ma terre a essilid et gastee.
ja Agolant ne verrva la vespree:
ne porra pas fallir ä la meslee.
li quieus que soit en receura colee. ”
ä icest mot est la reson finee,
et li message ne font plus arestee.
la teste Hiamont ont prise ensanglentee;
si l’ont cochiee en la targe doree,
et le braz ont lez la teste posee.
puis s’en tornerent parmi une valee.
tistre et dolant mainte lerme ont ploree.
l’ost Karlemaine se fu lors conreee,
et l’une eschiele a Fautre deuisee.
soixante grelles ı sonent la menee.
le pelit pas out l’angarde montee.
et quant il vindrent dedenz l’autre valee,
voient la terre de totes parz comblee
de Sarrazins, cele gent defaee.
tant i en out par verild prouee
que ne poust estre par Crestiens nonbree.
n'i a Francois qui tant ait ioie amee,
ne qui tant l’ait dedenz son cuer plantee
que la poor ne l’en ait tote ostee.
Li mes cheuaucent sanz nes un demorıer,
47
48 Berker: le roman d’ Aspremont.
tant con il puent esrer ni esploitier.
einz ne finerent iusqu’au conroi premier
que Agolant lor auoit fet rengier.
don Mandaquins estoit gofanonier.
il auoit fet sa gent aparellier
et ses batalles moult tres bien arengier.
ce fu icıl qui apercut premier.
por les noueles lor vint ä l’encontrier.
tot lor a dit, ainz ne vout detrier.
“bien soiez vos venuz, dan cheualier.
con se contient Karles o le vis fier?
a vos i fet nos quatre dex ballier?
il nes osast de noient empirier,
et le treu fet li acharoier.”
Galindres l’ot; n’out en lui qu’airier.
“Mandaquins sire, tu me fez ervagier.
as soudoiers ont fet nos dex ballier ;
ä max de fer les ont fet pecoier.
n’i remest teste ne membre A trenchier.
moult auions en eus mal recourier,
qui nos donoient quant qu’auions mestier.”
dist Mandaquins “ce poez bien lessier.
de tel parole ne soiez nouelier.
soz ciel n’a home qui tant face a prisier,
qui roi Hiamont osast par mal touchier.”
respont Galindres “ce poez bien lessier.
lixcorsiengeistaege Mens EU ken
sa 6 Tee qu’auions A garant. *)
*) S. Fierabras S.170b.
N —
Über
die, durch die griechischen und lateinischen Rhetoren
angewendete, Methode der Auswahl und Benutzung
von Beispielen römisch -rechtlichen Inhalts.
Vor
HH... E=BERKSEHIN;
annnnnnnnnNNANN
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 1. Juli 1847.]
D. frühesten Versuche der Forscher auf dem Gebiete der römischen
Rechtskunde, welche der Zusammenstellung der Materialien für die Ge-
schichte des Vor-Justinianischen Rechts, und insbesondere der Auffindung
von Überresten alter römischer Gesetze in den Schriften der nichtjuristischen
Classiker (!) zugewendet wurden, lassen nicht verkennen dass durch dieselben
die Glaubwürdigkeit der benutzten Gewährsmänner, und die Verlässlichkeit
der verschiedenen Gattungen ihrer Berichte, kaum ernstlich in Frage ge-
stellt worden sei. Am auffallendsten findet man dies bethätigt in der Be-
nutzung der bei den lateinischen Rhetoren, zumal bei jenen der späteren
: Zeit, anzutreffenden juristischen Notizen, gleichwie in der Ausbeutung der
rhetorischen Elemente, welche in der Darstellung der römischen Geschicht-
schreiber zu Tage liegen. Denn an eine Sonderung der, auf die Institutio-
nen verschiedener Zeitalter bezüglichen, Angaben ist um so weniger gedacht
worden, da man sogar der ungleich dringenderen Aufforderung nicht genügt
hat, die Berichte über einheimisches Recht der Römer von den Beziehungen
auf Recht und Sitte anderer Nationen zu trennen, oder die Andeutungen
über bestehende Regulative und einzelne gegebene Rechtsfälle nicht zu ver-
mengen mit den Postulaten von phantastischen juristischen Festsetzungen
und Anwendungen.
(') Es darf hier verwiesen werden auf die, überall zugängliche, Literatur der Samm-
lungen von Gesetzes-Fragmenten der R. Könige und der XII Tafeln.
Philos.- histor. Kl. 1847. G
50 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
Die Ergebnisse späterer Zeitabschnitte der juristischen Literatur-
Geschichte lassen freilich den gedeihlichen Einfluss der historischen Kritik
auf die Untersuchungen der römischen Rechtshistoriker überall gewahr wer-
den. Gleichwohl ist auch noch jetzt auf diesem Gebiete ein grosser Spiel-
raum geblieben für die Thätigkeit des Kritikers. Denn selbst in denjenigen
Abschnitten der Werke einiger römischer Geschichtschreiber, welche nicht
unbedingt unter der Herrschaft der rhetorischen Form der Darstellung stehn,
hat bisweilen die Einwirkung der Überlieferungen von Rhetoren sich gel-
tend gemacht. Und von besonderem Interesse ist es, durch eine Vergleichung
der Darstellung der nämlichen Gegenstände, denen man bei den lateinischen
Rhetoren sowie bei den classischen Juristen begegnet, die eigenthümliche
Methode anschaulich zu machen, nach welcher beide Gattungen von Schrift-
stellern den Stoff ihrer Behandlung wählen und auffassen. Gleichzeitig wird
dann auch sich herausstellen, welchen Einfluss die römischen Rechtsgelehr-
ten auf die Rhetoren geäussert haben, und ob vielleicht wiederum eine Rück-
wirkung dieser auf jene vorauszusetzen sei. Wir versuchen es, Andeutungen
zur Lösung dieser Aufgabe in dem folgenden mitzutheilen.
L
Die lateinischen Rhetoren selbst haben es wahrlich nicht verschuldet,
dass es nicht allen Lesern ihrer Schriften gelungen ist, die Verschiedenheit des
Masstabes historischer Glaubwürdigkeit für die, den rhetorischen Übungen
der Schule überwiesenen Stoffe, gegenüber den, auf den Ernst der gericht-
lichen Verhandlungen bezüglichen und aus den Erlebnissen des öffentlichen
Verkehrs geschöpften Mittheilungen, gehörig zu würdigen. Cicero hat in
seinen verschiedenen rhetorischen Schriften, theils in eigener Person sprechend
theils mittels Äusserungen, die er den namhaftesten römischen Rednern der
Vorzeit und der Gegenwart in den Mund legt, wiederholt hingewiesen auf
die Nothwendigkeit, den Übungen in den Rhetoren-Schulen hinsichtlich der
Zwrichtung und Behandlung der Stoffe eine Freiheit zu gestatten, deren An-
wendung bei den Verhandlungen vor Gericht eben so unpassend erscheinen
als verderblich ausschlagen würde. (2) Auch ist damit leicht zu vereinigen
(?) De oratore. II. 24. Verum ut aliquando ad causas deducamus illum, quem institui-
mus, el eas quidem, in quibus plusculum negotii est, iudieiorum atque litinm, — hoc ei
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 51
seine strenge Rüge der Methode geschwätziger griechischer Rhetoren. (3)
So partheiisch nämlich Cicero die Verdienste der einheimischen Redner in
Schutz nimmt, (*) so verfehlt er gleichwohl nicht die Griechen überall als
die oratorischen und rhetorischen Vorbilder der Römer anzuerkennen. (3)
Und wenn er die gleichzeitigen griechischen Lehrer der Rhetorik, deren
Unterricht der künftige gerichtliche Redner in Rom anvertraut wurde, oder
auch wohl in der Heimat der namhaftesten Redner und Philosophen Grie-
chenlands denselben aufsuchte, der Anwendung einer frivolen Methode der
Unterweisung beschuldigt, (%) so gilt eine solche Anklage lediglich dem
Misbrauche jener Freiheit des Disputirens und dem nachtheiligen Einflusse,
den derselbe auf die Erziehung der Zöglinge für das Leben äussern musste.
Über den Gegensatz der Quaestiones in scholis und der in /oro tractatae
verbreiten sich nicht minder die öfter wiederkehrenden kategorischen Äus-
serungen Quinctilian’s, (7) in denen man auch der Bezeichnung des in
primum praecipiemus, quascunque causas erit acturus, ut eas diligenter penitusque cogno-
seat. Hoc in ludo non praecipitur, faciles enim causae ad pueros deferuntur. Lex pere-
grinum vetat in murum adscendere; adscendit, hostes repulit, accusatur. Nihil est negotii
huiusmodi causam cognoscere. Recte igitur nihil de causa discenda praecipiunt; haec est
enim in ludo causarum fere formula. At vero in foro tabulae, testimonia, pacta conventa,
stipulationes, cognationes, adfınitates, decreta, responsa, vita denique eorum, qui in causa
versantur, tota cognoscenda est; quarum rerum negligentia plerasque causas — videmus
amitti. Vergl. Orator. c.11.sq. c.15. c. 34. sq. c. 42.
(*) De oratore. I. 23. Quem tu, inquit, mihi Mucius, Staseam, quem peripateticum
narras? gerendus est tibi mos adolescentibus, Crasse; qui non graeci alicuius quotidianam
loquacitatem sine usu, neque ex scholis cantilenam requirunt, sed ex homine omnium sa-
pientissimo atque eloquentissimo, atque ex eo qui non in libellis sed in maximis causis,
et in hoc domicilio imperii et gloriae sit consilio linguaque princeps. Vergl. c. 11. c. 19.
sq. e. 22. ec. 24. sq. c. 44. sq. c.59. II. 3. sq. 7. sq. 18. sq. 30. sq. 36. sq. 84. III. 14. 18. sq.
21. 24. 28. sq. 32. sq. 36. Orator. c. 34. sq. c. 42.
(*) De oratore. I. 4. 6. 21. II. 1. sq. 28. III. 1. sq. 4. 9. Orator. c.4. sq. c.30. in Bruto.
c. 36. sq. Dialog. de caus. corr. eloqu. c. 22.
(°) De invent. rhet. I. 5. sq. 9. sq. 11. 35. 51. De opt. gen. orat. c. 2. sq. .De oratore. I.
4. 6. 54. II. 38. II. 7. 9. 32. 34. 56. sq. 82. sq. Orator. c. 7. sq. c. 31 sq. in Bruto. c. 7. sq.
c. 82. sq.
(°) Ebendas. c. 31. c. 90. sq. De oratore. II. 3. sq. 5. 7. sq. 18. sq. 30.
(7) Inst. orat. V.13. $8. 36. 42. 44. sq. VII. 2. 88. 24. 54. sq. VII. 3. 8.20. VII 6. $.1.
VII. 3. 88.22. sq. IX. 2. 88. 67. 74. 80. sq. X.1. 8.36. X. 5. 8$. 14. sq. 17. q. X.7. 8.
20. sq. XI. 1. 88. 38. 55. sq. 81.sq. XII. 2. $.8. XII. 11. $$.15.sq. In dem Dialog. de
G2
52 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
Frage stehenden Unterschiedes durch die Ausdrücke ficta und vera rerum
quaestio begegnet. (°) Es ist aber das Zeugnis dieses Gewährsmannes nicht
als eine blosse Wiederholung der entsprechenden Andeutungen Cicero’s zu
betrachten. Vielmehr beruft sich derselbe bei dieser Gelegenheit ausdrück-
lich auf die Autorität von Rhetoren aus der Regierungsperiode des K.Nero,
(?) nämlich auf A. Corn. Celsus und Seneca, (!") von welchem letzteren
übereinstimmende Auslassungen uns überliefert sind. (!!) Auch darf die
weiter unten zu besprechende Thatsache schon hier geltend gemacht wer-
den, dass Quinctilian vielfach auf die Erfahrungen aus der Zeit seiner eige-
nen Thätigkeit als gerichtlicher Redner Bezug genommen hat, (1?) zur Unter-
stützung der Selbstständigkeit seines Urtheils über den Confliet der An-
sprüche, welche Schule und Leben an den Redner richteten. Nicht weniger
begegnet man bei Corn. Fronto ('?) und Jul. Vietor ('*) gleichartigen
Andeutungen. Dagegen mögen die auf den hier besprochenen Gegenstand
bezüglichen Äusserungen der späteren Rhetoren (15) unbeachtet bleiben, da
in ihnen weder eine eigene Ansicht der Verfasser noch eine Hinweisung auf
die von denselben benutzten Quellen zu ermitteln ist. (1°)
Ungleich belangreicher als diese allgemeinen Auslassungen erscheinen
die bestimmten Anweisungen der Rhetoren über den Gebrauch der Freiheit,
caus. corr. eloqu. e.14. ist in entsprechender Weise das dec/amatorium studium den foren-
sia negotia entgegengesetzt.
(®) a.a. O. VII. 4. SS.10. sq. VIII. 5. $. 22.
(°) Vergl. J. C. F. Bähr Gesch. d. R. Literat. $$. 261. 263.
(‘%) a.a. ©. VII. 2. 88.19. sq. IX. 2. 8.42.
('') Nämlich in dessen Libb. controversiar. I. Prooem. I. 2. a. E. II. 11. III. in Prooem.
47. 21. a. E. IV. in Prooem. 28. a. E. 29. V. in Prooem.
12) Hier mag nur verwiesen werden auf diejenigen Stellen, an denen er das Verfahren
( 8 Js
der Rbetoren-Schulen seiner Zeit, namentlich der griechischen, tadelt. Ebds. XI. 3. 88. 57.
103. 160.
(®) z.B. in der Einleitung zu den Zaudes fumi et pulveris. (Reliquiae C. Frontonis.
Ed. B. G. Niebuhr. p. 254. sq. Berol. 1816. 8.)
(') S. dessen Ars rhetorica. (Juris civ. et Symmachi oration. partes. C. Julii Vi-
ctoris ars rhetor. etc. cur. A. Maio. Rom. 1823. 8.)
('’) z.B. Jul. Severianus in Syntomat. s. praecept. art. rhetor. (Antiqui rhetor. lat.
ed. Cl. Capperonerii. p. 331. Argent. 1756. 4.) S. Bähr a. a. O. $. 270.
('%) Ders. S$. 261. fg.
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 53
zu,den Disputir- Übungen der Schule fingirte Stoffe zu wählen, oder ge-
schichtliche Vorfälle zur bequemen Benutzung für diesen Zweck zuzustutzen.
Diese Regeln sind meistens durch hinzugefügte Beispiele anschaulich ge-
macht: vornehmlich aber dient zu ihrer Unterstützung die Vergleichung der
uns erhaltenen Überreste von solchen in den Rhetorenschulen veranstalteten
Disputationen. (!7)
Cicero verficht wiederholt die Ansicht, dass für die Wahl passender
Beispiele zu den Lehrsätzen der Rhetorik, und mehr noch bei der Be-
grenzung der Stoffe für die schulgemässen Redeübungen, der Gebrauch er-
dichteter Vorfälle und Rechtsregeln dem Rhetor nicht versagt werden dür-
fe. (1%) Auch sind andere namhafte Autoritäten als Vertreter derselben Über-
zeugung bei ihm genannt. ('?) In entsprechender Weise lässt Quinetilian
über diesen Gegenstand sich vernehmen; (?°) allein er hat nicht unterlassen
vor den Misbrauch jener Freiheit zu warnen, welche in seinen Tagen schran-
kenloser geübt zu sein scheint als es nöthig und rathsam war; (?!) wozu die
Nachahmung griechischer Vorbilder mag verleitet haben. (?) Besonders
nachdrücklich bekämpft er diese Verirrung, die den Redeübungen zu unter-
legenden fingirten Begebenheiten so unnatürlich und schaudererregend als
möglich auszuprägen. Eine solche Übertreibung, sagt er, schwäche noth-
wendig den Eindruck auf die Zuhörer, indem sie Ekel erregend wirke, wel-
chen Erfolg der gerichtliche Redner vor allem zu meiden habe (2°).
(‘”) Dahin gehören die Suasoriae und Controversiae des älteren Seneca, gleichwie die
Declamationen des Quinctilian. S. Bähr a. a. O. $$. 261. 266. Über das Zeitalter die-
ses Declamators Quinctilianus, und über die apocryphischen Bestandtheile der Samm-
lung von dessen Declamationen, ist zu vergleichen Trebell. Pollio in XXX tyrann. c. 4.
('*) De invent. rhet. I. 40. Deinde erit demonstrandum, — nos quod dicamus, facile
et commode transigi posse: ut in hac lege, (nihil enim prohibet fictam exempli loco ponere,
quo facilius res intelligatur,) „Meretrix coronam auream ne habeto; si habuerit, publica
esto!” Vergl. c.19. sqq. ce. 29. sqq. c. 42.
('’) In Bruto e.11. At ille (sc. Brutus) ridens: „‚Tuo vero, inquit arbitratu; quoniam
quidern concessum est rhetoribus emenliri in historüs, ut aliquid dicere possint argutius.”
(°) Inst. orat. III. 8. S$. 55. sq. V. 13. S$. 36. 42. 44. VIL. 1. S$. 14. sq. 21. 37. sq. VO.
8. 8.2. VIII. 5 8.22. IX. 2. SS. 42. 67. 85. sqq. X. 1. 8. 71.
(*) Inst. orat. IV. 2. 88. 97. sq. VI. 5. $. 22. IX. 2. 88. 67. 79. sqg. XI. 1. $$. 78. sq.
82. sq. Vergl. Dialog. de caus. corr. eloqu. c. 35. sq.
54 Dınksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
Der Einfluss griechischer Muster auf die Darstellung der römischen
Rhetoren, hinsichtlich der Auswahl fingirter sowie bei der Behandlung
mythischer und historischer Stoffe, zum Behufe der Bildung von Beispielen
und Disputations-Objecten, ist schon in Cicero’s Schriften nicht zu ver-
kennen. (2) Es beschränkt sich dies jedoch auf vereinzelte Anwendungs-
fälle und tritt gewöhnlich nur da hervor, wo die Eigenheiten der Darstellung
berühmter griechischer Redner geschildert sind, (*°) oder wo auf die be-
kannten Redeübungen der Rhetoren dieses Volkes verwiesen werden sollte.
(2°) Sonst ist das Bestreben Cicero’s entschieden darauf gerichtet, in seinen
dogmatisch -rhetorischen Schriften, dem für die gerichtliche Beredsamkeit
auszubildenden Zöglinge vorzugsweis Beispiele aus dem einheimischen Recht
und Ereignisse der vaterländischen Geschichte vor Augen zu stellen. Ab-
gesehen von der Topik, die einem bekannten Rechtsgelehrten seiner Zeit
gewidmet war, (27) begegnen wir dieser Erscheinung auch in den übrigen
von seinen genannten Schriften. Bisweilen geschieht darin der fremdländi-
schen Institute nur Erwähnung, um das Verdienst der in der Heimat gel-
tenden Einrichtungen desto entschiedener hervortreten zu lassen. (*) An
andern Orten wurde die Bezugnahme auf fremdes Recht durch den be-
sprochenen Gegenstand geboten, z.B. bei Fragen auf dem Gebiete des See-
rechts die Hinweisung auf die Seegesetze der Rhodier. (°°) Überall aber,
wo fremdländische oder auch wohl fingirte Beispiele herbeigezogen sind,
fehlt es nicht an der Andeutung für den Leser, dass die Darstellung auf
einem andern Boden als dem gewöhnlichen sich bewege. (°") Dagegen sind
die Thatsachen der römischen Geschichte, gleichwie die Niittberlungt von
er) Dan wiederum sein Verfahren den späteren Ridoen als Muster gedient hat, Met
zu Tage. Man kann auch die Worte Quinetilian’s (ebds. IX. 4. 8.79. „Et quidem Ci-
ceronem sequar, nam is eminentissimos Graecorum est secutus.”) ee anwenden, obgleich
dieselben in der vorstehenden Verbindung auf einen andern Gegenstand Bezug nehmen.
() z.B. De invent. rhet. I. 31. II.29. De opt. gen. orat. c.7.
)
(°) So wenn er von einer causa, quae apud Graecos est pervagata, spricht. De invent.
rhet. T. 33. 38. sq. vergl. 8.13. sq. 22. 49. Tadelnde Äusserungen über griechische Rheto-
ren findet man: De oratore I. 11. 19. sq. 44. sq. 51.
(?) Nänlich dem C. Trebatius Testa. S. Topic. c.1. c.19. c. 26.
(°®) z. B. Orator. partition. c. 34.
(°) De invent. rhet. II. 32. vergl. I. 30.
(°°) z. B. ebendas. II. 23. 29. 31. 49. 51.
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 55
Regeln des einheimischen Rechts, fast ohne Ausnahme mit gewissenhafter
Treue und ohne die Zugabe rhetorischer Ausschmückung wiedergegeben.(°')
Es fehlt auch nicht an der Verweisung auf einzelne berüchtigte Rechtsfälle,
juristische Responsen und gerichtliche Entscheidungen, (°*) von denen einige,
als der Gegenwart angehörend und die Interessen der redend eingeführten
Personen nahe berührend, sogar als bannale Beispiele öfter wiederkehren.(°°)
Ein verschiedenes Resultat gewinnt man aus den Mittheilungen der
auf Cicero folgenden lateinischen Rhetoren, (**) bei denen der überwiegende
Einfluss der durch ihre griechischen Vorbilder befolgten Methode nicht zu
verkennen ist. Quinctilian ist freilich vorzugsweis den Spuren Cicero’s
gefolgt, (*°) auf dessen Reden er überall verweist und aus dessen rhetori-
schen Werken er nicht blos die gangbarsten Beispiele entlehnt, sondern zum
Theil längere Auszüge von Textesstellen mitgetheilt hat. (°) Auch findet
man bei ihm Ereignisse aus der römischen Geschichte mit Genauigkeit an-
geführt und beiläufig Erfahrungen aus dem Bereiche seiner eigenen Thätig-
keit als gerichtlicher Redner besprochen. (?7) Dennoch tritt in den Einzel-
heiten seiner Darstellung der Einfluss der Methode antiker und moderner
griechischer Rhetoren fühlbar hervor. Er nennt nicht blos die griechischen
Autoritäten neben Cicero, (°°) er bedient sich auch regelmässig der, den
früheren sowie den gleichzeitigen Rhetoren, zumal dem Seneca (°*) ent-
lehnten, Beispiele griechischer Institutionen in der Übertragung auf die Pra-
() z.B. die causa Curiana, ebendas. I. 39. II. 6. 32. 54. Topic. c. 10. de invent. rhet.
II. 42. in Bruto c. 52. sq.
(*) Seneca controversiar. I. Prooem. II. Prooem. hat deren Namen verzeichnet und
eine Übersicht ihrer Thätigkeit gegeben.
(°°) Man stölst in Quinctilian’s Inst. orat. bei jedem Schritte auf Stellen, welche
das überschwänglichste Lob Cicero’s aussprechen. (Vergl. V. 3. $. 52. VIIL. 3. $. 64. VIIL
4. 88.4. 28. IX. 3. 88.89. sq. IX. 4. 8.79. X.1. 88.105. sq.)
() Ebendas. V. 11. 8.11. IX. 1. 88. 25. sq. 37. sq. IX. 3. 88.29. sq. IX. 4. 8.14. XL. 3.
88.162. sq. XI. 4. 8.14.
(7) a.a. 0. II. 5. 88.11.13. II. 6. 88.76. 84. III. 8. 88. 5.19. IV. 2. 8.7. VIL. 1. $$.
1
N
9.12. VII. 2. $.24. VO. 6. 88.9. sq. IX. 2. 88.73. sq. XII. 4.
(’”) In dessen Libri controversiar.
56 Dimxsen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
xis der Gegenwart; gleichwie er, nach denselben Vorbildern, (*°) den la-
teinischen Bezeichnungen einheimischer Rechtsgeschäfte den, durch griechi-
sche Rhetoren in den Schulen seiner Zeit verbreiteten, fremdländischen
Sprachgebrauch substituirt hat. (*') ‘Was aber bei ihm als die Ausnahme
und als ein unwillkührlicher Verstoss gegen die Überlieferungen der heimi-
schen Doctrin und Praxis betrachtet werden darf, das erscheint mit Bewusst-
sein angewendet und zur vollendeten Regel ansgebildet bei den Zeitgenossen
des älteren Seneca und den mit Quinctilian gleichzeitigen Rhetoren, sowie
bei jenen der späteren Zeit. Dieselben berufen sich nicht blos ausdrücklich
und mit einiger Ostentation auf ihre griechischen Führer; (*) sie haben
auch deren Methode sich angeeignet in der Wahl und Behandlung von Stof-
fen der Disputation und von Beispielen für ihre Lehrsätze. (*”) Die pro-
ponirten Rechtsfälle gehören regelmässig der Fiction an und verfolgen in
ermüdender Weise eine gleichförmige Richtung. Für deren Beurtheilung
wird entweder eine Rechtsregel ohne alle locale Färbung postulirt, (**) oder
(“°%) Ebds. z.B. 1.1.4. sq. I. 9.
() a.a. 0. II. 6. SS. 25. 74.77. V. 10. $$. 36. 97.107. VII. 2. 88.17. 25. sq. VII 3.
31.sq. VII. 4. SS. 4. > sq. 24. VII. 8. SS- 2.sq. VII.'9. 88. 88. sq. IX. 2. 8.79. XI. 1.
82. sq. Besonders kommt die folgende Äusserung in Ehen: VI. ® 8.11. „Qui-
bus similia etiam in vera rerum quaestione tractantur. Nam quae in scholis addicatorum,
un 52
SS-
Ss:
haec in foro exheredatorum a parentibus et bona apud Gentumviros repetentium ratio est;
quae illic malae tractationis, hie rei uxoriae, cum quaeritur „utrius culpa divortium factum
quae illie dementiae, hie petendi curatoris.” Vergl. $$.10. 24. sqg- 35. IV. 2. 8.30.
XI. 1. 8.58. Seneca controvers. II. 9. 11. V. 32. Cur. Fortunatianus Art. rhetor. I.
Se ERET,
p. 67. Suidas v. Kazwsews dien.
29
sit!
() z.B. Sulpie. Victor. Institution. orat. p.279. (Lat. rhetor. ed. Capperon.)
Aur. Augustini Princip. rhetor. p. 318. sq. p. 328. ebds. Suidas v. ’Agyn Foyrızy.
() Der Liber suasoriarum des älteren Seneca enthält zahlreiche Belege dafür. Nicht
minder dessen Lidri controversiarum. Hier ist es bisweilen ausdrücklich hervorgehoben, wie
die den griechischen Rhetoren entlehnten oder nachgebildeten bannalen Stoffe durch die
Zusätze verschiedener lateinischer Declamatoren erweitert worden sind. Vergl. Conzrovo. I. 1.
2.a.E. 4. II. 9. sqg. 12. sq. II. 16. sq. 20. a. E. 22. IV. 27. V. 30. 33.
(‘) So in dem vielfach besprochenen Beispiel des Verbotes, die Stadtmauern zu über-
steigen, oder zur Nachtzeit Waffen zu tragen. Cur. Fortunatian. Art. rhrtor. schol. I.
p- 58. 68. Sulpic. Vietor. a.a. O. p.296. Andere Beispiele liefern Seneca a. a. O. I.
5.sq. II. 11. III. 19. 23. Quinctilian. Declamat. 357. sq. Fortunatian. a. a. O. p. 58.
sg. 69.
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 57
aus den Überlieferungen griechischer Volkssitte hergeleitet. (#) Freilich
kommen daneben auch wohl Begebenheiten aus der römischen Geschichte,
und Berichte über die Entscheidung von Fragen nach einheimischen Rechts-
regeln zur Erörterung. Allein die Auswahl solcher Stoffe hält sich mit Vor-
liebe an das ausserordentliche und nicht naturgemässe der Ereignisse ; (*6)
abgesehen davon dass die Einzelheiten der Berichte, über die Thatsachen
gleichwie über die Entscheidungsregeln, grossentheils der historischen Treue
entbehren. (7) Diese Theorie der Rhetorik entsprach aber wiederum der
gleichzeitigen oratorischen Praxis, welche schon von dem Rhetor Seneca (*%)
und von dem Verfasser des Dialoges über die Ursachen des Verfalles der
gerichtlichen Beredsamkeit (*?) geschildert wird, als im Dienste der Frivolität
stehend und des schlechten Geschmackes. (°°) Von nicht geringerer Bedeut-
samkeit ist die uns erhaltene (°') Mittheilung des jungen Marc- Antonin an
seinen Lehrer Fronto über den gleichzeitigen berühmten Rhetor Pole-
mon. Er tadelt nämlich an diesem die Richtung der Vorträge auf das Practi-
(*) z.B. die, auf die praemia tyrannicidarum gestützten, Rechtsfragen. Seneca con-
trov. I. 7. 1.13. IV.27. Quinctil. declam. 382. Fortunatian. a. a. O. p. 57. 66. Sul-
pie. Victor. ebds. p.258. Ferner die auf die abdicatio liberorum bezüglichen Erörterungen.
Seneca das. I. 1. 4. sq. 8. IT. 9. 12. III. 18. V. 31. Fortunatian. das. p. 54. 56. 58. sq.
60. 66. Sulpic. Victor. das. p. 295. Dialog. de caus. corr. eloqu. c. 35. Vergl. des Verf.
Versuche z. Krit. u. Ausl. d. R. Rs. S. 62. fg.
(“*) Dahin gehört die Mehrzahl der, in den Conzroversiae des Seneca (z.B. 1. 2. 4. 6.
sqg. II. 9. sq. III. 16. sqq. 21.sq. IV. 24. 26. sq. V. 30. sq.) und in den Declamation. des
Quinctilian (z. B. Decl. 3. 5. sq. 8. 14. sqq. 247. 253. sqq. 269. sqq. 281.sq. 289. 297. 305.
sg. 313. 317. 321. 328. 344. 348. 374.) behandelten Stoffe. Ausserdem auch die bei Sul-
pic. Victor (ebds. p. 269. sqq. 274. sq. 281. sq. 286. 288. sq. 291.) und Marian. Capella
(De rhetor. p. 418. ebds.) verzeichneten Beispiele. Vergl. überhaupt Dial. de c. corr. eloqu.
a.a.O. und Schol. ad Juvenal. Satyr. VII. 168. X. 166. sq. (A. G. Cramer in Juvenal. sat.
comm. vet. p. 299. 400. Hamb. 1823. 8.)
(*”) Vergl. Seneca controy. III. 17. IV. 25. Quinctil. decl. 264. Fortunatian.
a. a. O0. p. 63. Emporius de deliberat. spec. p. 316. Priscian. de praeex. rhetor. p. 361.
Capperon.
(*) z. B. Suasor. 1. a.E. 3. a. E. Controvers. I. Prooem. 4. II. Prooem. 9. 12. I. 16.
20. IV. Prooem. 26. V. Prooem.
(“) Dialog. de c. corr. eloqu. c. 20. sq. c. 26. sq. c. 31. sq.
(°%) Über die Einmischung der Frauen bei öffentlichen oratorischen Übungen. S. Schol.
ad Juvenal. sat. VI. 434. 445.
(°‘) In des Corn. Fronto epist. ad Marc. Caes. II. 3. 4. p. 50. sq. ed. Niebuhr.
Philos.- histor. Kl. 1847. H
58 Diesen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
sche, indem er das Bestreben schmerzlich vermifst, den Schmuck der Rede
zu befördern und den Sinnen der Zuhörer zu schmeicheln: welche Ansicht
freilich von seinem Lehrer zum Theil bekämpft wird; während Fronto’s
Äusserungen über seine eigene Reden und über jene seines fürstlichen Zög-
linges im wesentlichen damit zusammentreffen. (°?) Hier ist überall die
Kunst des Redeausdruckes als die Hauptsache betrachtet, und allerdings
war der Geschmack des Zeitalters ganz geeignet, um die schwülstige Form
des Ausdruckes in Schrift und Rede zu begünstigen. (°°)
IL,
Nunmehr können wir der Prüfung der oben aufgestellten Frage näher
treten: ob Spuren des Einflusses der Methode griechischer und römischer
Rhetoren, hinsichtlich der Behandlung historischer Thatsachen, nachgewie-
sen werden können in der Darstellung römischer Geschichtschreiber, und
zwar in solchen Abschnitten ihrer Werke, welche die geschichtlichen Er-
eignisse lediglich berichten, ohne dieselben durch künstlich redigirte Reden
der auftretenden Personen zu commentiren? Hier ist vorzugsweis des Dio-
nys von Halicarnass und des Plutarch zu gedenken, denen das Prä-
dicat von Rhetoren neben jenem als Historiker unbestritten gebührt. (°*)
Allein die in des Dionysius Geschichtwerk zu Tage liegende Einwirkung
rhetorischer Elemente auf die historische Kritik der Thatsachen beschränkt
sich grossentheils auf die, den einzelnen römischen Königen beigelegten, öf-
fentlichen Einrichtungen; (°°) und in diesem Zusammenhange ist derselben
bereits an einem andern Orte (°°) gedacht Dasselbe gilt von der
= ilenkad II. N und in En ist. de PR s
C) p P- gg-
(°°) Die allgemeinen Andeutungen, über das Erfordernis von Ernst und Würde für
die gerichtliche Beredsamkeit, (z. B. in Epist. de eloquentia. p. 83. sq.) sind mit diesen
Thatsachen schwer zu vereinigen.
(*) Über Plutarch’s Stellung als Lehrer der Philosophie und Rhetorik liegen dessen
eigene Äusserungen vor in Demosth. c.2.sq. und De curiositat. ec. 15.
(°) Der Zusammenhang der Berichte des Dionys mit der Kritik einzelner Sätze der
X Viral-Gesetzgebung ist nicht ganz zu leugnen, obwohl nicht eben hoch zu veranschlagen.
S. des Verf. Kritik d. XII Tafel Fragmente. S. 227. fg. 271. fg. 427. 605. Leipz. 1824. 8.
(5%) Vergl. des Verf. Übsicht d. Krit. d. Gesetze d. R. Könige. (In dessen Versuchen
u. s. w. S. 234. fgg.)
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 59
Vergleichung, welche Plutarch, in den Lebensbeschreibungen der beiden
ersten römischen Könige, zwischen den Resultaten von deren Gesetzgebung
und jener des Solon und Lycurg veranstaltet hat. Dagegen bleibt hier zu
untersuchen, ob in den Quaestiones romanae des nämlichen Historikers die
Einwirkung rhetorischer Motive, nicht blos auf die Beurtheilung sondern
auch auf die Ermittelung geschichtlicher Thatsachen, nachgewiesen werden
kann.
In dem genannten Werke hat Plutarch, ungleich sorgfältiger als in
seinen Biographieen, bei den einzelnen Fragestücken und den mannichfachen
Versuchen zu deren Deutung, die Gewährsmänner namhaft gemacht, denen
er gefolgt ist. Es sind dies meistens römische Namen von gutem Klange, (57)
und nur ausnahmsweis begegnet man unbestimmten Bezeichnungen von Hi-
storikern überhaupt sowie von andern Berichterstattern. (%°) Nichtsdesto-
weniger dürfte an einzelnen, nach diesen Vorgängern behandelten, Beispie-
len es wahrscheinlich gemacht werden können, dass Plutarch bei der Ab-
leitung und Verknüpfung von Thatsachen der römischen Geschichte biswei-
len der Verlockung nicht hat widerstehen können, die rhetorischen Motive
auf Kosten der historischen Kritik zu begünstigen.
Zunächst ist derjenigen Berichte zu gedenken, welche die einfachsten
naturgemässen Erscheinungen im gesellschaftlichen Verkehr als charakteristi-
sche Einrichtungen der Römer postuliren, zu deren Begründung zum Theil
die künstlichsten, den Disputir-Übungen der Rhetoren-Schulen abgeborgten,
Motive herbeigezogen sind. Wir erinnern an den Versuch, die unverfäng-
liche Thatsache zu deuten, dass die von einer Reise heimkehrenden Ehe-
männer es nie unterlassen haben sollen, von dem Zeitpunkt ihres Eintref-
fens die zurückgebliebene Ehefrau zuvor in Kenntnis zu setzen, anstatt die-
selbe durch eine unvorhergesehene Ankunft zu überraschen. (°°) In gleicher
Weise ist die Sitte, dass die Brautnacht unter dem Schleier der Dunkelheit
gefeiert ward, als etwas den Römern eigenthümliches und sogar als ein Pro-
(°”) Am häufigsten benutzt ist Varro; (c.2. c.4.sq. e.14. c. 27. c. 90. c.101.) dann
der ältere Cato; (c. 39. c.49.) auch Cicero und Livius, (c. 25. c. 34.) Antist. La-
beo und Capito. (ec. 46. c. 50.)
(®) S. c. 31. vergl. c. 6. c. 45. ec. 51. c. 56. c. 61. c. 69. c. 86. c.106. c. 112.
(CD) E60
H2
60 Dinsen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
duct ihrer Gesetzgebung dargestellt, obwohl es dieser Voraussetzung an je-
der Begründung mangelt. Es geschah dies wohl nur zu dem Ende, um an
die analoge Vorschrift des Solonischen Gesetzes zu erinnern, dass die Jung-
frau, bevor sie das Brautgemach betrete, eine wohlriechende Frucht ge-
niessen solle, um durch das Aroma ihres Athems dem Manne angenehm zu
werden. (°°) Sodann ist auf solche Erzählungen aufmerksam zu machen,
welche für wirklich ächte Resultate römischer Sitte die Rechtfertigung nicht
in alt-italischem Herkommen suchen, sondern nach der leichtfertigen Me-
thode griechischer Rhetoren, aus unverbürgten und zum Theil entschieden
fingirten Thatsachen eine künstliche Erklärung auferbauen.
So wie die, bei Sklavenhaltenden Völkern von selbst sich einfindende
Sitte, dass die freien Frauen mit der Arbeit an der Mühle und dem Küchen-
heerde verschont blieben, nicht als eine ursprüngliche Einrichtung in Rom
geschildert, sondern als das Ergebnis eines ausdrücklichen Vorbehaltes, den
die Sabiner in das mit den Römern vollzogene Bündnis, zu Gunsten der an
dieselben überlassenen Landsmänninnen, hatten aufnehmen lassen. (°') Für
die Thatsache, dass die Römer von Alters her die Züchtigkeit der Frauen
nicht durch deren äusserliche Absperrung befördert wissen wollten, und
denselben unbedenklich gestatteten auch ausserhalb des Hauses an den ge-
eigneten Orten unverschleiert sich zu zeigen, (°) hätte auf eine jede Recht-
fertigung verzichtet werden können. Allein durch Plutarch (°) ist die be-
kannte Erzählung von den ersten Ehescheidungen in Rom damit in Ver-
bindung gebracht worden. Der erste Römer, der von seiner Frau sich ge-
schieden, auf Grund ihrer Unfruchtbarkeit, sei Sp. Carvilius gewesen; das
zweite Beispiel der Ehescheidung habe Sulp. Gallus geliefert, der seine
Frau verstossen, weil sie beim Vorübergehen fremder Personen ihr Haupt
mit dem Gewande verdeckt hatte um unerkannt zu bleiben; die dritte
Scheidung endlich sei gegen die Ehefrau des P. Sempronius vollzogen wor-
(°%) Ebds. c. 65.
(°) Das. c. 85. Vergl. denselben in Romulo. c.18. sqq. (Aus dieser Quelle ist die ent-
sprechende Notiz des Zonaras Ann. VII. 4. geflossen.)
(°®) Nur die christlichen Frauen in Rom erschienen öffentlich mit verschleiertem Haupte;
welche Sitte indess durch ein Ediet des K. Decius abgeschafft wurde. S. G. Cedrenus
Histor. comp. p. 258. (ed. J. Becker. V.I. p. 453. Bonn. 1838. 8.)
(©) Ebds. c.14:
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 61
den, die bei einer Leichenfeier als Zuschauerin der öffentlichen Kampfspiele
zugegen gewesen war. Die unrichtige Deutung der causa divortü Carviliani (°*)
mag hier unangefochten bleiben, da sie mit dem zu besprechenden Gegen-
stande nicht in unmittelbarem Zusammenhange steht und überdem bereits
durch andere (°) zur Genüge kritisch beleuchtet ist. Was aber die beiden
anderen Fälle anbelangt, so liegt zu Tage dass dieselben zu dem Ursprunge
der Sitte, den Frauen das unverschleierte Auftreten ausserhalb des Hauses
zu verstatten, in gar keiner Beziehung stehen. Denn Sulp. Gallus machte
als Scheidungsgrund gegen seine Frau geltend den Verdacht unehrbaren
Lebenswandels, den der bezeichnete Vorfall unterstützte, indem eine unbe-
scholtene Frau der Verschleierung gegenüber Fremden nicht zu bedürfen
schien; dagegen P. Sempronius bediente sich eines Trennungsgrundes, der
noch im späteren römischen Recht als zureichend anerkannt ist, (°°) nämlich
dieser Thatsache, dass die Ehefrau ohne die Genehmigung ihres Mannes (7)
den öffentlichen Schauspielen beigewohnt hatte. Nur in den Augen des Rhe-
tors konnte der einfache Zusammenhang dieser Vorfälle als ungenügend er-
scheinen, so dass er einen künstlichen Anknüpfungs-Punkt dafür glaubte
suchen zu müssen.
Am entschiedensten aber werden wir über den rhetorischen Stand-
punkt Plutarch’s in dem fraglichen Werke durch ein anderes Beispiel un-
terrichtet. Die bekannte, und in unsern Tagen auch von römischen Rechts-
historikern (°°) vielfach besprochene Ausführung in Cap. 6. der Quaestiones
romanae, dass die Sitte der römischen Frauen, ihre Blutsverwandten bei
der Begrüssung mit einem Kusse zu empfangen, sich auf die Cognaten der
nächsten Grade beschränkt habe, mit welchen die Eingehung gesetzlich gül-
tiger Geschlechtsverbindungen nicht verstattet war, schliesst mit einer an-
(°) Auf diesen Sp. Carvilius Ruga und dessen Freigelassenen, der die erste Schule
zu Rom eröffnet haben soll, kommt Plutarch noch mehrmals zurück. Vergl. ebds. c. 54.
c. 99.
(©) S. Savigny in d. Zeitschr. f. gesch. RsW. V.7.
(°) Obwohl damals, durch den Einfluss der Lehren des Christenthums, ein solches
Verfahren der Frauen noch anstössiger erschien. Tertullian. de spectac. c.17.sq. ce. 21.
sq. c. 26.
(°) Mit des Mannes Zustimmung durfte die römische Ehefrau solche Besuche unge-
straft sich erlauben. Vergl. Schol. in Juvenal. sat. XI. 199.
(°) Klenze’s Abhdlg: Die Cognaten u. Affinen. (Zeitschr. f. gesch. RsW. VI. 1.)
62 Dieksen über die durch die gr. u. lat. ‚Rihetoren angewendete Methode
geblichen historischen Nachweisung über den Ursprung der Zulassung von
Heiraten der Geschwisterkinder bei den Römern. Es sei, so heisst es, ein
gewisser, bei dem Volke in hoher Gunst stehender, Römer mit einer Cou-
sine, die ihm dem dürftigen ein reiches Heiratsgut zugebracht hatte, ehelich
verbunden gewesen. Da nun aber diese Vereinigung eine gesetzwidrige war,
so sei derselbe deshalb öffentlich angeklagt worden. Das Volk jedoch, ohne
dessen Vertheidigung entgegen zu nehmen, habe ihn sofort freigesprochen
und nicht allein sein Ehebündnis für ein rechtmässiges erklärt, sondern
gleichzeitig auch alle Heiraten der Seitenverwandten vom vierten Grade ab-
wärts für die Zukunft genehmigt. Dieser Bericht bietet Blössen von ganz
ungewöhnlicher Beschaffenheit. Unberührt mag es bleiben, dass Tacitus (°)
bei der Schilderung der Verhandlungen des röm. Senates, auf Veranlassung
der Heirat des K. Claudius und der Agrippina, über die Freigebung der Ehe
des Oheims und der Bruderstochter, dem Kaiser selbst die Worte in den
Mund gelegt hat, es sei die Geschlechtsverbindung solcher nahen Seiten-
verwandten zwar lange Zeit hindurch den Römern unbekannt geblieben,
während die Sitten anderer Völker dieselbe gestatteten; allein im Laufe der
Zeiten habe auch in Rom die Sitte das Vorurtheil besiegt. Man könnte ein-
wenden, dieser Historiker gebe nur eine Notiz aus seinem rhetorischen Ap-
parat. Allein es bleibt zu beachten, dass Taeitus hier allem Anschein nach
aus den Senatsacten geschöpft hat; und die Persönlichkeit des K. Claudius
lässt voraussetzen, dass derselbe bei dieser Veranlassung die Präcedenz je-
nes, bei Plutarch gemeldeten, angeblichen Actes der Volks- Souveränität
schwerlich würde unbeachtet gelassen haben, wenn davon auch nur eine
schwankende Tradition denen bekannt gewesen wäre. Eben so wenig
soll Gewicht darauf gelegt werden, dafs Plutarch an andern Stellen sei-
nes Werkes, wo des römisch -rechtlichen Verbotes blutschänderischer Ge-
schlechtsverbindungen gedacht ist, von jener seltsamen Begebenheit nichts
zu berichten gewusst hat. (7°) Endlich wird es genügen nur beiläufig hin-
zuweisen auf die handgreiflichen Widersprüche, aus denen die in Frage
(°) Annal. XII. 6. At enim nova nobis in fratrum filias coniugia, sed aliis gentibus
solemnia, nec lege ulla prohibita. Et sobrinarum diu ignorata, tempore addito percre-
buisse; morem accommodari prout conducat, et fore hoc quoque in his, quae mox usur-
pentur.
(°) a.a. 0. c.108.
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 63
stehende Darstellung Plutarch’s zusammengesetzt ist. Zeitalter und Namen
des Helden sind darin nicht einmal angedeutet; noch weniger die Art sei-
ner Gelangung zur höchsten Gunst des Volkes. Und dennoch würde selbst
das unbestreitbarste Verdienst um den Staat einen solchen tumultuarischen
Act der öffentlichen Verhandlung, wie diesen jene Erzählung mittels der
Verbindung von Gerichts- und Gesetzgebungs-Comitien voraussetzt, kaum
haben rechtfertigen können. Dagegen dürfen wir die sichtbaren Spuren der
Einwirkung rhetorischer Motive auf den Bericht Plutarch’s nicht unbeachtei
lassen. Quinctilian (”!) bespricht gelegentlich die den Griechen geläufigen
Stoffe für rhetorische Disputationen und berührt dabei unter andern diese
Frage: Ob ein Krieger jeden Lohn ausgezeichneter Tapferkeit vom Staate
ansprechen dürfe, auch einen solchen der nicht ohne die Verletzung der
heiligsten Rechte einzelner Staatsbürger zu gewähren sei, z. B. die Bewil-
ligung einer fremden Ehefrau zur Heirat? Daran knüpft sich der Bericht
eines späteren Rhetors, (7?) welcher die nach griechischen Vorbildern redi-
girten Stoffe für Redeübungen mit Vorliebe herbeizuziehen pflegt. Derselbe
stellt die folgende Aufgabe zur Disputation. Ein Feldherr fordert als Be-
lohnung seiner Tapferkeit, dass die Frau eines bestimmten Bürgers ihm
selbst zur Ehe überlassen werde. Dies wird ihm zugestanden, allein in der
Hochzeitnacht stirbt angeblich die Frau und wird als eine scheinbare Leiche
zu ihrem früheren Ehemanne gebracht. Dieser veranstaltet Versuche zur
Wiederbelebung der Scheintodten, welche gelingen, und darauf sprechen
gleichzeitig beide Männer die Gereitete an. (”°) Nicht minder widernatür-
(€) Inst. orat. VII. 10. $.6. Nisi forte satis erit dividendi peritus, qui controversiam
in haec deduxerit: An omne praemium viro forti dandum sit? an ex privato? an nuptiae!
an ea, quae nupta sit? an haec?
(?) Cur. Fortunatian. art. rhet. I. p. 65. Capperon.
(°°) Entsprechenden abentheuerlichen Wendungen begegnet man auch in anderen Bei-
spielen der Rhetoren, z. B. in dem von Seneca controv. I. 3. behandelten Fall der un-
keuschen Vestalin, welche die Vollziehung der Todesstrafe überlebt hat und gegen die Er-
neuerung der Strafvollstreckung protestirt. Oder da, wo eine Frau durch die Nachricht
von dem Tode ihres Mannes getäuscht den Versuch macht, sich selbst das Leben zu neh-
men, allein vom Untergange gerettet wird; worauf der Hausvater ihr die Wahl stellt
zwischen der Trennung von ihrem Ehemanne und der Verstossung aus dem väterlichen Hause.
Ebendas. II. 10. Vergl. Excerpt. controv. VIII. 1.
64 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
lich ist die in den sg. kleinen Declamationen Quinctilian’s (7*) behan-
delte Aufgabe redigirt, wo ein von den Eltern ausgesetzter Sohn später als
Lohn für seine Kriegsthaten die Heirat derjenigen Frau begehrt, die als
seine Mutter sich ausweist. (7°) Was hier überall als übertriebene, die Sitt-
lichkeit verhöhnende, Schilderung unser Gefühl verletzt, ist von Plutarch
als ein fügsamer Stoff benutzt worden, um die sittliche Versöhnung, ja so-
gar die gesetzliche Ausgleichung gesellschaftlicher Confliete daran zu knü-
pfen. Unser Berichterstatter lässt den tapfern Mann nicht die Frau eines
dritten vom Staate begehren; derselbe hat vielmehr ein lediges Frauen-
zimmer schon früher geehelicht und zwar unter dem begünstigenden Sach-
verhältnis, dass ihr Reichthum seiner Armuth zu Hülfe gekommen ist. Al-
lein das Gesetz untersagt ihm die Verbindung mit dieser nahen Blutsver-
wandten, und deshalb unter Anklage gestellt hat er zu gewärtigen, dass er
nicht blos die Frau zusammt dem Heiratsgute verliere, sondern dass ihn
auch die Strafe des Verbrechens der Blutschande erreiche. Der also ge-
schürzte Knoten wird nunmehr gelöst durch die Dankbarkeit des Volkes,
welches, mit Umgehung aller herkömmlichen Formen der öffentlichen Ver-
handlung, höchst summarisch den Pflichten der Dankbarkeit des Vaterlandes
und gleichzeitig den Forderungen der Gerechtigkeit genügt, indem es in
einem Athem den Angeklagten freispricht und dem unpassenden Gesetz,
über die blutschänderische Verbindung der Geschwisterkinder, eine weisere
Verordnung substituirt. Auch dem blödesten Auge kann es nicht entgehen,
dass hier ein entschieden unhistorischer Stoff aus der Schule griechischer
Rhetoren auf den Boden römischer Rechtsbegriffe verpflanzt worden ist.
Die künstliche Verknüpfung der Einzelheiten dieses Berichtes vermag gleich-
wohl nicht die innere Unwahrheit des Ganzen zu verdecken. Nur ein Rhe-
tor konnte etwas so durchaus unglaubliches erfinden; und ohne die Priori-
tät einer solchen Erfindung für Plutarch selbst in Anspruch zu nehmen,
glauben wir denselben jedenfalls verantwortlich machen zu dürfen dafür,
dass er die ganze Frage nicht, wie unsere Civilisten glauben, die das ius
osculi für eine willkommene römisch-rechtliche Eroberung halten, ' vom
(*) N. 306.
(°) Noch ein anderes Beispiel findet man in des Calpurn. Flaccus Excerpt. X rhe-
tor. minor. no. 22. 29.
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 65
Standpunkte des Historikers aufgefasst hat, sondern ausschliesslich von je-
nem des Rhetors.
IM.
Schwieriger als bei den römischen Geschichtschreibern ist die Nach-
weisung des Einflusses der Methode der Rhetoren, juristische Stoffe zu be-
handeln, auf die Form der Darstellung in den Schriftwerken der römischen
Rechtsgelehrten. Die allgemeinen Äusserungen der römischen Qlassiker
über diesen Gegenstand, auf die man sich berufen kann und zum Theil auch
wirklich berufen hat, sei es um das Vorhandensein oder um die Abwesen-
heit einer solchen Einwirkung dadurch zu unterstützen, sind nichts weniger
als entscheidend. Cicero (?°) bezeugt freilich die Verschiedenheit des Ver-
fahrens der Rhetoren und der Rechtsgelehrten seiner Zeit, in Beziehung auf
die Aufstellung fingirter Beispiele. Allein daraus würde noch nichts folgen
für die Behandlung historischer Fälle; gleichwie überhaupt das über die ju-
ristischen Zeitgenossen Cicero’s geäusserte nicht ohne weiteres als Beweis
für die Darstellung der älteren Juristen geltend gemacht werden könnte.
Man (7) beruft sich ferner auf die von Pomponius (7°) angedeutete Ver-
gleichung der durch Labeo und Capito gebildeten Juristen-Schulen, mit den
Schulen der Philosophen. Indess der Einfluss der Lehrsätze griechischer
Philosophie auf die Darstellung der römischen Rechtsgelehrten tritt in for-
meller Beziehung, hinsichtlich der allgemeinen Rechtsbegriffe, und der Er-
kenntnisquellen der geltenden Rechtsregeln, erst bei einzelnen juristischen
Classikern aus der Regierungs-Periode der Severe (’?) entschieden hervor,
mithin zu einer Zeit, wo die Rechtswissenschaft den Einfluss der Schul-
Controversen schon überwunden hatte, und wo jedenfalls die Selbstständig-
(°) Topie. c.10. Ficta etiam exempla similitudinis habent vim, sed ea oratoria magis
sunt quam vestra, (dies geht auf die Juristen, da C. Trebatius, einer von diesen, hier
apostrophirt ist,) quamquam uti etiam vos soletis, sed hoc modo: „Finge mancipio ali-
quem dedisse ete.”
(”) S. Puchta Curs. d. Institution. Bd.1. $. 98. S. 437. Ausg. 2.
(°°) Fr. 2. 8.47. D. de orig. iur. 1.2. Hi duo (sc. Ateius Capito et Antistius Labeo)
primum veluti diversas sectas fecerunt.
(?) Dies beweisen die, in Justinian’s Pandekten (Lib. 1. Titt.1. 3.) und Institutionen
(Lib.1. Titt.1. 2.) aufgenommenen, Auszüge aus Ulpian’s und Marcian’s Libri institu-
tionum. S. die Parallelstellen in Schrader’s Ausg. d. Justinian. Institution. a. a. O.
Philos.- histor. Kl. 1847. I
66 Dirksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
keit derselben durch die Einwirkung der Methode einer gesunkenen Rhe-
torik schwerlich beeinträchtigt werden konnte. Will man daher über die
Möglichkeit eines Einflusses der Darstellungsweise der Rhetoren auf jene
der röm. Rechtsgelehrten ein unbefangenes Urtheil vorbereiten, so muss
man die einzelnen juristischen Beispiele, welche von beiden Gattungen der
Referenten behandelt sind, genauer prüfen und bei jedem derselben die
Eigenthümlichkeit der Methode von deren Auffassung zu ermitteln suchen.
Die vergleichende Zusammenstellung solcher Beispiele kann freilich
nur in unzureichender Weise zur Ausführung gebracht werden, indem von
den juristischen Schriften des Zeitraumes vor August nichts als unbedeu-
tende Bruchstücke erhalten sind. Indess auch die bloss beiläufigen Referate
von. Ausführungen der Feteres, gleichwie von jenen der Rechtsgelehrten
aus der Regierungszeit der ersten römischen Kaiser, denen man in den
reichlich vorhandenen Überresten der juristischen Olassiker aus der Periode
der Antonine und der Severe begegnet, genügen zur Begründung der Über-
zeugung dass, sowohl bei der Aufstellung fingirter Beispiele als auch bei der
Behandlung historischer Stoffe, das Verfahren der römischen Juristen von
jenem der Rhetoren, welche mehr das Bedürfnis der Schule als wie das
der Gerichtshöfe vor Augen hatten, dem Principe nach verschieden gewe-
sen sei. Denn die Rhetoren liessen überall die Berechnung vorwalten, dass
bei der Begrenzung des Gegenstandes der Disputation und bei der Wahl
der Beweisgründe vor allem die Wirkung zu veranschlagen sei, welche von
der Erregung der Leidenschaften einer gemischten Zuhörer-Menge erwartet
werden durfte. Daher das Bestreben derselben, das ungewöhnliche und
übertriebene herbeizuziehen: unbekümmert ob der Stoff irgend eine Be-
ziehung zur Wirklichkeit hatte, wenn nur die Einwirkung auf das Gefühl
auch des ungebildeten Theils der Zuhörerschaft gesichert zu sein schien.
Anders musste der Rechtskundige verfahren, der in der Rechtswissenschaft
gleichwie im Leben einem Kreise von Personen sich gegenüber gestellt sah,
welche innerhalb des Gebietes der Wirklichkeit und der täglichen Erfahrung
belehrt, nicht aber darüber hinaus in frivoler Weise unterhalten sein woll-
ten. Hier musste daher bei der Bildung fingirter Beispiele das Einhalten
des rechten Masses, und bei der Benutzung geschichtlicher Ereignisse die
Beobachtung der historischen Treue als unverbrüchliches Gesetz empfohlen
werden. Man darf jedoch nicht glauben, dass dieses natürliche Ergebnis
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 67
der verschiedenen Stellung von Rhetoren und Rechtsgelehrten jede weitere
Beweisführung der Existenz und Anerkennung derselben als überflüssig er-
scheinen lasse. Denn in der früheren Zeit Roms hatte das Vorkommen der
häufigen Verbindung von Rechtskunde und gerichtlicher Beredsamkeit in
derselben Person, für die schriftstellerische Thätigkeit ausgezeichneter Juri-
sten, z.B. des Qu. Mucius Scävola und Servius Sulpieius Rufus, die Ver-
suchung im Gefolge gehabt, gerade bei der Auswahl populärer Beispiele und
Argumente unwillkührlich die Dexterität des Rhetors walten zu lassen. Und
noch in den spätesten Zeitabschnitten der römischen Rechtsbildung sehen
wir, für den Zögling der Rechtskunde, zu dem Kreise der vorbereitenden
Disciplinen auch dessen Unterweisung in der Rhetorik gezählt; so dass der-
selbe aus den Händen des griechischen Pädagogen in die des griechischen
Rhetors überliefert wurde. (°°)
Von der Frivolität, mit welcher griechische und römische Rhetoren
die geschichtlichen Thatsachen zu Vorwürfen für ihre Disputationen umzu-
gestalten pflegten, ist schon zuvor die Rede gewesen. Indem wir jetzt die
entgegengesetzte Methode der römischen Rechtsgelehrten, hinsichtlich der
Behandlung historischer Stoffe, zur Sprache bringen, glauben wir ganz ab-
sehn zu müssen von solchen Stellen juristischer Schriften, an denen die
Verfasser auf vereinzelte Ereignisse der Vorzeit zurückgehen, um dieselben
als Antecedentien für das zu ihrer Zeit geltende Recht zu benutzen; ($t)
oder wo sie einen früheren Vorfall besprechen, der als die Grundlage einer
ergangenen kaiserlichen Entscheidung, oder einer gerichtlichen Aburtheilung,
(*°) ihr Interesse in Anspruch nimmt. Wir beschränken uns hier auf die
Fälle einer blossen facultativen Benutzung historischer Begebenheiten für
die Zwecke juristitcher Erörterung.
Innerhalb dieser Begrenzung sind die Beispiele eines unkritischen
8
Verfahrens der juristischen Classiker, in Beziehung auf die Behandlung ge-
(°°) Vergl. Dialog. de caus. corr. eloqu. c. 29. fg. c. 35. Symmachus Ep. X. 25.
() Fr. 3. D. de term. moto. 47.21. Fr.8. D. ad L. Jul. mai. 48. 8. Fr. 4. pr. D. de re
mil. 49. 16.
(6?) Fr. 28. 8.3. Fr.39. D. de poen. 48.19. Am sichtbarsten ist dies Verfahren in sol-
chen juristischen Monographieen, die nach ihrem Plane dergleichen Entscheidungen aus-
schliesslich oder vorzugsweis zu beachten hatten, z. B. die Zidri deeretorum, de cognitioni-
bus u. s. w. die Schriften über Gegenstände des fiscalischen Rechts, oder über den Ge-
schäftskreis bestimmter Beamten.
12
68 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methodo
schichtlicher Stoffe, blos scheinbar. In den gangbaren Ausgaben der Pan-
dekten Justinian’s findet man einem Fragmente aus Ulpian’s Commentar
zum Edict, (°) welches die einfache Bemerkung enthält, dass die ordent-
liche Strafe der Lex Julia peculatus auch denjenigen erreiche, der die
Mauern eines Tempels durchbrochen, oder aus demselben etwas entwendet
hat, einen Nachtrag in griechischer Sprache hinzugefügt. Darin ist kate-
gorisch vorgeschrieben, dass wer aus dem Heiligthume ein Stück des Tem-
pelgutes bei Tage oder zur Nachtzeit entwende, die Strafe der Blendung
erleiden solle; während jener, der aus dem übrigen Tempelraume einen
Gegenstand hinwegnehme, gestäupt und mit geschorenem Haupte in die
Verbannung geschickt werde. Diese Sanction weicht zwar nicht in dem
Masse der verhängten Strafe, wohl aber hinsichtlich der ungewöhnlichen
Form derselben, durchaus ab von den Berichten der classischen röm. Juri-
sten über die Ahndung des Tempelraubes zu ihrer Zeit. (°*) Dagegen er-
innert eben diese Form an ähnliche Beispiele von fingirten Gesetzen, denen
man in den Schriften der Rhetoren begegnet. Allein der Zusammenhang
dieses Referates ist ein ganz anderer. Die griechisch redigirte Zugabe zu
dem lateinischen Texte Ulpian’s bewährt sich als durchaus apocryphisch.
Man findet dieselbe überall nicht handschriftlich beglaubigt, vielmehr haben
die Herausgeber sie erst aus den Basiliken herbeigezogen, (“°) wo sie denn
auch vollkommen am Platze ist, als ein Produkt des byzantinischen Rechts
der Nach -Justinianischen Zeit. Dagegen geht in den Pandekten jenem äch-
ten lateinischen Bruchstücke Ulpian’s unmittelbar voran ein hinreichend
verbürgtes Fragment des Juristen Marcianus, (°°) welches über den selt-
samen Fall berichtet, wo ein den höheren Rangelassen angehörender junger
Mann überführt worden war, in einen Tempel eine Kiste geschafft zu ha-
ben, welche einen Sklaven verbarg, der angewiesen war nach der Schliessung
des Tempels seinen Versteck zu verlassen, um die leicht zu bergenden kost-
baren Gegenstände aus dem Schatze des Heiligthums (°7) zu entwenden und
(@) Fr.11.D. ad L. Jul. pecul. 48. 13.
(&) , Fr. 3. Fr. 6. Fr. 9. pr. D. eod. 48.13. Paul. R. S. V. 19.
(°°) Basilicor. LX. 45. 11.
(5). Er. 10./8.4..D2121248: 13.
(°) Einige dieser Tempel bargen freilich Privat-Deposita von Geld und Kostbarkeiten,
die einer daselbst stationirten Arca publica anvertraut waren. S. die Ausleger zu Juve-
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 69
mit denselben wieder in den Verschluss sich zurückzuziehen. Diese Mit-
theilung könnte vielleicht den Verdacht einer rhetorischen Erdichtung er-
wecken, wenn nicht hinzugefügt wäre, dass die Kaiser Sever und Cara-
calla diesen Rechtsfall dahin entschieden hätten: es solle der Schuldige
mit der, für die Verbrecher seines Standes festgestellten, ordentlichen Strafe,
nämlich mit der Deportation, belegt werden. (?°) Noch weniger Bedenken
erregt die aus Labeo’s Schriften gezogene Erzählung (°°) von einem durch
Räuber entwendeten Sklaven, der hinterher in die Gewalt der feindlichen
Germanen gerathen, und nach deren Besiegung mit der übrigen Kriegsbeute
veräussert worden war. Freilich werden im allgemeinen Germanen und Par-
ther, als die gewöhnlichen Feinde der Römer, auch in den erdichteten Bei-
spielen der classischen Juristen herbeigezogen ; (°°) allein in dem vorstehen-
den Fall ist die zwischen Trebatius, Ofilius und Labeo verhandelte
Rechtsfrage so conceret gefasst, mittels Zurückführung auf die Behauptung
des vollendeten Verjährungs-Besitzes, dass der dagegen erhobene Einwand,
es habe an diesem geraubten Sklaven überhaupt nicht Eigenthums - Ver-
jährung eintreten können, mit Zuversicht voraussetzen lässt, es sei die frag-
liche Erörterung auf die Erledigung eines bestimmten practischen Falles be-
bezogen worden. Entschieden auf dem Boden der Geschichte bewegen sich
die, in der Lehre vom Postliminium durch die römischen Juristen vielfach
besprochenen Beispiele: von der Auslieferung des Hostilius Mancinus
an die Numantiner; (9!) von der Absendung des kriegsgefangenen Atilius
Regulus durch die Carthager nach Rom; sowie von dem Dolmetscher
Menander, der durch die Römer aus der Kriegsgefangenschaft entlassen
war und hinterher im Gefolge einer Gesandschaft das Gebiet seines Vater-
landes wieder betreten hatte. (°) Die Art, in welcher die beiden Mucii
Scaevolae und der Jurist Brutus die genannten Fälle auf den richtigen
Standpunkt der rechtlichen Beurtheilung zu versetzen wussten, ergiebt zur
nal’s Satyr. X. 24. XIV. 261. (A. G. Cramer in Juvenal. satyr. comm. vet. p. 381. sq. 530.
Hamb. 1823. 8.)
(°) Fr. 6. pr. D. eod. 48.13. Fr.10. Fr. 16. $.3. Fr. 28. D. de poen. 48. 19.
(@) Fr. 27. D. de captiv. 49.15.
(°°) Fr. 24. D. eod. 49. 15.
(') Fr.17. D. de legationib. 50.7.
() Fr.4. Fr. 5.8.3. D. de captiv. 49.15.
70 Diesen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
Genüge, dass ihnen das Verfahren gleichzeitiger und späterer Rhetoren
durchaus fremd geblieben sei, welche die nämlichen Fälle wiederholt be-
sprochen haben, ohne denselben ein wirkliches Interesse abzugewinnen. (°')
Dem bisher ausgeführten widerspricht ferner nicht die bekannte Mittheilung
Ulpian’s (°*) über den Sklaven, der seinem Herrn entlaufen war und nichts-
destoweniger in Rom zum Amte eines Prätors gelangte. Es ist an einem an-
dern Orte (°5) ausgeführt worden, dass der angebliche Namen des Sklaven
(Barbarius Philippus) und die unterlassene Bezeichnung der Chrono-
logie des ganzen seltsamen Vorfalls gegründete Einwendungen gegen die
Genauigkeit der einzelnen Angaben aufkommen lassen, dass gleichwohl der
Kern dieser, auch durch andere Gewährsmänner (°°) berichteten, Thatsache
als ächt anzusprechen sei, wenn auch immerhin ausgeschmückt durch eine
schwankende Tradition. Ulpian, oder vielmehr der von diesem benutzte
Masurius Sabinus, durfte bei der Feststellung der Einzelheiten des That-
bestandes hier abstrahiren von der Anwendung der historischen Kritik. Denn
der allgemein zugestandene Inhalt der fraglichen Begebenheit reichte voll-
kommen aus, um die daran geknüpfte Rechtsfrage: ob man ein Individuum
ohne rechtliche Persönlichkeit, in Folge eines ihm förmlich übertragenen
Staatsamtes, als einen rechtmässigen Beamten zu betrachten, und die durch
dasselbe vollzogenen öffentlichen Verhandlungen als gültige Rechtsacte auf-
zufassen habe? als eine für die gerichtliche Praxis bedeutsame zu recht-
fertigen.
In noch auffallenderer Weise, als bei der Behandlung geschicht-
licher Thatsachen, gehen die Richtungen der Rechtsgelehrten und der
Rhetoren aus einander in Beziehung auf die Methode der Bildung und Be-
nutzung fingirter Beispiele. Denn während jene Darsteller auch hier
den Boden der Erfahrung niemals verlassen und die Anwendung der Rechts-
regel auf den gegebenen Fall jederzeit im Auge behalten, suchen diese vor-
weg den Gegenstand der Erörterung in so phantastischer Weise zu be-
(°°) Diese Ausstellung trifft jedoch nicht Cicero’s Schriften, weder die rhetorischen
noch die oratorischen.
(*) Fr. 3. D. de off. Praetor. 1. 14.
(®) Vergl. des Verf. Abhdlg: Über einige, von Plutarch und Suidas berichtete, Rechts-
fälle. N. II.
(°) Dio Cass. Hist. R. XLVIH. 34. Suidas v. Bagßıos Bırrmmızos.
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 71
grenzen, dass der Umfang der, zur Unterstützung sowie zur Anfechtung der
Aufgabe verfügbaren, Gründe kaum mehr übersehen werden kann. Aus der
Fülle von Beispielen mögen hier nur einige der auffallendsten besprochen
werden.
In der Anleitung zur Rhetorik hat Quinctilian unter den fingirten
Aufgaben zu Redeübungen wiederholt (°7) dies Thema ausgezeichnet: wenn
jemand, der sich das Leben nehmen will, die Gründe des Selbstmordes
vor der Behörde zu rechtfertigen versucht. Und allerdings mag dies ein, so-
wohl von den Philosophen als auch von den Rhetoren vielfach besprochener
Stoff gewesen sein. Dies bezeugen die Ausführung
5
welche eine solche Verhandlung vor den Senat verweisen und gleichzeitig
en der Declamatoren, (°°)
das Vorhandensein eines Gesetzes postuliren, welches vorschreibe, dass der
Leichnam eines nicht gerechtfertigten Selbstmörders unbeerdigt bleiben
solle. Die röm. Juristen haben mehrfach Veranlassung gefunden, von der
Untersuchung der Ursachen des Selbstmordes zu sprechen; allein sie be-
schränken dies auf die wenigen Fälle, wo die Handhabung der militärischen
Diseiplin, oder der Anspruch des Fiscus auf das, wegen früherer Verbrechen
des Selbstmörders dem Staate verfallene, Vermögen desselben in Frage
kam. Ein selbstständiges Verbot des positiven Rechts für den Selbstmord
ist ihnen unbekannt. (°°) Und auch andere nichtjuristische Referenten (!"°)
behandeln den Selbstmord in gleicher Weise als eine nach römischem Recht
gestattete Verfügung über das eigene Leben.
Sowohl in Beziehung auf das so eben besprochene Beispiel, ('%') als
auch bei anderen Veranlassungen, (!°*) hat Quinctilian die Rhetoren aus-
drücklich angewiesen, bei der Begrenzung erdichteter Rechtsfälle das juristi-
sche Interesse der zu behandelnden Frage neben dem rednerischen unver-
(°”) Inst. orat. VII. 4. 8.39. XI. 1. $. 55.
(°®) S. ebendas. $.55.1. Seneca excerpt. controv. VIII.4. Quinctilian. declam. 4. 337.
(°?) Über die einschlagenden Beweisstellen und deren Auslegung vergl. €. A. Fabro-
tus Exereitation. no. V. (in E. Otto’s Thesaur. J. R. T. II. p. 1187. sq.) Bynkershoek
Obss. J. R. IV. 4. und über die neuere Literatur $. Rein Crim. R. d. Röm. S. 883. fg.
Leipz. 1844. 8.
(°) S. Florus Epit. rer. rom. IV. 2.7.a.E.
(‘°') Inst. orat. VII. 4. 8. 39.
('°) Ebds. III. 10. S$. 1. sg.
72 Diesen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
rückt im Auge zu behalten. Allein diese Empfehlung scheint eben so wenig
wie eine entsprechende Warnung Cicero’s (!"°) von Erfolg gewesen zu
sein. Wir finden wenigstens bei den späteren Rhetoren, auch da wo die-
selben entschieden von Prämissen des römischen Rechts ausgehn, in den
künstlich redigirten Rechisfällen keine Spur des Bestrebens, dem bald sehr
gewöhnlichen bald bis zur Unnatur verrenkten Sachverhältnis die Merkmale
innerer Wahrheit, ganz abgesehen von den Zeichen äusserer Wahrschein-
lichkeit, zu sichern. So bewegen sich ihre Rechtsfragen vorzugsweis auf
dem Gebiete der Verbrechen, gleichwie der Polizeivergehen und Privat-
delicte; wobei es nicht an einer mehr oder minder bestimmten Hinweisung
fehlt auf den Inhalt der einzelnen Strafgesetze (1°*) und auf das Mass der
angedrohten Strafe. (1%) Allein auch der, für die Bethätigung oratorischen
Talents noch so fruchtbare, Stoff wird von jenen Rhetoren entweder in
ganz unzulänglicher Weise ausgebeutet, während die juristischen Classiker
denselben nach allen Richtungen in schlagenden Anwendungsfällen zur Er-
örterung gezogen haben; oder man findet daraus lediglich Veranlassung ge-
Oo
nommen zur Bekundung
sagte tritt anschaulich hervor an dem Beispiel des, durch Rhetoren und De-
eines falschen rhetorischen Pathos. Das zuerst ge-
clamatoren vielfach besprochenen, im Julischen Gesetz über den Ehebruch
ausdrücklich anerkannten, obwohl nur dem Vater vorbehaltenen Rechts,
die Ehebrecherin nebst ihrem Buhlen zu tödten; (1°) ferner bei der durch
die XII Tafeln für straflos erklärten Tödtung des nächtlichen so wie des
bewaffneten Diebes; (17) endlich bei den scheinbaren Anwendungsfällen
(CD) Akopie. tes141a.7E. Ic 2cHlA:
('%) Vergl. z.B. die, in Quinctilian’s Declam. 13. enthaltene, Hinweisung auf den
Wortausdruck des Cornelischen Gesetzes über Tödtungen. (Fr. 1. 8.1. Fr. 3. 88.1.2. D.
ad L. Corn. de sicar. 48. 8.) Andere, aus des C. Jul. Victor Ars rhetor. (oben Anm. 14.)
gezogene, Beispiele findet man zusammengestellt durch E. Schrader (Krit. Zeitschr. f.
RsW. Bd.1. H.2. S.143. fg. Tübing. 1826. 8.)
('®) z.B. über die poena quadrupli für den fur manifestus. Quinctilian. Inst. orat.
VII. 6. 8.2. Cur. Fortunatian. a.a. O. p. 61.
('%) S. Quinctilian. ebds. IX. 2. 88. 79. sq. vergl. III. 6. $.17. V. 10. $.39. VII. 1.
.7. Fortunatian. das. p.97. Seneca controy. I. 4. II. 9. a.E. Quinctilian. declam.
73. 277. 279. 284. 291. 335. 347. C. Jul. Victor. a. a. O. c.4. 8.11. c. 6. 8.1. Ed. A.
Maii. (S. oben Anm. 14.)
('7) Quinctil. Inst. orat. VI. 6. 8.8.
<
td 227%
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 73
des Sacrilegium. (!%) Den Beweis für den andern Fall liefert das Beispiel
der Injurien-Klage gegen den Reichen, der dem Standbilde seines armen
Feindes Peitschenhiebe versetzt hatte; (1%) welches als ein Überbieten des,
in einer entsprechenden Rechtsfrage der röm. Juristen vorausgesetzten, (119)
Falles angesehen werden darf. Sodann gehört hierher die Declamation des
Anwaltes eines armen Grundbesitzers gegen den reichen Nachbar, der die
Blumen des eigenen Gartens vergiftet hatte, um dadurch die Bienen des an-
dern zu tödten. (1!!!) In einer ähnlichen Übertreibung sind die Rhetoren be-
fangen, indem sie innerhalb der Grenzen des Privatrechts Fälle postuliren,
die entweder eines jeden juristischen Interesses entbehren, (!!?) oder deren
Entscheidung nach dem Standpunkte der gleichzeitigen Rechtsdoctrin nicht
zweifelhaft erscheinen konnte. (!!)
Zur Entgegenstellung des durchaus abweichenden Verfahrens der röm.
Juristen können nur Beispiele aus den Schriften der älteren Rechtsgelehrten
benutzt werden, die noch im Zeitalter der Republik oder unter den ersten
Kaisern geblüht haben. Denn bei diesen würde noch am ehesten eine Ein-
wirkung rhetorischer Elemente auf ihre wissenschaftliche Beweisführung und
schriftliche Darstellung vorausgesetzt werden können, indem zu ihrer Zeit
die wissenschaftliche Begründung der Rechtskunde noch in der Entwicke-
lung begriffen war und namhafte Rechtsgelehrte gieichzeitig als gerichtliche
Redner sich auszeichneten. Indess wenn auch die von den Veteres, ('!*)
('%) Ebds. V.10. $$. 36. 39. VII. 3. 8.21. Sulp. Victor inst. orat. p. 280. Capperon.
CzJul Victor a, 2: 050,.6.,8.4.
(‘°) Ders. II. 3. Quinctilian a. a. O. IV. 2. 8.100. Andere Beispiele bei Seneca
controv. V. 30. 35.
('%) Fr. 27. D. de iniur. 47. 10. Paul. lib. 27. ad Edict. Si statua patris tui in monu-
mento posita saxis caesa est, sepuleri violati agi non posse, iniuriarum posse Labeo scribit.
Vergl. Schrader a.a. O. S. 144.
('‘) Quinctilian. declam. 13.
(''?) Ders. no. 268. 325. vergl. Quinctil. Inst. orat. VII. 4. 8.39. P. Rutil. Rufus
de figur. sententiar. I. p. 2. sq. Capperon.
('®) z.B. Quinctilian. Declam. 265. 308. 318. 320. 341. 346. Fortunatian. a. a.
O. p. 65.
(''%) Fr. 51. pr. $$.1sq. D. adL. Aqu. 9. 2. Fr. 66. $. 2. D. de furt. 47.2. Fr. 13. 8.7.
D. de iniur. 47. 10.
Philos.- histor. Kl. 1847. K
74 Dirxsen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
und zum Theil von einzelnen Juristen der Augusteischen Zeit, (115) aufge-
stellten fingirten Rechtsfälle nicht eben eine reiche Erfindungsgabe, wohl
aber den Hang zum Festhalten an überlieferten bannalen Formen der Vor-
zeit verrathen, so lässt doch die durchaus practische Methode, das juristische
Interesse der Erörterung zu bestimmen und die Anwendung allgemeiner
Rechtsregeln auf den concreten Fall anschaulich zu machen, keinen Vergleich
zu mit dem Verfahren der Rhetoren. Denn selbst da, wo jene den Rechts-
fall ähnlich wie diese in einer minutiösen Weise begrenzen, verstehen sie es
jederzeit der Beziehung auf das Leben ihr Recht angedeihen zu lassen. (!!°)
Als Bestätigung des zuvor behaupteten mag noch eine eigenthümliche
Ausführung des Rhetors Corn. Fronto hier herbeigezogen werden, in wel-
cher das richtige Verhältnis der juristischen Elemente der Beurtheilung zu
der durchaus rednerischen Darstellung nicht auf den ersten Blick zu erken-
nen ist. Es handelt sich nämlich von dem, in das zweite Buch des Brief-
wechsels von Fronto und M. Antonin gestellten (117) Fragment, welchem
A. Mai die Bezeichnung einer Oratio de testamentis transmarinis vorgesetzt
hat. Niebuhr glaubt gleichfalls das Bruchstück einer Rede darin gewahr
zu werden; (1!3) allein er bekämpft nichtsdestoweniger die Voraussetzung,
als ob dies die Urkunde einer vor dem Thronfolger gehaltenen amtlichen
Rede sei, indem er annimmt, es liege vielmehr eine Partheischrift vor, wel-
che Corn. Fronto als Patron der Cilicier, in der vereinzelten Erbschafts-
Angelegenheit eines Angehörigen dieser Provinz, dem K. Antoninus Pius
überreicht und hinterher seinem fürstlichen Zöglinge Marcus (!!?) als ein
oratorisches Musterstück zur Kenntnisnahme mitgetheilt habe. Wichtiger
('®) z.B. Alfenus Varus, Ofilius, Labeo, Fabius Mela. Fr. 52. D. adL. Aqu.
9. 2. Fr. 23. Fr. 31. $.1. Fr.52. 88.7. sq. Fr. 57. Fr. 90. pr. D. de furt. 47. 2. Fr. 2. 8.20.
D. vi bon. rapt. 47.8. Fr. 7. S$.1.sq. Fr. 15. pr. Fr. 17. $.1. Fr. 27. Fr. 44. D. de iniur. 47.10.
(6) z. B. über die Tödtung fremder Bienen durch Räucherungen. Collat. LL. Mos. et
R. XI. 7. $. 10. Fr. 27. 8. 12. Fr. 49. pr. D. ad L. Aqu. 9. 2.
(*'7) Epistolar. ad Marcum Caes. II. 15. p. 70. sq. (Reliquiae M. C. Frontonis. Ed. B. G.
Niebuhr. Berol. 1816. 8.)
(''#) Diesem ist H. Meyer orat. R. fragmta. p. 609. sq. Turici. 1842. 8. nicht beigetreten.
(*'?) Er pflegte regelmäfsig die von Fronto gehaltenen Reden demselben abzufordern.
S. Epist. ad Marcum Anton. Aug. No. 3. 4. 6. p. 99. sq-
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 75
als die Erörterung dieser Äusserlichkeiten ('2°) ist die Prüfung der Frage:
von welcher Beschaffenheit war der vorstehende Rechtsfall, und welche
Entschliessung des Kaisers wollte der Redner hervorrufen‘? Der Eingang des
uns überlieferten Bruchstückes bespricht in der emphatischen Weise älterer
und späterer Panegyriker ('?!) den hohen Beruf des Staatsoberhauptes, nicht
blos gleich dem Fatum über die Schicksale der einzelnen Menschen zu ver-
fügen, vielmehr durch die Bekanntmachung allgemeiner Verordnungen die
Angelegenheiten sämmtlicher Untergebenen der römischen Weltherrschaft
in übereinstimmender Weise zu leiten. Dann wird des in Frage stehenden
decretum proconsulare tadelnd gedacht und der Wunsch ausgesprochen, dass
der Kaiser daraus Veranlassung nehmen möge, ein auf die Rechtsfälle der
bezüglichen Gattung gerichtetes, umfassendes Regulativ für alle Provinzen
zu erlassen. Man sieht sich aber vergeblich um nach der Bezeichnung des
Inhaltes jenes Decrets. Zwar überlässt sich der Redner einer phrasenreichen
Schilderung der Unzuträglichkeit des Verfahrens, wenn Testamente aus den
überseeischen Provinzen erst nach Rom befördert würden, und auch der
Testamentserbe die Reise dahin antreten müsse, was zu unvermeidlichen
und zum Theil frivolen Zögerungen der Betheiligten Anlass gebe, jedenfalls
aber der Nachlassmasse Schaden drohe. Indess nur beiläufig ist angedeutet,
dass diese Besorgnis auch in dem fraglichen Rechtsfall begründet gewesen
sei, ohne dass man von den Ursachen etwas erfährt, durch welche der Pro-
vinzial-Statthalter sich bewogen fühlen konnte, die Entscheidung über die
auf das Testament gestützten Ansprüche der Erbberechtigten nach Rom zu
verweisen, anstatt die Erledigung der Sache in die eigene Hand zu nehmen.
Niebuhr hält es für unzweifelhaft, dass der Statthalter dem gesetz-
lichen Erben die Einweisung in den Nachlass nach Prätorischem Recht be-
(‘”) Sie erscheinen nicht eben belangreich, sobald man erwägt, dass die oratorischen
und epistolographischen Bestandtheile der Überreste von Fronto’s Schriften einander durch-
kreuzen, und dass in ihnen die rhetorische Form der Darstellung überall vorherrscht.
('”') Vergl. z. B. das Prooem. zu des Valerius Max. Dict. et fact. memorab. (S. des
Verf. Abhdlg.: Üb. Valer. Max. S.15. In dem Jahrg. 1845. dieser Abhdlgg.) und des Sym-
machus laudes in Valentinian. I. (im Anhge. d. Ausg. des Corn. Fronto v. Niebuhr. p. 5.)
wo es heisst: „„Similior Princeps est deo, pariter universa cernenti, qui cunctas partes
novit imperil.”
K2
76 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
willigt und gleichzeitig die Absendung der verschlossenen Testaments - Ur-
kunde nach Rom verfügt gehabt habe, um dem Kaiser die Entscheidung
über den Vorzug der concurrirenden Prätorischen Testaments- und Intestat-
Erben anheimzustellen. Kenner des römischen Rechtes mögen jedoch sich
wohl vorsehen, diese Deutung zu billigen. Des Einwandes mag gar nicht
einmal gedacht werden, dass wenn Fronto wirklich den Rechtsanspruch
eines Clienten aus Cilicien vertheidigt hätte, dessen Legitimation, als eines
Provincialen, zur Erbberechtigung für den Nachlass eines römischen Bürgers
im Zeitalter Antonin’s mehr als zweifelhaft erschienen sein würde. Auch
mag hier nicht weiter der Umstand gerügt werden, dass der Proconsul, wenn
die Entscheidung des Rechtsfalles sein Bedenken erregt hätte, in herkömm-
licher Form an den Kaiser umständlich darüber zu berichten und diesem den
Inhalt des Testaments, nicht aber dessen verschlossene Urkunde, mitzuthei-
len gehabt hätte. Dagegen ist diese Bemerkung mit Nachdruck geltend zu
machen, dass der Statthalter der Provinz gegen die leitenden Grundsätze
des Prätorischen Erbfolge-Rechts verstossen haben würde, wenn er bei dem
Vorhandensein eines Testaments dasselbe uneröffnet gelassen und ohne wei-
teres die Prätorischen Intestat- Erben in den Besitz der Verlassenschaft ein-
gewiesen, oder die früher eingewiesenen im Genuss des Erbrechts belassen
hätte. Dazu kommt, dass nach der Festsetzung der Lex Papia Poppaea ('”?)
der Termin des Anfalles unbedingter Vermächtnisse auf den Tag der Testa-
ments-Eröffnung vorgerückt war, um das Anspruchsrecht der Staatscasse
auf die caduca zu begünstigen; dieses aber setzte die Nothwendigkeit voraus,
die Eröffnung letztwilliger Verfügungen an jedem Orte zu bewirken, wo es
an einer Controlle durch die, mit der Wahrnehmung der Interessen des
Schatzes beauftragten, Behörden nicht fehlte. Wir glauben vielmehr den in
Frage stehenden Rechtsfall also formuliren zu dürfen. Der Erblasser hatte
in der Provinz civile Intestat-Erben hinterlassen, die sofort ihr Erb-
folgerecht nach Civil-Recht aussergerichtlich geltend machten. Darauf
deuten die durch den Redner angeführten Beispiele von Intestat-Erben, (1”°)
(‘?) Vlpiani Fragmta. XXIV. 31.
(*?°) Ebendas. p- 71. „Quid igitur eveniet? Illud scilicet, ut testamenta omnia ex lon-
ginquis transmarinis provinciis Romam ad cognitionem tuam deferantur. Filius exhereda-
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 77
unter denen man vorzugsweis agnatische Verwandte bezeichnet findet.
Es war aber hinterher ein angeblicher Testaments-Erbe vor Gericht aufge-
treten, mit einer Testaments-Urkunde, die zwar den Formen des Prätori-
schen Rechts entsprach, d. h. schriftlich vor sieben Zeugen vollzogen war,
allein die Merkmale des Rituals der Mancipation nicht an sich trug, und mit-
hin den Erfordernissen eivilrechtlicher Testamente nicht genügte. Diesen
letzten Willen perhorrescirten die Civil-Erben mittels des Einwandes, dass
das Civilrecht dem testamentarischen Erben vor dem gesetzlichen nur als-
dann den Vorzug gewähre, wenn ein nach dem Ritus des Civil-Rechts voll-
zogenes Testament vorliege. Und auch der Proconsul glaubte, das Gesuch
des Prätorischen Erben um Bewilligung der Bonorum possessio secundum
tabulas testamenti als unbegründet nach dem geltenden Recht ablehnen zu
müssen. Dies konnte mittels eines Decrets geschehn, und so blieb die Te-
staments - Urkunde in der Provinz uneröffnet, während dem Testaments - Er-
ben es überlassen wurde, durch eine Beschwerde bei dem Kaiser Abhülfe
auszuwirken. Diese unsere Voraussetzung findet genügende Unterstützung
in dem Bericht des Gaius, (!**) nach welchem erst durch ein rescriptum
Imp. Antonini dem Prätorischen Testaments-Erben die Befugnis zugestan-
den wurde, auch gegenüber den civilen Intestat-Erben den Nachlass sich
anzueignen, obwohl das Testament ohne die Mancipations-Solennien, blos
schriftlich vor sieben Zeugen vollzogen worden war. Nach der Bezeichnungs-
form der Kaiser in diesem Werke des Gaius hat man an dieser Stelle nicht
eben an Marc. Antonin, sondern an Pius, zu denken. (!%) Dass nun
tum se suspicabitur: postulabit ne patris tabulae aperiantur. Idem filia postulabit, nepos,
abnepos, frater, consobrinus, patruus, avunculus, amita, matertera; omnia necessitudinum
nomina hoc privilegium invadent, ut tabulas aperiri vetent, ipsi possessione iure sanguinis
fruantur. Vergl. Gaius inst. II. 119. Schon A. Cramer (in den Nachträgen zu Niebuhr’s
Ausg. des Fronto p. 295.) hat auf die Zusammenstellung agnatischer Verwandten in den
vorstehenden Textesworten hingewiesen. Allein seine Angabe von einer gänzlichen Aus-
schliessung der Cognaten ist nicht genau, und sein Ausruf der Verwunderung (Quod mirum!)
ist hervorgegangen aus der unrichtigen Voraussetzung, dass das Postulat Niebuhr’s von einer
vorgekommenen Bonorum possessio intestati Fundament habe.
(‘”*) Inst. comm. II. 120. vergl. 119. 121. sq.
(‘”) S. Zimmern Gesch. d. R. Pr. Rs. Bd. 1. $.93. Anm. 30. fg.
78 Dinesen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode
Fronto einen Rechtsfall von gleicher Beschaffenheit wie den, welcher das
Rescript des K. Antoninus hervorgerufen hatte, (1°) vor Augen gehabt
habe, ist sehr wahrscheinlich, wiewohl wir nicht zu entscheiden wagen,
ob die vorliegende Rede die unmittelbare Veranlassung jenes Rescriptes
gewesen sei; denn nur dies steht fest, dass sie nicht später als dasselbe
verfasst sein kann. Es würde aber auch kein Hindernis sein, wenn Ga-
ius an Marcus gedacht hätte. Denn die Frage: ob Fronto den Zeit-
punkt der Alleinherrschaft Mare- Antonin’s erlebt habe? darf kaum als
zweifelhaft erscheinen, da einzelne seiner Briefe an diesen Kaiser mit
Sicherheit in diese Zeit zu setzen sein dürften. (17)
Abgesehen aber von allem diesem, hat Fronto seine oratorische
Aufgabe in der fraglichen Angelegenheit sehr unzulänglich gelöst. An-
statt die Rechtsfrage gehörig zu begrenzen, hat er es sich bequemer zu
machen geglaubt, indem er mittels übertriebener Argumentation das Bild
der Thatsachen verzerrte und die Zuhörer glauben machte, es handele
sich hier lediglich von der Form der Testaments-Eröffnung. Wie lächer-
lich übertreibt er die Schilderung der Zögerungen und Gefahren einer
Seereise! Die damals allgemein übliche Vorsichtsmassregel, von einem
schriftlichen Testament verschiedene Exemplare anfertigen zu lassen, hat
er gar nicht berücksichtigt. Und aus allem diesem geht hervor, dass
Fronto auch als gerichtlicher Redner nur ein Declamator war, so
dass seine juristischen Äusserungen kaum ein dürftiges Verständnis ge-
währen, durchaus aber nicht als selbsständige rechtliche Autoritäten figu-
riren können.
Zum Schlusse unserer Betrachtung, über die Stellung der römi-
schen Rechtsquellen zu den Organen der Rhetorik, nur noch diese Be-
merkung. In den Überresten des Constitutionen-Rechts der R. Kaiser
tritt ungleich mehr als in jenen des elassischen Juristen-Rechts das rhe-
(2°) Gaius hat diesen Fall nicht näher bezeichnet, so dass man nicht weiss, ob der-
selbe mit den Testamenten bevormundeter Frauen, bei welchen er des Rescriptes gedenkt,
zusammengehangen habe.
(7) S. die Epist. ad M. Antonin. Aug. p. 97. sq. Niebuhr; und besonders Epist. de ora-
tionib. no. 4. $. 3. p. 130. Vergl. H. Meyer orat. R. for. 1. 1.
der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 79
torische Element der Darstellung hervor. Allein es gilt dies nur von
den Constitutionen der späteren, namentlich der christlichen Zeit. Und
auch bei diesen kann blos die Rede sein von der Einwirkung der dama-
ligen entarteten griechischen Rhetorik. Dies aber im Zusammenhange
auszuführen und durch Beispiele zu belegen, liegt der vorstehenden Auf-
gabe viel zu fern.
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Die Composition der Polygnotischen Gemälde in
der Lesche zu Delphi.
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[Vorgelegt der Akademie der Wissenschaften am 26. April 1847.]
BE, allen Gemälden Polygnots scheinen die der Lesche im gröfsten Ruf
und Ansehn gestanden zu haben. Ein Scholion zu Platons Gorgias, wo dieser
Maler als der Bruder Aristophons ohne den Namen erwähnt ist, erinnert
statt alles Andern an die bewundernswerthen Gemälde (Savuarrn ygapn) in
Delphi mit dem bekannten Epigramm darauf. Plutarch spricht in Bezug auf
dieseiben von dem Ruhm Polygnots. (1) Plinius führt nur kurz an: hic Del-
phis aedem pin«it, d.i. cixnue, Saal: aber Philostratus erwähnt Polygnots Ge-
mälde unter den berühmtesten Weihgeschenken in Delphi (V.A. VI, 11), und
dafs Pausanias sie ganze sieben Kapitel seines zehnten Buchs hindurch be-
schreibt, verdanken wir nicht allein ihrem reichen Inhalt, denn die Worte,
womit er schliefst, sind bedeutsam in seinem Munde durch das Lob hoher
Schönheit, (?) so wenig er auch das malerische Verdienst im Einzelnen her-
aushebt. Der Kassandra des zweiten Gemäldes gedenkt Lucian als eines be-
rühmten Meisterwerks der Malerei. Da ein Gemäldesaal in Delphi, der neben
dieser Halle genannt werden könnte, nicht erwähnt wird, so ist zu vermuthen,
dafs unter dem Gemäldeschatz in Delphi (rivaruv Snrauges), wovon Polemon
bei Gelegenheit zweier marmornen Jünglinge darin sprach, (?) eben nur die
(') De def. orac. 47. er oliv 6 PovAousvos emreoSar TS ÜRırys ayAs, Inrav de za d-
daszuv r& maSyuare zur ras neraßords &s EL uySeloe ivwaris Lay za Eravı (arAıcs,
adaıgeire znv roü HuAuyvurou doEav;
©) Torayry ev mAnSIos zul eÜmgemEIaG 25 Toroürdv Errıv Yaovsa ı mod Ousıiou Ygadn.
(°) Athen. XII. p. 606. a.
Philos.- histor. Kl. 1847. L
82 Weucker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
Lesche selbst zu verstehn sei. (*) Zu Polemons Zeit hatte der Gebrauch des
Gebäudes als Lesche im eigentlichen Sinn vermuthlich längst aufgehört, da
Pausanias sagt, dafs man vor Alters dort zum Sprechen zusammengekommen
sei: daher durfte auch der Name mit einem allgemeineren vertauscht werden.
So hat man den Saal neben den Propyläen in Athen, das cixnua, wie es bei
Pausanias heifst, auch Pinakothek genannt. Auf diese Art ist auch Plutarch,
der von den Thüren der Lesche der Knidier spricht, (°) mit der Vorstellung
dafs die Leschen im Allgemeinen ohne Thüren waren, (°) vereinbarlich:
denn es ist nicht unwahrscheinlich, dafs man den Thesauros der alten Ge-
mälde, der, wenn er auch für Jedermann zugänglich war, doch nicht eigent-
lich zur Lesche mehr diente, durch Gitterthüren, vielleicht schon sehr frühe
verwahrt hatte.
Der Saal (cixnua) mit den von den Knidiern dem Apollon geweihten
Gemälden, der von den Delphern fortwährend Lesche genannt wurde weil er
ehemals ihre Lesche gewesen war, befand sich über der Quelle Kassotis, (7)
und der verstorbene Ulrichs glaubte in einem alten Fufsboden in einem Heu-
magazin oberhalb dieser Quelle den der Lesche zu entdecken. Wenn man
aus dem Tempel kommend sich links wandte, kam man zu dem Grab des
Neoptolemos, umgeben mit einer Einfassung, an welchem die Delpher jähr-
lich eine Todtenfeier begiengen: von da aufwärts war der Stein des Kronos
und wenn man von diesem wieder nach dem Tempel zugieng die Kassotis. (°)
Die Lesche also, über der Kassotis, war dem Tempel ungefähr gegenüber.
In dem ersten Gemälde kam Neoptolemos vor noch allein von den Hellenen
im Morden begriffen, wobei Pausanias bemerkt, diefs sei darum, weil das
ganze Gemälde (worunter beide Wände verstanden werden) über das Grab
(*) Wieseler in den Götting. Anz. 1841 S.1844. R. Rochette Peint. ant. p. 113
versteht irgend eine andre Pinakothek in Verbindung mit dem Tempel, wie man denn
wohl allgemein gethan hat.
(°) De def. orac. 6. Non ÖE mus amd rol ve moolovres em rais Sugaıs r7s Kridiwv Ac-
syns Eysyoveıev. Dals diels nur Eingang bedeuten sollte, ist nicht wohl glaublich. Was
Demosthenes sagt Phil. IV p. 140 Reisk. ö &rı rais Sugaıs Eyyüs ourwrt alEavonevos, ist
verschieden.
(°) Schol. Odyss. XVII, 329. ons aTVewrov.
(7) Pausan.' X, 25,1.
(2) Id. 24,5.
in der Lesche zu Delphi. 83
des Neoptolemos sein, darauf sich beziehen sollte. (?) Diese Wahl des Ge-
genstandes zu Ehren des Neoptolemos ist auch nicht zu bezweifeln, obgleich
Polygnot auch ohne das in einer Lliupersis den Neoptolemos nicht anders
als einen andern Achilleus in dem Abschnitt des Kriegs nach dem Tode des
ersten, als den blutigsten der Helden hätte darstellen können. Auch dafs
in der mit dem Felde der Zerstörung verbundnen Unterwelt Achilleus eine
hervorragende Stellung einnimmt, war durch die Odyssee, durch die ganze
Poesie dieses Kreises vorgezeichnet, indem es zugleich der örtlichen Bestim-
mung dieser Darstellung diente. Übrigens hat dieser örtliche Bezug, der die
Wahl des Gegenstandes bestimmte, den tief denkenden Künstler nicht ver-
leitet in der Behandlung so grofser Stoffe, worin er alte berühmte Dichtun-
gen zu Vorbildern hatte, von deren Bedeutung und Bestimmung in ihrem
Ganzen, ihrem Zusammenhang und ihrer Einheit abzusehn und im Charakter
der Personen und Verhältnisse oder in der Anordnung irgend etwas zu erfin-
den, das die freie Gestaltung der allgemein gültigen Sage und die reine Zu-
sammenstimmung aller aus ihr ergriffnen Bestandtheile stören könnte. Irrige
Vorstellungen über die Abhängigkeit der ersten Composition von Neopto-
lemos, der andern von Odysseus haben, nächst einer mangelhaften Auffas-
sung des Zusammenhangs der alten Poesie, vorzüglich beigetragen zur Ver-
kennung des Plans und künstlerischer Absichten, die fast durchgängig sich
verständlich und deutlich aussprechen.
Von einheitlicher Composition eines grofsen, vieltheiligen dichteri-
schen Ganzen bietet Polygnot in der Malerei durch die Beschreibung des
Pausanias das früheste bis dahin bekannte Beispiel dar. Zu vermuthen ist
sie auch in den Werken grofser Zeitgenossen von ihm, in dem Krieg der
Sieben gegen Thebä von Onatas im Tempel der Athene zu Platäa, in Mikons
Argonauten und seinen beiden Gemälden des Sieges des Theseus über die
Amazonen in Athen, in der Marathonischen Schlacht von Panänos. Nur die
noch nicht bekannt gemachte von Herrn Francois ausgegrabene grofse Vase
in Florenz zeigt uns eine weit ältere Kunst schon auf demselben Wege, eine
Composition, die zu den Kyprien in ähnlichem Verhältnisse steht wie die
eine des Polygnot zur Kleinen Ilias. Noch zählt man darauf 115 beigeschrie-
u \ er . .. ...
C) 26,1 — orı ümeo roü Neomrorsmou rov Focbov (eigner Gebrauch der Präposition) 4
year NETE EluenAev Ur yerysesSar.
L2
84 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
bene Namen. Iliupersiden waren aufser der des Lesches von Arktinos und
von Stesichoros vorhanden; Nekyien enthielten aufser der Odyssee die No-
sten und die Minyas als Episoden, und die der letzteren hat Polygnot in
Einigem vor Augen gehabt, während die Homerische seine Erfindung haupt-
sächlich leitete und bestimmte. Die ausführliche Beschreibung dieser beiden
Gemälde ist daher für den Kreis der Poesie und den der Kunst gleich wich-
tig. Das Prineip der symmetrischen Composition zeigen sie in gröfserem
Umfang und schöner durchgeführt, die malerische Dichtung im epischen
Stoff erfinderischer und reicher als irgend ein andres Werk der alten Ma-
lerei; sie sind ein Höchstes in ihrer Art, nicht weniger als in andrer Compo-
sitionsweise die Giebelgruppen des Parthenon.
Die Untersuchung dieser Compositionen hatte ich in der Zeit, als ich
mit den Gemälden des Philostratus beschäftigt war, mir angelegen sein lassen
und sie auf engem Raum nach Abtheilungen in Feldern, mit Gruppen von
Buchstaben statt der Figuren nachgebildet, die Gründe auseinandergesetzt,
Alles in allem Wesentlichen so wie ich sie jetzo vorzulegen im Begriff bin. (!°)
Jacobs, dem ich unter den Arbeiten, die wir damals untereinander zur Her-
ausgabe des Philostratus austauschten, das erste Gemälde mitgetheilt hatte,
schrieb mir (24. Mai 1824), es scheine ihm die Darlegung der Ordnung so
klar und dem symmetrischen Geiste der alten Malerei so angemessen, dafs
er Einwendungen dagegen kaum für möglich halte. Auch schickte er mir
bald nachher unaufgefordert zur Benutzung bei der Bekanntmachung der
Arbeit, die er voraussetzte, fortlaufende Anmerkungen zu dem einschlägigen
Texte des Pausanias, die er ehmals aus Anlafs von Böttigers Behandlung der
Sache in der Archäologie der Malerei niedergeschrieben hatte und woraus
ich mir zur Pflicht mache, bei dieser Gelegenheit endlich spät noch aus Er-
kenntlichkeit, alles die Sachen Betreffende an seinem Ort mitzutheilen. (1!)
(‘%) Philostr. Imagg. p. 485. Aeschyl. Tril. S. 442. 512, wo auch das Princip der gan-
zen Anordnung ausgesprochen ist, so dals, wer diesem einigermalsen vertraute, mit dem
Nachweis meiner eignen Anordnung mir hätte zuvorkommen können, zumal da auch die
Hauptsache aus dem ersten Gemälde, die Eidscene als Mittelgruppe der sieben Abtheilun-
gen unten, in einer mit Recht nicht unbekannt gebliebenen Dissertation von König de
Pausaniae fide et auctoritate, Bonnae 1832 p. 48 aus meinen Vorlesungen angeführt war.
(') Sie füllen in der Abschrift einen Bogen. Nicht wenige, die gegen Böttigers Ver-
muthungen gerichtet sind oder Einzelheiten des Ausdrucks angehn, sind durch die Aus-
in der Lesche zu Delphi. 35
Der Bekanntmachung aber stand entgegen die Schwierigkeit einen Künstler
zu finden, der nach den Bemerkungen eines Erklärers das Werk der Auf-
zeichnung hätte unternehmen können, der talentvoll und erfinderisch genug,
zugleich in den uns fremdartigen Geist dieser älteren Kunst eingeweiht, mit
ihren Werken vertraut und dabei zu der innigen Hingebung bereit gewesen
wäre, durch die eine Kunst des Übersetzens unter uns möglich geworden ist.
In dieser höchsten Art der Übersetzung, die zu ihrer Darstellung die Züge
aus zerstreuten und schwer nur herauszufindenden Kunstwerken zusammen-
suchen mülfste und allein den Gedankeninhalt sich gegeben sähe, zugleich
die gröfste Treue und Abhängigkeit zu bewahren, ist keine gewöhnliche Auf-
gabe, und ein Künstler, der diese Bedingungen vereinigte, lebt vermuthlich
auch jetzt nicht, obgleich unter Umständen das Ziel auf eine Art erreicht
werden könnte; die einen Kreis besonders unterrichteter Beschauer in freu-
diges Erstaunen setzen würde. Zwei befreundete grofse Künstler, Corne-
lius und Rauch, die in jener Zeit durch die ihnen vorgelegte Probe archi-
tektonischer Composition sich angesprochen fühlten, äufserten einige Hoff-
nung unter ihren Schülern einen oder den andern zu finden, der sich zu
dem Unternehmen eignete; die Sache blieb ruhen, obgleich ich wohl ein-
sehn mufste, dafs sie, wenn begründet, im Zusammenhang der Kunstge-
schichte und bei der Würdigung anderer Kunstwerke manchen Aufschlufs
geben würde. Erst ein wiederholter Aufenthalt in Rom in den letzten Jah-
ren hat Anlafs gegeben den alten Versuch wieder hervorzuziehen, welcher
dadurch nicht überflüssig geworden sein wird, dafs seit jener Zeit immer
mehr alle Blicke sich auf die früher vernachlässigte Composition in den alten
Bildwerken richten und dafs viele seitdem gefundne wichtige Werke das
Verständnifs derselben gar sehr erleichtern. In Rom traf ich nemlich mit
gabe von Walz und Schubart nun überflüssig geworden. Nur einige Verbesserungen will
ich ausheben, die auch in dieser gemacht sind, wo auch c. 25,2 9 zu: “EAvyv für zu oder
evSc«, aus Jacobs zum Achilles Tatius aufgenommen ist. Nemlich c. 26,1 suveSyze für
o0z &Syze. Ib. schlielst auch Jacobs das wiederholte "Odysseus aus, denkt auch an Esr7zev
evösduzus Sugar für Zr, dagegen wird ib. 'Ayxıareis mit Recht beibehalten und die von
Pausanias gegebene Erklärung des Namens Neorrcrsuos mit der von "ArrueveZ verglichen.
c. 28,4 5 de "Olnaov moimsıs % 25 Odvsser mit Recht gefordert, c. 29, 2 TE oVv ToÜ ovov
&s ro "Ozvov zyv yuvaize vorgeschlagen, c. 29,3 das ausgefallene ya vermuthet, was
Schubart aus einer Handschrift aufnahm, c. 30,2 sehr wohl geschrieben zu: "Iasevs. yavsınv
od: © Ey, für 68.
86 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
dem noch lebenden der beiden Brüder wieder zusammen, die in Jugendjah-
ren dort meine Freunde geworden waren und die für die Gemälde der Lesche
mehr und schwierigeres geleistet haben als irgend Jemand geleistet hat, noch
auch, selbst wenn er ihr Werk in mehr als einer Richtung sehr zu vervoll-
kommnen im Stande wäre, künftig je für sie thun kann. Beide Brüder hat-
ten, als der jüngere, noch lebende nur sechszehn Jahre alt war, ihre ersten
Zeichnungen des ersten Gemäldes, noch ohne Grundrifs des Ganzen, zur
Weimarischen Kunstausstellung an Göthe geschickt und diesen dadurch im
Jahr 1803, nicht zu einer Preisaufgabe, sondern zu der eignen Arbeit über
beide Gemälde veranlafst, die in der Jenaischen Litteraturzeitung von 1804
erschien und sich im 44. Bande seiner Werke befindet. (1?) Sie selbst liefsen
die Zerstörung Ilions in 15 Blättern in Göttingen 1805, mit Erläuterungen
von Chr. Schlosser erscheinen, worauf ihrem nun hinzugefügten Grundrifs
des Ganzen in der Jen. Litter. Zeit. 1805 Jul. von den Weimarischen Kunst-
freunden, gröfstentheils mit Beibehaltung ihrer Gruppen, ein andrer Plan
entgegengestellt wurde, worin, was in dem ihrigen vermifst würde, ein Hü-
ben und Drüben, Gegensatz und Gleichgewicht und durchlaufende Linien
eingeführt sind. ('?) Ihre Arbeit trat nachher 1826 in verbesserter Gestalt
in 18, zugleich mit dem zweiten Gemälde in 20 grofsen Kupfertafeln ans
Licht (mit neuem Titel 1829). In Rom also besprach ich mit Joh. Riepen-
hausen den Gegenstand und es gelang mir den an eignen sinnigen und an-
muthigen Werken unausgesetzt thätigen Künstler zur Entwerfung beider
Compositionen nach meiner Erklärung zu bestimmen. Es galt dabei nicht,
nach Mafsgabe der seitdem möglich gewordnen bestimmteren Begriffe über
Charakter der Polygnotischen Zeichnung und ihr Verhältnifs zu gewissen
uns erhaltenen Kunstdenkmälern, den Styl oder auch die Composition der
einzelnen Figuren und Gruppen im Allgemeinen umzugestalten, sondern nur
eine neue Anordnung der Gruppen aufzustellen und Einzelnes nach andrer
Auslegung des Pausanias zu berichtigen, so dafs diese Entwürfe dem grofsen
Werke beigelegt, das, abgesehn von Polygnots wahrscheinlichem Styl und
('?) Göthes Entwürfe beider Gemälde durch Buchstaben sind auch in der Übersetzung
des Pausanias von Wiedasch 1830 wiederholt Bd. 4 S. 544.
() Diesen Grundrils fügte Siebelis dem 3. Theile seines Commentars bei, indem er
verschiedene von ihm getroffene Veränderungen durch einen Zeichenlehrer ausführen liels
(p. XXIM. 237.).
in der Lesche zu Delphi. 87
seinem Ausdruck in Stellungen und Charakteren, durch sein eigenthünli-
ches künstlerisches Verdienst so sehr ausgezeichnet ist, diesem, das ohnehin
in Deutschland weniger verbreitet ist als es zu sein verdient, gewissermafsen
als Einleitung zu einer zweiten Ausgabe dienen könnten. Ist nemlich durch
eine kunstgemäfsere, übersichtlichere, an klaren Bezügen reichere Anord-
nung für die Schätzung der beiden Werke etwas gewonnen, so mufs hier-
durch auch der Belang aller einzelnen Theile, wie sie auf einzelnen Blättern
gröfser dargestellt sind, für den Kunstfreund gesteigert werden. Es ist be-
kannt, wie schwer es ist sich von selbstgefafsten und öffentlich dargelegten
Ansichten und Combinationen zu trennen und in fremde einzugehn, und ich
mufs daher dem trefflichen Künstler doppelt dankbar dafür sein, dafs er aus
Freundschaft für mich so viele und grofse Änderungen in seinen eignen frü-
heren Entwürfen vorgenommen hat. Dem wirklichen Styl der Polygnoti-
schen Zeit, den ich auf Anlafs eines merkwürdigen Vasengemäldes im 2.
Bande der Annalen des Archäologischen Instituts, französischer Section,
genauer zu bestimmen gesucht habe, durch tiefes Studium ausgewählter Va-
sengemälde sich zu nähern, obgleich nur sehr wenige einzelne Darstellungen
unmittelbar benutzt und fast übergetragen werden könnten, möchte einem
Andern leichter fallen als dem, der sich so lang und viel beschäftigt hat nach
eignen Ideen die Gemälde der Lesche blofs aus Pausanias und nach einer
unter Malern seltnen Kenntnifs der alten Bildhauerwerke herzustellen, und
der Mühe haben würde, für dieselben Gegenstände in einem verschiedenen
Styl zum andernmal Gestalt und Charakter zu erfinden. Aber die Künstler
sind gewils nicht über den Standpunkt auch der besten Übersetzer früherer
Zeit hinaus, die es nicht lassen konnten, wie es die ausländischen auch jetzt
nur selten lassen können, ihren eignen Geist und Geschmack in die Nach-
bildung zu legen und die Treue und Selbstentäufserung für sklavisch anzu-
sehn, die doch mit der gröfsten Freiheit verbunden sein können, wenn die
Höhe der Aufgabe richtig gefafst wird.
Die Vertheilung der Bilder an den Wänden in drei Reihen der Figuren
über einander, ohne Linienabtheilung, wie sie sich aus der Beschreibung er-
giebt, ist eine uns aus vielen Vasengemälden, deren Vorbilder wir uns zum
Theil in grofsen Wandgemälden denken dürfen, bekannte Einrichtung. ('*)
(‘‘) Millin Vases de Canosa und Peint. de Vases I,49. R. Rochette Mon. ined. pl.
35. Mon. d. Instit. archeol. II, 49. 50 und häufig.
88 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
Die im Alterthum überhaupt so weit reichende Dreitheilung herrscht auch
an den Wänden in Pompeji in so fern als diese gewöhnlich drei horizontale
Abtheilungen in der Grundfarbe haben, der Sockel schwarz oder doch der
dunkelste Theil, der mittlere Theil der Wand, der gröfste, fast immer in
lebhaften Farben, und der obere der hellste, der indessen zuweilen von
dem mittleren nicht geschieden ist.
Die Zerstörung Ilions.
Der Inhalt genau nach Pausanias.
Wenn man in das Gebäude eingetreten ist, so ist alles zusammen von
dem Gemälde, was man zur Rechten hat, das eingenommene lion und die
Abfahrt der Hellenen.
1. Dem Menelaos werden die Anstalten zur Rückkehr gemacht, ein
Schiff ist gemalt und darinnen Schiffsleute, Männer und Jungen ('?) unter
einander; in der Mitte des Schiffs ist Phrontis, zwei Stangen haltend und un-
ter ihm ein Ithämenes, welcher Gewänder oder Decken trägt und Echöax
geht die Schiffstreppe herab mit einem Wasserkrug aus Erz.
2. Auch brechen die Feldhütte des Menelaus nicht weit von dem
Schiff Polites, Strophios und Alphios ab und eine andere löst Am-
phialos auf; unter den Füfsen des Amphialos aber sitzt ein Bursche, der
keine Überschrift hat, und Bart hat allein Phrontis.
3. Briseis, welche stehend, und Diomede über ihr und Iphis vor
beiden sehen aus wie betrachtend die Schönheit der Helena. Helena aber
sitzt so wie ihr nahe auch Eurybates, vermuthlich der Herold des Odys-
seus, obgleich er noch keinen Bart hat. Dienerinnen Elektra und Pan-
thalis, diese neben der Helena stehend, (1%) Elektra der Herrin den Schuh
anbindend.
('”) aides, nicht Knaben, Kinder des Lagers von neun bis zehn Jahren (Böttiger S.
317), sondern Schiffsjungen: c. 25,2 Zriyganıa de oix Eorı rw madı, yevsız de movw TW
®govridı. Die an das Schiff angelegte Treppe sieht man an der schönen Cista des Kir-
cherschen Museums mit den Argonauten und an dem Sarkophag mit der Entführung der
Iphigenia aus Tauri. Mon. ined. 149.
('‘) Gewils nicht mit Spiegel oder Schmuckkästchen, wie Böttiger S. 318 meint, son-
dern müfsig dastehend, wie die Riepenhausen sie zeichneten.
in der Lesche zu Delphi. 89
4. Über der Helena sitzt ein Mann in ein purpurnes Himation ein-
gehüllt und auf das Äufserste niedergeschlagen, in welchem man Helenos,
des Priamos Sohn, vermuthet noch ehe man die Überschrift gelesen. Nahe
dem Helenos ist Meges, welcher in den Arm verwundet ist, und gemalt ist
auch bei dem Meges Kreons Sohn Lykomedes, der eine Wunde auf dem
Handgelenk hat, dazu eine am Knöchel und eine dritte auf dem Kopf; und
verwundet auch Euryalos am Kopf und am Handgelenk. Diese sind höher
als Helena in dem Gemälde.
3. Verbunden mit der Helena sind die Mutter des Theseus, kahl
geschoren, und von den Söhnen des Theseus Demophon, nachdenkend so
viel aus der Stellung sich ergiebt, ob es ihm gelingen wird die Äthra zu be-
freien. Denn Lescheos Aa über sie, dafs sie, so bald Ilion eingenom-
men war, entwich und in das Lager der Hellenen kam und von den Söhnen
des Theseus erkannt wurde und dafs Demophon sie von Agamemnon erbat,
dieser aber jenem zwar gefällig sein wollte, aber erklärte, es nicht thun zu
können ohne zuvor Helena dazu zu bewegen: da er denn einen Herold sandte,
that ihm Helena den Gefallen. Nun scheint der Eurybates im Gemälde zur
Helena gekommen zu sein der Äthra wegen und den Auftrag des Agamem-
non auszurichten.
5. Die Troerinnen dann gleichen Gefangenen und Wehklagenden; es
ist gemalt Andromache, vor welcher der Knabe steht und ihr die Brust er-
greift, und Medesikaste, eine der unehlichen Töchter des Priamos, beide
mit Schleiern verhüllt; Polyxena aber hat nach der Jungfrauen Weise die
Haare auf dem Kopf aufgeflochten.
6. Dann hat er auch den Nestor gemalt mit einem Hut auf dem Kopf
und zwei Lanzen in der Hand und sein Rofs in der Gestalt als wenn es sich
eben wälzen wollte.
Bis zu dem Rofs ist Ufer und darin Steinchen sichtbar, von da an
aber ist nicht mehr See zu erkennen.
7. Über den Weibern zwischen Äthra und Nestor in der Höhe sind
ebenfalls Gefangne, Klymene, Kreusa, Aristomache und Xenodike
(zwischen Äthra und Nestor, nicht zwischen Demophon und Nestor, so dafs
also jene aufserhalb, Demophon nach der Helena zu stehen scheint.)
S. Über diesen sind auf einem Ruhbett gemalt Deinome, Metioche,
Peisis und Kleodike.
Philos.-histor. Kl. 1847. M
90 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
9. Dann ist gemalt Epeios nackt, die Mauer der Troer auf den Bo-
den niederwerfend, über welche allein der Kopf des hölzernen Pferdes her-
vorragt. (!7)
10. Polypötes des Pirithoos Sohn, den Kopf mit einer Tänia um-
wunden, ('%) und neben ihm Akamas der Sohn des Theseus den Kopf mit
einem Helm bedeckt, auf dem Helm ein Busch; und Odysseus mit einem
Panzer angethan, Ajas aber des Oileus Sohn, der einen Schild hat, steht
bei dem Altar und schwört über das Erkühnen gegen Kassandra. Kassandra
sitzt zur Erde und hält das Bild der Athena, da sie ja das Xoanon vom Ge-
stell wegrifs als Ajas sie von der Zufluchtstätte fortzog: gemalt sind dann
auch die Söhne des Atreus, auch diese behelmt, und Menelaos hat auf
dem Schild einen Drachen des in Aulis bei dem Opfer erschienenen Zeiehens
wegen: (1?) durch diese wird dem Ajas der Eid abgenommen. (?°)
11. Gegenüber dem Pferde bei dem Nestor ist Neoptolemos, der
den Elasos getödtet hat, welcher Elasos einem nur noch wenig Athmenden
ähnlich ist; den Astyonoos, der auf das Knie gesunken ist, (?!) haut Ne-
optolemos mit dem Schwerdt.
12. Ferner ist ein Altar gemalt und ein kleiner Knabe, der aus
() Für dm aörav, das mit Bezug auf Towwv gesetzt worden war, vermuthete Siebe-
lis, wie auch Jacobs, und setzten Walz und Schubert und L. Dindorf ürsg «öre. Böttiger
S. 326 versteht, das Rols werde hereingezogen: aber die Zerstörung ist ja schon erfolgt,
nachdem die Männer ausgestiegen sind.
('°) Der Grund dieses Schmucks läfst sich nicht angeben: denn auf den Sieg des Po-
Iypötes in den Leichenspielen Il. XXIII, 844 allein bezog er sich gewils nicht, und an ein
erotisches Zeichen ist in diesem Kreis und in dieser Zeit schwerlich zu denken.
() Meyer zu Winckelmann Th. 2 S. 720 deutet diese Schlange als Wappen von
Sparta. Vgl. Heynes Antiqu. Aufs. I S. 90 Not. Zeitschr. für a. K. S. 575. Auf der
Weimarischen Vase mit dem Raub der Kassandra hat Ajas den Drachen und er führt bei
Philostratus Her. VIII, 11 einen zahmen Drachen bei sich.
(9) Emı rovras Tov Alkvre EEogzoürı. Jacobs: his adstantibus. Malles utique ovror aut
mivre o0roı. Nemo tamen tam violento remedio uti volet. Unde autem Boettigerus noverat,
Ulyssem stare aversum, cum Polypoete colloquentem? Siebelis erklärt richtig propter, de:
Zmı rovros geht zurück auf das Vergehn und eZogzoös: geht auf die fünf Heroen. Durch
die falsche Erklärung prope, post illos waren auch die Riepenhausen verleitet worden, die
Eidabnahme den Atriden allein zu geben, wie auch Bötliger S. 326 thut.
(*') Nicht flehend, sondern überwältigt, wie Aesch. Ag. 63 yovaros zeviasw Eperdens-
vov, vgl. die Stellen bei Blomtield.
in der Lesche zu Delphi. 91
Furcht den Altar erfafst, und auf dem Altar liegt ein eherner Panzer von
einer Gestalt, die zu meiner Zeit selten ist, vor Alters aber trugen sie solche.
Es waren eherne Stücke, das eine der Brust und der Gegend um den Leib
angepafst, das andre zur Bedeckung des Rückens und man nannte sie Gyala,
legte das eine vorn, das andre hinten an und fügte sie nachher mit Spangen
aneinander. Auf der andern Seite des Altars hat Polygnot die Laodike ste-
hend gemalt. (2?) Nächst der Laodike ist ein Untersatz von Stein und ein
ehernes Badbecken darauf und Medusa sitzt auf dem Boden mit beiden Ar-
men den steinernen Fufs umfassend. Neben der Medusa aber ist eine kahl
geschorne Alte oder ein Eunuch mit einem nackten Knäblein auf dem
Schoofse, welches aus Furcht die Hand vor den Augen hält.
13. Todte dann, Pelis mit Namen nackt auf den Rücken geworfen,
unter dem Pelis liegen Eioneus und Admetos noch mit den Panzern an-
gethan.
14. Andere höher als diese, über dem Badegefäfs Leokritos des Po-
Iydamas Sohn, der durch Odysseus umgekommen, über dem Eioneus und
Admetos aber Koröbos des Mygdon Sohn, der um Kassandra freite.
15. Ferner sind über dem Koröbos noch Priamos, Axion und
Agenor.
16. Die Leiche des Laomedon tragen Sinon, Freund des Odysseus,
und Anchialos weg.
14. Noch ein andrer Todter ist gemalt Namens Eresos.
17. Ferner das Haus des Antenor und ein Pardelfell über dem
Eingang aufgehängt als ein Zeichen für die Hellenen, sich des Hauses des
Antenor zu enthalten. Gemalt sind Theano und ihre Söhne sitzend, Glau-
kos auf einem aus Brust- und Rückenstücken zusammengefügten Panzer,
Eurymachos auf einem Felsstück. Neben ihm steht Antenor und zu-
nächst Antenors Tochter Krino, welche ein kleines Kind trägt. Der Aus-
druck der Gesichter ist bei allen ihrem Geschick gemäfs.
(*”) Böttigers Emendation in Betreff der Laodike S. 334 beruht auf offenbarem Mils-
verständnils. Den Panzer aus zwei Stücken hatte Pausanias in einem Gemälde des Kalli-
phon von Ephesos im dortigen Artemistempel gesehn, wo er dem Patroklos von Mädchen
angelegt wurde. Zugleich führt er die Stelle der Ilias XVII, 314 an. Mehr über die
yvar.c bei Böttiger Vasengem. II $S.73, Bröndsted Bronzen von Siris $.24. Hr. Ritt-
meister Maler in Baden besitzt in seiner merkwürdigen Sammlung antiker Rüstungsstücke
und Waffen auch die beiden Hm Tongerzice eines solchen Panzers.
M2
92 Weucker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
18. Einen Kasten und andres Geräthe laden Diener auf einen Esel:
auf dem Esel sitzt auch ein kleines Kind. (°°)
Die Absicht des Pausanias, wie man aus dem Zusammenhang und der
ganzen Beschaffenheit seiner Beschreibung schliefsen mufs, war weniger auf
das Gemälde als ein Werk der Kunst gerichtet wie auf den Inhalt oder das,
was es ihm zur Bereicherung der heroischen Mythologie darbot. So sehr ist
diefs der Fall, dafs man sich eher wundern mufs, warum er so häufig Nach-
richt über das Räumliche der Figuren giebt, indem alle diese Nachrichten,
wie sie vorliegen, nicht dazu führen von der Composition des Gemäldes eine
Vorstellung und Übersicht zu verschaffen. Hätte er diese bezweckt, so
durfte er nicht in so vielen Fällen als geschehn ist die Angabe der Stelle der
Figuren unterlassen, und so konnte er durch ein-paar Worte über die Rei-
hen und die Eintheilung der Gemälde im Allgemeinen, über den Mittel-
punkt, die Enden, die Zahlen der Figuren einzelner Abtheilungen oder im
Ganzen den Leser so bedeutend fördern, dafs nun auch die Bestimmungen
über einzelne Figuren ihm überall fafslich und fruchtbar sein würden. Aber
vermuthlich waren die Gesichtspunkte der Erfindung und der Anordnung,
die wir jetzt aus einem Kunstwerk entwickeln, ihm fremd und unbekannt,
da auch seine sonstigen Schilderungen nicht verrathen, dafs er auf diese Ge-
heimnisse der Kunst einzugehen vorbereitet oder gestimmt war. So konnte
es nicht anders geschehen als dafs die Entwürfe der Compositionen, wobei
man sich blofs an die Worte des Pausanias hielt, nicht blofs keine Ähnlich-
keit mit der aus so vielen Kunstwerken bekannten Art der Composition über-
haupt verrathen, sondern auch unter sich in solchem Grade verschieden sind
wie es der Fall ist.
Aber wenn aus den Worten des Pausanias unmittelbar die Compo-
sition nicht durchgängig gefafst und bestimmt werden kann, so schöpfen wir
doch dadurch aus ihnen hinlänglichen Aufschlufs, dafs sie uns bestimmte
Gruppen und die Personen in ihrer Vollständigkeit überliefern. Es stellen
sich nemlich in diesen Gruppen und Personen der prüfenden Untersuchung
Bezüge, Gegensätze und in gröfserer Bestimmtheit nach ihrer ganzen Aus-
(©) Böttiger S. 329 bezieht mit Unrecht auf diesen Esel den sprichwörtlich geworde-
nen IHoruyvwrcu cvov im Anakeion in Athen. Hesych. s. v.
in der Lesche zu Delphi. 93
dehnung Reihen heraus, worin die von Pausanias nicht ausgesprochnen, ent-
weder nicht geahnten oder nicht beachteten Gedanken und Absichten des
Malers selbst deutlich und entschieden zu erkennen sind. Diese aus dem
Innern der Darstellung hervorgehenden Zeichen, die im Sinn der Gruppen
und Figuren und ihrer Verhältnisse untereinander liegenden Winke haben
wir mit den ausdrücklichen Ortsbezeichnungen zu verbinden um der Wahr-
heit näher zu kommen: auf diesem Prineip beruht die neue Darlegung der
Composition. Es versteht sich, dafs man an den Wortlaut der Beschreibung
sich genau zu binden hat, wenn man die Composition des Polygnot sucht
und nicht seine eigene an die Stelle zu setzen Lust hat. Aber keineswegs
ist Pausanias der einzige Führer und Gewährsmann: sondern die malerischen
Bedingungen überhaupt, die wir durch die Gesammtheit der alten Kunst-
werke zu fassen im Stande sind, der aus beiden grofsen Gemälden erkenn-
bare Geist des Meisters und die Natur des vorliegenden Gegenstandes, nach
allen Seiten und Beziehungen betrachtet, kurz eigene anderswoher als aus
Pausanias geschöpfte Kenntnifs mufs uns leiten bei allem demjenigen, wo
die Unbestimmtheit seines Ausdrucks uns volle Freiheit läfst. Die Vorstel-
lung von den Verhältnissen des Bildes darf nicht in Widerspruch mit seinen
Formeln sein, es müfsten denn sehr starke Gründe uns überzeugen dafs er
ein oder das andremal sich in ihnen: vergriffen habe: aber diefs Negative
reicht nicht zu, sondern um die Vorstellung auszubilden müssen Motive be-
rücksichtigt werden, die ganz aufser dem Gesichtskreis des Pausanias lagen,
indem es ihm nur ankam auf eine Aufzählung und Erklärung der Personen
nach ihren Reihefolgen über einander. Hätte er auf die Composition Rück-
sicht genommen, so mulfste er wenigstens die Zahl der Reihen der Figuren
übereinander im Allgemeinen und bestimmt angeben: die ganze Beschrei-
bung würde eine andre geworden sein. Was er über die Personen berichtet,
ist schätzbar, wenn auch für uns in Bezug
5
gleichgültig. Völlig überflüssige Anmerkungen, wie über den Vogel Oknos
auf das Gemälde gröfstentheils
im zweiten, über Dionysos im ersten Gemälde, dafs Theseus bei den Ar-
geiern auch einen Sohn Melanippos habe, wo er eben so gut auch Iphigenia
als die Tochter des T’heseus und der Helena in Argos und andre Fabeln hätte
anführen dürfen, und mehr dergleichen enthüllt uns nur zu sehr seinen an-
tiquarischen Standpunkt, von dem aus die einleuchtendsten und die merk-
würdigsten künstlerisch - poetischen Motive und Verhältnisse der Compo-
94 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
sition ihm entgiengen. Das Hypothetische also, wenn wir das aus dem all-
gemeinen künstlerischen Brauch und innerer Nothwendigkeit Abgeleitete so
nennen wollen, soll nirgends die gegebenen Bestimmungen aufheben, beu-
gen oder beeinträchtigen, sondern nur da, wo sie fehlen und die Vorstel-
lung frei gelassen ist, sie ersetzen und im Falle der Unbestimmtheit oder
Ungewifsheit ihres Verständnisses und ihrer Anwendung uns leiten. Da z.B.
über (ürsg, ohne Unterschied des Genitivs und Accusativs) eben so wohl
von einer höheren Stellung in derselben Gruppe als von der Stellung in der
höheren Reihe gebraucht ist, so steht es der höheren als der blofs wörtli-
chen Auslegung zu, es in dem einen oder dem andern Sinne zu nehmen,
und da x«rw nicht das Senkrechte einschliefst, so ist erlaubt anzunehmen,
dafs hier und da die damit bezeichnete Figur schräg in unterer Linie gestan-
den habe; eben so da ner& nicht die F olge in derselben Reihe (e&pe£As) ein-
schliefst, darf es auch auf die untere bezogen werden, was im zweiten Ge-
mälde zweimal geschehen mulfs.
Der versuchte Entwurf der Gemälde geht demnach, worauf zur rich-
tigen Beurtheilung des Versuchs Alles ankommt, zurn Theil aus Gegebenem,
zum Theil aus Errathenem hervor, aus der einträchtigen Verbindung und
innerlichen Verschmelzung sicherer Angaben und als nothwendig erkannter
Annahmen. Zur Anstellung der Probe ist beides auseinanderzuhalten, es
dient aber zur Abkürzung wenn ich mit dem Plan und dem Gedanken, die
dem Gemälde zu Grunde liegen, den Anfang mache. Dafs die beigegebene
Zeichnung sich hinlänglich den ausdrücklichen Angaben des Pausanias an-
schliefse, um nach ihm diese Gedanken entwickeln zu dürfen, wird nachher
aus der Zusammenstellung dieser Angaben und ihrer Vergleichung sich leicht
ergeben und die bis dahin auf dem Gerüste dieser Voraussetzung beruhen-
den Bemerkungen werden hierin ihren festen Schlufs erhalten, es wird die
Anordnung auch in Bezug auf den Text sich rechtfertigen.
Zuerst fällt in die Augen die Eintheilung des Ganzen in Schiffslager,
Burg und Stadt, und dafs die Abtheilungen zur Seite der Akropolis einander
in der Ausdehnung und in den Massen entsprechen. Die eine kann man die
Seite der Achäer nennen, und diese war durch Ufersteinchen bis zu dem
Rofs des Nestor (einschliefslich) als Seeküste bestimmt unterschieden, die
man auf diese Art auch in Vasengemälden angedeutet zu sehn gewohnt ist,
die andre war die Seite der Troer. Auf jener sind zunächst der Burg im
in der Lesche zu Delphi. 95
Lager die gefangnen Troerinnen zur Beutevertheilung, auf der Stadtseite un-
ten auch Troerinnen, welche die Schrecken der eingenommenen Stadt aus-
drücken, in verzweiflungsvollen Geberden, indem über ihnen die Leichen
ihrer Männer sichtbar sind. Weiterhin auf der Seite der Achäer Helena im
Glanze der Schönheit und fürstlicher Hoheit, wieder erobert, ein lebendiges
Triumphzeichen, und auf der andern Seite im vollsten Contrast nur Leichen
der Männer, die in der Stadt überfallen, niedergemetzelt oder im Kampf
überwältigt worden sind. Kein einziger Troer erscheint mehr lebend aufser
weiterhin Antenor, der Gastfreund der Achäer, dem das Leben erhalten
wird; denn Neoptolemos, der letzte und einzige, der noch als Rächer und
Würger thätig ist, scheint auch den letzten der Feinde zu tödten. Endlich
im Lager fröhlicher Abbruch der für die Kriegszeit errichteten Hütten, die
Jeder gern mit der Heimath vertauscht, und Rüstung der nach der Ilias (XTV,
35) auf das Land gezogenen Schiffe, die durch eines bezeichnet werden, zur
Abfahrt; dort der unfreiwillige Auszug des Antenor aus seiner Wohnung,
der einzigen die verschont worden war, und Aufpacken zur Auswanderung
aus der Stätte einer vollständigen Zerstörung. Besonders die offenbar nicht
zufällige Übereinstimmung der beiden Enden durch Lagerhütte und Haus,
die verlassen, Schiff und Lastthier, die zur Reise beladen werden, mufs
nächst der Abtheilung in eine Mitte und zwei durch die Burg geschiedene
gleich grofse Flügel die Aufmerksamkeit auf ein Gesetz der Symmetrie in
dem Ganzen sogleich erwecken.
Einen eben so bestimmten Gegensatz erblickt man ferner in Neopto-
lemos und Nestor, dem jüngsten und dem ältesten der Heroen, dem Helden
neuen Anwuchses und dem Greis aus früheren Geschlechtern, Neoptolemos
der einzige, der in der Stadt noch mordet, und Nestor der einzige von den
Heroen der auf der andern Seite der Akropolis jenem gegenüber, der Ra-
che schon müde, schon gerüstet zur Abreise erscheint: denn diefs bedeutet
doch der Hut, den er auf hat, und das Pferd neben ihm als irredauss, das
sich zu wälzen im Begriff ist, dient zum Bilde vollbrachter grofser Anstren-
gung und der Erholung, der man sich nun überlassen wird. Vielleicht gab
zu dieser schönen Gegenüberstellung die Odyssee Anlafs (X1,510): auch
der Sophist Hippias fafst bei Platon den Gegensatz zwischen beiden Heroen
in das Auge (p. 286 a). (?*) Die übrigen in die Darstellung gezogenen Achäer-
(@*) K. 0. Müller Archäol. $. 134,3 sieht einen interessanten Gegensatz in dem uner-
9 Werrcker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
fürsten sind noch in der Akropolis beschäftigt dem Oiliden Ajas den Eid
abzunehmen, der sich auf die Spitze der Zerstörungsgreuel bezieht, Demo-
phon aber ist der Äthra wegen ins Lager vorausgegangen, wo aus demselben
Anlafs auch der Herold Eurybates verweilt. Die so beschäftigten Heroen
ausgenommen ist zur Abreise Nestor allein voran, der sich schon zu ihr wen-
det als wenn er voraussähe, dafs der Eid, welcher jetzt abgelegt wird, die
Sache endigen werde, so wie Neoptolemos, der noch bis zum letzten Augen-
blick das Morden fortsetzt, nach der Stellung die er einnimmt, allein noch
zurückgeblieben ist. Ob man die Zwischengruppen des Nestor mit seinem
Rofs und des Neoptolemos mit den beiden Troern zur Burg ziehen will, an
welche sie stofsen, oder an die ersten Unterabtheilungen des Lagers und
der Stadt anschliefsen, ist gleichgültig.
Das Absichtliche wird man eben so wenig verkennen in der Anord-
nung, dafs die Eidscene, bestehend aus der gröfsten selbständigen Gruppe
von allen, aus sieben und zwar den hervorstehendsten Personen, aufserdem
in der letzten noch übriggelassenen Handlung, gegen welche die Anstalten
zum Abzug nach beiden Seiten als Handlung untergeordnet erscheinen, in
die Mitte gelegt ist. Gerade über ihr der Abbruch der Mauern Ilions, das
fürder nicht bewohnt werden soll, worauf auch der Abzug des Antenor
deutet, dem ja sonst gestattet sein würde seine Wohnung auf dem heimi-
schen Boden beizubehalten.
Wo in einer Composition so viele entschiedene Bezüge der Gegen-
stände auf einander und auf solchen das Ganze befassenden und bestimmen-
den Punkten sind wie wir sie bis jetzt schon vorgefunden haben, läfst es
sich nicht anders erwarten als dafs auch das Übrige in denselben Plan aufge-
nommen und auf gleiche Weise behandelt und berechnet sein werde. Und
so zeigt es sich denn auch in der That. Es zeigt sich sogleich darin, dafs
zunächst neben Nestor im Lager drei edle Troerinnen sind, Andromache
und die zwei Töchter des Priamos Medesikaste und Polyxene, und zunächst
dem Neoptolemos in der Stadt drei andre Frauen oder zwei und ein Eunuch
müdlichen Bluträcher Neoptolemos und dem sanften Menelaos, der nur die schöne Beute
fortzubringen suche. Aber das Letztere ist nicht gegründet, Menelaos ist mit Agamemnon
und andern Heerfürsten in Thätigkeit: und um die Rüstung zur Abfahrt vorzustellen,
mulste sein Schiff vor andern gewählt werden weil er der That nach vorangeeilt ist. Zu-
fällig war dieser Umstand zugleich günstig in Bezug auf Helena.
in der Lesche zu Delphi. 97
mit einem verwaisten Kind auf dem Schoofse, und darin dafs über diesen
Gruppen, also auf beiden Seiten der Pergama, noch zwei andre, um die Mitte
des Bildes also eine dritte Reihe von Figuren war, bis oder fast bis zu der
Höhe des Rosses, in der anstofsenden Unterabtheilung aber auf beiden Sei-
ten nur in der zweiten Reihe noch Figuren erschienen und die letzte Unter-
abtheilung in der untersten Reihe allein auslief, die Abzugsanstalten ohne
Figuren darüber. So werden auch äufserlich die Flügel oder die Abstufung
der Gegenstände in einer, zwei und drei Reihen von Figuren in je drei Ab-
theilungen gesondert, die auch durch ihren Inhalt nicht blofs die Theilung
bestätigen, sondern auch eine gegenseitige oder gegensätzliche Entsprechung
verrathen. Denn so sind über den genannten drei vornehmsten gefangnen
Troerinnen vier andre in zweiter und noch vier in dritter Reihe; über der
Gruppe aber der verzweiflungsvollen Frauen und unglücklichen Kinder in
der Stadt sind über einander zwei Gruppen todter Männer. Aus Leichen
der Troer bestehn auch die zwei Gruppen übereinander, die auf dieser
Seite folgen, nur dafs in der einen die Leiche wie zur Bestattung wegge-
tragen wird. Diefs ist eine schöne Andeutung, dafs diese Leichen über-
haupt nicht den Vögeln und Hunden Preis gegeben sein werden, sondern
von den Achäern Beerdigung gestattet ist. Diese beginnt so gleichsam und
zwar vermittelt durch Sinon, dem sie Dank schuldig waren, so dafs auch
kein Schein der Unwahrscheinlichkeit auf dieser Milde haftet und der An-
blick blutiger Leichen wenigstens nicht noch durch üble Vorstellungen, die
sich an sie knüpfen könnten, verdüstert werden sollte. Auf der entgegen-
gesetzten Seite aber folgt auf die Troerinnen als Kriegsbeute Helena mit Um-
gebung und über ihr Helenos des Priamos Sohn, der das Unglück seiner
Vaterstadt durch erzwungnen Seherspruch selbst hatte bewerkstelligen müs-
sen, mit drei in der Nachtschlacht verwundeten Achäern.
Sehr sinnreich ist die Gruppe der Helena erfunden. Indessen sie mit
ihrem Anzug auch hier beschäftigt ist, betrachten ihre Schönheit Briseis,
die als die reizendste unter den Troerinnen zu denken ist, und die schöne
Lesbierin nebst der Skyrerin, die in der Ilias (IX, 665) das Lager des Achil-
leus und des Patroklos schmücken; selbst schön, bewundern sie die über
allen Neid erhabene Schönheit, betrachten mit Vergnügen die, welche auch
ihres eigenen Unglücks Ursache ist, durch die auch Achilleus ihnen entris-
sen war, so dafs hierdurch Polygnot die Troischen Greise auf der Mauer,
Philos.- histor. Kl. 1847. N
98 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
die sich von der Schönheit der Helena verblenden lassen, noch überbietet:
bei Euripides in den Troerinnen und in der Hekabe schelten und verwün-
schen die Helena die gefangnen Troerinnen. Gehoben wird die schöne Ver-
rätherin aufserdem durch Äthra, die von den Dioskuren geraubte und in
ihren Dienst gegebene Königin, vor welcher jetzt ihr Enkel, der hohe The-
seide, steht, noch in Erwartung ob Helena geruhen werde sie, als ihr Eigen-
thum, auf Agamemnons Antrag ihm abzutreten. Dafs der Herold Euryba-
tes Platz genommen hat, kann auch nicht ohne Grund sein, ist wenigstens
verschieden davon, dafs Phönix und Ajas, als sie bei Achilleus als Abge-
sandte ankommen, sitzen geheifsen werden (IX,200). Dafs der Herold den
Auftrag ausrichte, wie Pausanias sich ausdrückt, ist nicht genau richtig:
denn er würde stehn wenn er spräche. Er sitzt entweder um anzudeuten,
wie die Freigebung der Äthra nur von Helenas Entscheidung abhänge, auf
welche sie warten lafse, oder dafs auch er, von diesem Anblick gefesselt,
die Rückkehr nicht beeile, und zu diesem Motiv würde es passen, dafs er
unbärtig ist, da im Allgemeinen die Herolde älter sind. () Der, an wel-
chen Pausanias denkt, der Herold des Odysseus, älter als er (XIX, 244),
kommt in einer erdichteten Erzählung vor und hat also den Namen nur als
einen, der für einen Herold überhaupt geschickt ist: aber auch in der Ilias
ist ein Herold Eurybates (IX,170). Auch ohne dafs man die obere Gruppe
mit der andern in Beziehung bringt, so dafs der Helena wegen diese Wun-
den bluten und der Troische Seher in Trauer versenkt wäre, ist ihre Person
und das Verhältnifs genugsam hervorgehoben, die Schönheit, vor deren An-
blick dem erzürnten Gemal das Schwerdt der Rache entfallen war und die
Herstellung in alle ihre Rechte, welche Agamemnons rücksichtsvolles Ver-
fahren gegen sie andeutet.
Bei so viel Ordnung im Eintheilen und so viel Abgewogenheit und
Beziehung in den Figuren und Gruppen fehlt es, wie auf dieser Stufe der
Kunst es nicht anders sein könnte, keineswegs an einer gewissen Freiheit
und an Unterschieden und Ausweichungen von der Regel im Einzelnen, wie
z.B. wenn Helena mit ihren zwei Dienerinnen auf der einen Seite zwar drei
Personen neben sich hat, auf der andern aber nur zwei, Demophon und
() Daher erregte ein jugendlicher Herold auf dem sogenannten Schilde des Scipio
Verwunderung.
in der Lesche zu Delphi. 99
Äthra; oder wenn zwei Feinde, die Neoptolemos tödtet, und das sich wäl-
zende Pferd des Nestor gegen einander aufgehn. Auch Kinder, die nicht
mitzählen, wie man an den Vasen von Canosa und sehr häufig zu bemerken
Gelegenheit hat, und Nebendinge, wie Altar, Badegefäfs, befördern die
freie Manigfaltigkeit und helfen die Regel zu verstecken, den Schein des
Zwangs und der Steifheit fern zu halten. Die auffallendste Ungleichheit be-
steht in der Anzahl der Leichen, welche die der Lebenden im gleichen
Raume nicht ganz aufwiegt: und auch für diese Ausnahme läfst sich ein
Grund denken, der dafs die Gestalten des Todes, wenn nicht im Schauder-
haften Kunst gesucht werden soll, einer so grofsen Manigfaltigkeit als die le-
bendig bewegten nicht fähig sind, und dafs, wenn ein gewisser Raum der
Wand dem Bilde der in der Nachtschlacht ausgerotteten Troischen Mann-
schaft eingeräumt war, dieses Feld des Todes seine Bedeutung im Ganzen
deutlich genug aussprach um einer volleren Ausführung im Einzelnen ent-
behren zu können.
Nach dieser Übersicht wird es leicht sein die Ortsbestimmungen des
Pausanias zu prüfen. Die Beschreibung beginnt am äufsersten Ende und mit
der unteren Reihe, in welcher Schiff und Lagerhütte sich befinden (1.2) und
geht, ohne diefs ausdrücklich zu bemerken, in dieser Linie fort zur Gruppe
der Helena (3). Höher als diese (@vwregw) ist die von Helenos und den drei
Verwundeten (4). Von derselben Linie bedient sich Pausanias zugleich der
bei diesem Gegenstande sehr relativen oder zweideutigen Präposition über
(Ursg ruv 'Erevyv, eben so wie dvwregw reurwv, ümtg ro Acuragiov 12), welche
vorher und sonst öfter nur eine etwas höhere Stellung in derselben Gruppe
ausdrückt. Denn wenn Diomede über der Briseis, vor beiden aber Iphis
steht, indem sie zusammen die Helena betrachten (3), so kann da ür&o un-
möglich einen grolsen Unterschied der Stellung betreffen; eben so sind
Phrontis im Schiff und Ithämenes unter ihm (i7 avrev) durch keinen Zwi-
schenraum getrennt, der bei avwregw angenommen werden darf und mufs. Von
der Gruppe des Helenos, welche eine obere Linie einnimmt (4), springt die
Beschreibung auf die untere zurück, indem sie zunächst der Helena (&pe&4s
1 'Erevy, d.i. neben, wie es mehrmals mit age in derselben Gruppe ab-
wechselt 12.17) die Athra und den Demophon hinzufügt, durch welche die
Gruppe der Helena erst vollständig wird; denn dafs sie die Mitte einnehme
zwischen den drei sie betrachtenden Schönen und jenem Paar ist an sich an-
N2
100 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
gemessen, da der Platz in einer Mitte immer auszeichnet*und hervorhebt,
und hier mufs diese Anordnung um so bestimmter angenommen werden, da
Demophon nicht von dem Herold, der neben der Helena sitzt, getrennt wer-
den konnte. Von hier aus schreitet die Beschreibung zu den wehklagenden
Troerinnen (5) und Nestor (6) in derselben Linie fort, indem sie diefs so
wenig wie bei dem Übergang von dem Schiff zu den Zelten, von diesen zur
Briseis ausdrücklich angiebt. Hingegen ist die Gruppe der vier Gefangnen (7)
in der oberen Reihe (&vwSev) über der der drei Figuren zwischen Äthra und
Nestor; und vier andre sind wieder über den ersten vier auf dem Ruhbett
liegend (8), und hier gilt uns ür£9 so viel wie @vwregw, in einer noch höheren
dritten Reihe. Den vier Stehenden oder auf dem Boden Sitzenden konnte
das Ruhbett nicht auf die Köpfe gesetzt sein: ein Zwischenraum ist also mit
Sicherheit anzunehmen. (2%) Dann bricht Epeios an der Mauer ab, über
welche das Pferd mit dem Kopf hervorragt (9). Diefs gehört der Natur der
Sache nach der obersten Region an, und die Beschreibung bleibt also auch
hier, wo sie ohne Angabe des Raums fortschreitet, in derselben Linie. Un-
erwartet nach ihrer bisherigen Art ist es, dafs sie den Ort der nun folgenden
Eidscene (10) im Gemälde nicht angiebt, die also nach ihrem Verhältnifs zu
dem Übrigen oder nach Gründen aus der Sache selbst anzusetzen war. In-
nerhalb der Burg ist die Handlung natürlich zu denken, deren Grenze durch
den vorangestellten Nestor bezeichnet ist, gewils nicht aufserhalb der Mau-
ern; und unterhalb des hölzernen Pferdes, nicht neben ihm, was eine selt-
same, für das Pferd und die Handlung gleich störende Zusammenstellung
abgeben würde. Aber es konnte auch unmöglich die untere Linie an der
am meisten in die Augen fallenden Stelle, in der mittleren Abtheilung, die
durch Übereinstimmungen in den beiden andern so deutlich herausgestellt
ist, leer bleiben. Setzen wir diese Reihe von sieben Personen auf den Grund
und Boden der Burg, wie es sich dem Pausanias wohl von selbst zu verste-
() Böttiger S. 312 und 324 nimmt hier Umso ravres, wegen der nur ein wenig hö-
her stehenden oder hervorragenden Diomede (Bazyis Errar« za Arouyöy re Umsg aurys) in
derselben Bedeutung, „auf derselben Linie; aber die Sitzenden ragen nur etwa in schie-
fer Richtung etwas über den Stehenden hervor, vgl. ec. 27,1 wo dvwrsgw und Urs von
demselben Gegenstande gebraucht werden” (&r.01 ds dvwregw Tourwv, Ümsp wev To Acurmguov
Aswzgıres EoTI, Um 8 Se ’Hicvex rs zer "Adurrov Koo goros.) Die se Stelle ben eist das Gegen-
theil, und wenn Ureg für avarisw stehn kann, so gilt nicht zugleich das Umgekehrte.
in der Lesche zu Delphi. 101
hen schien, so geht er von hier nun folgerecht wieder ohne Ortsangabe auf
den Neoptolemos über (11). Und indem er von diesem bemerkt, dafs er
dem Nestor gegenüber sei (zareuSu roV Immeu eV maga 79 Nerrog), (27) ver-
räth er zum ersten und einzigenmal, dafs er auf einen Bezug zweier Grup-
pen unter einander aufmerksam geworden ist. Zugleich sieht man aus die-
sem Wort, dafs wir mit Recht die Eidscene gerade in die untere Reihe ge-
stellt haben. Denn wäre sie höher im Raum der Burg angebracht gewesen,
so standen Nestor, den wir in die Hauptlinie zu setzen veranlafst waren, und
Neoptolemos neben, wenn auch nicht nahe neben einander: das gegenüber
erhält seinen rechten Sinn erst durch den Zwischenraum, durch die zwischen
ihnen stehende Gruppe und in der Bedeutung eines Bezuges: denn wie viele
der Figuren würden sonst einander gegenüber stehn. (?°) So aber wie es zu
verstehen ist stehn das Schiff und der Esel, die Lagerhütten und das Haus
und durchgängig je zwei Gruppen einander gegenüber. Den auf den Neop-
tolemos folgenden Gruppen von Weibern und Kindern und von Todten
(12.13) ist wieder in fortlaufender Linie ihre Stellung gegeben weil darüber
Pausanias nichts sagt (nur yeygarraı d& — vergei de): hingegen liegen höher als
diese Todten andre («Arc de dvwregw rourwv) Leokritos und Koröbos (14) und
über dem Koröbos (ravw), wofür in der entsprechenden Gruppe von Ge-
fangenen (8) ürsg gebraucht war, drei andre Todte (15); (°”) eine Leiche
wird von zwei Trägern geschleppt, eine Gruppe für sich (16), mit welcher
nicht die Leiche des Eresos verbunden werden darf (wie von O. Jahn S. 23
geschieht), nach derselben Seite hin, aber tiefer, wie wir annehmen dürfen,
und wir gewinnen dadurch in der zweitletzten Stelle eine Gruppe über der
(©) Böttiger S. 334 hat (wie Focius) das hölzerne Pferd verstehn und danach rag« =W
Nesrog: streichen wollen, den Neoptolemos aber S. 331 in das Innere der Burg versetzt.
Jacobs: Seribendum autem ol Inrcv roÜ magc zw N. nec audiendus Boettigerus p. 394.
(©) Siebelis ist sehr im Irrthum p. 248: neque z«rsuSü, quum indefinitae sit potestatis,
necesse est ut de eadem linea accipiamus. Er setzt nemlich den Neoptolem in der zwei-
ten Reihe, gegenüber den vier Gefangnen (7), neben der Gruppe mit Altar und Badege-
fäls (12), und schräg unter ihm den Nestor. Bei Göthe sind Neoptolemos und Nestor in
den zwei verschiedenen Gemälden getrennt von einander.
(°”) Böttiger S. 332. „Nun ein Haufen von fünf erschlagnen Trojanischen Helden. Sie
liegen in verschiedener Direction unter und über dem Badegefäls — die Riepenhausen-
sche Zeichnung ist den Worten nicht treu — zerstreut.” Untreuer könnte man mit den
Worten des Pausanias nicht umgehn.
102 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
unteren wie es auf der andern Seite geordnet ist. Endlich ist noch ein ein-
zelner Todter genannt, Eresos der zu Leokritos und Koröbos (14) hinzuge-
bracht, so wie die Personen der Gruppe der Helena nicht vollständig auf
einmal angeführt wurden, die Gruppe vervollständigt, da er vereinzelt für
sich doch auf keinen Fall bleiben dürfte. Indem darauf das Haus des Ante-
nor, darauf die Bepackung des Esels angegeben wird (17.18 &rrı ö& oizia, zı-
Rwrev de), ist nicht bemerkt, dafs diese nicht neben dem zuletzt genannten
Todten, sondern auf der Hauptlinie ständen, wie es doch von den letzten
Gegenständen eben so gewils ist, als dafs sie die letzten sind, was auch nicht
besonders ausgedrückt wird. Dafür heifst es, dafs in dieser Gegend des Ge-
mäldes — vermuthlich über, nicht unter dem Haus und dem Esel — das
Distichon von Simonides sich befand:
Toave Horyyvwres, Oarıos Yevos, ’AyAaobwvros
vies megSoneunv IAkv ürgomoAw.
So scheint der Entwurf ohne irgend einen Zwang der Auslegung mit
den Worten des Textes sich zu vertragen: wir folgen der Beschreibung in
derselben Linie bis sie uns durch dvwregw in eine höhere, durch &ravw in
eine noch höhere Reihe verweist, und wir finden dann im Überblick, dafs
die Gruppen der beiden oberen Reihen auf beiden Seiten einander entspre-
chen, so dafs zunächst der Mitte oder der Burg in drei, dann in zwei Reihen
über einander Gruppen gemalt waren, an beiden Enden aber nur die unter-
ste Reihe eingenommen war. Durch die einfache Regelmäfsigkeit dieser
Abstufung stellen sich die Abtheilungen, die auch nach ihrem Inhalte sich
sondern und Bezüglichkeit verrathen, noch bestimmter heraus. Wir kön-
nen sie bezeichnen als 1. Rüstung zur Abfahrt des Menelaos, 2. Helenas
Triumph, 3. die Troerinnen als Kriegsbeute, diese drei auf der Seite des La-
gers oder der Achäer, 4. die Akropolis; dann auf der Seite der Stadt oder
Troer, 5. Weiber und Kinder, Todte, 6. nur Leichname, 7. Abzug des
Antenor.
Dafs der Maler zusammengehörige Gruppen bilden, unterscheiden
und in ein Verhältnifs unter einander bringen wollte, kann nach dem Bishe-
rigen unmöglich zweifelhaft sein, obgleich Pausanias kein Wort davon sagt.
Das Prineip malerischer Ordnung zeigt sich aber hier und da auch in ein-
zelnen Gruppen, wo Pausanias durch kleine Willkürlichkeiten, die von sei-
nem Standpunkte der Betrachtung aus durchaus gleichgültig waren, sie uns
in der Lesche zu Delphi. 103
einigermafsen versteckt hat. So bei der Eidscene (10). Sie besteht aus
sieben Personen, sechs männlichen stehenden und Kassandra, welche sitzt:
wer also, der alte Bildwerke kennt, kann zweifeln, dafs Kassandra nebst
dem Altar, an welchem sie safs, die Mitte einnahm? Pausanias aber nennt
nach den drei Heroen der einen Seite zuerst den Ajas jenseits des Altars,
dann diesen und mit ihm Kassandra. Das Verhältnifs zwischen den gewähl-
ten Heroen zu beiden Seiten bestätigt unsre Annahme. Denn dem schwö-
renden Ajas steht gegenüber Odysseus, ohne Zweifel als unmittelbar thätig,
als der Sprecher bei der Abnahme des Eides, er der in allen grofsen Ange-
legenheiten voran war und darum nothwendig des Freylers Feind, der auch
zuvor auf die Steinigung des Ajas angetragen hatte, und der auch in der
Unterwelt, wie Pausanias bemerkt, absichtlich mit den andern Feinden des
Oiliden zusammengestellt war. Er ist mit dem Harnisch angethan, nicht
wegen des noch fortdauernden Krieges, sondern um ihn auch dadurch
als den thätigsten Krieger im Heer auszuzeichnen. Hinter dem Ajas stehn
die zween Atriden, hinter dem Odysseus die zween Epigonen des Theseus
und seines Freundes Peirithoos. Die letzteren sind hervor gezogen und
den Atriden gegenübergestellt aus Liebe zu Athen, weil Palyehot Athener
durch Aufenthalt und Ertheilung des Bürgerrechts war. Aus dem Rofs
auf der Akropolis in Athen sah man nur Athener herausschauen, Mene-
stheus, die beiden Söhne des Theseus und Teukros. (?°) Bei einer Hand-
lung der Gottesfurcht mufste der Athener, da Athen seine Frömmigkeit sehr
hoch hielt, den Akamas und Polypötes (der hier als der beste Freund den
im Lager abwesenden Demophon ersetzt) besonders gern betheiligt sehn: es
ist nicht einmal zufällig, dafs diese beiden neben dem Odysseus stehn, wo-
durch vielmehr ihr besondrer Eifer den Frevel zur Sühne zu bringen sich
ausdrückt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch zu betrachten, dafs Po-
lygnot dieselbe Scene auch in Athen in der Pökile gemalt hatte. (*') In dem
Opfer der Iphigenia an dem schönen Marmorkrater in Florenz, (*”) der mit
dieser Eidscene im Ganzen so sehr übereinstimmt, dafs die Riepenhausen
(°) Pausan. I, 23, 10.
(') Pausan. 1, 15,3.
() Galeria di Firenze tav. 157. Millin Gal. mythol. pl. CLV.
104 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
schon in ihrem früheren Werk die am Altare sitzende Iphigenia berücksich-
tigt haben, ist auffallenderweise auf der einen Seite des Altars mit dem Göt-
terbilde darauf und Iphigenia, die daran sitzt, ein vierter Heros zugesetzt.
An der Kassandra übrigens in der Lesche zu Delphi zeichnet Lucian (*°) die
würdevollen Augenbrauen und die gerötheten Wangen, nebst dem Haar der
Here von Euphranor, den feinen, wo es sein mufs sich anschliefsenden,
meist aber flatternden Gewändern des Polygnot und dem nackten Leibe der
Pankaste von Apelles als etwas Vollkommnes aus, indem er diefs alles im
Bilde seiner Panthea vereint wünscht. Die Gruppe nach dem Neoptolemos
(12) besteht aus drei Erwachsnen, Laodike, Medusa und der Alten oder
dem Eunuchen und zwei Kindern, wovon das eine, das aus Angst vor dem
mordenden Neoptolemos den Altar als Schutzstätte umfafst, auf der einen
Aufsenseite, das andre auf der andern sich befindet, im Schoofse des Eunu-
chen geborgen, so viel hier Schoofs oder Altar schützen können. (%*) Doch
ist wahrscheinlicher die Gruppe abgeschlossen mit den drei Erwachsnen und
dem Badegefäfs in der Mitte; und das Kind am Altar etwas entfernter (rei
Buusd de Emerewa Aaodınnv Eygaev Erräcav) ist als Beiwerk mitten unter den
Gruppen genommen und nicht ohne Bedeutung vereinzelt. Denn beide
Kinder stellen verlassene Waisen vor, die in einer solchen Zerstörung auch
nicht fehlen durften, eben so das im Schoofse gehaltene wie das durch sei-
nen Schrecken zum Altar getriebene: eine Mutter ist es auf keinen Fall, die
Pausanias durch Alte oder Eunuch bezeichnet. Einen Eunuchen im Hause
des Priamos, in Nachahmung Persischen Gebrauchs, hatte auch Sophokles
im Troilos. Medusa, die sich in der Bestürzung unter das Badegefäfs ver-
kriecht als ob sie hier sich bergen könnte, umklammert mit derselben Ver-
zweiflung den kalten Stein, da keine lebendige Brust mehr ist, an die sie
schutzsuchend sich werfen könnte; ein höchst ausdrucksvoller Zug, den wir
auch bei Virgil finden (H, 489):
33 - 5 r Rn \ \ ee Sue>. a}
(23) Imag. (. obgumv FO EmImgemes zu mageıWlv vo EWEgEUNES.
(*) Böttiger S.331 will den Knaben an der von dem mordenden Neoptolemos, vor
dem er sich flüchte, abgewandten Seite anbringen. Aber der Knabe sucht nicht hinter
dem Altar sich zu verbergen, sondern umfalst ihn als die Rettungsstätte, welche das
Schwerdt verschont und Pausanias sagt roü Aunou d2 Zmsizswae Acodizyv Eyganev Errärav,
. . .. "fr .. x m ’
wo er denn wenigstens, um genau zu sein, hätte beifügen müssen za 00 madıov.
in der Lesche zu Delphi. 105
Tum pavidae tectis matres ingentibus errant,
amplexaeque tenent postes atque oscula figunt. (°°)
Auch der Nebenzug, dafs auf den Altar statt des friedlichen Opfers ein von
einem der Feinde erbeuteter Panzer, nicht ohne Entweihung, hingeworfen
ist, war gewifs nicht ohne Bedeutung. — Erwägt man solche Rücksichten
in der Gruppirung recht, so darf man wohl auch vermuthen, dafs von den
drei Figuren Briseis, Diomede, Iphis (3) und Andromache, Medesikaste,
Polyxene (5) sowohl Briseis als Andromache mit ihrem Knaben (°°) als die
berühmtere oder wichtigere Person nach dem Kunstgebrauch in die Mitte
gestellt war, während aus demselben Grunde Pausanias sie vor den beiden
Seitenfiguren genannt hat.
In der Handlung im Ganzen sind, wie in der Anlage äufserlich drei
Theile, so drei Momente oder Stufen, der letzte gemeinsame Act der
Achäer, ferner der Zustand welcher im Lager und welcher in der Stadt
durch die Entscheidung des Kriegs eingetreten ist, endlich Abzug freudig
und trauervoll. Von der Mitte aus nimmt das Ergreifende und Gewaltige der
Gegenstände nach beiden Seiten gleichmäfsig ab, wie in einer Trilogie des
Aeschylus. Die Zerstörung ist dargestellt als vollbracht, wie auch Simoni-
des ausdrückt, nicht wie sie ausgeführt wird, wie ein Aeschylus sie malt im
zweiten Chorliede der Sieben, all das Elend der Menschen, deren Veste ge-
nommen ist:
Wie man die Männer erschlägt und die Stadt mit Flammen verwüstet
Auch die Kinder entführt und die tiefgegürteten Weiber:
den &ArnIucs, die Suyargas &Axn9eiras. Dies liefse sich nicht ohne Verwir-
rung darstellen und könnte nur eine gräuliche Wirkung hervorbringen: die
Folgen der furchtbarsten Gewalt liefsen sich eher zum geordneten Überblick
bringen. Priamus und sein Haus sind todt oder in den Händen der Sieger;
der letzte schauderhafte Abschlufs der Rache, das Opfer der Polyxena und
(C?) Jacobs: Sententiam Pausaniae vix recte expressit Riepenhausen, quum Medusam
utroque brachio basi illa marmorea nixam repraesentavit. Doloris significationem illum ge-
stum habuisse, nullus dubito. Sic etiam Boettigerus p. 332 rem videtur accepisse. Schmerz
sagt nicht genug.
(°°%) Böttiger S.337 vergleicht die Stellung und Stimmung der Andromache in des
Euripides Troerinnen 570 ff. Aber die Tragiker sind in Behandlung dieses Gegenstandes
sehr verschieden von Polygnot.
Philos.- histor. Kl. 1847. 0)
106 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
die Ermordung des Astyanax durch Neoptolemos, der noch im Morden der
Männer begriffen ist, sind schonend übergangen: auch sind noch nicht alle
Steine der Mauer niedergeworfen, nicht schlechthin vollbracht ist das Werk,
aber beinah und auf hinlänglich entschiedene Weise, und mit bewunderns-
werthem Verstand ist grade dieser Augenblick gewählt. Der Idee nach ist
der Meineid, welchen Ajas schwört, der Mittelpunkt, das Herz der Com-
position. Durch Hintansetzung der Göttin in der Priesterin und dem heili-
gen Schutz des Altars hat der Siegsmuth die Schranken durchbrochen, mit
dem Untergang der Troer verknüpft sich so der Grund und Keim grofsen
Unheils der Sieger selbst; das Verderben der Einen und das der Andern
läuft in diesem Punkt wie Ende und Anfang zusammen. Die Tabula Hiaca
drückt durch diese einzige Gruppe die Zerstörung der Stadt aus.
Malerisch betrachtet ist demnach Neoptolemos, wenngleich der Ge-
genstand seinetwegen für die Lesche gewählt ward, nicht der Mittelpunkt. (°7)
Dafs er allein noch den letzten lebenden Troer in der Stadt niedermetzelt,
erhebt ihn nicht über den Nestor ihm gegenüber, der sich zur Abreise wen-
det. Die Personen alle, die ihn angehn, sind so zerstreut im Gemälde und
seine Beziehungen zu ihnen so gar nicht ausgedrückt, dafs diese als nicht in
die Darstellung fallend auch seine Person nicht über alle andern herausstel-
len. Priamos, den er getödtet hat, liegt unter andern Leichen (15), Po-
Iyxena, die er bei den Dichtern am Altare schlachtet und Astyanax, den er
umbringt, sind im Lager (5), so wie Helenos, der mit der Andromache ihm
zum Ehrentheil von der Beute zufallen wird (4). Äneas, welchen er eben-
falls erhielt, kommt nicht einmal vor. Polygnot hat in der Stellung die er
dem Neoptolemos giebt, der die er in der Poesie einnimmt und dem äufse-
ren Anlals, aus welchem die Zerstörung Ilions gemalt wurde, genug gethan
ohne der Reinheit seiner künstlerischen Conception in der Behandlung eines
solchen Ganzen das Mindeste zu vergeben. Eben so wenig kann Helena als
Mittelpunkt angesehn werden, woran Andre gedacht haben; (°°) noch auch
geben beide zusammen, der mordende Neoptolem innerhalb und die sich
schmückende Helena aufserhalb der Stadt, die Brennpunkte der Handlung
ab, von denen Tod und Verzweiflung auf der einen und Heiterkeit und Hei-
(”) Wie Böttiger annimmt S. 330 £. vgl. 301 ff. 337.
(°) Jacobs.
in der Lesche zu Delphi. 107
mathslust auf der andern Seite ausströmen. (°?) Diese sind auf keiner Seite
ungemischt zu sehen und der Gesichtspunkt für das Ganze wird auf diese
Weise verfehlt. Auch die Auffassung kann ich nicht für genau richtig hal-
ten, dafs, wie in des Panänos Schlacht von Marathon Beginn, Fortgang und
Ende des Kampfes und überhaupt häufig in Gemälden und Reliefen Fort-
schritt und eine Vervielfältigung des Augenblicks zu erkennen ist, so auch
hier Streit in der Stadt, Gericht des Ajas und Beutevertheilung wie in einer
Folge dargestellt seien. Sondern es vereinigt sich vielmehr in dieser wun-
derbaren Composition Alles auch in der Einheit der Zeit zu einer um so
gröfseren Gesammtwirkung. Zu gleicher Zeit schwört Ajas, bricht Epeios
den Rest der Mauer ab, mordet Neoptolemos und bricht Nestor auf, stehn
die Troerinnen Todesangst aus und jammern als Gefangne, schlafen die Ilier
den Todesschlaf und werden begraben und wird Helena bewundert und um
Freilassung der Äthra gebeten, rüsten die Schiffsleute und Knechte des Me-
nelaos und Familie und Gesinde des Antenor den Abzug. Nicht richtig giebt
auch Pausanias selbst den Gegenstand an, indem er sagt Ilions Einnahme
und die Abfahrt der Hellenen: nur Simonides fafst ihn genau und bestimmt
und Philostratus (V. A. VI,11 p.114 Kays.) rav dAirzouevnv TAtov üngsmeiw.
So gut wie die Abfahrt der Hellenen war auch die Auswanderung des Ante-
nor ein Theil des Bildes; beides folgte aus der Zerstörung und war in die
Einheit des Bildes eingeschlossen. Etwas lächerlich aber ist es, wenn man
auf den Grund eines zwar künstlerisch genommen nicht genauen, aber sehr
verzeihlichen Ausdrucks des Pausanias dem Polygnot vom Katheder herab
den Kanon der Kunsteinheit vorgehalten, eine schlechte Verbindung ver-
schiedenartiger Dinge vorgeworfen sieht: (*°) denn es stellt sich so der höch-
sten Kraft sinnreicher Erfindung Flachheit und Beschränktheit mit possier-
licher Keckheit gegenüber.
Ganz verschieden war Göthes Ansicht, der auf der rechten Wand
zwei verschiedene Gemälde erblickte, die Eroberung Trojas und die Ver-
herrlichung der Helena, welche beide mit dem dritten auf der andern Wand
unter sich ein Ganzes bilden, bestehend in der Erfüllung der Ilias, in dem
(°’) So der Erklärer des Riepenhausenschen Gemäldes 1805 Chr. Schlosser S. 42 ff.
(‘) Torkil Baden de arte ac judicio FI. Philostrati in deser. imag. 1792 p.32. Juncta
argumenta a Polygnoto non me offendunt; male juncta offendunt.
02
108 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
bedeutendsten Punkte der Rückkehr der Griechischen Helden, da dasSchick-
sal der Helena die wichtigste Frage abgab, und in dem Abschlufs durch Odys-
seus, und das Bild der gefallenen Griechen und Trojaner. Einheit einer
reichen Composition spricht Göthe dabei dem Polygnot ab. Dafs das ange-
nommene zweite Gemälde nicht die Helena allein angehe, konnte schon der
Umstand verrathen, dafs neben dem des Menelaos „Anchialos ein anderes
Gezelt abbricht.” Den Erläuterungen Göthes über Sinn und Absicht des
Künstlers, allgemeine Anordnung, Situation der Gruppen u.s.w. pflichtet
Meyer noch in seiner Kunstgeschiche mit voller Überzeugung bei, und es
macht keinen Unterschied, dafs er anstatt von zwei Bildern, von zwei Ab-
theilungen, zwei verschiedenen Vorstellungen der rechten Wand spricht (I
S. 132 £.).
Auffallender als das hingeworfene Urtheil des Dänischen Gelehrten ist
das Mifsverständnifs in einer genauen Untersuchung des ganzen Gegenstandes
wie die Böttigers ist. Denn auch er läfst das Ganze in zwei Theile zerfallen,
welche symbolisch durch ein Stück Mauer getrennt erscheinen sollen, Ab-
fahrt und Ilions Zerstörung, wovon aber immer der zweite Theil die Haupt-
sache bleibe, weil hier die Rache des Neoptolemos eintrete (S. 314.309).
Den zweiten Haupttheil nennt er auch die Burg (S.325). Aber überhaupt
ist diese Untersuchung unglücklich ausgefallen, sie ist schwankend, unklar
und voll von irrigen Einfällen. Da mag man der Linien über einander „wohl
drei” annehmen, wovon die zweite immer durch avwSev, die dritte durch
dvwregw bezeichnet werde, was unrichtig ist (S.312); dann ist von einer zwei-
ten oder dritten Linie die Rede (S. 324) und zuletzt heifst es: „eravw, weiter
oben und also wohl in der dritten Linie, wenn diese wirklich da war” (S.
333). So ist unaufhörlich von der unverkennbaren symmetrischen Anord-
nung die Rede, sie ist aber nirgends, mit Ausnahme der Endscenen (8.335),
nachgewiesen; sondern da ist z.B. Nestor „auf der untersten Linie von
aussen” (S.323), Neoptolemos aber „auf der zweiten oder oberen, zwischen
Schrecknissen und Leichenhaufen, als die Hauptperson, welcher eigentlich
das ganze Gemälde nur zur Einfassung diente, die Rache des Neoptolemos”
(S. 330), „im Innern der Burg? (S. 324). Unbegreiflich ist die Eidscene ver-
dreht, wie schon Siebelis hinlänglich gezeigt hat, der überhaupt manche die-
ser Irrthümer berichtigt.
in der Lesche zu Delphi. 109
Zwei Abtheilungen sind endlich auch angenommen in dem neuesten
Versuch von OÖ. Jahn über die Gemälde Polygnots in der Lesche (Kiel 1841),
das eroberte Ilion und die Abfahrt, die aber, „obgleich deutlich geschieden,
doch in jeder Hinsicht sich genau auf einander bezogen und ein Ganzes aus-
machten.” Für dieses Ganze werden hier nur zwei Hauptlinien angenommen
und in jeder von beiden eine symmetrische Ordnung der Gruppen entwickelt.
Es würde weitläufig sein nachzuweisen, warum in vielen Fällen die den Wor-
ten des Pausanias in Bezug auf diese Anordnung gegebene Deutung, obgleich
der gelehrte und der alten Kunstwerke wohl kundige Verfasser ihn mit Ge-
wissenhaftigkeit zu benutzen bemüht ist, sich bezweifeln, warum viele der
vorausgesetzten Bezüge unter Figuren und Gruppen, wie z.B. Helena und
Helenos, Helenos und Kassandra, viele der untergelegten Motive sich als
hinfällig, gesucht oder nicht begründet im alten Dichtergebrauch ansehen
lassen. Dagegen will ich nicht versäumen über die auf solche Art gewonne-
nen Reihen wenigstens einige Bedenken darzulegen, wonach sie gegen die
Bräuche, die wir übereinstimmend in Compositionen verwandter Art beo-
bachtet sehen, vielfach verstofsen. Die unterste Reihe besteht nämlich aus
neun Gruppen, was an sich recht schön wäre. Die Mitte, also (5), ist Nes-
tor, gerade unter Epeios. Aber die Mitte müfste doch die Hauptfigur ein-
nehmen in einer Reihe worin vier Paare von Gruppen auf jeder Seite vom
Mittelpunkt aus in Beziehung zu einander, jede Gruppe mit der andern des
Paars in der entsprechenden Stelle gesetzt sind. Die Hauptfigur ist Nestor
gewifs nicht; auch ist er nicht aufser aller besondern Beziehung wie das höl-
zerne Rofs und Epeios, die auch in so fern für die Mitte geeignet sind. Da-
gegen wird sein Gegenmann, obgleich neben ihm (nicht gegenüber) stehend
in (6) wie von ihm getrennt, indem er in (4) mit Polyxena, Medisikaste und
Andromache sich verbindet. Gegen die übrigen Bezüge, (7) Laodike, Me-
dusa unter der Badewanne, Alte oder Eunuch mit dem Kind, und (3) He-
lena mit Umgebung, ferner (8) drei Todte und (2) Briseis und ihre zwei
Genossen, so wie (9) und (1), Rüstung zum Abzug nach beiden Seiten, wäre
nichts zu erinnern. Die obere weit kürzere Reihe besteht nur aus fünf Ab-
theilungen, das hölzerne Rofs in der mittelsten. Bei den andern vieren hat
sich der Verfasser erlaubt, statt (1) und (5) und (2) und (4) zu paaren, (1)
und (4) und (2) und (5) auf einander zu beziehen. Diefs ist aber nicht blofs
gegen allen, so tausendfach durchgebildeten Gebrauch, sondern auch gegen
110 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
die Natur der bilateralen Symmetrie an sich. Wie die Gruppen gestellt
sind, so entsprechen die Eidscene in (4) den gefangnen Troerinnen in (2),
und Helenos mit den drei verwundeten Griechen in (1) den Leichen der
Troer in (5). Die Vereinfachung der Gruppen entsteht daraus, dafs bei den
gefangnen Troerinnen aus zwei und bei den Leichen aus drei Gruppen (nach
Böttigers Vorgang) je eine gebildet wird, was für sich betrachtet bestimmt
unannehmbar ist, indem wohl eine einzelne Figur oder auch zwei in einer
Gruppe etwas über die andern hervorragen können, bei Gruppen von vier
und vier, drei und drei Personen aber Umso gewils auch eine Absonderung
im Raum ausdrückt, da sonst die Figuren sich zum Theil decken müfsten;
was aber hier zugleich den grofsen Mifsstand herbeiführt, dafs diese Dop-
pelgruppen nun nicht die entsprechenden Stellen, sondern die zweite und
die fünfte einnehmen, woraus für das Auge, die Symmetrie als Princip an-
genommen, eine starke Mifsform entsteht. Das vorher (S.4) angekündigte
Ganze wird wieder aufgelöst wenn der Verfasser nach der Musterung seiner
Tafel sagt (5.24), es zeige sich, dafs die Mitte des Gemäldes wohl der
Scheidepunkt für die beiden sich entsprechenden Hälften, nicht aber der
eigentliche Mittelpunkt der ganzen Composition sei: der Maler habe also die
beiden Gemälde nur neben einander gestellt, anstatt sie zu einem Ganzen
zu vereinigen, zu einem gemeinsamen Gentral- und Culminationspunkt zu
führen, was Hr. Jahn selbst um so auffallender findet wenn er sich die ge-
wifs nicht späteren Äginetischen Giebelgruppen vergegenwärtige.
Mehr als irgend ein einzelnes Bildwerk giebt die vorliegende Compo-
sition Aufschlufs über die Verbindung symbolischen Ausdrucks mit dem
Wirklichen in der Darstellung und über die ideelle BehandInng des Räum-
lichen, die der perspectivischen Wahrheit und Wirklichkeit nicht blos ent-
behrt, sondern ihr eigentlich widerstreitet. Aus der Darstellung durch han-
delnde Figuren allein, mit blofser Andeutung der Orte, folgt das Aufgeben
perspectivischer Nachahmung als eines völlig verschiedenen Kunstprincips.
Lager, Burg und Stadt sind neben einander in eine Reihe gestellt, wie sie
zum Bilde nach einer angenommenen Art malerischer Anordnung sich schi-
cken; die wirkliche Lage ist gänzlich aufgegeben, von der in einem Gemälde
bei dem jüngeren Philostratus wenigstens so viel beibehalten und nachge-
ahmt war, dafs man Stadt und Burg auf der einen Seite, das Lager mit dem
Hellespont auf der andern und in der Mitte die Ebene sah, getheilt durch
in der Lesche zu Delphi. 111
den Xanthos zwischen dem Achäischen und dem Troischen Heere, wovon
nur die Myrmidonen und die Myser in Bewegung waren als Zuschauer des
Zweikampfs zwischen Neoptolemos und Eurypylos. In Polygnots Gemälde
aber schliefst sich die Meeresküste in gerader Linie an die Stadt an, queer
in das Land hinein, und die Stadt, hinter welcher in Wirklichkeit die Burg
lag, ist hier auf die eine Seite von dieser geschoben und erstreckt sich in
gleicher Linie mit dem Seestrande. Einige Ähnlichkeit hat hiermit die Vor-
aussetzung im Theater, dafs rechts von dem Gebäude der Mitte das Land,
links die Stadt liege. In der Stadt sind keine Häuser, nur Todte und Ver-
zweifelnde, so wie der Strand nur durch Steinchen, das Lager durch He-
lena und die Gefangnen darin angedeutet ist: das einzige Haus des Antenor
ist sichtbar weil es nothwendig war um dessen Geschick und Handeln darzu-
stellen. Gerade nur so viel Räumliches ist überhaupt angegeben, als erfor-
derlich war um die Lagen und das Thun der Personen anschaulich zu ma-
chen. Die Räume, Naturgegenstände und Menschenwerke selbst auszudrü-
cken unternimmt die Kunst erst später: und auch dann behauptet die künst-
lerische Anordnung noch so viel Gewalt über die Wirklichkeit wie man z. B.
aus der freien Nachbildung der sieben Äolischen Inseln bei Philostratus im
ge um die
5
von den Achäern beschlossene Schleifung der Veste auszudrücken war da-
Vergleich mit der natürlichen Lage wahrnimmt. Nur als Bedingun
her ausnahmsweise ein Stück der Mauer von Pergama hingezeichnet, deren
grofse Quadersteine Epeios ausbricht oder herabwälzt: nur so viel ist noch
übrig, alles Andre schon niedergerissen. Man dürfte die abgebrochene Sei-
tenmauer der Cella des Parthenon, auf deren treppenartig über einander
hervorspringenden Quadern man auf den westlichen Giebel hinaufklettert,
zeichnen um dem Werk des Epeios eine gröfsere Wahrscheinlichkeit zu ge-
ben. So könnte man auch ein Stück Mauer ganz nach noch erhaltenen
Griechischen Stadtmauern mit ihren Thürmen in leichtem Umrifs hinzeich-
nen. Vollständiger dürfte die Mauer nicht sein; es müfsten sonst das Lager
der Achäer und die Strafsen der Stadt ebenfalls abgebildet sein. Dafs diefs
nicht gewesen, kann man dem Schweigen des Pausanias um so mehr glau-
ben, als die einzigen Lagerhütten und das einzige Haus, die er anführt, an
den Enden des Gemäldes sich befinden, welchen denn in der Mitte des Gan-
zen und in dessen oberstem Strich diefs andere Bauwerk entsprach. Ein
paar geschwungne Linien zeigen in Vasengemälden einen Berg an, ein Baum
112 Weucxer: ‚Die Composition der Polygnotischen Gemälde
dazu die Bewaldung. (*') Der Zimmrer des Rosses ist gewählt die Mauer
abzubrechen, weil er dadurch gewissermafsen sein eignes Werk vollendet;
der eine Mann legt dazu Hand an, wie ein Schiff die Flotte, zwei Hütten
das Lager vorstellen, ein Esel für den Hausrath und die Familie des Antenor
genügt, eine weggetragene Leiche die Bestattung der Leichen überhaupt,
ein an den Altar sich anklammerndes Kind die vielen verwaisten Kinder an-
deutet. Wie Bauten, so sind auch kleinere Gegenstände einzig nur da, wo
sie die Lage der Lebendigen zu schildern dienen, der eben erwähnte Altar,
das Badegefäfs, und diese darum auch an der beliebigen Stelle. In das La-
ger ist ein Ruhbett versetzt, ohne Zweifel um den vornehmen Stand der
Gefangenen auszudrücken. (*?)
Auf den Ausdruck und Charakter, für dessen Maler Polygnot vor-
zugsweise gilt, weist Pausanias nur zweimal besonders hin, wo er sagt, dafs
die Troerinnen ausdrücken schon in kläglicher Gefangenschaft zu sein (4)
und wo er die ihre Vaterstadt in Blut und Trümmern und ihr Haus verlas-
sende Familie des Antenor beschreibt (17). Für Kassandra zeugt die Bewun-
derung Lucians, und für sich selbst spricht die Erfindung, durch welche in
der Medusa (12) das Entsetzliche des Augenblicks auf rührende und schöne
Art zur Anschauung gelangte. Auch dafs Astyanax aus Angst die Mutterbrust
erfafst, zeugt für die scharfe und ausgedehnte Naturbeobachtung des Malers,
der als Ethographos berühmt ist. Den Elasos sah man die letzten Athem-
züge thun.
Der weite und helle Blick des Meisters verräth sich auch in der Art
wie er die Poesie angewandt und im Einzelnen sich zu seinen Vorgängern oder
zur dichterischen Sage gestellt hat. Freilich müfsten wir, um in dieser Hin-
sicht die Composition vollkommen würdigen zu können, die epischen Iliu-
persiden in allen Einzelheiten kennen; denn im Ausheben aus dem grofsen
Vorrath und im Zusammenfügen des Gewählten nach den Bedingungen der
Kunst und der nächsten Aufgabe bestand das Verdienst der malerischen Er-
findung, so wie im Neuen und Manigfaltigen das der Dichter. Pausanias hat
richtig wahrgenommen, dafs Polygnot zur besondern Quelle die Kleine Ilias
(*) So bei Millingen Anc. uned. Mon. pl. 10 eine Linie einen Felsen beschreibend
und ein Baum für die Felsen und Waldungen des Pelion.
(C) Jacobs: emı #Alvys nescio utrum sedeant, an jaceant. Et zn in littore et habitus
mulierum habet quod me moretur.
in der Lesche zu Delphi. 113
des Lescheos oder Lesches, Sohnes des Äschylenos in Pyrrha auf Lesbos,
gehabt habe. Er schliefst daraus, dafs im Gemälde Meges am Arm und Ly-
komedes im Handgelenk Wunden hatten (4), da gerade diese Verwundun-
gen beider während der Nachtschlacht in dem Gedichte des Lesches vorka-
men, dafs der Maler es gelesen habe, und zeigt durch vielerlei Umstände
bei fortgesetzter Vergleichung, dafs es in dem Gemälde besonders berück-
sichtigt sei. Was den Neoptolemos betrifft, dem zu Ehren die Lesche mit
den Gemälden geschmückt wurde, so war er eigentlich nicht der Held die-
ses Epos, so wie auch Polygnots Composition, wie schon bemerkt, nicht
auf ihn als ihren Mittelpunkt sich bezieht. In der Kleinen Dias hatten die
Listen des Odysseus den gröfsten Belang, aber Neoptolemos war, in Über-
einstimmung mit der Odyssee, der furchtbarste, blutigste der Helden; der
Geist des Vaters wüthet in ihm, diesen zu rächen ist er angetrieben und übt
das Werk der Zerstörung eifriger als irgend ein Andrer. Odysseus holt ihn
von Skyros ab, schenkt ihm grofsmüthig seinen eignen Ehrenpreis, die Waf-
fen des Achilleus, dessen Geist dem Sohn erscheint; Neoptolemos besiegt
dann den Eurypylos, Sohn des Telephos, der den Achilleus sammt den
Achäern aus Mysien vertrieben hatte; bei der Zerstörung ist er es, der den
Priamos von dem Heiligthum seines Hausaltars weggerissen an der Pforte
seines Hauses schlachtet, den Knaben Astyanax aus eigner Bewegung und
nicht nach Beschlufs der Hellenen, wie bei Arktinos, von einem der Mau-
erthürme herabschleudert, auch die Polyxena dem Geiste des Achilleus op-
fert, und er führt als Beute die vornehmste der Gefangnen, Andromache,
und als Ehrenpreis vor allen Achäern den Äneas mit sich heim. Wohl also
war Polygnot veranlafst bei einem auf das Grab des Neoptolemos bezügli-
chen Gemälde an dieses Epos sich vorzugsweise zu halten. Dafs er irgend
etwas aus Arktinos entlehnt habe, ist nicht sichtbar. Manche Hauptumstände
hatte freilich Lesches mit den älteren Dichtern gemein, die Einnahmen der
Stadt durch das Rofs mit der Odyssee und Arktinos, mit beiden auch dafs
Menelaos das Haus des letzten Gemals der Helena Deiphobos erstürmt und
sie dem Achäerlager zuführt. Allein in der Kleinen Ilias war das auch in
der Odyssee vorkommende Mährchen, dafs die kluge Helena, um das Rofs
herumgehend, die darin eingeschlossnen Helden alle durch die nachgeahm-
ten Stimmen ihrer Frauen äffte, ausgeführt und ihre Schönheit besonders
auch dadurch gefeiert, dafs Menelaos bei dem Anblick ihres entblöfsten Bu-
Philos.- histor. Kl. 1847. pP
114 Weucker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
sens das schon gegen sie gezückte Schwerdt wegwarf. Hiervon hat Polygnot,
was Pausanias nicht anmerkt, den Anlafs hergenommen Helena in grofsem
Glanze strahlen zu lassen, was er freilich auf sehr eigenthümliche sinnreiche
Art bewerkstelligte. Auch nach Arktinos führten die Söhne des Theseus
ihre Grofsmutter mit sich fort; aus Lesches ist, dafs Agamemnon die Er-
laubnifs dazu von der Einwilligung der Helena abhängig macht und darum
den Herold an diese schickte. Diefs nahm Polygnot an der rechten Stelle
auf (3) und Pausanias weist den Zusammenhang dieser Sendung, die aus
dem Bilde schwer zu errathen gewesen wäre, glücklicherweise aus Lesches
nach. Aus diesem war sodann auch die Auswanderung des Antenor und
die Sicherung seines Hauses als Gastfreunds des Menelaos und Odysseus,
die Antenor auch nach der Ilias in seinem Haus aufnahm (17.18). Diefs giebt
zwar Pausanias nicht ausdrücklich an; aber es folgt aus dem Tadel der Fol-
gewidrigkeit, den er über Polygnot ausspricht, welcher die Swiegertochter
des Antenor Laodike unter die Gefangnen gestellt habe (12), da doch bei
Lesches Odysseus ihren Gatten Helikaon, als er in der Nachtschlacht ihn er-
kannte, lebend fortführte. Was er dabei von der Vorsorge des Menelaos
und Odysseus für Antenors Haus bemerkt, geht auf Polygnot mit, der auch
das alle Feindseligkeit abwehrende Zeichen der Pantherhaut ohne Zweifel
aus dem Dichter beibehalten hatte, so wie es Sophokles im Lokrischen Ajas
that. In Ansehung der Laodike thut wahrscheinlich Pausanias dem Maler
Unrecht, indem dieser die Sage, dafs Laodike, nach Homer die schönste der
Töchter des Priamos, Akamas den Sohn des schönen Theseus (und wohl
auch so unwiderstehlich für die Schönen als dieser in vielen Sagen) früher
geliebt, von ihm den Munichos oder Munitos geboren, diesen der Äthra
aufzuziehen gegeben und den Vater bei der Einnahme vor Troja wiederer-
kannt habe, im Auge gehabt haben könnte. Dafs Pausanias bemerkt: Eupo-
giwv de dung XaAnıdevs vüv oldeyi einorı Ta &s Thy Aaodianv Eroinrev, scheint eben
durch eine Meinung der Exegeten veranlalst, die er mit Unrecht verwirft.
Dafs Euphorion die ebengedachte Geschichte von der Laodike erzählte, wis-
sen wir auch aus Tzetzes zum Lykophron (495); auch Parthenius erzählt sie
(16) aus Hegesipps Liebesgeschichten: Plutarch nennt im Theseus (34) statt
des Akamas dessen Bruder Demophon. Der Grund aber irgend ein Ver-
hältnifs zwischen Laodike und Akamas, das die aus unsern Quellen bekannte
Gestalt erst weit später erhalten haben könnte, bei Polygnot glaublich zu
in der Lesche zu Delphi. 115
finden, ist, dafs dieser auch in dem Gemälde in der Pökile zu Athen, wel-
ches nach Pausanias (1, 15,3) die wegen der Frevelthat des Ajas versammel-
ten Fürsten und Kassandra nebst andern gefangnen Troerinnen darstellte
(also eine von der Eidabnahme durchaus verschiedene Composition), wie-
derum diese Laodike und zwar, wie aus Plutarchs Kimon (4) bekannt ist,
unter den Zügen der Elpinike, der er einst huldigte, gemalt hatte. Wenn
nun hierbei Heyne (Apollod. II. p.302) an die Liebe der Laodike zu dem
Eponymen der Akamantischen Phyle dachte, so ist dazu weit mehr Grund
dort, wo Laodike gerade nicht unter den Gefangnen ist, wie Pausanias vor-
aussetzt, von den Atriden also kein Leides erfährt, sondern unter den Un-
glücklichen, man darf denken, ruhig, freiwillig noch zurückbleibend dasteht,
weil Akamas in der Nähe ist. Helenos (4) war in der Kleinen Ilias von
Odysseus gefangen eingebracht worden, was Pausanias gleichfalls nicht an-
führt. Aus dieser waren auch nach Pausanias mehrere Namen gefallener
Troer, so Astynoos, der eine der beiden welche Neoptolemos mordet (11),
Eioneus und Admetos unter den Leichen (14), auch Axion der Priamide und
Agenor (13), Koröbos, dessen Tod von Andern anders erzählt wurde, viel-
leicht auch Leokritos (15). Von den gefangnen Troerinnen scheint bei Les-
ches nur wenig die Rede gewesen zu sein. Drei fand Pausanias bei Stesi-
choros, die Klymene, die Aristomache, Tochter des Priamos (7) und Me-
dusa, ebenfalls Tochter des Priamos (12). Drei führt er mit Recht nicht
auf den Lesches insbesondre zurück, Andromache, Medesikaste, schon bei
Homer, und Polyxena (5). Die Hekabe scheint Polygnot aus Rücksicht auch
auf Stesichoros weggelassen zu haben, der sie durch Apollon nach Lykien
versetzen liefs, und diefs scheint auch Pausanias zu meinen indem er diesen
Umstand anführt, was auch Siebelis (p.252) und O. Jahn (S.17) eben so
angesehn haben: die poetischen Urkunden galten damals wie in unsrer älte-
ren Malerei die heilige Tradition. (*”) Kreusa war ein bekannter Name der
(*) Böttiger vermuthet S. 334 unter den Todten (15) Hekabe, indem er nach Hgr«os
einschiebt z«: "Ez«ßr, die doch unter den Leichen der Männer durchaus unschicklich wäre.
Dals Pausanias im Gleichfolgenden ihrer neben dem Priamos gedenkt, hat nur darin sei-
nen Grund, dals frühere Tradition von späterer über beide abwich. Indem er diefs hin-
sichtlich des Priamos bemerkt, fügt er es auch von Hekabe bei. Eben so wenig ist die
andre Vermuthung Böttigers, dafs Hekabe in der kahl geschornen Alten oder dem Eunu-
chen gemalt sein könne, wie sie in den Troerinnen des Euripides mit kahl geschornem
P2
116 Werxerer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
Gattin des Äneas, wofür aber Lesches und die Kypria Eurydike setzten:
jedenfalls hatte Polygnot diesen Namen aus der Überlieferung. Auch die
von der Ilias abweichenden Namen der beiden Dienerinnen der Helena (3)
waren vielleicht aus Lesches genommen, obgleich Pausanias nur bemerkt,
dafs es nicht die in der Ilias (III, 143) seien. Dagegen kam Xenodike bei
keinem Dichter noch Prosaiker vor (7), und Metioche, Peisis, Kleodike
nahm Pausanias für angenommene, von dem Maler selbst gebildete Namen,
während nur die erste in dieser Gruppe, Deinome, in der Kleinen Ilias vor-
kam (8). Bei der Mehrzahl der Gefangnen konnte es dem Maler eben nur
auf die Zahl ankommen, da er nur ihre Lage allgemein, nicht ihre Fami-
lienverhältnisse auszudrücken hatte: es mit diesen Namen durchhin genau zu
nehmen, wäre pedantisch gewesen. So war der von Neoptolemos gemor-
dete Elassos unbekannt (11), so der Todte Eresos und Laomedon, dessen
Leiche von Sinon, dem Freunde des Odysseus (wie Pausanias ihn vermuth-
lich nach Lesches nennt), und Anchialos weggetragen wird (16). Ist es zu
verwundern wenn der Maler auch bei dem Schiff und den Zelten aufser dem
Steuermann Phrontis, den er aus der Odyssee kannte, gleichgültigen Per-
sonen, welche Decken und Wasser in das Schiff tragen, Ithämenes und
Echoiax (Haltesteuer), die Zelte abbrechen, Polites (Bürger), Strophios
(Wendicht), Alphios (Nährsam) und Amphialos (Amufer), selbstgewählte
Namen, wie Pausanias auch hier vermuthet, beilegt, unbekannte, um die
Aufmerksamkeit nicht aufzuhalten, und dafs er folgerecht einigen Schiffern
und Schiffsjungen, wie den Knechten des Antenor, gar keinen Namen
setzt? (**) So bindet er sich auch in andern gleichgültigen Dingen nicht an
Haupt vorkommt, zulässig. Polygnot hätte nicht diesen Namen allein unter so vielen der
namhaften Personen nicht beigeschrieben, oder sollte er allein erloschen gewesen sein?
Auch wäre wohl der noch lebenden Hekabe im Gemälde eine andre Stelle zugekommen,
wenn auch im wirklichen Untergang der Könige Loos sich oft mit dem der Andern ver-
mischt.
(*) Wüllner de cyclo epico p. 40 hat hinsichtlich der nicht in Poesieen vorkommen-
den Namen im Gemälde die irrige Vorstellung, als dürfe der Maler gar nicht selbst be-
stimmen, da er doch theils gleichgültige Personen, wo er sie nach malerischen Gründen
braucht, setzen, theils nach Motiven des Orts und der gegenwärtigen Verhältnisse neue
und fremde einmischen konnte, so gut als es die neuen Dichter thaten. Dals die dem
Pausanias unbekannte Quelle für jene Namen Arktinos gewesen sei, wie Wüllner meint,
ist auch darum irrig, weil Polygnot durch nichts verräth diesen gekannt oder berücksich-
in der Lesche zu Delphi. 117
die Bücher der Dichter. Den Herold Eurybates malt er, nicht ohne ein
besondres Motiv, ohne Bart; dem bei Lesches am Handgelenk verwundeten
Lykomedes fügt er noch Wunden am Knöchel und Kopf hinzu, vermuthlich
weil eine leicht übersehn werden konnte oder um den Ausdruck eines an
Verwundung Leidenden mehr Kraft geben zu dürfen, und den beiden Ver-
wundeten aus Lesches setzt er einen dritten, Euryalos hinzu (4), von des-
sen Person übrigens die Ilias weils; so zwei Todten aus Lesches einen drit-
ten, Pelis (Erdmann), dessen Namen er vermuthlich auch selbst gemacht
hat (13). Auf die bevorstehende Ermordung des Knäbchens Astyanax ist
dadurch hingedeutet, dafs es in Todesangst die Mutterbrust erfafst (5). Die
bedeutende Scene, in welcher die Geschichte des Kriegs als in ihrer Spitze
auslauft und die Composition ihren Mittelpunkt hat, Kassandra mit dem
verletzten Xoanon der Pallas inmitten des Achäerausschusses, kam nicht bei
Arktinos vor, ob bei Lesches ist ungewils, da man erwarten sollte, dafs Pau-
sanias, wenn dieser sie enthielt, auf ihn verwiesen haben würde. Dafs diese
Entwicklung, von der eine frühere Urkunde als Polygnots Gemälde hier und
in Athen und der Lokrische Ajas des Sophokles nicht bekannt ist, aus älte-
rer Poesie geschöpft sei, läfst sich nicht bezweifeln: aber ein Meisterzug liegt
in der Art wie sie in der Lesche benutzt ist, höher anzuschlagen als irgend
eine Geschicklichkeit in sinnreicher Behandlung der einzelnen Gruppen, des
Abzugs der Achäer oder der auswandernden edlen Troerfamilie, der Gefan-
genen oder der Leichen.
Die Unterwelt.
In der Aufzeichnung ist angenommen, dafs Pausanias, der gleich vom
Eintritt anfieng auf der Wand rechter Seite die Bilder zu sehn und zu be-
schreiben, als er ans Ende gekommen war, ohne zurückzugehn die Gemälde
an der andern Wand auf der entgegengesetzten Seite zu betrachten fort-
fuhr. (*)
tigt zu haben. Die Vasenmalereien enthalten unendlich viel, das mit dem Verhältnifs des
Polygnot zu den Personen und Namen in der Poesie übereintrifft, und Polygnots Ver-
fahren zeigt uns, wie manche Erscheinungen an den Vasen zu deuten und zu beurthei-
len sind.
() Göthe XLIV, 95 setzt umgekehrt voraus, dals er nach Beschreibung der Scenen
118 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
Wörtlicher Auszug aus Pausanias.
Der andre Theil des Gemäldes, der zur linken Hand, ist Odysseus
hinabgestiegen in den sogenannten Hades, um die Seele des Tiresias über
seine Rettung in die Heimath zu fragen und die Malerei verhält sich so.
1. Wasser scheint ein Flufs zu sein, offenbar der Acheron, darin
ist Rohr gewachsen und die Fische so schwach ausgedrückt, dafs sie mehr
Schatten von Fischen als Fischen gleichen. Auf dem Flufs ist ein Schiff und
der Fährmann an den Rudern. Es folgte aber Polygnot, wie mir scheint,
der Minyas, worin bei Theseus und Peirithoos die todtenbeladene Barke
Fährmann Charon führt. (*) Die das Schiff bestiegen haben, Tellis,
offenbar im Alter eines Epheben, und Kleoböa, noch Jungfrau und mit
einem Kasten auf dem Schoofse wie es Brauch ist, sie der Demeter zu ma-
chen, sind hinsichtlich ihrer Herkunft nicht durchaus klar oder sicher: (*7)
in Bezug auf den Tellis habe ich so viel gehört, dafs der Dichter Archilo-
chos im dritten Grad von ihm abstamme, von der Kleoböa aber sagt man,
dafs sie zuerst die Orgien der Demeter von Paros nach Thasos gebracht habe.
2. An dem Ufer des Acheron, gerade unter dem Schiff des Charon
wird ein Mann, der an seinem Vater nicht recht gethan, von dem Vater er-
würgt.
3. Nahe bei dem, der im Hades Leiden erduldet weil er den Vater
mifshandelte, leidet ein Tempelräuber Strafe und das Weib, das ihn be-
straft, versteht sich auf Kräuter überhaupt und auch auf solche, die zur
Schändung, Entstellung der Menschen dienen. (Pharmakis also, diefs
ist der Sinn der gesuchten, gezierten Worte, reichte dem Missethäter einen
in und bei Troja zum Eingang zurückgekehrt sei, sich auf die linke Seite des Gebäudes
gewendet und von der Linken zur Rechten beschrieben habe.
(*%) Charons usrayzgozos Sewgis bei Äschylus.
(*”) Unter andern falschen Erklärungen dieser Stelle ist die, worin Amasäus, Clavier,
Siebelis, L. Dindorf im Wesentlichen übereinstimmen hier abzuwenden, weil auch die
Riepenhausen Schatten aufser dem Tellis und der Kleoböa in das Schiff gesetzt haben.
Pausanias, dem es vor Allem auf das Geschichtliche der Personen ankommt, setzt mit Be-
zug allein auf Tellis und Kleoböa, deren Namen ohne Zweifel beigeschrieben waren, die
Bemerkung voran: ci d8 Em@eßnzirss IS veug oVx erubaveis zig drav ei os mgosyaoUSL,
und führt diels, nachdem er die Zrı@e@rzer«s genannt hat, dahin aus, dafs von Tellis das
Geschlecht nur oberwärts angegeben werden konnte von der Kleoböa die Familie über-
haupt nicht oder doch nicht sicher bekannt war.
in der Lesche zu Delphi. 119
Trank, dessen Wirkung durch Scheufslichkeit der Züge, wie wir sie im
Phobos, in der Eris in älteren Werken finden, vielleicht auch der Gestalt,
sichtbar war. Merkwürdig ist diese Art die Abscheulichkeit des äussersten
Frevels zu strafen; der Schönheitssinn des ganzen Volks und sein starker Wi-
derwille gegen das Häfsliche leuchtet aus dieser Erfindung hervor.) (*°)
4. Höher als die Genannten ist Eurynomos, von dem die Delphi-
schen Exegeten sagen, dafs er ein Dämon im Hades sei und dafs er den Tod-
ten das Fleisch abfresse und ihnen allein die Knochen lasse. Die Odyssee
und die Minyas und die Nosten, denn auch in diesen kommt der Hades und
seine Schrecknisse vor, kennen keinen Dämon Eurynomos. Die Farbe des
Eurynomos ist zwischen dunkelblau und schwarz wie die der Schmeifsfliegen;
dabei zeigt er die Zähne und sitzt auf einer untergebreiteten Geierhaut.
5. Unmittelbar nach dem Eurynomos ist die Arkadische Auge, Mut-
ter des Telephos von Herakles und Gattin des Teuthras in Mysien, und Iphi-
medeia die von den Karern in Mylasa verehrt wurde.
6. Oberhalb der schon Genannten sind Opferthiere tragend die Ge-
fährten des Odysseus Perimedes und Eurylochos; die Opferthiere sind
schwarze Schafböcke.
7. Nach ihnen ist ein sitzender Mann, welchen die Überschrift Ok-
nos nennt: er flicht ein Seil und eine Eselin steht neben ihm, die immer
fort das Geflochtene verzehrt. Dieser Oknos sagen sie sei ein arbeitlieben-
der Mann gewesen und habe ein verschwenderisches Weib gehabt, von wel-
chem, soviel er durch Arbeit zusammenbrachte, bald nachher verzehrt
wurde. Die Geschichte des Oknos also deutete, wie sie meinen (die Exe-
geten), Polygnot auf diese Art an. Mir ist bekannt, dafs von den Ioniern
(*) Jacobs: Boettigerus p.351 Howiv intelligit, fungentem officio roü Önmiov et sacrilego
cicutaım porrigentem. At cicutam porrigat ei, qui jam mortuus est? aut quid aliud cicuta
effecerit quam mortem eamque lenissimam? Scire velim etiam, unde appareat, ilam mulie-
rem praeter alia venena etiam 25 «izi«v parare potiones. Molesta est hoc loco ut in multis
aliis verborum parcitas, qua scriptor hic in descriptionibus saepenumero utitur. Siebelis ver-
muthet dreierlei Unwahrscheinliches. Die «:zi« kann nicht in Schmerzen innerlich bestehn,
sondern muls nothwendig äufserlich erscheinen, wie durch Schläge, worauf die aiz«s dt
sich bezog, wie im Axiochos c.21 die gepeitschten Missethäter der Unterwelt Syası TrE-
gerıyjasimevor zo Aalamasıv erınovnG mUGOUMEVOL Howsv za m&rav air alzıdonsvor alas Ti-
Iwgteis rouygvren. Die Entstellung, welche das magische Gift von innen heraus zur Strafe
wirkte, läfst sich wohl nur als Verzerrung und Scheufslichkeit denken.
120 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
gesagt wird, dieser Mann dreht das Seil des Oknos, wenn sie einen sehen,
der an etwas zu keinem Nutzen Führenden sich abmüht.
8. Gemalt ist ferner Tityos, nicht mehr in Bestrafung (nemlich ohne
die zwei Geier Homers, die von beiden Seiten an seiner Leber zehrten),
sondern von der beständigen Strafe schon gänzlich aufgerieben, ein unkla-
res und nicht vollständiges Eidolon.
9. Wenn man der Reihe nach die Vorstellungen des Gemäldes ver-
folgt, so ist zunächst dem das Seil drehenden Ariadne. Sie sitzt auf einem
Stein und blickt auf ihre Schwester Phädra, die mit dem übrigen Körper
in einem Seil hängt und mit den Händen sich auf beiden Seiten an das Seil
hält. Diese Figur läfst, auch auf die gefälligere Art ausgeführt wie sie ist,
auf das Ende der Phädra schliefsen.
40. Unter der Phädra ist Chloris angelehnt auf dem Schoofs der
Thyia. Wer sagt, dafs Freundschaft unter ihnen war als sie lebten, wird
nicht fehlen: denn sie waren die eine aus Orchomenos (die andre aus der
Nachbarschaft des Parnasses). (*”) Es wird von ihnen gesagt, dafs Poseidon
der Thyia beigewohnt habe, Chloris aber mit Poseidons Sohn Neleus ver-
mält gewesen sei. Neben der Thyia steht Prokris des Erechtheus Tochter
und nach ihr Klymene und Klymene wendet den Rücken. Es ist nemlich
in den Nosten gedichtet, dafs Klymene des Minyas Tochter mit Kephalos
Deions Sohn verheirathet und ihnen ein Sohn Iphiklos geboren war: was
aber die Prokris selbst betrifft, so singen Alle, dafs sie vor der Klymene
mit Kephalos vermält war und auf welche Weise sie durch ihren Gatten um-
kam. Einwärts von der Klymene sieht man die Megara aus Theben, welche
Herakles zur Gattin hatte und als ihm Unglück bringend verstiefs, da er der
ihm von ihr gebornen Kinder beraubt worden war.
41. Über dem Kopf der genannten Frauen ist die Tochter des Sal-
moneus (Tyro) auf einem Stein sitzend und Eriphyle neben ihr stehend,
die unter dem Chiton die Fingerspitzen nach dem Hals emporhält, und aus
den Händen ist zu schliefsen, dafs sie in den Falten des Chiton jenes Hals-
band hatte. (°°)
(*”) Meine Vermuthung, dafs in diesem Sinn die Lücke auszufüllen sei (Sappho 1816
S.17), wird auch durch das 5 ö& xwges einiger Handschriften gerechtfertigt. S. Schubart
T.II p.XH.
” m \ m J. > ’ m 23 > 67 7 „
(°°) Jacobs: roU Xıravos de rois zoAaıs zizareıs Fmv YeıgWv Erelvov Tev opmov ExXew. Hlecte
in der Lesche zu Delphi. 421
12. Über der Eriphyle hat er den Elpenor gemalt und Odysseus
niedergekaucht auf den Fülsen, über die Grube das Schwerdt haltend; der
Seher Tiresias geht hervor an die Grube, nach dem Tiresias ist auf einem
Stein die Mutter des Odysseus Antikleia. Elpenor hat den aus Binsen ge-
flochtnen Phormos, den die Schiffer gewöhnlich tragen, statt Gewandes um-
gehängt.
13. Niedriger als Odysseus sitzen auf Thronen Theseus, welcher
sowohl des Peirithoos als sein eignes Schwerdt mit beiden Händen hält, und
Peirithoos, der auf die Schwerdter blickt; vermuthlich betrübt er sich
über die Schwerdter, dafs sie unzeitig und ihnen ohne Nutzen zu ihrem küh-
nen Unternehmen gewesen sind. Panyasis aber hat gedichtet, dafs Theseus
und Peirithoos nicht als Gefangne (gefesselt) auf Stühlen sitzen, sondern statt
der Fesseln mit der Haut an den Felsen angewachsen seien. Die Freund-
schaft des Theseus und Peirithoos hat Homer in beiden Gedichten ver-
kündigt.
14. Weiter (der Reihe nach) hat Polygnot die Töchter des Panda-
reos gemalt, von welchen Homer erzählt. Polygnot hat die Jungfrauen ge-
malt mit Blumen bekränzt und mit Astragalen spielend: ihre Namen sind
Kamiro und Klytie.
15. Nach den Töchtern des Pandareos ist Antilochos, den einen
Fufs auf einen Stein setzend und Gesicht und Kopf auf beide Hände haltend.
Agamemnon, nach dem Antilochos, auf das Scepter unter der linken Ach-
Boettigerus p. 358 haesit in r&v Ysıgdv, et haec verba tollenda existimat. Fortasse post ö«-
zrUroug debent collocari. Gewils ist die Übersetzung von Amasäus manibus eam occultare
falsch. Vermuthlich erlaubte sich Pausanias die Präposition ©, @r6 auszulassen: denn un-
ter dem Gewand waren wohl das Halsband selbst und die Finger nicht bestimmt zu un-
terscheiden, aus der Haltung der Hände aber sah man, dals Eriphyle etwas falste, was
nichts anders sein konnte als das Halsband. Siebelis und Buttmann wollen zu Yıravos
einschieben zuros, so dals xeıgwv von reis zeircıs abhienge: aber so hält man Wasser, nicht
ein Halsband in der Hand. Böttiger S. 358 nimmt mit Caylus an, Eriphyle verberge den
Schmuck; so auch H. Meyer Kunstg. II S. 140: „denn die Art, wie sie denselben erwarb,
macht wenig Ehre; aber sie hat ihn doch lieb. Wie fein!” Sie wäre dann nicht mehr
Eriphyle. Eher bestand wohl die Feinheit in der Malerei, die unter dem Gewand das
Halsband und wie es gehalten wurde erkennen liels. Die Hand aber war ganz, nicht bis
auf ein paar Finger „im Mantel versteckt”. In der angehängten Zeichnung ist demnach
Polygnots Zeichnung auch nicht genau ausgedrückt, was auch so im Kleinen und ohne
Farben nicht einmal möglich wäre.
Philos.- histor. Kl. 1847. Q
122 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
sel gestützt und mit den Händen einen Stab dazu in die Höhe haltend. Pro-
tesilaos schaut auf Achilleus, welcher sitzt: über dem Achilleus aber ist
Patroklos stehend. Diese haben aufser dem Agamemnon keinen Bart.
16. Über ihnen ist Phokos gemalt im Alter eines Jünglings und Ia-
seus. Dieser hat starken Bart und nimmt einen Ring von der linken Hand
des Phokos ab wegen folgender Geschichte. Als des Äakos Sohn Phokos
aus Ägina in das jetzt sogenannte Phokis überzog und die Herrschaft über
die Menschen dieses Landes erwerben und hier seinen Wohnsitz gründen
wollte, kam Iaseus in grofse Freundschaft mit ihm und schenkte ihm unter
andern angemefsnen Geschenken einen Siegelstein in Gold gefafst. — Defs-
wegen will im Gemälde zur Erinnerung jener Freundschaft Iaseus den Sie-
gelring beschauen und Phokos giebt ihn hin um ihn zu nehmen.
17. Über diesen ist Mära auf einem Stein sitzend, die nach den No-
sten schon als Jungfrau aus dem Leben schied und eine Tochter des Prötos,
des Sohns des Thersandros, des Sohns des Sisyphos war. Auf Mära fol-
gend ist Aktäon des Aristäos Sohn und Aktäons Mutter, die ein Reh in den
Händen halten und auf einer Hirschhaut sitzen, und ein Jagdhund liegt ne-
ben ihnen wegen der Lebensweise und der Todesart des Aktäon. (°!)
18. Wenn man wieder auf den untern Theil des Gemäldes blickt, so
ist unmittelbar nach dem Patroklos wie auf einem Hügel sitzend Orpheus:
er fafst mit der Linken die Kithara an und berührt mit der andern Hand die
Zweige des Weidenbaums, an welchen er gelehnt ist: es scheint der Hain
der Persephone zu sein, wo Pappeln und Weiden nach der Meinung Homers
wachsen. Die Tracht des Orpheus ist Hellenisch und weder das Gewand
noch die Kopfbedeckung Thrakisch. An den Weidenbaum ist auf der an-
dern Seite angelehnt Promedon. — Hier auch Schedios, der Führer der
Phokier vor Troja, der ein Schwerdt hält und mit Agrostis bekränzt ist, und
nach diesem Pelias, auf einem Sessel sitzend, den Bart und das Haupt glei-
cherweise weilsgrau, der auf den Orpheus schaut. Thamyris, welcher dem
Pelias nahe sitzt, hat die Augen zerstört und ein niedriges Aussehn überhaupt,
dichtes Haar auf dem Haupt und im Bart, die Laute ist weggeworfen zu den
Füfsen, zerbrochen die Griffe über dem Steg und die Saiten zerrissen.
(') Ein Jagdhund zeichnet den Aktäon auf einem Jagdgemälde mit Tydeus, Aktäon
(AKTA®N), Kastor und Theseus aus. Millingen Uned. Mon. ], 18.
in der Lesche zu Delphi. 123
19: Über diesem (dem Thamyris) ist auf einem Stein sitzend Marsyas
und Olympos neben ihm in der Gestalt eines schönen Knaben, der flötbla-
sen gelehrt wird.
20. Wenn man wieder auf den oberen Theil des Gemäldes sieht, so
ist zunächst nach dem Aktäon Ajas der Salaminier und Palamedes und
Thersites Würfel spielend, die Erfindung des Palamedes. Der andre
Ajas aber schaut auf die Spielenden. Dieser Ajas hat die Farbe wie sie ein
Schiffbrüchiger bekommt wenn ihm noch das Meersalz auf der Haut sitzt.
Absichtlich hat Polygnotos die Feinde des Odysseus zusammengebracht, und
in seine Feindschaft ist der Oilide gerathen weil Odysseus den Hellenen rieth
den Ajas wegen des Frevels gegen Kassandra zu steinigen: Palamedes aber
wurde ertränkt als er auf den Fischfang gieng und Diomedes und Odysseus
waren die Ertränkenden, wie ich aus dem Lesen der Kypria weils. (Das
Bekanntere dafs Thersites von Odysseus geschlagen worden war und von
Ajas dem Telamoniden, der in der Nekyia der Odyssee sich von Odysseus
zornig abwendet ohne ihm Antwort zu geben, ist übergangen.) Höher im
Gemälde als Ajas des Oileus Sohn ist Meleagros, der auf den Ajas schaut.
Diese haben alle aufser Palamedes Bärte.
21. Im untern Theil des Gemäldes sind nach dem Thraker Thamyris
Hekitor, sitzend und beide Hände um das linke Knie haltend, in der Ge-
stalt des Bekümmerten, (%*) nach ihm Memnon auf einem Stein sitzend und
Sarpedon an den Memnon stofsend. Sarpedon hat das Gesicht auf beide
Hände gestützt und die eine Hand des Memnon liegt auf der Schulter des
Sarpedon: sie alle haben Bärte, auf Memnons Chlamys sind auch Vögel ge-
stickt, die Memnonischen Vögel mit Namen, die nach der Sage der Helles-
spontier an bestimmten Tagen zu dem Grabe des Memnon kommen und so
viel von dem Denkmal von Bäumen oder Gras frei ist kehren und mit den
im Wasser des Äsepos genetzten Flügeln sprengen. Bei dem Memnon ist
auch ein nackter Athiopenknabe gemalt weil Memnon König des Athiopen-
geschlechts war. — Uber dem Sarpedon und Memnon ist Paris, der kei-
nen Bart hat und mit den Händen klatscht, wie das Klatschen der Landleute
ist, und man mufs denken, dafs er durch das Geräusch der Hände Penthe-
silea zu sich rufe: Penthesilea blickt auch auf den Paris, scheint aber
(?) Siebelis zu X,31 p. 272.
Q
©)
124 Weucker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
nach dem Nicken des Gesichts über ihn wegzusehn und ihn für nichts zu
achten. Penthesilea ist eine Jungfrau mit einem dem Skythischen ähnlichen
Bogen und einem Pardelfell auf den Schultern.
22. Die über der Penthesilea tragen Wasser in zerbrochnen Gefäfsen,
die eine noch blühend von Gestalt, die andre schon vorgerückt im Alter.
Besondre Inschriften sind bei keiner, über beiden gemeinschaftlich aber,
dafs sie zu den Nichteingeweihten gehören (AMYETOL.)
23. Höher als diese Frauen ist Lykaons Tochter Kallisto, Nomia
und des Neleus (und der Chloris) Tochter Pero, der zur Weibgabe für sie
die Rinder des Iphiklos foderte. Kallisto hat statt Decke zur Unterlage eine
Bärenhaut, ihre Füfse läfst sie rnhen im Schoofse der Nomia, die nach der
Sage der Arkader eine bei ihnen heimische Nymphe ist und von den Nym-
phen sagen die Dichter, dafs sie eine grofse Zahl Jahre leben, aber keines-
wegs gänzlich vom Tode befreit seien.
24. Nach der Kallisto und den Frauen mit ihr ist ein Abhang und des
Äolos Sohn Sisyphos, der sich anstrengt den Felsen auf den Abhang hin-
aufzutreiben.
25. Auch ist ein Fafs in dem Gemälde und ein alter Mann und
ein Jüngling und (zwei) Frauen, eine junge unter dem Felsen (des Si-
syphos) und bei dem Alten eine die ihm an Jahren gleicht. (°) Die andern
(°) Ich lese wie Siebelis vex statt 2&v (eine Conjectur, auf die auch ich selbst einst
durch die Sache geführt worden bin) und ändre ferner emı N meroc in Uno, so wie gleich
nachher steht Urs rovrw ru mw. Der Stein des Sisyphos ist gewöhnlich der, den er
wälzt; hier ist mergw für den enMVvos gesetzt. Die falsche Emendation lag nah, da em mE-
Tas, erı mETEg im Vorhergehenden so häufig vorkommt. Dabei aber wurde übersehn, dals
des Artikels wegen, da ein Sitz dieser Person noch nicht genannt war, auf sie auch merace
nicht bezogen werden darf, wie Clavier verbindet: dont ?une jeune etait sur une pierre,
so wie auch dafs das Sitzen mit dem vergeblichen Bemühen, das hier dargestellt wird,
sich nicht verträgt. Wenn hingegen !r: übersetzt wird prope Sisyphi saxum, so ist diels
gegen den Gebrauch der Präposition, wenn auch m: Sar«ssn bei Pausanias selbst III, 20,
6 vorkommt. Jacobs: Totus hie locus misere corruptus et turbatus. Recte vidit Böttigerus
p. 364, mulieres illas cum sene et puero occupatas esse in haurienda aqua. Sed quod sus-
picatur legendum esse ZravrAoücaı &s Tov mıSov ferri non potest, praesertim quum sequatur
oi ev @AA0r degovres Udwa. Fortasse lenissima mutatione seribendum: za: Yuvalzes eviaı
nv Em m mergg (so Nibby parecchie donne assise sopra il sasso — Porson ver) — mu-
lieres cum aliae circa rupem, unde aqua scaturit; alia (supple Ay, Me, 715) Juxta senem
ıllum, cui aelate est similis.
in der Lesche zu Delphi. 135
tragen Wasser, der Alten aber ist, wie zu schliefsen, die Hydria zerbrochen
und so viel von dem Wasser in dem irdnen Gefäfs noch übrig ist giefst sie
wieder in das Fafls aus. Wir vermuthen, dafs auch diese von den die Cäre-
monien in Eleusis Geringschätzenden seien: denn die älteren Hellenen hiel-
ten die Eleusinische Feier von Allem, was zur Frömmigkeit gehört, um so
viel mehr in Ehren als sie die Götter vor die Heroen setzten.
26. Unter diesem Fafs aber ist Tantalos, der alle andern Plagen
erduldet, die Homer von ihm gedichtet hat, und zu diesen die Angst vor
dem aufgehängten Stein, worin Polygnot offenbar der Erzählung des Archi-
lochos folgte.
In der Anordnung der Bilder mufs man eine allgemeine Übereinstim-
mung mit dem Gemälde gegenüber voraussetzen und ist daher nicht wenig
befremdet über die grofsen Schwierigkeiten, auf die man stöfst wenn man
die Composition herauszufinden sucht. Öfter als sich leicht Jemand vorstellt
kann man diesen Versuch auf die verschiedenste Weise anstellen und dennoch
über manches Einzelne, jaüber Hauptumstände im Zweifel bleiben, so dafs
man zuweilen an der Lösung einer Aufgabe verzweifelt, die man doch immer
wieder aufnimmt, weil andrerseits so vieles sich nach befriedigender Wahr-
scheinlichkeit ordnet und weil das andre Gemälde zu verbürgen scheint, dafs
auch in diesem eine durchgreifende Regelmäfsigkeit statt gefunden habe.
H. Meyer nimmt an, dafs das zweite Gemälde keine Hauptabthei-
lungen wahrnehmen lasse, sondern der Bedeutung nach ein Ganzes war, wie-
wohl für uns nicht alle seine Beziehungen klar seien. Doch ist ihm so viel
völlig klar, dafs die Figuren und Gruppen in drei Reihen über einander an-
geordnet waren (°*). Böttiger zweifelt nicht, dafs auch hier in der ganzen
Anordnung alles auf Symmetrie und Gegensätze ankam und hält es für sehr
wahrscheinlich dafs auch hier alle Figuren in drei übereinanderlaufenden Li-
nien aufgestellt waren (S. 346), macht aber, da eine Perlustration im Einzel-
nen, wie er sagt, ihn zu weit führen würde, nur allgemeine Bemerkungen
über die Manier des Malers. Nicht ohne Grund bittet Siebelis sich Beweise
aus für die drei Linien und zählt viele Ungewifsheiten und Dunkelheiten
auf, die ihm in dieser Hinsicht blieben (p.279). O. Jahn ist der Ansicht,
(°*) Kunstgesch. 1824. II, 138.
126 Wercxker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
dafs im zweiten Gemälde ein strenger Parallelismus, wie er ihn im ersten
nachgewiesen habe, sich nicht zu finden scheine; doch erkennt er denselben
Geist in der Anordnung, sowohl was die Verbindung durch äufsere Symme-
trie als durch innere Bedeutsamkeit anlangt (5.25 f.). Es zerfällt ihm nicht
wie das erste in zwei Hälften, wefshalb nicht zu erwarten sei, dafs die ein-
zelnen Glieder der Composition sich darin eben so streng einander entspre-
chen wie im ersten; es zeigt nach ihm ein ganz verschiedenes Prineip der An-
ordnung, nemlich eine bei weitem gröfsere Anzahl übereinander geordneter
Linien, deren keine die ganze Länge des Bildes einnehme, indem die untere
stets durch die obere fortgesetzt werde, mit einem beständigen Streben in
die Höhe. Allerdings sei es befremdend, bei diesen beiden Gemälden, wel-
che sich auf den gegenüberliegenden Wänden befanden und also zur Ver-
gleichung von selbst einluden, eine verschiedene Anordnung befolgt zu se-
hen; allein sie trete aus Pausanias, unserer einzigen Quelle, ganz deutlich
hervor. Es sei wohl weniger die Absicht des Malers gewesen, ein Gemälde
zu liefern, das die Strahlen von allen Seiten her in einen Mittelpunkt ver-
einigte, alle Einzelheiten auf einen Culminationspunkt hinführte, als viel-
mehr eine Reihe von Scenen auf eine Weise zu vereinigen, dafs jede einzelne
in sich abgerundet, und mit den andern wiederum in die manigfaltigste und
engste Verbindung gesetzt werde, sowohl durch die inwohnende Bedeut-
samkeit als die stellenweise bis zu strengem Parallelismus gesteigerte Sym-
metrie der Anordnung (S.40-42). Die Tafel der demgemäfs aufgezeichne-
ten Gruppen stellt viel zu eigenthümliche Verhältnisse dar und die Gegen-
stände sind viel zu sehr verwickelt als dafs darüber in der Kürze sich ein
Urtheil abgeben liefse.
Den Gegenstand des zweiten Gemäldes an der linken Seitenwand der
Lesche hat Polygnot aus der Nekyia der Odyssee geschöpft, den Niedergang
des Odysseus zum Hades, (%) um den Tiresias über die Heimkehr zu befra-
gen. Der Dichter läfst uns nur den Eingang erblicken von dem wüsten
Hause des Hades, am jenseitigen Ufer des Okeanos, wo im ewigen Dunkel
die Kimmerier hausen (X1,14), wo das niedere Gestad und Persephones
Haine, hohe Pappeln und unfruchtbare Weiden, die wüste Behausung des
55) Pausan. X, 28,1 ’Odusseis zaraßsßyzwus Es rov Alöyv. Odyss. X, 512 aüres 0° zic
5) 9 1 ( y ’
DA ’ ’ - Er kam .h/
Aldew ievaı Öolov SÜOWETE, XT, 474 zus Erans "Aldosbe zarei Teer;
in der Lesche zu Delphi. 127
_Hades, wo in den Acheron der Pyriphlegethon und Kokytos fliefsen (X,
508-145). Dort macht sich der Held nah heran (xgıu$Seis veras 516), gräbt
eine Grube eine Elle lang auf allen Seiten, giefst Spende hinein für alle
Todten, von Meth, Wein und Wasser, worauf weifses Mehl gestreut wird,
gelobt ihnen in Ithaka eine unfruchtbare Kuh, dem Tiresias entfernt davon
ein schwarzes Schaf zu opfern, schlachtet dann ein männlich Schaf und ein
weibliches schwarzes (das andre ohne Zweifel auch schwarz), und läfst ihr
Blut in die Grube fliefsen, indem er selbst umgewandt sich nach dem Okea-
nos kehrt (X,527), hält dann sein Schwerdt gezogen um die Seelen vom
Blut so lang abzuwehren bis er zuvor den Tiresias gefragt hat. Es kommen
zuerst die Seelen des durch jugendlichen Leichtsinn vor der Abfahrt vom
Lande der Kirke verunglückten Elpenor, der um ein Grab fleht, und der
eigenen Mutter Antikleia, die nicht zum Blute gelassen werden, worauf Ti-
resias kommt und, nachdem er Blut getrunken, dem Odysseus über die
Heimfahrt Wahrheit verkündigt. Dann sammeln sich die Seelen der Heroi-
nen um das Blut und werden eine nach der andern zugelassen und befragt.
Nachdem Persephone diese wieder zerstreut hat, kommen die Heroen. Wie
der tiefsinnigste der Künstler diese Erzählung in ein Gemälde verwandelt
und wie er den gegebenen Stoff, den er in allem Wesentlichen ausdrückt,
mit Bestandtheilen einer späteren und eigner Erfindung bereichert hat, ist
der Betrachtung nicht unwerth.
Für eine symmetrische Anordnung der Unterwelt sprechen zuvörderst
folgende Umstände. Es entsprechen sich offenbar die beiden Enden. Wie
auf der einen Seite Tityos noch weiter in das Innre des Hades hineinreicht,
so auch auf der andern noch ein Paar Bülserinnen, die Wasser tragen; jener
zwar unten, diese oben im Bilde, aber vielleicht absichtlich die alten und
die neueren Sünder gemischt, so auf beiden Seiten, wie untereinander an
beiden Enden. Unter den übrigen Hadesbewohnern finden wir keine Bü-
fsenden mehr, „aufser etwa Theseus und Peirithoos als Gefangne, obgleich
die Schwächen, die manche im Leben begleiteten, ihnen im Hades verblei-
ben, oder das Leid, welches sie ihnen dort zuzogen, angedeutet ist. Sodann
ist auffallend das Zahlverhältnifs der verschiedenen Klassen von Bewohnern
des Hades, die entweder Reihen oder Gruppen bilden, wie sich weiterhin
ergeben wird. Bestimmte Abtheilungen nach dem Inhalt, selbst nach Gegen-
sätzen desselben, wie im andern Gemälde, sind hier nicht wahrzunehmen.
128 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
In den unbekannten Wohnungen der Todten giengen die Gruppen in min-
der bestimmten Absonderungen und Verhältnissen in einander, und Ruhe
und Einfachheit in der Stellung herrschen hier vor wie dort Bewegung und
Handlung.
Zur Rechtfertigung der getroffenen Anordnung der Gruppen in Bezug
auf Pausanias bemerken wir folgendes.
Mit dem Kahn des Charon beginnt die Beschreibung, obgleich er nicht
dem untersten Plan angehört, weil er der Gegenstand der Unterwelt ist der
gewöhnlich zuerst genannt wird. Auffallend ist in mancher Hinsicht, dafs
der Kahn diese Stelle einnimmt; doch ist die Stellung der ersten Höllenstrafe
Karıora Ümo rev Xaguvos ryv vadv (2) zu bestimmt, um einen Ausweg zu lassen.
Der Tempelräuber (3) ist dem Vatermörder nah (revrou rAyziev), in dersel-
ben Linie. Eurynomos (4) ist dvwrsgu r&v nareıreyuevwv, unter welchen Cha-
ron mitzuverstehn sein möchte, weil die Verwesung, die Eurynomos bedeu-
tet, auf der Oberfläche der Erde ist und er den ganzen Hades angeht. So
gleicht sich auch dieses Ende mit dem andern, wo ebenfalls in allen drei Li-
nien Figuren sind, aus und es kommen gerade die Verwesung dem Sisyphos,
der den Stein der Weisheit wälzt, dem sich vergeblich abmühenden Men-
schengeist, und Tellis und Kleoböa den Uneingeweihten gegenüber zu stehn.
Von Auge und Iphimedeia (5) sagt Pausanias, dafs sie der Reihe nach, gleich
nach Eurynomos stehn (&pe£fs ver« rev E.), was sonst immer von demselben
Plan gilt, hier aber von dem nächsten Plan, also von einem Angränzen in
schräger Linie verstanden werden mufs, wegen der gleichfolgenden Bestim-
mung über Perimedes und Eurylochos (6) rwv ö& 101 neı KUTEINEYUEVWV Eiriv
dvwregoı rourwv. Denn wenn diese über die Genannten hinaufgerückt würden,
so stünden sie ganz allein auf einem vierten Plan, vereinzelt und wie aufser
dem Bilde. Oder will man den Eurynomos zwischen das Schiff und Auge und
Iphimedeia legen, indem die Verwesung nach dem Übergang in den Hades
erfolgt? dafs die Vorstellungen gegenüber (24-26) weniger übereinstimmen
würden, dürfte nicht abhalten: aber die Figuren der mittleren Reihe häufen
alsdann sich allzusehr. Die beiden Träger der Widder sind mit Odysseus in
derselben Linie, damit ihr Bezug zu ihm in die Augen falle, aber etwas ent-
fernt von ihm, da sie etwas Früheres, die Anstalt zum Opfer ausdrücken.
Wo diefs erfolgt ist (Vorhof des Hades möchte ich diesen Ort so wenig nen-
nen als den wo die Träger sich befinden) und Odysseus über der Grube
in der Lesche zu Delphi. 129
huckt, waren höchst wahrscheinlich die Köpfe der Opferthiere gemalt wie in
dem vortrefflichen Vasenbild, welches diese Scene vorstellt. Oknos (7) ist
nach den zwei Gefährten des Odysseus (uer« aurcus), was wieder nicht von
der Reihe, sondern vom Fortschritt im Ganzen des Gemäldes genommen
werden kann (wie auch Wiedasch zur Übersetzung des Pausanias bemerkt):
denn es ist nicht glaublich, dafs ein Paar der Schatten, getrennt von den
Bewohnern des Hades, zwischen den Opferthieren und dem Opfer selbst,
gleichsam aufser dem Hades auf der Oberfläche gemalt gewesen sei: dann ist
auch dem Oknos ganz nah Ariadne mit Phädra, die man nicht auch mit hin-
aufziehen wollen wird. Wie Pausanias in dieser Gegend des Bildes mit ge-
s und Bestimmtheit in seiner Beschreibung verfährt als in
5 )
allen übrigen, zeigt sich am meisten daran, dafs er von Tityos (8) die Stelle
ringerer Ordnun
gar nicht angiebt, sondern nur sagt yeygarraı d& zaı Tırucs: ich glaube indes-
sen nicht zu irren, wenn ich ihn neben die andern Büfsenden in die unterste
Reihe bringe. (Siebelis setzt ihn in derselben Linie mit den Gefährten des
Odysseus, dem Oknos und der Ariadne und Phädra. Die Riepenhausen hin-
gegen hatten ihn unten neben den Tempelräuber gelegt.) Klar ist dagegen
die Nebeneinanderstellung der Phädra (9) in der Reihe des Oknos: £rwvrı
ÖE EbeENs Ta &v TH ygadh Eorw Eyyurarw Ted orgebovros. Unter der Phädra (öro
ray ®.) sind Chloris und Thyia (10), nach ihrer Beziehung zu den drei fol-
genden Figuren wohl auch nicht gerade senkrecht darunter, sondern nur un-
gefähr, ein wenig mehr rechts. Neben der Thyia (rag) Prokris, nach dieser
(ser«) Klymene, und weiter einwärts (&rwregw), was für nera gesagt ist (nicht
sur un plan plus eleve, wie Olavier übersetzt, oder darüber, wie auch O.Jahn
versteht) Megara. 'T'yro und Eriphyle (11), über den genannten Frauen (yv-
varkav TÜV HaTsIReyuEvWV ümeg 775 aebaAys), mufs es erlaubt sein über den zwei
zuerst von diesen fünfen genannten zu setzen. Diefs pafst auch zu dem Fol-
genden, dafs über der Eriphyle (üreg rs 'E.) Elpenor (12) gemalt sei: denn
so breitet sich die Gruppe des Odysseus, wozu dieser gehört, so aus, dafs
darunter neben der Eriphyle noch Platz für andre Figuren übrig bleibt. Und
wirklich sitzen tiefer als Odysseus (zarwregw ro0 ’O.) Theseus und Peirithoos
(13). Gleich dabei (ede&4s, hier wieder von derselben Reihe gebraucht) sind
die Töchter des Pandareos (14). Nach diesen aber (uer«) folgt Antilochos,
nach diesem uer« Agamemnon; dann Protesilaos, Achilleus, Patroklos (15),
die offenbar zu einander gehören, und ich mufs eben so sehr mit Rücksicht
Philos.- histor. Kl. 1847. R
130 Wercxker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
auf die mittlere als auf die untere Reihe annehmen, dafs Pausanias hier ver-
gessen hat beizufügen, was er bei der Gruppe 18 bemerkt: «roßrebarrı ö
audi: Es ra narw 7A Ygapys (Evrı uer« Ted Havdapew Tas nogas), oder dafs ner«
auch hier wie bei Oknos, den Fortschritt in einer unteren Reihe angeht (was
auch hier Wiedasch erinnert); nur wenn &de£4s hinzukommt, ist dieselbe Reihe
nothwendig zu verstehn. Wie so gar nicht Pausanias die Gruppen beachtet,
zeigt sich auffallend daran, dafs er so unmittelbar hinter einander sagt: ner«
Tel Iavdagew Tas nogus ’AvriAoy,os und ’Ayaneuvwv de HEr@ Fov ’Avriloy,ov, so als
ob kein Unterschied zwischen diesen Personen wäre. So auch gebraucht er
hier wieder wie im ersten Gemälde Gruppe 3 ürsg von einer etwas erhöhten
Stellung in derselben Gruppe: denn dafs Patroklos über dem Achilleus ste-
hend dennoch zu derselben Gruppe gehöre, läfst sich doch nicht bezweifeln:
er steht vielleicht nur über ihm in so fern Achilleus sitzt und er daher über
ihn hervorragt indem er steht. Dagegen sind gleich darauf über diesen (Ureo
aürcus) Phokos und Iaseus in einer oberen Reihe (16), und über diesen (ürtg
rourcus) in der dritten Reihe Mära und bei ihr (&peZns) Aktäon (17). Dann
ist so bestimmt als man nur wünschen kann angegeben von Orpheus (18):
üroßrcbavrı 68 auSıs & ra zarw is yoadns Eotw Edeens Hera Tov HargoxAov, so
dafs an die Gruppe der Achäerhelden sich die der Musiker (18) auf der un-
tersten Linie anschliefst. Anstatt aber diese als zusammengehörig ins Auge
zu fassen oder einfach an einander zu reihen, sagt Pausanias mit der Ziererei,
die seinen Styl so sehr entstellt, nachdem er den Orpheus und Promedon
genannt hat: zara reüro Ns ygabns Zxediss, dann zaı ner& roürov Ilerias, der
auf den Orpheus hinsieht, und Oanvgidı Eyyus Te nadelonevw ToV TeAlov x. 7.2.
Uber dem Thamyris (üreg reurev) Marsyas und Olympos (19) und in der
obersten Reihe (ei ö& arıdas rar is ro avw 75 Ygadns) sind neben dem Ak-
täon (&defrs 70 ’A.) die Würfelspieler (20), und hier ist die höhere Stellung
in der Gruppe, wie sonst einigemal durch Umeg, ausgedrückt durch dvwregw
(A 5 rev ’Oirews Alas), was sonst immer von einer höheren Reihe gebraucht
wird. Hierauf springt die Beschreibung wieder von der dritten in die un-
terste Reihe herab, &v reis zarw r7s Years uEera rev Ogera Ocuupw, auf Hek-
tor, nach dem Hektor (uer«) ist Memnon, Sarpedon (suveyns), über beiden
(ureg Fev Zapmndova re »uı Meuvova, was ich abermals blofs von der Gruppe
verstehe) Paris und Penthesilea (21). Uber der Penthesilea (ürsg yv I.)
zwei Wasserträgerinnen (22) und höher als diese (r@v yuvarzav dvwregw Tou-
in der Lesche zu Delphi. 131
rwv), also in der dritten Reihe, Kallisto, Nomia und Pero (23). Nach der
Kallisto (uer@ av K.), in der obersten Reihe nemlich, da hier kein Grund
ist eine Ausnahme zu vermuthen, Sisyphos (24), unter dem Felsen des Si-
syphos (Ur0 sy wergg, wie ich für Ei sicher herzustellen glaube) das Fafs mit
vier Wasserträgern, die so sich pafslich genug an die zwei andern derselben
Reihe (22) anreihen (25), und schliefslich unter dieser Gruppe (Urs reirw
75 mıSw) Tantalos (26). Die Bestimmung ür> r} rerge zeigt nicht blofs die
Stelle unter dem Sisyphos, sondern auch die am Rande des Biides an, was
mit der Gegenüberstellung der Figuren paarweise wohl zusammentrifft.
Ehe ich das Verhältnifs der Gruppen unter einander erläutere, sind
über einzelne Darstellungen für sich Erklärungen zu geben.
1. Charon in der Barke an zwei Attischen Lekythen, abgebildet in Sta-
ckelbergs Gräbern Taf. 47.48, an einem Basrelief im Mus. Pioclem. IV, 35,
immer nur mit Einem Ruder, so dafs auch bei Pausanias ri rais zwraıs nicht
buchstäblich zu nehmen sein wird.
3. Zwei Pharmakiden waren am Kasten des Kypselos, Kräuter oder
Wurzeln, welche die Pharmakiden besonders gruben (Dio Or.58 p. 302), im
Mörser stofsend (Pausan. V,18,1); andre auch in einem sehr alten Basrelief
in Theben, die von der Here zur kreisenden Alkmene gesandt waren (Paus.
IX „11, 9).
4. Die Dichtung des Dämon Eurynomos des weit- oder vielfressenden,
der das Fleisch abweidet, schliefst sich der vom Felsen Leukas an, welchen
am Eingang des Hades schon die der Odyssee als eine Fortsetzung angehängte
Nekyia nennt (XXTV,11, in der Odyssee selbst nur rergn X, 515); denn
diese Klippe Leukas hat wohl ihren Grund in der epischen Formel Aeux örrea.
Gemalt hätte das Schauerliche, das in dem Namen liegt, sich nicht genug
ausgedrückt: wahrscheinlich erfand Polygnot selbst das symbolische Bild.
Eurynomos hat die Haut eines Geiers zur Unterlage, nicht wie die Schmeifs-
fliege sich auf das Aas setzt, sondern zur Andeutnng gleicher Natur (da der
Geier eben so wie die Schmeifsfliege der Leichenfeind ist, wie Aelian sich
ausdrückt), so wie zur Erinnerung an ihre Verwandlung in diese Thiere Ak-
täon und seine Mutter auf der Haut eines Hirsches (17), Kallisto auf der
eines Bären sitzen (23). In der nordischen Mythologie saugt Nidhugper die
Leichen der Abgeschiedenen aus. Eurynomos ist weder als ein Qualdämon
R2
132 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
zu denken (5°), noch soll er diejenigen schrecken, welche die eilige Bestat-
tung versäumten (°7). Er bedeutet entschieden die Verwesung; die Zähne,
die Farbe in Verbindung mit der Natur des Geiers sind sprechend genug.
7. Den Oknos im Hades ein Seil flechtend, das der Esel auffrifst,
hatte auch (°°) Kratinos (vielleicht in den Chironen) erwähnt, ob vor oder nach
dem Gemälde, läfst sich nicht sagen. Dafs Polygnot es dabei auf die Frau
nicht weniger absah als auf den Oknos, der zwar arbeitet, aber unachtsam
ist, sich nicht umsieht noch Aufsicht hält (piger bei Plinius) (°°), zeigt sich
auch an der Stelle, die Oknos zwischen Heroinen einnimmt, und es mag bei
der Erfindung des Bildes des Iambendichters Simonides Frau aus der Eselin,
die mit der des Oknos grofse Ähnlichkeit hat, (60) mit im Spiel gewesen sein.
Freilich hat auch der natürliche Esel Sinn in der Fabel, nicht blos die sym-
bolische Eselin, und so setzen Plinius bei dem Oknos eines Malers Sokrates
und Properz (IV,3,22) asellus; dafs es auch Kratinos so meinte, ist weniger
zu glauben als dafs im Citat InAcıe zu cvos ausgelassen sein möge. Ganz ver-
(°) K. O. Müllers Orchomenos S. 18.
(°) Stackelberg Gräber der Hellenen S.13, der dagegen den Hund an der Pforte des
Hades, welcher Wache hält, der Gefräfsigkeit des Hundes wegen zum Sinnbilde der Ver-
wesung macht S. 12. Cavedoni vermuthete in gewissen schreckbaren, auf dem Boden
verschiedener in Vulci gefundener 'Trinkschalen gemalten Masken, die an Medusa durch die
herausgestreckte Zunge und die Zähne erinnern, wegen ihres Barts auch für Deimos oder
Phobos genommen worden sind, Eurynomos vorgestellt, was sehr unwahrscheinlich ist.
Bullett. d. Inst. archeol. 1844 p. 154.
(°°) Meineke Fragm. Comic. II p. 203.
(°°) Jacobs irrt hier auffallend: Gezerum suspicor, Ocnum Polygnoti demum invento de-
bere hoc quod mythologicis Inferi civibus annumeratur. Certe allusio ad ejus conjugem ad-
modum insulsa esset, nisi Ocnus, homo laboriosissimus, sed conjugis prodigae culpa pauper-
tate laborans, omnibus tum temporis fuisset notus. Vel ipsum hominis nomen, N RUroV Dı-
Asoyie contrarium, docet de persona mere allegorica cogitari non posse. Plutarch de anımi
tranquill. p. 473 macht eine Anwendung von dem Oknos, den (noch immer) die Maler
im Hades malten, auf die Thörichten, die sich nicht um das Gegenwärtige kümmern, son-
dern nur das Künftige denken.
(°) wegi yuvaızav 43-49. In dem Sinn, welchen wir annehmen, scheint Oknos auch
gefalst in dem Wandgemälde eines noch nicht edirten Columbarium der Villa Pamfili in
Rom, woraus zwanzig Bilder in Copie sich in München in den Vereinigten Sammlungen
befinden. Oknos sitzt nemlich vor seinem Gehöfte auf einem Stein, bärtig, der Mantel
vom Kopf abfallend; dem Esel, der auf den Beinen gelagert das Seil bequem abfrilst, hält
er es selber lässig hin.
in der Lesche zu Delphi. 133
schieden ist der lahme Esel in der Unterwelt des Appulejus (Metam. IV
p- 130 Bipont.), welcher Holz trägt, mit einem gleichen Eseltreiber, der den
Ankommenden die herabgefallenen Holzstückchen aufzuheben bittet, an dem
dieser aber stumm vorbeigehn soll: und doch nennt Müller diesen lahmen
Eseltreiber auch Oknos und bezieht ihn und demnach auch den Polygnoti-
schen auf Mysterien. (°')
8. Dafs Polygnot dem Tityos statt der neun Joche (»?eSg«) bei Ho-
mer wenigstens eine ungewöhnliche Länge gegeben habe, möchte wohl an-
zunehmen sein. So auch dafs er auf dem Boden (&v darsdw) ziemlich strack
ausgereckt war, was auch nach malerischem Geschmack dagegen zu erinnern
wäre. Das Unvollständige des Schattenbildes konnte nicht wohl darin be-
stehn, dafs es stellenweise nicht ausgezeichnet war, als ob Theile ganz ein-
geschwunden wären; sondern in Verfallenheit der Gestalt, wobei sie im
Ganzen doch im Ungeheuren erhaben sein konnte.
9. Da Ariadne auf ihre Schwester Phädra blickte, so war sie ver-
muthlich nicht in eigne Trauer versenkt. Welcher Grund wäre auch gewe-
sen sie gerade in der Bestürzung darzustellen, die sie bei dem Erwachen
nach der treulosen Flucht des Theseus empfand? (°) Phädra mag in ihrer
(°') Archäol. $.391 Anm. 9. 397 Anm.1. Die Geschichten von dem Fals und dem
von einem Mann geflochtenen, von andern Männern aufgelösten Seil bei einem Feste der
Akanthier in Ägypten bei Diod. 1,97 würden von den Danaiden und Oknos verschieden
sein, auch wenn sie ebenfalls ein Sinnbild vergeblichen Thuns wären: die Ägypter ver-
mischten gern einheimische und Hellenische Sagen und Gebräuche: sie beziehn sich aber
wie Schwenck Agypt. Mythol. S. 248 f. zeigt, auf das Jahr und seine Tage. Auch in
den Ann. d. Inst. archeol. V p. 319 ist übrigens auf diesen Anlals dem Oknos ein von
Pausanias angeblich nur verschwiegner mystischer Sinn beigelegt. Die Danaiden und Ok-
nos sind zusammengestellt Mus. Pioclem. IV, 36, da sie in der Fruchtlosigkeit ihrer Ar-
beit einander gleichen und könnten daher auch gemeinschaftlich auf das r220s der Myste-
rien hindeuten. So auch ist von einem meist zerstörten Architravfries aus Stuck in einem
Grabe zu Rom Oknos und noch erhalten eine Danaide neben ihm, am andern Ende Ker-
boros; und hier hält Oknos, ruhend auf einem Knie vor dem Esel, ihm das Geflecht wie
zum Futter hin, so dals man in Gedanken ergänzen muls, dals er wenn dies Geschäft ab-
gethan ist, von neuem zu flechten haben wird. Cav. P. Campana Due sepoleri Romanı
1840 tav. II C und VIIB p. 10.
(°°) R. Rochette Peint. de Pompei p. 31-33, wo diels angenommen wird, um der
Ariadne (der sogenannten Agrippina in Dresden) in Polygnots Gemälde ein Vorbild zu
geben.
134 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
Schaukel, die sicher ohne allen Bezug auf einen heiligen Gebrauch war, da
dieser hier keinen Sinn haben würde, sich nicht so munter geschwenkt ha-
ben wie das Spiel an sich in Vasengemälden aussieht. (%) Doch dürfte von
der Vase des Hrn. Sam. Rogers die Figur der Geschaukelten, vom Eros der
sie schaukelt getrennt, der Haltung nach sich vollkommen zur Polygnoti-
schen Phädra eignen. So wie in diesen spätern Gemälden nur die Schau-
kel, nicht die Art sie zu befestigen ausgedrückt ist, so darf sie sicher auch
bei Polygnot nicht als an einem Baum hängend gedacht werden. So löb-
lich es ist, dafs Polygnot das Erhängen nicht darstellen wollte, so hat doch
diese Umwandlung in das Schönere, wie Pausanias sagt, die blofse Andeu-
tung durch die Stricke einer Schaukel, eben weil diese auch im eigentlichen
Sinn genommen werden könnte, etwas gar Treuherziges. Doch leitete auch
die Attische Legende das der Erigone gewidmete Schaukeln zur Sühne und
das Schaukeln überhaupt davon her, dafs Erigone sich erhängt habe: (°*)
so nahe lag die Vergleichung des Aufhängens mit dem Hängen zum Hinund-
herschweben. Phädra (FEDPA) unter den sechs tragischen Heldinnen in
Wandgemälden aus Tor Maranciano, jetzt im Vatican, hält den Strick in
der Hand; (°%) auch keine üble Art das Erhängen selbst zu umgehen.
10. Chloris und Thyia sind als Flora und Aura sehr befreundet und
so bleiben sie es auch im Mythus, der sie in geschichtliche Personen umwan-
(%) Ein Mädchen läfst von einem andern sich schaukeln Millingen Ane. uned. mon.
pl. 30. Gerhard Ant. Bildw. 1,55. Eros schaukelt eine Schöne, ein Hündchen bellt dazu,
eine Begleiterin beschaut sich im Spiegel, an einer Vase des Hrn. Sam. Rogers b. Ger-
hard das. Taf. 54. Dafs diefs nicht auf Reinigung durch Luft gehe, sondern auf das täg-
liche Leben, giebt der Ausdruck bestimmt zu erkennen. An einer kleinen Vase Cande-
lorı schaukelt unter einem Myrtenbaum IIAIAIA (die wieder auf einer bei Stackelberg
Gräber Taf. 29 unter der Umgebung der Aphrodite sich befindet) den EP2E. Bullett. d.
inst. archeol. 1829 p.78. Sehr falsch Böttiger S. 358: „Phädra hat sich erhangen, hält
aber den Strick mit beiden Händen.” Eben so irrt Meyer in der Anzeige der Unterwelt
Polygnots von den Brüdern Riepenhausen in Göthes Kunst und Alt. 1827 VI S.293 sehr
wenn er meint Polygnot habe zart darauf anspielen wollen, dals Phädra sich selbst er-
hieng, und sie darum an einem mit beiden Händen gehaltenen Strick schwebend, nicht
5
wie auf einer Schaukel sitzend dargestellt.
(°) Hygin P. A. II, 4, wo nicht zu übersehn ist: izaque et privatim et publice faciunt;
denn das erste ist nicht als eine religiöse Cäremonie zu denken. Die Todesart des Er-
hängens ist informis. Virgil. Aen. XII, 603.
(®) R. Rochette Peint. ant. pl. 5.
in der Lesche zu Delphi. 135
delt. Diese Doppelnatur ist häufig genug: die Sage kehrt nur zuweilen auch
die Sache um, wie z.B. bei dem Marsyas (19) Pausanias bemerkt, dafs die
Phryger in Kelänä behaupteten, der Flufs Marsyas, der durch ihre Stadt
fliefse, sei einst der Flötner Marsyas gewesen. Die Thyia denkt man sich
gern in den Schoofs der Chloris gelehnt ähnlich wie Pandrosos in den der
Herse in der Gruppe der drei Thauschwestern im vorderen Giebelfelde des
Parthenon, die statt der Mören mit guten Gründen anzunehmen sind: zu-
gleich würde, wenn man in der Zeichnung diefs herrliche Vorbild benutzt,
die mehr ausgestreckte Figur der Thyia mehr hervortreten, so dafs die Fünf-
zahl der Gruppe besser in das Auge fiele. Klymene kehrt der zweiten Gattin
ihres Gemahls den Rücken. Philolaos und Diokles, die von Korinth nach
Theben ansgewandert waren, Diokles aus Verdrufs, Philolaos aus Liebe zu
ihm, liefsen ihre Grabhügel so einrichten, dafs von beiden freier Ausblick
auf einander war, dabei aber so, dafs man von dem des Diokles nicht, von
dem des Philolaos wohl nach Korinth hinschauen konnte. (°°) Diokles wandte
also noch im Grabe sich von Korinth ab, womit er unzufrieden zu sein Ur-
sache gehabt hatte.
12. Dafs der Schatten des Tiresias eben zur Grube aufsteige, ist im
Wort selbst (mgssıurıw Emı rev RcSgov) gegeben und bestätigt sich durch die zwar
im Übrigen ganz anders eingerichtete Darstellung dieser Scene an einer vor
wenigen Jahren entdeckten und bereits edirten Vase aus Basilicata, die ein
Meisterwerk ist; (°7) und ich mag gern glauben, dafs auch Polygnot von dem
Schatten nur eben das zurückgebogene Haupt sichtbar sein liefs, weil diefs
unstreitig die meiste Wirkung macht, und dafs er diesem einen ähnlichen
geisterhaften Ausdruck gegeben habe. Dafs er dabei vermuthlich auch ne-
ben dem über der Grube huckenden Odysseus die zwei Widderköpfe gemalt
hatte, wie es dort ist, wurde schon oben bemerkt. Der Vortheil für die
Gruppe, dafs nun nur drei Personen erscheinen, Elpenor auf der einen,
(°°%) Aristoteles Polit. II, 9.
(°”) Bullett. Napolet. T. I tav. 6 p. 100. Mon. d. Inst. archeol. IV, 19. Beide Dar-
stellungen sind auseinandergesetzt und verglichen Annali XVII p. 211-17. Dals der Schat-
ten des Tiresias so besser als in der Riepenhausischen Zeichnung aufsteige, ist auch daraus
klar, dals nach Pausanias Odysseus das Schwerdt über die Gruppe hält, aus welcher der
Schatten hervorgeht. Dieser durfte also nicht entfernt von Odysseus sein. Auch verliert
die Rundheit der aus drei Personen bestehenden Gruppe durch die Halbfiıgur des Tiresias.
136 Wercker: Die Composilion der Polygnotischen Gemälde
Antikleia auf der andern Seite des Odysseus, ist unverkennbar. Nicht im
Sinne Polygnots ist was Göthe annimmt, dafs Antikleia ihren Sohn noch
nicht gewahre, weiter zurücksitzend als Tiresias. Es scheint vielmehr die
Härte der epischen Sage, dafs selbst die Mutter nicht zum Blute gelassen
wird bevor Tiresias getrunken, dem Gedanken Platz gemacht zu haben, dafs
die Mutter um den Sohn wiederzusehn sich Allen vorangedrängt hat.
13. Theseus und Pirithoos nicht als Heroen (deren hier viele stehen)
sitzend, wie Böttiger (8.347 f.) annimmt, sondern nach der vollkommen
wahrscheinlichen Vorstellung des Pausanias angebunden an die Thronen oder
als Gefangne: nur der Zauberbann auf die Stühle oder die Angewachsenheit
war dem ungefähr gleichzeitigen Panyasis eigen. Da diese der Maler nicht
ausdrücken konnte, so läfst sich nicht sagen, dafs er auch hier mildere.
Merkwürdig aber sticht von ihm das unten (Not. 81) erwähnte späte Vasen-
gemälde einer ganz andern Unterwelt auch hierin ab, eine Vase der Samm-
lung S. Angelo, wo hinter dem Pluton Pirithoos gefesselt sitzt und von einer
Furie mit dem Schwerdte bewacht wird. Noch grausamer erscheint die Fes-
selung von beiden Freunden durch eine Furie, Angesichts des Pluton (nicht
Minos, Bullett. Napol. 1846 p.75) und der Persephone an einer Vase Jatta
in Gerhards Archäol. Zeitung Taf. XV 5.227. Ein geschnittner Stein hin-
gegen in den Mon. ined. 101 stellt den Theseus vor sitzend in Trauer, das
Schwerdt unter dem Sitz.
14. Die Erzählung der Odyssee (XX, 66-78) von den Töchtern des
Pandareos wird durch das, was Pausanias von ihm als Geschichte anführt,
nicht aufgeklärt. (°%) Die Götter nahmen der Kamiro und Klytie ihre El-
tern hinweg und sie blieben als Waisen im Hause; Aphrodite pflegte sie auf
o und lieblichem Wein und von andern Göttinnen
5
empfiengen sie deren eigenthümliche Gaben, von Here Verstand und Schön-
mit Käse und süfsem Honi
(°°) Jacobs: Ceterum fabula de Pandareo ejusque filiabus nondum satis videtur illustrata.
Certe nec hoc, quod Camiro et Clytia talis ludunt, sine reconditiore quadam causa videtur
fieri. Die Fabel von Äedon als Tochter des Pandareos Odyss. XIX, 518 ist eine von die-
ser gänzlich verschiedene: indessen zählen die Scholiasten, wie es geschieht, diese mit den
beiden andern, die sie Merope und Kleothera nennen, zusammen. Diese beiden Namen
sind vermuthlich später als die Polygnotischen, so wie auch, was sie von dem Frevel des
Pandareos erzählen, verschieden sein kann von dem, was der Dichter meinte. Doch scheint
. - m nr x mm ’
dieser auf einen Frevel zu deuten: rfrı rox7as nv HIisav Seor.
in. der Lesche zu Delphi. 137
heit, von Artemis hohe Gestalt, von Athene die Kunst weiblicher Arbeiten.
Aphrodite geht in den Himmel, um von Zeus eine glückliche Heirath für sie
zu erlangen, unterdessen aber werden sie von den Harpyien geraubt und
den Erinnyen übergeben. Davon scheint der Sinn zu sein, dafs die weibliche
Jugend bei den schönsten Anlagen und Gaben der Natur und wie sehr sie
auch für das Glück der Liebe und der Ehe geschaffen scheine, ohne elter-
liche Aufsicht zu leicht ein Raub des Verderbens werde. Von den Har-
pyien geraubt werden drückt schon allein plötzlichen Untergang aus und hier
verstärken die Erinnyen diese Bedeutung. Wenn Polygnot die Fabel eben-
falls so verstand, wie wir im Geiste mancher andern alten Fabeln sie zu deu-
ten uns berechtigt halten, so drückt er sie glücklich und fein mit den Mitteln
seiner Kunst aus. Denn Blumenkranz und Knöchelspiel, die der Spindel, der
Laute, dem Webstuhl entgegengesetzt werden können, deuten auf die bevor-
stehenden Harpyien, auf die Gefahren des fröhlichen, zwanglosen Lebens,
welche die schönen Waisenkinder liefen. Die gröfste bestand in der Schön-
heit selbst nach der allgemeinen Ansicht, welche Ennius ausdrückt, (°%) dafs
die Frauen von mäfsiger Schönheit der Tugend treu bleiben. Polygnot aber,
der den Tod der Phädra mit einem Spiel, die Verwandlung der Kalisto und
des Aktäon in den Bären, den Hirsch mit der Unterbreitung des Bärenfells
und der Hirschhaut vertauscht, mochte natürlich nicht darstellen wie die bei-
den Schwestern von den Harpyien entrafft wurden, sondern indem er im an-
muthigsten Bilde die dem vorausgehende Lage mit ihrem täuschenden heite-
ren Schein vergegenwärtigt, vermeidet er die unter den Büfsenden darzustel-
len, deren Schuld so viel Entschuldidung und Mitleid verdient. Hätte man
an diese Bedeutung gedacht, so wären auch die Archäologen nicht so hart-
herzig gewesen an dem alten Grabmal aus Xanthos vier Töchter des Panda-
reos anzunehmen, die sämmtlich von den Harpyien davon getragen würden
um den Erinnyen überliefert zu werden, wozu sie freilich auch ohne das
aus mancherlei Gründen nicht befugt waren.
15. Die Trauer des Antilochos bezieht sich wohl nicht auf seinen eig-
nen frühen Tod, wie Böttiger (S.355) meint, da wohl auf das Unglück der
Besiegten durch den Schmerz des Hektor, des Sarpedon (21) aufmerksam
gemacht werden mochte, nicht so auf das der Sieger. Aber auch die Trauer
() Gell. V,12.
Philos.- histor. Kl. 1847. Ss
138 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
hier fortzusetzen, womit er in der Ilias dem Achilleus den Tod des Patroklos
meldet, wäre ein unnatürliches Motiv, da dieser Schmerz des Achilleus selbst
längst erloschen war. Nein dafs auch Achilleus selbst zu früh zu den Schat-
ten wandern mufste, ist der Kummer des hingebenden Antilochos, so wie
auch in der Stellung des Patroklos vermuthlich seine Ergebenheit gegen
Achilleus ausgedrückt war. Auf Achilleus bezieht sich hier nemlich Alles, wie
er auch in der Odyssee (XI, 183) der König der Schatten ist; keineswegs ist
Agamemnon die Hauptperson wie man geglaubt hat. Auf den Achilleus
blickt Protesilaos, dieser liebevolle Antheil ist nur gesteigert im Antilochos.
Patroklos und Antilochos sind ihm zur Seite auch in der andern Nekyia der
Odyssee (XXIV,15). Drum ist auch Achilleus, der Besieger des Hektor,
der Panthesilea und des Memnon in einer nahen Gruppe, durch einen Sitz
in der Mitte der vier Stehenden ausgezeichnet; denn dafs in der Zeichnung
Protesilaos auch sitzend angegeben ist, halte ich nicht für richtig. Und wer
könnte zweifeln, dafs der Sitzende, dafs Achilleus die Mitte einnahm? Pau-
sanias nennt zwar Antilochos, Agamemnon, dann Protesilaos schauend auf
den sitzenden Achilleus; er hätte sagen sollen, dann auf den Achilleus schau-
end Protesilaos: zuletzt Patroklos, so dafs die zwei Geliebten des Achilleus
sich an den Enden und Agamemnon und Protesilaos zunächst bei Achilleus
gegenüberstanden: Patroklos ist über dem Achilleus stehend, d.h. er steht
etwas höher, so dafs er den Achilleus über den Protesilaos weg ebenfalls an-
sehn kann, und diefs anzudeuten heifst es ürsg rov "Ayındea anstatt Ursg rov
Howresiraov. Das Anblicken des Achilleus hebt Pausanias bei Protesilaos
noch besonders hervor. (7°) Diese Gruppe aber, in deren Mitte Achilleus
sitzt unter Stehenden, nimmt gerade die Mitte des Gemäldes ein, so dafs nun
durch die Verherrlichung des Achilleus die des Neoptolemos auf der andern
Seite, der in der Unterwelt nicht aufgenommen werden konnte da er zur
Zeit, da Odysseus zu ihr vordrang, noch lebte, gewissermafsen fortgesetzt
wird. Agamemnon hält ein Stäbchen (emavexwv da@de), wie er an der Dod-
wellschen uralten Korinthischen Vase mit einem Kerykeion, dabei aber ohne
(29) za 6 Ilwresiraos FoLoUrov TagEy,erau syrue. Jacobs: Kuhnü correctio a Facio pro-
bata nec per se probabilis, nec difficultatem loci tollit. WVidetur aliquid excidisse post SYnıt,
quo quale illud synac fuerit significatum sit. Siebelis will za Segonevov einschieben, was
die Gruppe zerstören und zu dem stehenden Agamemnon am wenigsten passen würde,
und doch ist es so natürlich syyu« auf &s 'Ayxınrea dibogg zu beziehen.
in der Lesche zu Delphi. 139
Scepter vorkommt. Eins ist unaufgeklärt wie das Andre; denn Ba@des, als
Zeichen des Kampfrichters, der wohl rhetorisch in weiterem Sinn genom-
men werden kann, ist in der Hand von Herrschern und Anführern sonst
nicht bekannt.
16. Der Ring, welchen Iaseus dem Phokos geschenkt hat, ist wahr-
scheinlich eine Erfindung des Malers, der ein Zeichen suchte, um die be-
rühmte Freundschaft des alten Landesheros gegen den neuen auszudrücken.
Das Geschenk eines Siegelrings als Zeichen der Freundschaft gegen Angehö-
rige kommt bei Plutarch im Artaxerxes vor (18). Pharao steckt seinen Fin-
gerring dem Joseph an als er ihn zum Statthalter macht (Genes. 41): mög-
lich, dafs auch dort der geschenkte Ring auf ähnliche Art eine bestimmtere
Bedeutung hatte, Abtretung des Landes, Übertragung der Gewalt u. dgl.
18. Der Hügel, worauf Orpheus safs, war keineswegs mit Bäumen,
Pappeln und Weiden umgeben, wie Siebelis sagt; sondern Orpheus safs wie
auf einem Hügel (ei« &mı Acdev rıwcs), der Hügel war also, wie auch in den
späteren Vasengemälden, nur durch eine Linie angedeutet oder nicht einmal
diefs, sondern nur nach der Figur und ihrem Verhältnifs zu den andern der
Reihe vorauszusetzen. Ein Weidenbaum war gemalt, mehr nicht, und die-
ser galt für den Hain der Persephone, der in der Odyssee (X,510) aus ho-
hen Pappeln und unfruchtbaren Weiden besteht (76 @Aros Eaızev var). Sche-
dios der Anführer der Phokier vor Troja, gekränzt mit Agrostis, als einer
auf dem Parnafs nachweislich häufigen Pflanze, ist ihnen zu Ehren, also mit
Rücksicht auf Delphi, in dieser Gesellschaft; das Schwerdt, das ihn aus-
zeichnet, war vermuthlich eines von denen, die rxzdi« hiefsen, um auf den
Namen Schedios anzuspielen, wie Siebelis bemerkt hat: denn auch darin,
dafs Pelias als voAıos, mit weifsgrauem Haupt und Bart, gemalt war, lag eine
ähnliche Anspielung. Der Grund den alten Iolkischen Pelias mit Orpheus
oder mit Schedios zu verbinden, liegt nicht zu Tage. Orpheus sitzt an die
Weide gelehnt und fafst ihre Zweige mit der Hand an. Diefs ist sicher nicht
zufällig, sondern bedeutet Trauer. Die unfruchtbare Weide (WAerinagmos,
Jrugiperda) schickt sich für den Hades wie der Asphodelos, der sich über
unfruchtbare Strecken verbreitet, bei grofsen Stengeln und Blättern und
vielen blafsfarbigen Blüthen keine Nahrung, aufser höchstens eine elende
und ungesunde durch seine Knollen, abgiebt (so dafs der aufmerksame Rei-
sende noch eh er weils, dafs er Asphodelos sieht, aus einem sprechend sym-
52
140 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
bolischen Ausdruck die Frucht des Hades erräth) und eben so wird das un-
fruchtbare Rind den Schatten geopfert (Odyss. X,522). Auch im alteng-
lischen Volkslied drückt Weide, Weide die Trauer aus. Nun hatte Or-
pheus durch Unbedachtsamkeit und Übereilung seine Gattin Eurydike ver-
scherzt. (”') An derselben Weide angelehnt, also von Orpheus abgewandt,
sitzt Promedon und ich mufs glauben, dafs diese Person das Anrühren der
Weide erst erklärt oder die Ursache der Trauer, dafs die Trauer nemlich
wirklich die Eurydike angehe, hinzufügt. Promedon kann eben so gut wie
Prometheus Vorbedacht ausdrücken, welchem gegenüber Epimedon Orpheus
um sein verlornes Gut trauert. (??) Dafs die Griechen gerade dieses Zeital-
ters und späterhin eine grofse, aus dem Einflufs ihrer reichen und sinnigen
Mythologie sehr erklärliche Neigung hatten änigmatische Andeutungen in er-
dichtete Personen und Namen zu legen, ist aus mehr Beispielen als zusam-
menzustellen leicht wäre bekannt. Hiermit mafse ich mir freilich an die Ein-
falt bildlicher Sprache besser zu verstehn als die Exegeten der Lesche selbst.
Denn diese meinten zum Theil, dafs Promedons Name zuerst von Polygnot
eingeführt worden sei, (7?) und für diese war er, scheint es, nur ein Name
ohne Bedeutung, durch Polygnot erfuhren sie über ihn nichts und kein An-
=
(') Jacobs: Causam hujus gestus Boettigerus p. 354 quaerit in epitheto salici tributo w.e-
Fi2gmoS, quoniam Eurydice immatura morte sit extincta. Quod longius petitum. Salix Pro-
serpinae sacra tangit itaque Orpheus salicem ut indicet, se ob musicam, quam ziSoegee signi-
ficat, perüsse. Aber diese Ursache seines Todes ist nicht bekannt. Freilich nicht im Bei-
wort wAssizegros ist eine Beziehung auf Orpheus oder den frühen Tod der Eurydike zu
suchen, wie Böttiger sie darin setzt, dals Orpheus durch den von ihm verschuldeten Ver-
lust der Gattin auch die Hoffnung Kinder zu bekommen verloren habe.
(°”) Die Unklugheit des Orpheus in diesem Falle schadet natürlich dem Ansehn seiner
Weisheit im Allgemeinen nicht. An diese ist gedacht wenn ein Abkömmling von ihm
Mirwv genannt wird, Plutarch. Qu. Gr. XI.
() Eis nv 04 08 vonilousı za Iarep es zone Erasay,Ser Too Ilgonzdovros Ovone Umo
ToU Tloruyvurov. Jacobs: Obscura verba: sensus tamen vix alius esse potest guam Prome-
dontis nomen a Polygnoto esse inventum. Sed quid est zaSamep? Cap. 32 de Archilochi fa-
bula de Tantali Saxo auctore legimus: eire zur aUros eis FrV molyeıv EISyveyzaro. Recte;
poeta enim Archilochus. Sed h.l. de tabula pieta agitur. Fortasse verba zu Scemep es mom-
sw ex ipso illo de Archilocho loco interpretationis causa margini adscripta in textum vene-
runt. Aber was erklärt dieser Zusatz? Es scheint vielmehr nach z«S«rsg ausgefallen zu
sein za: @?A« rıw& oder etwas dergleichen. So war unter den Troerinnen c. 26,1 Xeno-
dike weder in Gedichten noch Prosa genannt, 26,2 von vier Gefangnen nur Ayivauy, in
. . 67 El > N \y m In x 7 ’
der Kleinen Ilias genannt, s&v 6° arAuv zwar dozeiv auveSyze ra övonare 6 oruyvwros, eben
in der Lesche zu Delphi. 141
drer hatte von ihm gesprochen. Andre aber hatten gesagt, so führten, wie
es scheint, die Exegeten an, Promedon sei ein Hellene gewesen, der sowohl
alle andre Musik, als besonders den Gesang des Orpheus sehr gern hörte.
Diefs kann nur Vermuthung gewesen sein, weil die andern Exegeten, die
ehrlicheren, nicht gesagt hätten, man wisse nichts von Promedon, wenn sich
irgend eine Angabe über ihn nachweisen liefs, die ja den Antiquaren des
Orts willkommen genug hätte sein müssen. Aber die Vermuthung ist auch
bestimmt falsch; denn man setzt sich überhaupt nicht beim Zuhören von
dem Sänger abgewandt (dafs in der Zeichnung Promedon den Kopf umdreht,
als ob er zuhören wolle, ist nach irriger Voraussetzung aus der früheren
Composition, worin mir auch der allzugrofse Baum nicht eben Polygnotisch
zu sein scheint, zu meinem Bedauern übergegangen), und bei Polygnot ins-
besondre, welcher Klymene der Prokris den Rücken wenden läfst (10) und
überhaupt in Stellungen und Zeichen die bestimmteste Bedeutung legt, ist
irgend ein Gegensatz darin zu suchen, dafs Promedon nach der entgegenge-
setzten Seite sitzt, so dafs er den Orpheus nicht sehen kann, sondern dessen
Rücken mit dem seinigen berühren würde wenn der Weidenstamm nicht
zwischen ihnen wäre. Ist bei Orpheus der Fehler oder das Unglück, das
für ihn aus einem Fehler folgte, nur schonend angedeutet, so ist des Tha-
myris weit gröfsere Verschuldung in ihren harten Folgen unmittelbar darge-
stellt. Demnach kann ich K. O. Müllers Meinung nicht billigen, (*) dafs
Orpheus hier in Beziehung stehe zu den Achäischen und Troischen Kämpfern,
die friedlich um ihn vereint seien, und dafs der Gram der vorzeitig gefallenen
Helden durch die erhabenen Lieder des Orpheus besänftigt und als eben in
stille Ruhe und Hoffnung übergehend zu denken sei, da nach der Meinung
so 25,3 nur Phrontis aus der Odyssee, sechs Andern, die bei dem Schiff und den Hüt-
ten beschäftigt waren, hatte er selbst die Namen erfunden.
(‘) Götting. Anz. 1827 S.1312 ff. Archäol. $.134,3. Dafs auch Oknos auf Myste-
rien bezogen worden sei, ist Not. 61 schon bemerkt worden: und die ganze Ansicht ist
unter Oknos in die Hallische Encyklopädie durch Rathgeber verpfllanzt worden. O. Jahn
hingegen macht gegen Müllers Ansicht wohl begründete Einwendungen 8.40 f. Übri-
gens meinte auch Stackelberg Gräber S.13, dals dem Leierspiel des Orpheus als Lehrers
der Bacchischen Weihen Einige (nicht die Gruppen der Helden) zuhörten, mit dem Ge-
gensatze des erblindeten Thamyris. Dafs keine Spur von höherer Belohnung der Schat-
ten sich finde, verkannte er dabei nicht.
142 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
der Zeit diese Lieder von dem jenseitigen Leben die erheiterndste Vorstel-
lung gegeben hätten. Es sollen nemlich die fünf Griechischen Heroen auf
der einen Seite und auf der andern fünf Troische „beide um Orpheus her-
um sitzen”: allein die Gruppen sind zwar auf gleichem Plan neben einander,
aber abgesondert jede für sich und die Heroen zunächst dem Orpheus sind
in beiden mit dem Rücken nach ihm gewandt, wie um jedes Mifsverständ-
nils als ob dieser sie angehe abzuwenden. Promedon scheint Müllern ein
Orphiker und Oknos, welchen er dem Sisyphos gegenüber links oben, mit
Tityos neben ihm, setzt, während Eurynomos vor dem Nachen des Charon
liege, ein Verdammter, weil unschlüssiges Zaudern der Seligkeit eben so
hinderlich sei wie Leidenschaft. (7%) Orpheus berührt zwar mit der einen
Hand die Laute, aber es scheint nicht, dafs er sie spielte: wenigstens trauert
er zugleich für sich selbst, wie das Anfassen der Weide zeigt, und diefs er-
laubt nicht seinen Gesang mit andern in Verbindung zu bringen. Aber an-
(5) Auf einen übleren Weg die Composition zu ergründen als diesen konnte Müller
nicht gerathen. Denn wie er in den hier berührten Fällen auf die Angaben des Pausa-
nias, als ob sie völlig unglaubhaft wären, gar keine Rücksicht nimmt, so beachtet er ihn
auch in andern nicht, wie wenn er z.B. sagt: „die Heroen und Heroinen waren im Gan-
zen so gestellt, dals sich die letztern links, die erstern rechts vom Odysseus befanden,”
was eine etwas starke Behauptung ist. So stellt er die Widderträger in die Ecke der
obersten Reihe, wo sie wie ein Proömium auf die Hauptdarstellung aufmerksam machen
sollen. Dabei erklärt er (S. 1311) aus der Symmetrie und den (von mir angegebenen)
harmonischen Zahlverhältnissen nicht den Nutzen gezogen zu haben wie aus der Beach-
tung eines dritten Hülfsmittels (denn das erste besteht im Texte des Pausanias), nemlich
„der innern, so zu sagen geistigen Construction des Gemäldes, d. h. der Gedanken, wel-
che Polygnot bei der Wahl gerade dieser Figuren zur Bevölkerung seines Hades leite-
ten.” Mehrerer Figuren geschieht keine Erwähnung, „weil über ihren Platz sich noch
keine Erklärung geben lasse.” Aber greift denn in einer solchen Composition nicht Al-
les ineinander ein? Und müssen nicht Text, Symmetrie und Gedanke mit einander auf
allen Punkten übereinstimmen und liegt nicht in der bewirkten Zusammenstimmung aller
drei die einzige Bedingung uns Zutrauen in die aufgestellten Muthmalsungen zu gewäh-
ren? Willkürlich und mit aller Erfahrung streitend ist es ferner wenn angenommen wird,
dafs Polygnot, um die Aufstellung meist in drei Streifen, aber auch mit manchen Figuren,
besonders auf der linken Seite, zwischen den Reihen gestellt, zu motiviren, sich vielleicht
einiger Andeutungen einer Berglandschaft bedient habe. Die rergeı, worauf Tyro, Mar-
syas, Mära salsen, waren daher blofs einzelne Steine, wie sie der Griechische Boden als
natürliche Stühle so häufig hervorbringt, so dals der Boden der Unterwelt dem oberen
treuherzig nachgebildet war, wie man ihn mitten in den Dörfern und Städtchen auch heute
noch sieht, und in die Klippe des Sisyphos lief sicher nicht ein Gebirg aus.
in der Lesche zu Delphi. 143
genommen, dafs er spielte, auch dafs er für Zuhörer spielte, so müfsten
doch gerade die Heroen des Troischen Kriegs ihre Natur völlig verleugnen
um mit Orphikern in die geringste Gemeinschaft zu treten. Auch ist keine
Spur in dem Gemälde von allem Heil, was die Eleusinischen Mysterien den
Verstorbenen im Hades bereiten, die sich dort mit Lauten ergötzen, wie
Pindar sagt, oder nach Sophokles aus Bechern ohne Fufs trinken, während
die Nichteingeweihten im Schlamm waten; keine Spur von einer Belohnung.
Und an die Eleusinien konnte auch Polygnot nicht denken, da er an die Pa-
risch- Thasischen Weisen erinnert.
20. Bei den Spielern sind die beiden Ajas auch bei Euripides in der
Iphigenia in Aulis (195), der des Polygnot sich dabei erinnern mochte. Der
eine der Lokrische, schaute ihnen zu, der andre also nicht, für dessen fin-
stern Ernst es nicht passend gewesen wäre. Der Telamonide hat seine Stelle
unter den Feinden des Odysseus erhalten, um in dieser Gruppe die fünfte
Figur abzugeben, da er sonst auch in die des Achilleus gepafst hätte, die
ohne ihn aus eben so vielen besteht. Warum-Meleagros auf den Lokrischen
Ajas blickt, ist nicht klar. Übrigens sind die Lautenspieler, die Flötner und
die Würfelspieler übereinander in derselben Abtheilung.
21. In der Gruppe der Troischen Helden zählt mit Fug Penthesilea
mit. Der Äthiopenknabe neben dem Memnon war vermuthlich nach kleine-
rem Maafsstabe, und ohne Zweifel schwarz, um auf den Namen des Volks
anzuspielen. So hat auf einer Vase Memnon zur Bezeichnung einen Mohren
auf seinem Schild. (7°) Die Doppelbedeutung des Worts, Äthiope und Mohr,
wurde benutzt; denn dafs später auch die Äthiopen selbst als Mohren gebil-
det worden sind, kommt hier nicht in Betracht. Der Mohrenknabe zählt,
wie nicht selten kleinere Nebenfiguren, nicht mit. Die Memnonischen Vögel
waren nicht blofs am Rande der Chlamys wie in der Zeichnung, sondern
über das Gewand selbst ausgestreut. Paris war keineswegs hier als Hirte ge-
malt, wie Böttiger behauptet (S.357): das Schlagen in die Hand, (7) wo-
durch er die Penthesilea zu sich ruft, ein bäurischer Gebrauch zur Zeit des
Pausanias freilich und längst vorher, kann entweder der heroischen Einfach-
heit oder dreister Zutraulichkeit zugeschrieben werden. Dafs der Gebrauch
(°%) Mon. del Inst. archeol. I tav. 39.
(2) dmozgorn AG, Strab. XIV p. 672.
144 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
sich in Griechenland erhalten habe, wo man z.B. in Ermangelung einer Klin-
gel durch Klatschen den Diener in das Zimmer ruft, ist schon zum Pausanias
angemerkt worden.
22. 25. Unklar ist, wie die Jugendliche und die Altere, die mit zer-
brochnen Gefäfsen Wasser tragen, und die Alte in der andern Gruppe, wel-
cher, während die drei andern Personen Wasser tragen, die Hydria zerbro-
chen ist, so also als ob ihre zerbrochene Hydria ihr diefs nicht mehr erlaube,
von den dreien aber im Gegensatz anzunehmen sei, dafs ihre Hydrien nicht
durchlöchert waren, sich zu einander verhalten. Auch die Worte von der
Alten exygousa Errıv auSıs &s rov miSov vermehren die Undeutlichkeit. Aber
vermuthlich ist alSıs bedeutungslos, auch diefsmal, wie man fort und fort
eingofs. Es scheint, dafs nur die doppelt vergebliche Mühe, ein durchlö-
chertes Fafs mit durchlöcherten Gefäfsen zu füllen, die aus Platons Gorgias
bekannte Strafe der Uneingeweihten, die nur im Sinnlichen, Vergänglichen
leben, auch von Polygnot gemeint war, dafs aber zur Vermeidung der Ein-
förmigkeit nicht an allen Hydrien gleich sichtbar war, dafs sie das Wasser
nicht hielten. Auch in der Stellung des ersten Paars näher den Heroinen
der andern Gruppe in der Nachbarschaft des Sisyphos und Tantalos ist da-
rum kein gültiger Unterschied in der Strafwürdigkeit zu finden, da sie beide
doch neben einander sind.
Auch die Gesellschaft der Polygnotischen Unterwelt im Allgemeinen
verdient als solche eine vergleichende Betrachtung ehe wir deren Anordnung
im Ganzen prüfen. Von den Heroinen der Odyssee sind nur Antiope, Alk-
mene, Epikaste und Lede ausgelassen, von ihren Heroen Minos, Orion und
das Scheinbild (wie nachher Stesichoros eines von der Helena angenommen
hat) des Herakles, welcher in Homers Unterwelt nicht fehlen sollte, obgleich
der Glaube der Zeit ihn schon in den Olymp erhöht hatte. Hinzugefügt hin-
gegen hat Polygnot Auge zur Iphimedeia, Thyia zur Chloris, die zwei Töch-
ter des Pandareos, die Kallisto, Nomia, Pero; von Heroen den Phokos und
laseus, den Aktäon, begleitet von seiner Mutter, den Meleagros, den Or-
pheus nebst Promedon, den Thamynis, den Schedios und Pelias, den Mar-
syas und Olympos, den Palamedes und Thersites, den Lokrischen Ajas,
Hektor und Paris, und die drei Anführer Troischer Hülfsheere Memnon,
Sarpedon, die sonst beide von Göttern entrückt werden nachdem sie gefal-
len waren, und Penthesilea.
in der Lesche zu Delphi. 145
Was nun die Heroinen betrifft, so sind Antiope und Epikaste, die
Mutter des Ödipus, vermuthlich aus demselben Grund ans dem auch von
den hochberühmten Helden des Thebischen Liederkreises nicht einer auf-
genommen ist, übergangen, aus Ungunst der Athener, wozu Polygnot sich
zählte, gegen Theben, während Pindar, der Theber, desto mehr aus die-
sem Kreise geschöpft hat. Doch hätten Heroen des Thebischen Kriegs auch
dem Übergewicht des Achilleus und der Achäer in diesem Ganzen Abtrag ge-
than. Die Alkmene, als Mutter eines Gottes, die in alten Gemälden gleich
der Semele auch selbst in den Olymp eingeführt wird, liefs Polygnot ver-
muthlich, so wie den Herakles selbst und auch die Mutter der Dioskuren,
die jetzt für mehr als Heroen galten, aus heiliger Scheu weg. Sehn wir auf
die Heroen, so standen Minos und Orion sowohl nach örtlicher Beziehung
als nach dem mythischen und ethischen Charakter der ganzen Dichtung ent-
fernter. Dafür zog der sie dichtende Maler andre Personen hinzu, bei de-
ren keiner es ihm gewifs an irgend einem Motiv fehlte: nur dafs es uns nicht
überall zusteht es errathen zu wollen, so wie es auch eher störend als för-
derlich ist allzuviele, zu unsichere Bezüge, Ähnlichkeiten, Contraste unter
den Personen auszuklügeln. Bei einigen dieser Personen ist indessen der
Grund, warum sie gewählt wurden, klar oder wahrscheinlich genug. Im
Theseus und Peirithoos hatte Polygnot den Vorgang der Minyas; denn dafs
sie in der Nekyia der Odyssee (632) erst unter Pisistratus den Athenern zu
Gefallen eingeschoben worden, dürfen wir dem Megarer Hereas glauben: (7°)
nach dem Prachtstück Herakles mufste die Erzählung sich entweder von
neuem erheben oder in die allgemeine Erwähnung der Menge auslaufen, wie
sie es auch bei den Heroinen thut. Aus der Nekyia der Minyas waren auch
Meleagros und Thamyris. Dem Attischen Mythus gehören aufserdem die
aus Homer und zum Theil wenigstens auch aus den Nosten beibehaltenen
Ariadne und Phädra, Prokris und Klymene an. Delphi zu Ehren sind auf-
genommen Phokos und Iaseus und Schedios. In Tellis und Kleoböa feiert
Polygnot das Andenken seiner Vaterstadt, wie es Phidias in der Wahl der
Gegenstände zu Olympia und andre Attische Künstler anderwärts gethan ha-
ben. Von Archilochos, dem Abkömmling des Tellis und der selbst auch
einen Hymnus auf Demeter gemacht und aus den Volksjamben ihrer Feste
(°°) Plutarch. Thes. 20.
Philos.- histor. Kl. 1847. T
146 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
eine Kunstgattung geschaffen hat, entlehnte Polygnot die den alten Strafen
des Tantalos noch hinzugefügte neue. Kleoböa kommt sehr wahrscheinlich
auch auf den Münzen von Paros vor. (??) Arkadien gehören an Iphimedeia,
Auge, Kallisto, Nomia, denen die Nachbarin Pero sich anschliefst. Zwischen
der vornehmen Gesellschaft des Hades, unter der es auch an Unglücklichen,
die es durch ihre Schuld geworden sind, wie Phädra, Aktäon, nicht fehlt,
und den büfsenden Frevlern in der Mitte sehn wir Beispiele menschlicher
Schwachheiten in Oknos und den schönen Waisenkindern Kamiro und Klytie.
Nicht zu verwundern ist, dafs auch die Musiker in den Kreis gezogen sind,
da die musikalische Kunst seit Homer nur immer höheres Ansehn erlangt
hatte. Aber wie in der Minyas Amphion und Thamyris in der Unterwelt,
dieser seinen Kunststolz, jener seine Selbstüberhebung gegen Leto und die
Zwillingsgötter büfsten, ($%) so behielt Polygnot aus ihr den gedemüthigten
Thamyris bei und stellte dazu den Orpheus dar im Kummer über sein wegen
einer so rührenden Übereilung ihm entrissenes Glück. Der Athener, der
eingeweiht war, konnte bei diesen beiden an den Athenischen Musäos, den
Sänger der Mysterien, dem kein Unheil begegnet war, sich erinnern. Die
späteren Vasengemälde, worin der Palast des Pluton und der Kora die Mitte
einnimmt, Orpheus vor ihnen die Laute spielt u.s.w. haben mit einer Ne-
kyia nach den epischen Dichtern nichts gemein als einige Höllenstrafen. Sie
schliefsen in ihrer Composition sich an die unendlich häufige, gleichsam ste-
hende Form von Vasengemälden an, die, vermuthlich nicht ohne Einflufs
der herrschenden Einrichtung der tragischen Bühne, sich um die Fronte ei-
nes Palastes reihen. (°') Aus der Nekyia der Minyas ist auch der Kahn des
(°°) Mionnet Description II p. 321. Thiersch, Bayr. Akad. philos. philolog. Klasse 1835
I S. 592.
(°°) Pausan. IX,5,4. Auf dem Helikon eine Statue des Thamyris blind und mit zer-
brochner Laute (Paus. IX, 30,2), wie er in der Tragödie des Sophokles sie selbst zer-
brach.
(*') Besonders reichhaltig eine Vase aus Ruvo, jetzt im Museum zu Carlsruh, Mon. d.
Inst. archeol. II, 49, die aber nicht in manchen Gruppen, wie in den Annali IX p. 221
ff. behauptet ist, mit der Beschreibung des Pausanias übereinstimmt. Die gänzliche Ver-
schiedenheit liegt vor Augen, wie sehr man auch sie anzuerkennen zögern möchte. S.
Gerhards Archäol. Zeit. 1843 S.147 ff. Eine andre, jetzt in München, edirt von Millin
in den Tombeaux de Canosa pl.3. Beschränkter ist die im Musce Blacas pl. 7. Eine bei
Pacileo in Neapel in Gerhards Mysterienbildern Taf. 1-3 und eine Vase Taf. 4 vgl. des-
in der Lesche zu Delphi. 147
Charon. Den ’altberühmten Höllenstrafen aber fügte der Maler die gröfsten
Verbrecher der Neuzeit hinzu, die welche die ersten Gebote des Griechi-
schen Alterthums, die beiden ersten von den dreien des Triptolemos oder
den Eleusinischen (wie Böttiger S.359 erinnert hat), ehre Vater und Mutter,
verehre die Götter, übertreten haben: und so stehn diese mit den Einge-
weihten im Kahn des Charon in einem stärkeren Gegensatz als die Uneinge-
weihten auf der andern Seite, die zwar auch zu den Büfsern gehören, aber
doch nicht gleich arge Pein leiden als jene, sondern eigentlich nur das nich-
tige Treiben ihres vergeblichen Erdenlebens (ohne r&?ss) bildlich im Hades
fortsetzen. (°”) Dieser grofse Unterschied der beiden Klassen ist ausgedrückt:
darüber hinaus verleugnet in nichts das Gemälde den Charakter der alten
epischen Nekyien, worin Stand, Beschäftigung, Sinnesart der aus der Ober-
welt Abgeschiedenen im Hades fortdauern, demnach auch die Trauer, wie
wir es hier an Antilochos, Hektor, Sarpedon, Orpheus sehen. Indem Tellis
und Kleoböa auf dem Kahn, der Alle dahinträgt, in die grofse Genossen-
schaft eingehn, tragen sie in der Cista das Pfand, dafs sie nicht zum Wasser-
tragen bestimmt sind; aber dafs ihnen eine besondre Freude winke oder Or-
phische Lieder entgegen klingen, werden wir nicht gewahr. Neben dem
Acheron, da wo der Vatermörder und der Tempelräuber büfsen, ist viel-
leicht der Schlamm zu denken, wovon wir in den Fröschen und bei Platon
lesen. (°°) Statt der Sünder in Person setzten die Maler in den Nekyien spä-
terhin den personificirten Fluch, Neid, Streit, Verläumdung, Empörung,
sen Archäol. Zeit. 1843 S. 190, wo auch S.191 noch eine aus Armento in der Sammlung
S. Angelo beschrieben ist. Mehrere von diesen sind hier auch Taf. XI-XIV von neuem
abgebildet. Hier hat Orpheus auch nicht die Hellenische, sondern die Asiatische "Tracht,
wie bei Philostr. jun. 6, Callistr. 7, Plat. Sympos. p. 179, auf einer Vase, wo ihn einige
Musen begleiten, Neapels Ant. Bildw. S.379, in Mosaiken u.s.w. bald die Tiara mit dem
langen Kitharödengewand verbunden, bald der ganze Anzug Phrygisch. Den Hellenischen
sieht man an der angeführten Vase Blacas, auch in dem schönen Basrelief mit Orpheus,
Eurydike und Hermes, wo nur einiges Fremde mit dem Hellenischen verbunden ist, und
vielleicht sonst hier und da. Nach diesen beiden Vorstellungen des Orpheus ist die unsrer
Zeichnung der Tracht nach eher zu modificiren als nach denen der andern Vasengemälde.
(°) Axiochos 241 &vSe YRpos arelav zur Auvalduv Üzier arereis. Die Wasserträgerin-
nen Zredavat, Proverb. Vatic. Append. III, 31.
(®) Ast ad Plat. Polit. p. 402.
12
148 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde
u.s.w. zu, wie eine Stelle des Demosthenes bezeugt. (%*) Nur darin unter-
schied sich vermuthlich nach einer nothwendigen malerischen Freiheit das
Gemälde wesentlich von der alten Poesie, dafs es nicht Schatten (eidwd« zu-
novrwv, duevyv& zagyva), sondern leibhafte Gestalten, in aller Bestimmtheit
kräftiger Bewegung und durch Gesichtsfarbe und farbige Gewänder belebt
und charakteristisch unterschieden darstellte, so wie das Eidolon des Aeetes
bei dem Tode der Kreusa durch Medea auf der Vase von Canosa in der ge-
wöhnlichen Tracht Asiatischer Herrscher, von den lebenden Figuren nicht
verschieden erscheint: so dafs also die Todten von Odysseus und seinen Ge-
fährten nicht grell oder gar nicht abgestochen haben möchten. Diefs foderte
das Auge; dem Gedanken war dafür Genugthuung gegeben durch die feine
Andeutung, dafs die Fische im Wasser des Acheron, das demnach sehr klar
gewesen sein mufs, schattenartig aussahen.
Dafs die Namen durchgehends bis auf wenige Ausnahmen auch hier
beigeschrieben waren, versteht sich von selbst. Ausdrücklich bemerkt ist
es bei Oknos, Promedon und den zwei Wasserträgerinnen, über denen
AMYETOI stand. Bei den Andern derselben Klasse war diefs nicht wieder-
holt indem Pausanias nur aus der Vorstellung schliefst, dafs sie zu derselben
gehörten; und wenn sie, wie es sich uns ergab, in derselben Reihe folgten,
so war auch die doppelte Inschrift unnöthig. Diese durchgängige schriftliche
Bezeichnung der mythischen Personen, die auch Onatas nach Pausanias (IX,
5,5,), vermuthlich auch Mikon und Panänos, von denen es nicht bezeugt ist,
beobachteten, kommt bekanntlich auch noch in Gemälden eines nachpoly-
gnotischen Styls voll der höchsten Anmuth an Gefäfsen aus Vulei vor, de-
ren Zeichnung
©?
sie wollen, wenigstens bewundernswerth ist: ich will nur an die grofse Ko-
sie mögen sich übrigens zu der Polygnotischen verhalten wie
drosschale und an einen kleineren noch unedirten Kantharos mit den Namen
Agamemnon, Achilleus, Kymothea, Ukalegon und Antilochos, Patroklos,
Nestor, Thetis erinnern.
Was nun endlich die Composition der Unterwelt im Ganzen betrifft,
so ist es gewifs nicht zufällig, dafs auf dem untersten Plan vier in sich abge-
schlossene Gruppen von je fünf Personen vorkommen, so dafs nur statt einer
() Ic. Aristog. p. 489 (786): neS’ wv 8’ 0 Swygadar soüs areßeis Ev Aldov yacdbovsı,
q ’ ) ©) Er \ ’ x a, \ [2 \ ’ ’
MErE Tovrwv, Mer Agas zu Brashrmas za Povov zur Sraseus zur Neizous TELLEIY ET.
in der Lesche zu Delphi. 449
fünften solchen Gruppe auf unsrer linken Seite zwei Büfsende, der Tempelräu-
ber und Tityos, mehr in das Innere vorgerückt erscheinen, indem dann andre
Büfser an beiden Enden abschliefsen. Eben so wenig ist es zufällig, wie schon
vorher bemerkt wurde, dafs die mittelste Abtheilung von der Gruppe des
Achilleus, des Königs der Schatten, des Vaters des Neoptolemos, mit Achil-
leus selbst in ihrer Mitte eingenommen wird. Die Gruppe der Musiker
trennt ihn schicklich von der der von ihm besiegten Feinde, zur andern Seite
hat er fünf Heroinnen. Die Todtenbeschwörung des Odysseus, welche Gö-
the und Meyer, die Riepenhausen, O. Jahn (5.58) für den Mittelpunkt des
Ganzen in der obersten Reihe ansehn, Böttiger (5.347) auf die wunderlich-
ste Weise sogar als den Mittelpunkt auf der mittleren Linie selbst setzt, bin
ich durch Pausanias und alle aus ihm selbst abgeleiteten Verhältnisse genö-
thigt worden auf die Seite zu schieben in die dritte, statt in die vierte Abthei-
lung, so dafs dann für die vereinigten Feinde des Odysseus in der fünften,
die mit der dritten in Bezug steht gerade die rechte Stelle sich ergiebt. Wa-
rum sollte aber die Handlung des Odysseus gerade das Ganze beherrschen?
Daraus, dafs Polygnot aus der Odyssee, statt etwa aus der Minyas oder ei-
nem andern Gedicht, Anlafs und Umstände entlehnte um eine Nekyia zu ma-
len, folgte nicht, dafs er den Odysseus zur Hauptperson im Gemälde selbst
machte. Der Zeitpunkt, worin die Schau verlegt ist, pafste zur Zerstörung
Ilions, die des Neoptolemos wegen gemalt wurde, wiewohl darum auch in
dieser nicht einmal Neoptolemos malerisch den Mittelpunkt abgab; und ge-
rade diese Nekyia mufste gewählt werden, weil sie die Homerischen Helden,
den Achilleus insbesondre in den Vorgrund zu stellen Gelegenheit gab. Sollte
diefs geschehn, so durfte nicht die Schattenbeschwörung als die einzige Hand-
lung eines Lebenden im Gemälde, die für Delphi nicht wesentlich war und
d
nur der Odyssee oder des Zusammenhangs mit dem andern Gemälde wegen
überhaupt dargestellt ist, die Stelle einnehmen, wo sie als die Hauptsache,
als der eigentliche Gegenstand erschienen wäre. In der Voraussetzung, dafs
sie diefs sei, betrachtet Göthe z.B. den Antilochos, Agamemnon, Protesilaos,
Achilleus und Patroklos als die Freunde des Odysseus, die also mit Bezug
auf ihn zusammengestellt oder überhaupt da wären, und fügt hinzu: „sie
dürfen sich nur in den freien Raum, der über ihnen gelassen ist, erheben
und sie befinden sich mit dem Odysseus auf einer Linie.” Durch die Ver-
rückung des Odysseus aus der Mitte auf die linke Seite wird nun auch das
150 Wecker: Die Composilion der Polygnotischen Gemälde
sonst unerklärliche Übergewicht in der Zahl der Figuren oberster Ordnung
auf der rechten Seite von der Mitte über die auf der andern bedeutend ge-
mindert. Denn es bleibt so nur noch der Unterschied, auf welchen in der
That nichts ankommt, dafs den beiden Begleitern des Odysseus (6) zwischen
ihm (12) und Eurynomos (4) eine Gruppe von drei Figuren (23) gegenüber
steht. Für die mittlere Reihe entspringt aus der gewonnenen Anordnung
die ganz neue Erscheinung, dafs sie mit Ausnahme der Barke des Charon
am einen Ende und der sechs Uneingeweihten am andern (22. 25) von lau-
ter paarweise verbundnen Figuren eingenommen wird, wobei Oknos sich ge-
fallen lassen mufs mit seiner bösen Frau als Eselin gepaart zu sein. Es sind
dieser Paare in den fünf Abtheilungen neun, die daher mit einer gewissen
Freiheit vertheilt gewesen sein mögen. Auch ist in der Abwechslung der
weiblichen und der männlichen Paare keine Symmetrie beobachtet; aber es
möchte nicht zufällig sein, dafs Theseus und Pirithoos unter den neun Paa-
ren das fünfte sind, der Attische Heros also durch den Platz in der Mitte,
den er einnimmt, ausgezeichnet ist: eine Beziehung des Theseus auf den
Odysseus, unter welchem er sitzt, ein Contrast zwischen beiden, welchen
mit Göthe O. Jahn (S. 28) annimmt, ist mir sehr unwahrscheinlich. Im
Ganzen der Anordnung ergiebt sich auch auf dieser Wand anstatt der Ein-
heit für die sinnliche Anschauung, die aus der dramatischen und perspecti-
vischen Compositionsweise und der Alles umfassenden Farbenharmonie ent-
springt, eine andre, die durch das innere Verständnifs auch für das Auge
und das Gefühl vermittelt wird, sich anschaulich darstellt, sobald man alle
Symmetrieen wahrgenommen und in ihren innern Motiven verstanden hat.
Ob die auf die Zahl sieben gegründete Gestaltung des Stoffs und der sym-
metrischen Theile, die aus beiden Gemälden ungezwungen und unverkenn-
bar hervorgeht, blofs zufällig als die diesem Stoff und der Ausdehnung des
Raums gemäfse sich ergeben habe, oder zugleich als eine gefällige Anspie-
lung auf die im Apollodienst überhaupt geheiligte und vielfach angewandte
Siebenzahl (°°) festgehalten und von den Besuchern der Lesche genommen
worden sein möge, diese Frage wird sich schwerlich entschieden beantwor-
ten lassen.
5) S. Die Gruppirung der Niobe und ihrer Kinder im Rhein. Mus. 1856 IV S.
PF 5
259 -98.
in der Lesche zu Delphi. 151
Nachträgliche Bemerkungen zu den Zeichnungen.
Wenn die nachgewiesenen Verhältnisse der beiden Compositionen im Ganzen
richtig sind, so würde die Darstellung derselben offenbar sehr viel gewinnen durch ein
leichtes Mittel, nemlich durch Verwendung eines etwas gröfseren Raums, so dals die
Gruppen, in einer verhältnilsmälsigen Absondrung gehalten, ihre Zahlbezüge und andre,
die sie unter einander haben, deutlicher und auch ohne alles nähere Eingehn schon von
selbst für das Auge darstellten, die inneren Verhältnisse klarer herausträten und durch das
Ebenmafs des Raums die Gleichheit hergestellt würde wo sie hier oder dort in den Fi-
guren ihrer Masse nach sich vermissen lälst, wie Taf. I zwischen der Gruppe der Helena
N.3 und der der Todten N.13 an sich kein vollkommnes Gleichgewicht besteht. Wie
ganz anders würde auf Taf. II der Inhalt selbst uns entgegengetreten wenn die vier Jüng-
lingsgruppen der untersten Reihe sich gehörig von einander ablösten und dabei die, deren
Mittelpunkt Achilleus und welche selbst den Mittelpunkt des Ganzen macht, mehr heraus-
gestellt wäre, wie es dem Gutdünken der nachbildenden Hand von der Beschreibung
durchaus freigelassen ist. Bei einem etwas freieren Schalten mit dem Raum würde sich
auch hier und da eine noch strengere Übereinstimmung mit den Worten des Pausanıas
erzielen lassen, wie z.B. Taf. II N. 14 Antilochos ‚‚nach den Töchtern des Pandareos”
ist, also von 14 zu 15 eine schräge Linie zu ziehen sein mülste, oder dafs Chloris N. 10
mehr gerade unter die Phädra N.9 kommen würde, oder Oknos N.7 weiter ab von den
Widderträgern N. 6. ‚‚nach ihnen”.
ö Das sicherste Mittel der wahrscheinlichen wirklichen Darstellung im Einzelnen sich
zu nähern, die Nachahmung noch vorhandner Bilder derselben Gegenstände, ist in der Ab-
handlung berücksichtigt durch Anführung verschiedener Monumente. Andre, die zu Rathe
zu ziehen wären, sind leicht aufzufinden, wie Taf. II N. 24 Sisyphos, wie N. 18 das ver-
wilderte Haar des Thamyris nach dem Baton des alten Reliefs Mon. d. Inst. IV, 5 gege-
ben werden dürfte, Marsyas und Olympos N. 19 nach Pitt. d’Ercol. I,9 u.s. w.
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“ Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
und die alte Glosse der Turiner Institutionen-
Handschrift.
H==AIPAE-DIRKSEN:
ANAAAAADUNUU
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 28. October 1847.]
Ir Kunde von dem Zustande des öffentlichen Lehrunterrichts für die
Studirenden des römischen Rechts, unter den unmittelbaren Vorgängern
Justinian’s und beim Beginne der Regierung dieses Kaisers, so wie die Schil-
derung der Umgestaltung jener Lehrmethode auf Veranlassung der Bekannt-
machung der Justinianischen Rechtsbücher, verdanken wir dem eigenen Be-
richte Justinian’s. Man findet denselben in dem bekannten Gesetze, (!)
welches bestimmt war die neu redigirten Sammlungen von Institutionen und
Pandekten als Rechtsbücher den Lehrern des Rechts zu überweisen, und
deren Behandlung für den Lehrunterricht zu reguliren. Diese Überliefer-
ung, insoweit sie mit der Darstellung des früheren Cyelus der juristischen
Lehrvorträge sich beschäftigt, mag dem Vorwurfe der Ungenauigkeit und
Partheilichkeit (?) nicht ganz entgehn; allein die darin hervorgehobenen
Thatsachen ist man berechtigt als verbürgt gelten zu lassen, indem es den-
selben an anderweiter Unterstützung nicht durchaus gebricht. Das Ergeb-
nis dieser Mittheilung ist nun das folgende. Bis auf Justinian bildete, zum
Theil nicht einmal vollständig, der Inhalt von nur wenigen juristischen
Schriftwerken, unter denen die Institutionen nebst einigen Monographieen
des Gaius, gleichwie die Responsen von Papinian und Paulus nament-
lich hervorgehoben sind, und ausserdem ein beschränkter Abschnitt des
(') Die Const. Omnem reipubl. Ad antecessores; (vor den Pandekten Justinian’s, in
den Ausgaben des Corp iur. civ.)
(?) Vergl. Zimmern Gesch. d. röm. Priv. Rs. Bd.1. $. 70. Heidlb. 1826. 8.
Philos.- histor. Kl. 1847. U
154 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
Edictes, den alleinigen Gegenstand der Vorträge während des fünfjährigen
Lehreursus für die Studirenden des Rechts. (?) Es ist nicht unwahrschein-
lich, dafs ausser den genannten Handbüchern noch einige andere, z.B. die
libri sententiarum des Paulus, die ldri digestorum des Julian (*) und die
libri quaestionum Papinian’s, zugleich die vornehmsten selbstständigen ju-
ristischen Werke mögen gewesen sein, die dem Bedürfnis der damaligen
Rechtspraxis genügten. Denn die Benutzung der übrigen Organe des Ju-
ristenrechts scheint seit den sg. Citir- Gesetzen Constantin’s und Valenti-
nian’s III. immer mehr vermittelt worden zu sein durch die zahlreichen
sen aus den Schriften
5
der juristischen Classiker. Solche Sammlungen schlossen sich zum Theil
Compilationen von reinen so wie von gemischten Auszü
dem Rechtssysteme des prätorischen Edictes an, wie z.B. Hermogenian’s
libri iuris epitomarum; oder sie überwiesen eigene Abschnitte ihres Systems
der Besprechung des Inhaltes von einzelnen der vornehmsten Volksgesetze
und kaiserlichen Constitutionen, wie dies einigermassen aus dem Zuschnitte
der Yaticana fragmenta gefolgert werden darf; so dafs der, gleichzeitig mit
der Wissenschaft mehr und mehr versinkenden Praxis des einheimischen
Rechts in solchen Compilationen eine Aushülfe geboten zu sein schien für
das mühsame Studium der Originale jener excerpirten Commentare zum
Ediet und zu den einzelnen Leges. Freilich kann hier die Rede nur sein
von demjenigen literarischen Apparate, der als ein Gemeingut der Rechts-
lehrer und Rechtspracticanten jener Zeit angesehn werden darf. An Bei-
spielen vereinzelter Ausnahmen fehlt es nicht durchaus. Um die Mitte des
fünften Jahrhunderts n. Chr. werden von einem gleichzeitigen Berichterstat-
ter (°) Vorträge eines Rechtsgelehrten über das Zwölftafelgesetz mit Aus-
zeichnung erwähnt. Und dafs noch im Zeitalter Justinian’s die Originale
der Werke classischer Juristen, deren unmittelbare Benutzung in der Praxis
so gut wie ganz aufgehört hatte, nicht blos in den öffentlichen Bibliotheken
sondern auch in den Privat-Sammlungen gelehrter Practiker anzutreffen
(°) Vergl. die angeführte Const. ad antecessores. $.1.
(*) Burchardi Staats- u. Rechts Gesch. d. Röm. (Lehrb. d. R. Rs. Th. 1.) S. 149.
Anm. 8. Stutg. 1841. 8.
(°) Sidonius Apollinar. carm. 23. v. 446. sqq. Vergl. Bach Histor. iurispr. rom.
III. 4. sect.3. $. 4. not. *.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 155
waren, erhält eine ausdrückliche Bestätigung durch die Meldung Justinian’s
von dem, was die Beflissenheit Tribonian’s für die Herbeischaffung des rei-
chen Materials zu der von diesem geleiteten Redaction der Pandekten gelei-
stet habe. (°)
Justinian’s Verordnungen über die neue Einrichtung des juristischen
Lehrunterrichts, (7) und über die Behandlung seiner eigenen Rechtscompi-
lationen durch die Männer der Wissenschaft gleichwie durch jene der Pra-
xis, (°) nämlich die Beschränkung auf die Benutzung der Rechtsbücher des
Kaisers, mit Hintansetzung jeder Berücksichtigung solcher älterer Rechts-
organe, aus denen das compilirte Material der neuen offieiellen Sammlungen
entlehnt worden war; sodann das ausdrückliche Verbot aller schriftstelleri-
schen Versuche zur Erläuterung der Texte dieser kaiserlichen Compilatio-
nen, — mögen durch den damaligen Zustand der Rechtspraxis entschuldigt
werden. Zu rechtfertigen dürften dieselben gleichwohl nicht sein, auch
wenn man überhaupt das Postulat einer, von jeder wissenschaftlichen Richt-
ung unabhängigen, Rechtspraxis für ausführbar halten wollte; oder wenn
man in Justinian’s Rechtsschulen blofse Anstalten zur Abrichtung für die
Candidatur von richterlichen Ämtern gewahr werden und geneigt sein möchte,
auf den schon lange vor Justinian’s Regierung zur wissenschaftlichen Nich-
tigkeit herabgesunkenen Zustand der einheimischen Rechtskunde zu verwei-
sen, der auch abgesehen von solchen beschränkenden Verfügungen die Bild-
ung einer neuen selbstständigen Rechtsdoctrin als etwas hoffnungsloses
würde haben erscheinen lassen.
Unter den Nachfolgern Justinian’s konnte an eine Rückkehr zu den,
durch diesen Kaiser geflissentlich der Vergessenheit übergebenen, Quellen
des älteren römischen Rechts überall nicht gedacht werden. Die Lehrer
(°) Const. Tanta. De confirmat. Digestor. $. 17. Dals nichtsdestoweniger manche
Schriften, selbst der namhaftesten Rechtsgelehrten, nicht mehr vollständig durch Justinian’s
Compilatoren ermittelt werden konnten, erhellet aus dem Vermerk des Index Florent. Pan-
dectar., dals von des Gaius Comm. ad Edict. urbie. nur zehn Bücher vorgefunden wor-
den seien. Vergl. A. Augustinus de nomin. propr. Pand. p. 95. not. a. (in E. Otto
Thesaur. I. €. T.I.)
(’) Vergl. oben Anm. 1.
(°) Const. Deo auctore. (De concept. Dig.) SS. 2.4. sq. Const. Tanta. (De confirm.
Dig.) S$- 12 sq.
U2
156 Dırxksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
des byzantinischen Rechts fanden hinreichende Beschäftigung bei der Erle-
digung dieser Aufgabe, die für die Praxis ihrer Zeit noch anwendbaren Be-
stimmungen aus den vereinzelten Überlieferungen der Gesetzgebung Justi-
nian’s, gegenüber den abändernden Verfügungen späterer Kaiser und den
modificirenden Vorschriften der kirchlichen Disciplin und Gesetzgebung,
übersichtlich zusammenzustellen, zugleich auch deren Sprache und Inhalt
dem Verständnis der Zeitgenossen näher zu bringen. Aus diesen Bestreb-
ungen gingen hervor zunächst die, zum Theil noch erhaltenen, Leistungen
der Scholiasten für die Texte der Justinianischen Gesetzgebung, gleichwie
die Abfassung verschiedener Rechtsbücher; ferner das umfassende Unter-
nehmen der Basiliken-Compilation, an welche wiederum die späteren Scho-
lien und Handbücher des geltenden Rechts sich schlossen. (?) Alle diese
Versuche ruhen auf der breiten Grundlage der Gesetzgebung Justinian’s, (1°)
so dafs nicht nur die Rechtspracticanten angewiesen waren, zum Verständnis
der Basiliken und der verschiedenen Rechtshandbücher Belehrung aus der
Compilation des genannten Kaisers zu schöpfen, sondern dafs auch die ge-
sammte Rechtskunde der Juristen des Nach -Justinianischen Zeitalters nicht
hinaus reichte über den Apparat, dessen Mittelpunkt das umfangreiche Ma-
terial der Legislation Justinian’s bildete.
Diese Andeutungen mögen genügen, um das Verfahren derjenigen
Ausleger als ein höchst bedenkliches erscheinen zu lassen, welche aus den,
bei den juristischen Zeitgenossen Justinian’s oder in den griechischen und
lateinischen Schriftwerken der rechtskundigen Referenten des Nach - Justi-
nianischen Zeitalters vorkommenden, Meldungen über Gegenstände des äl-
teren römischen Rechts zu folgern geneigt sind, dafs denselben eine unmit-
telbare Benutzung Vor-Justinianischer Rechtsqueilen, und zwar unter’ den
Organen des klassischen Juristenrechts vorzugsweis jene der Institutionen
des Gaius, zu Grunde gelegen habe. Uns will es vielmehr bedünken, dafs
die Zeitgenossen Justinian’s, die im Bereiche der byzantinischen Herrschaft
(°) Vergl. C.'G. E. Heimbach de Basilicor. orig. fontib. ete. Lips. 1825. 8. C. E.
Zachariae Hist. iur. graeco rom. delineat. Heidelb. 1839. 8. Böcking’s Institutionen.
S. 95. fg.
(‘%) S. C. Witte Üb. einige byzant. R’s Compendien. (Rhein. Museum f. Jurisprdz.
Jahrg. 2. S. 275. fg. Jahrg. 3. S. 23. fg.)
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 157
lebten, (1!) namentlich Theophilus, zwar Kunde hatten von den, dem
früheren Lehrunterricht und dem Gebrauche der älteren Praxis geläufig ge-
wesenen, Schriften der juristischen Classiker, z. B. des Gaius; dafs sie
jedoch nur denjenigen Gebrauch davon zu machen wagten, der nicht in of-
fenen Confliet gerieth mit dem Verbote des Kaisers, andere Organe der
Rechtskunde als die Resultate seiner eigenen Gesetzgebung zu benutzen.
Sie waren nämlich bemüht, die aus jenen Juristenwerken entlehnten Notizen
den Mittheilungen der Justinianischen Rechtsbücher über dieselben Gegen-
stände nicht blos äusserlich unterzuordnen, sondern auch durch künstliche
Verknüpfung und Deutung in scheinbaren Einklang damit zu bringen. Da-
gegen bei den Berichterstattern aus dem umfangreichen Zeitraum der byzan-
tinischen Rechtsbildung nach Justinian dürfte überall nicht an eine unmittel-
bare, wenn auch noch so sehr beschränkte, Handhabung Vor-Justinianischer
Rechtsquellen zu denken sein. Die von diesen Gewährsmännern benutzten,
auf das ältere Recht bezüglichen, Quellen überschreiten kaum irgendwo das
Gebiet der Justinianischen Compilation und den Kreis der an dieselbe sich
schliessenden Ausleger. Freilich mochte auch solchen Führern manche
werthvolle Überlieferung zu entnehmen sein, allein nur gar zu leicht wurde
deren historische Treue verdächtig gemacht durch die unkritische Benutzung
und Deutung abseiten eines Epitomators der späteren Zeit.
1.
Um die so eben aufgestellte Behauptung in Beziehung auf die Insti-
tutionen-Paraphrase des Theophilus, gleichwie mit Rücksicht auf die
Arbeiten der griechischen Scholiasten und Epitomatoren späterer Zeit ge-
hörig zu begründen, würde eine selbstständige umfassende Untersuchung
unerlässlich sein. Nicht um eine solche zu ersetzen, sondern nur um die
Ergiebigkeit derselben durch ein vereinzeltes Beispiel anzudeuten, mögen
die folgenden Bemerkungen hier eine Stelle finden.
Das verdienstliche Bestreben neuerer Civilisten, den Gewinn anschau-
('') Begreiflich ist hier nicht die Rede von denjenigen Theilen des ehemaligen römi-
schen Oceidents, die der byzantinischen Herrschaft fremd blieben und in denen Justinian’s
Gesetzgebung keine Geltung hatte.
155 Dinksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
lich zu machen, den das Studium des Justinianischen Rechts aus der Be-
nutzung der uns überlieferten griechischen Bearbeitungen der Organe dieses
Rechtseyclus zu schöpfen vermag, ist nicht frei von Übertreibung geblieben.
Vor allem hat man die historische Glaubwürdigkeit der griechischen Insti-
tutionen-Paraphrase des Theophilus gegen jede Verdächtigung ihrer An-
gaben in Schutz genommen, auch da wo es sich um Einzelheiten des alten
römischen Staatsrechts handelt, und wo entschieden das Institutionen-Werk
des Gaius als Führer nicht benutzt sein konnte. Dies gilt besonders
von der folgenden Erzählung des Theophilus. (!?) Auf Veranlassung des
erneuerten Ausbruches jenes alten Streites der Patrieier und Plebejer Roms
hinsichtlich der Frage: ob die Plebiscite ausser den Plebejern auch die Pa-
tricier, und ob die Senatsbeschlüsse die Mitglieder jenes so wie dieses Stan-
des als allgemein geltende Gesetze verpflichten sollten? habe ein Patriot Na-
mens Hortensius das versammelte Volk durch die beredte Schilderung
der, aus einem solchen Zerwürfnis der Stände zu besorgenden Gefahr für
das Staatswohl, zu dem Übereinkommen vermocht, dafs hinfort sowohl den
Beschlüssen der Plebs als auch jenen des Senates die Geltung allgemeiner
Landesgesetze zu gewähren sei. Die Einzelheiten dieses Berichtes kommen
scheinbar überein mit der, durch classische Zeugen (1?) verbürgten That-
sache, dafs die schon durch frühere Gesetze beglaubigte Gleichstellung der
scita plebis und populi schliesslich durch die Lex Hortensia eine, von jeder
ferneren Anfechtung frei gebliebene, Anerkennung erhalten habe und dafs
diese Sanction durch den Dictator Hortensius, bei Gelegenheit einer se-
cessio plebis, zu Stande gekommen sei. Es haben daher neuere Historiker (!*)
kein Bedenken getragen, den Zusatz in der Darstellung des Theophilus
für beglaubigt zu halten, als ob gleichzeitig mit den Plebisciten auch den
Senatusconsulten die Autorität allgemeiner Volksbeschlüsse zu Theil gewor-
den sei. Allein hier treten dem unbefangenen Kritiker die erheblichsten
Bedenken entgegen. Wir wollen nicht aufmerksam machen auf den drin-
(2) Baraphr. I. 2
(®) A. Gellius N. A. XV. 27. Plinius H. N. XV1. 10. Gaius inst. comm. 1.2-4.
Fr.2. 8.8. D. de orig. iur. 42
(*) Niebuhr röm. Gesch. III. 490. fg. Puchta Gursus d. Institution. 'Thl. 4. $. 75.
Böcking Institutionen. S. 22. Anm. 2.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 159
genden Verdacht eines leichtsinnigen Spiels mit geschichtlichen Thatsachen,
dem der vorstehende Bericht unsers Paraphrasten an dieser Stelle unterliegt,
wo die Beredsamkeit des Hortensius auf eine Weise geschildert ist, so
dafs man unwillkührlich an den Inhalt der bekannten Rede des Menenius
Agrippa bei der ersten secessio plebis erinnert wird. ('**) Auch mag nicht
hingewiesen werden auf die Spur einer, an einem andern Orte derselben
Schrift (1%) sichtbaren, geschichtlichen Fälschung. Es ist nämlich der Ur-
sprung des Aquilischen Gesetzes, über die Bestrafung der widerrechtli-
chen Beschädigung fremden Eigenthums, hergeleitet aus einem zwischen der
Plebs und dem Senate entstandenen Streit; obwohl zu einer solchen Vor-
aussetzung gar kein Grund vorliegt. (1%) Dagegen glauben wir auf die fol-
genden Einwendungen Gewicht legen zu dürfen. Zunächst erscheint es dem
Zeitalter des Hortensischen Gesetzes nicht mehr angemessen, die Körper-
schaft des römischen Senates als identisch mit dem Stande der Patricier auf-
zufassen, und ebensowenig dürfte die Identificirung der Senatoren mit der
Parthei der Optimaten (!7) dem politischen Glaubensbekenntnis jener Zeit
beizulegen sein. Dagegen als ein Product des Zeitalters von Justinian darf
man die Verwechslung der Begriffe von Patriciern und Senatoren, oder viel-
mehr die formelle Gleichstellung derselben nach den äusseren Verhältnissen
des Ranges, für gerechtfertigt halten. (1%) Ferner ist zu bedenken, dafs kei-
ner der classischen Referenten, welche des Inhaltes der Lex Hortensia ge-
denken, irgend eine Hinweisung auf die Geltung der Senatsbeschlüsse in
Verbindung damit gebracht hat. Dies Schweigen mufs besonders bei
)
Gaius, da wo derselbe von der Gesetzeskraft der Senatusconsulte handelt,
('*) Man könnte dies als eine Präcedenz der masslosen Parachronismen gelten lassen,
denen man in den Geschichtswerken der späteren Byzantiner begegnet. Vergl. unten
P $ se: 5
Anm. 61.
(ER IOAEV RS
('%) Man darf es kaum für möglich halten, dafs Theophilus durch eine plumpe Mis-
deutung der entsprechenden Ausdrücke in dem Texte der Institutionen Justinian’s (nam
plebem romanam, quae Aquilio tribuno interrogante hanc legem tulit, contentam fuisse
quod prima parte eo verbo |sc. plurimi] usa esset,) zur Annahme einer solchen Voraus-
setzung sei verleitet worden.
(') Die zuletzt genannte Beziehung wird von Puchta a.a.O. geltend gemacht.
('°) Vergl. $.4. I. de iure nat. 1.2. und Theophilus ebendas.
160 Dırksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
als vollkommen unbegreiflich erscheinen. Man hat daher (1%) in der folgen-
den Äusserung desselben (I. 4. $. C. est, quod Senatus iubet atque conslituit;
idque legis vicem oblinet, gquamvis fuerit quaesitum.) eine indirecte An-
deutung der, bei einer Differenz der Stände oder der politischen Partheien
erfolgten, Anerkennung dieser Rechtsquelle gewahr werden wollen. Allein
es wurde dabei übersehn, dafs eine solche Auslegung dem Sprachgebrauche
der classischen Juristen nicht zusagt, der den Ausdruck quaerere bei Rechts-
fragen nur auf doctrinäre Erörterungen bezieht, nicht auf politische. Dane-
ben hat man ganz ausser Acht gelassen, dafs Gaius an jener Stelle, im Ge-
gensatz zu dem unmittelbar zuvor über die Plebiseite und unmittelbar hin-
terher über die kaiserlichen Oonstitutionen berichteten, aufmerksam darauf
machen wollte, dafs die factische Geltung der Senatsbeschlüsse nicht auf
der Anerkennung durch ein ausdrückliches Gesetz beruhe, und daher auch
nicht der Anzweifelung ihrer Rechtmässigkeit habe entgehn können. (2°) Nur
darin mag man recht haben, dafs Theophilus selbst in den Ausdrücken
des Gaius eine Hinweisung auf politische Motive gewahr geworden sei. Und
ein solches Postulat ist muthmasslich die Quelle der historischen Verunstalt-
ung geworden, die seinem Berichte zur Last fällt. Er glaubte nämlich, seiner
Umschreibung des Justinianischen Institutionen Textes, der die Worte des
Gaius verkürzt wiedergiebt, zugleich aber die dem Juristen Pomponius(?!)
entlehnte Nachricht hinzufügt über diese, am Anfange der Kaiserregierung
eingetretene, Neuerung, dafs die factische Ausübung der allgemeinen Ge-
setzgebung dem Volke entzogen und auf den Senat übertragen worden sei,
einen künstlichen Zusammenhang und eine scheinbare Begründung zuwenden
zu müssen. Der zuletzt genannte Jurist hat in dem bezüglichen Pandekten-
Fragment diese Reform mit dem Ursprunge der Senatsgesetze überhaupt in
Verbindung gebracht, nachdem er unmittelbar zuvor von der Geltung der
Plebiseite in Gemässheit der, durch eine secessio plebis hervorgerufenen, Lex
Hortensia gehandelt hatte. Eine flüchtige Verknüpfung aller dieser verschie-
denartigen Referate scheint nun eben die Quelle jener wunderlich redigirten
('”) Nämlich Puchta a.a. O. S. 291. Anm. c. Aufl. 2.
() Dem Ausdruck in $. 4. quamvis fuerit quaesitum, entspricht in $. 5. die Bezeich-
nung des Gegensatzes: nec unguam dubitatum est; so wie die Terminologie Ulpian’s
(Dig. 1.3. Fr. 9. 1.4. Fr. 1. SS. 1.2. non ambigitur, und constat.
CO) Er. 2.8.92 vergl. 8.8. D. 1.1.1.2.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 161
Darstellung des Theophilus geworden zu sein. Man ist nicht berechtigt,
dieselbe als die treue Copie der Mittheilungen eines vereinzelten classischen
Gewährsmannes anzusprechen; vielmehr stellt sie sich dar als das Ergebnis
des Versuches, die historischen Referate der Institutionen Justinian’s aus den
scheinbar entsprechenden Ausführungen anderer Stellen der Rechtsbücher
desselben Kaisers zu ergänzen. (?'°)
Neben Theophilus mag noch der griechischen Epitome legum eines
Ungenannten hier gedacht werden, welche selbst das Jahr 920. n. Chr. als
den Zeitpunkt ihrer Abfassung verzeichnet enthält. (?) In derselben ist
mehr, als in den gleichzeitigen und späteren Redactionen von gleichartigen
Materialien, neben dem unmittelbar practischen Recht auch auf die Ge-
schichte des älteren römischen Rechts Rücksicht genommen. (2?) Allein es
beschränkt sich dies auf einen dürftigen und ungenauen Auszug des bekannten
Pandekten-Fragments aus des Pomponius ber singularis enchiridü. (*)
Als Einleitung desselben ist die rhetorische Phrase vorangestellt, wie die rö-
mischen Herrscher stets von dem Bestreben geleitet worden seien, ihre Feinde,
nachdem sie dieselben durch die Gewalt der Waffen bezwungen, auch durch
die Wohlihaten einer weisen Gesetzgebung zu beglücken. Diese bannale
Formel, der man in verschiedenen Erlassen Justinian’s (2°) begegnet, ist hier
einem ungenannten Weisen beigelegt. Darauf folgt ein Auszug der einleiten-
den Bemerkung aus dem, in Justinian’s Pandekten vor jenem Excerpt des
Pomponius figurirenden, Fragment des AH Tafel Commentars von Gaius, (2°)
worin das Bedürfnis einer historischen Übersicht für die Prüfung der Bil-
dung des römischeu Staats und Rechts besprochen ist. Und daran ist die
Äusserung geknüpft, dafs von den Rechtsgelehrten zuerst zu nennen sei Ga-
(°'°) Entsprechend ist das unkritische Verfahren des Jos. Lydus, eines Zeitgenossen
von Theophilus. Vergl. des Verf. Vermischt. Schriften. Th. 1. no. 3. S. 50. fg. Berl.
1841. 8. i
() Man findet einen Abdruck des kritisch berichtigten Textes in dem Anhange zum
Prochiron Basilii, p. 287. sqq. ed. Zachariae. Heidlb. 1837. 8. und in den Heidelberg.
Jahrbüchern, Jahrg. 1842. no. 45. S. 709. Vergl. dessen Hist. iur. gr. rom. $. 37. p. 61. sq.
(®) Vergl. das in $. 4. dieser Epitome bemerkte.
(23), ZB 2, Dgl21222
() Dies hat schon Zachariae nachgewiesen, in dem Prochir. Basilii. p- 288. not. 9.
CHE Er21.2DeodsAe.
Philos. - histor. Kl. 1847. x
162 Dinzsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
ius, dann aber Pomponius; denn dieser habe von der dem Romulus zuge-
schriebenen Eintheilung des Volkes in Curien gehandelt, imgleichen von
der Gesetzgebung der XII Tafeln, und von den andern Ereignissen bis zur
Alleinherrschaft August’s. Esliegtnun zu Tage, dafs Gaius und Pompo-
nius hier blos deshalb neben einander genannt sind, weil die beiden Aus-
züge aus deren Schriften ausschliesslich den Inhalt des bekannten Abschnittes
der Justinianischen Pandekten bilden, welcher mit der Geschichte des älte-
ren römischen Rechts sich beschäftigt. Der darauf folgende Auszug aus den
einzelnen Mittheilungen des Pomponius ist gleichfalls nicht frei geblieben
von dem Einflusse monströser Misverständnisse. Die Autorschaft der Lex
Tribunieia, über die Ausschliessung der königlichen Herrschaft und über die
Vertreibung der Tarquinier, welche Pomponius selbst (°”) dem Jun. Brutus
beigelegt hat, ist durch unsern Epitomator für den König Tarquinius in An-
spruch genommen. Und was am Schlusse, über die Plebiscite, Senatuscon-
sulte und K. Constitutionen, aus den verschiedenen Äusserungen des Pom-
ponius (2?) zusammengetragen worden, verschafft keine klare Anschauung
der älteren historischen Zustände, und erinnert an das zuvor von uns gerügte
Verfahren des Theophilus bei einer gleichen Veranlassung.
Den Anhang zu diesem Auszuge aus dem Fragment des Pomponius
bildet eine kurze Bemerkung über die Redaction des prätorischen Edietes
unter Hadrian’s Regierung und über die Compilation der Justinianischen Pan-
dekten, nebst einer summarischen Bezeichnung der, durch K. Leo’s Veran-
staltung zu Stande gekommenen, Abfassung der Basiliken. (??) Die Notiz über
die Redigirung des Edietum perpetuum erinnert, durch ihre Zusammenstell-
ung mit Justinian’s Pandekten-Compilation, an die Ausführung des nämli-
chen Gegenstandes in dem Publications- Patent der Pandekten (°°) so sehr
dafs man berechtigt ist, dieselbe als die dort unmittelbar benutzte Quelle
anzusprechen. Nur die vereinzelte Angabe unsers Epitomators, dafs ausser
Salv. Julianus auch noch ein gewisser Servius Cornelius durch Hadrian
(@) Fr. 2. 88.15. sq. eod. 1.2.
Cöschr: SS. 8. bis 12. eod. 1.2.
(@°) S. 88.2.3. der Epit. (p. 292. sq. bei Zachariae a.a. O.)
(°) Const. Tanta. (De confirm. Dig.) $$. 17. sq. Vergl. Puchta a.a. O. $. 114. S.553.
Anm. u.
D WS
und die alte Glosse der Turiner Institutionen - Handschrift. 163
bei der Redaction des Edictes beschäftigt worden sei, kann nicht aus dieser
Überlieferung geflossen sein, da sie derselben vollkommen fremd ist. Nichts-
destoweniger wird gerade diese Nachricht von vielen (°!) für verlässlich ge-
halten und auf die Benutzung einer unbekannten Vor-Justinianischen Rechts-
quelle zurückgeführt; obwohl ein Rechtskundiger Namens Cornelius nicht
unter den Zeitgenossen Julian’s, sondern unter jenen des mit Cicero gleich-
alterigen Servius Sulpieius Rufus genannt wird. (°?) Es will uns bedün-
ken, dafs die zuvor besprochenen Beispiele des entschieden unkritischen Ver-
fahrens unsers Epitomators die Voraussetzung als ganz überflüssig erscheinen
lassen, es möge nur in der Rechtschreibung des Namens Servius Corne-
lius ein Versehen untergelaufen sein. (°*) Wir sind vielmehr berechtigt,
den fraglichen Zusatz in dem Berichte des Compilators als einen irrthünli-
chen (*°°) zu bezeichnen und über dessen Ursprung die folgende Vermuthung
aufzustellen. Des Pomponius Mittheilungen über den geschichtlichen Bil-
dungsgang der Organe des römischen Rechts schliefsen mit der Namhaftma-
chung des Juristen Salvius Julianus, ohne dafs die Rede ist von dessen
Betheiligung bei der Redaction des Pr. Edietes. Nun mochte der Epitoma-
tor vielleicht sich erinnern, bei demselben Pomponius kurz zuvor dem Namen
des Rechtsgelehrten Servius Sulpicius begegnet zu sein, welchem ein frü-
herer Versuch zur Bearbeitung der Edieta Prätorum zugeschrieben wird. (°*)
Indem er nun die ungleichzeitigen Unternehmungen von Servius und Julian
bezüglich des prätorischen Edictes verknüpfte, überdem aber aus den von
(‘) Vergl ausser Zachariae selbst, (z.B. in d. Heidelberg. Jahrbch. 1842. no. 45.
S. 710. fg.) Burchardi a.a. ©. $. 111. F. Walter Gesch. d. R. Rs. Thl. 2. $. 418.
Anm. 16. Aufl.2. Böcking’s Institutionen. Bd.1. S. 30. Anm. 11. S. auch Puchtaa.a. O.
(?) In Fr. 16. pr. D. de instr. leg, 33.7. Es dürfte dieser identisch sein mit dem,
in Fr. 2. 8.45. D. de O. I. 1.2. genannten Cornelius Maximus. $. Gr. Maian-
sius comm. in XXX. I. Ctor. Frr. T. II. p. 127. sq. Genev. 1764. 4. Zimmern a.a.O.
$. 80. z. Anf.
(°°) Man könnte vielleicht an Valerius Severus denken, (Zimmern cebds. $. 90.
Anm. 6. fg.) der als ein Zeitgenosse Julian’s und als Ausleger des Edieis erwähnt wird.
Fr. 8. pr. D. de procur. 3.3. Fr. 30. de neg. gest. 3.5.
(°°) Denn weder das über die Stellung Hadrian’s zu dieser Redaction angedeutete,
noch auch das über die systematische Anordnung der Compilation ausdrücklich gesagte ist
geeignet, Vertrauen zu erwecken zu den benutzten Quellen und zu deren Auslegung.
@) Fr. 2.8.4& D. eod.'1.2.
x2
164 Dirxsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
Pomponius angeführten gleichzeitigen beiden Juristen Cornelius Maximus
und Servius Sulpicius eine einzige Person construirte, (°°) machte er kei-
nes grösseren Verstosses gegen die Chronologie sich schuldig, als er bereits
in dem vorangestellten Abschnitte seiner Darstellung gethan hatte.
1.
Die beiden bis hierher besprochenen Proben einer kritiklosen Behand-
lung Vor-Justinianischer Rechtsquellen, welche absichtlich aus dem Bereiche
der Regierung Justinian’s und aus dem Kreise eines ungleich späteren Zeital-
ters der byzantinischen Herrschaft entlehnt worden sind, sollten nur als Vor-
bereitung dienen für die Erledigung unserer eigentlichen Aufgabe. Diese
besteht darin, die allgemein verbreitete Ansicht von dem hohen, vielleicht
bis auf die Tage Justinian’s zurückgehenden, Alter der sg. Turiner Insti-
tutionen-Glosse einer sorgfältigen Kritik zu unterwerfen, und daneben die
Stellung zu prüfen, welche eines der jüngsten, nichtsdestoweniger aber das
bedeutendste der auf uns gekommenen, Handbücher des byzantinisch - römi-
schen Rechts, nämlich der Hexabiblus d.h. das in sechs Bücher abgetheilte
TIgox.ıgov vouwv des ConstantinusHarmenopulus, gegenüber der Gesetz-
gebung Justinian’s und den Quellen des Vor-Justinianischen Rechts, ein-
nimmt. (°)
Wir beginnen mit dem zuletzt genannten Rechtsbuche, dessen Chro-
nologie durch die Aussage eines glaubwürdigen Zeugen (°7) festgestellt ist,
welcher die Abfassung desselben in das Jahr 1345. n. Ch. unter die Regie-
rung des K. Johannes Palaeologus verlegt und den Verfasser als kaiser-
lichen Archivarius und Präfeeten der Stadt Thessalonich bezeichnet. Über
den Plan seines Unternehmens hat Harmenopulus selbst, in der dem Werke
(°) Vergl. zuvor Anm. 32.
(°°%) Die Literaturgeschichte dieses Unternehmens (vergl. darüber Heimbach a.a. O.
Sect.1. c. 6. 88.8.9. p. 132. sqq. und Zachariae Hist. iur. gr. rom. $.49.) liegt uns
hier ganz fern.
(7) Dals dies Philotheus, Patriarch von Constantinopel, gewesen sei, scheint auf
einer blossen Vermuthung zu beruhen. Vergl. G. O. Reitz, in der Praefat. seiner Aus-
gabe des Harmenopulus. p. V. (in dem Supplement. zu Meerman’s Thesaur. nov. iur. civ.
et can.) Heimbach a.a. O. p.133. Zachariae a.a. ©. $.49. p. 79. not. 68.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen - Handschrift. 165
vorangestellten IIgoSewgie, (3?) bestimmt genug sich ausgesprochen. Er sei,
so sagt er, durch Zufall zu der Lecture des Rechtshandbuches der Kaiser
Basilius, Constantinus und Leo gelangt, und durch die der Schrift vorausge-
schickte Ankündigung der Absicht dieser erlauchten Verfasser, eine vollstän-
dige Übersicht aller für die Praxis der Gegenwart brauchbaren Rechtsregeln
in summarischer Redaction herzustellen, (°”) in hohem Grade angesprochen
worden. Allein die Prüfung des Inhaltes des fraglichen Werkes habe ihm
bald zu der Überzeugung verholfen, dafs die Ausführung weit zurückgeblie-
ben sei hinter dem ursprünglichen Plane, indem es derselben sowohl an Voll-
ständigkeit des Materials gebreche als auch an Genauigkeit der Redaction.
Er selbst habe daher durch die Wiederholung des Versuches das nämliche
Ziel mit besserem Erfolge zu erreichen sich bemüht. Auch er beabsichtige
nur, ein Handbuch zu liefern zu einer summarischen Übersicht der noch gel-
tenden Rechtsregeln. Allein das Material für dasselbe sei nicht blos aus den
Texten der officiellen Rechtssammlung und der Novellen der späteren Kai-
ser, sondern auch aus den Edieten der Präfecten gleichwie aus verschiedenen
juristischen Handbüchern, sorgfältig zusammengetragen und nach einem um-
fassenden System geordnet worden.
Die Ausstellungen des Harmenopulus gegen das Prochiron der genann-
ten Kaiser sind, von seinem Standpunkte aufgefasst, nicht für übertrieben
zu erachten. Man kann daher des, zur Vermittelung vorgeschlagenen, (*°)
Postulates füglich entrathen, als ob unser Jurist nicht jenes vervollständigte
Prochiron, sondern blos die Ecloge von Leo und Constantin in Hän-
den gehabt habe. (*') Die Bestätigung des, über die Einrichtung seiner eige-
nen Arbeit gesagten, finden wir theils in anderen beiläufigen Ausserungen
des Verfassers, (*°) theils in den Einzelheiten der Ausführungen desselben.
Eine solche Zusammenstellung ergiebt, dafs Harmenopulus ausser den, durch
(°) Reitz a.a.O. p.6.sq. Vergl. Witte a.a.O. Bd.2. S.285. Bd. 3. S. 39. fg. S.59. fgg.
(°°) Damit stimmt überein die Erklärung dieser Kaiser in dem Prochiron auctum, Prooem.
SS. 1.2. (ec. 8. $.20. p. CLXVI. sq. ed. Zachariae.)
(%) Heimbach a.a.0. Sect.1. c. 5. 8.7. p. 113.sgq.
(*) Vergl. Zachariae’s Ausg. des Prochiron. c.1. $.4. c.2. $.5. p. XVII. sqq.
() z.B. in der Bemerkung am Schlusse einer Ausführung, (IV. 6. $.42.) es sei das
vorstehende ein Auszug aus den geltenden Gesetzen, mit Berücksichtigung des, für die
Rechtspraxis der Gegenwart noch anwendbaren Bestandtheiles ihres Inhalts.
166 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
ihn namentlich bezeichneten, Organen des weltlichen Rechts auch von den
Quellen des Kirchenrechts seiner Zeit, nämlich von den Canones Apo-
stolorum (*) und von den Beschlüssen einzelner Synoden, (*) Gebrauch
gemacht hat für diese Compilation. Die in seinem Vorberichte angekündigte
Benutzung der Ediete der Präfecten hat ihren Mittelpunkt in dem Abschnitte,
der von der Bebauung und Nutzung der Grundstücke handelt, (*) wo man
einer Kette von Auszügen begegnet aus dergleichen Verordnungen, welche
ausser der Baupolizei auch mit den auf dieselbe bezüglichen Gegenständen
der Gewerbepolizei sich befassen. Von den Rechtsbüchern anderer Verfas-
ser hat Harmenopulus, ausser den Werken einiger nicht näher bezeichneter
Autoren, (46) mit Auszeichnung genannt die Arbeiten des Patricius (*”) und
7& "Punaina rev Mayiorgov Acyoneva. (*9) Über die Identität des zuerst genann-
ten Juristen, der noch vor und unter Justinian’s Regierung lebte und in den
Rechtsquellen der Periode nach Justinian als eine bedeutende Autorität her-
vortritt, (4?) ist kein Streit; während bei dem zweiten sowohl die Ächtheit
des Namens als auch dessen Zeitalter vielfach in Frage gestellt wird. (°°) Es
erscheint indess die Vermuthung (°!) als wohl begründet, dafs derselbe nach
der Zeit der Basiliken-Compilation geblüht, und in seinen Schriften ein aner-
kennenswerthes Studium der Justinianischen Rechtsbücher bethätigt habe.
Unter den Werken der nicht näher bezeichneten Rechtsgelehrten hat Har-
menopulus von dem bekannten Handbuche des Michael Attaliata (°) zwar
Kenntnis genommen, jedoch nur hinsichtlich der in der Einleitung desselben
enthaltenen geschichtlichen Notizen, und nicht in Beziehung auf den dogma-
tischen Bestandtheil von dessen Inhalt. Denn hier weichen beide Rechts-
(?) z.B. III. 6. 8.7.
(“) Vergl. IV. 6. 88.16. 20. fgg. 43. IV. 7. 8.32. IV.12. $.7.
(*) Lib. II. Tit. 4. SS. 12. - 56.
() z.B. III.8. SS. 3. fgg.
(7) 1.3.8.58. 1.4. 8.69. II. 10. 8.43. II. 5. 8.88. TV. 12. 8.10.
(5) 1.6.8.8. 1.13. 8.33. IL. 10. $. 12. IM. 3. $8. 7.411. 118. II. 5. 8. 32. IV.8. 8-45.
Iv.9. 8.21. V.8. 8.16. V.9. 88.11.19. V. 10. 8.18. VI.2. 8.15.
(*) Heimbach a.a. O. Sect.1. c.4. $.2. Zachariae a.a.0. c.2. $.14. p. 21.
(°) Cuiacius Obss. VI. 10. Heimbach ebds. c. 6. $. 8. p. 134. sq.
(') Derselbe, a. a. O.
(°°) Vergl. unten Anm. 62.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 167
bücher, in der Begrenzung gleichwie in der Handhabung ihres Stoffes, er-
heblich von einander ab.
Die in jener Übersicht der benutzten Quellen von Harmenopulus an-
gewendete Bezeichnung des Corpus der Gesetzes- Texte ist von der Basili-
ken-Compilation zu deuten, wie sowohl aus der hinzugefügten Erwähnung
der sg. Synopsis minor, (70 wıngov nara Frorysio,) als aus der Umschreibung
der moaynareia von sechszig Büchern gesetzlicher Texte, am Schlusse jener
mgoIenpia, abgenommen werden kann. Auch kommt damit überein nicht
nur die, in dem Texte unserer Compilation bisweilen anzutreffende, aus-
drückliche Verweisung auf einzelne Stellen der Basiliken (°*) und der Syn-
opsis minor, (?°) sondern mehr noch die, dem Vorbilde der Basiliken-Com-
pilation angepasste, Methode der Behandlung und Bezeichnung des redigir-
ten Materials. Harmenopulus hat den Auszügen aus Justinian’s Constitutio-
nen gleichfalls nicht die Namensangabe der Verfasser vorangesetzt, und ist
auch bei den Inhaltsangaben der Verordnungen früherer Kaiser ebenso ver-
fahren; denn die wenigen Ausnahmen, auf die man stösst, (°°) sind fast nur
als zufällige Abweichungen zu betrachten. Ausserdem finden wir bei den
Mittheilungen aus dem Juristen-Recht die, sogar in den Basiliken beobach-
tete, Nachweisung der Namen der Verfasser unterdrückt; welches Verfahren
manche Unzuträglichkeiten für die Form der Darstellung erzeugt hat. (°”) Da-
gegen andere Verschiedenheiten der Methode des Compilirens bei Harmeno-
pulus, gegenüber jener in den Basiliken, sind zum Theil nur scheinbar und
lassen sich in Übereinstimmung bringen mit dem Plane, den der Verfssser in
der mgoSewpie seines Werkes verzeichnet hat. Denn getreu dem Vorsatze,
(°) Zachariae a.a.O. 8.47. p.75.
6) z.B. IV.6.8.2.
(°) das. 1.18. 88.23.26.
6%) z.B. 1.18. 8.29. II. 4. 8$. 46.51. III.3. 8.83. V.9. 88.14. sq.
(°”) Dafs für Lehrsätze des Juristenrechts und für Vorschriften des Constitutionen -
Rechts dieselbe Bezeichnung gebraucht ist, (4 Swere&ıs,) mag hingehn. Auffallend aber
erscheint es, wenn bei dem Referate aus einem kaiserlichen Gesetze man plötzlich den
durchgängigen Gebrauch der plurativen Form des Redeausdruckes wahrnimmt, oder wenn
in der wörtlichen Übertragung eines Pandekten- Textes verschiedene Juristennamen er-
wähnt werden, ohne dals zuvor der als redend eingeführte Verfasser des Fragments na-
mentlich bezeichnet ist; z.B. II. 3. $. 92.
168 Dırksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
eine möglich vollständige Übersicht der für die Praxis der Gegenwart noch
gültigen Rechtsregeln zu geben, verschmähte er es ebensowenig auf gewohn-
heitsrechtliche Neuerungen Rücksicht zu nehmen, (°°) und den Edicten der
Präfeeten Aufmerksamkeit zuzuwenden, (°?) als er darüber sich hinwegsetzen
zu dürfen glaubte, manches aus Justinian’s Rechtsbüchern herbeizuziehen,
was die Basiliken entweder ganz übergangen oder nur unvollständig epito-
mirt hatten, und vornehmlich umfassende Nachträge aufzunehmen aus den
abändernden Verfügungen der, erst nach der Bekanntmachung der Basiliken-
Compilation erlassenen, kaiserlichen Gesetze. Die Auszüge der zuletzt er-
wähnten Gattung begreifen von allen andern die Acte der Gesetzgebung K.
Leo’s, gegen deren umfangreiche Benutzung die blosse sporadische Erwähn-
ung vereinzelter Novellen der späteren Kaiser auffallend zurücktritt. (°°)
Am wenigsten aber darf man durch den Schein sich täuschen lassen, als ob
Harmenopulus, neben der vorherrschenden practischen Richtung seines Un-
ternehmens, die Berücksichtigung der Geschichte der römischen Rechtsbild-
ung nicht durchaus abgelehnt, und zu diesem Ende muthmasslich auch von
einzelnen Stücken der Vor-Justinianischen Rechtsquellen für seine Compi-
lation Gebrauch gemacht habe. Die folgenden Bemerkungen werden hin-
reichen, das Trügliche einer solchen Voraussetzung überzeugend darzuthun.
Der erste, von den Quellen des einheimischen Rechts handelnde, Ab-
schnitt des Werkes giebt eine kurze, ebenso unvollständige als ungenaue,
Übersicht der Organe der Rechtsbildung für die Zeiträume vor und unter,
gleichwie nach Justinian’s Herrschaft. Der zu Grunde gelegte Bericht des
Pomponius, in dem mehrfach besprochenen Pandekten-Fragment, und Ju-
stinian’s Mittheilungen in den Conceptions- und Publications-Patenten seiner
Rechtsbücher sind hier nur theilweis benutzt, überdem auch nicht aus der
ersten Hand. Man begegnet nämlich in dieser Compilation derselben flüch-
tigen und unkritischen Methode der Behandlung historischer Referate, welche
wir in der oben betrachteten Epitome legum kennen gelernt haben. Nur dafs
die Irrthümer hier fast noch zahlreicher und handgreiflicher hervortreten als
(°®) Vergl. 1.13. $. 33.
(°) S. oben Anm. 45.
(°%) Die Belege findet man in dem Index nominum propriorum, im Anhange der ange-
führten Ausgabe des Harmenopulus von Reitz.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 169
wie dort; ähnlich wie bei den byzantinischen Geschichtschreibern der spä-
testen Zeit, sobald sie über Thatsachen aus der frühesten Geschichte Roms
berichten. (°!) Und dafs unser Compilator nicht den Führern jenes Epito-
mators gefolgt sein kann, ist nicht blos zu vermuthen wegen der Verschie-
denheit in den Gegenständen des Misverstehens bekannter Zustände, sondern
kann auch äusserlich beglaubigt werden. (°*)
Harmenopulus hat der XII Tafel-Gesetzgebung etwas umständlicher
gedacht und die Geschichte der Gesetzgebung Justinian’s unmittelbar daran
geknüpft, indem zur Vermittelung des Überganges hervorgehoben ist die,
von demselben Kaiser ausdrücklich angedeutete, Parallele zwischen der äus-
seren Abtheilung der Decemviral-Gesetze und seiner eigenen Constitutio-
nen-Sammlung. Dafs Harmenopulus ferner, gleich der Epitome legum, un-
ter den röm. Rechtsgelehrten nur des Gaius gedenkt, erklärt sich zur Genüge
aus dem Vorgange seines Gewährsmannes Attaliata, ohne dafs man zu einer
künstlichen Deutung zu greifen braucht. (6) Ähnlich verhält es sich mit der
Angabe, dafs Justinian zuerst die Bekanntmachung der drei Constitutionen-
Sammlungen, nämlich der Gregorianischen, Hermogenianischen und Theo-
dosianischen besorgt, hinterher aber aus allen diesen eine einzige, mit seinem
Namen belegte, Sammlung redigirt habe. Dies ist freilich von dem Zusatze
begleitet, dafs nach andern Berichterstattern jene drei Constitutionen - Codi-
ces vor dem Zeitalter Justinian’s an’s Licht getreten seien. In Verbindung
(°') So verlegt z.B. G. Cedrenus Histor. comp. p. 216. (ed. J. Becker. Vol.1I. p.
378. Bonn. 1838. 8.) die Thaten des L. Quinctius Cincinnatus in die Regierung des K.
Nero. Derselbe berichtet freilich auch, (p.295. Becker p. 518. sq.) dals das vergoldete
Standbild Constantin’s, welches dieser Kaiser auf einer Säule zu Byzanz hatte errichten
lassen, ein aus Athen entführtes Kunstwerk des Phidias gewesen sei. Allein dies schliesst
die vermittelnde Deutung nicht aus, dals der Kaiser blos einem alterthümlichen Bildwerke
seinen Namen habe beigelegt wissen wollen. Gleichwie auch anderer, nach Constantino-
pel entführter, Werke des Phidias von demselben Referenten Meldung geschieht. S. ebendas.
299
p- 322. sq. (p. 564. sq. ed. Becker.)
(°) Schon O. Reitz a.a. O. 1.1. 8.4. not. 5.10. 12.18. hat aufmerksam gemacht auf
die wörtliche Übereinstimmung dieser Ausführung des Harmenopulus mit dem Prooem.
zu des M. Attaliata Horse vouzdv (S. Leunclavius IJus graeco -rom, II pefäsg.
Fref. 1597. F.)
(°) z.B. zu dem, bei O. Reitz in der Ausgabe unsers Autors I. 1. $. 3. not. 12. vor-
geschlagenen Postulate, als sei hier nicht an den bekannten Gaius zu denken, sondern
an einen der Aelii, den Ausleger der XII Tafeln.
Philos.- histor. Kl. 1847. Y
170 Dirxsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
damit wird erinnert, (°*) dafs Tribonian diesem Kaiser besonders bei der
Abfassung der Novellen hülfreich gewesen sei, und bei diesem Geschäft so-
wohl der Bestechung als auch der Fälschung sich schuldig gemacht habe.
Zu allen diesen, die Ansprüche der historischen Kritik durchaus verhöhnen-
den, Resultaten hätte Harmenopul’s Darstellung nimmermehr gelangen kön-
nen, wenn derselben eine auch nur flüchtige Einsicht der amtlichen Verfü-
gungen Justinian’s, über die Abfassung und Bestätigung seiner Rechtsbücher,
8
vorangegangen wäre.
Und wenn unser Compilator überhaupt es nicht der Mühe werth er-
achtete, zum Behuf der Aufklärung geschichtlicher Thatsachen auf die Ori-
ginal-Quellen der Justinianischen Gesetzgebung zurückzugehn, so darf um
so weniger vorausgesetzt werden, dafs er sich könnte bewogen gefühlt haben,
von den Vor-Justinianischen Rechtsquellen im Interesse der Geschichte des
älteren Rechts irgend Gebrauch zu machen. Die scheinbaren Ausnahmen
lassen sich ohne Mühe mit dieser Behauptung vereinigen. Zwar erinnert eine
Notiz über die pacta publica (°°) an eine ähnliche Mittheilung in des Gaius
Institutionen, (°°) über die Verträge zwischen römischen Feldherren und
feindlichen Heerführern. Allein bei genauerer Prüfung erkennt man darin
den Text eines, in Justinian’s Pandekten übertragenen, (7) Fragmentes von
Ulpian, das auch in den Scholien der Basiliken (°%) genügend ausgebeutet
ist, und eben durch diese Vermittelung dem Harmenopulus zugänglich ge-
worden sein dürfte. Noch weniger kann es Bedenken erregen, dafs der in
unserer Compilation (°°) bezeichnete Inhalt einer Constitution von M. Anto-
ninus und Commodus, über das beschränkte Vindicationsrecht des Eigen-
thümers einer vom Fiscus ohne allen Rechtsgrund veräufserten Sache, ledig-
lich aus der Mittheilung der Institutionen Justinian’s (7°) über denselben Ge-
(°) Auch dies ist einfach dem Attaliata nachgeschrieben, und nicht etwa aus Suidas
v. Torißwwievös Mazedovievod geschöpft, oder wohl gar aus Gedrenus a.a. 0. p. 368. (p.
646. Beck.)
(DA gTSIEIS
(°°) Comm. inst. III. 94.
() Fr.5. D. de pact. 2. 14.
(°) Basilic. XT.1. 8.5. (Vol. I. p. 557. sq. ed. Heimbach. Lips. 1833. 4.)
() 1.3. 8.83.
() 8.14. J. de usucap. 2. 6. Dals daneben auch von der Ausführung des Theo-
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 171
genstand entlehnt ist. Endlich die Angabe, ("!) es sei an einer Stelle des
dritten Buches von Papinian’s (Juästionen ausgeführt, dafs niemand seinen
Nachbarhäusern die Aussicht nach den Bergen verbauen dürfe, giebt schon
in der Form des Berichtes ihre Abstammung genügend zu erkennen. Es ist
nämlich dieses Citat eines, auf anderm Wege uns nicht überlieferten, Frag-
ments der Schriften Papinian’s ausdrücklich als Bestandtheil des Inhaltes eines
der daselbst epitomirten Edicte von Präfecten bezeichnet, welche Excerpte
Harmenopulus überdem nicht aus den Originalen geschöpft, sondern nur
aus der zweiten Hand mitgetheilt hat, nämlich aus der Compilation eines
Baukundigen von Ascalon, Namens Julianus. (?) Da nun dieser Compi-
lator an anderen Stellen manches hat einfliessen lassen, was zu dem selbst-
ständigen Inhalt der epitomirten Edicte kaum zu zählen sein dürfte, (73) so
mag auch die Genauigkeit, nicht des Citates selbst wohl aber jene der mit-
getheilten Einzelheiten des Inhaltes der Äusserung Papinian’s, nicht ohne
Grund in Frage gestellt bleiben.
IM.
Wir wenden uns nunmehr zu der sg. Turiner Institutionen-
Glosse, deren Bekanntmachung dem berühmten Verfasser der Geschichte
des römischen Rechts im Mittelalter (7*) zum besondern Verdienst gereicht.
Der Herausgeber ist nicht der Ansicht Niebuhr’s (?°) beigetreten, der diese
Scholien der Justinianischen Institutionen zu den wissenschaftlichen Bearbei-
tungen römischer Rechtstexte zählt, die dem griechischen Italien angehören,
philus zu dieser Stelle Gebrauch gemacht sei, ist nicht zu erweisen. Um so weniger
kann an die Berücksichtigung der späteren byzantinischen Geschichtschreiber gedacht wer-
den, welche von dem nämlichen Rechtsgrundsatz sprechen, allein blos in der Anwendung
auf Geschenke des Kaisers. S. Zonaras Annal. XII. 26.
a) GEL Sl
(2) Ebendas. $. 12.
(°) Vergl. des Verf. Abhdlg: Das Polizeigesetz des K. Zeno u. s. w. (In diesen Ab-
halgg. d. K. Akademie. Jahrg. 1844. Philos. Histor. Cl. S. 85.)
(') Savigny Gesch. d. R. Rs. im M. A. Bd. 2. Anhg. I.B. S. 429. fgg. Ausg. 2.
() Man findet dessen Argumente theils bei Savigny a.a. O. S. 203. fg. Anm. f. ent-
wickelt, theils ausführlicher verzeichnet in Niebuhr’s Lebensnachrichten. Bd. 2. S. 491,
v2
172 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
und dieselben nicht später als um das Jahr 640. n. Chr. gesetzt wissen will.
Er geht vielmehr noch ungleich weiter zurück, indem er den Verfasser der
vorstehenden Glosse zu einem Zeitgenossen Justinian’s erhebt. (”°) Das An-
sehn dieser beiden gewichtigen Stimmführer hat bei unsern Zeitgenossen
überall sich geltend gemacht, so jedoch dafs nur wenige bei der Zeitbe-
stimmung Niebuhr's sich begnügen, (77) während die Mehrzahl sich darin
gefällt, die Chronologie der fraglichen Glosse bis auf das Zeitalter Justinian’s
zurückzuleiten. (?°) Gleichwohl dürfte die, aus den Einzelheiten des Inhal-
tes dieser Glosse zu construirende, Beweisführung des muthmafslichen Zeit-
punktes ihrer Entstehung erhebliche Einwendungen gegen die Genauigkeit
jener beiden postulirten Zeitbestimmungen herausstellen.
Zur Unterstützung der behaupteten Ableitung des Ursprunges unserer
Glosse aus der Örtlichkeit des enge begrenzten Bezirkes der Herrschaft der
griechischen Kaiser in Italien, und aus dem Zeitraum von der Mitte des
sechsten bis zum Anfange des siebenten Jahrhunderts n. Chr., würde vor
allen Dingen der Versuch nicht zu vernachlässigen gewesen sein, aus dem all-
gemeinen Charakter der Darstellung, gleichwie aus den Formen der Sprache,
Beweisgründe für jenes Postulat zu ermitteln. Dieser Voraussetzung ist
gleichwohl bisher nicht genügend entsprochen, und mehr als billig auf die
sogleich weiter zu berührenden Einzelheiten des Inhaltes der Glosse alles
Gewicht gelegt worden. (7?) Und dennoch liegt es zu Tage, dafs die Wür-
digung eben dieses Inhaltes durchaus abhängig erscheint von der Stellung, in
welche der referirende Glossator sich selbst gegenüber den mitgetheilten ju-
ristischen Referaten, versetzt hat.
Es hat freilich den Anschein, als ob der Verfasser unserer Glosse
überall in eigener Person spreche und daher als ein Berichterstatter über
Zustände, die er selbst erlebte, geschätzt werden dürfe, sobald seine Mit-
theilungen etwas als der Gegenwart angehörend darstellen. Allein diese Vor-
(°°%) Savigny ebendas. $$. 69. 71. S. 195. 199. fg.
(”) Puchta Curs. d. Inst. Bd.1. $.144. Biener Gesch. d. Novell. Justin. S. 228.
(®) z.B. E. Schrader Prodrom. Corp. I. C. ed. p. 229.sq. Berol. 1823. 8. Zim-
mern a.a. 0. Bd.1. $.49. Anm. 3. Falck Jurist. Encyclopäd. $. 78. u.a. m.
(°) Vergl. die folgende Äusserung in Niebuhr’s Lebensnachrichten a.a. O. „Dals
diese (Glosse) unter den Exarchen geschrieben ist, wie man übrigens der ganzen
Schrift am Gesicht ansehn kann, erhellet klar aus No. 9. u. s. w.”
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 173
aussetzung bewährt sich bei näherer Prüfung als eine entschieden trügerische.
Vielmehr ist Justinian selbst durch unsern Glossator nicht blos als der un-
mittelbare Verfasser jedes einzelnen Bestandtheiles des Institutionen - Textes
aufgefasst worden, sondern mit Bezug auf dessen Zeitalter sind in der Regel
auch die verschiedenen Sach- und Wort-Erklärungen gegeben, gleichwie
Unterscheidungen von Vergangenheit und Gegenwart angedeutet. (®°) Dies
tritt sowohl an den Stellen hervor, wo Justinian’s Autorschaft ausdrücklich
erkennbar gemacht ist, (°!) als es auch in den ungleich zahlreicheren Fälien
nicht verkannt werden mag, wo unbestimmt in der dritten Person von dem-
selben gesprochen wird. (°*) Dabei ist noch zu bemerken, dafs sämmtliche
Bestandtheile der Justinianischen Gesetzgebung als ein Ganzes aufgefasst er-
scheinen, so dafs Texte der Pandekten und des Constitutionen- Codex bis-
weilen, ohne die Andeutung eines Quellen -Citates, zum Behuf der Ausleg-
ung von Worten der Institutionen epitomirt sind. (8) Ähnlich ist zum Theil
auch mit den beigebrachten Beweisstellen anderer Institutionen- Texte ver-
fahren. (°*) Ausnahmsweis spricht der Verfasser der Glosse wohl in eigener
Person; allein gerade dann bewährt er keineswegs diejenige Kenntnis römi-
scher Einrichtungen und des Sprachgebrauches römischer Rechtsquellen,
welche bei einem rechtserfahrenen Zeitgenossen Justinian’s mit Grund dürfte
vorausgesetzt werden. (°°) Überdem kann man einzelne Äusserungen dessel-
ben nur dahin deuten, dafs die politischen Institutionen, welche der Praxis
() z.B. No.43. Semenstria sunt codex, in quo legislationes per VI menses prolatae
in unum redigebantur. No.126. Ideo inter adquisitiones posita est donatio, quia inzer ve-
teres non aliter robur accipiebat nisi traditio sequeretur, quae est dominii adquisitio. No.
398. Talis enim stipulatio in dotibus erat etc. Vergl. No.7. No. 135.
(') z.B. No. 180. No. 212. N. 215. No. 272. No. 281.
(°”) Dahin gehören die stets wiederkehrenden Phrasen: Ideo dixit. Bene dixit, s. addi-
dit, Recte incipit. Caute hoc posuit. Ita disputavit etc.
(®) z.B. No. 90. No. 115. No. 130. No. 171. No. 315. No. 350. No. 425.
(°°) Vergl. No. 268.
(®) z.B. No. 95. Hominem abusive posuit, tantum enim servus debet intelligi. No. 104.
Servitutes tribus modis fiunt: pactionibus, stipulationibus et per testamenta. Pactionibus
hoc modo: si quis habens duas domus, et eo pacto donet ut onera vieini sui suscipiat;
stipulationibus ita, ut si quis ita domum vendat et ab emtore servitutes suscipiat; testa-
mento, veluti si quis heredem suum damnet, ne vicini lumina aedificio suo tollat. Vergl.
No. 101.
174 Dıirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
Justinian’s noch geläufig waren, im Zeitalter unsers Glossators als bereits
veraltet erschienen sein müssen. (°°)
Hinsichtlich der Schriftform ist durch den Herausgeber der Glosse (37)
nur dies erinnert worden, dafs die in der Handschrift vorkommende sg. kryp-
tographische Stellen nicht besondere Beachtung verdienen, obwohl sie in
andern Manuscripten als Seltenheiten hervortreten. Ungleich bedeutender
als diese nicht zu bestreitende Bemerkung (°®) ist dagegen die Wahrnehmung,
wie die Rechtschreibung unserer Handschrift keine Spur der gräcissirenden
Formen der Latinität aufzuweisen hat, von denen sonst die unter dem Exar-
chate verfassten oder auch nur copirten lateinischen Schriften nicht frei zu
sein pflegen. (#°°) Und das gleiche gilt auch von der Sprache unsers Glos-
sators. Es fehlt zwar nicht an ungewöhnlichen Ausdrucksformen und Wort-
(°°%) No.343. Ius civitatis romanae fuerat, ut quicunque adversus quemlibet aliquam pe-
titionem haberet, in reclamatione, qua obligatus fuerat, legis necessitate solvi oportebat
id, quo obligatus fuerat.
() Savigny a.a. O. S. 202.
(#) Denn diese Stellen enthalten nicht etwa corrumpirte griechische Textesworte. Es
sind vielmehr (vergl. No. 136. No. 139. No. 244. No. 418.) lediglich Wiederholungen der
voranstehenden lateinischen Ausdrücke, mit einer grillenhaften obwohl consequenten Ver-
setzung der einzelnen Lautzeichen. Unzweifelhaft ist diese Schreibform zu dem umfas-
senden Gattungsbegriff der Kryptographen zu zählen, (S. Eneyelopedie francaise. T. TV.
v. Cryptographie. Par. 1754. F. U. F. Kopp palaeographia cerit. T. III. $. 223. p. 268.
sg. Manh. 1829. 4.) Das eigenthümliche des vorstehenden Falles besteht nur in der Zu-
sammenstellung der regelmässigen Schriftform und der nachträglichen Copie desselben Re-
desatzes mittels kryptographischer Zeichen; nicht aber in der Eigenthümlichkeit dieser
Schriftzeichen, welche vielmehr genau übereinkommen mit den durch die Benedictiner in
mittelalterlichen Handschriften nachgewiesenen Formen. (S. L. de Wailly Elements de
palöographie. T.I. p. 425. not. 1. Par. 1838. Fol.) Es ist nämlich in unserm Manuscript
neben den richtigen Buchstaben als Consonanten, für die Vocale das unmittelbar vorher-
gehende, oder auch das unmittelbar folgende Lautzeichen gesetzt. Nur an der zuletzt
genannten Stelle sind die Vocale durch verschieden gruppirte Punkte ausgedrückt.
(8°) Aus welchen Zügen des durchfurchten „Antlitzes” unserer Glosse Niebuhr (8.
oben Anm. 79.) das Exarchat als die Heimat desselben zu erkennen geglaubt hat, vermö-
gen wir nicht zu errathen. Schwerlich wird die, auf Unkunde des sachlichen Verhältnis-
ses beruhende, Form des Ausdruckes: Juridieia, (S. unten Anm. 126.) als ein Erkennungs-
zeichen griechischer Umbildung lateinischer Ausdrücke angesprochen werden, indem die
den Griechen geläufige Bezeichnung dizcucderrs für den Juridieus eine Verschmelzung mit
dem römischen Sprachgebrauch nicht verstattete.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen - Handschrift. 175
bedeutungen bei ihm, (°°) allein keines von diesen Beispielen weist mit Ent-
schiedenheit auf einen Zusammenhang mit dem Gebiete der byzantinischen
Herrschaft, obwohl die in diesem Werke im allgemeinen sichtbare Reinheit
der lateinischen Sprache (*°) nicht verstattet, die Abfassung desselben ausser-
halb der Grenzen Italiens zu verlegen. Selbst dies scheinbare Argument,
dafs einmal die Benennung legislatores auf die Rechtsgelehrten angewendet
ist, und ein anderes mal (*!) die ergangenen Verfügungen der Kaiser durch
die Umschreibung legislationes bezeichnet sind, entscheidet nicht für die Ab-
stammung aus dem Exarchate. Man hat darin nur die Nachahmung des, in
dem Constitutionen-Recht der christlichen röm. Kaiser zu Tage liegenden,
Sprachgebrauches wahrzunehmen. (°)
Da das Turiner Manuscript des Institutionen-Textes gleichzeitig mit
dem der in Frage stehenden Glosse aufgezeichnet ist, und die Schriftzüge bei-
der Texte auf das zehnte Jahrhundert hinweisen, (°°) so ergiebt sich von
selbst die Unabhängigkeit dieser unserer Scholien von dem Einflusse der, erst
(°) Es ist hier begreiflich nur die Rede von der ursprünglichen alten Glosse, nicht
aber von den späteren Zusätzen zu derselben, die zum Theil als Interlinear-Glossen auf-
ireten. Vergl. Böcking’s Institutionen. Bd.T. S. 116. fg. Anm. 18. In jener heilst es:
No. 77. „Electrum, aurum et argentum commixtum, quod aurum palliolum dicitur.” Diese
Form des lateinischen Ausdruckes kommt zwar sonst nicht vor; allein die Wurzel dersel-
ben ist kaum zu verkennen in dem Zeitwort palliare, welches für vestire, tegere, schon von
Appuleius gebraucht ist, (S. Forcellini, v. Pallio.) und später auch in der abgeleite-
ten Bedeutung von fingere, simulare, angetroffen wird. (Vergl. Du Cange glossar. med.
et inf. lat. v. Palliare.) Ausserdem ist aufmerksam zu machen auf den Sprachgebrauch:
Excerpere, und Surripere (ex textu,) für: „eine Deutung ableiten, eine Folgerung ziehen.”
Auch Sudseriptio, für Desceriptio, (No. 438.) ist sonst ungewöhnlich. Minder auffallend
erscheint die Bedeutung von Status, (No. 337. Plus est szazus, quam reszitutio.) sowie die
Phrase: verbdis et litteris formulatis; (No. 416.) und secundum esse. (No. 345.)
() Freilich fehlt es derselben nicht durchaus an Anklängen der im Mittelalter aufge-
kommenen italischen Ausdrucksformen. (z.B. No.260. Adverbium loci est [se. uitro ci-
troque] et componitur ex ultro et que et citro; ultro i.e. de la, citro de cia. Vergl. Sa-
vigny a.a.0. S.204. Dagegen gehört nicht hierher No. 304. [zu $.3. I. de suce. li-
bert. 3. 7. v. pro omni notione.]) .... i. e. cognoscimentu; denn dies ist eine spätere
Glosse. Vergl. des Verf. System d. jurist. Lexicographie. S.22. fg. Lpz. 1834. 8.
(') S. No.13. und No. 43.
(°) Vergl. des Verf. Manuale latinitat. v. Legislator. $. 2.
93) Savigny a.a0. S.199. fg. Schrader a.a. ©. p. 57. not. 47.
50) 5 P
176 Dırksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
mit dem zwölften Jahrhundert beginnenden, (°*) Glossatoren-Schule in Bo-
logna. Und dafs diese Unabhängigkeit auch schon in der Form der Citate
aus den Justinianischen Rechtsquellen nicht zu verkennen sei, ist durch den
Herausgeber (°°) umständlich nachgewiesen worden. Man kann freilich nicht
in Abrede stellen, dafs die vorstehende Glosse, gleich andern römisch-recht-
lichen Compilationen aus der Periode vor den Glossatoren in Bologna, die
einzelnen Beweisstellen aus den Rechtsbüchern Justinian’s nach den Zahlen
der Bücher, Titel, Fragmente, und jene aus den Pandekten wohl gar nach
den Inscriptionen der einzelnen Bruchstücke bezeichnet hat, ohne sich der
regelmässigen Citir-Methode der spätern Zeit zu bedienen, nämlich der
Bezeichnung nach den Anfangsworten des einzelnen Fragments, so wie der
Titelrubrik unter welcher dieses in Justinian’s Compilation figurirt. Indess
jenes Verfahren ist keineswegs überall so genau zur Anwendung gebracht,
dafs nicht mehrfache unrichtige Zahlenangaben vorkämen; obwohl die schein-
baren Ausnahmen, welche eine Annäherung an die Citir-Methode der Glos-
satoren verrathen, (°°) nicht dem ursprünglichen Text unserer Scholien an-
gehören, sondern den Nachträgen zu demselben. (°”) Dafs die ungenaue
Bezeichnuug der Novellen-Citate grosse Vorsicht erheische, um bei der Ent-
scheidung der Frage benutzt zu werden, ob die vorstehende Glosse den Ori-
ginal-Text Justinian’s benutzt habe, oder nur den Novellen-Auszug Julian’s?
ist schon von andern (°°) erinnert worden. Es würde daher ganz unstatthaft
sein, wenn man aus der Glosse zu $. 10. I. de gradib. cogn. 3.6., in welcher,
(No.297.) mit Bezugnahme auf die, im Text besprochene Verordnung Ju-
stinian’s (d.i. c.4. de bon. libert. 6.4.) bemerkt ist: Divisionem de his posi-
tam qualis est, invenies post Codicem constit. XNXAIT. ibi invenies scriptum
etc. folgern wollte dafs, weil hier (ähnlich wie No.272.) sofort auf das No-
vellen-Recht (Nov. Just. 84. c.1. $.1.) übergegangen ist, die genannte, in
(*) Savigny ebendas. Bd. 4. S. 13. fg.
(”) Ders. Bd. 2. S. 201. fgg.
(°%) Dahin gehören, abgesehn von No. 180. (S. Biener a.a. O. S. 228.) die folgenden
Stellen: No. 404. No. 424. No. 433. (Savigny das. S. 204.)
(°) In dieser späteren Glosse sind auch einzelne Namen angedeutet, (vergl. Savigny
ebendas. S. 204.) während die alte Glosse blos allgemeine Verweisungen enthält: z. B.
No. 113. Aliquanti quaesierunt etc. Vergl. No. 125. No. 302. No. 403. No. 448.
7 7 ke)
() S. Biener 2.2.0.
und die alie Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 477
den uns überlieferten Handschriften des Constitutionen - Codex fehlende und
erst aus den Basiliken restituirte, (°) Constitution von unserm Glossator nicht
benutzt worden sei und mithin demselben ein vollständiges Exemplar jenes
Justinianischen Rechtsbuches nicht vorgelegen habe. Eine solche übereilte
Folgerung würde um so weniger gerechtfertigt werden können, da in dem
Verlaufe der nämlichen Glosse entschieden auf Einzelheiten des Inhaltes je-
ner fraglichen Constitution Bezug genommen ist. (1°)
Und die gleiche Vorsicht erscheint wünschenswerth hinsichtlich des
Postulates, das man aus dem, in diesen Scholien vorkommenden, ungenauen
Citate einer Stelle desselben Constitutionen-Codex abgeleitet hat. Es ist
dies die Äufserung, welche als Beweis dafür gelten soll, dafs unser Glossa-
tor eine sebstständige Sammlung der 50 Decisionen Justinian’s benutzt
habe. Die Prüfung dieser Behauptung bildet einfach den Übergang zur Er-
örterung der Einzelheiten des Inhaltes unserer Glosse, indem man die
in Frage stehende Notiz zugleich als ein Hauptargument für das postulirte
hohe Alter dieser Turiner Institutionen-Glosse benutzt hat.
Zum $. 2. J. de hered. qu. ab int. 3. 1. giebt unser Scholiast die fol-
gende Erläuterung: No. 241. „Hie adoptivi generaliter dixit, i. e. sive trans-
eant in potestatem sive non; nam ii, qui non transeunt in potestatem, in
hereditatem succedunt patribus adoptivis, sieut Libro L. constitulionum. inve-
nies” Da nun hier, nach dem Vorgange des commentirten Textes, ausdrück-
lich Bezug genommen ist auf die bekannte c. 10. de adopt. 8. 48., welche
entschieden zu den 50 Deecisionen Justinian’s gehört, so scheint auf den er-
sten Blick kein Zweifel übrig zu bleiben, dafs in den Schlussworten der an-
geführten Glosse ausdrücklich hingewiesen sei auf eine allgemein bekannte
Sammlung der genannten Decisionen. Auch ist dies von unsern Zeitge-
nossen ohne Ausnahme als eine verbürgte historische Thatsache anerkannt
worden, (!°!) um so mehr da schon früher durch vereinzelte Äufserungen
() K. Witte: Die Leges restitutae des Justin. Cod. S. 193. fg. Bresl. 1830. 8.
('%) Vergl. c.4. $$.10.sq. 1.1.6.4. Biener und Heimbach Beiträge zur Revision
des Justinian. God. S.157. fg. Berl. 1833. 8.
(‘) Ausser Niebuhr a.a.O. und Savigny a.a. O. S. 201. fg. mögen hier nur ge-
nannt werden: Biener Gesch. d. Novell. Justin. S.5. Anm. 11. Zimmern a.a. 0. Bd.
1. 8.49. Anm. 3. Falck a.a.0. 8.78. Mühlenbruch Institutt. d. R. Rs. 8.6. S.7.
Puchta a.a. ©. Thl.1. 8.139. S.677. Anm. e. Böcking Institutionen. $. 614. Anm. 32.
Philos.- histor. Kl. 1847. 7
178 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
Justinian’s (10) der Beweis gesichert zu sein schien, als habe es an der Exi-,
stenz einer solchen, freilich später durch die Redaction des Codex repetitae
praelectionis entbehrlich gewordenen, amtlichen Sammlung jener Decisionen
nicht gefehlt. Nichtsdestoweniger dürfte diese Voraussetzung, gegenüber
den Einwendungen einer unbefangenen Kritik, durchaus nicht als stichhaltig
sich bewähren. Selbst wenn man das Vorhandensein einer solchen Deeisio-
nen-Sammlung nicht weiter in Zweifel ziehen wollte, würden doch die nach-
benannten Widersprüche jener Theorie kaum entfernt werden können. Die
Bezeichnung: Liber L. constitutionum, darf überall nicht als der amtliche Ti-
tel einer solchen Sammlung angesprochen werden, da Justinian selbst diesen
Verordnungen, sobald er ihrer im Ganzen gedenkt, (10%) das Prädicat Deei-
siones beigelegt und sie von seinen übrigen Constitutiones ausdrücklich un-
terschieden hat. (!%*) Ferner da dieser Kaiser, bei der Bekanntmachung sei-
ner zweiten Constitutionen-Sammlung, (1°) es namentlich untersagte, zum
Behufe der Benutzung des Textes seiner Deeisionen, auf deren Originale zu-
rückzugehn, indem er lediglich der, in dem Codex repetitae praelectionis
vorliegenden, neuen Überarbeitung derselben practische Geltung zugestan-
den wissen wollte; so würde es unerklärlich bleiben, wie noch in der folgen-
den Zeit (1%) der Gebrauch einer älteren Decisionen-Sammlung sich hätte
erhalten können, zumal im Occident. (10) Und als ob einer jeden Misdeut-
('”) Man findet diese Stellen zusammengetragen und in der angegebenen Art gedeu-
tet bei E. Merillius: exposition. in L. Decisiones Justiniani. Prooem. $. 3. (Opp. P. II.
p- 3. Neap. 1720. 4.)
('®) 8. 8.16. T. de oblig. qu. ex del. 4.1. c.1. $.10. Just. Cod. de caduc. toll. 6.
51. Da, wo von dem Inhalte einer einzelnen Decision die Rede ist, (z.B. 8.2. I. de
adopt. 1.11. $.5. I. de usu et habit. 2.5. $.3. I. de donat. 2.7.) wechseln freilich die
Bezeichnungen: decisio und consziztutio. In der Const. Cordi nobis est. (De emend. Cod.)
ist zuerst in $.1. der Ausdruck Constitutiones für die Decisionen gebraucht; allein sofort
in $$.2. und 5. wird der genauere Sprachgebrauch befolgt und die Trennung der Deei-
siones von den Constitutiones beobachtet.
(') _Vergl. den Schlufs der vorhergehenden Anmerkg.
('®) In $.5. derselben Const. Cordi nobis est.
('°) Denn unser Glossator kannte die Novellen Justinian’s, auf welche er mehrmals
verwiesen hat. S. Biener a.a. O. S. 228.
(') Zwar behauptet Puchta a. a. O., dals die Existenz einer solchen Decisionen -
Sammlung auch durch das Zeugnis des Theophilus festgestellt sei, wodurch zugleich
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 179
ung habe vorgebaut werden sollen, so dient eine andere Stelle unserer
Glosse, (1%%) wo eine Decision Justinian’s als ein Bestandtheil des neuen
Constitutionen-Codex angeführt ist, als ein beredtes Zeugnis dafür, dafs un-
ser Glossator von jener Vorschrift des Kaisers hinsichtlich der Benutzung des
Textes der Decisionen nicht abgewichen sei. Überdem entbehrt das oben an-
gedeutete Postulat jeder Begründung, dafs die Existenz einer amtlichen De-
eisionen -Sammlung durch una eigene Äusserungen unterstützt werde.
Denn weit gefehlt, dafs dessen Hinweisung auf seine Decisionen über-
haupt (1%) von einer Sammlung derselben zu verstehen wäre, so ergiebt
sich vielmehr das Gegentheil aus der bestimmten Äusserung dieses Kai-
sers, (110) es sei das Bedürfnis einer Ersetzung der ersten Constitutionen -
Sammlung durch den Codex repetitae praelectionis vornehmlich hervorge-
rufen ER durch die Wahrnehmung, dafs sowohl die Decisionen als auch
die übrigen später erlassenen Constitutionen in jener ersten officiellen Samm-
lung fehlten. Und was unmittelbar hinzugefügt ist über das decerpere der
genannten Constitutionen, das bezieht sich entschieden auf die den Compi-
latoren ertheilte Anweisung, den mannichfaltigen Inhalt einzelner Gesetze zu
theilen und demnach stückweise in den entsprechenden Abschnitten des Sy-
deren Bekanntschaft im Oriente als gesichert erscheinen würde. Allein er hat keine Stelle
der griechischen Institutionen-Paraphrase dafür anzuführen vermocht. Und an den Orten,
wo Theophilus auf einzelne Decisionen Justinian’s zu sprechen kommt, (z.B. I. 11.
8.2. 1.5. 8.5. 1.7. 8.3. IV.1. 8.16.) hat er nicht einmal den Ausdruck Decisio ge-
braucht, vielweniger auf eine selbstständige Sammlung dieser Decisionen verwiesen.
(®) No.480. (8.16. I. de obl. qu. ex del. 4.1.) Quasi rem commodatam marito uxor
rapuerit, ei qui commodatum dedit. Contra uxorem non competit actio, sed tantum con-
tra maritum; nam hoc me legitur Zidro sexto Codieis, titulo de furtis, const. ultima.
Dies ist c. 22. 8.4. de furt. 6.2. welche zu Justinian’s Decisionen gehört. S. E. Me-
rillius a.a. O. no. XII. p. 31. sggq.
(422) Vergl. die beiden Beweisstellen oben zu Anfang von Anm. 103. Die c.1. C. de
caduc. toll. 6. 51. ist vom 1t. Junius 534., mithin zu einer Zeit redigirt, als die (um die
Mitte Novembers des nämlichen Jahres veröffentlichte,) Umarbeitung der Justinianischen
Constitutionen-Sammlung sicherlich schon begonnen hatte. Dadurch wird die Voraus-
setzung widerlegt, dals der Kaiser damals ohne Vorbehalt auf eine selbstständige Deci-
sionen-Sammlung, auch wenn eine solche vorhanden gewesen wäre, werde Bezug ge-
nommen haben.
(9%) Const. Cordi nobis est. $.2.
Z2
180 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
stems unterzubringen. Ähnlich wie das hinterher (111) über die congregatio
der künftig zu erlassenden novellae leges angedeutete nicht von einer amtli-
chen Novellen-Sammlung aufzufassen ist, sondern lediglich von der Auf-
nahme der neuen Gesetze in die Register der acta publica. (!!?) Ziehen wir
nunmehr das Resultat, so dürfte die Behauptung kaum noch als gewagt er-
scheinen, es sei in der Phrase unserer Glosse: sicut Libro L. constitutionum
invenies, durchaus nicht die Hinweisung auf eine selbstständige Deeisionen -
Sammlung enthalten, sondern lediglich die minder genaue Bezeichnung eines
Citates aus dem Codex repetitae praelectionis, in welchem die vereinzelte in
Frage stehende Decision (c.10. de adopt. 8. 48.) ihre Stelle gefunden hat.
Erwägt man nämlich, dafs in dem vorliegenden Texte der Institutionen von
dem Inhalte dieser Decision Justinian’s nicht im Zusammenhange gehandelt,
sondern nur auf die Wirkungen derselben bezüglich des gesetzlichen Erbfol-
gerechts der Adoptivkinder hingedeutet werden sollte, so erscheint eine all-
gemeine Verweisung des Glossators auf die neueste durch das Constitutio-
nen-Recht bewirkte Reform genügend gerechtfertigt; zumal da ähnliche
Verweisungen auch an andern Stellen unserer Glosse (!!?) anzutreffen sind.
Es steht demnach zu vermuthen, dafs jene Worte: in libro L. constitutionum,
nicht einmal der Kritik bedürfen, z.B. der Veränderung: in ibro VIII. con-
stitutionum; sondern dafs sie einfach also hergestellt werden können: in li-
bris constitutionum, oder in libro C. (d.i. Caesarear., oder: J.d.i. Imperial-
ium) conslitulionum.
Von ungleich geringerer Beweiskraft, für die postulirte Abstammung
der Turiner Institutionen-Glosse aus dem Zeitalter Justinian’s, ist die bei-
läufige Bezeichnung einer Verfügung dieses Kaisers als constitutio domini no-
(''') Ebendas. $. 4.
(2) S. Biener a.a.O. S.38. fg. der entsprechende Äusserungen aus einzelnen No-
vellen Justinian’s zusammengestellt hat.
(') No. 272. (8.3. I. de S. C. Tertull. 3. 3.) Bene dixit. — — Post Codicem autem
constitutionum haec omnia mutavit. Auch in Beziehung auf einzelne reformirende Con-
stitutionen der Vorgänger Justinian’s kommen dergleichen allgemeine Verweisungen vor;
z.B. No. 301. ($.12. I. de grad. cogn. 3.6.) Plerurnque dixit; propter sororis filios, quos
inter agnatos ad successionem vocans aliis agnatis inferioris gradus praeponit vel Anastasii
constitutio fratres emancipatos.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 181
stri. (1'%) Es findet diese Ausdrucksweise ihre vollständige Erledigung in der
oben versuchten Ausführung, dafs unser Glossator überall den Standpunkt
Justinian’s in’s Auge gefasst und die Anschauungsweise dieses Kaisers sich
selbst anzueignen gesucht habe. Dies geht so weit, dafs in dem Bericht über
einzelne, durch Justinian’s Gesetzgebung bewirkte, Reformen der Scholiast
bisweilen den Redeausdruck so redigirt hat, als ob der Zeitpunkt der erlas-
senen abändernden Verfügung zusammengefallen sei mit dem Zeitalter des
Referenten. (1%) Die ausdrückliche Bezeichnung dominus noster für den
genannten Kaiser erklärt sich daher eben so einfach als wie die, durch alle
Theile der Glosse hindurchgehende, Apostrophirung Justinian’s in der dritten
Person. (1!%) Für die Chronologie des Ursprunges dieser Scholien kann aus
solchen Prämissen kein bündiger Schluss abgeleitet werden.
Und in derselben Weise sind auch die vielbesprochenen Mittheilungen
des Glossators über die Patrieiü, (117) gleichwie über den Juridicus Ale-
xandriae ('!°) aufzufassen; nämlich als angepasst den Staatseinrichtungen im
Zeitalter Justinian’s, und nicht als hervorgegangen aus der eigenen unmittel-
baren Anschauung des Verfassers dieser Scholien.
Dafs in der zuerst genannteu Stelle von dem Exarchen zu Ravenna
die Rede sei, (11%) beruht auf einer durchaus unerweislichen Voraussetzung.
Es wird vielmehr in dieser Glosse, nach dem Vorgange des commentirten
Institutionen- Textes, von der, bis auf Justinian gültig gewesenen und auch
('°) No.12. (8.5. I. de Atil. tut. 1.20.) Id est rem salvam pupillo fore, per tabel-
lionem vel officium. Sed et cautionem per constitutionem domini nostri coguntur emittere.
(''?) No. 215. (8.3. I. de legat. 2. 20.) Hoc deerat legatis, quia legata etc. — Merito
nunc exaequanda sunt, quia legata quibuscunque verbis possunt sicuti fideicommissa di-
mitti, et fideicommissa necessitatem in se continent legatorum.
(1%) S. oben Anm. 82.
(7) No.9. ($-4. I. de Atil. tut. 1. 20.) Iurisdictio eorum est haec: ut puta a patri-
ciis usque ad illustres praefectus praetorio tutores dat; ab illustribus usque ad inferiores
praetor; in provineiis autem praesides ex inquisitione, quam superius diximus, tutores dant.
Sciendum est autem, quia et patricii (l. pazriciis) dare possunt tutores in provinciis, quia
in novellis dicitur, praesides vicem imperatoris obtinent.
(''®) No. 11. (8. 5. I. eod. 1.20.) Iuridicia apud Alexandriam certa dignitas est, qui
etiam privilegiis utuntur.
119) Vergl. Savieny a.a.0©. S. 203.
5) 5 Bay
182 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
an andern Stellen der röm. Rechtsquellen (!?°) berührten, Regel gehandelt,
dafs in der Hauptstadt des gesammten Reiches (in dem neuen Rom,) die
Competenz des prätorianischen Präfecten für die Ernennung obrigkeitlicher
Vormünder, gegenüber jener des Prätors, nach dem Standes-und Rang-Ver-
hältnis der Mündel begrenzt war, während in den Provinzen die äusserliche
Stellung der Mündel nicht den Ausschlag gab, vielmehr der Praeses pro-
vinciae eigentlich überall für eine solche Bestellung von Vormündern als
competent erschien und lediglich bei unbemittelten Pupillen die Localbe-
hörden zur Aushülfe ermächtigt waren, jenes Geschäft sich anzueignen. Auf
diese Entgegenstellung der Kaiserstadt und der Provinzen hat die Glosse ent-
schieden Rücksicht genommen, ohne gleichwohl denselben in directer Re-
deform hervorzuheben. Sie erinnert nämlich bei den zu bevormundenden
Descendenten der Patricü, dafs dieselben, gleich den Mündeln niederen Ran-
ges, einen obrigkeitlichen Vormund durch den Statthalter der Provinz bei-
geordnet erhalten, sobald sie in dieser Provinz ihren Wohnsitz haben. Dafs
die Glosse ihren Bericht so abgefasst hat, als schildere sie nur das zu ihrer
Zeit in der Praxis geltende Recht, — auf welche Wahrnehmung Niebuhr
seine Hypothese gestützt hat, es sei diese Darstellung als ein treues Gemälde
der im Zeitalter des Exarchates gültig gewesenen römisch -rechtlichen Praxis
anzusprechen, — erklärt sich aus der knechtischen Nachahmung der in dem
commentirten Institutionen-Text hervortretenden Formen des Redeausdrucks.
Denn ganz entsprechend lautet die Mittheilung in $.4.J.1.1.20., nur dafs
hinterher (in $.5. eod.) auch noch der Veränderung gedacht ist, welche Ju-
stinian’s Gesetzgebung ('?') in Beziehung auf die Competenz der Localbehör-
den in den Provinzen herbeigeführt hatte. Auch die Äusserung des Scholia-
sten: quia in novellis dieitur, für welche man eine dem Inhalt entsprechende
Verfügung in Justinian’s Novellen zu ermitteln vergeblich bemüht gewesen
ist, (122) erscheint dem Sprachgebrauche der Rechtsbücher Justinian’s nach-
gebildet. Denn gleichwie in diesen (123) das ältere Recht mit dem Oollectiv-
('?%) Theod. Cod. IH. 17. e.3. de tutor. et cur. creand. (ec. 1. Just. Cod. de tutor.
v. cur. illustr. 9. 33.)
(*'!) c.30. €. de episc. aud. 1. 4.
() Biener a.a.O. S, 228.
(>) c.1. GC. 1.9.88:
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 183
Namen der veteres, s. antiquae leges bezeichnet ist, so glaubte der Glossator
den Ausdruck norellae leges für das zur Zeit Justinian’s überhaupt geltende
Recht, d.h. für das neuere Oonstitutionen-Recht, an diesem Orte gebrau-
chen zu dürfen, wie er dies auch an einer andern Stelle, (!**) nach dem Vor-
gange Jnstinian’s, versucht hat.
Nicht minder unerweislich ist es, wenn Niebuhr in der zweiten oben
eitirten Glosse eine Schilderung gewahr werden will von dem Zustande Äeyp-
tens zur Zeit der Abfassung unserer Scholien, und daraus folgert dafs deren
Redaction vor dem Untergange der byzantinischen Herrschaft in Alexandrien,
d.h. vor dem Jahre 640. n. Chr. zu Stande gekommen sein müsse. Wir wer-
den in dieser Mittheilung vielmehr nur die Wiederholung des oben bespro-
chenen Verfahrens unsers Glossators anzuerkennen haben, Dunkelheiten des
Institutionen- Textes aus dem Inhalte von Parallelstellen anderer Rechtsbü-
cher Justinian’s aufzuklären. So ist hier Gebrauch gemacht von einem Frag-
mente Ulpian’s (!”°) in dem einschlagenden Abschnitt der Justinianischen
Pandekten. Die kurzgefasste Äusserung dieses Juristen lässt freilich keinen
Zweifel über den Begriff des fraglichen Beamten, allein sie nimmt auf die
Competenz desselben nur in einer vereinzelten Richtung von dessen Amts-
thätigkeit Bezug. Daher ist der ungeschickte Zusatz in die Glosse gerathen:
gewöhnliche Form
ie)
des Ausdruckes: Juridicia, für Juridicatus, (1°) zu der Folgerung, dafs
qui eliam privilegüs utuntur. Überdem berechtigt die un
unser Glossator hier einen Gegenstand behandelt habe, welcher dem Kreise
der Vorstellungen seines Zeitalters bereits entrückt war.
Endlich hat man bei der Bestimmung der Chronologie für die Turiner
Institutionen-Glosse den Umstand geltend gemacht, dafs darin vereinzelte
Spuren zu erkennen seien von einer unmittelbaren Benutzung der Institutio-
nen des Gaius. Es ist nämlich zu diesem Behuf auf den Bericht der Glosse
(”) No. 281. (8-2. J. de S. C. Orphit. 3. 4. Propter illam regulam, qua novae he-
reditates legitimae capitis deminutione non pereunt etc. Novas appellat, quas hie noviter
emendavit; qui per antiquam expellebantur, modo veniunt, i.e. nepotes. Vergl. No. 178.
(8. 5. J. de exher. liber. 2.13.) No. 421. (Pr. J. de emt. 3. 23.)
(‘) Fr. 2. D. de off. Jurid. 1.20. Ulpianus lib. 39. ad Sabin. Juridico, qui Alexan-
driae agit, datio tutoris constitutione D. Marei concessa est.
('*) S. oben Anm. 88a. Vergl. des Verf. Scriptores Histor. Aug. S. 96. Anm. 31.
Lpzg. 1842. 8.
184 Dinxsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus
über die nuncupatio beim Maneipations- Testament, (177) und über das fur-
tum lance et licio conceplum, ('?°) verwiesen worden. Denn daran hat man
die Behauptung geknüpft, jene erste Notiz könne deshalb nicht aus dem ent-
sprechenden Berichte des Isidorus (!??) geflossen sein, weil dieser Glossa-
tor nicht nöthig gehabt habe zu einer so trüben Quelle seine Zuflucht zu
nehmen; die andere Mittheilung aber lasse sich nicht auf die conforme Aus-
sage des Epitomators von Festus (!°) zurückführen, indem sie augenschein-
lich mehr enthalte als diese. Gleichwohl dürfte die Ableitung der zuerst
genannten Glosse aus dem Texte Isidor’s kaum einem ernstlichen Bedenken
unterliegen. Die Wahl und Folge der Ausdrücke, insoweit beide von dem
Original- Text des Gaius abweichen, ist bei unserm Scholiasten genau die-
selbe wie in dem Referate des Bischofs von Sevilla; und da eine solche Über-
einstimmung unmöglich das Werk des blossen Zufalls sein kann, so bleibt
(7) No.199. (Pr. J. Qu. mod. testam. infirm. 2. 17.) Nuncupatio est, quam in tabu-
lis cerisque testator recitat dicens: „Haec ut in his tabulis cerisque scripta sunt, ita dico,
ita lego, itaque vos, cives romani, testimonium mihi praebete.” Et hoc dieitur nuncupa-
tio; nuncupare est enim palam nominare, confirmare. Vergl. Niebuhr a.a.O. Savigny
ebds. S. 203.
(') No.466. ($.4. J. de oblig. qu. ex del. 4.1.) Ita enim fiebat ut is, qui in alie-
nam domum introibat ad requirendam rem furtivam, nudus ingrediebatur, discum fietile in
capite portans, utrisque manibus detentus (l. detentis.) Vergl. Savigny ebends. und A.
a Vangerow D. de furto concepto ex L. XII Tabular. p. 14. sq. Heidelb. 1845. 4.
(Dr Isidori origin. V.24. Nuncupatio est, quam in tabulis cerisque testator recitat,
dicens: „Haec ut in his tabulis cerisque scripta sunt, ita dico, ita lego, itaque vos cives
romani testimonium mihi perhibete. Et hoc dieitur nuncupatio; nuncupare enim est pa-
lam nominare et confirmare. Das benutzte Original lautet aber also. Gaius inst. comm.
II. 104. Deinde testator tabulas testamenti tenens ila dieit: „„Haec ita ut in his tabulis
cerisque scripta sunt, ita do, ita lego, ita testor, itaque vos (uirites testimonium mihi
perhibetote!” Et hoc dieitur nuncupatio; nuncupare est enim palam nominare. Über die
Voraussetzung, dals des Gaius Institutionen vielmehr nur in einer späteren Compilation
dem Isidor zugänglich gewesen seien, vergl. des Verf. Abhandlg: Üb. d. durch Isidor
benutzten Quellen d. R. Rs.
(°°) Paulus ap. Festum v. Lance et licio dicebatur apud antiquos, quia qui furtum
ibat quaerere in domo aliena, licio einetus intrabat, lancemque ante oculos tenebat, prop-
ter matrumfamiliae aut virginum praesentiam. Vergl. Gaius a.a. O. III. 192. Lex autem
eo nomine nullam poenam constituit; hoc solum praecipit ut, qui quaerere velit nudus
quaerat, linteo cinctus, lancem habens: qui si quid invenerit, iubet lex furtum manifestum
esse.
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 185
nur die Wahl, die Darstellung der Glosse als die Copie der Ausführung Isi-
dor’s gelten zu lassen, oder diesen als den Nachtreter unsers Scholiasten
anzuerkennen, indem die Voraussetzung einer andern, von beiden gemein-
schaftlich benutzten Compilation durchaus unerweislich erscheint. In dem
zweiten Artikel ist die Epitome des Festus durch den Glossator zwar nicht
buchstäblich copirt, wohl aber frei paraphrasirt worden. Die Bezeichnung
des, die Haussuchung nach dem gestohlenen Gute leitenden, Individuums
als eines Unbekleideten findet man genügend charakterisirt in der Angabe je-
ner Epitome, dafs die in Frage stehende Person das Gesicht verhüllt gehabt
habe, um von den weiblichen Hausbewohnern nicht erkannt zu werden.
Und der Zusatz des Glossators, es habe der Suchende ein irdenes Gefäss
auf dem Haupte getragen, ist ebensowenig aus Festus wie aus Gaius ent-
lehnt, sondern vielleicht aus der eigenen Deutung eines unbekannten Com-
pilators späterer Zeit, den der Glossator hier benutzt haben mag, hervor-
gegangen.
Die vorstehende Untersuchung dürfte einen Beitrag liefern zur Ent-
kräftung der herrschenden Ansicht von dem hohen Alterthum der sg. Turiner
Institutionen -Glosse und von der Benutzung Vor-Justinianischer Rechts-
quellen durch dieselbe. Unserer Überzeugung nach ist die Redaction dieser
Glosse nicht erheblich früher als das Zeitalter zu setzen, welchem jene Tu-
riner Institutionen-Handschrift selbst angehört, d.h. vor dem neunten oder
zehnten Jahrhundert. Denn da das Ganze aus einem ursprünglichen Text
und aus Nachträgen zu demselben besteht, so kann freilich der Gesammt-
Apparat dieser Scholien nicht durchaus gleichzeitig mit der Entstehung der
Turiner Institutionen-Handschrift verfasst sein. Der Zustand der Kunde des
römischen Rechts in Italien während des bezeichneten Zeitraumes (131) ver-
stattete gar wohl das Zustandekommen einer solchen Arbeit, wie die in Frage
stehende, und die durch den Glossator benutzten Compilationen des Isi-
dorus, gleichwie des Epitomators von Festus, (!°?) waren in den Händen
der damaligen Gelehrten; wie deren Benutzung in ähnlichen auf uns gekom-
(®') Vergl. Savigny a.a.O. Bd. 4. Cap. 26. fg.
(2) Vergl. des Verf. Abhdlg: Über die Collat. LL. Mos. Im Anbhange. (Jahrg. 1846.
der Abhdlgg. d. K. Akad. d. W.)
Philos. - histor. Kl. 1847. Aa
186 Dinxsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus u.s.w.
menen Redactionen römischrechtlicher Materialien für die juristische Termi-
nologie, die dem Mittelalter angehören, nicht zu verkennen ist. (1°?)
(?) S. E. Schrader Prodrom. Corp. iur. civ. edendi. p. 46. sq. not. 6. Berol. 1823.
8. und des Verf. System d. jurist. Lexicographie. S. 20. fg. Lpz. 1834. 8.
—— aa huu——
ÜBER DAS PEDANTISCHE IN DER
DEUTSCHEN SPRACHE
von herrn JACOB GRIMM.
unnmnnnnnaa
[gelesen in der öffentlichen sitzung vom 21 october 1847.]
\ Ver gelobt hat darf auch einmal schelten. ich war von jugend an auf
die ehre unsrer sprache beflissen, und wie, um mich eines platonischen gleich-
nisses zu bedienen, die hirten hungerndem vieh einen grünen laubzweig vor-
halten und es damit leiten wohin sie wollen, hätte man mich mit einem alt-
deutschen buch durch das land locken können. Als es mir hernach gelang
einige vormals verkannte tugenden dieser sprache, da sie von natur blöde ist,
aufzudecken, und ihr den rang wieder zu sichern, auf welchen sie unter den
übrigen von rechtswegen anspruch hat; so konnte es nicht fehlen, dafs ich
auch vielerlei schaden kennen lernte, an dem sie offen und geheim leidet.
Es scheint nun aller mühe werth uns über solche gebrechen nichts zu ver-
hehlen, denn wenn sie schon nicht ganz zu heben sind, beginnt doch ein ern-
stes gemüt von seiner angewöhnung abzuweichen und sich liebevoll auf den
besseren pfad zu kehren, der ihm gezeigt worden ist; ernst und liebe stehn
uns Deutschen, nach dem dichter, wol, ach die so manches enistellt.
Erwäge ich die schwächen unsrer sprache, von denen sie am meisten
gedrückt ist, nicht blofs im einzelnen sondern allgemeinen, so stellt sich mir
eine ihrer eigenschaften heraus, die ich heute zum gegenstand näherer be-
trachtung machen will und nicht anders bezeichnen kann, als es am eingang
geschehen ist.
Da die innersten vorzüge und mängel der sprachen stärker als man
wähnt und sogar mehr als andere besitzthümer mit der sinnlichen wie geisti-
gen natur und anlage der völker, welchen sie gehören, zusammenhängen, so
kann es nicht befremden, dafs ich in der art und weise der Deutschen über-
haupt oft schon die richtung wieder finde, die ich im begrif stehe zu schil-
dern. sie greift, von der bessern seite genommen, ein in unsere bedächtige
genauigkeit und treue, und es würde schwer halten sie mit stumpf und stil
Aa?
188 J. Gxzımm
auszurotten, ohne diesen treflichen grundzug unseres characters mit zu ver-
letzen. Das pedantische aber, glaube ich, wenn es früher noch gar nicht
vorhanden gewesen wäre, würden die Deutschen zuerst erfunden haben.
Man versetze sich in einen kreis von diplomaten, denen es obliegt in ver-
wickelter lage die geschicke der länder zu wägen, und forsche, von welcher
seite aus in kleinigkeiten hundert anstände und schwierigkeiten erhoben wer-
den, in der hauptsache der verhandlung leichtestes nachgeben und ablassen
eintrete; es kann keine andere als die der deutschen gesandten sein, und un-
sere nachbarn haben ihren vortheil daraus zu ziehen lange schon verstanden.
eben das ist pedanterei, im geringfügigen eigensinnig zu widerstreben und
nicht zu gewahren, dafs uns daneben ein grofser gewinn entschlüpft, daher
auch im lustspiel der pedant jedesmal der braut, um die er geworben hat,
verlustig geht. er hat für das neue keinen enthusiasmus, nur krittelei, für
das hergekommne taube beschönigungen, ohne allen trieb ihm auf den grund
zu sehn.
In der sprache aber heifst pedantisch, sich wie ein schulmeister auf
die gelehrte, wie ein schulknabe auf die gelernte regel alles einbilden und
vor lauter bäumen den wald nicht sehn; entweder an der oberfläche jener
regel kleben und von den sie lebendig einschränkenden ausnahmen nichts
wissen, oder die hinter vorgedrungnen ausnahmen still blickende regel gar
nicht ahnen. alle grammatischen ausnahmen scheinen mir nachzügler alter
regeln, die noch hier und da zucken, oder vorboten neuer regeln, die über
kurz oder lang einbrechen werden. die pedantische ansicht der grammatik
schaut über die schranke der sie befangenden gegenwart weder zurück, noch
hinaus, mit gleich verstockter beharrlichkeit lehnt sie sich auf wider alles in
der sprache veraltende, das sie nicht länger fafst, und wider die keime einer
künftigen entfaltung, die sie in ihrer seichten gewohnheit stören.
Es würde mir nun leicht sein, wenn ich blofs ins einzelne gehn wollte,
beispiele zu greifen, die das bild des pedanten keinen augenblick verkennen
lassen. er schreibt mogte für mochte, weil nach mögen blickend er vom
schönen uralten wandel der consonanten nichts weils und sich weder auf
macht, noch das lateinische agere actus besinnt. das richtige muste für sein
mufste oder gar musste läfst er sich von keinem sterblichen einreden. ein
Engländer oder Franzose würde lachen, geschähe ihnen anmutung deminutif
I)
und deminutive zuschreiben; aber der Deutsche meint sich schämen zu müssen
über das pedantische in der deutschen sprache. 189
x
wollte er länger di für de behalten, seit ihm die philologen eingebildet haben,
nur de im lateinischen worte sei recht. überhaupt entstellt der pedant ungern
fremde wörter, und möchte wie Tataren für Tartaren, Petrarca für Petrarch,
chamomille für kamille wieder einführen; zur hauptangelegenheit aber wird es
ihm teutsch für deutsch zu schreiben, weil es heifse Teutonen, da doch das lat.
T gerade der schlagendste grund für das deutsche D in diesem wort ist und
niemand darauf verfällt Tietrich an die stelle von Dietrich, worin dieselbe
wurzel steckt, zu setzen. Am allermeisten in seinem wesen fühlt er sich,
wenn sachkenntnisse ihn ermächtigen die sprache zu bessern; er wird seiner
schwindsüchtigen frau nicht eselsmilch (?), nur eselinnenmilch zu trinken an-
rathen, und selbst den unschuldigen namen der euphorbia cyparissus, wolfs-
milch, wäre er nach solcher analogie zu berichtigen versucht, obgleich auch
die wölfin ihre milch nicht gegeben hat, als dies kraut erschaffen wurde.
Zeichenlehrer, rechenmeister kommen dem pedant höchst albern vor und wer-
den durch zeichnenlehrer, rechnenmeister ersetzt, als dürfte unsre sprache ir-
gend in eine zusammensetzung den baaren infinitiv aufnehmen. “am ersten mai’
zu setzen vermeidet er, es müsse heilsen ‘am ersten des mais’, nemlich tage. In
der syntax sind ihm unterschiede nahe liegender constructionen zuwider, wie
zwischen wein trinken und weines trinken, zwischen was hilft mich? und was
hilft mir? dort soll blofs der accusativ, hier blofs der dativ gerecht sein.
Keine einzige aller europäischen sprachen hat so ungebärdige schlecht be-
holfne übertragungen technischer und grammatischer ausdrücke hervorge-
gebracht, vom zeugefall, klagefall und ruffall an bis zur anzeigenden und be-
dingenden art herab, wie sie in deutschen büchern stehn.
Man sollte glauben, dafs bei dem schönen ihr eignen hang zu schmuck-
loser einfachheit unsere sprache vorzugsweise für übersetzungen geschickt
sei; und bis auf einen gewissen grad gibt sie sich auch gern dazu her. Es
heifst jedoch den werth dieser unter uns allzusehr eingerissenen unersättli-
chen verdeutschungen fast jedes fremden werkes von ruf übertreiben, wenn
sogar behauptet worden ist, einzelne derselben seien so gelungen, dafs sich
aus ihnen der urtext, wenn er abhanden käme, herstellen lassen würde. Ich
wenigstens bekenne, keinen begrif davon zu haben, dafs selbst aus Schlegels
. . «e .% A . .
(‘) wie der Grieche ö und 7 ovos, sagte auch der Gothe sa und sö asilus und beide
= « = & ® - e ‚
bilden den gen. asilaus. goth. wäre also asilaus miluks so genau wie das gr. immouoryos.
190 J. Grimm
oder Vossens worten ein Shakspeare oder Homer auferstehn sollte, so ge-
waltig wie der englische und griechische in ihrer wunderbaren schönheit.
Was übersetzen auf sich habe, läfst sich mit demselben wort, dessen accent
ich blofs zu ändern brauche, deutlich machen: übersetzen ist übersetzen,
traducere navem. wer nun zur seefart aufgelegt, ein schif bemannen und mit
vollem segel an das gestade jenseits führen kann, mufs dennoch landen, wo
andrer boden ist und andre luft streicht. wir übertragen treu, weil wir uns
in alle eigenheiten der fremden zunge einsaugen und uns das herz fassen sie
nachzuahmen, aber allzutreu, weil sich form und gehalt der wörter in zwei
sprachen niemals genau decken können und was jene gewinnt dieser einbüfst.
während also die freien übersetzungen blofs den gedanken erreichen wollen
und die schönheit des gewandes daran geben, mühen sich die strengen das
gewand nachzuweben pedantisch ab und bleiben hinter dem urtext stehn,
dessen form und inhalt ungesucht und natürlich zusammenstimmen. Nach-
ahmung lateinischer oder griechischer verse zwingt uns die deutschen worte
zu drängen, auf die gefahr hin dem sinn gewalt anzuthun; übertragne prosa
pflegt alsogleich breiter zu gerathen, wie beim hinzuhalten des originals in
die augen fällt. vordem, eh die treuen übersetzungen aufkamen, kann man
beinah als regel annehmen, dafs zwei lateinische oder griechische verse zu
vier deutschen zeilen wurden; so sehr versagte sich unsere sprache gedrung-
nem, gedankenschwerem ausdruck. Es wäre undankbar die grofse wirksam-
keit unumgänglicher übersetzungen in der geschichte unsrer sprache, deren
älteste denkmäler geradezu darauf beruhen, herabsetzen zu wollen; ich finde
dafs der Gothe Ulfilas, der vom fufse des Haemus her deutschen laut auf
ewige zeiten erschallen liefs, mit bewunderungswerther treue und fast fessel-
los sich den formen des urtextes anschlofs; aber schon die frühsten unvol-
lendeten versuche in hochdeutscher mundart reichen ihm lange nicht das
wasser.
Dieser standpunkt der deutschen sprache gegenüber den werken frem-
der zunge fiel zu allererst ins auge; ich will aber noch weiter ins allgemeine
vorschreiten und aus unserer sprache selbst einzelne züge hervorheben, die
mir zugleich von der sitte und gewohnheit unseres volks unzertrennbar schei-
nen und desto mehr zu statten kommen. Wie vermögen wir in übersetzun-
gen die volle einfachheit der alten zu erreichen, wenn uns in unsrer täglichen
ausdrucksweise, unbesiegbare und fast persönliche hindernisse im weg stehn?
über das pedantische in der deutschen sprache. 191
wir sind dann genöthigt doppelter sprache zu 'pflegen, einer für das buch,
einer andern im leben, und können die gröfsere wärme des lebens nicht un-
mittelbar dem ausdruck des buchs lassen angedeihen. persönlich darf ich
vor allem nennen, was die bezeichnung der person in der rede selbst angeht.
Oft habe ich mir die frage gestellt, wie ein volk, das durch sein auf-
treten den lebendigen hauch der fast erstorbnen freiheit in Europa anfachte,
ein volk dessen rohe kraft noch frisch und ungekünstelt war, allmälich den
unnatürlichsten und verschrobensten formen der rede verfallen konnte? Die
thatsache selbst, wie gleichgültig sie uns heute trift, ist so ungeheuer und so
vielfach mit unsrer lebensart verwachsen, dafs die betrachtung nicht unter-
lassen mag darauf zurück zu lenken. unsere sprache verwischt den von der
natur selbst eingeprägten unterschied der person und der einheit auf thö-
richte weise. den einzelnen, der uns gegenüber steht, reden wir unter die
augen nicht mit dem ihm gebührenden du an, sondern gebärden uns als sei
er in zwei oder mehr theile gespalten und müsse mit dem pronomen der
mehrzahl angesprochen werden. dem gemäfs wird nun zwar auch das zu
dem pronomen gehörige verbum in den pluralis gesetzt, allein das attribu-
tive oder praedieierende adjeetivum im singularis gelassen, einem grundsatz
der grammatik zum trotz, welcher gleichen numerus für subject, praedicat
und verbum erfordert.
Zur entschuldigung dieses unvernünftigen gebrauchs, auf dessen ur-
sprung ich hernach zurück kommen werde, läfst sich allerdings anführen,
dafs die ganze neue welt willig ähnliche bürde trägt und z.b. in der franzö-
sischen sprache, deren adjectivflexion für das praedicat besser erhalten ist,
als die unsrige, jenes grammatische gleichmafs ebenso verhöhnt wird, da es
heifst vous etes bon, vous &tes bonne, also neben dem pluralis des verbums
des singularis des adjectivs eintritt. Was scheint unpassender als zu sagen:
unglücklicher, ihr seid verloren, statt des einfachen: miser periisti! Es ist
die schwüle luft galanter höflichkeit in der ganz Europa seinen natürlichen
ausdruck preisgab; wir Deutschen aber sind nicht dabei stehn geblieben, son-
dern haben den widersinn dadurch pedantisch gesteigert, dafs wir nicht ein-
mal die zweite person in ihrem recht, sondern dafür die dritte eintreten las-
sen, wozu wiederum das begleitende verbum in die tertia pluralis gestellt
wird, während das adj. den sg. beibehält. also statt des ursprünglichen,
allein rechtfertigen du bist gut verwöhnten wir uns erst: ihr seid gut und end-
192 J. Grimm
lich zu sagen: sie sind gut, gleichsam als sei eine dritte gar nicht anwesende
und nicht die angeredete person gemeint. Welche zweideutigkeiten aus die-
ser verstellung der formen allenthalben hervorgehn können, welche verwir-
rung des possessivums verursacht wird, da die pluralform aller geschlechter
der weiblichen des sg. begegnet, leuchtet von selbst ein. nur das habe ich
beizufügen, dafs die dritte statt der zweiten person im pluralis gerade eine
beklagenswerthe eigenheit der herschenden hochdeutschen mundart ist, in-
dem die übrigen bis auf geringe anflüge des verderbnisses wenigstens die.
zweite person in ihrem natürlichen recht ungekränkt lassen.
Ein kleiner oder grofser trost, zugleich die volle verurtheilung des
misbrauchs, bleibt uns der, dafs die alles läuternde und gern lauter in sich
aufnehmende poesie fortwährend den gebrauch des herzlichen einfachen du
in der anrede geheiligt, ja verlangt hat, und könnte uns von irgendher eine
rückkehr zu dem weg der natur gezeigt werden, so müste es durch sie ge-
schehn. Auch bedient sich noch heute die zutrauliche, jener falschen zier
müde rede und sogar die feierliche anrufung gottes des edeln du, das der alte
Franke ebenso festgemut seinem könige zurief, wenn er ein: heil wis chu-
ninc(!)! heil dü herro, liobo truhtin, edil Franko! erschallen liefs.
Die steigerung schwer zu sättigender höflichkeit ist freilich nicht
aus dem volk, das sich zulängst dawider sträubte, hervorgegangen, sondern
ihm von oben, durch die vornehmen stände zugebracht worden. Als unsere
könige und fürsten, schmuckloser einfalt ihres alterthums uneingedenk, by-
zantinische pracht und den schauprunk verderbter kaiserzeit annahmen von
sich selbst ein majestätisches wir gebrauchend, muste ihnen auch mit ihr er-
wiedert werden, und wenn andern ständen nachahmung des wir nicht ver-
stattet war, blieb es unverwehrt in der anrede und antwort jedem höheren
mit ihr zu schmeicheln; einem lauffeuer gleich verbreitete sich unter den ge-
bildeten des volks diese abweichung von der gesunden regel. Ich habe ihre
unermüdlichen stufen anderwärts nachgewiesen und dargethan, dafs das am
meisten zu verwünschende "sie’ aus einer verstärkung der dritten person des
singularis, doch nicht viel länger als seit hundert und funfzig jahren unter
uns in Deutschland entsprossen ist. Welch ein geringes alter gegenüber dem
5
hohen unserer sprache insgemein, und welch ein ursprung zur unseligsten
(‘) der Angelsachse: väs häl cyning!
über das pedantische in der deutschen sprache. 193
zeit, die auf den dreifsigjährigen krieg, Deutschlands innerste schmach
folgte, als beinahe jedes gefühl der würde unserer sprache und nation erlo-
schen war.
Weil aber das widernatürliche an der stelle wo es begonnen hat selten
einzuhalten pflegt, sondern um sich zu greifen trachtet, so ist auch allmälich
unter uns für die anrede unserer fürsten und könige eine aufgedunsene aus-
drucksweise der höflinge und geschäftsleute eingerissen, wie sie kein einziges
anderes volk in Europa angenommen hat. Mit einführung griechischer oder
römischer ceremonie schien für die mächtigen der welt die letzte staffel auf
der leiter solcher äufserlichen ehre lange noch nicht erreicht; anfangs walte-
ten alle titel der majestät blofs in lateinischer canzleisprache, die zum volk
nicht so schnell vordringen konnte. Bei den dichtern unseres mittelalters
bis ins dreizehnte, vierzehnte jahrhundert hinab ist noch keine spur, dafs
einem könig oder fürsten, so häufig sie angeredet werden, jemals der name
majestät oder durchlaucht beigelegt wäre. diese titel waren und klangen zu
undeutsch, wie gangbar schon lange zeit der ausdruck durhliohtan für trans-
lucere, durhliuhtie für illustris gewesen war. Erst die an sich heilsame ver-
wendung deutscher sprache für urkunden, welche im dreizehnten Jh. hin und
wieder begann, im vierzehnten und funfzehnten allgemein ward, scheint das
übersetzen lateinischer canzleiformen nach sich gezogen und dem hergebrach-
ten deutschen ausdruck gewalt angethan zu haben. An Carl des vierten,
wenn ich nicht irre, wenigstens Friedrich des dritten hof mochte sich der
deutsche titel majestät volksmälsig festsetzen; zu Maximilians tagen begeg-
nen wir ihm allenthalben, und für den kaiser, als den ansehnlichsten aller
europäischen fürsten, pflegte man den superlativ gnädigster und durchlauch-
tigster, der an sich schon die volle potenz dieser begriffe erreicht, noch durch
voraussendung des gen. pl. aller d. i. omnium zu erhöhen, wie wir von alters
her auch allerliebst, allertheuerst, allerletzt sagen. Von dieser zeit an findet
sich allerdurchlauchtigster in der anrede des kaisers, und bald auf die der kö-
nige erstreckt, jetzt auch auf die der übrigen fürsten, welche ohne könige zu
heifsen königliche ehre in anspruch nehmen, so dafs der einschränkende begrif
des worts durch seine ausgedehnte anwendung in sich aufgehoben scheint.
Seit der mitte des vorigen Jahrhunderts that nun die höfische sprache noch
einen schritt, indem sie neben dieser anrede und nicht blofs in der anrede
Philos.- histor. Kl. 1847. Bb
194 J. Grimm
sondern auch wenn von dritter person gesprochen und erzählt wird(1), das
einfache persönliche und relative pronomen, wo es sich auf fürsten bezieht,
zu gebrauchen scheut, ohne es mit dem vorsatz höchst und allerhöchst zu
verbinden (?) und gleichsam dadurch zu verschleiern; pedantischeres und
steiferes kann es nichts geben. unsere hof und geschäftssprache ist dahin ge-
bracht, dafs sie im angesicht und im kreis der fürsten nirgend mehr natürlich
reden darf, sondern ihre worte erst in die verschlingenden fäden unablässig
wiederholter und schon darum nichtssagender praefixe und superlative einzu-
wickeln gezwungen ist. alle daraus entspringenden redensarten wären gera-
dezu unübersetzbar in die französische und italienische sprache, welche nach-
dem einmal die majestät angeredet ist, immer einfaches elle oder ella folgen
lassen; das kann uns den prüfstein für unsern misbrauch abgeben. Sonst in
Europa haben lediglich die vom deutschen ceremoniell abhängigen oder an-
gesteckten höfe in Holland, Dänemark und Schweden, mehr oder weniger
genau, ein hoogstdezelve, allerhöjstdensamme, allernädigst nachgeahmt. Ge-
wis aber würde die weisheit des fürsten gepriesen werden, der seine auf-
merksamkeit auf den ursprung und zweck dieses leeren, seiner selbst wie
unseres sprachgenius unwürdigen, eher chinesischen als deutschen geprän-
ges richtend, es auf immer verabschiedet und die treuherzigen anreden und
grüfse unserer vorzeit, so viel es noch angeht, zurückholt(°).
(‘) im mittelalter, wenn von kaiser oder könig die rede war, in dessen hand und
würde die gewalt des deutschen reichs lag, pflegte man diese auch durch den einfachen
ausdruck ‘daz riche’ zu bezeichnen. “si zeemen wol dem riche’ will so viel sagen als dem
könige; von einer schönen jungfrau sagt Hartmann von Aue
si was ouch sö genxme
daz sı wol gezme
ze kinde deme riche
an ir weetliche,
sie hätte fräulein an des königs hofe sein können.
(°) Berliner zeitungen aus den jahren 1750-1770 gewähren von Friedrich dem gro-
fsen redend gewöhnlich noch einfaches Sie und Dero.
(°) solch ein beispiel würde auch darum wolthat sein, weil es von oben herab wir-
kend die in endloser abstufung gültigen, eitlen höflichkeiten unter allen andern ständen
abschaffen und der einfachen sprache wieder luft machen könnte; wie ist der heutige
briefstil durch die unnützesten ausdrücke der ergebenheit und des gehorsams, durch un-
ablässiges anmuten der geneigt-, hochgeneigt- und hochgeneigiestheit allenthalben an-
geschwellt, und in dieser übeln sitte thun wir Deutschen es wieder allen übrigen völ-
über das pedantische in der deutschen sprache. 195
Ich erlaube mir noch eine bemerkung über die heutige form des na-
mens majestät beizufügen, worin, wie in vielen ähnlichen substantiven, der
ausgang TÄT, gegenüber dem lateinischen TAT befremdet. ä kann hier
unmöglich auf dem wege des umlauts entsprungen sein, wozu gar kein anlafs
denkbar wäre. Erwägt man die mhd. gestalt solcher wörter (denn ein ahd.
beispiel würde unerhört sein), so zeigen trinität, nativität langes ä, wie es
dem überlieferten romanischen oder lateinischen vocal angemessen war, und
diese richtige form majestat herscht auch in allen hochdeutschen urkunden
bis zum 16. 17 jh. herab; sie wird bestätigt durch das schwäbische au in
majestaut. Luther hingegen, Fischart und andere schriftsteller des 16 jh.
schrieben majestet, antiquitet mit e, nicht mit ä, welches erst im 17 jh. feh-
lerhaft an jenes stelle eingeführt wurde. Wie aber ist das e selbst zu erklä-
ren? ich zweifle nicht, dafs es niederdeutschen ursprungs war und aus dem
niederrheinischen und niederländischen ei hervorgieng, wofür schon morali-
teit Trist. 8012. 8023, auctoriteit Ls.1,83 altes zeugnis ablegen. die Nie-
derländer schrieben TEIT (z. b. diviniteit im Partonopeus 21,5, universiteit
Rose 10845), sie schreiben und sprechen bis auf heute majesteit, autoriteit,
qualiteit, und ihr ei wechselt auch anderwärts mit langem €.
Da sich unser blick zu dem pronomen gewandt hat, mag noch eine
vergleichung des deutschen artikels mit dem romanischen zeigen, in welchem
nachtheil auch hier unsre sprache steht.
Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, dafs fast alle heutigen spra-
chen und schon einige der älteren sich des artikels bedienen, der ursprüng-
lich, wie sein name andeutet (der griechische ausdruck ist dafür @99gev) die
wirkung eines gelenkes hat, das die demonstration des einen mit der relation
eines andern satzes verbindet. er sollte die begriffe und noch nicht die fle-
xion bestimmen helfen. als sich aber diese in den neueren sprachen abzu-
stumpfen begann, pflegte sie ihn gleichsam zu ihrem beistande heranzurufen
und wie zugezogne hilfsvölker sich der festung, die sie blofs mitwehren soll-
ten, endlich selbst bemeistern, geschah es, dafs der artikel allmälich für die
erlöschende oder erloschne flexion unentbehrlich wurde, wenn er auch, nä-
her angesehn, niemals ganz in ihren begrif übergieng.
kern zuvor. viel schöner ist, wenn es darauf ankommt, wirklich ergeben zu sein und zu
gehorchen, als die gesinnung immer nur im munde oder in der feder zu führen.
Bb2
196 J. Grimm
Die romanische sprache schlug aber hier einen von der deutschen ver-
schiedenen, und wie mich dünkt, glücklicheren weg ein. sie erkor sich zum
artikel nicht das erste strengere demonstrativum, sondern mit vortheilhaftem
grif das zweite gelindere. der romanische artikel stammt aus dem lateini-
schen ille illa, dessen liquider laut jeder verwandlung und verschmelzung
der form aufserordentlich günstig war. Der deutsche, gleich dem griechi-
schen artikel besitzt dagegen den eigentlich demonstrativen stummen lingual-
laut, der schon an sich unfügsamer als jene liquida erscheinen muste. dazu
trat noch eine andere ungunst. alle deutschen sprachen erfuhren lautver-
schiebung, wodurch die griechische tenuis in gothische oder sächische aspi-
rata gewandelt wurde, was dem artikel dieser sprachen eine gewisse schwer-
fälligkeit verlieh, die zwar in der althochdeutschen, wo media an die stelle
der asp. kam, wieder aufhörte. Wer gothisch oder angelsächsisch ausspre-
chen lernt, wird sich am meisten bei der allenthalben begegnenden aspiration
des artikels verlegen fühlen.
Während nun im romanischen das gelenke, sich leicht an die praepo-
sitionen a und de schmiegende L durch die bank wollautige und gedrungne
formen zeugte, welche den untergegangnen casus umschreiben und das alte
suffix der flexion durch ein neues praefix ersetzen halfen, blieb der deutsche
artikel meistentheils unbeholfen. Aus seinem D, wenn es sich frühzeitig zur
anlehnung und elision dargegeben hätte, wäre noch vortheil zu ziehen ge-
wesen; allein der pedantische hang zu voller deutlicher form widerstrebte,
und es sind eigensinnig nur ausnahmsweise die formen: am, im, zum, beim,
zur, für an dem, in dem, zu dem, bei dem, zu der verstattet geblieben, da
doch die ältere sprache noch einige mehr, wie zen für ze den zulässig fand,
was sich unbedenklich in die heutige gestalt zun hätte wandeln mögen; wa-
rum wäre nicht ar für an der, gleich dem zur, und anderes mehr willkom-
men gewesen? die ahd. und mhd. dichter hatten noch einige günstige an-
lehnungen des gekürzten artikels an die praepositionen eingeführt, mochte
der artikel von diesen selbst abhängen oder einem zwischentretenden genitiv
gehören, wie zes für ze des, enents für enent des, jenseit des, welchen allen
die jüngere sprache überbedächtig wieder entsagte, das sind keine geringen
dinge, vielmehr solche, die unmittelbar jeden satz behend oder schleppend
machen können. man halte unserm deutschen der mann, des mannes, dem
manne das ital. luomo, de luomo, al uomo, oder das franz. Ihomme, de
über das pedantische in der deutschen sprache. 197
Ihomme, ä Ihomme entgegen; wir haben hier sogar voraus, dafs unsere fle-
xion noch zureicht und uns keine praeposition zu helfen braucht. Der Ro-
mane hat diese nicht gescheut, sondern in seinen gewinn verwandt, und del
al, die genau übersetzt von dem, zu dem enthalten, sind ihm zu wollaut und
deutlicher kürze ausgeschlagen. hinzugenommen den bewundernswerth ein-
fachen hebel der provenzalischen und altfranzösischen declination, der die
meisten nomina blofs damit lenkt, dafs er dem nom. sg. die obliquen plural-
casus, dem nom. pl. aber die obliquen singularcasus gleichstellt (in welchem
gesetz ich noch einen nachhall keltischer spracheigenheit zu spüren meine);
so mufs man den practischen blick dieser sprachen anerkennen, die freilich
nachher ihren vortheil fast wieder aus der hand liefsen. ich gebe immer
noch nicht die ehrwürdigen überreste unserer uralten flexion dafür hin, aber
diese hätten wir weit mehr zu unserm nutzen handhaben können.
Ist unsere heutige nomialflexion abgewichen von ihrer ehmaligen fülle
und bedeutung, so hat sich dagegen die herrliche und dauerhafte natur des
deutschen verbums fast nicht verwüsten lassen, und von ihr gehn unzerstör-
bar klang und klarheit in unsere sprache ein. Die grammatiker, welche ihre
sprachkunde auf der oberfläche, nicht in der tiefe schöpften, haben zwar al-
les gethan, um dem ablaut, der die edelste regel deutscher conjugation bil-
det, als ausnahme, die unvollkommene flexion als regel darzustellen, so dafs
dieser der rang und das recht zustehe jene allmälich einzuschränken, wo nicht
gar aufzuheben. fühlt man aber nicht, dafs es schöner und deutscher klinge
zu sagen buk wob boll (früher noch besser wab ball) als backte webte bellte,
und dafs zu jener form die participia gebacken gewoben gebollen stimmen?
Im gesetze des ablauts gewahre ich eben, was vorhin bei dem von der neuern
declination eingeschlagnen weg vermist werden konnte, den ewig schaffenden
wachsamen sprachgeist, der aus einer anfänglich nur phonetisch wirksamen
regel mit dem heilsamsten wurf eine neue dynamische gewalt entfaltete, die
unserer sprache reizenden wechsel der laute und formen zuführte. es ist
sicher alles daran gelegen ihn zu behaupten und fortwährend schalten zu
lassen.
Mit dem ablaut eng zusammen steht ein anderes gesetz von geringem
umfang, doch in das höchste alterthum aufreichend. gleich der lateinischen
und zumal griechischen besitzt unsere sprache gewisse verba, deren form ver-
gangenheit, deren begrif gegenwart ausdrückt, weilin ihnen das gegenwärtige
198 J. Grimm
unmittelber auf das vergangne gegründet, so zu sagen, aus ihm erworben ist.
wenn es heifst ich weils, so gibt diese form ein praeteritum kund, am sicht-
barsten dadurch, dafs die dritte person den ausgang T nicht annimmt, der
zur form des praesens erfordert wird, wie umgekehrt alle praeterita ihn nicht
haben. ich weifs, will eigentlich sagen: ich habe gesehn und entspricht dem
lat. vidi, gr. oida wie wissen dem lat. videre, gr. ideiv. auf solche weise läfst
sich die allmälich sehr beschränkte zahl anderer wörter dieser classe gleich-
falls auslegen und da sie fast alle aushelfen d. h. die meisten auxiliaria her-
geben, folglich in der rede oft wiederkehren, so verleihen sie, abgesehn von
ihrer sinnigen gestalt, dem ausdruck wiederum angenehmen wechsel. sie
sind als wahre perlen der sprache zu betrachten, und der verlust eines ein-
zigen von ihnen zieht empfindlichen schaden nach sich. nun sind aber, wie
ich sagte, mehrere von ihnen heute ganz aufgegeben, andere in ihrer eigen-
heit angetastet worden. dahin gehört z. b. das wort taugen, welches der
älteren sprache gemäfs flectieren sollte taug taugst taug und im grunde aus-
sagt: ich habe mich geltend gemacht, dargethan, dafs ich vermag. noch
Opitz, Christian Weise und manche spätere schreiben das richtige taug, nicht
taugt, auf welches sich unmittelbar anwenden läfst, dafs es ein taugnichts sei,
wenn schon ein ziemlich alter, da ihn bereits einzelne schreiber des vierzehn-
ten jh. einschwärzen(!). den sprachpedanten war aber taug mit seinem der
verdichtung entgangnen diphthong ein greuel, wie ihnen darf, mag und soll
unbegreiflich sind, und sie haben wirklich ihr taugt, etwa nach der analogie
von brauchen braucht, saugen saugt durchgesetzt, wie man auch bei den sonst
aufgeweckten Schwaben zu hören bekommt er weifst statt er weifs, oder uns
allen gönnt das edlere gan verdrängt hat.
Kaum in einem andern theil unsrer grammatik würde was ich hier
tadle greller vortreten, als in der syntax, und beispiele liegen auf der hand.
es sei blofs erinnert an das lästige häufen der hilfswörter, wenn passivum,
praeteritum und futurum umschrieben werden, an das noch peinlichere tren-
nen des hilfsworts vom dazu gehörigen partieipium, was französischen hö-
rern den verzweifelnden ausruf “J’attends le verbe’ abnöthigt. solch eine
scheidewand, wäre es blofs thunlich sie zu ziehen, nicht nothwendig, könnte
der rede abwechslung verleihen; dafs sie fast nirgends unterbleibt, bringt
(') Weingartner liederhandschrift s. 167: minne tovgt niht aine; und öfter.
über das pedantische in der deutschen sprache. 199
den ausdruck um raschheit und frische. Noch empfindlicher ist mir die auf-
gegebne alte einfache negation, der in unserer früheren sprache ihr natürli-
cher platz unmittelbar vor dem verbum zustand, das verneint werden soll.
anstatt des goth. ni ist, ahd. nist, mhd. en ist haben wir ein “ist nicht, d.h.
dies nicht aus einer hinzutretenden blofsen, eigentlich nihil aussagenden, ver-
stärkung zur förmlichen negation erhoben, die in den meisten fällen dem ver-
bum nachschleift. schwerlich konnte der sprache etwas ungelegneres wider-
fahren, da die behende fliefsende partikel schwand und durch eine mit ihr
selbst schon zusammengesetzte gröbere ersetzt wurde, die nicht länger im
stand war, da wo sie in der rede erwartet werden mufs, zu erscheinen. der
gestiftete schade leuchtet ein, sobald wir die alte ausdrucksweise zur neuen
halten, das goth. ni gret ist #9 »Aaie, ni karös ne cures, ahd. ni churi statt.
unsers weine nicht, sorge nicht; wie kurz ist das ahd. ni ruochat, mhd. en
ruochet nolite, sorget nicht, wo wir den eindruck der verneinung immer erst
hinten fühlbar werden lassen. auf die frage, bist du hie? folgt mhd. die ant-
wort: ich en bin, heute mufs sie lauten: ich bin nicht hier, weil wir antwor-
tend zugleich das adverb des fragenden zu wiederholen pflegen, für acht jetzt
funfzehn buchstaben, statt des leichtrollenden bluts trägeren pulsschlag. kurz
über dem pedantischen hervorholen eines sparsam angewendet, die vernei-
nung stärkenden worts ist uns die einfache, fast allen andern sprachen zu ge-
bot stehende negation wie ein vogel aus dem käfıg entflogen, und wir haben
nur das nachsehn.
Es wird aber fruchten von diesen aus flexion und syntax geschöpften
beispielen fortzuschreiten zu solchen, die bei der wortbildung aufgesucht
werden können, wo sich die praxis der deutschen sprache im verhältnis zu
benachbarten fremden noch deutlicher kund thut.
Man hat im überschwank den reichthum und die überlegenheit unsrer
sprache hervorgehoben, wenn von dem manigfalten ausdruck ihrer wortab-
leitungen und zusammensetzungen die rede ist. ich vermag lange nicht in
dies lob einzustimmen, sondern mufs oft unsere armut in ableitungsmitteln,
unsern misbrauch im zusammensetzen beklagen.
Eine menge unserer einfachsten und schönsten ableitungen ist verlo-
ren gegangen, oder sieht sich so eingeschränkt, dafs die analogie ihrer fort-
bildung beinahe versiegt. einige fremde völlig undeutsche bildungen haben
dagegen unmäfsig gewuchert, das ist ein deutliches zeichen für den abgang
200 J. Grimm
eigner, deren stelle jene vertreten. Ich wüst ekein gelegneres beispiel zu wäh-
len als das der zahllosen verba auf IEREN, die von den regierenden oben
bis zu den buchstabierenden und liniierenden schülern hinab wie schlingkraut
den ebnen boden unsrer rede überziehen. Eine nähere wegen ihres ur-
sprungs gepflogne untersuchung mag hier als excurs oder auslauf vorgelegt
werden; sie liefert ungefähr hundert mhd. wörter dieser art und leicht mö-
gen ihrer noch zwanzig zugefügt werden können; es ergibt sich, dafs man
vor der zweiten hälfte des zwölften Jahrhunderts nicht das geringste in Deutsch-
land von dergleichen wörtern wuste und dafs sie erst mit der höfischen, auf
romanische quelle hingewiesnen poesie eingebracht, man mufs aber gestehn,
recht pedantisch eingebracht worden. denn bei entlehnung fremder wörter
versteht sich doch von selbst, dafs man sich blofs des wortes zu bemächtigen
suche und seine fremde flexion fahren lasse. das R war nun hier baare ro-
manische form des lateinischen infinitivs(!), die aufser ihm in jedem andern
modus alsbald verschwindet und es mufs als die rohste auffassung ausländi-
ö
scher wortgestalt angesehn werden, dafs der Deutsche in seine nachahmung
das infinitivische zeichen aufnahm und characteristisch überall bestehen liefs,
sein eignes zeichen aber noch dazu anhängte: aufser dem fleisch des genos-
senen apfels liefs er sich auch den griebs dazu wol schmecken. Dafs durch
solche wörter manche vollautende formen (allarmieren, strangulieren) in un-
sere sprache gerathen sind, ist unleugbar, aber sie stimmen nicht mit ihrer
fremdartigen betonung zu unsern wörtern und führen steifheit mit sich. Wie
viel tactvoller zu werk gieng die romanische sprache, als sie sich ihrerseits
einige deutsche verba, wenn auch nur sparsam, anzueignen bewogen fand,
z. b. das ital. albergare, franz. herberger nach unsern herbergen, ahd. heri-
bergön bildete oder noch früher ihr guardare garder aus unserm warten.
hätte sie hier nach analogie von parlieren charmieren verfahren, so wäre ein
alberganare herbergener, ein guardanare gardener entsprungen. Man darf
(') altfranzösisches IER haben eigentlich nur verba, die lateinischen auf -iare oder
-igare entsprechen, z. b. essilier mlat. exiliare, chastier lat. castigare, allier lat. adligare al-
ligare; dann aber wurde es auch auf andere erstreckt: mangier it. mangiare lat. manducare,
laissier it. lasciare lat. laxare, brisier, vengier lat. vindicare it. vendicare. ausnahmsweise
entspringen deutsche -ieren aus franz. -ir: regieren franz. regir it. reggere, offrieren franz.
offrir it. offerire, acquirieren franz. acquerir. die italienische sprache hatte keinen solchen
einfluls auf unsere, um ihr wolklingendes -are in deutsches -aren über zu führen.
über das pedantische in der deutschen sprache. 201
das adchramire und adfathamire des salischen gesetzes als die frühsten bei-
spiele solcher aus der deutschen sprache von den Romanen entlehnten wör-
ter beibringen. Meine ausführung zeigt, dafs -ieren seiner fremden art ge-
mäfs eigentlich nur fremden, lateinischromanischen wörtern zustehen konnte;
als es aber einmal bei uns warm geworden war, versuchte man es auch an
deutsche stämme zu hängen, und ihm deutsche partikeln voran zu schicken.
Wie verschieden sich die ahd. und nhd. sprache benahm, wenn lateinische
wörter deutsch gemacht werden sollten, kann das beispiel von schreiben ahd.
scriban lehren, das man frühe aus seribere bildete, während später conscri-
bere und rescribere sich in conscribieren rescribieren verdrehte. dort ver-
fuhr man natürlich und sprachgemäfs, hier widernatürlich und pedantisch.
Die leichtigkeit des zusammensetzens im deutschen hat man ohne hin-
reichenden grund zu der fülle griechischer zusammensetzungen gehalten.
schlechte ungebärdige zusammensetzungen leimen ist keine besondere kunst,
in tüchtigen müssen die einzelnen wörter besser gelötet und aneinander ge-
schweilst sein. eine echte zusammensetzung ist erst dann vorhanden, wenn
sich zwei wörter gesellen, die los und ungebunden im satz nicht nebeneinan-
der stehn würden; wir Deutschen haben aber eine unzahl sogenannter com-
posita, die für sich construierte wörter blofs etwas enger aneinander schie-
ben und dadurch nur steifer und unbeholfner machen; die wörter fangen
zuletzt gleichsam selbst an sich für zusammengefügt zu halten und wollen
nicht mehr getrennt auftreten. so hat sich in eigennamen ein vorangestellter
genitiv nach und nach fester angeschlossen und läfst sich nicht mehr verrü-
cken. Königsberg, Frankfurt war ursprünglich königs berg, Franchono furt,
wo die Franken eine furt durch den Main gefunden hatten; aus Franken furt
entstellte man zuletzt das unverständliche Frankfurt. verba wie aufnehmen,
wiedergeben, niederschreiben sind ebenso wenig wahre composita, was sich
augenblicklich bei der umstellung: ich nehme auf, gebe wieder, schreibe nie-
der zeigt. erst dann entspringt hier zusammensetzung, wenn die partikel un-
trennbar geworden ist, wie in jenem übersetzen vertere, während übersetzen
traducere trennbar bleibt.
Solcher zusammenschiebung ungemeine thunlichkeit im deutschen ver-
führt obne alle noth nichtssagende wörter zu häufen und den begrif des ein-
fachen ausdrucks nur dadurch zu schwächen. Wenn hier in Berlin jemand
hingerichtet worden ist, liest man an den strafsenecken eine‘ warnungsanzeige’
5
Philos.- histor. Kl. 1847. Ce
202 J. Grimm
angeheftet. nun will warnen sagen: gefahr weisen, an gefahr mahnen; in
jener zusammensetzung steckt also unnützer pleonasmus, der bald wie aver-
tissement d’avertissement lautet, das ital. avvertimento bedeutet warnung
und anzeige. ein blofses warnung oder verwarnung wäre nicht allein sprach-
gemäfser, sondern auch kräftiger, so kräftigen stil die blutige bekanntma-
chung auch ohne rücksicht auf die gebrauchten worte an sich redet.
Wo andere sprachen einzelne wörter aneinander reihen, pflegen sie
häufig zu kürzen und das einleuchtendste beispiel liefern uns zahlwörter; es
ist lästig was man jeden augenblick im munde hat in ganzer breite aufzusa-
gen. Wie günstig unterscheidet sich das französische treize quatorze quinze
seize von unserm dreizehn vierzehn funfzehn sechzehn; zum glück haben wir
mindestens eilf und zwölf seit der ältesten zeit verengt, und dafs unser hun-
dert die allerstärkste stümmlung voraussetzt, ahnen die wenigsten: es gieng
hervor aus taihuntaihun, wie das lat. centum aus decemdecentum u. s. w.
die pedanten, welche kaum achzehn sechzehn in achtzehn sechszehn berich-
tigt haben, werden erschrecken zu hören, wie viel ihnen hier zu thun übrig
bleibt.
Man sollte meinen eine ganze zahl deutscher zusammensetzungen seien
blofs aus trägheit entsprungen oder in der verlegenheit für einen neuen, un-
gewohnten begrif den rechten ausdruck zu finden. da wo unsere alte sprache
einfache namen hatte, suchte die neuere immer ihre gröberen zusammense-
tzungen unterzuschieben, wie z. b. die deutschen monatsnamen lehren, und
schon Carl der grofse stellte mit seinen vorschlägen kein meisterstück auf.
Die composition ist alsdann schön und vortheilhaft, wenn zwei verschiedne
begriffe kühn, gleichsam in ein bild gebracht werden, nicht aber, wenn ein
völlig gangbarer einfacher begrif in zwei wörter verschleppt wird. unser
himmelblau oder engelrein ist allerdings schöner als das französische bleu
comme le ciel, pur comme un ange; aber ich stehe ebensowenig an, dem
lat. malus, pomus, dem franz. pommier den vorzug zu geben vor unserm
apfelbaum. denn mit der belebteren vorstellung eines baums, woran äpfel
hangen, ist uns in den meisten fällen gar nicht gedient, und jedermann wird
es passender finden, dafs wir eiche sagen und nicht auch etwa eichelbaum.
die vergleichung anderer sprachen lehrt, dafs jeder obstbaum von seinem
obst füglicher durch blofse ableitung als durch zusammensetzung unterschie-
den werde. aber auch für abstracte begriffe ist die abgeleitete form vorzüg-
über das pedantische in der deutschen sprache. 203
licher als die zusammengesetzte, z. b. das franz. maladie von malade besser
als unser krankheit, welches eigentlich ordo oder status aegroti ausdrückt.
Deutschland pflegt einen schwarm von puristen zu erzeugen, die sich gleich
fliegen an den rand unsrer sprache setzen und mit dünnen fühlhörnern sie
betasten. Gienge es ihnen nach, die nichts von der sprache gelernt haben
und am wenigsten die kraft und keuschheit ihrer alten ableitungen kennen,
so würde unsre rede bald von schauderhaften zusammensetzungen für einfa-
che und natürliche fremde wörter wimmeln; das wollautende omnibus mufs
ihnen jetzt unerträglich scheinen, und statt auf die nahliegende verdeutschung
durch den dativ pl. allen’ zu gerathen, wird ein steifstelliges allwagen, ge-
meinwagen, allheitfuhrwerk oder was weifs ich sonst für ein geradbrechtes
wort vorgefahren werden. selbst der ausdruck, dessen ich hier nicht ent-
rathen kann, ich meine das wort zusammensetzung, ist schlecht geschmiedet
und aus dem losen zi samana sezzunga entsprungen. welcher Franzose würde
ensembleposition dem natürlichen composition vorziehen? Genug hiervon
ist gesagt, um allen die meines glaubens sind, enthaltsamkeit im anwenden
der zusammensetzungen (durch welche Campe sein wörterbuch ohne tiefere
sprachkenntnis anschwellte) und eifer für den erneuten gebrauch guter und
alter derivative anzuempfehlen.
Es bleibt übrig einen gegenstand zu berühren, vor dem mir bangt,
ich meine die art und weise wie wir unsere sprache mit buchstaben schrei-
ben. dies köstliche mittel das fliegende wort zu fassen, zu verbreiten und
ihm dauer zu sichern, mufs allen völkern eine der wichtigsten angelegenhei-
ten sein, und die freude, welche eine vollkommne schrift gewährt, trägt we-
sentlich bei dazu den stolz auf die heimische sprache zu erhöhen und ihre
ausbildung zu fördern. Vor mehr als 800 jahren, zu Notkers zeiten in Sanct
Gallen, war es besser um die deutsche schreibung bestellt und auf das ge-
naue bezeichnen unsrer laute wurde damals grofse sorgfalt gewendet; noch
von der schrift des 12" und 13“ jh. läfst sich rühmliches melden, erst seit
dem 14 begann sie zu verwildern. Mich schmerzt es tief gefunden zu ha-
ben, dafs kein volk unter allen, die mir bekannt sind, heute seine sprache
so barbarisch schreibt wie das deutsche, und wem es vielleicht gelänge den
eindruck zu schwächen, den meine vorausgehenden bemerkungen hinterlas-
sen haben, das müste er dennoch einräumen, dafs unsre schreibung von ihrer
pedanterei gar nicht sich erholen könne. Was in jeder guten schrift statt-
Ce?
204 J. Grimm
findet, die annahme einfacher zeichen für beliebte consonantverbindungen,
wie bei uns CH und SCH sind, ist gänzlich vermieden und dadurch der an-
schein schleppender breite hervorgebracht. Noch schlimmer steht es aber
um den gebrauch der wirklich gangbaren zeichen. Zu geschweigen, dafs der
einzelne nach verwöhnung oder eigendünkel die buchstaben übel handhabt,
wird auch im allgemeinen weder strenge folge noch genauigkeit beachtet, und
indem jeder gegen den strom zu schwimmen aufgibt, beharrt er desto hart-
näckiger in unvermerkten kleinigkeiten, deren wirrwarr aufrichtiger besse-
rung am meisten hinderlich wird.
Die häufung unnützer dehnlaute und consonantverdoppelungen, da-
zu aber noch ein unfolgerichtiger gebrauch derselben gereicht unsrer sprache
zur schande. ganz gleiche neben einander stehende wörter leiden ungleiche
behandlung. der Franzose schreibt nous vous, der Italiener noi voi, der
Däne vi i, der Pole my wy, der Deutsche hat den pedantischen unterschied
gemacht wir und ihr(!). Nicht anders setzt er grün aber kühn, schnüren
aber führen, heer meer beere aber wehre und nähre schwöre, haar aber wahr
jahr, welchen wörtern überall gleicher laut zusteht. von schaffen bilden wir
die dritte person schafft, in dem substantiy geschäft lassen wir den einfachen laut.
Auf den wollaut und das gesetz aller andern sprachen, dafs inlautend buchstab
vor buchstab schwinden müsse, wenn er nicht mehr auszusprechen ist, wird
herkömmlich nicht geachtet, woraus bei zusammensetzungen, deren erstem
wort man bedenken trägt die doppelte consonanz zu erlassen, obgleich das
zweite mit demselben beginnt, dreifache schreibung desselben buchstabs
entspringt: schifffart, stammmutter, schnelllauf finden sich mit unaussprech-
lichem FFF MMM LLL dargestellt. Unser mittelalter, noch mit lebendige-
ren lautgefühl ausgerüstet, stand nicht an, von verwandten buchstaben, die
aneinander stiefsen, den einen in schreibung und aussprache fahren zu las-
sen; man schrieb und sprach wanküssen cervical Parz. 573,14 nicht wang-
küssen, eichorn Parz. 651,13 nicht eichhorn, und hätten andere völker un-
terlassen auf solche weise zu verfahren, ihre sprache würde rauh und hol-
pricht geblieben sein, wie die deutsche aus ängstlichem streben nach voller
deutlichkeit an allzuviel stellen ist.
(') der anlals war vielleicht, weil man ihm von im (in dem) unterscheiden wollte,
dies ihm zog ihr für den dat. fem. und ihr für den nom. pl. nach sich; einleuchtend schlechte
gründe.
über das pedantische in der deutschen sprache. 205
Doch was sage ich von überflüssigen buchstaben? erklärte liebhaber
sind auch die pedanten unnöthiger striche und haken. striche möchten sie,
so viel möglich ist, in der mitte von zusammensetzungen, haken überall an-
bringen, wo ihnen vocale ausgefallen scheinen. sie lieben es zu schreiben
himmel-blau, engel-rein, fehl-schlagen und buch’s kind’s, lies’t ifs't, leb’te
geleb’t. ihnen sagt zu das französische garde-meuble, bouche -rose, epicon-
dylo-sus-metacarpien, nichts aber erwirbt sich mehr ihren beifall, als dafs
die Engländer von eigennamen wie Wilkins oder Thoms einen sogenannten
genitiv Wilkins’s, Thoms’s schreiben, mit welchem man nun sicher sei den
rechten nominativ zu treffen. Was eine fast alles gefühls für flexion verlustig
gegangne sprache nöthig erachtet, will man auch uns zumuten! sollte die
schrift alle vocale nachholen, die allmälich zwischen den buchstaben unsrer
wörter ausgefallen sind; sie hätte nichts zu thun als zu häkeln, und wer würde
setzen mögen Eng’land, men’sch, wün’schen, hör’en? Der schreibung, die
ihre volle pflicht thut, wenn sie alle wirklichen laute zu erreichen sucht, kann
nicht das unmögliche aufgebürdet werden, zugleich die geschichte einzelner
wörter darzustellen.
Jeder regel des schreibens aber enthoben wähnt man sich sonst bei
eigennamen, sei es furcht die frömmigkeit gegen grofsvater oder urgrofsvater
zu verletzen, die ihren namen schlecht schrieben, während ihn ururgrofsvater
und ältere ahnen wahrscheinlich recht geschrieben hatten, oder sorge die an-
wartschaft auf ein erbe zu gefährden, obwol ich bezweifle, dafs jemals aus die-
sem grund ein gerechter anspruch vor den gerichten unterlegen hat. Kommt
wol in der gesammten griechischen oder römischen literatur ein falsch oder
urgrammatisch geschriebner eigenname vor? man schlage eins unsrer adrefs-
bücher auf, welche barbarei daraus entgegen weht; da stehn Hofmänner und
Wölfe bald mit F bald FF geschrieben, und in welcher bunten masse von
Schmieden Schmidten, Schulzen Schultzen Scholzen Scholtzen, Müllern Möl-
lern und Millern mufs man sich verlieren. Mitten auf den titeln unserer bü-
cher erscheinen solche verunzierte namen, oft unaussprechlich unsern nach-
barn. Mag auch in den mischungen deutscher volkstämme die dialectische
eigenheit geduldet, neben dem schwäbischen Reinhart ein sächsischer Rein-
hard, neben dem hochdeutschen Schulze ein niederdeutscher Schulte, frie-
sischer Skelta geschrieben werden, der orthographischen eigenheit jedes
stammes angemessen; unerläfslich scheint es, dafs eine gebildete sprache ihre
206 J. Grimm
eigennamen den gesetzen unterwerfe, die für alle übrigen wörter gelten, und
wo sie es nicht thut verdient sie geschmacklos zu heifsen.
Den gleichverwerflichen misbrauch grofser buchstaben für das sub-
stantivum (), der unsrer pedantischen unart gipfel heifsen kann, habe ich und
die mir darin beipflichten abgeschüttelt, zu welchem entschlufs nur die zu-
versicht gehört, dafs ein geringer anfang fortschritten bahn brechen müsse,
Mit wie zaghafter bedächtigkeit wird aber ausgewichen, nach wie unmächti-
gen gründen gehascht gegen eine neuerung, die nichts ist als wieder herge-
stellte naturgemäfse schreibweise, der unsere voreltern bis ins funfzehnte
jahrhundert, unsere nachbarn (?) bis auf heute treu blieben. Was sich in
der gesunknen sprache des sechzehnten und siebzehnten verkehrtes festsetzte,
nennt man nationale deutsche entwicklung; wer das glaubt, darf sich getrost
einen zopf anbinden und parücke tragen, mit solchem grund aber jedwedes
verschlimmern unsrer sprache und literatur gut heifsen und am besser wer-
den verzweifeln.
Dies alles rede ich in einer deutschen academie und würde es ihr ans
herz legen, wenn der rechte augenblick dazu jetzt schon gekommen schiene.
Es ist allgemein bekannt, wie nach wiederherstellung der classischen litera-
tur überall in Europa gelehrte gesellschaften entsprangen, die mit ausschlufs
der theologie und jurisprudenz, vorzugsweise auf den betrieb der philologie,
philosophie, geschichte und naturwissenschaften gerichtet wurden. In erster
reihe stand aber philologie und nichts lag dieser näher, als die grundsätze,
welche aus dem neuerstandnen und gereinigten studium der classischen
sprachen geschöpft wurden, auch auf die landessprachen anzuwenden. Wie
sollte ein sich selbst fühlendes volk nicht unmittelbar angetrieben werden,
was es in den herrlichen sprachen des alterthums anschaut und ergründet,
auch seiner eignen, deren es sich für den lebendigsten ausdruck seiner ge-
danken bedienen mufs, angedeihen zu lassen? Eine auffallende, in ihren ur-
sachen erwägenswerthe erscheinung bleibt esnun, dafs während alle romani-
(') Hugo (dessen geistige natur von pedantischen schatten wenig verdunkelt wurde)
führte sogar in seinen büchern durch: HandSchrift KaufMann BuchDruckerKunst u. s. w.
neben handschriftlich kaufmännisch. dabei läfst sich streiten, ob ErbgrofsHerzog oder
ErbGrofsHerZog zu setzen sei? denn in dem zog liegt die hauptsache, dux.
(?) es ist hier natürlich abzusehn von den Dänen und Litthauern, die sich von un-
serm laster anstecken liefsen; Niederländer, Schweden, Finnen, Letten, Slaven blieben rein.
über das pedantische in der deutschen sprache. 207
schen zungen aus diesen gelehrten vereinen vortheil zogen und zumal in Ita-
lien, Spanien und Frankreich für die auffassung und reinhaltung der mutter-
sprache grofses geschah, dafs in den ländern germanisches sprachgebietes
nichts geleistet wurde, was jenen erfolgen nur von ferne an die seite treten
könnte. Um hier von England, den Niederlanden und Scandinavien abzu-
sehn, im innern Deutschland gieng die sprache nach Luthers zeit, der sie
noch zuletzt empor gehoben hatte, aller ihrer alten kraft vergessen, unauf-
haltsam einer in der geschichte der sprachen ganz unerhörten verderbnis
entgegen, und in unsrer politischen zerrissenheit und spaltung wie hätten die
gelehrten gesellschaften einzelner landstriche sich unterfangen können, aus
dem engen bereich ihnen noch zu gebot stehender quellen der hochdeutschen
sprachregel geltung zu verschaffen? Niemand wird mir das beispiel einer
im siebzehnten jh. entstandnen und verschollnen gesellschaft entgegen halten,
die, wie Jucus a non lucendo, ihren namen davon führt, dafs sie keine frucht
brachte('). Mit weit gröfserem recht darf ich an unsere eigne academie er-
innern, die zwanzig jahre nach dem erlöschen jenes phantoms ausdrücklich
für deutsche sprache mitgegründet ward, was sich schon bei der vaterländi-
schen gesinnung des mannes, der auf ihre stiftung entscheidenden einflufs
übte, erwarten läfst. Leibnitzens empfehlung veranlafste, dafs ihr auch als-
bald ein rüstiges mitglied einverleibt wurde, Johann Leonhard Frisch, ein
geborner Baier, lange schon in Berlin wohnhaft, der mit sichtbarem erfolg
auf den anbau unsrer sprache wirkte, und aus eignen mitteln ein deutsches
wörterbuch zu stande brachte, dem sein bedeutender werth für alle zukunft
verbleiben wird. Dafs aber die academie selbst bald theilnahmlos für einen
ihrer ursprünglichen hauptzwecke wurde, hat, soviel ich entdecke, seinen
grund in zwei sie nahe berührenden richtungen der folgenden zeit. Bei der
umgestaltung, die sie im jahr 1744 erfuhr, muste sie erleben, dafs ihr für
ihre abhandlungen die französische sprache aufgedrängt wurde, unter deren
(‘) weder was Gervinus 3,176-182 noch jetzt eben Barthold in seiner anziehenden
und belehrenden schrift sagen, kann mich in diesem urtheil irre machen. wie hätte eine
so pedantische, abgeschmackte spielerei, die nicht einmal den besseren theil der geistigen
kraft jener zeit, Opitz, Fleming, Gryphius, Logau (vgl. Barthold s. 193. 210. 254. 289)
erfolgreich zu gewinnen verstand, grundlage des deutschen sinns sein können, der auch
ohne sie harter prüfung gewachsen war. Schottels brave arbeit war ganz in ihm selbst
empor gestiegen und wenn die gesellschaft darauf irgend einfluls übte, mag dieser mehr
schädlich als heilsam heilsen.
208 J. Grimm
vorwaltendem einflufs lange jahre hindurch förderung der einheimischen am
wenigsten als zeitgemäfse academische aufgabe angesehn werden durfte. Eine
andere ursache ist, scheint es mir, gelegen in dem aufschwung, den seit den
letzten hundert jahren die exacten wissenschaften überall in Europa genom-
men haben. Wenn früherhin naturforschung und philologie, wie in den
tonangebenden italienischen academien italienische, auch namentlich deut-
sche sprachkunde sich oft gern zu einander gesellten, welches das zuletzt
angeführte beispiel von Frisch bewährt; so ist allmälich den naturwissen-
schaften auf der höhe, zu welcher sie sich gehoben haben, nationale farbe
fast entwichen und sie pflegen heutzutage geringen oder gar keinen antheil
am gedeihen und wachsthum unsrer sprache zu nehmen. ihre neuen fünde
empfangen aufserhalb wie innerhalb landes gleiche bedeutung und des pe-
dantischen, wovon wir philologen uns noch keineswegs frei fühlen, gehen
sie längst baar und ledig.
Neben so empfindlichen, zum theil fortdauernden nachtheilen hat sich
aber auch ein günstiger wandel zugetragen, der dem fortschritt der deutschen
sprache allenthalben und namentlich in unsrer academie zu statten kommt.
Nicht nur dafs jene schranke eines zwängenden fremden idioms längst wieder
aus dem weg geräumt wurde, es ist auch bereits vor der zeit, seit welcher ich
der academie anzugehören die ehre habe, von treflichen collegen manche
untersuchung gepflogen worden, die der geschichte unsrer sprache und lite-
ratur grofsen vorschub thut, und ich kann nicht unterlassen hiermit öffentlich
meinen dank abzustatten dafür, dafs mir voriges jahr gewährt ward, eine
preisaufgabe, meines wissens in unsrer academie die erste über einen gegen-
stand deutscher sprache zu stellen, dem ich nicht geringe wichtigkeit beilege
und den ich zu fruchtbarer bearbeitung für besonders reif und geeignet halte.
Noch höher anzuschlagen als das was bei dem besten gelingen solcher arbei-
ten immer nur vereinzelt dastehn würde ist, dafs auch das volk seine sprache,
und was ihr recht ist, mit anderm auge zu betrachten beginnt. In unsern
tagen, und wer frohlockt nicht darüber? wird lebhaft gefühlt, dafs alle übri-
gen güter schal seien, wenn ihnen nicht die freiheit und gröfse des vaterlands
im hintergrund liege. was aber helfen die edelsten rechte dem, der sie nicht
handhaben kann? kaum ein anderes höheres recht geben mag es als das,
kraft welches wir Deutsche sind, als die uns angeerbte sprache, in deren
volle gewähr und reichen schmuck wir erst eingesetzt werden, sobald wir
über das pedantische in der deutschen sprache. j 209
sie erforschen, reinhalten und ausbilden. zur schmälichen fessel gereicht es
ihr, wenn sie ihre eigensten und besten wörter hintan setzt und nicht wieder
abzustreifen sucht, was ihr pedantische barbarei aufbürdete; man klagt über
die fremden ausdrücke, deren einmengen unserer sprache schändet, dann
werden sie wie flocken zerstieben, wann Deutschland sich selbst erkennend,
stolz alles grofsen heils bewust sein wird, das ihm aus seiner sprache hervor-
geht. Wie es sich mit dieser sprache im guten und schlimmen bisher ange-
lassen habe, ihr wohnt noch frische und frohe aussicht bei, dafs ihre letzten
geschicke lange noch unerfüllt sind und unter den übrigen mitbewerbern,
wir auch eine braut davon tragen sollen. dann werden neue wellen über
alten schaden strömen.
Philos. - histor. Kl. 1847. Dad
310 J. Grimm
AUSLAUF.
MHD. IEREN.
allieren MsH. 3,65° franz. allier, prov. aliar.
amesieren. dö was im gamesieret hiufel kinne und an der nasen. Parz.88,17.
aus mlat. amassare, mit der keule (massa) schlagen. bluotige amesiere
beulen Parz. 163,25. 167,6.
balsamieren Alexius Mafsm. s. 146°.
balzieren En. 5171 von balz coma, cirrus (Graff 3,114) also locken, in lo-
cken legen; kämmen.
barbieren. helm vaste gebarbieret vur dougin unde vurz antliz. Athis E, 104
vgl. Tit. 4520, wo der alte druck pariwiere. wenn barbier oder bar-
biere am helm doch wol das bedeutet haben mufs, was den bart ein-
hüllte, so wäre barbieren: das gesicht, den bart verdecken.
barrieren verschränken Er. 1955, vgl. parrieren.
behurdieren. gr. Rud. 6,9. Roth. 1348. 5047. buhurdieren Nib. 1809, 3.
Gudr. 31,3. 183,3. 471,2. Gerh. 3509. Er. 3082. Lanz. 640. 8316.
Wigal. 1256. 1656. Trist. 617. 5059. Flore 7556. Tit. 1706. Helmbr.
927. altfranz. behourder bouhourder, prov. beordar biordar, it. bagor-
dare bigordare. Ducange s. v. bohardieum. Raynouard s. v. beort.
bildieren Troj. kr. cod. arg. 192°.
bränieren polieren Trist. 6615. prov. brunir, it. brunire.
cathezizieren Barl. 169,30. 352,31. mlat. cathecizare.
clarificieren Tit. 543. myst. 295,35.
conduwieren condwieren Er. 9868. 9993. Parz. 155,18. 820,28. Athis G,
122. Lanz. 6628. Trist. 3327. Gerh. 4611. becondewieren Tit. 4820.
5115. übercondewieren Tit. 3304.
contemplieren Griesh. 2,15.
cordieren Trist. 13126 franz. corder, accorder.
croijieren Er. 3081. Wh. 41,27. Trist. 5578. 9168. Tit. 3894. 4092. kroi-
gieren Wigal. 4554. becroijieren Trist. 5060.
discantieren Tit. 3880. MSH. 2,306° Wolkenst. s. 113.
disputieren Walth. 27,4. tisputirn Wolkenst. s. 118.
dormieren MS. 1,7°.
enbräzieren Trist. 4327. franz. embrasser.
über das pedantische in der deutschen sprache. 211
eysieren Wh. 323,19. 326,11. prov. aisar.
Jalieren Parz. 211,17. 465,24. failieren Parz. 738,28. Wh. 87,27. velieren
a. bl. 1,337. franz. faillir.
feitieren ornare, instruere Parz. 18,5. Trist. 670. 2222. Heinrichs krone
60°. altfranz. faitier affaitier, sp. afeytar.
festivieren Troj. kr. 10299. 14573. 16270. ?
videlieren Orlens 6106.
‚figieren Trist. 4624. 10847. fischieren Parz. 168,17. 232,38. Lanz. 5802.
franz. ficher.
fisieren, visieren. Flore 1976.
floitieren Wh. 34,7. Trist. 10924. Loh. 127. Tit. 5092. Nib. 1456,1. Gerh.
5956.
Jlörieren Parz. 341,3. Barl. 219,40. Tit. 2061. 2714. Wolkenst. s. 129.
‚formieren Troj. kr. cod. arg. 192°. 316°. Apollon. 1182. 11213.
Jfurrieren. Walth. 121,11. Parz. 168,10. 225,12. 301,29. 313,11. Wh.
443,20. Wigal. 702. 753. Gerh. 784. 3576. Tit.887. das rom. fourrer
urspr. unser futtern,
galopieren Trist. 8951. Tit.5517. kalopieren Parz. 300,7. prov. galaupar.
gampieren it. gambettare. Apollonius 17819.
glenzieren turn. von Nantes 145,3.
glorieren myst. 138,17. 20.
glosieren Wolkenst. s. 215. Tit. 5296.
gräzieren was sonst gräzen. Nantes 126,4. |
grimsieren Haupt 6,50.
halbieren Ottoc. 82°. Enenkel 342 auf einer seite besetzen. myst. 273,21 di-
midiare.
hardieren Parz. 665,23. Wh. 114,6. 334,27. 439,26 altfr. hardier, franz.
enhardir.
heistieren, altf. hastier Parz. 592,28. Wh. 200,27. 439,11.
hofieren Loh. 155. 156 u.s.w. Wolkenst. s. 44. 133.
huordieren Helbl. 1,865. zerhurtieren Parz. 802,14. hurtieren Gerh. 3657.
jubilieren Griesh. 2,15. Kellers gesta Rom. s. 174.
jJustieren En. 8992. Er. 2434. 2459. Greg. 1445. frauend. 173, 21. Trist.
618. vgl. tjostieren.
Dd2
342 J. Grimm
kunrieren Iw. 1058. 6659. Parz. 167,13. 256,30. altfranz. conreer conroier,
prov. conrear, it. corredare, mnl. conreien Fergüt 1255.
leischieren zügel verhängen. Parz. 121,13. leisieren Iw. 5324. Wigal. 6615.
frauend. 181,17.
loschieren Parz. 350,22. 755,12 (1). Wh. 237,3.
manlieren Liedersal 3,102.
movieren Parz. 678,12. Wh. 305,15. Tit. 4510.
murmerieren MS. 2, 94°.
vernoijieren, vernogieren Nib. 1201,7. Kl. 494. welsch. gast cod. pal. 3%.
Turh. Wh. cod. pal. 11%. Livl. chr. 5719. lat. renegare, franz. renier.
ordenieren Livl. chr. 11214. Tit. 506. 3087.
organieren Trist. 4803. 17359.
ornieren Troj. 17318.
pallieren? MSH. 1,141’. Benecke erklärt ballspielen, vgl. palieren Wolkenst.
s.4127.
parätieren fallere, decipere Tit. 887. v.partieren.
parelieren Lanz. 502. 5438. (al. bolieren).
parlieren Parz. 167,14. MS. 2,61°. Tit. 2793 franz. parler, it. parlare, mlat.
parabolare. überparlieren Parz. 696,17.
parrieren Parz. 1,4. 201,25. 281,22. 295,7. 326,7. Wh. 443,22. Flore
188. Gerh. 3588. 4755. 9757. underparrieren Parz. 639,18. altfranz.
barrer, bigarrer.
partieren = parätieren. Parz. 296,29, vgl. partierre 297,9.
passieren Wolkenst. s. 65, wo passert: pfert.
pensieren Trist. 12071.
personieren Limburg. chron. p. m. 68.
plasnieren Wolkenst. s. 261, franz. blasonner.
pramieren? Tit. 6183, der alte druck prangieren.
pranzelieren schnell reiten Apollon. 18893, vgl. pranezeln Ottoc. 668°.
pronieren MS. 1,7° progignere.
(') für die syntax merkwürdig, dals nach beiden stellen loschieren nicht wie unser
heutiges logieren construiert wird, sondern bedeutet stätte bereiten, mit dem dativ der per-
son: mir wird loschieret, ich werde untergebracht. ist auch das im bei gamesieret 88,17
so zu nehmen, und dann nicht auf hiufel, kinne zu ziehen?
über das pedantische in der deutschen sprache. 213
propheti.en Barl. 59,5.
geprüevieren Trist. 4975. turn. v. Nant. 159,6. Leysers pred. 46,22.
punieren En. 8993. Athis B,149. Parz. 78,4. 300,8. 387,9. 738,27. Trist.
6751. 9167. Wigal. 11087. 11998. Tit. 3999. pungieren Athis E,69.
Er. 2460. Lanz. 639. 6415. Gerh. 4263, prov. punger franz. poindre.
bei Herb. 9545 für pineren zu 1. punieren.
quartieren Suchenwirt 19,226.
zequaschieren Parz. 88,18 zerquetschen, von quassare franz. casser brechen.
quintieren MSH. 2,306°. Wolkenst. s. 115. 261.
regnieren Wolkenst. s. 265.
ridieren falten Iw. 6484. Herb. 618, ftanz. rider.
rifieren MS.2,57°, wo helfen rifieren. MSH. 3,227' gewant rifiieren (Ben.
371 rivieren). ez rifieren Ben. 12427.
rivelieren MS. 2, 60°.
rottieren Trist. 3205. Rab. 468,6. Dietr. fl. 8205. Ottoc. 435°. Tit. 3323.
3617. Wolfr. Wh. 313,3.
rumbelieren Helbl. 13,130.
rüschieren Troj. kr. cod. arg. 238° fuoren rüschierende kies und gras flo-
rierende.
salitieren Ex. 9657. Trist. 4328. 5302. Gerh. 1355. 6003. Lanz. 7727. 9109.
Gold. schm. 419. Tit. 2721. 3999.
sambelieren Trist. 2108. MSH. 3,205°. samelieren Wh. 45,7. Loh. 71. 112.
Georg 5009. Ottoc. 435°. Tit. 4042. 4590. 5688. prov. semblar,
franz. sembler rassembler.
underschackieren Herbort 1312 variare.
schantieren MS. 1,7‘. 2,61°. Haupt 5,557 v. 1573. Tit. 2786. altd. wäld.
2,74.
entschumphieren Parz. 100,11. 593,2. Ottobart 271. gewöhnlich enschum-
phieren Parz. 137,4. 155,17. 199,21. 206,25. 291,7. Er. 2647. 2659.
2696. Wigal. 9562. prov. escofir descofir, franz. deconfire, it. sconfig-
gere, mnl. sconfieren scoffieren. im subst. fast immer nur schumpfen-
tiure (doch Lanz. 2933 W. P. entschuompfentiure).
soldenieren Gerh. 5174. vgl. solden Nib. 2067,4.
solemnisieren Rud. weltchr. cod. cass. 217.
sonieren MSH. 2,306°. Wolkenst. 116.
214 .J. Grimm
speeulieren Diut. 3,4.
spatzieren lat. spatiari, it. spasseggiare finde ich nicht früher als im liederb.
der Hätzlerin 158,533. 162,1. Morolt 1405. Wolkenst. s.113, Kellers
gesta Rom. s. 151 und öfter bei Casp. v. d. Rhön.
stolzieren Renn. 1774 vgl. 7083.
studieren myst. 210,6.
subplantieren Weltchronik.
swanzieren Renn. 2158.
tambürieren Engelh. 2709. Nantes 119,2.
tändelieren Ottoc. 117°.
teilieren ist bei Gotfried Trist. 2975 das franz. tailler, it. tagliare, prov. talar;
bei Conrad aber, der Troj. kr. cod. arg. 188° rottieren und in zehen
schar Zeilieren verbindet, könnte an unser theil gedacht sein, wie Wak-
kernagel (altfranz. lied s. 196) selbst für Gotfrieds teiliren annimmt.
terminieren myst. 125,26.
timpelieren Wolkenst. s. 75 erklingen.
tjostieren Parz. 153,27. frauend. 180,3. 184,4 u.s. w.
tiumelieren MSH. 3,26%.
truffieren fallere Apollonius 8915. altfranz. truffer.
tubieren Wh. 155,3. 431,15 scheint das prov. adobar, it. addobare. MS.
2,61 toubieren von der nachtigall: gesang rüsten, anstimmen?
turnieren Parz. 812,9. Wigal. 1168. Bit. 8899. 9002. MSH. 2,196. Troj.
kr. 121.
walkieren En. 5171.
walopieren Iw. 2553. Wigal. 2288. s. galopieren.
wandelieren Trist. 4804. 12072. Tit. 543. gewandelieren MSH. 3,262, wo
Ben. 346 wentschelieren. wandelieren hat auch Oberlin 1937 aus dem
ungedr. troj. kr.
wedelieren Tit. 4515, wedeln, flattern.
wenkelieren Mones anz.. 4, 368.
zimieren S. Ulrich 433. Er. 735. Wolfr. Tit. 16,4. Eracl. 1706. Parz. 36,
22. 39,17. 121,14. 168,18. 284,1. 341,4. 802,13. Lanz. 360. 501.
5271. Ernst 4794. diese stellen haben nur das part. gezimieret; doch
kommt auch zimieren zimierte vor Parz. 736,22. Eracl. 1706. Helbl.
13,79.
über das pedantische in der deutschen sprache. 215
Erwägt man die art und weise dieser wörter, so kann kein zweifel ob-
walten, dafs sie in der zweiten hälfte des dreizehnten jh. mit der höfischen
poesie aufkamen, vorher in Deutschland unbekannt waren. wenn also Be-
necke im wörterbuch zu Iwein s. 238 bei leisieren ein ahd. leisieru aufstellt,
so war das eine unmögliche form. aus murmurare entsprang ahd. murmurön
murmulön, und noch die Windsberger psalmen s.269 geben murmuren, kein
murmurieren. in der ganzen Vorauer hs., in der neulich von Karajan her-
ausgegebnen begegnet noch kein einziges -ieren, auch, wenn ich nicht irre,
keins im Alexander, im alten Glicheser, beim pfaffen Conrad, keins bei Kürn-
berg Husen Spervogel Eist Meinlo. Hartmann ist damit noch enthaltsamer
als Wolfram, doch scheint er im älteren Erec mehr beispiele zu haben als
im Iwein und Gregor (vgl. Haupts vorrede zu Erec s. XV). die turnierwör-
ter behurdieren punieren walopieren zimieren, neben dem vernogieren, mö-
gen zuerst gangbar geworden sein; bald aber verfuhr die dichtersprache freier
mit diesem ihr bequemen bildungsmittel. einmal gestattete sie das praefix
deutscher partikeln, wodurch das fremde wort heimisches aussehn gewann.
becondwieren becroigieren geprüevieren überparlieren underparrieren un-
derschackieren zequaschieren zehurtieren; statt renegare wurde vernogieren,
statt desconfire entschumphieren gewagt, gleichsam um den gegensatz des siegs,
die niederlage, durch die partikel hervorzuheben; ich kann nicht annehmen,
dafs en- oder ent- sich hier blofs phonetisch aus dem romanischen anlaut SC
entwickelt habe. Ein andrer schritt war abernoch kühner, man hieng das -ieren
auch deutschen wurzeln und wörtern an, um ihrem begrif irgend eine neue
bewegung zu ertheilen; so entsprangen balzieren bildieren halbieren swan-
zieren teilieren (bei Conrad) wandelieren murmerieren walkieren wedelieren
und aus dem ad). stolz stolzieren. nicht zufrieden mit rüschen bildete man
rüschieren, wie aus prüeven prüevieren.
Einigemal bleibt über das romanische verbum unsicherheit, und das
deutsche könnte erst aus einem der romanischen sprache entliehnen subst.
abgeleitet sein, zimieren aus zimier, amesieren aus amesiere, barbieren aus
barbiere, da sich keine roman. verba wie zimier barbier darbieten.
MNL. EREN, IEREN.
Die mnl. sprache unterschied, glaube ich, vollkommen richtig zwischen
-eren (praet. -eerde) und -ieren (praet. -ierde), je nachdem der franz. infi-
216 J. Grimm
Al
nitiv auf -er oder -ier ausgieng; da indessen die franz. form schwankt, mufs
es die mnl. noch mehr gethan haben und ich kann das folgende, ohnehin
sehr unvollständige verzeichnis nicht nach diesem unterschied einrichten.
überhaupt aber herscht -eren vor, woraus sich auch das nnl. alleinwaltende
-eeren begreift.
abiteren minnenloop 2,213 kleiden.
absolveren Rose 11019.
accouslieren Ferg. 537 franz. accoster.
achemeren Ferg. 3790. 4615 altfranz. acesmer.
acquentieren Lanc. 27334 fr. accointer.
acquireren Part. 87,8.
affalgieren Part. 77,29.
aisieren Lanc. 4254. Ferg. 4924. 4974. Rose 4291. 10797. altfr. aaisier.
amelgeren fr. emailler. minnenloop 2,213.
antieren Rose 3751. 8649. Lanc. 5245. v. hantieren.
assaelgieren Rose 9421. Part. 77,28 franz. assaillir.
aviseren Ferg. 3657 franz. aviser.
baberen, tebaberen? Part. 111,26.
baleren Ferg. 3789. 5433. Rose 714. 724. altfranz. baler, span. balar.
barenteren Lanc. 2730. barteren Rose 1391. 1545. altfr. barater, mlat. ba-
ratare.
batalgieren Ferg. 280. 3904. 4201 fr. batailler.
blameren Part. 85,25 fr. blämer. Rose 806. 4466.
brachieren Ferg. 1793 fr. embrasser.
canceleren Ferg. 5304 fr. chanceler.
carsereren Part. 58,11 mlat. carcerare.
convoüeren Part. 82,21 fr. convoier.
craieren Rein. 45. craihieren Ferg. 2502. 5066 fr. crier.
disputeren Part. 36,1.
faelgieren Maerl. 3,237. Rose 9420. Lanc. 28173. falgieren Part. 65,26.
76,4. 95,25. 119,5. fr. faillir. minnenloop 2,210.
‚antaseren minnenloop 2,211.
festeren Ferg. 5303 franz. feter, Minnenloop 2, 211.
flaioteren Ferg. 5434 fr. flüter.
Jloreren Minnenloop 2,212.
über das pedantische in der deutschen sprache. 247
Jolleren Ferg. 2254. 5494 franz. fouler.
Jonderen Minnenloop 2,212.
Jormieren Rose 762.
Jrotsieren Ferg. 4159 fr. frotter.
grongieren Part. 82,22 fr. grogner, lat. grunnire.
hantieren Minnenloop 2,237.
imagineren Minnenloop 2,217.
josteren Part. 75,10. 76,25 fr. joüter, mhd. tjostieren.
lachieren Ferg. 518 fr. lächer.
laisieren, verlaisieren. Ferg. 1794 mhd. leisieren.
livereren liberare, telivereren Part. 83,11.
losengieren Rein. 3091 altfr. losengier.
machieren Lanc. 9902, wohnen?
mayeren Lane. 10541. 10789 altf. esmaier.
mineren Rein. 704. Rose 10291, eingraben, minieren.
monteren Part. 62,2. 64,26 fr. monter.
museren Rose 1392 fr. muser.
vernoyeren vrenegare Maerl. 3,140.
orgeniren organizare Diut. 2, 226°.
pingieren Rose 761.
plaidieren Rein. 1873. Diut. 2,200° altfr. plaidier, mlat. placitare.
ponjeren Ferg. 4160 mhd. punieren.
rampeneren Maerl. 3,141. rampineren Rein. 703. 851. rampeniren Diut. 2,
209 altfr. ramposner.
rasteren Rose 3133.
regnieren Minnenloop 2, 281.
scakieren Rose 842.
scandaliseren Rein. 4045.
scofferen Part. 60,20. 61,12. sconfieren Part. 36,13 mhd. entschumpfieren.
sotteren infatuare. Diut. 2,21%.
tornieren Ferg. 5068. Dint. 2,207°.
venineren venenare Lane. 16415.
visieren Maerl. 1,25. 37. Rose 713. 841. 1243. Part. 69,32. 104,28. 118,
16. Ferg. 3658 fr. viser.
walopperen Ferg. 5195.
Philos.- histor. Kl. 1847. Ee
918 J. Grimm
Einigemal, wenn dem infinitivischen R schon ein andres vorausgeht,
wird jenes weggelassen, es heifst Ziveren Ferg. 4204 franz. livrer, nicht live-
reren, und conquert Part. 68,23, nicht conquerert, franz. conquis von con-
quire.
NHD. IEREN
sind nicht zu zählen, so manche der mhd. aufser gebrauch kamen. man hat
fortgefahren sie aus lat. und romanischen wörtern zu bilden und durch ihre
übergrofse menge unsere sprache zu verderben. gute rede weicht ihnen so
viel möglich aus, aber im gemeinen leben haften sie fest. Während so viel
falsche IE geschrieben werden, unterdrückt die gewöhnliche schreibung IREN
hier das richtige zeichen für den langen und betonten laut. ich gebe nur bei-
spiele und füge einige bemerkungen hinzu. addieren allarmieren alterieren
amalgamieren ambulieren amusieren (nicht amüsieren) appellieren (1) ar-
mieren barbieren (bart abnehmen, verschieden von mhd. barbieren) einbal-
samieren basieren blamieren blasonnieren blockieren blumieren bordieren
bravieren buchstabieren cassieren eincassieren chargieren charmieren chas-
sieren contrahieren damnieren dinieren dividieren drappieren dupieren
embrassieren engagieren exercieren exponieren exportieren fetieren fingie-
ren figurieren flankieren flattieren florieren formieren frankieren galoppie-
ren glasieren glossieren grassieren gravieren grundieren gruppieren habili-
tieren handtieren harfenieren harmonieren haselieren hausieren honorieren
irrlichtelieren (Göthes Faust 71) junkerieren verjunkerieren kastrieren kar-
tieren kurieren kutschieren lakieren lamentieren lautieren läuterieren la-
vieren liniieren logieren erlustieren abmajorieren markieren marschie-
ren maulschellieren medicinieren melieren meliorieren moderieren mole-
stieren narrieren negieren normieren observieren ordinieren parieren par-
lieren passieren pausieren phantasieren planieren plaidieren postieren po-
stulieren praesentieren pressieren probieren protestieren purgieren quadrie-
ren quittieren radieren raisonnieren rappieren rasieren recturieren reformie-
ren regalieren regieren rentieren resolvieren restieren rottieren ruinieren
(nicht rüinieren) rundieren sabatisieren (H. Sachs) salvieren (retten, ver-
schieden von mhd. salüieren grüfsen) scharmuzieren schimpfieren ver-
schimpfieren schnabelieren schraffieren skizzieren spazieren (lat. spatiari)
(') altn. appellera, fornmannasögur 9,486. 10,99.
über das pedantische in der deutschen sprache. 219
spendieren spintisieren sgoliieren staffieren stolzieren strangulieren strapa-
zieren subtrahieren suppieren tapezieren taxieren temperieren trium-
phieren turnieren usurpieren variieren venerieren vindicieren visieren vo-
mieren wardieren wattieren.
Hat ein fremdes wort kein -ieren, so ist das ein zeichen älterer auf-
nahme, wir sagen pflanzen, nicht pflanzieren, weil schon ahd. phlanzön galt
(auch nnl. planten, dän. plante, schwed. aber plantera); doch haben sich
neben prüfen (mhd. prüeven) auch noch probieren (mhd. prüevieren) einge-
führt. liefern entspricht dem franz. livrer und lautet nicht lieferieren, wie
schwed. lefverera. in dem aus manier gemachten manierieren steckt das IER
sogar zweimal. Das anfügen der fremden ableitung auch an deutsche wör-
ter ist noch viel weiter getrieben worden, amtieren für amt halten, gastieren
für gäste setzen, narrieren ein narr sein, hofieren den hof machen und mit
dem unanständigen sinn in den hof bei seite gehen, schnabelieren mit dem
schnabel essen, fingerieren den finger rühren (schwed. fingrera), blumieren
statt des besseren blümen. die mahler, wenn sie grund legen und schatten
eintragen sagen grundiern eschattieren; juden die von haus zu haus feil bieten
hausieren, und geben vor zu handelieren. haslieren soll von hase herrühren,
vielleicht ists aus harceler entstellt. Hans Sachs braucht häufig glidmassieren;
handtieren oderhantieren scheint dem .nnl.hanteeren nachgeahmt (verhantieren
weisth. 2,550), die Holländer bilden auch voeteeren, was nhd. fufsieren wäre.
aus kutsche wird kutschieren, den wagen leiten. aufser stolzieren gilt halbie-
ren, in zwei hälften theilen, also wieder verschieden vom mhd. halbieren.
Als die bildung recht fest stand wurde sie auch angewandt, ohne dafs
ein französischer infinitiv zum grunde lag, man zog aus phantasie phantasie-
ren, aus spion spionieren, aus dem ital. spinta spintisieren, aus bramarbas
bramarbasieren. Deutsche partikeln treten noch häufiger vor, um den frem-
den klang einheimisch zu machen: becomplimentieren, einbalsamieren, un-
terminieren, umsomehr erlustieren ausstaffieren verclausulieren verschim-
pfieren verjunkerieren (sein geld wie ein junker verthun), Gellert braucht
ausschändieren für hart schelten.
Den sogenannten Cimbern der sette comuni lag der italienische unter-
schied zwischen -are -ere -ire zu nah im ohr, als dafs sie nicht, wie Schmel-
ler anmerkt, ihr amarn (amare) von stupirn (stupire) und stordiarn (stordire)
hätten abstehn lassen. diese armen, vom lehen der muttersprache abgeschnitt-
Ee2
220 J. Grimm über das pedantische in der deutschen sprache.
nen bauern vermochten den eindrang der romanischen wörter nicht von sich
abzuwehren.
Auch die slavischen sprachen haben nicht umhin gekonnt einige die-
ser ausdrücke aufzunehmen, unter ihnen zumeist die polnische, gegen das
fremde element sich am wenigsten sträubende. in der regel aber hat sie mit
gutem tact das zeichen des französischen infinitivs ausgelassen, sie sagt are-
stowac arretieren, balsamowad einbalsamieren, bankrutowad bankrottieren,
egsaminowac examinieren, notowac notieren; nur einigemal hat der deutsche
einflufs gesiegt: eksercerowac exercieren, marszerowaC marschieren, bis ins
böhm. marSirowati, russ. mMapımmporams. Das alles muste sich die alte deut-
sche wurzel marka gefallen lassen, denn marcher, it. marciare will eigentlich
sagen: über die mark, über das land gehn.
Über
‘ein Bruchstuck des 98"” Buchs des Livıus.
Y
H"” PERTZ.
wunnnnnnnNNWUVU
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 9. December 1847.]
I. einer früheren Sitzung dieses Jahres legte ich der Königlichen Akademie
ein Pergamentblatt vor, worauf ich mit Hülfe chemischer Reagentien zwei
Stellen des 98° Buchs des Livius entdeckt hatte; die Akademie genehmigte
damals auf meinen Antrag, dafs das Blatt in Kupfer gestochen und dadurch
ein Mittel gegeben würde, weitere Entdeckungen vorzubereiten; die Proben
dieser Stiche sind vollendet und ich erlaube mir nunmehr einige Bemerkun-
gen über die Herkunft, den Inhalt und sonstige Verhältnisse des Bruchstücks
vorzutragen.
Herr Dr. Heine von hier, welchem ich früher bei der paläographi-
schen Vorbereitung auf seine Reise nach Frankreich, Spanien und Portugal
einige Hülfe gewähren konnte, und der während dieser Reise mich durch
sehr wichtige und dankenswerthe Forschungen und Arbeiten, insbesondere
für die künftige Bearbeitung der Westgothischen Gesetze erfreut hatte,
brachte mir bei seiner Rückkehr unter andern für die Königl. Bibliothek
bestimmten Geschenken, den einzigen bisher unbekannten Pergamentdruck,
das Dedicationsexemplar, von Joh. Philippi de Lignamine historia Ferdi-
nandi regis Sieiliae, Romae 1471. und mehrere lose Pergamentblätter, wel-
che er bei spanischen Buchhändlern gekauft hatte, und deren eins ihm we-
gen der alten Unzialschrift, die es enthält, besonders beachtungswerth schien;
nichts älteres, erklärte er, habe er in Spanien gesehen. Die übrigen Blätter
zeigten Westgothische Minuskel des 9“ und 10'“ Jahrhunderts, und wurden
von mir sogleich zu den Handschriften der Königl. Bibliothek gelegt, das
Blatt mit Unzialschrift hingegen einer weitern Untersuchung vorbehalten, da
es an einzelnen Spuren älterer Schrift als unzweifelhaftes Palimpsest erkannt
wurde. Zwar war das Blatt, welches Herr Dr. Heine von einem Buchhänd-
ler in Toledo gekauft hatte, nur klein, dem Gehalte nach ein Drittheil eines
222 Pertz
Folioblatts; aber seitdem ich in Neapel die Bruchstücke des 10'* Buchs der
Pandecten und des Lucan aufgefunden hatte, war unter allen Palimpsesten
die mir in verschiedenen Bibliotheken vorkamen keines, welches mit so gro-
{ser Wahrscheinlichkeit auf Reste classischer Litteratur hoffen liefs, als das
vorliegende. Die obere Schrift, auf der einen Seite „isti ab aquilone et mari,
alii autem laetamini caeli et exultet terra” beginnend, und in der 5" Zeile
„paulus in secundo ad corinthios,” leitete auf einen theologischen Commentar
oder eine Predigt; sie ist wirklich aus des heiligen Hieronymus Commentar
zum Jesaias und findet sich im 49. Capitel des 13. Buches(?!) Die Schriftzüge.
sind eine mäfsig grofse, sehr deutliche Majuskel, worin nur B, N, R, $ ent-
schieden die Capitalform zeigen, welche bei C, I, O im Übergang zur Unzial
überhaupt nicht verloren geht; die grofse Mehrzahl der Buchstaben hingegen
A,D,E,F,G,H,L,M, P, Q, T, V erscheinen durchaus als Unzial, D, H,
L hoch über, F, G, P, Q unter die Zeile herabgezogen. Die einzelnen Buch-
staben stehen gewöhnlich unverbunden in gleichmäfsiger Entfernung, ohne
alle Rücksicht auf die Worttrennung. Als Interpunctionszeichen erscheint
einmal ein Punct, öfter ein Zeichen gleich dem $S. Das Alter der Schrift
fällt demnach in das siebente Jahrhundert; man wird nicht weit fehlen, wenn
man annimmt, dafs zu Dagoberts und Muhameds Zeit die Handschrift, wel-
cher das Blatt angehörte, nach Vertilgung ihres ersten Textes als Stoff zu
dem Commentar des Hieronymus verwendet worden ist. Um die seit 1200
Jahren schlummernde erste Schrift wieder hervorzurufen, wählte ich unter
den mir aus mancher Erfahrung als wirksamst bekannten Stoffen das Am-
monium hydrosulphuratum und die Giobertsche Tinctur, 6 Theile Wasser,
4 Theil Acidum muriaticum, + Kali zooticum (prussiat de potasse). Je nach
der Zusammensetzung der früher angewandten Dinten hat bald die eine bald
die andere dieser Mischungen einen gröfseren Erfolg; ich liefs beide frisch
bereiten, reinigte das Pergament mittelst kalten Wassers sorgfältig von Staub
und Unreinigkeit, und da ein Versuch zeigte, dafs die alte Dinte gegen Gio-
bertsche Tinetur sehr empfindlich war, so mischte ich deren beide Bestand-
theile in ungefähr gleichem Maafse, befeuchtete damit das eben gereinigte
noch nasse Pergament, und liefs es zwischen weifsem Löschpapier gepresst
zum Trocknen 48 Stunden liegen.
(') Opera edit. Vallarsii Veronae 1735. T.IV. p. 566.
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 223
Bei der Eröffnung zeigte sich die alte Schrift im Ganzen sehr deutlich
und schön himmelblau. Das Lesen ward nur dadurch erschwert, dafs die Zei-
len der alten Schrift von den in gleicher Richtung darüber laufenden neuen
Zeilen zum Theil verdeckt, und mehrere Stellen beim Abschaben oder spä-
term Gebrauch verletzt waren. Es trat der andere Übelstand hinzu; von den
je zwei Columnen, welche der Hieronymus überdeckte, lag keine ganz vor,
sondern es waren von der breiteren einige Buchstaben abgerissen, während
sich von der Nebencolumne überhaupt nur wenig Buchstaben erhalten hatten.
Man las auf der Vorderseite des Hieronymus folgende elftehalb Zeilen:
_IERAE PoLENTULUSMARCELL
SPECTA EODEMACTOREQUAEST 2
LLIIN INNOUAMPROUDINCI 3
RATDEI CURENASMISSUSESTC 4
-TACOT EAMORTUIREGISAPIC 5
QUOR" TESTAMENTONOBISD 6
DAEET PRUDENTIOREQUAM -
TAERO PERGENTISETMINUSG 8
ETUM RIAEAU IDIIMPERIOCC 9
TCUPI NENDAFUITPRAETERE 10
IR, PFI DERTCNPVAA2PM\?FI 11
Es fehlten also die letzten Buchstaben jeder Zeile. Auf der Kehrseite wa-
ren die ersten Buchstaben jeder Zeile der Hauptcolumne weggefallen:
ISSAEU I TIAQUAREFATI Pauc
TAPLEBESFORTECONSU ULTER }
\MBOQ-METELLUMCUI CUPIT, ;
TEACRETICOCOGNOME ALIN f
ITUELCANDIDATU INCO }
AETORIUMSACRAUIADE LERU 6
CTISCUMMAGNOTU MIHI 7
LTUMINUADITFÜGIEN TIAEC ;
Q-SECUTAADOCTAUIDO ALQ 9
MQ-PROPRIOREERATIT BIPA "
>UTCNACULUMPERRLIE m
224 Pertz
die nur in den oberen Spitzen der Buchstaben vorhandene elfte Zeile konnte
nur durch scharfe Auffassung dieser Überbleibsel mit ziemlicher Gewifsheit
hergestellt werden; bei den übrigen zeigte es sich bald, dafs in den beiden
gröfstentheils erhaltenen Columnen, bei der einen zu Ende, bei der andern zu
Anfang der Zeilen, zwei bis höchstens vier Buchstaben vermifst würden; dafs
die Zeilen ungleich ausliefen, sah man an den erhaltenen Ausgängen zweier
Columnen; die der Vorderseite enthalten von fünf bis zu sieben Buchstaben.
Die Herstellung des Verlorenen ergab sich daher in den meisten Fäl-
len von selbst; bei den Zeilen der Vorderseite 2, 3, 4, 5, 8, 9 war kein
Zweifel; in der ersten Zeile wo man MARCELLI F. oder MARCELLINUS le-
sen konnte, verdient das Erstere den Vorzug, weil es sich in den muthmafs-:
lichen Gränzen hält; derselbe Grund spricht für DATA in der 6" Zeile;
INDE in der 7“ fordert der Sinn, da von einem aus der Provinz abgehenden
Beamten die Rede ist, während das entgegengesetzte EO dem Sinne wider-
spräche; pergit inde in diesem Sinne kommt bei Livius 23, 27 vor. Das er-
gänzende DI der 10 Zeile wird durch das anscheinende VERSORUM der
11‘ gefordert.
Gröfsere Schwierigkeiten bietet die Rückseite dar. Gleich das erste
Wort läfst sich nicht mit Gewifsheit herstellen. Der Wortausgang IS kann
einem Substantiv oder Adjectiv angehören; ob z.B. consularis oder consu-
lis, militaris, intolerabilis(') oder irgend ein anderes Wort zu lesen, bleibt un-
gewifs; enthält es mehr als 5 oder 6 Buchstaben, so war der Anfang noch am
Schlusse der vorhergehende Columne geschrieben. Die Ergänzung der zwei-
ten Zeile ist sicher. Da der schräge Strich zu Anfang der 3" Zeile nur
einem A oder M angehören kann, letzteres aber hier nicht zulässig ist, so
ergiebt sich LES, consules, vor AMBO mit Sicherheit. Auch die Ergänzun-
gen der 4“, 5" und 6‘ Zeile stehen wohl fest. Ungewifs hingegen ist die
der 7“ Zeile; wenn, wie kein Zweifel, der Anfang des ersten Worts darin
CTIS gelesen werden mufs, so bietet sich TECTIS dar; das Volk greift den
Consul in der Via sacra von den Dächern und Häusern herab an. Da die
Bedeutung des de(?), von einem Orte her, feststeht, so kann gegen diesen
(!) Wie Liv. 1, 53.
(2) Cic. Verr. 2. 4. 40 haec agebantur palam ac de loco superiore; Terent. Andr. 3.
2. 11. clamat de via.
[SS]
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 2235
Vorschlag nicht angeführt werden, dafs Livius an einer anderen Stelle de tec-
tis moenibusque pugnare in einer anderen Bedeutung, wegen der Häuser und
Mauern, gebraucht hat(').
Die Auflösung des so ergänzten Textes bietet keine besondere Schwie-
rigkeiten. Die Gestalten der Buchstaben sind fast überall mit Sicherheit zu
erkennen. Zur Unterscheidung der Hauptabsätze, als Unterabtheilung der
Capitel, sehen wir ein Zeichen, gleich einem grofsen P, von fast doppelter
Buchstabenhöhe, welches hier zweimal, zu Anfang der vierten Haupt- und
der zweiten Nebenkolumne, vorkommt, und sonst nicht bekannt ist; es
wird als die ursprüngliche Gestalt des Paragraphen-Zeichens aufzufassen seyn
wozu also der Anfangsbuchstab des Wortes Paragraphus diente. Isidor in
den Origines (?) hat dafür das Zeichen /" und F” erhalten, welches einem gro-
{sen Gamma ähnlich, entweder aus unserm Zeichen oder vielleicht aus dem
verkürzten Griechischen M, T entstanden ist(°); diesem schliefsen sich in
den Handschriften des früheren Mittelalters die leicht geschwungenen Zei-
chen Tunı ‚ in der Originalhandschrift des Geschichtschreibers
Siegbert von Gemblours de vita Wicberti und Gesta abbatum Gem-
blacensium aus der zweiten Hälfte des 14'* Jahrhunderts schräg 7 Fr
und selbst fl pi ‚im 12" Jahrhundert in Godeschalks Fortsetzung H Je ST,
Van woraus sich dann späterhin verschiedene Gestalten bis auf die bei uns
gebräuchliche herab gebildet haben. Neben diesen gröfseren Abtheilungs-
zeichen, findet sich aber weder irgend eine Unterscheidung der Sätze und
Satztheile, noch der einzelnen Wörter. Wie Sueton von Augusts Hand-
schrift berichtet: Non dividit verba (*), so sind auch hier die Buchstaben zwar
ohne alle Verbindung, aber auch ohne alle Trennung neben einander gestellt.
Es war eine zweite Eigenthümlichkeit des Augustus „nec ab extrema parte
versuum abundantes litteras in alterum transfert, sed ibidem statim subücit
eircumdueitque”, dafs er am Ende der Zeilen nicht abbrach, sondern die
(dr be In al
e) L 2.
(°) Der Trait€ de diplomatique P. III. 485 giebt darüber kaum etwas mehr als schon
Walthers diplomatisches Lexicon enthielt.
(*) Cap. 87.
Philos.-histor. Kl. 1847. Ff
936 Perrz
überzähligen Buchstaben eines angefangenen Wortes gleich darunter — oder
wie es in alten Handschriften auch sehr häufig vorkommt, darüber — schrieb
und durch einen Strich an die richtige Stelle leitete ; hier hingegen sind die
zweiten Hälften der Worte wie glo-riae compo-nenda di-uersorum fati-
gata consu-les tu-multum fugien-temque do-mum jedesmal in den Anfang
der folgenden Zeile verwiesen; nur ein oder höchstens zwei Buchstaben,
welche keine eigene Sylbe bildeten, wurden mittelst eines Abkürzungsstri-
ches angehängt, in durch I”, con durch CO ohne Zweifel auch das fehlende
n in cognomen durch einen Strich oberhalb neben dem e ausgedrückt; ein-
mal ist in quorum das Ende durch ein kleines u mit dem Strich darüber ge-
geben. Hier finden wir also den Grund und Anfang der Abkürzungen,
die jedoch in der Mitte der Zeilen noch fast gar nicht vorkommen. Nämlich
nur folgende, je einmal:
Q: als Sigle für Quintus, Quintum
Q- für die Partikel que
Q- für das Relativum qui
PRTORE für Praetore.
Über Q- als Namen ist nichts zu sagen; Q* für que steht aus Inschriften und
aus ältesten Handschriften, z.B. der Vaticanischen des 91°“ Buchs des Li-
vius und der Rede pro C. Rabirio, fest. Das Relativum hingegen wird in
der alten Capital und Unzial in Handschriften und Inschriften gewöhnlich
ausgeschrieben; mit ausgelassenem u, als qi sah ich es in einer Christlichen
Inschrift des Vaticanischen Museums
Konısvs QI BIXITME
Ns DIESSN
durch Q: wird es unter andern in Q:V-=QVIVIXIT und in einer Inschrift
bei Marini Iscrizioni Albane S. 109, ferner in der Vaticanischen Handschrift
der Rede pro Rabirio(!) ausgedrückt; als Tironische Note ist es ein auf-
rechtstehendes 4.
Das Wort Praetor wird in Inschriften und Handschriften theils ganz
ausgeschrieben, theils PRAET: wie bei Marini S. 51, 54, 56 abgekürzt,
(') Niebuhr Tafel N. 3. Z. 1. und pag. 75.
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 297
theils und sehr häufig nur durch die beiden Anfangsbuchstaben PR: bezeich-
net, z.B. in Marini S. 53 und in den Handschriften des Livius(!). Die sehr
schwachen Züge unseres Pergaments lassen nicht mit Sicherheit erkennen,
ob der obere kleine Strich des T noch vorhanden ist; ich glaube aber die
Annahme, dafs er vorhanden gewesen, um so mehr begründet, da der Buch-
stab als I gelesen „‚qui propriore erat” nicht verständlich ist, und es auf domum
zu beziehen eben so unzulässig wäre, da Q' nicht quae gelesen wird, und
propriore für proprior stehen mülste; ich lese also PRT = praetor und
PROPRTORE pro praetore. Übrigens haben auch die Schreiber den obe-
ren Strich des T Anfangs aus Versehen, später aus Gewohnheit öfter weg-
gelassen, wie in der Tabula honestae missionis der K. Bibliothek Z. 12 der
inneren Seite
DVXISSENL
steht, und 22 für nt in Handschriften des 8" und 9“ Jahrhunderts vorkommt.
Bevor wir zu einer näheren Betrachtung des Textes übergehen, ist es
nothwendig über das Verhältnifs der vier verschiedenen Bruchstücke ins Klare
zu kommen, zu erkennen, durch wie weite Lücken sie von einander getrennt
sind. Zunächst lehrt der Augenschein, dafs uns hier je zwei Columnen ei-
ner Seite, und nicht vier Seiten, vorliegen; der enge zwischen beiden Co-
lumnen leergelassene Raum im Vergleich gegen den vier Finger breiten obe-
ren Rand beseitigt jeden Zweifel; es ist daher gleichfalls gewifs, dafs die linke
Columne jeder Seite der rechten vorhergeht. Über die einstige Länge der
Columnen und den Umfang der Handschrift läfst sich Folgendes theils mit
Sicherheit theils mit grofser Wahrscheinlichkeit schlielsen. Der Text des Hie-
ronymus enthält 17 Zeilen, vergleicht man ihn mit dem gedruckten Commen-
tar des Werkes, so fehlen zwischen der Vorder- und Rückseite etwa 14 Zei-
len; es war also das Pergament fast noch einmal so lang als unser Bruchstück,
und nach dem Mafse des zur Seite weggeschnittenen Textes mehr als 1 mal
so breit, so dafs mithin der weilsgelassene Seitenrand sowohl des Hierony-
mus als des alten Textes dem oberen Rande beider entsprach. Da nun der
Hieronymus mit seinem Texte und innern Rande anderthalb Columnen des
©) Vgl. auch Lexic. Morcellianum in PROPR- und PROPRAET:- = PRO-
PRAETOR.
Ff2
998 Pertz
alten Textes in Anspruch nahm, so ergiebt sich daraus, dafs der alte Text
nicht in zwei, sondern in drei Columnen geschrieben war, dafs jedes Blatt
bei der Verwendung für den Hieronymus in der Mitte gebrochen, und aus
einem grofsen Quadrat zwei Blatt Langfolio gemacht wurden. Vermuthlich
schnitt man dabei, um nicht zu langes Format zu erhalten, noch einen Theil
des untern Pergaments als Einzelblatt ab, so dafs wir uns das alte Pergament-
blatt wenigstens als ein völliges Quadrat denken dürfen, welches von allen
Seiten die Schrift mit einem sehr breiten Rande umgab. Für Quadratfolio
spricht nicht nur die, bei einer Prachthandschrift wie diese, nothwendig vor-
auszusetzende Schönheit der Verhältnisse, sondern auch der Umstand, dafs
Queer-Folio und überhaupt Queer-Format, welches in Urkunden verhält-
nifsmäfsig vorherrscht, bei alten Handschriften nur äufserst selten vorkommt;
ein einzelnes Beispiel ist der Pariser Codex 2714 mit Urkunden - und Brief-
Formeln aus dem 9“ Jahrhundert und dem Capitular von 817 in Tironi-
schen Noten. Bei solchen Verhältnissen würde die Columne der alten Schrift
zwischen 30 und 34 Zeilen gezählt haben, und der Umfang dessen was auf
jeder Seite zwischen dem Ende der 11" Zeile der ersten und der 1" Zeile
der folgenden Columne verloren ist, darf auf das doppelte des Erhaltenen
angenommen werden. Die ursprüngliche Entfernung des Textes der einen
Seite von dem auf der andern hängt davon ab, ob unser Stück zu der äufse-
ren oder inneren Hälfte des alten Blattes gehörte: im letztern Falle ist zwi-
schen den beiden jetzigen Seiten eine Lücke von 22. Columnen, im erstern
nur von 20-24 Zeilen. Da nun zwischen den beiden gröfseren fast ganz er-
haltenen Bruchstücken, welche in diesem Falle so nahe zusammenträten, gar
kein innerer Zusammenhang ersichtlich ist, so bin ich geneigter das Erstere
anzunehmen. Daraus folgt, dafs der alte Text der jetzigen Kehrseite den
Anfang macht; und ich ordne und lese den Text nunmehr so:
intoler.a-
bilis saeuitia. (Qua re fati-
gata plebes, forte consu-
les ambo, (). Metellum, cui
postea Uretico cognomen
Juit, vel candidatum
praetorium Sacra Via de
tectis cum magno tu-
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 239
multum inuadit, fugien-
temque secuta, ad Octavi do-
mum, qui pro Praetore erat, in
propugnaculum peruenit
Lücke von 20-24 Zeilen, worin der andere Consul Q. Hortensius erwähnt
wurde. Dann neuer Absatz:
Se: 0 aan, 89
ulter on ie ee ir
EUPILCeH ee ee
ualimi a
INK CO ee ee ee
Ball arg Besen
mihlei ar ee
HaeneH ee ea
BEREITETE SO
bipalgsn Aut „NIE
Lücke von 22 Columnen, 80-90 Zeilen.
MSN. ee KWerZEe
“een... Specia
haste
A eat diem
ee a ERLANCON!
N N an. ERGHOEUHL
Rn Ki, Arsienımlaelet
ERS REN AELO
Ol oA keiktinn
SURRLTL. 4.055 Kb eupi
Sr eekihlis orıtu
Lücke von 20-24 Zeilen, darauf neuer Absatz:
230 Pertz
N Q. Lentulus Marcell F“.
eodem actore quaestor
in nouam prouinciam
Curenas missus est, quod
ea mortui regis Apionis
testamento nobis data,
prudentiore quam inde
pergentis et minus glo-
riae auidi imperio compo-
nenda fuit. Praeter ea di-
uersorum ordinum ...
Obwohl von so kleinem Umfange sind diese Stücke doch durch ihren Inhalt
scharf genug ausgeprägt, um einen festen Platz in dem Römischen Schrift-
gebiete zu erhalten.
Es ist klar, dafs sie einem Geschichtschreiber angehören; Q. Metel-
Ius, der spätere Besieger der Oreter, bekleidete das Consulat im Jahre 69
vor Christo; die hier erzählten Begebenheiten fallen also in dieses Jahr, und
gehören entweder dem verlorenen fünften Buche der Historien Sallusts oder
einem der verlorenen Bücher des Livius an. Für den letztern entscheidet
unbedenklich der Styl, und da Livius nach den erhaltenen Auszügen seines
Werks die Begebenheiten der Jahre 70, 69, 68 im 98°" Buche beschrieben
hatte, so müssen sie diesem zugetheilt werden. Einen äufseren Beweis
versagt die Beschaffenheit des Bruchstücks, da diejenige Stelle des Perga-
ments, an welcher nach dem bekannten Gebrauche in den alten Römischen
Handschriften, z. B. dem Neapolitanischen Lucan, dem Wiener Livius, der
Columnentitel auf der Seite links T- LIV!- und auf der Seite rechts LIB-
XCVIll- gestanden haben mufs, nämlich die Mitte des oberen Randes ober-
halb der mittleren Columnen, nicht mit erhalten ist.
Die hier erzählten Begebenheiten fallen in eine Zeit, die des Lueul-
lischen Krieges gegen Mithridates und Tigranes, für welche wir eine reiche
gleichzeitige Quelle nicht, von späteren jedoch Appian und Plutarch be-
sitzen. Wie viel uns mit den verlorenen Büchern des Livius entzogen ist,
wie reiche Aufschlüsse über so vieles Einzelne durch deren Wiederauf-
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 231
finden erlangt werden würden, läfst sich selbst an diesem kleinen Bruchstücke
erkennen. Sein ganzer Inhalt ist für uns neu. Von den drei darin erwähn-
ten Männern ist der Consul Q. Metellus bekannt; die Namen des Proprä-
tors Octavius(!) und des Quästors Q. Lentulus werden jetzt zum erstenmal
genannt. Von den beiden Thatsachen aber, dem Aufstande des Römischen
Volks gegen seine Consuln Metellus und Hortensius und von der Sendung
eines Magistrats nach Cyrene im J. 69, erhalten wir hier die erste Nachricht.
Der Zeitpunkt wann Cyrene Römische Provinz geworden, war bisher zwei-
felhaft;, man konnte um 30 Jahre schwanken, zwischen dem Jahre 96 (658
Roms) worin Cyrene den Römern durch Testament des Königs Ptolemaeus
Apion zufiel(?), oder doch wenigstens der Anordnung der Cyrenaischen Ange-
legenheiten durch Lucullus im Jahr 86 einerseits, und dem Jahr 54 worin
Cicero in der Rede für Cn. Plancius Cyrenaica als einer Provinz erwähnt (?),
deren Verwaltung M. Iuventius Laterensis als Quästor geführt habe. Inner-
halb dieses Zeitraums fallen die Angaben Appians, Cyrene sey um dieselbe
Zeit wo Bithynien (*) durch Nicomedes, den Römern durch Ptolemaeus Api-
ons Testament zugefallen, also im Jahre 75, und Eutrops welcher dasselbe
Ereignifs mit der Einnahme Cretas durch Metellus im J. 66 verbindet (°);
beide sind jedoch nicht genau; Eutrop hat, wie Thrige scharfsinnig ver-
muthet, für zwei späterhin in der Verwaltung verbundene Provinzen densel-
ben Anfangspunkt angenommen; und Appian verbindet ebenso unrichtig das
Testament und den Tod des Ptolemaeus mit dem des Nicomedes. In unse-
rer Stelle nun wird Cyrenä eine nova provincia genannt, ein von dort abge-
hender und ein neuantretender (Juästor erwähnt, das Land mufs also im
Jahre 70 oder kurz vorher zur Provinz gemacht worden seyn.
(') Vgl. Drumann Geschichte Roms nach Geschlechtern Th. 4, S. 218 und Th. 2. S.
389. Der Proprätor Octavius ist keiner der dort aufgeführten; er gehört zu dem ältern
Zweige, wenn Suetons Angabe richtig ist, dals von dem jüngern Zweige Augustus Vater
zuerst Staatswürden bekleidet habe. In dieser jüngern Linie erscheint jedoch eine Lücke.
Augusts Vater C. Octavius, der im Jahr 61 Prätor war, kann nicht der Enkel eines Man-
nes gewesen seyn, der im J. 216 als Tribunus militum bei Cannae kämpfte.
(2) Liv: Epit. ib. 70.
(°) Thrige Res Cyrenensium. Hafniae 1828 pag. 274.
(*) App- de bello civili I. e. 111.
(°) Eutrop 1. 6. ec. 11 ed. Havercamp.
232 Pexrtz
Im Einzelnen ist zuerst der Ausdruck candidatus praetorius zu bemer-
ken, welcher gewöhnlich einen Bewerber um die Prätur bezeichnet, hier
aber von einem Consul gebraucht, in dem alten Sinne verstanden seyn mufs,
wo praetor den consul einschliefsend, überhaupt den höchsten Magistrat
bezeichnete (!), und worin Livius den Dietator praetor maximus nennt (?).
Candidatus praetorius wäre daher der Bewerber um eine der höchsten Wür-
den, und in dem vorliegenden Falle, der Bewerber um eine Provinz, nämlich
Creta, welche dem Metellus zu Theil ward, nachdem Hortensius darauf ver-
zichtet hatte.
Die propugnacula, wohin die Verfolgung des Consuls das Volk brachte,
sind nach der verschiedenen Richtung der Flucht entweder die des Capitols
oder der Stadtmauer, wahrscheinlich die letztern, da des Forums nicht er-
wähnt wird.
Die einzelnen Wörter und Verbindungen sind dem bekannten Sprach-
gebrauch des Livius gemäfs; plebes, actor, Octavi, Curenae als Provinz von
fünf Städten, so wie consules ambo im Accusativ statt ambos; dagegen
kann cum magno tumultum nur als Schreibfehler betrachtet werden, so un-
gern man sich auch entschliefst Schreibfehler in einer solchen Handschrift
anzunehmen.
Denn vergleichen wir nun die Handschrift, welcher dieses Stück ange-
hört, mit den übrigen zahlreichen Handschriften des Livius, so reicht sie an
Alter über sie alle hinauf.
Der Text des Livius, so weit wir ihn jetzt kennen, trat bekanntlich
nicht auf einmal, sondern in gröfseren oder kleineren Zwischenräumen ans
Licht. Die Römische erste Ausgabe von 1469 enthielt die erste Dekade, das
21-32, 34-39 und die 36 ersten Capitel des 40°" Buchs. Im Jahr 1518
wurden aus einer Maynzer Handschrift die fehlenden Capitel des 40° und
des 33“ Buchs vom 17“ Capitel an hinzugefügt; im Jahr 1531 zu Basel aus
einer Lorscher Handschrift das 41-45 Buch; erst im Jahr 1616 folgten die
fehlenden siebenzehn ersten Capitel des 33“ Buchs. Um dieselbe Zeit ver-
breitete sich das Gerücht vom Daseyn eines vollständigen Livius in der Bi-
(') S. die Stellen bei Forcellini. Cicero de legibus IH. 3.
E)- av MS:
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 2333
bliothek des Serails, wofür der Grofsherzog von Toskana vergebens 5000
Piaster bot, und welcher später dem Französischen Gesandten Harlay für
10000 vom Bibliothekar zugesagt wurde, aber nicht zu finden war. Im J.
1682 kamen Griechen aus Chios nach Frankreich und boten Colbert einen
vollständigen Livius, der aus dem Brande der Kaiserlichen Bibliothek in Con-
stantinopel gerettet seyn sollte, zu Kaufan; Bourdelot der sie selbst gespro-
chen hatte, erzählt, der Kauf solle auf 60000 Livres abgeschlossen, und Leute
hingeschickt seyn das Werk in Chios zu copiren, damit es nicht etwa bei ei-
nem möglichen Schiffbruche untergehe: man sprach in Paris nur von der
Befriedigung der Gelehrten, da der König das Werk auf seine Kosten druk-
ken lasse und wohlfeil verkaufen werde; aber nach einiger Zeit war die Freude
vorbei, und man hörte nie wieder etwas weder von den Chioten noch vom
Livius. In demselben Jahrhundert erzählte ein Mitglied der Französischen
Academie Chapelain von einem Livius des Damenklosters Fontevrauld, der
als Pergament verkauft und zu Raketen verbraucht sey; an mehr als 12 Dut-
zend derselben habe man die Lateinischen Titel der 8“, 10‘ und 11" Decade
gelesen(!). Ein angebliches Bruchstück des 16“ Buchs aus einer Salmans-
weiler Handschrift, welches Schöpflin der Pariser Akademie und Draken-
borch (?) mittheilte, ward von beiden als Stück des Leonardus Aretinus de
bello Punico erkannt. Man hatte schon die so oft getäuschten Hoffnungen
aufgegeben, als im Jahr 1773 Bruns und Giovenazzi in einem Vaticanischen
Palimpsest ein Bruchstück des 91° Buchs entdeckten und herausgaben, wel-
ches dann Niebuhr im Jahr 1820 berichtigt und vervollständigt hat. Keine
aller bisher aufgefundenen Handschriften enthält also mehr als nur einen
Theil, meistens eine oder eine halbe Decade.
Die Handschriften, welche bis jetzt für die erste Decade benutzt sind,
führen den Text auf eine Recension aus dem Anfange des sechsten Jahrhun-
derts zurück, aber keine derselben reicht über das 9* Jahrhundert hinauf.
Die älteste Handschrift für die dritte und vierte Decade wird ins 8° Jahrhun-
dert gesetzt. Die Lorscher, jetzt Wiener, in welcher allein die fünf Bücher
der fünften Decade erhalten sind, ist, wie eine frühere von mir bekannt ge-
(') La bibliotheque choisie de M. Colomies nouvelle Edition augmentee des notes de
MM. Bourdelot, de la Monnaye et autres. Paris 1731. S. 40-46.
(2) Drakenb. Livius T. VII. p. LXXIX.
Philos. - histor. Kl. 1847. Gg
234 Pratz
machte Schriftprobe (!) zeigt, in einer kleinen Unzial geschrieben, deren
meiste Buchstaben die Capitalformen ganz verlassen haben, welcher allenfalls
nur noch N, Sund O angehören; diese Bücher können daher auch kaum über
die Zeiten Cassiodors hinaufgesetzt werden.
Es bleibt also nur das Palimpsest des 91“ Buches übrig, welches dem
unsrigen auch darin ähnlich ist, dafs die neuere Schrift gleichfalls des heil.
Hieronymus Commentar zum Alten Testamente enthält. Für die umfang-
reichen Werke dieses Kirchenvaters fanden die geistlichen Abschreiber in
einem Exemplar des Livius den schönsten Stoff in erwünschter Masse vor,
da die 142 Bücher nach dem Mafsstabe der dritten Decade vierzehn Bände
von je 200-250 Blättern im gröfsten Format unsers Bruchstücks erforderten,
welche nach unsern Preisen allein an Pergament gegen 6000 Thaler werth
waren. Aber der Gedanke welcher nahe liegt, dafs beide Bruchstücke, das
Vaticanische und das unsrige, ursprünglich derselben Handschrift angehört
haben könnten, wird durch den Augenschein widerlegt. Niebuhr, der eine
Schriftprnbe gab, meinte, das Römische Fragment gehöre der Schrift nach
in eines der Jahrhunderte vom 1°" bis 8°", der Rechtschreibung wegen setzte
er es in die Zeiten des sinkenden Reichs und des Symmachus. Da die
Schriftprobe nicht ganz genau ist (?), so läfst sich nur sagen, dafs sie im
Charakter, nicht aber in der Gestalt aller Buchstaben, dem Vaticanischen
Terenz ähnlich ist, ihr Anspruch auf ein hohes Alter wird auch durch das
Vorkommen zusammengezogener Buchstaben N = NS nicht aufgehoben,
da wir dergleichen in einer Herculanensischen Inschrift sehen (°).
Wer unabgeschreckt durch Niebuhrs Warnung sich an den Versuch
machen wollte, die Geschichte der Römischen Majuskel wissenschaftlich zu
begründen, wird nur dann auf einigen Erfolg rechnen können, wenn er so-
gleich beim Beginn seiner Untersuchung Alles dasjenige aussondert, was als
Arbeit eigentlicher Kunstschreiber zu betrachten ist und von geschickten
(') Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtkunde T. 4. Schrifttafel zu
S. 521.
(2), 9222:
(°) Bei Mazois IV. t. XL:
AP. CLAVDIO PVLCHRO
COS. IMP.
HERCVLANENSES. POST. MORT.
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 235
Händen nach guten Vorbildern zu jeder Zeit angefertigt werden kann. Welche
Meister dieser Art noch im 9“, 10“ und den folgenden Jahrhunderten ge-
lebt haben, zeigen nicht wenige auf uns gekommene prächtige Handschrif-
ten; und es giebt einzelne, wie das Evangeliar der K. Bibliothek, die eine
so reine und schöne Capital zeigen, dafs sie der Zeiten des Augustus wür-
dig wären. Solche Majuskel ist auch späterhin nicht nur seiten- oder stel-
lenweise nachgeahmt, sondern das ganze Mittelalter hindurch zu Über- und
Unterschriften angewendet worden; ich halte es daher mit Niebuhr für un-
möglich, aus solchen Denkmählern irgend einen Schlufs auf die Zeit ihrer
Entstehung zu ziehen. Dagegen ist es nicht nur thunlich sondern auch für
eine wissenschaftliche Beurtheilung der Majuskel-Handschriften nothwen-
dig, alle noch übrigen Denkmähler ihres Gebrauchs im gewöhnlichen Le-
ben zu untersuchen, und aus ihrer Vergleichung zu ermitteln, ob sich über
die Ausbildung der lateinischen Majuskel etwas Näheres ergiebt, und da-
durch eine feste Grundlage für diesen Theil der Diplomatik gewonnen wer-
den kann.
Die Denkmähler, welche hiebei in Frage kommen, sind sowohl die
eigentlichen Handschriften als auch die Metall- und die Steinschriften.
Von Handschriften giebt es nur eine einzige, deren Alter zwischen
den Jahren 31 vor und 79 nach Christo gewifs ist, das Gedicht auf Octa-
vians Krieg gegen Antonius und Cleopatra, welches in Hereulanum gefun-
den wurde (!) es ist auf Papyrus geschrieben, mit einer leichten flüchtigen
Hand, schräge Quadrat, und zeigt neben den Capitalformen von A, E, F,
G, H, V auch schon einige von deren Unzialformen. Gleichen Alters sind
die Pompejanischen gemalten Inschriften, welche man am Besten zu den
Handschriften rechnet (?), theils sehr schmale langgezogene Schrift, die an
den Vaticanischen Gellius erinnert, mit einzelnen Unzialformen b PD und
über die Zeile gehenden Buchstaben b und D, I, Y, während die Pompeja-
nischen Steinschriften durchgängig sehr schöne Capital zeigen. Vom Ende
des 5" Jahrhunderts besitzen wir den florentinischen Virgil; aus dem Jahr
509 oder 510 den zu „Karalis”(°) geschriebenen Hilarius der St. Peterskirche;
(') Herculanensium voluminum T. I.
(?) Mazois Ruines de Pompei T. I.
(°) Cagliari in Sardinien; das Schriftmuster s. bei Mabillon de re dipl. S.355. welcher
aber irrthümlich Kasulis liest.
G32
236 Perrz
aus dem 7“ Jahrhundert, das Neapolitanische Pandektenstück; der Hilarius
ist völlig Unzial, die Pandekten machen bereits den Übergang zur runden
Minuskel, während der Virgil nur in A Unzial hat, F, L, Y über die Zeile
erstreckt, aber übrigens mit grofser Sorgfalt nach einem alten Muster ge-
schrieben ist.
Von Metallschriften geben das Senatus consultum de bacchanalibus
186 vor Christo, und spätere Gesetze, so wie die zahlreichen Tabulae ho-
nestae missionis (1) von Nero bis ins dritte Jahrhundert, eine Reihe fester
Anhaltspunkte, denen für das 4“ oder 5“ Jahrhundert eine auf der K. Bi-
bliothek befindliche Elfenbeininschrift hinzugefügt werden kann. Wir se-
hen hier unter Vespasian die ersten Unzialformen in A, B, G,Z, welche un-
ter Domitian zunehmen, und im folgenden Jahrhundert bei gröfserer Flüch-
tigkeit der Schrift sich immer weiter von der reinen Capital entfernen.
Von der Steinschrift ist es kaum nöthig noch besonders zu sprechen,
da Jeder der sich auch nur oberflächlich damit beschäftigt, und in Rom die
Inschriften des Pantheons, der Triumphbogen des Titus, Septimius, Con-
stantin mit den Christlichen Inschriften des Vaticanischen Museums vergli-
chen hat, sich der Veränderung bewufst wird, welche die vollendete Capi-
tal des ersten Jahrhunderts späterhin erfahren hat.
Es ergiebt sich nämlich aus unbefangener Vergleichung der unbezwei-
felt feststehenden Thatsachen im Gebiete der Handschriften wie der Metall-
und Steinschriften, dafs die reine Quadrat-Capital worin die ältesten Rö-
mischen Denkmäler geschrieben sind, im Verlauf der ersten Jahrhunderte
unserer Zeitrechnung durch allmäliges Abrunden, Abschleifen und Verän-
dern zum Behuf rascheren Schreibens in Unzial übergegangen ist, woraus
dann im weiteren Verlauf der Jahrhunderte auf demselben Wege die runde
Minuskel entstehen sollte. Aus dieser Thatsache folgt für die Schätzung
der gewöhnlichen Majuskel - Handschriften die Regel, dafs bei übrigens glei-
chen Umständen die Vermuthung eines höheren Alters da eintritt, wo die
Schrift sich der vollkommenen Capital des ersten Jahrhunderts am meisten
nähert, oder, mit Berücksichtigung späterer Nachahmungen eines älteren
Schriftcharacters, dafs eine Schrift um so weiter gegen das sechste, siebente
(') Bronzi di Erculano. Arneth zwölf Römische Militair- Diplome. Wien 1843. Cardi-
nali diplomi imperialı. Velletri 1835.
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. _ 237
Jahrhundert herabgesetzt werden mufs, je mehr sie von der reinen vollen-
deten Capital entfernt ist und der Unzial angehört. Indem die Beurthei-
lung sich so an den Gesammtcharakter der Schrift, nicht aber an einzelne
von Zufälligkeiten abhängende Buchstabenformen oder sonstige unwesent-
liche Merkmale hält, schlägt sie denselben Weg ein, welcher in der Diplo-
matik des Mittelalters als der einzig richtige bewährt ist.
Prüfen wir hienach unser Bruchstück, so überzeugen wir uns bald,
dafs es mehr als irgend eine andere auf unsere Zeit gekommene Handschrift
sich der reinen Capital des Augusteischen Zeitalters nähert.
Wir sehen, dafs die chemische Behandlung auf dem feinen aber star-
ken Pergament die alten wagerechten Linien wieder hervorgerufen hat, die
mit dem Griffel gezogen wurden, um die Schreiber zu leiten. Vermuthlich
hielten sie sich zwischen senkrechten Linien, wodurch die drei Columnen
gegen einander und gegen die äufsern Ränder begränzt wurden; sie sind auf
dem leeren Raum zwischen den Columnen nicht sichtbar geworden. Un-
mittelbar auf der Linie steht in gerader Reihe die Schrift. Sie ist von einer
festen, kräftigen aber dabei leichten und zierlichen Hand; die Buchstaben
stehen in gleichmäfsigen Entfernungen jeder für sich; das Verhältnifs ihrer
Höhe zu der Breite nähert sich dem Quadrat oder erreicht es inM,N,C,
B,D,6,0,Q, U; andere wie A, E, F, 1, L,P, R, $S, T sind im Verhältnifs
schmaler. Unter die Linie zieht sich nur der Seitenstrich des Q (!), über
die andern erheben sich F und L.
Die Gestalten sind Capital, mit Ausnahme des H und V. Ersterem
fehlt die obere Hälfte des Hauptstrichs rechts, und die beiden Striche des V
sind nicht im scharfen Winkel verbunden, sondern unten gerundet und
rechts verbunden. Beides sehen wir gleichfalls in dem Herculanensischen
Papyrus, welcher die verschiedenen
HhHhHundVWVUKCIU zeigt.
Wie die Schrift auf Papier und Pergament nach der Natur des Stof-
fes der Schrift auf Erz und Stein vorauseilt, so findet sich jene Gestalt des
H erst in den Tabulis honestae missionis des Hadrian. A besteht aus zwei
nur in der Spitze verbundenen Hauptstrichen; in B, P und R ist der obere
(°) Im Kupferstich T. II. Z. 10., auch einmal das U, welches ich im Original nicht
bemerke.
2338 Pertz
Halbkreis verhältnifsmäfsig klein; die wagerechten Striche desE, F,L,T
sind verkürzt, F von E vorzüglich durch seine Höhe verschieden, indem das
Haupt über die Zeile hervorragt, und der Mittelstrich fast in der Höhe der
Zeile liegt. Diese Gestalt erinnert an eine Steinschrift des Vaticanischen Mu-
seums; ich fand ein F in welchem der mittlere Strich fehlt, und über dem
oben nach gewöhnlicher Art schräg aufrechtgehenden Striche mit diesem
gleichlaufend angebracht ist: FILIA (').
Der Character des Ganzen ist derselbe, welchen die Schrift der Ta-
bula honestae missionis des Kaisers Vespasian zeigt, die sich jetzt in der K.
Bibliothek findet; ich glaube daher um so weniger zu irren, wenn ich die
Schrift des Livius in das erste Jahrhundert unsrer Zeitrechnung setze.
Ihr zunächst stehen die Vaticanischen Palimpseste des Sallust, dann
der Vaticanische Virgil in Quart (?) vielleicht aus dem 2'”, und die Hand-
schrift des Gellius, die man ins 3“ Jahrhundert setzen mögte. Die Palim-
psesten von Cicero’s Republik mit vielen Unzialformen gehören wohl schon
ins 4“ Jahrhundert; in dessen Ende das Concil von Aquileja in der Pariser
Hdsch. gesetzt werden kann. Und da wir aus dem 5" den Florentiner Vir-
gil, aus dem 6“ den Hilarius kennen, so wäre damit eine zusammenhän-
gende Reihe handschriftlicher Denkmäler von den Zeiten des Augustus bis
zum Mittelalter gewonnen, und es bedarf vielleicht nur noch einiger glück-
lichen Entdeckungen, um für eine Erweiterung der Lateinischen Paläogra-
phie in die ersten Jahrhunderte, welche jetzt möglich geworden ist, die voll-
ständige äufsere Beglaubigung herzustellen.
Denn dafs auch in dieser Richtung das Wissen noch nicht seine letzte
Gränze erreicht hat, dafs nach den glänzenden Erfolgen in der ersten Hälfte
dieses Jahrhunderts, der gelehrten Thätigkeit und Ausdauer vielleicht noch
reichere Kränze in der zweiten Hälfte aufbehalten werden, darauf möchte
(‘) Die ganze Inschrift lautet:
DOMINA BASSILLA COM
MANDAMUS TIBI CRES
CENTINUS ET MICINA
FILIA NOSTRA CRESCEN
QUE VIXIT MEN X: ET DES
v2
(?) C. Vatic. N. 3225.
über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 239
selbst dies kleine Bruchstück hindeuten, welches die Blicke von Neuem nach
den verlornen Theilen des Livius richtet und dem Unternehmungsgeiste ein
längst aufgegebenes Ziel als vielleicht dennoch erreichbar wieder hinstellt.
Wie der Flugsand der Wüste den Wanderer umhüllt und in tiefe Verges-
senheit begräbt, bis einst ein zufälliger Windstofs den Zipfel seines Kleides
wieder aufdeckt und den Erstorbenen ans Licht bringt; wie Lava und Asche
des Vulkans über 1600 Jahre Städte des Alterthums überdeckt hielt, bis
ein glücklicher Grabscheit den ersten Anstofs zu Entdeckungen gab, die den
staunenden Beschauer in die Wohnsitze des classischen Lebens als wären sie
gestern erst verlassen, einführen; so gilt es vielleicht auch jetzt die Gunst
des Augenblicks zu benutzen und durch Fortschreiten auf dem eröffneten
Wege die erfreulichsten Entdeckungen zu sichern. Es fehlt dabei nicht an
glücklichen Zeichen, welche zum Angriff ermuntern, und die Forschung aus
dem ungewissen und weiten Kreise der Möglichkeit auf einzelne bestimmte
Thatsachen hinlenken, von deren sorgfältiger und umsichtiger Erwägung die
nächsten Erfolge zu erwarten sind.
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Über
den letzten Unterschied der philosophischen
Systeme.
a Von
H”" TRENDELENBURG.
nn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 18. November 1847.]
D er letzte Unterschied philosophischer Systeme wird ein solcher sein, wel-
cher, in den allgemeinsten Elementen und Beziehungen begründet, die übri-
gen Unterschiede in sich aufnimmt und beherscht. Durch den Grundunter-
schied sind die übrigen bedingt.
Wenn man die philosophischen Systeme aus dem äufsern Zusammen-
hang des historischen Verlaufs heraushebt und, gleich Formationen der Natur,
als abgeschlossene Bildungen des Geistes mit einander vergleicht: so entsteht
die Frage, wie sie innerlich verwandt sind. Gleich wie nun die Naturkör-
per sich nur in einem letzten Unterschied der Sache zu einem bedeutsamen
Überblick ordnen, z.B. die Pflanzen in dem Gesichtspunkt der Kotyledo-
nen, die Krystalle in den Axensystemen: so fordern uns auch die philoso-
phischen Systeme auf, ihren letzten Unterschied zu suchen.
Dabei handelt es sich um mehr als um eine Anordnung oder eine
Gruppirung der beschreibenden Systematik.
Philosophische Systeme sind lebendige Vorgänge in den Geistern,
Kämpfe der Grundbegriffe um die Herrschaft im Denken und Wollen. In
den Begriffen, welche den letzten Unterschied bilden, haben sie die Basis
und den Stützpunkt ihrer Stellung, und daher fällt in diese Gegend die erste
Entscheidung ihres Zusammentreffens und ihres Streites. In den letzten
Unterschieden liegen zugleich die letzten Probleme.
In der Mannigfaltigkeit der Systeme bedurfte man charakteristischer
Bezeichnungen und sie bildeten sich nach den Richtungen von selbst. In
diesem Sinn spricht man z.B. von Nominalismus und Realismus, von Sen-
Philos.- histor. Kl. 1347. Hh
242 TRENDELENBURG
sualismus und Rationalismus, von Materialismus und Spiritualismus, von
Empirismus und Transscendentalphilosophie, von Realismus und Idealis-
mus, von Reflexionsphilosophie und Identitätslehre, von Dualismus und Mo-
nismus, von Transscendenz- und Immanenzlehre, von rationalistischer und
supernaturalistischer Philosophie, von atomistischen und dynamischen, von
deistischen und atheistischen, von theistischen und pantheistischen, von pri-
mitiven und eklektischen oder synkretistischen, von dogmatischen und skep-
tischen, von kritischen und dialektischen Systemen u.s.w. Es sind dies mei-
stens Stichwörter, bald von einzelnen Ergebnissen oder Voraussetzungen,
bald von der Methode, bald von einem theologischen Mafsstab hergenommen.
Mit solchen Bezeichnuugen verknüpft man gemeiniglich nur unbestimmte
Vorstellungen, aber bestimmte Aburtheile.
Ob mit solchen Benennungen wirklich die letzten Unterschiede der
Systeme getroffen sind, läfst sich im Voraus nicht sagen. Es hat auch wenig
Werth, sie blind herauszutasten; und es kommt vielmehr auf den Versuch
an, Charaktere aus innern Verhältnissen der Sache zu entwerfen und an den
vorliegenden Systemen zu bestätigen.
Wir stellen die Unterschiede, die in der Methode liegen, einstweilen
zurück. Die Methode betrifft nur den Weg, wie wir zu der Sache kommen,
aber der Weg hat immer in der Sache sein Ziel. Die Methode ist um des
Gegenstandes willen da, den sie fassen oder verbürgen will. Wenn wir da-
her die letzten Unterschiede der Systeme suchen, so suchen wir sie in den
Elementen der Sache und nicht in den Griffen des Verfahrens oder der
Kunst der Darstellung. Diejenigen Systeme, welche durch die Methode
charakteristisch sind, wie z.B. das kantische durch die kritische, das he-
gelsche durch die dialektische, werden doch, wenn es sich zuletzt um den
Ertrag und nicht um die blofse Weise der Bearbeitung handelt, auf wesent-
liche Unterschiede der Sache zurückgehen und darin ihr Mafs haben.
Allenthalben stellen sich uns in dem, was wir Gegensatz nennen,
die weitesten Unterschiede der Begriffe dar. Innerhalb eines Allgemeinen be-
zeichnet der Gegensatz die entlegensten Endpunkte. Inwiefern nun das Ganze
der Erkenntnifs in seinem Ursprunge Aufgabe der Philosophie ist, so läfst
sich voraussehen, dafs der gröfste Gegensatz unter solchen Begriffen, welche
andere Begriffe bedingen und erzeugen und dadurch geeignet sind Mittel-
punkt eines Systems zu sein, den letzten Unterschied der philosophischen
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 243
Systeme bestimmen werde. In den verschiedenen Gestalten der Philosophie
liegen Versuche vor, verschiedene Grundbegriffe als die letzten und als die
schöpferischen geltend zu machen, und ihre Macht gegen einander zu er-
proben. Wäre es möglich, den letzten Gegensatz unter diesen Begriffen
zu bestimmen, also diejenigen Begriffe einander gegenüber zu stellen, welche
am weitesten von einander abstehen: so würden sich in denselben vermuth-
lich die letzten Unterschiede der Systeme nachweisen lassen. Es ist wahr-
scheinlich, dafs der letzte Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Grund-
begriffen stehe. Denn wenn wir mehrere solche Gegensätze annähmen: so
würden unter ihnen bei der universellen Aufgabe der Philosophie diejenigen
Begriffe, welche in keinem direeten Gegensatz zu einander ständen, alsbald
ein Bestreben zeigen, sich einander anzuziehen und unterzuordnen; und der
Erfolg würde kein anderer sein, als dafs sich die verschiedenen Gegensätze
in zwei letzte Begriffe zusammendrängten und diesen ihre ganze Macht über-
trügen. So sehen wir es z.B. in der Metaphysik des Aristoteles, die mit
vier Begriffen oder zwei Gegensätzen anhebt, mit der Materie und Form,
mit dem Woher der Bewegung und dem Wohin des Zweckes, und sie zuletzt
in der Dynamis und Energie in das Grundverhältnifs von zwei Begriffen zu-
sammenzieht, mag nun, wie im Lebendigen, der Zweck und die aus dem
Zweck bestimmte Form und Bewegung dem materiellen Grunde, oder, wie
auf dem höchsten Gebiete, der Zweck als das Unbewegte, das da bewegt,
den übrigen Ursprüngen gegenüber treten. Hiernach fragt es sich, welches
in den realen Principien der letzte Gegensatz sei.
Seit Kant hat die deutsche Philosophie im Subjeetiven und Objectiven
einen Gegensatz ausgebildet und nach den verschiedensten Seiten versucht,
der, inwiefern man auf seine reale Entwickelung sieht, schon in der Natur
keimt. Wo sich das Einzelleben in sich zusammenfafst und dem Leben des
Ganzen entgegenstellt, wie schon die Pflanze thut, da beginnt das Subjec-
tive, da ist der Anfang des Gegensatzes mit dem Objectiven. Zunächst ist
er beschränkt und löst sich sogleich, indem das Einzelleben aus dem Ganzen,
was es bedarf, empfängt, und dadurch besteht. Der Gegensatz des Sub-
jectiven und Objectiven kommt indessen, wo das Denken der Welt gegen-
übersteht, zur höchsten Spannung. Denn das Erkennen begehrt nicht mehr
blos, wie das Subjective in Pflanze oder Thier, einen Athemzug oder Licht
oder Nahrung, es will nicht seine Befriedigung in einer einseitigen Richtung
ie)
Hh2
YA TRENDELENBURG
der leiblichen Selbsterhaltung, in der nächsten Berührung seines Lebens; es
macht vielmehr den höchsten Anspruch an die ganze Welt; es schliefst nichts
von sich aus, es will alles ergreifen und ergründen; es will die Welt ganz
in sich aufnehmen und ganz durchdringen. Die Eine in sich gedrungene Thä-
tigkeit des Denkens, das Subjective in seiner Intensität, nimmt es mit der
unendlichen Fülle des Seienden auf, mit dem Objectiven in seiner unabseh-
baren Ausdehnung. Das Subjective bereitet sich in diesem Sinne in den sich
fortsetzenden Geschlechtern der Menschen sein Werkzeug, und sehen wir
die Höhe des Subjectiven in dem erkennenden und bildenden Geist des gan-
zen Menschengeschlechts, so heifst dann denken so viel als sich mit dem
Weltall messen.
Wir haben hier einen grofsen Gegensatz, das Erkennen und die Welt,
das Denken und das Seiende. Es ist ein in sich klarer Gegensatz, da jede
Thätigkeit des Denkens ihn in einer einzelnen Richtung offenbart. Aber
es kommt darauf an, ihn so zu fassen, dafs er sich in seiner gröfsten Weite
darstelle.
Dem Denken ist sein Gegenstand in demselben Mafse verwandter, als
er selbst von dem Denken gebildet oder bestimmt ist. Wenn er von dem
Denken erzeugt ist, so ist er dem Denken desto erkennbarer. Das Seiende
wird hingegen in der weitesten Entfernung von dem Denken da stehen, wo
es dem Denken fremd entgegentritt und mit dem Anspruch, aus sich selbst
und nicht aus dem Gedanken bestimmt zu sein. Wir bezeichnen das Seiende
in diesem Verhalten als blinde Kraft. Wird sie gedacht, wird sie selbst auf
Gesetze znrückgeführt, wie z. B. die Kraft in der Erscheinung des freien
Falles: so liegt doch nicht im Grunde der Sache ein ursprünglicher Gedanke,
aus welchem das Gesetz herflösse. Wenigstens wird das Gesetz, unabhängig
von einer solchen Einmischung, gefunden. Es liegt darin gerade eine Eigen-
thümlichkeit der physischen Betrachtung; und seit Baco ist es oft genug
ausgesprochen, dafs die Erforschung der Natur erst dann gelinge, wenn man
den Zweck, der ein Gedanke ist, aus dem die Kräfte bestimmt werden, wenn
man die Idee aus der Physik in die Metaphysik verweise. Die Kraft steht
als wirkende Ursache fremd dem erst zu ihr hinzutretenden und sie nach-
bildenden Gedanken gegenüber. Was wir Materie nennen, giebt sich uns
in solchen physikalischen oder chemischen Thätigkeiten kund, und wir haben
von ihr nur so weit eine Kenntnifs, als sie sich darin offenbart. Daher dür-
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 245
fen wir jenes unbekannte Substrat der Kräfte, welches wir Materie nennen,
so weit sie von keinem in ihr selbst und ihr zum Grunde liegenden Gedanken
bestimmt ist, unter denselben Gesichtspunkt der nackten Kraft fassen.
Es wäre möglich, dafs sich im Fortgang der Untersuchung die Sache
anders herausstellte. Es wäre möglich, dafs sich doch im Grunde der für
blind gehaltenen Kräfte und Äufserungen ein ursprünglicher Gedanke als
das Regierende fände. Aber diese Möglichkeit, vielleicht die Hoffnung al-
les Erkennens, geht uns hier nichts an. Faktisch haben wir in der Physik,
um ihre Sprache beizubehalten, nur Kräfte vor uns, und zwar solche, deren
Wesen der Gedanke nachbildet, ohne dafs ihr Wesen selbst Gedanke ist.
Umgekehrt verhält es sich z.B. in der Ethik, in welcher die Thätigkeiten
von ihrem leitenden Gedanken nicht abzuscheiden sind.
Der Gedanke ist allerdings selbst Kraft und die Kraft kann unter einem
Gedanken stehen — und insofern ist zwischen beiden kein Gegensatz; aber
bewufster Gedanke und blinde Kraft bilden nach Obigem einen wesentlichen
Gegensatz und nur um des kürzern Ausdrucks willen stellen wir schlechtweg
Gedanken und Kräfte in diesem Sinne einander entgegen. Es ist der Ge-
gensatz zwischen dem Denken und dem Sein als vom Denken unabhängig
gefafst — und es giebt keinen gröfsern Gegensatz. Denn alle Gegensätze
fallen, wenn sie nicht durch die Vermittelung oder Vereinigung dieses Einen
bestimmt sind, innerhaib des Einen Gliedes. Z.B. fallen die Gegensätze,
welche sich auf dem Gebiete der Sinne darstellen, z.B. des Hellen und Dun-
keln, oder des Lichtes und des undurchsichtigen Stoffes, der Farben unter-
einander, des Starren und Flüssigen, der Anziehung und Abstossung, unter
das Eine Glied der wirkenden Kraft. Sie werden als gegeben durch die Er-
fahrung aufgenommen, und es erscheint darin zunächst kein sie bestimmender
und richtender Gedanke. In dem andern Gliede erscheinen Gegensätze, wie
Denken und Wahrnehmen, Allgemeines und Einzelnes. Andere Gegensätze
sind nur durch eine, wenigstens relative, Vermittelung des Denkens und
seines Gegenstandes möglich, z. B. die Thätigkeiten des Wollens, wie Be-
gehren und Verabscheuen. Schwerlich wird sich ein Gegensatz aufweisen
lassen, der nicht in diese Grundverhältnisse zurückginge.
Ist nun in dem angegebenen Sinn Gedanken und Kraft der weiteste
Gegensatz, so ist nach Obigem wahrscheinlich, dafs zugleich in ihm der
letzte Unterschied der Systeme liege.
346 TRENDELENBURG
Wir könnten denselben Unterschied durch Subjectives und Objectives,
Ideales und Reales ausdrücken, wenn es uns nicht darum zu thun wäre, im
Realen und Objectiven sowol den Ausdruck eines ruhenden Gegenstandes
zu vermeiden als auch den real und objectiv gewordenen Gedanken auszu-
schliefsen. Daher wählen wir statt des Objectiven den Ausdruck der Kräfte
und wir verstehen hier darunter die Kräfte, inwiefern sie unabhängig von
einem Gedanken wirken.
Es stehen hiernach Kraft und Gedanke einander gegenüber. Der
Gedanke ist uns dabei zunächst als menschlicher, als unser Gedanke be-
kannt, ohne dafs es nöthig’wäre, ihn auf uns zu beschränken, und wir schlie-
{sen ihn von der Kraft aus, inwiefern wir sie in ihrem Wesen unabhängig
von einem darin herschenden Gedanken auffassen.
Dieser Begriff der nackten Kraft bedarf vielleicht einer Erläuterung.
Nehmen wir als Beispiel jene durch die Massen durchgehende Kraft der An-
ziehung, welche als Schwere auf der Erde, als Gravitation der Weltkörper
am Himmel wirkt. Sie wird an Gesetze gebunden wie z. B. in der gleichför-
mig beschleunigten Bewegung des freien Falles, ohne dafs in ihr etwas ande-
res vorausgesetzt wird, als die bewegende Kraft. Was durch sie vorgeht und
aus ihr folgt, wird in der Rechnung bestimmt und nichts weiter. Der nach-
bildende Gedanke fafst ihre Momente auf und findet dadurch die beständige
Weise ihrer Thätigkeit. Aber sie kümmert sich nicht um den auffassenden
Gedanken, der nur wie fremd an sie herantritt; sie ist nicht ursprünglich von
einem Gedanken regiert; und wenn wir uns allen Gedanken aus der Welt fort-
dächten, so würde sie ohne Unterschied ihre ewigen Gesetze befolgen. Der
menschliche Gedanke hat dieselben gefunden; aber es ist nicht nöthig, dafs
sie aus einem ursprünglichen Gedanken stammen. — Indessen dieselbe Kraft
erscheint in eigenthümlicher Gestalt und in eigenthümlichem Zusammenhang,
wenn das Lebendige seinen Ort verändert. Der Mensch z.B. regiert im
Gange, im Sprung seinen Schwerpunkt. Es ist darin das Gesetz der Schwere
durch seine eigene Natur und durch die Gesetze des Festen einem höheren
Zwecke untergeordnet. Die Herrschaft über den Schwerpunkt war die Auf-
gabe, die durch eine bestimmte Einrichtung des Leibes erreicht wurde. Die
Kraft ist dieselbe geblieben, aber sie hat eine Stellung empfangen, die nicht
aus ihr selbst verstanden wird, sondern, wenn der Begriff des Zwecks nicht
umgangen werden kann, aus einem richtenden und einrichtenden Gedanken,
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 947
Die Kraft ist insofern nicht mehr eine blinde Kraft, sondern eine gewollte.
Mit der aufsteigenden Reihe des Lebens wächst der Zusammenhang der
Kräfte, der sich uns als ein System von Zwecken darstellt. Von der fundamen-
talen Kraft der Anziehung, die wie ein unsichtbares Band die Körper des Alls
zusammenhält, erheben sich die Thätigkeiten bis zum menschlichen Gedan-
ken. Inder Welt, welche wir überblicken, haben wir in beiden zwei End-
punkte, zwei Äufserste vor uns. Wenn wir die Kraft ohne einen zum Grunde
liegenden Gedanken aus ihr selbst verstehen konnten, so verstehen wir schwer-
lich den Gedanken ohne die Kräfte, durch welche er bedingt ist. Wo uns
in der Natur, wie in der organischen, Zwecke erscheinen, haben wir einen
Antrieb, das Denken nicht auf den Menschen einzuschränken, sondern in
einem allgemeinen Sinne zu fassen. Daher ist das Verhältnifs von Kraft
und Gedanke das Grundverhältnifs, um welches sich die Betrachtung dreht,
sobald es darauf ankommt, in einem letzten Prineip die Einheit und das
Ganze der Erkenntnifs zu gründen.
Gegensätze erscheinen in der Betrachtung der ruhig daliegenden Be-
griffe. Wo die Begriffe in ihre Entstehung zurückgegeben werden, da gehen
auch die Sprünge, welche die Begriffe in den Gegensätzen darstellen, in
eine stetige Bewegung zurück, die auf eine Einheit hinführt; und wo dies
noch nicht geschieht, bleibt ein Widerstand übrig, der noch zu überwinden
ist. So bilden z.B. auf der Ebene die parallelen und die sich schneidenden
Linien einen Gegensatz; aber der Gegensatz hebt sich auf, wenn sich der
Durchschnittspunkt der sich sehneidenden Linien ins Unendliche entfernt
und im Unendlichen, dem wir uus nähern können, wird der Sprung, der
in dem Begriff der parallelen und der sich schneidenden Linien vor uns liegt,
wie zum Übergang. Anders wird es sich auch nicht mit dem Gegensatz der
Kraft und des Gedankens verhalten können.
Wenn wir nun in dem bezeichneten Sinne Kraft und Gedanken (also
blinde Kraft und bewufsten Gedanken) einander gegenüber stellen und die
Richtung auf die Einheit voraussetzen: so ergiebt sich eine dreifache Mög-
lichkeit ihres gegenseitigen Verhältnisses. Entweder steht die Kraft vor
dem Gedanken, so dafs der Gedanke nicht das Ursprüngliche ist, sondern
Ergebnifs, Product und Aceidenz der blinden Kräfte; — oder der Gedanke
steht vor der Kraft, so dafs die klinde Kraft für sich nicht das Ursprüngliche
9348 TRENDELENBURG
ist, sondern der Ausflufs des Gedankens; — oder endlich Gedanke und Kraft
sind im Grunde dieselben und unterscheiden sich nur in unserer Ansicht.
Nur diese drei Stellungen von Gedanken und Kraft kann es geben;
aber von den drei möglichen kann nur Eine die wirkliche und wahre sein.
Daher liegen sie mit einander in Streit.
Jene erste Möglichkeit, in welcher die Kraft als das Ursprüngliche
vor den Gedanken gestellt wird, trifft die materialistischen Systeme. Sie
läugnen nicht den Gedanken, aber sie wollen ihn als etwas, was nur im Men-
schen wird, aus den materialen Kräften, deren Erzeugnifs der Mensch sei,
als ein aus materialen Factoren Zusammengesetztes entstehen lassen. So
erklären die atomistischen Systeme des Alterthums die Seele aus dem Kampf
innerer und äufserer Atome, die Gedanken als Folge von Sinneswahrneh-
mungen, welche durch materielle von den materiellen Gegenständen sich
ablösende Bilder bewirkt werden; materialistische Systeme Frankreichs im
vorigen Jahrhundert erklären den Gedanken als eine Bewegung von Hirn-
fasern oder gar als eine Aussonderung des Gehirns. Sie verwandeln auf
ähnliche Weise den Gedanken in eine glückliche Wirkung materieller Com-
binationen, wie es umgekehrt auf der andern Seite Systeme giebt, welche
die Materie in einen Schein des Gedankens umsetzen. Blinde Kräfte müssen
sich nach dieser Ansicht dergestalt treffen, dafs sie sehend werden. Aller-
dings besteht, um das’Beispiel alter Atomiker aufzunehmen, aus denselben
Buchstaben eine Tragoedie und eine Komoedie. Eine beschränkte Zahl
verschiedener Atome, wie z.B. 24 Buchstaben, aber sich wiederholend,
sich versetzend, sich bald so, bald anders fügend oder trennend, bildet die
geschriebene Tragoedie und die geschriebene Komoedie, also ein geistiges
Erzeugnifs und noch dazu in so entgegengesetzter Richtung, wie Ernst und
Lachen. Aber die Atomiker müssen es folgerecht so denken, dafs die durch
einander geworfenen und ausgeschütteten Buchstaben, indem sie zusammen
wehen, sich so treffen, dafs sie sich als Tragoedie oder Komoedie d.h. als
Gedanken ablesen lassen. So entsteht ihnen alles, was im Menschen bewufs-
ter Gedanke ist oder in der Welt Gedanken verräth. Sie haben den Vor-
theil, wenu ihnen diese Erklärungen gelingen, keines Transscendenten zu
bedürfen und von Anfang zu Ende mit anschaulichen Elementen zu operiren,
welche sie noch dazu, wie sich hoffen läfst, in ihre eigene Gewalt bekom-
men können.
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 249
Die andere Möglichkeit, in welcher der Gedanke als das Ursprüngli-
che, vor die Kraft gestellt, ihr als der dienenden im eigentlichen Sinne vor-
steht, erfüllt sich in den idealen Systemen. Ein kleiner Theil derselben
kennt nur Kräfte des Gedankens und hält die Kräfte der Materie nur für
einen Widerschein derselben. Der gröfsere Theil, Plato an der Spitze und
mit ihm die bedeutende Reihe der Philosophen, welche die Welt und ihre
Glieder als ein reales Gegenbild göttlicher Gedanken, als Verwirklichung
und Darstellung einer Idee betrachten, legt der Richtung der Kräfte, und
namentlich dem relativen Ganzen, das im Organischen erscheint, einen bil-
denden und bauenden Gedanken zum Grunde. Allenthalben sehen sie seine ar-
chitektonische Macht und nur von ihm losgerissen sind ihnen die Kräfte blind.
Die dritte Möglichkeit, welche Gedanken und Kraft nur in der An-
sicht und nicht im Grunde unterscheidet, findet sich in Spinoza’s Prineipien
vor, da er Ausdehnung und Denken als Attribute der Einen Substanz fafst,
die unter sich in keinem Causalzusammenhang stehen, weil sie nur die beiden
nothwendigen Weisen sind, unter welchen sich der Verstand das Wesen der
unendlichen Substanz vorstellt. In einer solchen Betrachtung sind eigentlich
Kräfte sich dehnende Gedanken und Gedanken sich spannende Kräfte. Es
könnte hieher jene intellectuelle Anschauung der neuern Philosophie gezo-
gen werden, welche als das Ursprüngliche eine Identität, eine Indifferenz des
Subjectiven und Objectiven setzt, wenn nicht in der Erscheinung bald das
Übergewicht des Idealen (Subjectiven), bald das Übergewicht des Realen
(Objectiven) hervorträte, und sich in dieser Differenz ein Analogon jener
beiden ersten Ansichten (Kraft vor dem Gedanken und Gedanken vor der
Kraft) erzeugte. Spinoza ist der eigentliche welthistorische Vertreter dieser
dritten in dem allgemeinen Verhältnifs von Gedanken und Kraft liegenden
Möglichkeit.
Diese drei Stellungen giebt es und keine mehr, wenn man das Ver-
hältnifs von Gedanken und Kraft erwägt.
Will man sie mit historischen Namen bezeichnen und sie an ihre her-
vorragenden Vertreter anknüpfen, so heifse die erste Weise Demokritismus;
denn alle, welche gegen Plato oder Aristoteles streiten, wie z.B. Baco von
Verulam, Spinoza, erheben Demokrits Ansicht; die zweite Weise heifse
Platonismus, die dritte Spinozismus. Nur mufs man diese Namen in
weiterem Sinne nehmen und ihre Bedeutung nicht auf die eigenthümliche
Philos.- histor. Kl. 1847. li
250 TRENDELENBURG
Fassung beschränken, in welche Demokrit, Plato, Spinoza das Verhältnifs
brachten.
Sind dies wirklich die letzten Unterschiede der Systeme, so müssen
auf der einen Seite alle Systeme darunter fallen, sie müssen sich alle in die
eine oder die andere Stellung einordnen lassen, und auf der andern Seite
mufs in diesen allgemeinsten Unterschieden der Keim besonderer Entwicke-
lung, die Möglichkeit einer neuen Differenz liegen.
Wir betrachten zunächst die hervorragenden Systeme in der ersten
Beziehung und insbesondere diejenigen, deren Verhältnifs zu diesen allge-
meinen Klassen zweifelhaft erscheinen mag.
Dafs die physiologischen Anfänge der Joner, welche in einem mate-
riellen Urgrunde die bildende Kraft der Welt zusammendrängten, und die
Atomiker des Alterthums, welche in Gestalt, Lage und Zusammenordnung
der Atome das Princip aller Mannigfaltigkeit sahen, dafs alle, welche in
neuerer Zeit der epikurischen Physik folgten, es sei denn dafs sie, wie Gas-
sendi that, die göttliche Weisheit herbeirufen, um die Atome zur harmoni-
schen Wirkung der Zwecke zu ordnen, (!) dafs namentlich Hobbes, der
das Denken nur zu einem Subtrahiren und Addiren machte, dafs endlich
solche ausgeprägte Richtungen, wie das systeme de la nature, welche auf je-
den Gedanken in der Welt, als auf ein unbequemes Göttliches, einen Verruf
legten,. der ersten Stellung zufallen, braucht nicht ausgeführt zu werden.
Ebenso entschieden sind alle die Gestalten der Systeme, welche wir
als Platonismus im weitesten Sinne bezeichnen möchten, so dafs dahin Ari-
stoteles gehört mit dem Zweeke an der Spitze der Metaphysik und der En-
telechie in allem Realen, ferner die Stoiker, nach welchen die $urıs im Acyos,
das Weltall in einem zum Grunde liegenden, sich gliedernden Begriff wur-
zelt, ferner die christlichen Philosophen des Mittelalters, welche die göttli-
che Ökonomie des Heils mit platonischen Anschauungen und aristotelischen
Durchführungen verschmolzen, und Philosophen der neu entstehenden Zeit,
welche, wie Jordano Bruno, den activen Gedanken des formenden Zwecks
und das passive Substrat der Materie in eine ewige Einheit falsten, so jedoch,
dafs sich die Materie aus einem innern Mittelpunkt, wie durch einen Künst-
(') Syntagma philosoph. III. c.8 vgl. Gassendi in den object. quintae gegen Cartesii
meditatio IV. Ausg. des Cartes. Amsterd. 1685. appendix ad meditat. p. 33.
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 251
ler von innen gestaltet. Diese und solche Systeme zeigen grofse Unter-
schiede. Aber darin kommen sie alle überein, dafs sie dem Gedanken als
dem Ursprünglichen die Ehre geben.
Bei andern Systemen kann es zweifelhaft sein, wohin man sie stel-
len soll.
Baco von Verulam z.B. leugnet zwar nicht die Vorsehung mit den
Zwecken in der Welt, vielmehr scheint er sie sorgsam der Metaphysik vor-
zubehalten; aber er bekämpft eine solche Betrachtung im Realen, verwirft
sie in der Physik, da die Betrachtung der Endursachen, wie das Leben einer
Nonne, zwar Gott feiere und preise, aber nichts hervorbringe, und hebt
die physische Ansicht eines Demokrit weit über die des Plato und Aristote-
les (1). Wenn einer Betrachtung, wie dem Zwecke, die Anwendung ver-
boten wird, so verschwindet sie wie ohnmächtig. Wenn man daher in Baco,
wie er bei andern selbst verlangt, weniger auf die Worte als auf die Wirkung
sieht: so zieht seine ganze Anschauungsweise das Übergewicht auf die Seite
der Kräfte, und er läfst dem Gedanken nur die alt hergebrachte Glorie,
während er ihm die Herrschaft genommen.
Selbst Cartesius wirkt in einer ähnlichen Richtung; denn indem er
alle Zwecke in die unergründliche Tiefe des göttlichen Wesens verweist,
schliefst er von der Betrachtung auch diejenigen aus, die in den Dingen er-
scheinen. Zwar leugnet er sie nicht; er gesteht sie allenfalls der Ethik zu;
aber er will namentlich in der Physik nur physische Ursachen und mufs sich
selbst von einem Manne, wie Gassendi, über Thatsachen der Natur belehren
lassen, welche ohne die Providenz des Zweckes nicht verstanden werden
können. (?) Indessen in Cartesius überwiegt sonst die aus der augustinischen
Theologie aufgenommene Betrachtung Gottes, überwiegen die eingeborenen
Ideen, die von Gott stammen, überwiegt der Wille Gottes in deur, was er
ewige Wahrheiten nennt, dergestalt, dafs wir von jener Maxime des Physi-
kers diese Grundrichtung des Philosophen unterscheiden und ihn in diesem
Betracht der zweiten Klasse zuweisen müssen.
(') de augment. seient. III, 4.
(2) vgl. Cartes. meditat. IV. und dagegen Gassendi in den objectiones quintae. Cartes.
in d. Amsterdamer Ausg. v. 1685 p. 33 sq. p. 70.
Ii2
352 TRENDELENBURG
Über Leibniz kann man nicht in Zweifel sein. Wir dürfen von sei-
nen eigenthümlichen und zum Theil schwankenden Ansichten über Raum
und Materie absehen. Er kennt die Feindschaft, die zwischen der Betrach-
tung der wirkenden Ursache und der Zwecke, der causa efficiens und causa
finalis besteht. Aber er will beide Betrachtungen verbinden und seine beste
Welt, seine praestabilirte Harmonie gründet sich auf die göttliche Wahl des
Besten und ruht zuletzt in der Herrschaft des vollkommenen Gedankens. (?)
Seine Monadenlehre hat dies Centrum.
Diejenigen Philosophen, welche die Untersuchung des Erkennens zu
ihrer eigentlichen und ausschliefsenden Aufgabe machen, sind unter die obigen
Gesichtspunkte, welche die reale Ansicht der Dinge bestimmen, schwerer
unterzubringen. Ihre Frage liegt augenscheinlich auf einem andern Felde;
aber die Auffassung der Erkenntnis und ihrer Möglichkeit führt, man mag
es wollen oder nicht, in einen gröfseren Zusammenhang; und ihre Conse-
quenz treibt, je nach den Praemissen, nach der ersten oder nach der zwei-
ten Seite.
So sehen wir es z.B. bei Locke und Kant.
Locke darf nicht nach seiner Auffassung des Christenthums gemessen
werden, in welcher Beziehung er für seine Person der zweiten Richtung an-
gehört, sondern nach den Gründen und Folgen seines Empirismus. Wer,
wie Locke, den Geist im Menschen zur Tafel macht und die äufsern Dinge
zu den Schreibern, wer dadurch, wie Locke, den materiellen Kräften die
Macht giebt, der wird schwer dazu kommen, den Gedanken, den er im Men-
schen zu einem Erzeugnifs der Dinge macht, in den Dingen zu einem Prius,
zu einem ursprünglich Bestimmenden zu erheben. Wenn Locke’s Prineipien
in Hume zum Skepticismus und in den französischen Philosophen zuletzt zum
systeme de la nature führten, so bestätigt die Geschichte den eigentlichen
Trieb der lockischen Betrachtungsweise.
Anders ist es mit Kant. Es scheint, als ob wir ihm bei seiner Rich-
tung auf die Untersuchung des Erkenntnifsvermögens jene Frage, ob er im
Ursprung die Kräfte vor den Gedanken oder den Gedanken vor die Kräfte
(') Aufser den bekannten Stellen vgl. man den im Anhang des Briefwechsels zwischen
Leibniz Arnauld und dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels von C. L. Grotefend
(1846) heruusgegebenen discours de metaphysique aus d. J. 1685 oder 1686 no. 19 ff.
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 253
stelle, gar nicht aufdringen dürfen. Ist es allenthalben sein Ergebnifs, dafs
wir das Ding an sich nicht erkennen, so wird ihm jene Frage als transscenden-
taler Vorwitz gelten. Selbst in der Kritik der Urtheilskraft, in welcher er
durch die Betrachtung des Zweckes zu der Idee eines göttlichen intuitiven
Verstandes hinangeführt wird, bleibt er immer dem Kritieismus getreu, indem
er den Begriff nur für einen möglichen erklärt, nur für ein blofses Regulativ
der reflectirenden Urtheilskraft in der Naturbetrachtung (vgl. Kr. d. Urtheilsk.
$. 77. 8. 79). Aber diese Bescheidenheit ist nur theoretische Neutralität.
Der Mensch steht mit seinem realen Wesen mitten im realen Zusammenhang.
Daher kommen von der praktischen Seite mitten im Skepticismus Punkte,
wo der Skeptiker nicht umhin kann, positiv zu sein; mitten im Kritieismus
Punkte, wo der kritische Philosoph sich — wenigstens subjeetiv — über die
Natur der Dinge entscheiden mufs. Da folgt Kant dem Zuge seiner Grund-
ansicht mit der ihm eigenen Consequenz. Wie er theoretisch von Formen,
das heilst Gedanken, in uns ausgeht, welche gegenüber der mannigfaltigen
Vielheit, die von aufsen kommt, die mächtige Einheit sind: so setzt er, die-
ser Macht des Gedankens getreu, wenn er die theoretische Abgeschlossen-
heit, die in sich schwebende Welt des Subjectiven verlassen mufs, den
Gedanken als das Ursprüngliche der Welt, als das Prius der Dinge. Seine
Postulate der praktischen Vernunft fordern reale Bedingungen, unter welchen
allein das ethisch Gewisse in dem Zusammenhang der Welt möglich sein und
wirklich werden kann. Sie enthalten Voraussetzungen, auf welche als auf
reale Elemente, ähnlich wie die Aufgabe der analytischen Geometrie auf Be-
dingungen der Construction hinweist, das Sittengesetz, die grofse Aufgabe
der Menschheit, nothwendig führt. Wenn Kant auf diese Weise intelligi-
bele Freiheit und den Glauben an Gott als den denkenden und wollenden
Urheber der Welt, durch den allein das Reich der Natur und das Reich der
Sitte in Einklang treten könne, zum metaphysischen Grund seiner Ethik
macht: so wird eben damit der Gedanke das ursprünglich Setzende und Be-
stimmende. Nehmen wir hinzu, wie Kant in der Religion innerhalb der
Grenzen der blofsen Vernunft den Sohn Gottes als die dem Wesen der
Menschheit vorangehende Idee des sittlich Guten fafst: so wird es offenbar,
in welcher Weise die Keime auswachsen, welche die Anlage des kantischen
Systemes in sich trägt. War theoretisch der Zweck nur eine Maxime der
Urtheilskraft, welche mit den Dingen nichts zu thun hat: so ist dieser prak-
254 TRENDELENBURG
tische Glaube an die Weisheit ein Glaube an die Realität der göttlichen
Zwecke, der Einheit und des Gedankens in dem Ganzen der Welt.
Wer in Fichte Kant in der Consequenz aufzufassen gewohnt ist, wird
bemerken, wie Fichte, von ethischem Tiefsinn erfüllt und getrieben, na-
mentlich in der zweiten Gestalt seiner Lehre, Ideen da entwirft, wo in der
ersten nur die allgemeine moralische Weltordnung steht, wie z. B. in den
Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten. Man thut ihm unrecht, wenn
man den innern Zusammenhang zwischen der ersten und zweiten Fassung
seines Systemes vergifst und diese entschiedenere Wendung nur für ein ge-
borgtes Gut hält.
Wenn nach Hegel die Logik und nur das Logische der reale Grund-
stoff des Wirklichen ist, wenn die Welt und ihre Geschichte nur die Dialek-
tik des reinen Gedankens abspielt: so sollte man nicht zweifeln, dafs nach
Hegel der Gedanke das Ursprüngliche, ja das allein Wahrhafte ist. Und
doch haben wir in der Historie der hegelschen Schule das merkwürdige
Schauspiel gesehen, dafs sich innerhalb desselben Systemes und im Namen
desselben Meisters dieselben zwei Richtungen wieder erzeugten, welche sonst
den unversöhnlichen Gegensatz der Systeme bilden, dieselben zwei Rich-
tungen, welche sonst als der Grundunterschied aller Systeme erscheinen.
Während ältere Schüler Hegels in der Idee vor der Natur und vor dem sub-
jectiven Geiste den bewulsten göttlichen Gedanken auffassen, meint die jün-
gere Schule es anders. Gott kommt erst im Menschen zum Bewulfstsein.
Vorher ist er nur die unbewufste Dialektik, welche erst der bewufste Geist
des Philosophen durchschauet, vorher also ist er nur unpersönliches Natur-
geseiz und durch den Procefs der Weltdialektik processirt sich das Blinde
zum Sehenden glücklich hinauf. In diesen zwei Seiten der hegelschen Schule
wird mit denselben Mitteln bewiesen, dafs der Gedanke vor den Kräften
und wiederum dafs die Kräfte vor dem Gedanken stehen; denn die Weltdia-
lektik im zweiten Fall wird nur Gedanke im Menschen. Wo die gröfsten
Gegensätze der Philosophie aus der Nothwendigkeit desselben Begriffs, der-
selben Methode folgen sollen: da ist es billig, an einer Methode zu zweifeln,
welche ihr eigenes Werk entzweiet. Äufserlich giebt es keinen gröfsern In-
dicienbeweis gegen ihre Aussagen.
Würden wir Herbart untersuchen, so würde sich zeigen, dafs seine
Metaphysik und Psychologie und selbst seine praktische Philosophie, in wel-
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 255
cher die Ideen nur in unserer Auffassung des Harmonischen entstehen, nach
der ersten Seite hinübergehen, während seine teleologischen Andeutungen
der Religionsphilosophie der andern angehören.
Auf solche Weise erhellt, dafs kein System gegen die entworfene
Grundfrage gleichgültig ist. Alle müssen sich zu ihr in ein bestimmtes Ver-
hältnifs stellen und alle entscheiden darin über ihre Grundrichtung.
Diese letzten Unterschiede, die möglichen Verhältnisse von Gedanken
und Kraft, sind freilich noch sehr allgemein und dieser allgemeine Grund
kann sich, wie die verschiedenen Systeme zeigen, mannigfaltig gestalten.
Die Systeme der Kräfte verfahren bald atomistisch, bald dynamisch; die Sy-
steme des Zweckes bald theistisch bald pantheistisch, wie z.B. in der Stoa,
und construiren bald aus dem Absoluten heraus, bald suchen sie die Ele-
mente in der Welt zu einem Gedanken des Ganzen zu deuten. Die Ge-
schichte der Philosophie zeigt diese Unterschiede — uud wir lassen sie hier
auf sich beruhen.
Wenn wir in jenen drei ursprünglich verschiedenen Weisen einer
Weltanschauung philosophische Gedankenreihen erblicken, welche sich wie
taktische Ordnungen im Fortgang mehr und mehr gegen einander kehren
müssen: so werfen wir noch auf ihren Kampf einen Blick, ob wir vielleicht
schon sehen, wohin sich der Sieg neige.
5
Wo drei unter einander kriegen, pflegt es zu geschehen, dafs sich nach
der Anziehung ihrer Interessen zunächst zwei mit einander verbünden, um spä-
ter ihre Sache unter sich auszumachen. Etwas Ähnliches ist hier geschehen.
Jene Ansicht, dafs Gedanke und Kraft an sich gar nicht und höch-
stens in der Anschauungsweise verschieden sind, so dafs weder die Kraft vor
den Gedanken, noch der Gedanke vor die Kraft gestellt werden könne, die
dritte Möglichkeit, die wir bezeichneten, hat, wie gesagt, in Spinoza ihren
grofsen Vertreter. Denken und Ausdehnung sind ihm die beiden Attribute
der Substanz. Der Verstand schauet sie nothwendig als solche an, welche
das Wesen der Substanz ausmachen. Wie diese Substanz nur Eine ist, so
drücken die Attribute ihr Wesen nur verschieden aus. Daher stehen sie in
keinem Causalzusammenhang; denn sie sind nur Eine und dieselbe Substanz.
Weder das Denken bestimmt die Ausdehnung noch die Ausdehnung das Den-
ken. Es kann mithin auch keinen Zweck in der Natur der Dinge geben,
keinen determinirenden Gedanken als das Ursprüngliche.
356 TRENDELENBURG
Nach dem Prineip ist diese Ansicht von jenen Systemen der Kräfte
und jenen Systemen des Zweckes nnd der Idee wesentlich verschieden. Sie
folgte aus der Natur der Sache als die dritte Möglichkeit, welche sich neben
die beiden andern auf gleiche Linie stellt. Indessen giebt sie in der Durch-
führung — vielleicht nothgedrungen — diese eigenthümliche Stellung auf;
und schlägt sich bald zu der einen, bald zu der andern Steite. Spinoza kennt
nur die wirkende Ursache und Jacobi stellte seine Lehre als die consequen-
teste Ausführung derselben den Systemen der Endursache gegenüber. Inso-
fern tritt Spinoza in die erste Ordnung ein. Dessenungeachtet sucht Spinoza,
dessen Lehre in der intellectualen Liebe Gottes ihren Gipfel erreicht, das
Ideale wieder zu gewinnen, und insofern ist er mit der andern Ordnung ver-
wandt. Ob sich beides auf einander reime und ob darin der Grundge-
danke, um den es sich handelt, festgehalten sei, mag einer andern Betrach-
tung aufbehalten bleiben. Im Grofsen und Ganzen verbindet sich der De-
terminismus des Spinoza mit der ersten Reihe.
Daher wird der Kampf übersichtlicher, indem kein Dritter zwischen
die beiden Ordnungen tritt.
Beide Weisen der Betrachtung haben in sich selbst ihre Grenzen und
wir werfen sie leicht bis auf diese Schranken zurück.
Wir verlangen von beiden Systemen, dafs sie uns die Welt im Vor-
gang des Werdens zeigen oder wenigstens den Weg, auf dem er möglich sei.
Denn sonst bleibt der erklärende Grund wie todt und regungslos gegen das,
was soll erklärt werden. Wenn wir die beiden Systeme nach diesem Punkte
hin in Bewegung setzen, offenbaren sie ihren Mangel.
Wir lassen die Möglichkeit dahingestellt, wie aus Einer ursprünglichen
Bewegung die Mannigfaltigkeit der Kräfte entstehe. Es seien diese gegeben.
Sie sind da, blind und bunt. Dann soll gezeigt werden, wie aus dem Blin-
den das Sehende wird, aus dem Bunten die Einheit der Ordnung, aus dem
Ungefähr des Zufalls die Praecision des Organischen, aus dem wilden Spiel
der Kräfte die Symmetrie und das Gleichgewicht des Lebens, aus dem Wider-
einander der Bewegungen Bestand und Übereinstimmun
8
schaften zergliedern und finden Gesetze und Mafs der Kräfte; aber sie zeigen
g. Die Naturwissen-
noch nicht, wie ursprünglich das Mafs aus dem Mafslosen werde. Die Ge-
schlechter des Lebendigen sind da und in den mannigfaltigsten Gestalten.
Jedes Individuum hält die verschiedenen Kräfte in eigenthümlicher Einheit
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 257
gebunden. Die Geschlechter des Lebendigen sind die unerklärte Vorausset-
zung. Sie sind da mit ihrer Harmonie; aber im System der blofsen Kräfte
sollte man zeigen, wie sie aus dem werdeu, was noch keine Harmonie ist.
Es hat ohne Frage seine Schwierigkeit, aus dem nackten Durchein-
ander von Tönen das Concert des Universums, die unsterbliche Harmonie
des Lebendigen entstehen zu lassen, es sei denn dafs ein empfundener Ge-
danke über den Tönen und mitien in den Tönen die Melodien entwerfe.
Wer an die Zahl oder Unzahl der möglichen Permutationen und
Combinationen denkt, der wird schwerlich die Wette von Einem gegen Mil-
lionen und Billionen Fälle wagen, dafs aus zusammengeworfenen und aus-
geschütteten Buchstaben eine Tragoedie oder Komoedie herauskomme.
Wirklich verhält sich die Sache so und nicht anders, mag man nun in der
Philosophie mit Atomen Verbindungen versuchen oder die Kräfte gegen
einander spielen lassen. Damit wird in dem berechtigten Kreise die Be-
deutung der Atome so wenig verkannt, als etwa geleugnet wird, dafs die
Wörter der Tragoedie oder Komoedie aus den Atomen der Buchstaben
bestehen. Aber es wird in demselben Sinne bezweifelt, dafs in solchen Ato-
men oder Kräften der letzte Grund liege, als wir bezweifeln, dafs der ur-
sprüngliche Grund des Wortes die Buchstaben seien.
Aber auch die andere Ansicht hat ihren Stachel in sich, damit sie
nicht raste.
Es läfst sich der Streit zwischen beiden Ansichten in die Frage zu-
sammenfassen, ob die Folge in der Erscheinung, die zeitliche Geschichte,
das Letzte sei, die Darstellung des Causalzusammenhanges, oder ob diese
Folge in einem vorangehenden Gedanken, der die Ursache der zukünftigen
Wirkung zurichtet, also eigentlich die Wirkung zur Ursache macht, sich
gründe. Dieses Letzte, die Umkehr des Causalnexus in einem vorschauenden
Blick, ist demjenigen das Anstöfsige, der in dem mechanischen Druck und
Stofs, in der Succession der Fortpflanzung, die einzige Weise, die einzige
Norm der Thätigkeit erblickt. Freilich lehrt die Beobachtung schon die
entgegengesetzte Weise. Die Organismen bauen für die Zukunft und ihre
Causalität fafst Gegenwart und Zukunft zusammen. Aber man hofft diese
Anomalie bei tieferer Ergründung in die Succession der wirkenden Ursache
aufzuheben und will um Alles lieber die Welt als lauter elastische Schwin-
gungen fassen, von denen man doch nicht weifs, woher sie stammen, nur
Philos.- hisior. Kl. 1847. Kk
258 TRENDELENBURG
nicht als ein organisches Ganze, das in einem überschauenden Gedanken
seinen Grnnd hätte.
Die Schwierigkeit läfst sich freilich nicht bergen. Alle teleologischen
Systeme sind eine erweiterte Analogie; sie denken die ganze Welt nach der
Analogie ihrer praegnantesten Theile. Hiergegeu kann man streiten. Aber
noch mehr. Sie denken die Entstehuug des Lebendigen, des Organischen
nach der Analogie des bildenden menschlichen Gedankens. Aber diese
Analogie reicht nicht aus. Das Bild des menschlichen Gedankens bleibt
wie ein Entwurf in ihm selbst beschlossen, es sei denn, dafs ihm eine reale
Kraft, z.B. die Hand, zu Gebote stehe. Eine solche Vereinigung ist daher
auch, wenn die Analogie bestehen soll, in dem ursprünglichen bildenden
Gedanken vorauszusetzen. Hier fehlt alles. Wir lesen wol die Ideen in der
Welt z.B. die Zwecke der Sinne, wir glauben den Gedanken zu sehen, der
die Welt regirt, aber er regirt unsichtbar, wir sehen nicht die reale Kraft,
die ihn trägt und ausführt. Es hilft nichts, den Gedanken vor die Kraft zu
stellen. Man soll zeigen, wie es geschehen könne, dafs er die Kraft ergreife
und regiere. Damit der Gedanke werde („der Gedanke sprach: es werde
Licht und es ward Licht”), mufs er mit einer Kraft, die ihn ausführt, Ge-
meinschaft haben. Wie unser Gedanke, damit er den Kräften nachbilde,
mit ihnen ein Gemeinschaftliches theilen mufs, z.B. die Bewegung, durch
die wir geistig Richtungen und Gestalten entwerfen, so kann auch der ur-
sprüngliche Gedanke, damit er den Kräften vorbilde, nicht schlechthin von
ihnen getrennt sein. Dieser ursprüngliche Punkt der Gemeinschaft liegt bis
jetzt über die Speculation hinaus. Soll sich einst die genetische Erkenntnifs
in der Philosophie vollenden, so mufs er gefunden werden. Bis dahin bleibt
es ihre grofse Aufgabe, die Thatsache des ursprünglichen Gedankens in seiner
universellen Offenbarung zu erkennen und festzustellen, damit die Dinge
in einem Gedanken ihre Wahrheit und die Gedanken in den Dingen ihre
Wirklichkeit haben.
Es sind schlechthin verschiedene Weltansichten, welche dann entste-
hen, wenn man sich entweder in die Kraft als das Ursprüngliche oder in
den Gedanken als das Allbedingende stellt und die eine Ansicht läfst sich
nicht auf die andere zurückführen. Wenn man ihren Kampf in der Ge-
schichte verfolgt und zwar nicht blos in den geschlossenen Systemen, son-
dern noch mehr in der Gewalt, die sie in den Köpfen übten: so ist es im
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 259
Grofsen und Ganzen ein Kampf zwischen Physik und Ethik. Das System
der nackten Kräfte verschlingt die Ethik in die Natur und die Systeme des
die Kräfte regierenden Gedankens leihen schon den Bildungen der Natur
individuelle Mittelpunkte, wie ein Vorspiel des Ethischeu. Die eine Art
der Systeme naturalisirt die Ethik, die andere ethisirt in gewissem Sinne
die Natur.
Die organische Weltansicht — das System des ursprünglichen Gedan-
kens — tritt gleichzeitig mit der reinen Ethik auf. In Sokrates liegt sie vor-
gebildet. Plato wirft sie als ein kühnes Ganze in die Geschichte hinein. In
der Idee des Guten wurzelt ihm Natur und Staat, Leib und Glied. Zwar
hat Aristoteles diese Betrachtungsweise insbesondere in der Natur selbst,
in der Untersuchung des organischen Lebens, welches sich ohne innere
Zweckmäfsigkeit nicht denken läfst, begründet und befestigt. Aber das
Christenthum, die grofse Erfüllung eines ethischen Bedürfnisses, giebt ihr
und zwar wie es der Religion gebührt, in unmittelbarem Glauben an Got-
tes Weisheit und Liebe, den eigentlichen Sieg in den Gemüthern. Die be-
sondern christlichen Vorstellungen ruhen auf dieser allgemeinen Grundlage.
Indessen die Physik erstarkt und bildet ein Gegengewicht. Im Alter-
thum ist sie schwach und ihre Ansichten verbreiten sich, wie im Epicureis-
mus, grofsen Theils durch ethische Wahlverwandtschaft. Da die Physik
in neuerer Zeit— beobachtend und messend, experimentirend und bauend —
selbstständig und mächtig wird: scheint es, als ob sie der vorausgesetzten
Idee, dem ursprünglichen Gedanken, von welchen sie die Kräfte mit Erfolg
trennt, das Reich in demselben Mafse schmälere, als sie die Wirkung der
Kräfte durch ihre eigenen Gesetze in die Gewalt des Menschen bringt und
sie dem fremden Gedanken des Menschen dienstbar macht.
Hier liegt der mächtigste Gegendruck gegen den Platonismus und —
es ist nicht zu leugnen — die Geschichte sucht ihn bei seiner Schwäche zu
fassen und zu fällen.
Bei Plato ist die Materie das in sich Zerfallene und Verworrene, wie
er sich ausdrückt, „in den bodenlosen Ort der Unähnlichkeit versunken”,
das in sich Unbestimmte und Mafslose, das Irrationale und insofern das
Nicht-Seiende, die Wurzel des Bösen. Im Gegensatz gegen dies wandel-
bare Materielle hebt Plato darum die Wissenschaft der Zahl und Figur so
hoch, weil sie in reiner Erkenntnifs beständige Gesetze offenbart, ein sich
Kk2
260 TRENDELENBURG
selbst Gleiches und darum Vernünftiges; und in diesem Sinn ist sie ihm der
Hebel vom Nicht-Seienden (dem Materiellen) zum Seienden (dem Ewigen).
Die neuere Zeit liebt die Materie, welche Plato verschmäht, und sie
hat an ihr Grofses gethan. Jene Gesetze der Zahl und Figur, bei Plato im
Gegensatz gegen die Materie, erstrecken nun ihren Halt und Bestand über
die Materie selbst. Was sich in ihr widersprach, ihr Wechsel und Wandel,
löst sich in einstimmiges Wesen auf, das Unähnliche in eine sich selbst ge-
treue Gleichheit, das Verworrene in Ordnung, das Irrationale in Nothwen-
diges. Die neuere Zeit hat darin ihre eigenthümliche Gröfse. Von dieser
Seite siegt sie über den Platonismus; von dieser Seite wächst die physische
Weltansicht. Man sieht, was sich mit der wirkenden Ursache machen läfst
und setzt daher in ihr Wesen Alles.
Indessen liegt hier ein Wendepunkt der Betrachtung. Wer etwas mit
der wirkenden Ursache macht, wer sie benutzt, trägt den Zweck, trägt einen
höheren Gedanken auf ähnliche Weise in sich, wie das organische Leben die
wirkenden Ursachen den Zwecken des Ganzen unterwirft. Jene Verherrli-
chung der Kräfte geschieht doch im Namen eines Gedankens, der sie er-
kennt oder sie benutzt.
Es steht zu hoffen, dafs dieses Übergewicht des Physischen sich im
Fortgang dem ursprünglichen Gedanken nicht widersetzen, sondern ihn mit
seiner Macht ausstatten werde. Die Erkenntnifs der Kräfte steht noch mitten
in einer mannigfaltigen Vielheit. Wo es gelingen wird, sie zur Einheit eines
Ganzen zusammenzubiegen: da wird sich mit dem Ganzen auch der ursprüng-
liche Gedanke herstellen. Wir wollen es in einem Bilde deutlich machen.
Wer die Kräfte der Hand allein betrachtet, sieht darin mechanische Getetze
z.B. des Hebels verwirklicht. Wer das Auge zerlegt, fafst seine Theile
unter allgemeine optische Gesetze z.B. der Refraction. Beide Betrachtun-
gen der Kräfte, so lange man sie isolirt, haben nichts mit einander zu thun.
Sie gehen ihren eigenen Weg. In demselben Augenblick jedoch, in wel-
chem Hand und Auge zusammen aufgefafst werden, wie vom Standpunkt
des ganzen Lebens, springt der Gedanke hervor, der sie ursprünglich zu-
sammen bindet. Die Hand begehrt Richtung von dem Auge, damit sie ge-
schickt werde, das Auge Ausführung von der Hand, damit sein Blick mäch-
tig werde. Vielleicht läfst sich hoffen, dafs einst die Naturwissenschaften
die Kräfte zu einer ähnlichen Einheit fügen, und zwar um so mehr, als sie
über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 261
an manchen Punkten mitten in den blofsen Kräften, insbesondere aber im
Organischen, durch die Spur der Thatsachen auf die Einheit hingewiesen
werden. Dann würden sie am Ende den Platonismus nicht stürzen, sondern
nur fester gründen. Dann erst werden sich die Kräfte der Natur wie die
Laute der Sprache verhalten; sie werden einen Sinn haben und einen göttli-
chen Gedanken kund geben, wie diese einen menschlichen. Dann erst
kommt die Erklärung, Baco’s interpretatio naturae, zu ihrem Recht; denn
was hilft alles Erklären, alles Dollmetschen, wenn kein nrsprünglicher Ge-
danke herauskommt? Dafs sich die blinden Kräfte der Natur von dem hin-
zutretenden menschlichen Gedanken in gedachte Gesetze haben verwandeln
lassen, bezeugt vielleicht ihren Ursprung aus einem umfassenden (objeecti-
ven) Gedanken.
Bis dahin wird das höhere menschliche Bedürfnifs und in der Natur
die Betrachtung des Lebens die Richtung auf das ursprünglich Ideale wach
halten. Das Organische und Ethische steht in einem Bunde; denn das
Ethische ist das sich selbst erkennende, das bewufst und frei gewordene
Organische. Dem menschlichen Gedanken erscheint, wenn er sich besinnt,
die Alleinherrschaft der nackten Kräfte, die physische Weltansicht öde. Ihr
zufolge sind im unendlichen Raum unendliche Welten, unendliche Kräfte,
aber der Gedanke blitzt nur im einzelnen Menschen auf, wie zum Schein der
Betrachtung; und der menschliche Gedanke ist einsam in der Welt. Der
Mensch streckt sein vorwitziges Auge aus dem Meer der Kräfte hervor und
zwar in einzelnen philosophischen Lehren nicht viel anders, als der Frosch
aus dem Sumpf seinen aufgeblasenen Kopf. „Und es war wüste und leer”
hiefse es eigentlich noch heute, und zu jenem tröstlichen Worte „und Gott
sahe, dafs es gut war” wäre es noch nicht gekommen.
Weder das Gute noch der Gedanke könnte am Ende und im Einzel-
nen herauskommen, wenn er nicht im Ursprung und im Ganzen läge.
Es mag zum Schlusse gestattet sein, aus der Philosophie in die deut-
sche Dichtung abzuschweifen.
Goethe’s Faust erörtert die Stelle der Schrift: „im Anfang war das
Wort”. Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin,
Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn.
Faust deutet auf dasselbe hin, was als System des Gedankens bezeichnet
wurde.
TRENDELENBURG über den letzten Unterschied u.s.w.
19
[>]
[89)
Bedenke wohl die erste Zeile,
Dafs deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft.
Faust deutet damit auf dasselbe hin, was System der nackten Kräfte ge-
nannt wurde.
Die deutsche Philosophie hat zwar seit Leibniz und länger — das ist
die Thatsache der Geschichte — das Paradies verloren, zu lehren, was ge-
schrieben steht, nur darum weil es geschrieben steht. Als Philosophie kann
sie nicht anders; ihr Beruf ist allgemeiner und sie mufs es der Theologie
überlassen, positiv zu sein. Aber die deutsche Philosophie wird mitten in
dieser freien Stellung bei dem Spruch der Schrift beharren: „im Anfang war
das Wort” — und zwar zunächst und im Zusammeuhang obiger Betrachtun-
gen aus dem einfachen Grunde, weil das Wort, unter dessen Bilde an jener
Stelle das ursprünglich in Gott Schaffende ausgedrückt wird, Sinn und Kraft
zumal ist, eine Einheit beider dergestalt, dafs die Vorstellung den Laut, also
der Sinn die Kraft bestimmt und der Laut nur um des Sinnes d.h. die Kraft
nur um des Gedankens willen da ist, aber nicht umgekehrt; und wer lieber
sagen möchte: „im Anfang war die That”, der mufs sie doch in dieser Weise
erklären.
Über
Matthias von Janow als Vorläufer der deutschen Refor-
mation und Repräsentanten des durch dieselbe in die
Weltgeschichte eingetretenen neuen Princips.
‘ Von
H'": NEANDER.
nanannnnannnmwn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 13. August 1847.]
D. Beseelende in aller geschichtlichen Entwickelung sind die darin sich
offenbarenden Ideen, durch welche alle geistigen Kräfte in Bewegung gesetzt
werden. Nur wenn man die beseelende Idee ergründet hat, ist man sicher,
die Geschichte in ihrem Wesen und ihrem Verlauf recht verstanden zu haben.
Dies gilt von jeder grofsen geschichtlichen Erscheinung und Bewe
ist hier die höchste Aufgabe der Geschichtsbetrachtung, die Idee, aus der
sie hervorgegangen, als das erzeugende und beseelende Princip derselben
gung. Es
zu erforschen. Es sind hier aber mannichfache Mifsverständnisse möglich,
welche auch mamnichfache Verkennungen der in Rede stehenden Erschei-
nungen oder Bewegungen zur Folge haben müssen. Wenn das neue Princip
im Gegensatz zu einer früheren Entwickelungsstufe hervortritt und sich aus
diesem Gegensatze heraus entfaltet, kann man sich verleiten lassen, dieses
negative Moment des Gegensatzes für das Wesen selbst zu halten. Und
doch setzt die Verneinung immer zuerst voraus das bestimmte Princip der
Bejahung, worin sie begründet ist. Man mufs zuerst das neue Prineip, wel-
ches in die Geschichte eintritt, in seiner eigenthümlichen positiven Bedeu-
tung recht verstanden haben, ehe man den daraus hervorgegangenen Ge-
gensatz zu einer früheren Entwickelungsstufe recht zu verstehn vermag.
Immer wird auch das positive Element das ursprüngliche sein, welches, der
darin begründeten Verneinung sich noch nicht bewufst, im Schoofse einer
früheren Entwickelungsstufe geboren wird, im Gegensatz gegen welche es
264 Neanpver über Matthias von Janow
nachher in die Erscheinung tritt und sich weiter ausbildet. Ein anderer
Irrthum ist, wenn, wo ein Princip mehrere positive Elemente in sich fafst,
der Geschichtschreiber nach seiner besonderen subjectiven Neigung eins
willkürlich herauswählt und dieses für das ganze Princip, für die volle
Idee der Erscheinung ausgiebt, während dieses Einzelne selbst doch nur in
dem Zusammenhange mit den übrigen zusammengehörigen Elementen, und
insbesondre mit dem, was den Mittelpunkt von Allem bildet, recht erkannt
werden kann. Ein dritter Irrthum ist es, wenn man nur auf die Wirkungen
hinblickt, welche von dem neuen Princip ausgegangen sind, oder ausgegan-
gen zu sein scheinen. Dann kann man in die Gefahr kommen, Manches,
was den Wirkungen jenes Princips, nachdem dadurch einmal die Geschichte
in Bewegung gesetzt worden, zufälliger Weise, vermöge eines blofs äufser-
lichen oder doch nur mittelbaren Zusammenhanges sich angeschlossen hat,
in das Wesen jener Erscheinung selbst zu setzen. Oder, wenn es auch in
der That solche Wirkungen sind, die unmittelbar durch jenes neue Prineip
hervorgerufen worden, so müssen diese doch immer von dem Princip selbst
wohl unterschieden werden. Um jene neue Erscheinung recht zu verstehn,
mufs man alle jene Wirkungen in ihrem organischen Zusammenhange und
in ihrer Beziehung zu jenem genetischen Princip recht verstanden haben.
Es kann ja geschehn, dafs eine von den grofsen Wirkungen, die durch jenes
Princip hervorgerufen worden, einmal vorhanden, sich von der Wurzel,
aus der sie entsprossen, losreifst, einer falschen Selbstständigkeit sich be-
mächtigt, und eine dem Princip, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen,
durchaus fremdartige und entgegengesetzte Richtung nimmt. Wie sehr wird
man denn also die in Rede stehende Erscheinung mifsverstehen, wenn man
alles dieses auf sie zurückführen zu müssen glaubt. Von je gröfsrer innrer
Bedeutung, von je gröfsrem Einflufs auf den Entwicklungsprocefs der Welt-
geschichte ein neues Prineip ist, je gröfsere und vielseitigere Wirkungen
durch dasselbe hervorgerufen worden, desto mehr bedarf es der wissen-
schaftlichen Vertiefung, Umsicht und Besonnenheit, um solchen Mifsver-
ständnissen zu entgehen. Es erhellt, dafs dies keine Sache der Willkür ist,
so dafs der Eine Dieses der Andre Jenes für das Princip jener neuen Er-
scheinung ausgeben könnte; es wird sich das Irrthümliche in den falschen
Auffassungen auf die bemerkte Weise, der Grund des Mifsverstandes in
der einen oder andren Beziehung mit wissenschaftlicher Strenge nachweisen
als Vorläufer der deutschen Reformation. 265
lassen. Mag es von dem subjectiven Standpunkt des Betrachtenden abhän-
gen, welche Stellung zu dem bestimmten Prineip er selbst in seinem geisti-
gen Leben und seiner Überzeugung einnimmt, — was aber jenes Prineip ist,
davon wird die strenge wissenschaftliche Untersuchung auf eine sichre Weise
Rechenschaft geben können. Auch ehe jenes neue Princip in der Erscheinung
sich entwickelt hat, werden wir das Hinstreben zu demselben schon in den
früheren Bewegungen der Geschichte nachweisen können, —- um so mehr,
je gröfser die Bedeutung dieses neuen Prineips ist; denn nichts entsteht in
der Geschichte vereinzelt und unvorbereitet. Defshalb ist es wichtig für
eine solche Untersuchung, auch die vorangehenden Zeichen, welche die
Zukunft vorbereiten, vorbilden und weissagen, zu erkennen.
Dieses ist auf eine der gröfsten Bewegungen in der Weltgeschichte
anzuwenden, die deutsche Reformation, welche von dem religiösen Element
ausgehend auf die Entwicklung der Menschheit in den vielseitigsten Bezie-
hungen, in Hinsicht der politischen und gesellschaftlichen Gestaltung, Ent-
wicklung der Philosophie, der Wissenschaften und Künste überhaupt so
mächtig eingewirkt hat. Eben weil sie nun aber vermöge dieser mannich-
faltigen Wirkungen ein so vielseitiges, verschiedenartiges Interesse in An-
spruch nimmt, sind daher auch von den Seiten aus, die wir vorhin bezeichnet
haben, die verschiedenartigsten Verkennungen und Mifsverständnisse ent-
standen, wie sie uns nicht allein in der populären, nur der subjectiven Nei-
gung, Laune oder Meinung folgenden Betrachtung, sondern auch in den
Ansichten Derer, welche auf Wissenschaft Anspruch zu machen haben, ent-
gegentreten. Wenngleich die wissenschaftliche Entwickelung zur Vorberei-
tung der neuen geistigen Schöpfung, welche aus der Reformation hervorging,
mächtig einwirkte, wenngleich die Entwicklung der Wissenschaft mit dem
neuen religiösen Element bald in Verbindung trat, die Durchbildung und
Verbreitung desselben beförderte, so ist dies doch immer mit dem Princip
an sich selbst nicht zu verwechseln. Dieses gehört der Entwicklung des
religiösen Bewufstseins an. Und die gröfsten Bewegungen in dem Leben
des Geistes müssen ja auch ausgehen von dem, was das Höchste und Tiefste
darin ist, der Beziehung zu Gott, und zwar in derjenigen Form, welche
allein geeignet ist, zu allen Menschen zu gelangen, daher eine Alle ergrei-
fende Bewegung hervorzurufen, was nicht die Wissenschaft, sondern nur
die Religion sein kann. Losreifsung von der willkürlichen Autorität, welche
Philos.- histor. Kl. 1847. Ll
266 Neanper über Matthias von Janow
Jahrhunderte lang die Geister beherrscht hatte, und unter der sie sich zur
Mündigkeit entwickeln sollten, war das negative Moment, in welchem das
neue Prineip sich darstellen mufste, sobald es zu seinem vollen Bewufstsein
gelangt war; aber wie aus den vorausgeschickten allgemeinen Bemerkungen
erhellt, wird aus diesem negativen Moment das Wesen dieser Erscheinung
nimmer verstanden werden können; sondern dieses selbst setzt voraus das
positive Moment, welches das andre in seinem Schoofse trug, und in wel-
chem es sich zuerst an dem alten Baum, von dem es sich nachher losrifs,
entwickelt hatte; wie es sich uns auch an dem Vorgänger der Reformation,
von dem wir besonders reden wollen, zeigen wird. Freie Entwicklung
aller Güter der Menschheit, freie Entwicklung der Völker, der Staaten,
der Wissenschaften und Künste mufste und sollie von der Reformation
ausgehn, — würde schon früher in gröfsrem und allgemeinerem Maafse da-
von ausgegangen sein, wenn dieses Prineip ungehemmt und ungetrübt in
seiner Entwicklung hätte fortgehn können. Aber alle diese Wirkungen sind
zu unterscheiden von dem, was das Prineip der Reformation ausmacht,
wenn sie gleich nothwendig damit zusammenhängen. Dieses Princip kann
immer nur als religiöses Element recht verstanden werden; und so auch der
Zusammenhang jener Wirkungen mit demselben. Auf die freie Entwicklung
aller Güter der Menschheit hat die Reformation eingewirkt, indem sie die
Idee des höchsten Gutes, des Reiches Gottes, wieder in ihre ursprüngliche
Würde und ihre ursprüngliche Freiheit und Unabhängigkeit einsetzte.
Durch die Idee Einer unmittelbaren Beziehung aller Geister zu dem
Einen Göttlichen, als einer durch Christus vermittelten, die Idee Eines
göttlichen Lebens, das von ihm ausgehend die ganze Menschheit in sich auf-
nehmen und alles Menschliche verklären soll, war ein höheres Einheitsprin-
eip für die ganze Menschheit und für alles Menschliche, Alles, was zur Idee
der Menschheit gehört, gegeben worden. Die Gegensätze, welche in der
alten Welt durch die Völkertrennung, unter den Völkern selbst durch den
Gegensatz der Stände und der Bildung nothwendig waren, sollten durch das
neue christliche Prineip überwunden werden. Mit dieser Anforderung trat
dasselbe in die Welt ein, und diese Wirkungen entwickelten sich zuerst aus
demselben. Aber wie wir in einzelnen fragmentarischen Untersuchungen,
in den in dieser hochgeehrten Versammlung gehaltenen Vorträgen über die
Schrift des Plotinos gegen die Gnostiker und die Tugendeintheilung bei
als Vorläufer der deutschen Reformation. 267
dem Thomas Aquinas nachgewiesen haben, — die durch das Christenthum
überwundenen Standpunkte der alten Welt brachten, in den Entwickelungs-
procefs desselben sich einmischend, eigenthümliche Trübungen hervor. Das
religiöse Bewulstsein, welches in Allen ein freies sein sollte, unmittelbar
an den Urquell des göttlichen Lebens, an Christus sich haltend, wurde
wieder wie in der alten Welt von einer äufserlichen menschlichen Vermitte-
lung abhängig gemacht. Indem das religiöse Bewufstsein der äufserlichen
Autorität einer Kirche, eines Papstthums dienstbar gemacht wurde, auch
die Theologie dadurch in solche Dienstbarkeit gerieth, wurde diese Abhän-
gigkeit auch auf alle andern Zweige menschlicher Bildung, welche, dem
Wesen des Christenthums gemäfs, frei nach ihrem eigenthümlichen Gesetz
sich entwickeln sollten, übertragen; die äufserliche Theokratie trat an die
Stelle der innern. Wie ein neuer Gegensatz von Priestern und Laien wieder
eingeführt, das allgemeine Priesterthum, zu welchem das Christenthum Jeden
in seinem Beruf geweiht hat, verkannt wurde, so wurde auch der alte Ge-
gensatz zwischen Göttlichem und Menschlichem, Geistlichem und Weltli-
chem wieder geltend gemacht, eine höhere Vollkommenheit als diejenige,
welche in der Darstellung des göttlichen Lebens durch die Realisirung der
sittlichen Aufgaben der Menschheit überhaupt und eines jeden menschlichen
Lebens insbesondere besteht, in Anspruch genommen. Die Reformation
hat nun eben, indem sie jene durch das Christenthum an’s Licht gebrachte
und zur Verwirklichung geführte höhere Einheit wiederherstellte, alle jene
Gegensätze überwunden, alle jene Schranken durchbrochen. Und so haben
sich daraus entwickelt alle jene grofsen vielseitigen Wirkungen von der
verschiedensten Art, welche das sittliche und gesellschaftliche Leben, Staat
und Wissenschaft der Reformation verdanken; von welchen aber das be-
seelende Prineip im Zusammenhange mit der Reformation immer nur jenes
Eine bleibt, was wir bezeichnet haben.
Wie sich dieses in dem Entwicklungsgange der deutschen Reformation
selbst unverleugbar nachweisen läfst, so bei den der deutschen Reformation
vorangehenden und zu ihr hinstrebenden Erscheinungen. In dieser Hin-
sicht ist nun auch besonders wichtig der bedeutende Mann des vierzehnten
Jahrhunderts in Böhmen, den man erst aus seinen in Handschriften verbor-
genen Geisteserzeugnissen recht kennen lernen kann, Matthias von Ja-
ö
now. Der ausgezeichnete böhmische Historiograph, Franz Palacky, dem
L12
368 NeAnder über Maithias von Janow
auch ich es verdanke, durch mündliche Belehrungen auf die grofse Bedeu-
tung der Schriften dieses Mannes hingewiesen worden zu sein, er sagt mit
Recht in seiner böhmischen Geschichte Bd. 3, Abtheilung 1, S. 181, „dafs
die Schriften desselben für die Entwicklung der spätern Ansichten und Er-
eignisse eine bei Weitem gröfsere Bedeutung haben, als man gemeinhin an-
nimmt.” Es gilt dieses nicht allein von den durch Hufs in Böhmen hervor-
gerufenen Bewegungen, sondern auch von der deutschen Reformation, wie
sie durch Luther gestiftet wurde. Zwar werden wir hier durchaus keinen
äufserlichen Zusammenhang nachweisen können, da Luther mit dem Matthias
von Janow ganz unbekannt blieb, überhaupt sich keine äufsere Verbindung
zwischen den reformatorischen Bewegungen in Böhmen und der Entwicklung
Luthers nachweisen läfst. Beides erfolgte auf selbstständige, eigenthümlich
verschiedene Weise, wie es in der eigenthümlichen Verschiedenheit der
Männer, von denen jeder ganz seiner Nation angehörte, begründet ist.
Aber wenngleich kein äufserlicher Zusammenhang hier anzunehmen ist, so
ist doch darum der innre Zusammenhang nicht zu verkennen; er leuchtet
grade defshalb desto mehr hervor. Wir erkennen denselben Geist, dasselbe
Princip der Reformation, wie es sich in zwei Männern, welche durch Jahr-
hunderte und durch den Völkerstamm, dem sie angehören, von einander
getrennt sind, auf eigenthümliche Weise darstellt. Janow als Repräsentant
des Prineips der Reformation, wie es aus dem geschichtlichen Entwicklungs-
procefs des Christenthums unter einem Volke slavischer Abstammung sich
herausbildete, und, da die Entwicklung desselben durch unglückliche Er-
eignisse in dem slavischen Völkerstamm unterbrochen worden, über ein
Jahrhundert später in dem deutschen Völkerstamm durch Luther zu seinem
Sieg gebracht wurde. Die Geschichte läfst nichts untergehn. Kein Aus-
sprechen der Wahrheit ist umsonst, wenn es auch für den Augenblick zu
verhallen scheint: es ist die Weissagung auf den späteren Sieg dessen, was
für den Augenblick unterzugehn scheint, wie Matthias von Janow in den
Worten, die wir nachher anführen werden, den Sieg des Christenthums
über das Antichristenthum weissagt, der durch Luther wirklich erkämpft
wurde. Wenn es aus der bezeichneten Ursache interessant ist, die Einheit des
Geistes und Prineips der Reformation in Matthias von Janow und Luther zu
erkennen, dem Manne slavischen und dem Manne deutschen Stammes, wird
als Vorläufer der deutschen Reformation. 269
es von der andern Seite auch interessant sein, die Verschiedenheit, die darin
begründet ist, genauer zu bezeichnen.
Was uns zu dieser Untersuchung Veranlassung und Stoff gegeben hat,
ist das handschriftliche Werk des Matthias von Janow „De regulis veteris et
novi testamenti”, aus welchem sich ein Bruchstück unter dem Namen des Hufs
unter dessen Werken findet, wie dies schon von Gieseler nachgewiesen wor-
den, und von welchem grofsen Werke einige Bruchstücke nach der Mitthei-
lung des Herrn Palacky von dem Professor Jordan in Leipzig in dem vorigen
Jahre bekannt gemacht worden in seiner kleinen Schrift: „Uber die Vorläufer
des Hussitenthums in Böhmen”. Durch eignes Studium während eines kurzen
Aufenthaltes in Prag in den Herbstferien des vorigen Jahres überzeugte ich
mich von der grofsen Wichtigkeit dieses Werkes, und durch die ausgezeichnete
Liberalität der an der Spitze des Museums der bömischen Stände in Prag ste-
henden Behörden erhielt ich die Mittheilung jenes Werkes nach Berlin. Das
bezeichnete Werk enthält nach seinem Titel Regeln für die Beurtheilung des
religiösen und sittlichen Lebens. Das Exegetische hat den mindesten Werth,
obgleich Janow durch einzelne geistvolle Blicke auch hierin sich auszeichnet;
aber von grofser Wichtigkeit ist, was er sagt nach genauer Bekanntschaft mit
allen Verhältnissen seiner Zeit über das religiöse, sittliche und gesellschaftli-
che Leben derselben, über das Verderben in den verschiedenen Ständen, über
das Bedürfnifs einer Wiedergeburt der Christenheit, über das, wovon diese
ausgehn müsse. Hier erkennen wir wie das grofse Bedürfnifs einer Reformation
der Kirche, so das Prineip, von welchem dieselbe in Deutschland ausging.
Das Werk, welches vielleicht aus der Zusammenstellung einzelner Vorträge
entstanden ist, enthält mannichfache Wiederholungen, die aber auch dazu
dienen, dieselben Gesichtspunkte in manchen neuen Beziehungen und von
manchen neuen Seiten anschaulich zu machen.
Wir müssen, um den Entwicklungsgang, das Auftreten des Matthias
von Janow recht zu verstehen, auf seine Zeitumgebungen einen Blick wer-
fen. Der Gipfelpunkt in der Verweltlichung des Reiches Gottes und in dem
geistlichen Despotismus hatte die Reaktionen freierer Geistesrichtungen un-
ter Bonifacius VIII. hervorgerufen. Es ist merkwürdig, die Reihe zusam-
menhängender Bewegungen zu erkennen, welche in der Opposition der allge-
meinen Concilien gegen das unbeschränkte Papstihum ihren Ausgangspunkt
270 Neanver über Matthias von Janow
findet. Die Residenz der Päpste in Avignon läfst das von dem verweltlich-
ten Papstthum herrührende Verderben immer höher steigen. Das Verder-
ben des römischen Hofes ruft immer mehr Klagen über die Übel der Kirche
hervor und vermindert die Scheu vor dem bisher heilig gehaltenen Namen.
Die Kämpfe des eigensinnigen Johannes XXI. mit Ludwig dem Baiern ver-
anlassen merkwürdige Untersuchungen über die Gränzen der kirchlichen und
bürgerlichen Gewalt, unter denen besonders die freien und scharfsinnigen
Erörterungen eines Marsilius von Padua in seinem defensor pacis sich aus-
zeichnen, welches Werk schon das Gericht über das ganze mittelalterliche
Kirchensystem enthält. Darauf folgt die grofse päpstliche Spaltung, die
eine natürliche Folge von der Residenz der Päpste zu Avignon war. Wäh-
vend dieser stiegen die Übel der Kirche, die durch den Kampf der Päpste
mit einander zerrissen wurde, immer höher, und die getheilte ungewisse
Macht konnte nicht mehr so furchtbar sein. Die Betrachtung dieses Welt-
zustandes hatte auf Matthias von Janow in Böhmen, wie Wiklef in England,
offenbar Einflufs; wir werden nachher seine Worte darüber vernehmen.
Wie in den Zeiten, in welchen bedeutende Krisen in der Weltgeschichte
sich vorbereiten, zu den grofsen Zeichen, welche dem geistigen Verfall zur
Seite gehen, auch zu gehören pflegen jene Weltseuchen, so war es damals
der schwarze Tod, der von dem einen Ende Europas nach dem andern sich
verbreitete und viele Tausende hinwegraffte. Alles dieses regte die Gemü-
ther auf, weckte ernstere Betrachtungen, liefs grofse Gerichte Gottes ahnen;
wie der Reformator Wiklef dadurch veranlafst wurde, seine erste Schrift
„Über die Gefahr der letzten Zeiten” zu verfassen. Dadurch wurden ern-
stere Seelen veranlafst, die Weissagungen der heiligen Schrift über das
Kommen des Antichrist und die Wiederkunft Christi zu erforschen, die Zei-
chen ihrer Zeit damit zu vergleichen. Und hier haben wir die Zeitumge-
bungen, unter denen der bedeutende Mann, von dem wir reden, sich ent-
wickelte, als Reformator sich bildete und auftrat, bezeichnet.
Matthias von Janow, Sohn des böhmischen Ritters Wenzel von Janow,
hatte sechs Jahre zu Paris studirt und dort den Grad eines Magisters erlangt,
daher er den Namen eines magister Parisiensis führt. In Rom und Nürnberg
hielt er sich längere Zeit auf. Seine Reisen hatten ihm reiche Kenntnifs
von den Zuständen der damaligen Welt verschafft, wovon jenes angeführte
als Vorläufer der deutschen Reformation. 271
Werk zeugt. Seit dem Jahr 1381 war er Domherr in Prag. Was er in dem
angeführten Werke von den frommen Frauen in Nürnberg sagt, könnte viel-
leicht auf einen Zusammenhang zwischen den reformatorischen Bewegungen
in Böhmen und den verwandten Bestrebungen der Gottesfreunde in Deutsch-
land hinweisen, da Nürnberg zu den Städten gehört, wo dieselben einen Sitz
hatten, wie die Verbindung des Heinrich von Nördlingen und der Margarethe
Ebnerin ein Merkmal davon ist(!). Als Beichtvater an der Domkirche hatte
er viele Gelegenheit, den religiösen Zustand und die Bedürfnisse des Volks
kennen zu lernen. Er wirkte bis an seinen Tod in den besten Mannesjah-
ren(?). Einige Jahre früher hatte er das bezeichnete Werk vollendet.
Blicken wir auf den religiösen und kirchlichen Zustand von Böhmen,
so war dort besonders, wie Matthias von Janow häufig darüber klagt, eine
überreiche Geistlichkeit, in Verweltlichung versunken, unbekümmert um
die religiösen Bedürfnisse des Volkes. Eine grofse Anzahl von Mönchen
der verschiedensten Orden, die dem Volk am nächsten standen, beförderte
den Aberglauben, der der Unsittlichkeit zur Stütze diente. Die Prager
Universität, die Viele aus fernen Gegenden als Lehrer und Studenten herbei-
zog, war ein Hauptsitz der scholastischen Theologie geworden, und durch
diese wurden die Lehren, von denen der Volksaberglaube ausging, oder
in denen er seinen Anschliefsungspunkt fand, vergeistigt mit mancherlei
feinen Bestimmungen vorgetragen, von denen das Volk nichts verstehen
konnte, worüber wir den Matthias von Janow werden klagen hören. Eben
dieser Zustand des religiösen Lebens rief in Böhmen eine reformatorische
Reaktion von Seiten einzelner Männer, die von Mitleid mit dem Volk er-
griffen wurden, hervor. Diese Reaktion unterschied sich in eigenthümlicher
Weise von derjenigen, die in England durch den tiefsinnigen und kernkräf-
tigen Wiklef angeregt wurde, und sie ist in mancher Hinsicht der Reaktion,
von welcher die deutsche Reformation ausg
5
schlofs sich einerseits dem politischen Gegensatz gegen die Hierarchie in Eng-
ing, mehr verwandt. Wiklef
land an, andrerseits finden wir bei ihm die Verbindung eines tiefspekulativen
Geistes mit einem praktischen Element. Seine reformatorische Richtung
(') S. die von Heumann bekannt gemachten Briefe an dieselbe in der Sammlung der
opuscula von Johannes Heumann. Nürnberg 1747,
(2) Derselbe erfolgte am 30. November 1394.
272 Neanper über Matthias von Janow
steht mit dem Gegensatz des Realismus gegen den Nominalismus in genauer
Verbindung. Ein spekulativer Geist, der nachher bei den Engländern zu-
rücktrat, herrschte damals bei ihnen vor und verband sich mit den refor-
matorischen Bestrebungen. Zwar hat man dem Wiklef auch grofsen Einflufs
auf die reformatorische Reaktion in Böhmen zugeschrieben, und allerdings
verbreitete sich der wissenschaftliche Einflufs Wiklefs von Oxford nach Prag,
und wir sehen diesen nachher unter den von Hufs angeregten Bewegungen
hervortreten; doch darf man diesen Einflufs nicht zu hoch anschlagen. Das
Studium der Schriften des Matthias von Janow, wenn man von demselben zu
dem Studium der Schriften Hufsens übergeht, zeigt uns, dafs schon ganz
unabhängig von Wiklef eine unmittelbar von dem religiösen Interesse und
von der Theilnahme an den religiösen Bedürfnissen und der Noth des Volkes
ausgehende reformatorische Reaktion gegen die Hierarchie in Böhmen sich
gebildet hatte, eine solche Reaktion, welcher, obgleich sie dem herrschenden
Kirchensystem sich noch anschlofs, doch schon das Prineip der deutschen
Reformation in der bezeichneten Beziehung, der Hinweisung zu Christus
allein und zu seinem Wort in der heiligen Schrift, zu Grunde lag. Die
deutsche Reformation, wie sie von Luther ausging, sehen wir vorbereitet
durch den Gegensatz der Gemüthstheologie, des Mystieismus, gegen die ein-
seitige Begriffsrichtung der Scholastik. In diesen Gegensatz stimmt auch
Janow ein. Aber wenn das tiefinnerliche Element in der mystischen Theo-
logie Deutschlands mehr vorherrschte, sehen wir in dem slavischen Volks-
stamm die nach aufsen hin gerichtete Thätigkeit des reformatorischen Geistes
von Anfang an mehr hervortreten. Es sind Männer, welche, indem sie der
religiösen Bedürfnisse des Volks voll unermüdeten Eifers sich annehmen,
mit der herrschenden Theologie und ihren Vertretern in Kampf gerathen.
Matthias von Janow nennt besonders zwei, welche durch ihr Beispiel viel
auf ihn eingewirkt zu haben scheinen, und von denen der Eine auch unmit-
lelbar durch Unterricht und Umgang bedeutenden Einflufs auf ihn ausübte.
Die beiden Männer, welche er als Repräsentanten des rechten Eliasgeistes
darstellt: der Eine ein bis auf die neueste Zeit unbekannter Mann, Konrad
von Waldhausen aus Österreich, den man bisher mit einem spätern Manne
reformatorischen Geistes, Johann von Stiekna, aus Milsverstand zu einer Per-
son gemacht hat, und Milicz aus Kremsier in Mähren, der bei dem Kaiser
Karl IV. in grofsem Ansehn stand, aber Alles hingab, um nur dem Besten
als Vorläufer der deutschen Reformation. 273
des Volkes sich zu weihen. Von ihm zeugt Janow mit warmer Begeisterung.
„Ich bekenne, — sagt er — dafs ich nicht im Stande bin, auch nur den
zehnten Theil von dem zu schildern, was ich in der sehr kurzen Zeit, die
ich mit ihm zusammenwohnte, mit meinen eignen Augen gesehn und mit _
meinen eignen Ohren gehört habe.” Von diesem ausgezeichneten Manne,
der in Rom und Avignon gegen das herrschende Verderben zeugte, ging
eine Schule von Männern reformatorischen Geistes aus, und Derjenige, der
unter diesen durch seine Schriften am meisten wirkte, der als Mann der
Wissenschaft am meisten hervorragte, war Matthias von Janow. Die Ideen
des Miliez über den Kampf des Christenthums und des Antichristenthums,
über ein sich vorbereitendes Gericht, über die verderbte Kirche, eine her-
annahende bessere Zeit wurden von Matthias von Janow weiter ausgebildet.
„Nichts — sagt derselbe — ist schwächer als das Böse, wenn es un-
verdeckt erscheint. (!) So mufs der Antichrist den Schein des Christen-
thums selbst annehmen. Dies ist die heftigste Versuchung, welche in diesen
letzten Zeiten die Kirche trifft.” „Es ist oder wird sein — sagt Janow —
der Antichrist der Mensch, der die Wahrheit, das Leben und die Lehre
Christi auf trügerische Weise bekennt, seine Schlechtheit verdeckt unter
christliichem Namen, der den höchsten Platz in der Kirche einnimmt, das
höchste Ansehn über Geistliche und Laien ausübt, mächtig durch alle Reich-
thümer der Welt, alles Ansehn und alle Ehre, besonders aber die Güter
Christi, wie die heilige Schrift, die Sakramente und die Hoffnung der Reli-
gion zu seiner eignen Ehre und zu seinen eignen Lüsten mifsbraucht, das
Geistliche zum Fleischlichen verkehrt, was zum Heil der Christenheit ge-
ordnet ist, anwendet, um sie von der christlichen Wahrheit und Tugend
abzuführen, um die Christen desto leichter, scheinbarer, gefährlicher zu
allen Lastern zu verführen.” So sieht er den Antichrist in dem Verderben
seiner Zeit. Er bezeichnet dieses als die List des Antichrists in dieser
Zeit, dafs er selbst auf einen Antichrist in der Zukunft hinweiset, damit
die Menschen ihre Phantasie beschäftigend mit einem zukünftigen Antichrist
den um sie her nicht erkennen sollten. „Es geschieht gewöhnlich — sagt
er — heut zu Tage, dafs Diejenigen, welche selbst Organe des Antichrist
(') Nihil imbecillius diabolo denudato.
Philos.- histor. Kl. 1847. Mm
974 Neanver über Matthias von Janow
sind, einen andern als den zukünftigen erwarten. Während der Greuel der
Verwüstung im Tempel ist, weist man, damit die Leute es nicht wahrnehmen
sollen, ‘auf einen andern in der Zukunft hin.”
Ein grofses Übel findet er in der Menge der positiven Gesetze, womit
man die Christen überhäufe und wodurch die christliche Freiheit beeinträch-
tigt werde. „Die edle Natur des Menschen — sagt er — sollte nicht mit
Zwang und Furcht einem Gesetz unterworfen werden, wie die unvernünftigen
Thiere mit dem Joch und mit der Peitsche gezogen werden. Der Mensch,
das edelste Geschöpf, mit dem freisten Willen begabt, mufste durch Gründe
bewegt, durch seine Neigungen in Anspruch genommen und so auf freie
Weise zu Einem Gesetz und Einer Sitte hingeführt werden. Dieses konnte
aber unter den Menschen in der ganzen Welt bei so grofsen Verschieden-
heiten Keiner zu Stande bringen, als allein der Geist Christi. Er allein
konnte das Gesetz der vollkommenen Freiheit und der ewigen Wahrheit
verleihen und dieses den Herzen der Menschen einprägen. Das Gesetz,
das für alle Menschen geeignet ist, kann nur von Dem herrühren, der die
Bedürfnisse aller Menschen kennt. Ein Gesetz, das für Alle insgesammt
und für Jeden insbesondere pafst, für jeden Ort und jede Zeit, ein solches
Gesetz hat das Volk der Christen, nicht auf Tafeln von Stein geschrieben,
wie das Gesetz des Moses, nicht auf Papier durch Menschenhände, wie die
verschiedenen Gesetze der Völker, sondern geschrieben auf den Tafeln des
Herzens in der Seele durch die Wirkungen des göttlichen Geistes. Dieses
lebendigmachende und mächtige Gesetz ist der Reichthum der Christen.”
Schön erklärt er die Worte des Apostels Johannes, dafs das Gesetz gegeben
worden durch Moses, die Gnade und Wahrheit in Christus erschienen.
Dieses Gesetz werde Gnade und Wahrheit genannt, weil der Geist Christi
es vielmehr wohlgefällig mache und erfülle, als von aufsen her gebe; d.h.
weil es nichts von aufsen her Gegebnes sei, sondern der Geist Christi von
innen heraus Freude daran finden lasse und von innen heraus es zur Erfüllung
bringe. Dagegen sagt er von den vielen Geboten: „Je mehr Gesetze sind,
desto mehr und häufigere Übertretungen. Die Schlechtheit der Menschen
läfst sich durch die äufserlichen Gesetze nicht zügeln; sie will immer darüber
hinaus, und je mehr Riegel ihr entgegengestellt werden, desto mehr wird
sie zur Verachtung derselben gereizt. Es bedarf wohl der äufserlichen Gesetze
als Schranke gegen das Böse; die aber von dem Geist Christi erfüllt sind,
als Vorläufer der deutschen Reformation. 275
bedürfen nicht der vielfältigen Gebote und Satzungen. Der Geist Gottes
lehrt und führt sie, und läfst sie Tugend und Wahrheit willig und freudig
vollbringen, so wie der gute Baum gute Früchte bringt. Solche nun, die
durch den Geist Christi freigemacht worden, werden durch diese Menge der
Gesetze beengt und auch in der Ausübung der Tugend beschränkt, wie
Christus gehindert werden sollte, seine Heilungen zu verrichten wegen der
der Beobachtung des Sabbaths. Christus hat alle Gebote in’s Kurze gezogen,
zusammengefafst in dem Einen Gesetz der Liebe. Darauf müssen sich alle
andern zurückführen lassen.”
Häufig bestreitet er die Gegensätze, welche durch das Mönchsthum
unter den Christen hervorgerufen wurden, indem Jeder von seinem Mönchs-
orden sage: Hier ist Christus! und sich den übrigen entgegenstelle. So
werde die Einheit der Christen zerspalten. Die Eigenliebe sieht er nicht
blofs in dem Streben nach weltlichem Genufs, sondern auch in den feinern
Gestalten, wenn Jeder nur seine eigne Andacht suche, seine eigne Vervoll-
kommnung, statt dem Besten Andrer zu dienen. Dies macht er auch den
bessern unter den Mönchen zum Vorwurf. Er nennt es eine ungeheure
Anmafsung, wenn die Mönchsorden den Namen, der dem Christenthume
überhaupt zukomme, dem Mönchsthum insbesondre zueigneten, den Namen
religio. Er sieht darin eine Beeinträchtigung der allgemeinen Christenwürde,
eine Schmach des christlichen Namens, wenn man die Mönche, die Geistli-
chen der Welt entgegensetze, als ob nicht eben alle Christen von der Welt”
ausgeschieden, im wahren Sinne Geistliche geworden seien. Er leitet das
Verderben unter dem christlichen Volke daher ab, dafs man einen Unter-
schied zwischen Rathschlägen Christi und Geboten gemacht, und dadurch
die Anforderungen an das gewöhnliche Leben der Christen herabgestimmt
habe. So wird durch ihn das grofse reformatorische Princip von dem allge-
meinen Priesterthum, welches das ganze Leben umfasse, wieder zu seinem
Rechte gebracht, jener falsche Gegensatz von Geistlichen und Weltlichen
bestritten, das Göttliche wieder als verklärendes Princip des ganzen Lebens
dargestellt. So sagt er: „Sie beginnen hoch von sich zu denken und über
das gemeine Volk sich erheben zu wollen; sich betrachten sie als die einzig
Geistlichen und das christliche Volk wie Welt und Babylon; sie schreien,
dafs bei ihnen allein die christliche Vollkommenheit hervorleuchte und von
ihnen allein die christlichen consilia erfüllt würden, dafs das Volk nicht dahin
Mm?
276 Neanper über Matthias von Janow
gelangen könne und nicht dahin zu gelangen brauche. Dadurch erlangen sie
grolse Verehrung, und das Volk gewinnt dadurch eine grofse fleischliche Frei-
heit. Alle Zügel der christlichen Zucht werden dadurch gelöst. Es gereicht
zu grofser Verführung für die Einfältigen, die nun sagen: „Wir sind ja nur
Weltleute, wir dürfen dies und jenes haben.” Er klagt nun darüber, wie wenn
unter den Laien solche aufständen, welche sich durch ihren christlichen Wan-
del vor den übrigen auszeichneten, sie von denselben verachtet und verspottet
würden. Man gab ihnen den Beinamen der Begharden und Beguinen, — ein
Name, der damals ähnlich gebraucht wurde, wie in spätrer Zeit der der Pie-
tisten. Wenn du anders leben willst als die Übrigen, sagte man zu ihnen,
so bleibe nicht in der Welt! Solche fromme Männer unter den Laien erreg-
ten die Eifersucht von Geistlichen und Mönchen; sie wurden verketzert und
verfolgt. Janow klagt darüber, dafs so die Bessern genöthigt würden, sich
in die Klöster zurückzuziehen; Solche, die geeignet wären, eine Stütze für
die Schwachen zu werden, flöhen, zögen sich aus der Mitte derselben zu-
rück. „Was soll daraus werden, — sagt er — wenn das Salz, womit gesalzen
werden soll, hinweggenommen wird von den Speisen, die damit gesalzen
werden sollen, wenn der Saame, stattin den Erdboden gestreut zu werden,
an einen abgesonderten Platz gelegt wird.” Man solle alle jene frommen
Menschen, die sich von der Welt zurückgezogen hätten, aus ihrer Verbor-
genheit hervorziehen, sie in die Gemeinden zerstreun und die weltlichge-
sinnten Geistlichen als das dumm gewordene Salz entfernen, so werde sich
bald zeigen, welcher grofse Nutzen für die christliche Gemeinschaft daraus
hervorgehn werde. Diese Trennung von dem christlichen Gemeinwesen sei
das Verderblichste, was seit vielen Jahrhunderten habe geschehn können.
Er klagt darüber, dafs in der Heiligenverehrung ein neuer Götzendienst um
sich greife, durch die Anpreisung der Wunder von Heiligenbildern und
Reliquien das Volk von dem innern religiösen Leben immer mehr abgezogen,
in die Veräufserlichung versenkt werde, dafs man den verstorbenen Heiligen
Verehrung erweise, statt dazu angehalten zu werden, im Verhältnifs zu den
Lebenden christliche Tugend zu üben. Er sagt, dafs wenn auch gewisse
Grundsätze über eine vergeistigte Heiligenverehrung in den Schulen möchten
vorgetragen werden, sie doch dem rohen Volke nicht sollten gepredigt wer-
den, indem dasselbe dadurch nur zum Götzendienst verleitet werde. Er
spricht gegen eine Versammlung unter den höchsten Oberen der Kirche,
als Vorläufer der deutschen Reformation. 277
welche die Anbetung der Heiligenbilder vertheidigt, die Vertreter des wah-
ren Christenthums verfolgt hatte, — ohne Zweifel die im Jahr 1388 zu Prag
gehaltene Synode, auf welcher Janow selbst zu einem Widerruf der ihm
Schuld gegebenen Sätze soll bewogen worden sein. Es erhellt aber, wie frei
er auch noch nach derselben seine Grundsätze vertheidigte, jene Richter
selbst nicht schonte. Doch schildert er die mit ihm Gleichgesinnten als
eine von dem Antichrist verfolgte Parthei.
Es war damals zwischen der Parthei, zu der Janow gehörte, und
der herrschenden ein merkwürdiger Streit über den häufigen Genufs des
heiligen Abendmahls durch die Laien. Wir erwähnen dieses, weil auch dies
dem Janow Gelegenheit gab, seinen Eifer gegen die durch die Hierarchie
herbeigeführte Scheidung unter den Christen, seinen Eifer für die Rechte
des christlichen Volks und die gemeinsame höhere Würde aller Christen zu
zeigen. Diejenigen nämlich, welche die Laien nur selten zur Kommunion
zulassen wollten, führten als Grund an, dafs wenn man ihnen täglich das
heilige Abendmahl reiche, sie verleitet werden würden, den Priestern sich
gleichzusetzen. Dagegen sagt er nun: „Wenn sie wirklich von dem guten
Geiste Gottes beseelt wären, müfsten sie vielmehr mit Moses sagen: Möch-
ten doch alle Propheten sein! Der Geist, der sie beseele, sei aber der des
Neides und des Hochmuths.” Er äufsert sein Bedauern, dafs berühmte
Männer nicht erkennen wollten, dafs in der neuen Schöpfung Alles geistlich
und himmlisch sei.
Als ein Zeichen des Antichristenthums betrachtet er die mannichfachen
Spaltungen unter den Christen; wie dort die Griechen, hier die Franzosen
(der Anhang der Päpste zu Avignon), von der andern Seite die Anhänger
des römischen Papstes sagen: Hier ist Christus und nirgend anders! und
so wieder jeder Mönchsorden sich Christus besonders zueigne. Dann redet
er von den Brüderschaften unter den Laien, und es folgt jene merkwürdige
Schilderung, die ich hier anführen will, weil sie für die mit den deutschen
Alterthümern sich Beschäftigenden besonderes Interesse haben könnte:
„Auch die Laien trennen sich in solche Brüderschaften, haben ihre beson-
dere Festlichkeiten, suchen Viele an sich zu ziehen, und behaupten, dafs
es mit andern Christen nicht so gut stehe, als mit denen, die sich ihnen
anschlössen. Und solche Brüderschaften haben sich jetzt unter dem Volk
zu sehr vervielfältigt. Dann andre, noch schlimmere Verbindungen, die
978 Neanper über Matthias von Janow
Verbindungen bewaffneter Ritter und Räuber, welche Italien grausam zu
verwüsten nicht aufhören. Auch in Deutschland sind Verbindungen von
Adligen und Bauern mit Eidesformeln und mannichfachen Satzungen gestiftet
worden, um so tapfer zusammenzuhalten gegen Andre, im Guten und Bösen
sich zu behaupten. Viel Geld bringen sie so zusammen und machen sich
von aufsen dieselben oder ähnliche Zeichen, an denen sie ihre Genossen
erkennen, die dadurch Gegenstand ihrer besondern Liebe sind. So tragen
sie nach wechselseitiger Verabredung auf der Brust die Einen einen Wolf,
die Andern ein Schaaf und Ähnliches, oder wie in Neapel sich Einige von
der rothen, Andre von der weifsen Rose nennen (!), und in der Lombardei
die Guelfen und Gibellinen, in Böhmen Sybaly.”
In dem bevorstehenden Sieg über den Antichrist weissagte Janow,
ohne es selbst zu wissen, die neue Schöpfung, welche von der Reformation
ausgehn sollte. Oft weissagt er, mehreren Stellen der Evangelien sich anschlies-
send, dafs Christus seine Engel, das heifst, eine Schaar begeisterter von Kraft
und Weisheit erfüllter Prediger aussenden werde, das Reich des Antichrist zu
zerstören, die ursprüngliche Kirche wiederherzustellen, die durch die von
menschlicher Willkür erzeugten Gegensätze Zertrennten zu einer höheren
Einheit mit einander wieder zu verbinden. Wenn Andre, Stellen der Evan-
gelien mifsverstehend, eine persönliche Wiederkunft jenes Propheten, des
Elias erwarteten, so bezog dies Janow, jene zu erwartende sinnliche Wieder-
kunft des Elias bestreitend, auf Männer im Geiste des Elias, welche gegen das
Verderben der Kirche mit feurigem Eifer auftreten würden. Denen, welche
meinten, dafs die Wiedererscheinung des Elias dazu dienen werde, der wieder
an’s Licht gebrachten Wahrheit Eingang zu verschaffen, hielt Janow das Wort
Christi in der Parabel vom Lazarus entgegen, dafs Diejenigen, welche Mosen
und den Propheten nicht glaubten, auch wenn Einer von den Todten wieder-
(') Von diesen in Neapel mit einander kämpfenden politischen Partheien redet auch
ein Zeitgenosse des Matthias von Janow, der Dechant aus Bielefeld Gobelinus Persona,
der selbst Italien bereist hatte, in seinem geschichtlichen Werk Cosmodromium aetas VI:
Cum propter execrabilem partialem contrarietatem, quae per cunctas ipsius regni partes dif-
fusa plurimas civitates evertit, cives Beneventani alii de parte Rosae albae, alii de parte
Rosae rubrae se asserentes, inter se invicem sub gravibus personarum et rerum dispendiüis,
certamina saepe foverunt: tandem pars rubra, alias per albam partem expulsa extraneae
gentis procurato juvamine praevalens, ilos, qui partis albae fuerant, de civitate violenter evul-
sit. Cfr. Scriptores rerum germanicarum ed, Meiboom. Tom. 1. pag. 303 und 304.
als Vorläufer der deutschen Reformation. 379
kehrte, nicht glauben würden. Auf den empfänglichen Sinn komme Alles an;
es sollten keine Wunder mehr geschehn, sondern durch die innere Kraft der
Wahrheit allein werde Alles gewirkt werden. Es ist dabei merkwürdig, dafs
wie Janow, an das Wort Christi sich anschliefsend, dafs wo das Aas ist, die Adler
sich sammeln, die Verkündiger der Wahrheit gegen das herrschende Verder-
ben als Adler bezeichnete, Hufs, auf den Janow’s Schriften viel eingewirkt
hatten, sagt, indem er auf die Bedeutung seines Namens im Böhmischen,
die Gans, anspielt: wenn die Gans das zahme Thier durch die Schlinge der
Feinde nicht habe gefangen werden können, nach ihm Falken und Adler
kommen und sich weit höher erheben würden.
So weissagte Matthias von Janow die durch Johann Hufs hervorge-
brachte Bewegung der Geister, die leider nicht in ihrer Reinheit sich erhalten
konnte, und Hufs weissagte im Geist die neue Schöpfung, die von unserm
deutschen Luther ausging, und die siegend über alle Zerstörung ihrem gro-
{sen allumfassenden Ziel mit sicherem Schritt entgegengeführt werden wird.
Und wie von jenen Männern des slavischen Stammes in Böhmen zuerst aus-
gestreut wurde der Saame, der in Deutschland endlich viele Frucht bringen
sollte, wie Matthias von Janow der grofse Vorbote Luthers war und beide
grofse Männer ganz ihrem Stamm und ihrem Volke angehörten, so möge
eine höhere brüderliche Einheit die beiden Stämme und Völker zu Einem
grofsen geistigen Werk mit einander verbinden.
—n 71 BBB I >—
2. ne
h £ u hu R
Über
das Altai’sche oder Finnisch - Tatarische
Sprachengeschlecht.
‚/Von
Hm ‘SCHOTT.
uam uwird
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 11. November 1847.]
Einleitung.
D. finnisch-tatarische Sprachengeschlecht hat, wie aus Überlieferungen
der Türken, der Mongolen, und gewissen Andeutungen in finnischen Runot
mit grofser Wahrscheinlichkeit hervorgeht, seine Urheimat auf und an der
Riesenkette des Altai (!). Vier Hauptvölker sind es, welche von diesem
Gebirge aus über Tungusien, über die ungeheueren Hochländer zwischen
Altai und Kuen-lün, über Nordasien und ansehnliche Theile Osteuropas sich
ergossen haben: Tungusen, Mongolen, Türken und Tschuden oder
Finnen (?). Als eine natürliche südliche Scheidewand zwischen diesem
(‘) Ich bemerke ein für alle Mal, dals ich hier den Namen Altai nicht auf dasjenige
Gebirge einschränke, dem er allein zukommt, sondern den ganzen fast ununterbrochenen
Höhenzug vom oberen Irtysch bis zum Onon darunter verstehe. Der Ausdruck „altai’sches
Sprachengeschlecht” ist mir gleichbedeutend mit „‚finnisch-tatarisches”, welche letztere Be-
nennung auf die zu erweisende Verwandtschaft der sogenannten tatarischen Sprachen —
Tungusisch, Mongolisch, Türkisch — mit den sogenannten finnischen hindeutet. Bekannt
ist der Mifsbrauch, den man in Asien, und noch mehr in Europa, mit dem Namen Ta-
taren getrieben hat; er verdient aber wenigstens Duldung, so lange wir dabei nur an
die erwähnten drei Völker denken, über deren gemeinsame Abstammung tiefere Erfor-
schung ihrer Sprachen keinen Zweifel läfst. Was den älteren Chinesen von der Abkunft
desjenigen Volkes, welches diesen Namen zuerst führte, bekannt geworden, das habe ich
in meiner Abhandlung „Älteste Nachrichten von Mongolen und Tataren” (Berlin 1847)
aus bis dahin unbenutzten Quellen mitgetheilt.
(?) Vergl. meinen Artikel „‚Über Nationalität und Abkunft der Finnen”, abgedruckt
in Schmidts Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Novemberheft 1847.
Philos.- histor. Kl. 1847. Nn
282 Scuorr über das Altai'sche
Völkergeschlechte und den Urbewohnern des Tibetischen Hochlandes, zu
welchen auch die Chinesen gehörten, mag man den Kuen-lün (Kulkun) be-
trachten, während durch die Gebirgsregionen des indischen Kaukasus und
des Himalaja das Stammgebiet des arisch-indischen Völkergeschlechtes ab-
gemarkt wird.
Die Völkertrümmer im westlichen Sibirien gehören zu den weitrei-
chendsten Hauptästen des grofsen Stammes: sie sind Finnen oder Türken,
oder aus beiden gemischt (!). Wohin man aber, unter den Bewohnern des
äufsersten Nordostens, die Kamtschadalen zu rechnen habe, bleibt noch
zweifelhaft, da ihre Sprache zu wenig bekannt ist. Das Tschuktschische,
diesseit und jenseit der Beringsstrafse, soll ein blofser Dialekt der Kadjak--
Sprache sein, der am weitesten verbreiteten im russischen Amerika, von
welcher bereits Chamisso hehauptete, dafs sie dem Grönländischen im we-
sentlichen gleich sei.
Iwan Wenjaminow, ein russischer Geistlicher im Kreise Unalaschka,
hat im Jahre 1846 zwei Bücher drucken lassen, in denen er von drei Sprachen
des russischen Amerikas (zu welchem auch die Aleutischen und Fuchsinseln
gerechnet werden) handelt. Das Eine: Omsıms rpammamnku A.reyınero-
Aucserckaro azbıra Versuch einer Grammatik der aleutisch-lisischen Spra-
che, enthält auf einigen 80 Seiten einen grammatischen Entwurf und auf 72
dergleichen ein Wörterverzeichnifs dieser Sprache, die von noch ungefähr
2200 Leuten auf Unalaschka (den Fuchsinseln), den Andrejanischen Eilan-
den und einem Theile von Aljaksa gesprochen wird. Das andere Werk:
3ambyania o Ko.1omeneRoMB U RayakcRoMmB A3bIKaxBb Bemerkungen über
die kadjakische und koloschische Sprache, giebt uns eine dürftige Skizze des
Koloschischen oder Kaljuschischen, d. i. des Idiomes der Tlinkit- Autu-
(') Der vortreffliche Castren, welcher den zerstreuten Gliedern der grolsen finni-
schen Familie bis über den Jenisej nachgeforscht hat, ist zu dem Ergebnisse gelangt, dals
mancher sibirische Stamm, dessen Sprache jetzt die türkische ist, wie z. B. Koibalen, Ari-
nen, Matoren, selbst die unter der Herrschaft der Mands’u-Kaiser stehenden Sojoten oder
Sajanen, ursprünglich zum samojedischen Zweige der finnischen Familie gehörte. Siehe
Castrens Briefe an Sjögren, aus dem Bulletin der petersburger Akademie ganz oder aus-
zugsweise mitgetheilt in Ermans Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rulsland, Jahr-
gang 1848. — Zwischen dem Jenisej und der oberen Tunguska salsen weiland die äch-
ten Kirgisen, deren Aufseres von den Chinesen so beschrieben wird, dals man auch sie
für ein finnisches Volk im weiteren Sinne erklären darf. $. weiter unten.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 933
kuan von Sitcha (24 Seiten), und eine noch viel dürftigere der Kadjak-
sprache (9 Seiten), welche jedoch hinreicht, um der letzteren nahe Ver-
wandtschaft mit dem Grönländischen darzuthun. Angehängt ist ein kleines
russisch-kaljuschisches Wortregister.
Von diesen drei Sprachen hat nur die Kaljuschische den wahrhaft ame-
rikanischen Charakter. Das Aleutische und Kadjakische könnten schon eher
aus Asien stammen; auch erinnert namentlich bei den Aleuten manches Wort
an den altai’schen Stamm ('); allein 1) sind schon diese beiden Sprachen in
ihrem heutigen Zustande so wesentlich von einander verschieden, dafs kaum
an eine entfernte Verwandtschaft zwischen ihnen zu denken ist; 2) mufs ich
wenigstens an der Möglichkeit, grammatische Berührungen mit dem Spra-
chengeschlechte, das uns hier beschäftigen soll, zu entdecken, beinahe ver-
zweifeln (?). Übrigens hat namentlich das Aleutische, wie aus mehreren von
Wenjaminow angeführten Beispielen sich ergiebt, im Zeitenlauf erstaunliche
Veränderungen erfahren (?); und nehmen wir dazu, dafs gleichwohl noch
(') Hier einige nicht zu verwerfende Proben. Aleut. ada Vater, türkisch aza; and Mut-
ter, türk. ana; angagikch lebendig, tung. innikin; angalık Tag, tung. inanggi; agitudakch
älterer Bruder, tung. aki; angusikch Nase, tung. ongokto; agnakch Zunge, tung. ingni; inikch
Himmel, tung. njängnjä, ingliakun Bart, tung. ingnjakta; uljugakch Wange, tung. yldykin;, ul-
jakch Jurte, tung. gulja; uljukch Fleisch, Körper, tung. uyo; ujjangsakch roth, tung. chulgian,
ulgian, ularin; jagakch Baum, türkisch agads und in Dialekten jygads’; jam Abend, tung.
jam-dsi, kchajakch hoch-und Berg, tung. gogda; kchignakch Feuer, türk. qysy-ldsym Funke;
kingikch jüngerer Bruder, tung. kongakan; kingugikch Kind, tung. kungkakan; kinginakch kalt,
tung. inginigdy; schljakch Wind, türk. soluy Hauch; tangakch Wasser, tung. tongar See;
ischiganakch Fluls, Bach, türk. zsckaganag Golf, Bucht; ischichtakch Regen, tung. iygda.
— Von Fürwörtern stimmt nur kin wer? mit dem mongolischen ken und türkischen kim.
(?) Im Kadjakischen und Grönländischen erinnern nur die Zweiheit (immer auf k)
und die Mehrheit (immer auf t) an die finnische Sprachenclasse; eine adjectivische Endung
lik wie z. B. in au-lik blutig, von auk Blut, und ajorte-ik sündlich, zunächst an das
Türkische, aber mit gleichem Rechte an unseren germanischen Sprachenstamm. Unter
den wenigen grönländischen Wurzeln, die an solche des finnisch-tatarischen Stammes an-
klingen, ist mir eine für das Schmieden am merkwürdigsten, welche sabdi lautet, z. B. in
sabbi-orpok er schmiedet, sabBi-ordik ein Schmied. Auf diese werde ich in der Folge
zurückkommen.
(°) Vergl. überhaupt meinen in Ermans Archiv (Band VII, S. 126-43) aufgenomme-
nen Artikel „„Die Sprachen des russischen Amerikas, nach Wenjaminow”, worin ich die
merkwürdigsten Eigenthümlichkeiten des Aleutischen, sofern sie mir aus der Bearbeitung
jenes russischen Geistlichen nur irgend klar werden konnten, hervorgehoben habe.
Nn?2
284 Scnuorrüber das Altai’sche
manches aleutische Wort für einen nothwendigen Begriff mit dem ent-
sprechenden altai’schen Worte, besonders der tungusischen Form, zusam-
menklingt: so dürfen wir wenigstens zweifeln, ob die sonstige Verschieden-
heit immer eine wesentliche war. Welche Räthsel wird der Sprachforscher
in dieser Hinsicht überhaupt noch zu lösen haben! Das Zahlwort z.B. ist
bei den Aleuten noch denarisch, bei Kadjaken und Grönländern, wie in den
eigentlich amerikanischen Sprachen, quinarisch. Die aleutische und kadja-
kische Sprache sind einander fast in jeder Beziehung wildfremd, und doch
haben sie die sogenannten Casus mit einander gemein!!
Eine nahe Verwandtschaft vieler altai’schen Wurzeln mit solchen der
tibetischen und chinesischen Sprache ist wohl unläugbar, und habe ich schon
bei mehreren Gelegenheiten darauf hingewiesen. Nicht minder auffallend
zeigt der altai’sche Stamm in vielen seiner Kernwörter dem Indisch -euro-
päischen und selbst dem Semitischen sich befreundet. Es kostet mir einige
Überwindung, diese Ansicht auszusprechen, nachdem sie durch elende
Sprachenpfuscher, die z.B. in die Mands’u - Sprache einen „Urdialekt”
des Griechischen hineinfaselten, in grofsen Misscredit gekommen ist. Auch
will ich die Vergleichung der in meiner Abhandlung vorkommenden Wur-
zeln aus Turan mit Iranischen, so nahe sie öfter liegt, dem sprachkundigen
und dabei besonnenen Leser allein überlassen, da es mir nur um eine
festere Begründung meiner bereits vor zwölf Jahren bekannt gemachten
Ansichten und Ergebnisse, den inneren Zusammenhang des einen vorlie-
genden Sprachengeschlechtes betreffend, zu thun ist.
Nur einige Wörter seien hier namhaft gemacht, die durch frühere
Weltverbindung Gemeinbesitz der Turanier und der entferntesten Abend-
länder geworden, übrigens alle, mit Ausnahme des ersten, von Westen nach
Osten gewandert sind.
An unser nordisches Wort für Seide, silk und bei den Russen scholk,
erinnert das mandsu-tungusische sirge. Dieses heifst 1) gesottene Seide,
und entspricht also dieser Bedeutung nach dem chinesischen s/&, während
die Rohseide bei den Mandsus se heifst, was das chinesische Wort selbst
ist. 2) aus Seidenfäden gedrehte Saite eines musicalischen Instrumentes.
Bei den Mongolen ist sirgek (schirgek) die rohe Seide. Beiden Wörtern
scheint zunächst das koreanische Wort sil oder sir für Seide überhaupt zum
Grunde zu liegen, und diesem wieder das chinesische s/€, in Dialekten auch
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 285
sfi, aber niemals sir(!). Die Tibeter und Türken besitzen kein ähnliches
Wort für den Begriff. Verwerfen wir nun mit Recht die Ansicht, als hätte
der alte Grieche sein au Seidenwurm von den Koreanern bekommen, so
ist die Begegnung dieser Form mit der koreanischen doch auffallend. Viel-
leicht verdankt das r in der griechischen wie in den ostasiatischen Formen
einem an sich bedeutungslos gewordenen Wörtchen rh seine Entstehung,
dessen die Chinesen im gemeinen Leben oft sich bedienen, um Selbstands-
wörter als solche kenntlicher zu machen. In diesem Falle läge dem sir und
ang ein chinesisches s/£-rh zum Grunde.
Sng ist also gewils, und zwar aus dem fernsten Südosten, der wahren
Heimat der Seide, ohne Vermittlung zu uns gewandert; denn das k in
dem germanischen Worte silk verdankt wohl nicht dem ge in der mandsui-
schen Form sirge seine Entstehung, sondern dem k in ongıxov, sericum (?).
Bei den östlichen Türken und den Mongolen finden wir dus oder büs
für Baumwollenzeug, bei den Mandsus 5oso für Leinwand. Den Tibetern
ist das Wort fremd. Das griechische Burres 1) Baumwolle; 2) Art feinen
Flachses und daraus verfertigtes Linnen, wurzelt bekantlich in dem Semiti-
schen y'2 düs und e> büso, das einen Stoff von weisser Farbe bedeutet,
wie noch aus uoL albedine superavit und seinen Ableitungen erhellt. Wann
dieses Wort in den fernsten Osten gekommen, muss unentschieden bleiben;
aber das chinesische pü, welches ebenfalls Leinwand und gewisse Baumwollen-
zeuge bedeutet, hat an seiner Entstehung gewifs keinen Antheil (°).
(‘) Das mongol. Wort sirgek heilst daneben noch straff und rauh (von Haaren), und
schlielst sich insofern an die Wurzel sirge vertrocknen, mit welcher das türkische Sm
sert hart, rauh, strenge, und ohne Zweifel auch die finnische Wurzel siera verhärten, zu-
sammenhängt. Dagegen steht das mands’uische sirge in dieser Sprache vereinzelt. Ist nun
die Begegnung der beiden einander so nahe liegenden Bedeutungen des mongolischen
Wortes nur zufällig, oder berührt sich das mands’uische sirge nur durch einen Zufall mit
dem koreanischen sir?
(?) Die Übereinstimmung des arabischen xx\w sike Faden und Drath, woher auch
eine Verbalbedeutung von «<\s nämlich einfädeln, mit unserem nordischen si/k ist da-
rum merkwürdig, weil in dem türkischen jefek, jepek, ipek (von jep oder ip Strick) dessen
Bedeutungen Faden und Seide sind, die letztere aus der ersteren entstanden ist. Da-
her auch das mands’uische :% nähen.
(°) Auf die gleiche Endung der mands’uischen und der syrischen Form darf kein
Werth gelegt werden, da die Mands’us überhaupt jedem mit s auslautenden Worte einen
386 Scuorr über das Altai’sche
Ein anderes abendländisches Wort, bei östlichen Türken und Mon-
golen nom, bei Mands'us nomun, ist sicher erst in unserem Mittelalter, und
zwar durch syrische Glaubensboten, nach Hochasien gelangt.
Es bedeutet Religionslehre, heiliges Buch, Buch mit religiösen Sat-
zungen, und wird insonderheit immer da gebraucht, wo die Chinesen ihres
ZE kıng und die Hindus ihres 737 sütra sich bedienen. Schon früher
erkannte man in nom das griechische vouos welches in den Formen x0’2% und
foc:aı zu den Aramäern überging. Auch die arabische Bibelübersetzung
gebraucht „5 für vecs. In jedem Falle haben die Mongolen diesem, ihren
Religionslehrern, den Tibetern, ganz unbekannten Worte bereits vor der
Annahme des Budd’aismus Eingang gestattet, und türkische Völker waren
hier wieder die Vermittler. Wenn das namys oder namus der Tschuwaschen
und sibirischen Türken (Tataren), ein Ausdruck für Gewissen, zumal Schuld-
bewufstsein, und das nomys der finnischen Ostjaken (bei ihnen Vernunft)
keinen selbstständigen Boden hat, so ist die griechische Form gerade bei die-
sen Völkern am treuesten erhalten, in der Bedeutung aber diejenige Verän-
derung eingetreten, dafs man vom äufseren Gesetz auf angeborene innere
Gesetze gekommen ist.
Noch gröfsere Verbreitung als die Vorhergehenden erhielt im Zei-
tenlauf ein Wort von noch immer räthselhaftem Ursprung, welches die alten
Griechen in der Form d:#9ega besafsen. Bei Aramäern und Talmudisten
lautet es x0p7 diphtera, dephtero, bei Arabern, Neupersern und Osmanen
p> defter, die Tibeter sagen deb-t’er, die Mongolen depter; endlich die
Mandsus deptelin! Von den Hauptvölkern des asiatischen Festlandes scheint
es nur den Hindus und den Chinesen fremd zu sein. Ob dieses Wort durch
die mongolischen Welteroberer aus dem westlichen Asien gleichsam abgeholt
worden sei, ist mir darum zweifelhaft, weil auch die Tibeter in seinem Be-
sitze sind, und weil zwar manches Wort von Tibet aus nach der Mongolei ab-
gegangen, aber selten umgekehrt. Doch wäre dies in Betreff unseres deb-ter
möglich, wenn man nachweisen könnte, dafs es erst in späteren tibetischen
Werken vorkommt. Da übrigens die tibetisch-mongolische Form der neu-
persischen defter zunächst steht, so mufs wohl Persien dasjenige Land sein,
Vocal nachtönen lassen und in diesem Falle am liebsten einen solchen wählen, der mit
dem Vocale der nächst vorhergehenden Silbe zusammenklingt.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 93837
welches das fragliche Wort den Ostasiaten unmittelbar geliefert hat. ArbIege
findet bekanntlich im Griechischen keine passende Wurzel, und auch in den
semitischen Sprachen hat man sich vergebens nach einer solchen umgesehen.
Bei den Griechen ist es noch eine gegerbte Thierhaut und etwas aus
derselben bereitetes; bei den Aramäern eine dergleichen, sofern sie beschrie-
ben wird oder beschrieben ist. Alle übrigen Völker haben den ursprüngli-
chen Stoff aus dem Auge verloren: unter ihrem defter u.s.w. verstehen sie
ein oder mehrere zusammengefügte beschriebene Blätter, ein Verzeichnifs
oder Notizenbuch, insonderheit Steuerregister, und selbst ein Urkunden-
Archiv. Bei Mongolen heifst depter, bei Mands’us aber deptelin eine Anzahl
zusammengehefteter Blätter oder ein Capitel eines Werkes.
Ein gewifser Ausdruck für Held oder Tapferer ist ebenfalls über
unermelfsliche Strecken verbreitet. Auf einer Wanderung von Ungarn durch
das ganze russische Reich, oder auch durch die Türkei, Persien, Turkistan
und die Stammsitze der Mongolen bis zum Ocean Tungusiens würde man
ihm begegnen. Das Wort hat in den verschiedenen Sprachen die es besit-
zen, folgende Formen: magyarisch dator, polnisch boAhater, russisch bogatyr;
persisch und türkisch bahddir, behäder,; mongolisch baghatur oder bätur;
mandsuisch daturu. Seine Verbreitung bezeichnet so ziemlich die Ausdeh-
nung der mongolischen Weltstürme, d.h. wenn man China, in dessen Spra-
che es nicht aufgenommen, abrechnen will. Eine Wurzel kann ich diesem
Worte weder im Mongolischen noch in einer anderen tatarischen Sprache
unterlegen; denn bokda göttlich gehört aus verschiedenen Gründen nicht
hierher. (') Aber so wie bokda, das slawische dog und türkische bog/h im
Sanskrit ihre Begründung finden, so gewifs auch daghatur, welches nur das
persische dahddir, mit rauherem Organ gesprochen. Dieses scheint mir nun
aus dem Sanskritworte ı7g B’adra laetus, felix, excellens (Wurzel dad gau-
dere, felicem esse) so entstanden, dafs der Perser 5, um es sich mundrecht
zu machen, in dah verwandelte. Der Auslaut a fiel, wie gewöhnlich, hin-
weg, und die durch das Zusammenstofsen von d und r entstandene Härte
(') Dieses hängt mit den türkischen Formen ; nn bogh, Su big, «Xu beg oder bei
und mit dem slawischen dog Gott, nebst seinen Glück und Wohlstand bezeichnenden
Ableitungen, zusammen. Siehe Saweljew’s Muhammedanische Numismatik in ihrer Be-
ziehung zur Geschichte Rufslands, Einleitung, S. ccxı-xır.
288 Scnorr über das Altai’sche
wurde vermieden, indem man ein kurzes e oder i einschob; dieses führte
dann zur Dehnung des vorhergehenden, jetzt in offener Silbe stehenden a.
Die Bedeutung Held ist zwar im Sanskritworte nicht gegeben, konnte aber
auf persischem Boden aus den übrigen leicht erwachsen. So heist das fran-
zösische gaillard munter, lustig, und kühn, verwegen; es ist die frische, von
Munterkeit unzertrennliche Lebenskraft, die auch zu kühnen Wagnissen, zu
Heldenthaten antreibt. — Eine Verstümmelung des Sanskritwortes yzıTEH
b.ataräka Feindebesieger, anzunehmen, würde ich eher Bedenken tragen.
Wie dem nun sei: aus Persien wanderte das Wort vielleicht schon
vor den Eroberungen der Mongolen in die Oxusländer und durch Turkistan
nach der Mongolei. Wenigstens führen bei Sanang-Setsen mehrere Vor-
fahren des Tschinggis allbereits den ehrenden Beinamen baghatur, doch
kann dies eine Übertragung aus späterer Zeit in die frühere sein. Von den
Mongolen empfingen das Wort die Tungusen und wahrscheinlich die Ungarn;
daher zwischen bätur, bator und baturu die gröfste Übereinstimmung. Ob
aber die slawischen Völker ihr bogatyr und bohater ebenfalls erst durch die
Mongolen erhalten haben und nicht schon weit früher, sei es durch türki-
sche Stämme, oder durch ihre persischen Urverwandten, in seinen Besitz ge-
kommen, ist eine Frage, die geschichtlich wohl ungelöst bleiben wird.
Seiner Bildung nach steht fragliches Wort in den slawischen Sprachen ver-
einzelt (1).
Das zu den Türken übergegangene persische Wort „is nischän
Zeichen, findet sich, nicht bei den Mongolen, sondern bei den entferntesten
Mandsus wieder; sie verdanken es wohl Karawanenzügen aus dem chinesi-
schen Turkistan. Es bezeichnet die Ecken der Stoffe, die man ungefärbt
läfst, und welche mit Siegeln und anderen Zeichen versehen sind.
*+ *
(') Die russische Form dogatyr unterscheidet sich zwar von bogaty reich, prächtig,
(in derselben Sprache) nur durch ein beigegebenes r; allein wie könnte der Zusatz dieses
r einen Reichen in einen Helden verwandeln? Auch schreiben die Polen das erstere
Wort mit Ah, und das letztere, welches unbezweifelt von dog Gott stammt, mit g. —
Herr Saweljew, der in dog und seinen Ableitungen mit Recht die Sanskritformen ATJT d’dga,
b’ägawat u. s. w. wiedererkennt, läfst Bogatyr unberücksichtigt, vermuthlich, weil
es ihm ebenfalls nicht hierher zu gehören scheint.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 289
Die älteste Kunde von Völkern des altai’schen Geschlechtes bringt im
Abendlande Herodot, dessen Skythen und Argippäer, Melanchlänen und Ari-
maspen diesem Geschlechte angehören. (') Dasjenige Volk Asiens, wel-
ches über sie am frühesten berichtet, sind die Chinesen, deren Oberhäupter
schon in herodotischer Zeit mit den Horden der Scha-mo in feindliche Be-
rührung kamen. Unter diesen Nomadenvölkern des Nordens haben vom er-
sten Dämmern der Geschichte bis auf Tschinggis-Chan die von den Chine-
sen sogenannten Hiung-nu, To-pa und Tu-kiu die vornehmste Rolle gespielt.
Von den Hiung-nu und Tu-kiu erhalten wir die ausführlichsten Nachrichten,
mit einzelnen Sprachproben untermengt, bei denen wir etwas verweilen wol-
len, um zu ermitteln, ob man den betreffenden Völkern eine besondere Na-
tionalität anweisen kann.
Die wenigen Wörter der Hiungnu-Sprache, welche die chinesische
Geschichte und die reichhaltigen ethnographischen Auszüge aus derselben im
Hoan-jü-ki (Buch 189-92), und im Uen-hien-t'ung-k’ao (Buch 340-41)
bezüglich der Hiung-nu uns überliefert haben, sind folgende:
(') Siehe Kurd v. Schlözers scharfsinnige Schrift: Zes premiers Habitants de la Rus-
sie (Paris 1846), S. 15-18, 28-30. Was Hippokrates in mehreren, auf S. 29 von dem
Verfasser ausgezogenen Stellen über die Gesichtsbildung der Skythen sagt, namentlich
seine naive Bemerkung, dafs sie Alle einander sehr ähnlich seien, läfst bei diesem Volke
eher einen mongolischen als kaukasischen Typus vermuthen. Wie schwer wird es jedem
Europäer, der zum erstenmal eine Anzahl Kalmyken bei einander sieht, individuelle Ver-
schiedenheit der Gesichter zu bemerken! Der Grund liegt aber keineswegs darin, dals
sie einander wirklich mehr gleichen als wir, sondern darin, dals der unterscheidende,
ihnen Allen gleich stark aufgeprägte Racen- Typus sich gleichsam vordrängt und das In-
dividuelle unseren Blicken entzieht. Eben so ist es mit den Eindrücken auf unser Ohr.
Aus der Ähnlichkeit der Skythen in Körperbildung und in Sitten und Gewohnheiten mit
den Mongolen folgt nun zwar noch nicht, dals sie wirkliche Mongolen gewesen, und bin
ich von solcher Behauptung weit entfernt. Will man aber seine Zweifel in dieser Hin-
sicht auf eine blofse Unterstellung gründen, nach welcher das Mongolenvolk (das
ganze?) damals noch weit, weit im Osten von Asien gesessen haben soll, so setzt man
etwas voraus, was mit nichts bewiesen ist und auch mit nichts bewiesen werden
kann. Eben so willkürlich ist die in Paris ausgeheckte Annahme einer späten Ankunft
türkischer Stämme am Oxus und in der Kirgisensteppe. Da sollen z. B. die heutigen
Baschkiren, ein Volk türkischer Sprache, mit aller Gewalt finnischer Abkunft sein — wa-
rum? weil ihre wahrscheinlichen Vorfahren, die Argippäer des Herodot, möglicher
Weise Finnen gewesen sind.
Philos.- hisior. Kl. 1847. Oo
290 Scnorr über das Altai’sche
T’ang-li ku-tu, auch tsch’en-jü wurde ihr Oberhaupt betitelt. Der er-
stere Titel bedeutet Himmelssohn, wie das chinesische AC Trien-up,
was ausdrücklich bemerkt wird. T’ang-l entspricht nun allerdings in der
Bedeutung, und, man kann sagen, auch in der Form (die Chinesen schrei-
ben immer % für ri) dem (sSlb tangry oder (s;$ tenri der Türken und teng-
ri oder tegri der Mongolen, welche Wörter, wie das chinesische ten, nicht
den materiellen Himmel, sondern den schaffenden und erhaltenden Him-
melsgeist, bei den Mongolen auch persönliche Genien und Schutzgeister be-
deuten. (!) Was aber ku-tu betrifft, so ist dieses Wort, wenigstens heut-
zutage, den Türken wie den Mongolen fremd (?); dagegen findet es sich
unverkennbar bei tungusischen Stämmen, die für Sohn der Wörter guto,
huta, utu sich bedienen. Den gleichfalls tungusischen Mandsus scheint das
Wort auf den ersten Blick zu fehlen; es steckt aber gewils verkürzt in dem
nur noch als Mehrzahl erhaltenen gu-te Töchter (tungusisch Auttek), und
wohl selbst in dem gewöhnlichen Worte für Sohn, ds’ui, das eine Quet-
schung von kui sein muss, und dem in Amiot’s Wörterbuche sogar kui als
Aussprache zur Seite steht. Dem Worte Zsch’en-jü, welches durch JS K
kuang -td weit ausgedehnt, allumfassend (zunächst mit Beziehung auf den
Himmel) erklärt ind weils ich nichts anzupassen.
(') Wenn man erwägt, dals ein Wort für Himmel in mancher Sprache auch den
Gaumen (wegen seiner schönen Wölbung) bezeichnet, z. B. ne6o im Russischen, cielo
(de la boca) im Spanischen, u. s. w., so erscheint die grolse Ähnlichkeit eines anderen
mongolischen, nur noch für Gaumen gebrauchten Wortes Zanglai, mit zang-Ä und tangry
keineswegs zufällig, und ich möchte fast behaupten, dafs auch dieses Wort ursprünglich
Himmel bedeutet habe und nur eine stärkere Nebenform des heutigen Zengri gewesen sei,
wie noch jetzt das osttürkische zangry eine solche ist. Demzufolge hätte der materielle
Himmel weiland ebenfalls zangry, zengri u. s. w. geheilsen, wie das chinesische Alien
in alten Schriftarten unverkennbar eine Wölbung über der Erde, ein zoiAov (coelum) dar-
stellt.
(2) Doch besitzen die jakutischen Türken küzö in der Bedeutung Schwiegersohn;
und dieses ist wieder das Ks und aus der übrigen Türkenstämme, zu dem es sich
ungefähr so verhält, wie die tungusischen Formen guzo u. s. w. zu den mands’uischen
gu und kui. Wenn also jenes kütö ursprünglich den leiblichen Sohn bezeichnet hat, so
ist seine Gleichheit mit dem Hiungnu-Worte keinem Zweifel mehr unterworfen. Ob man
auch das finnische korti Bube, Junge, hierherziehen darf?
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 291
Lü-li, Name einer fürstlichen Würde. Möglicher Weise steckt hier
das türkische „yt ulu grofs; doch will ich dies keineswegs verbürgen.
T’u-k'i soll s.v.a. das chinesische hien weise, staatsklug, bedeutet
haben. Ebenfalls unbestimmbar.
Teu-Ilö, geschrieben 2 3% entsprach dem chinesischen 32 tschung,
und bedeutete also einen Zumulus über Gräbern. Das Wort kann für zeuro,
Zuro, oder was Ähnliches stehen, und erinnert seiner Form nach lebhaft an
das tungusische Zuor, turu, tor, welches jedoch nur Erde schlechthin (als
Substanz) bedeutet. — Am besten entspricht ein Wort aus einer nichtaltai’-
schen Sprache, das tibetische dur Grabstätte, Grabmal!
Unter den Namen von Hiungnu-Fürsten, welche die chinesische Ge-
schichte kennt, erwähne ich: T’eu-man, gewiss das türkische „Ws tuman
und mongolische tümen, d.i. zehntausend. Diesen Namen führte unter
Anderen noch in neuerer Zeit ein Kalmykenfürst, den Bergmann kennen
lernte (!), und ehemals mehr als ein Chan der Ost-Mongolen, wie wir aus
Sanang-Setsens Geschichtswerke erfahren. — Mao-tun, am nächsten dem
mandsuischen mutun, etwa in der Bedeutung von muten Macht, Fähigkeit. —
T u-ngu-s/e, dem türkischen ; „5,5 tonguf Schwein, zunächstkommend,
nur wegen seiner anstölsigen Bedeutung zweifelhaft. — U-Iui, vermuthlich
>»! grofs. Ich breche hier ab, da blofse Namen einen allzuweiten Spielraum
gewähren.
Diesen Proben gemäfs kann also die Nationalität der Hiung-nu nicht
näher bestimmt werden, und es leuchtet nur soviel ein, dafs sie ein Volk
vom ostaltai’schen oder tatarischen Geschlechte gewesen sein müssen. In die
Periode zwischen dem Untergang ihres Reiches (?) und dem Emporkommen
der von den Hiung-nu abgeleiteten Tu-kii fällt Nordchinas Eroberung durch
die To-pa (386 bis ins 6te Jahrhundert u.Z.), welche aus dem hohen Nor-
den der Mongolei, vielleicht den Baikal- Gegenden, stammten. Leider bringt
uns die chinesische Geschichte von der Sprache dieses Volkes, wie auch der
alten Stämme Tungusiens, keine Proben.
(') Siehe dessen Nomadische Streifereien, 'Th. 2, S. 297.
() Um 93 u. Z. Ein späteres Hiungnu-Reich in einem Theile Nordchinas unterlag
im J. 330 den Chinesen.
002
2392 Scuorr über das Altai'sche
Wir kommen nun zu den Tü-kiü (552 bis 703 u.Z.), welche auch
mit Byzanz als die ersten Tzgzoı in Verhältnisse traten. Diesem Volke wid-
met die chinesische Geschichte und Ethnographie eben so viel Aufmerksam-
keit wie den Hiung-nu (1), und bewahrt uns Wörter seiner Sprache, von
denen der gröfsere Theil vorzugsweise türkisch heifsen kann. Der Name
Tü-kiü wird von den Chinesen mit Helm (Zeu-meu) erklärt, und müssen
sie hiernach ein r oder ein Z ausgestofsen haben. Im Mongolischen kenne
ich für Helm nur dughulgha oder dülgha; im Türkischen aber die folgen-
den Formen: tughulghan, tughulgha, tulsha, daghulghan, daulghan, daul-
gha, talgha, dalgha. Alle diese Formen haben /, aber gewifs kam statt
dessen auch r vor, sonst würde das Wort, sofern es als Nationalname ge-
braucht wird, bei den Byzantinern nicht Tsgxos und bei den späteren Tür-
ken selber nicht S5 Türk geworden sein. Das im Jahre 1801 u. Z. zu Con-
stantinopel gedruckte türkisch-arabisch-persische Wörterbuch wall x
Lehdset-ül-loghät weils, da es den osmanischen Dialekt allein erklärt, nur
von tughulgha, widmet aber diesem Worte zwei Artikel, da sein Anlaut mit
w und mit b geschrieben werden kann; auch sind diese Artikel von einander
ganz unabhängig. Bei s&!,xb (S. 569) liest man: zutäl ‚Uldle sie Lit ss
2082 Ju d.h. „womit die Krieger zur Zeit des Kampfes ihre Köpfe be-
kleiden; es ist von Eisen.” Die hier als gleichbedeutend angeführten arabi-
schen und persischen Wörter sind ganz anderer Art. Bei s&is&,s (S. 330)
steht: JS au suis all SEES d.h. „was man nebst dem Panzer im Kampfe
trägt, und zwar auf dem Kopfe”. Als entsprechendes persisches Wort ist in
diesem Artikel SS beigefügt, mit der Bemerkung, dafs es terk und Zerik laute,
unter den arabischen Wörtern aber &S5 terke, mit dem Zusatz, dieses be-
deute eine eiserne Zughulgha. Gewifs sind die persische sowohl als die
arabische Form aus einer türkischen erst entstanden, aber wegen ihres Haupt-
vocales e nicht aus Zulgha oder turgha (?), sondern aus talgha oder targha.
Das geschwächte zerk verhält sich zu letzteren Formen genau eben so, wie
das geschwächte Zürk zu ersteren.
(') Hoan-jü-ki, B. 194-97. Uen-hien-tung-Kao, B. 343-44.
(?) Sollte das finnische Wort zurwa Obhut, Schutz, aus Zurga entstanden sein und
also auch auf Helm zurückführen? Im Russischen hat untens, welches unserm deutschen
Schirm entspricht, die Bedeutung Helm.
oder Finnisch- Tetarische Sprachengeschlecht. 393
Als Titel der Oberhäupter dieser Tu-kiu erwähnen die Chinesen Ä’o-
han und I-L-k’o-han. Es bedarf kaum der Erinnerung, dafs ersteres (auch
bei den Byzantinern Xayavos) dem türkischen „‚@l> und mongolischen cha-
ghan entspricht. Das Verhältniss dieses, den Türken und Mongolen gleich
befreundeten Wortes zu dem ebenfalls beiden Sprachen innigst angehören-
den chan ist noch nicht aufgehellt. Kowalewski läfst sich darüber in den
Anmerkungen zu seiner mongolischen Chrestomathie (Th. I, S. 250) also
vernehmen: „Chaghan wird im gemeinen Leben nur chan ausgesprochen,
was Schmidt in seinem Wörterbuche durch Fürst erklärt. Das Letztere
bezeichnet mehrentheils einen unterwürfigen König, einen Vasallen; das er-
stere aber wird von unabhängigen Gewalthabern gebraucht.” Im Türkischen
besteht zwischen „‚&l> und „> kein solcher Unterschied; man giebt den
Sultanen die kürzere Form eben so gern wie die längere als Titel; und da-
zwischen liegt ein nur auf mongolische Grofs-Chane (also Chaghane) bezoge-
nes „U kaan, wie z. B. im LE „‚u> Dsihännumd (der Weltschau) des Hadsi
Chalife (gedruckt zu Constantinopel 1732 u. Z.), wo auf S. 371 zu lesen ist:
ost sLiosl sl GE el; d. i. den Kaan Bufandsar machten sie zum
Padischah (Kaiser) über die Mongolei.
I-li-R’o- han ist nichts anderes als Il-chaghan oder Il-chan, welchen
Titel noch viele Jahrhunderte nach den Tu-kiu die Tschinggisiden in Per-
sien führten. Das durch IF A| i-li umschriebene, rein türkische \ 4
(mit dem ul des nur als Mehrzahl vorkommenden mongolischen ulus zu ver-
gleichen) heifst Land und Volk, Unterthanen; der Titel Ilchan läfst sich
also mit Landesherr und Herr der Nation übersetzen und hatte wenigstens
bei den Tu-kiu unmöglich die Bedeutung Vasall oder Statthalter (?).
(') Bei den Tschinggisiden Persiens lässt sich eine solche Bedeutung viel eher ver-
theidigen. In seiner schätzbaren Abhandlung De Hchanorum nurnis (1834) sagt Frähn:
„Ischingissidae, Iraniae quondam dominatores, a Chulaghu, Tschingis-Chaghanı nepote, a
quo originem ducebant, ut Chulaghuidarum, ita II-Chanorum nomen commune habue-
runt. Posterioris vocabuli, quo titulo Chulaghu primus usus est, quae sit propria signi-
ficatio, nondum satis constat. Vox 4) tantum abest, ut mundum seu orbem terrarum, ut
regionem, provinciam significet; quid? quod hodie apud Tataros fere idem valet atque
Js} zuz, i. e. pagum, sed majorem.”— Der Verfasser schlägt vor, „eL mit provin-
ciae praeses zu übersetzen; denn die mongolischen Oberhäupter Persiens bekannten sich
eine Zeitlang wirklich als Belehnte des Grofs-Chans in China. — S. übrigens unsern
wörtervergleichenden Abschnitt unter :2, aul, ul.
294 Scnorrtüber das Altai’sche
Die Gemahlin des Chakans wurde K’o-ho-tun betitelt, was ohne
Zweifel Chaghatun heissen soll; denn auch Chaghan ist durch K’o-han
ausgedrückt. Hiernach müfste das Wort durch Zugabe einer nicht mehr
nachzuweisenden weiblichen (?) Endung zun aus der männlichen Form ent-
standen sein, Aber chaghatun ist den Türken und den Mongolen gleich un-
bekannt; sie haben dafür nur das kürzere chatun, bei den Osmanen auch in
35 kadyn verdorben, was Fürstin und vornehme Frau bedeutet. (')
Das Pferd nannten die Tukiu ho-lan. Dies ist das türkische chulan
oder kulan wildes Steppenpferd, kulun Füllen. Der Wolf hiefs bei ihnen /u-
lin; jetzt heifst er bei den östlichen Türken \s, »# bury, was vermuthlich mit
0)
dem mongolischen boro grau, zusammenhängt.
Ko-lo war die schwarze Farbe. Steht für koro oder kara. Bei Mon-
golen und Türken chara, »5 kara.
Ko-li bejahrt, alt, ist in dem türkischen (s,ö kary wiederzufinden,
aber auch in dem finnischen karilas, senex decrepitus, wo las nicht zur
Wurzel gehört.
Für Haus sagten sie wi(?), wie noch jetzt die östlichen Türken. Die
Osmanen haben dafür ew.
Fleisch (etwa nur gekochtes?) hiefs zZie an-tschan. Damit weils
ich nun nichts als das mandsuische andsu Fleischspeise, zu vergleichen. Ist
das erste n ausgefallen, so nähern sich beide Formen dem lappischen ddtje
(ödtsche) Fleisch.
Kopfhaar lautete, wenn man den Chinesen glauben darf, ungefähr wie
3»
suk, denn sie schreiben N 21 sü-kö. Steht dem türkischen Worte „Is
f) I 2
satsch ziemlich fern, aber dem finnischen suka Borste, merkwürdig nahe.
Die Erdgeister u», ER ti-schin, sollen p'ü-teng-i-li geheifsen ha-
ben. In den letzten drei Silben erkennt man ohne Mühe tengri wieder, die
(') Man würde demnach sehr übel fahren, wenn man an das deutsche Wort Gattin
denken wollte, obgleich es auch im Türkischen eine Wurzel wol kat giebt, die verbinden,
1-2
»
(?) Das hier gewählte chinesische Zeichen SE wird auch i oder ji gesprochen;
2)
zusammenfügen bedeutet.
ich wähle aber lieber die andere Aussprache, weil diese dem osttürkischen «5» vollkom-
men gleich ist.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 295
Schwächung von tangry Himmelsgeist, Genius (s. oben). Wenn aber p’ü,
geschrieben 7 hier Erde heifsen soll, so kann ich höchstens das boi in
dem Mandsu-Worte Boi-chon Erde als Element, demselben annähern.
Von der physischen Bildung der Hiung-nu, Tu-kiu, und überhaupt
aller Barbaren in Nord und Nordost erhalten wir keine Kunde; ihr Aufseres
mufs also den Chinesen nicht sehr auffallend, oder, mit anderen Worten,
von dem der Letzteren wenig verschieden gewesen sein. Völker oder
Stämme, welche den sogenannten kaukasischen Typus an sich tragen, wa-
ren einem Beobachter aus dem Reiche der Mitte zu auffallend, als dafs er
dies unbemerkt gelassen hätte. Das Hoan-jü-ki sagt (Buch 181, Blatt 10)
in dem Artikel Jü-tien (Chotan): „Von Kao-tsch’ang westwärts haben
alle Völker tiefe Augen und hohe Nasen, nur das Volk von Jü-tien macht
eine Ausnahme: es gleicht sehr den Chinesen”(!). Nun war Kao-tsch’ang
(das Land der Uigur- Türken) von den Stammsitzen des tatarischen Völker-
geschlechtes schon sehr weit südlich und beziehungsweise südwestlich bele-
gen. Dafs aber die Kao-tsch’ang (Uiguren) selber jenen „Tiefäugigen” und
„Hochnasigen” noch nicht beigezählt wurden, ergiebt sich wieder aus dem
Letztere betreffenden Artikel (B. 180, Bl. 11), wo deutlich zu lesen ist, dafs
sie von Gesicht den Koreanern glichen (?), was doch nicht auf kau-
kasische Physiognomie, höchstens auf eine gemilderte mongolische, schlie-
fsen lässt. Ich behaupte noch immer — und stehe in dieser Beziehung nicht
mehr allein — dafs die sogenannte mongolische Gesichts- und Schädelbil-
dung die ursprüngliche des ganzen altai’schen Geschlechtes gewesen sei (°).
(') Ma-tuan-lin wiederholt dies wörtlich in seinem Uen-hien-t'ung-k’ao (B. 337,
s Luz nn R
Bl. 2). Tiefe Augen und hohe Nasen PR E] N7 = schin mu käo pi sind dem
Chinesen die Merkmale des Kaukasiers.
(?) Eben so Ma-tuan-lin (B. 336, Bl. 14). Die Koreaner führen an beiden Stellen
re
den bekannten Namen — JE Kao-li, woraus bei den Japanern Körai, unser Korea,
Er
entstanden ist. Siebold bemerkt in seinem Nippon (VII, S.3 ff.), die Gesichtsbildung
des Koreaners „trage im allgemeinen das Gepräge der mongolischen Race.” Gab es nun
auch in alter Zeit schon Ausnahmen von dieser Regel, wie der deutsche Reisende in un-
seren Tagen sie bemerkt hat (s. ebds.), so konnten diese den chinesischen Berichterstat-
tern wenigstens nicht als Regel erscheinen.
(°) Siehe Herren J. €. Prichard’s berühmtes Werk: Researches into the physical
History of Mankind, dritte Auflage, Th. IV, S. 417-148, 419, 421, und an vielen anderen
296 Scuorr über das Altai’sche
Von Völkern der finnischen Familie haben die alten Chinesen gewils
nur wenige gekannt; ja man wäre überhaupt berechtigt, ihre Bekanntschaft
mit solchen in Zweifel zu ziehen, wenn die blonden Stämme Sibiriens und
der westlichen Mongolei, deren sie Erwähnung thun, mit Fug für Germanen
passiren könnten. Besonders merkwürdig erscheinen die Hid-kid-sfe, Ki-
kü oder Kie-ki-sfe, von welchen gemeldet wird, dafs sie lauter grofse und
starke Leute gewesen seien, mit röthlichem Haar und grünen Augen;
schwarzes Haar habe bei ihnen für eine böse Vorbedeutung gegolten (1).
Von den im fernen Nordwesten nomadisirenden U-sün wird gesagt, dafs sie
blaue Augen und röthliches Barthaar gehabt, im übrigen wie Affen ausge-
sehen hätten (?)! Da diese U-sün, nach chinesischen Berichten, ihre Ober-
Stellen. Vgl. meinen bereits erwähnten Artikel: Über Nationalität und Ursprung der
Finnen. — Sehr richtig ist bemerkt worden, dafs in Folge von Unterjochung, langem
Zusammenleben, Vermischung der Stämme u.s. w. bei Völkern ganz verschiedener Ab-
stammung Idiome desselben Sprachstammes sich vorfinden können; aber ganz unmöglich
ist es, dafs durch solche Begebenheiten eine Verwandtschaft zwischen Sprachen, die
bis dahin nicht verwandt gewesen, bewirkt werden könnte.
(') Hoan-jü-ki, B.199, Bl. 12; Ma-iuan-Iin, B. 348, Bl.6. Im Juan-sfe, einer
urkundlichen Geschichte der Mongolen-Dynastie von China (1260-1367 u. Z.), wo die
damals noch sibirischen Wohnsitze dieses Volkes sehr genau angegeben werden, ist sein
Name möglichst richtig Ar-Z-kr-sfe geschrieben (B. 42, Bl. 69-70), so dafs ihre Einer-
leiheit mit den Xeoyes des Menander von Byzanz und den sg Kirgif oder je Kyr-
ghyf des Abulghasi keinem Zweifel mehr unterliegt. Diese eigentlichen und ächten Kir -
gisen, welche mit ihren heutigen Nachbarn, den drei zahlreichen Horden der Kajak oder
Kirgif-Kaisak (einem wahrscheinlich gemischten, übrigens türkisch redenden Volke) nicht
verwechselt werden dürfen, wanderten später, von den sibirischen Kosaken vertrieben, und
dann von den dsungarischen Kalmyken weiter gedrängt, in ihre heutigen Wohnsitze zu
beiden Seiten des Muf-tagh. Nach dem Juan-sle wäre ihre Sprache schon in Sibirien mit
der des Uigur-Volkes übereinstimmend, also die türkische gewesen. Die Uigur waren
etwa hundert Jahre lang ihre Beherrscher.
(?) Hoan-jü-ki, B. 182, Bl. 1-4; Ma-tuan-in, B. 337, Bl. 9-12. Die Worte der
chinesischen Berichterstatter lauten wörtlich also: ,‚Die Gestalt der U-sun war ganz eigen-
thümlich. Heutzutage giebt es nordische Barbaren mit blauen Augen u. s. w., und diese
stammen von ihnen ab.”— Andere, mit Wahrscheinlichkeit für Finnen zu haltende Völ-
ker des Nordens, worunter auch Polarzwerge, lasse ich unerwähnt und bemerke nur noch,
dals in einer chinesischen Geschichte der Chitan (Liao), dem Ki-tan-kuö-tschi (B. 26,
Bl. 2), gleich nach den tungusischen Niü-tschin eines gleichnamigen Volkes mit vorge-
setztem hoäng-t’eu d. i. gelbköpfige, gedacht wird, welches in Bergen wohnte. Es
gebe dergleichen auch in Ho-si (Tangut), und die Chitan hätten sie ob ihrer „„grimmigen
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 297
häupter Äuen-mi oder Kuen-mu nannten, so hat dies Einige an das germa-
nische Wort Konung, Konge, König erinnert, und stracks zu der Annahme
verleitet, dafs sie unsere Stammverwandten gewesen; aber wie weit auch
die nationale Bescheidenheit des Deutschen gehen mag, so wird er sich doch
dagegen verwahren, dafs ein germanisches Volk auf die Chinesen den Ein-
druck von Affen gemacht haben sollte; denn von der Nachahmungssucht
des Deutschen sich zu überzeugen, dazu bedurfte es wohl genauerer Be-
kanntschaft.
Finnen waren jedenfalls diejenigen Urbewohner der Altai-Gegenden,
deren meiste Stämme schon in sehr früher Zeit nach dem fernen Nordwe-
sten wanderten, und, dem Gesichtskreise der Chinesen für immer unerreich-
bar, am Ural, in den geräumigen Ebenen des heutigen europäischen Rufs-
lands, und in Scandinavien sich niederliefsen, als China noch kaum mit den
Bewohnern des mongolischen Hochlandes in dauernde Berührung kam.
x \ “
Nur von einem Theile der Sprachen dieses grofsen Geschlechtes kann
ein westlicher Europäer bis heute genauere Kenntnifs erlangen. Mehrere
Idiome der türkischen Familie, wie das Kirgisische und Baschkirische, sind
kaum nothdürftig bekannt. Über das Samojedische, Ostjakische, Woguli-
sche werden wir erst durch Castren und Reguly belehrt werden. Endlich
ist von allen sogenannten Dialekten des Tungusischen, obwohl so mancher
sibirische Russe einen oder einige derselben zu praktischem Gebrauch er-
lernt, nur der an Formen ärmste, die Mandsusprache, grammatisch und lexi-
calisch angebaut. Dies ist um so tiefer zu beklagen, als schon die wenigen,
den Tungusen um Jenisejsk, Mangaseja, Nertschinsk, Bargusin, Jakutsk,
Ochotsk, an der oberen Angara, und den Lamuten abgehörten Wörterpro-
ben, welche in Klaproths Verzeichnifs der chinesischen und mandsuischen
Bücher auf der berliner königlichen Bibliothek (S.72-89) tabellarisch zu-
sammengestellt sind, namentlich über den Zusammenhang der tungusischen
Tapferkeit” als Avantgarde gebraucht. Alle Einzelwesen dieses Volkes seien gelbhaarig,
und die Iris ihrer Augen sei mehrentheils grünlich, jedoch auch gelb oder weiss (!).
War dieses Volk ein versprengter Finnenstamm? hat es auch blonde Tungusen gegeben?
oder ist Alles eine Lüge?
Philos.- histor. Kl. 1847. Pp
298 Scuorr über das Altai’sche
Familie mit der finnischen, Winke und Aufschlüfse geben, wie sie das oft
sehr verkümmerte und erstarrte Mandsuische für sich allein kaum ahnden
läfst ('). Lassen wir Letzteres einstweilen nothgedrungen als den Vertreter
seiner Familie gelten, so erblicken wir, wenn wir es mit dem Mongolischen,
dem Türkischen, und der Sprache der Ostsee -Finnen zusammenhalten, eine
gewisse Stufenfolge geistiger Entwicklung, die der sonstigen, mehr oder
minder selbstständigen Entwicklung der betreffenden Völker sehr analog
ist(?). Das geistige Leben der Mands’us ist, in merkwürdigem Widerspruch
mit ihrem Charakter, ganz unselbstständig geblieben oder — seit ihrer Ein-
wanderung in China — geworden. Während sie den an Zahl ungeheuer
überlegenen Chinesen bis auf den heutigen Tag als herrschende Nation eben
so stolz gegenüberstehen, wie die Usbeken den geknechteten Bucharen, oder
wie die Osmanen ihren Unterthanen von anderem Religionsbekenntnifse, sind
sie der chinesischen Litteratur unbedingt maneipirt — die Zwingherren des
zahlreichsten Volkes unserer Erde und die Heloten seiner geistigen Erwer-
bungen. Selbst die Sage von der wunderbaren Geburt des Stammherren
der Mands’us scheint nicht aus den Bergen ihrer Väter (im Norden von Korea)
zu stammen. Bei ihren tungusischen Brüdern in Östsibirien, die uns Adolf
Erman so anziehend schildert, (?) regen sich die Schwingen des Geistes freier,
obschon sie gewissermafsen russische Unterthanen sind; ja unter den ner-
tschinsker Tungusen soll es Barden geben, die lange Heldensagen ihres Stam-
mes absingen.
Mehr Grammatik als das Mandsuische und mehr Sicherheit und Be-
wufstsein im Gebrauche ihrer Formen hat die mongolische Sprache; und
(') Dennoch zeugt es von gänzlichem Verkennen des Charakters dieses Sprachenge-
schlechtes, wenn jemand behauptet, das Mands’uische und die Suomisprache Finnlands
seien einander ungefähr eben so fremd, wie Deutsch und Aramäisch (!). Ich muls hier
statt jeder Entgegnung auf meine folgenden Untersuchungen verweisen.
(2) Der Ausdruck „Stufenfolge geistiger Entwicklung” duldet kein Mifsverständnils.
Es wäre ein thörichtes, die sehr ausgeprägte Selbständigkeit jeder der vier grolsen Fa-
milien des Geschlechtes verkennendes Beginnen, wenn man eine der genannten Haupt-
sprachen an die Spitze stellen und die übrigen lautlich oder gleichsam körperlich zunächst
aus dieser und dann wieder aus einander ableiten wollte — ein Verfahren, das, auf den in-
disch-europäischen Stamm angewendet, nicht minder abenteuerlich sein würde.
(°) Im zweiten Bande des Historischen Berichts seiner Reise um die Erde u. s. w.
(1838), an vielen Stellen.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 299
wenn auch die meisten bekannt gewordenen Erzeugnisse des mongolischen
Geistes entweder Übersetzungen indisch-budd’aistischer Werke, oder fan-
tastische Nachbildungen und Verbildungen ursprünglich indischer Sagen sind:
so zeigen Letztere doch wenigstens eine gewisse Freiheit und Kühnheit im
Verschmelzen der verschiedenartigen Elemente. Von eignen Sagen der Mon-
golen — ganz ohne indischen Anhauch — sind uns nur wenige aufbewahrt,
einige durch die Chinesen und muhammedanische Schriftsteller, andere durch
Sanang-Setsen. Soviel ist aber sicher, dafs die mongolische Nation in der
vor-budd’aistischen Periode ihrer Weltherrschaft auf dem Wege war, eine
selbstständige Litteratur zu erhalten. Der vortreffliche persische Geschicht-
schreiber Raschideddin schöpfte selber aus mongolischen Chroniken (!), in
welchen die Grofsthaten dieses Volkes verzeichnet waren; und Tschinggis-
Chans berühmtes Gesetzbuch, die Jasa, war ohne Zuziehung fremder Mu-
ster ausgearbeitet. Aber selbst dieser gewaltigste Mongole fand bei seiner
Nation, die er zum Schrecken zweier Welttheile gemacht, keinen Sänger,
der ihn poetisch verklärt auf die Nachwelt gebracht hätte, und in späteren
Jahrhunderten besang man Helden die gar nicht existirt haben. Zu dem ent-
schiedenen Einflusse des Budd’aismus, der besonders bei Völkern die unter
der Hierarchie Tibets stehen, den strebenden Geist vom Irdischen abzieht
und seine Laute zu blofsen Litaneien stimmt, kam in der Folge die politi-
sche Vernichtung des Volkes; und jetzt findet das geistige Sein der Mongolen
amı eigenen Heerde keine Nahrung mehr.
(') Wahrscheinlich nur mittelbar. "Dies ergiebt sich mir aus seinen eignen Worten,
wenn sie anders von Abulghasi im Stammbaum der Türken (S. 23 der kasaner Ausgabe)
genau wiedergegeben sind; denn die persische Urschrift kann ich hier nicht erlangen. Bei
Abulghasi also sagt Raschid: «Sir &) Bogen te Ir 5 ESpER ol vs
KL Ne ee ee N u
f> us rw, se) us ° uam, „u Re) SU JeRA ? are Er BESSER“
ya) wreu> Je} (eh ya msn der Sm sta d.i. Fünf bis
sechs schriftkundige Mongolen gab er (der Chan Ghasan) mir an die Seite. Aufserdem
hatte der Chan einen grolsen Beg mit dem Namen Pulatu (Pulad) und dem Titel Tsching-
sang-SeDiesemusagteners „ui. el eu rd: du verstehst die mongolische Sprache und liesest
die in derselben abgefalsten Bücher. Auf seinen Befehl bildeten dann Pulatu Tschingsang
und die Übrigen jenen Verein (der mir bei meinem Geschichtswerke die Quellen ver-
ständlich machen und somit hülfreiche Hand leisten sollte).
Pp2
300 Scnuorrüber das Altaische
Dafs die Türken, oder wenigstens gewisse Stämme derselben, ehe der
Islam zu ihnen gelangte, eine besondere geistige Zeugungsfähigkeit entwickelt
haben sollten, ist mit nichts darzuthun; denn selbst von den Uiguren, un-
streitig demjenigen Türkenvolke, das, durch eine glückliche Fügung von
Umständen, früher als die übrigen einen gewissen Grad von Geistesbildung
erlangte, haben wir keinen Beweis, dafs sie der nach ihnen genannten Schrift
zur Aufzeichnung bedeutender Geisteswerke sich bedient haben sollten. (!)
Seit dem neunten und zehnten Jahrhundert, in welchen der Islam, von Samar-
kand aus, auf den Hochebenen des östlichen Turkistan Fortschritte machte,
entstand eine muhammedanische Litteratur, mit grofsem Zudrang arabischer
und persischer Wörter. Das älteste was man von dieser Litteratur besitzt,
besteht gröfstentheils aus Übersetzungen. Selbständiger und fruchtbarer ent-
wickelte sich die Schriftstellerei der Türken im westlichen Turkistan (also
schon ausserhalb Hochasiens), dessen Dialekt übrigens von dem Uigurischen
nur wenig abweicht. Der merkwürdigste Schriftsteller, den Turkistan über-
haupt hervorgebracht hat, ist Sultan Baber, der Eroberer Hindustans und er-
ste Grofsmogul, welcher wie Julius Cäsar seine eigenen Feldzüge erzählte. —
Die Türkenstämme in Kyptschak und in Sibirien haben, sofern sie über-
haupt schriftkundig, nur wenig und unbedeutendes geleistet. — Unter den
sehr zahlreichen Schriftstellern der Osmanen ist Keiner von der geistigen
Einwirkung Arabiens und Persiens unberührt geblieben, ja die Meisten sind
dieser Einwirkung so verfallen, dafs man sie nur mehr oder minder glück-
liche Nachahmer nennen kann. Von ihren wirklichen Verdiensten kommt
vieles nicht einmal ganz auf Rechnung des türkischen Blutes, da keine Nation
mehr und verschiednere Völkerelemente in sich aufgenommen hat und man-
cher ihrer Schriftsteller geradezu Renegat gewesen ist.
(') Dafs die Schrift der Uiguren nicht von ihnen selbst erfunden sei, bezweifelt wohl
niemand mehr. Sie ist übrigens syrischen und nicht altpersischen Ursprungs, wie Davids im
Preliminary Discourse zu seiner Turkish Grarimar ohne haltbare Gründe behauptet. Vergl.
Klaproths Abhandlung über Sprache und Schrift der Uiguren (Zugabe zu seinem oben an-
geführten Verzeichnils u. s. w., S. 53 ff.). Davids träumt auch von uigurischen Annalen
und einer untergegangenen Litteratur dieses Volkes. Das Hoan-jü-ki (B. 180.) und Ma-
tuan-lin (B. 326.) berichten nur, dals sie (bei ihnen Kiü-s[e, Kao-tsch'ang) in der langen
Periode ihrer Abhängigkeit von China mit allen Gebieten der chinesischen Litteratur
sich beschäftigten, und der chinesischen Schrift, aber zugleich auch „barbarischer Schrift-
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 301
Die wenigen aus Hochasien entstammten Sagen der Türken sind zum
Theil mit solchen der Mongolen (d.h. mit ächt-mongolischen) übereinstim-
mend: eigenthümlich ist ihnen nur Oghus, der halbmythische Welteroberer,
dessen Thaten wir im Dsihän numä (s. oben) und in Abulghasis Stammbaum
der Türken ausführlich erzählt finden. Liegt dieser ganz artmuthig erzählten
Sage etwas Wirkliches zum Grunde, so darf man ihren Helden als einen
erfolgreichen nomadischen Eroberer alter Zeit, etwa den Stammherren der
nachmals berühmt gewordenen Ghusen, betrachten.
Was die türkische Sprache betrifft, so zeigt diese schon in ihrer ein-
fachsten und für uns ursprünglichsten Gestalt, d.h. wie wir in den älte-
sten Denkmälern aus Turkistan sie kennen lernen, bedeutende Vorzüge vor
der Mongolischen. Das bei den Mands’us und Mongolen noch gleichsam
unbeseelte Verbum erhält hier erst Beseelung, indem man die Wurzel mit
fürwörtlichen Anhängen verbindet (!); und jene zwischen Nennwort und
Zustandswort (Verbum) gleichsam in der Schwebe bleibenden Zwitterfor-
men, mit denen übrigens selbst der verfeinertste Dialekt, das Osmanische,
noch zu reichlich bedacht ist, sind in ihrem Gebrauche besser begränzt,
schärfer gesondert. Bei den Osmanen und anderen westlichen Türken wer-
den ausserdem Zustandswörter des reinen Seins in mehreren Zeiten untrenn-
bare, nicht blofs nachhelfende, sondern das Zustandswort mit constituirende
Theile desselben. Dazu nehme man noch feine Unterscheidungen in An-
wendung der mannigfachen, durch Zusammensetzung gebildeten Zeiten, —
Unterscheidungen, die, so alt auch der praktische Gebrauch des Osmanli
bei uns ist, zum Theil erst in neuester Zeit erkannt worden sind. Im
züge” sich bedienten. Was ich so übersetze, heilst eigentlich Hu-Schrift; unter Au
verstand man aber die nordischen Barbaren.
(‘) Den von Klaproth a. a. Orte gelieferten Proben zufolge haben die meisten tun-
gusischen Schwestersprachen des Mands’uischen eine ähnliche Art von Conjugation; oder
wär’ es etwas anderes, wenn z.B. bei den jeniseisker 'Tungusen die Wurzel ii stehen
das folgende Praesens bildet: iizschem ich stehe, ilitschende du stehst, ilitscheren er steht;
ilitschereb wir stehen, ititschesch ihr stehet, ilitschere sie stehen? Man muls nämlich wissen,
dafs die Mands’us in allen diesen Fällen nur :limbi sagen können, dessen Endung nichts
anders als die Gegenwart ausdrückt, und zur Unterscheidung der Person die Fürwörter
getrennt vorsetzen, z.B. di ilimbi ich stehe, si :limbi du stehst. — Im mongolischen
Verbum bemerkt man nur einzelne Versuche, gewisse Personen durch besondere Anhänge
zu unterscheiden. Ob diese auch aus Fürwörtern entstanden sind, mufs die Folge aus-
weisen.
302 Scuorr über das Altai'sche
Munde der Osmanen ist das Türkische eine der wenigen Sprachen, in denen
Weichheit und Lieblichkeit mit feierlicher Würde sich paaren. (1) Rauher
und derber klingt es bei den östlichen Türken und, wenn unser Auge nicht
irügt, sogar ziemlich unangenehm im Dialekte, oder vielmehr in der Schwe-
stersprache der Tschuwaschen an der Wolga, welche zugleich die auffallend-
sten, zum gröfseren Theil auf Verderbung und Verstümmelung beruhenden
Eigenthümlichkeiten darbietet.
Alle bekannten Sprachen der finnischen Familie haben in analoger
Art wie das Türkische und gewisse Dialekte des Tungusischen sich entwickelt.
Selbst die ärmsten unter ihnen sind, wo es Verhältnisse der Nennwörter zu
bezeichnen gilt, reicher an Stoff und feinen Abschattungen als die Turkspra-
chen. In ihrem Organismus erscheinen sie jedoch alle mehr oder weniger
roh und verkümmert in Vergleichung mit der Sprache der Östsee-Finnen (ei-
gentliches Finnisch oder Suomi-Sprache, Ehstnisch und Liwisch), welche auf
ihre gewissermafsen entarteten Schwestern viel Licht wirft und desto weniger
von ihnen zurückempfängt. Hier ist es, wo die sogenannte Flexion des
Wortstammes in reichster Fülle und durchsichtigster Klarheit sich entwi-
ckelt hat. In dieser Hinsicht durchweht die Suomisprache ein frischeres
Leben als die Magyarische (Ungarische) selber; beeilen wir uns aber, hin-
zuzufügen, dafs diesem Mangel, wenn man es so nennen will, im Ungarischen
eine mindestens eben so grolse Geschmeidigkeit und schöne Folgerechtheit
zur Seite steht (?).
(') Es ist wunderbar, wie viel in dieser Beziehung durch anscheinend geringfügige
Mittel erreicht wird. Die dänische Sprache vertauscht den Auslaut a mit einem halb stum-
men e, und überläfst so jeden Anspruch auf Majestät ihrer schwedischen Schwester; die
Sprache Castiliens klänge ein gutes Theil weniger feierlich und gebietend, wenn sie in
Endungen wie ad, ado, edo das d mit t vertauschte; das Osmanli würde sich fast aller
seiner Hoheit und Würde berauben, wenn es der Dämpfung oder Verdumpfung entsagte,
die den Vocal i trifft, so oft er unter dem Einflusse starker Consonanten oder Vocale
steht. Ich schreibe ihn alsdann y. Es mufs dem Gehör eines Türken nichts widerlicher
sein, als die immer helle oder enge Aussprache seines iim Munde der meisten Auslän-
der; und doch wird in Sprachlehren so etwas gar nicht besprochen.
(°) Obgleich so lange schon von dem Mutterboden losgerissen, und starker lexicali-
scher Einwirkung einiger slawischen Sprachen, des Walachischen und zum Theil auch des
Deutschen hingegeben, hat die magyarische Sprache doch auf ihrem eigensten Gebiete den
Fremdlingen keinen Zoll Boden geräumt. Ihre Grammatik ist wesentlich finnisch geblieben:
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 303
Das Idiom der Ostsee - Finnen verkündet auf der einen Seite mehr
ordnenden Verstand, auf der anderen eine schaffendere Phantasie als die
übrigen Sprachen des altai’schen Geschlechtes, wohl mit alleiniger Aus-
nahme der Magyarischen; und so haben denn auch die Ostsee - Finnen einen
Schatz von Sagen und Liedern aufzuweisen, der Alles was andere Völker
des grofsen Geschlechtes in dieser Art hervorgebracht, tief in Schatten stellt.
Hier allein ist wahre Volkspoesie zu Hause. Alle übrigen altai’schen
Hauptstämme haben grofse Eroberer, Feldherren, Menschenbeherrscher auf-
zuweisen: die Türken ihren Timur, ihre Grofsmogule und Seldstuken - Für-
sten, und die gewaltigen Sultane der altosmanischen Zeit; die Mongolen
ihren Tschinggis, Chubilai, Chulaghu, Galdan; die Tungusen mehrere Kaiser,
welche kraft- und ruhmvoll auf chinesischen Thronen safsen. Aber Begei-
sterung für die Grofsthaten solcher Männer hat, wie ich schon angedeutet,
nirgends ein unvergängliches Geisteswerk ins Dasein gerufen; und selbst die
Heldensänger der Osmanen waren mehr künstliche als natürliche Dichter. —
In geradem Widerspiele mit den genannten Völkern sind die finnischen
Stämme, so weit Geschichte und Sage reicht, nie von grofser politischer
Bedeutung gewesen, ist nie ein Herrschergenius aus ihnen hervorgegangen. (')
Ausdauernd und todesmuthig wie nur irgend ein Volk, wenn ein Kampf ge-
bieterische Nothwendigkeit wird, ist der Finne ohne Herrschbegierde im ge-
wöhnlichen Sinne des Wortes; nicht Menschen will er bewältigen, sondern
um aber davon Überzeugung zu gewinnen, genügt es nicht, dafs man nur eine, wenn
auch die vollkommenste Sprache des tschudischen Stammes, ins Auge fasse; denn schon
das Lappische steht dem Ungarischen in mehreren grammatischen Erscheinungen näher.
Noch mehr gilt dies von den bekannteren tschudischen Idiomen am Ural; und die wenigen
übrigen Räthsel der Grammatik wird das von Reguly erforschte Wogulische (Ugrische)
befriedigend lösen.
(') Eine Ausnahme würde allenfalls Attila mit seinen Hunnen machen, wenn die Fin-
nenschaft derselben besser bewiesen wäre. Kampflustig waren auch zu jeder Zeit die vom
Ural gekommenen Magyaren, deren im alten Heimatland zurückgebliebene Stammver-
wandte, die Wogulen (Ugren), nach Erman noch jetzt ein eigenthümlich finsterer und
trutziger Blick aus tief liegender Augenhöhle auszeichnet. — Es hat irgend Jemand an ir-
gend einem Orte die Bemerkung fahren lassen, dafs ich die Hypothesen eines Herren Gött-
ling hinsichtlich der Hunnen und des Nibelungenliedes wieder aufgefrischt hätte. Das
ist nun eine capitale Albernheit; denn über dieses Volk sowohl als über das Lied der Ni-
belungen ist aus meiner Feder überhaupt nie etwas gellossen.
304 Scnortrüber das Altai’sche
die Natur, oder besser, das feindliche Princip in derselben; und dies ge-
schieht durch Zauberkunst.
Beschwörungen der finsteren Mächte aufser uns, die jeden Welt-
schmerz verschulden sollen, finden wir zwar bei allen Völkern des finnisch -
tatarischen Geschlechtes— der Lamaismus und selbst die Religion Muhammeds
hat ihnen nicht allerwärts mit Erfolg entgegengewirkt — was aber in Nord-
asien rohes Schamanenthum blieb und noch jetzt bei den verwilderten Fin-
nenstämmen der Polarländer keinen anderen Namen verdient, das verklärte
sich bei den Suomalaiset Finnlands zu wahrer Poesie; es erzeugte die Zauber-
sänge (loihtorunot) und diese bahnten im Vereine mit Hingebung an das Gute
und Schöne, was die Natur bietet, und mit dem gemüthlichsten häuslichen
Leben den Weg zu ihren ganz eigenthümlichen epischen Gesängen, deren Hel-
den vor Allem in Wissen und Magie ausgezeichnet sind, dabei aber lie-
benswürdig durch Tiefe des Gemüths und Heilighaltung der Familienbande.
Der Contrast zwischen den Neigungen und Naturanlagen der Suoma-
laiset und der Mongolen, Türken, 'Tungusen wird aber viel weniger befrem-
den, wenn man erwägt, dafs der Sinn für Herrschaft und Eroberung wenig-
stens den Ural-Finnen weiland nicht abging, wogegen die Phantasie bei diesen,
bei Mordwinen, Tscheremissen, Wotjaken, und am meisten vielleicht bei
den Lappen gar schwere irdische Flügel regt. Der heutige Lappe oder
Samilads ist, besonders mit dem karelischen Finnen verglichen, mit wenigen
Ausnahmen ein verkommenes und verdumpftes Geschöpf, das seine geist- und
seelenlosen Lieder im Kreise kauernd und mit widerlich kreischender oder
quikender Stimme absingt (!). — Bei den Magyaren, einem sonst wahrhaft
poetischen Volke, ist durch Vermischung und unaufhörliche Kämpfe mit
anderen Völkern alle Tradition aus den Zeiten vor ihrer Einwanderung unter-
(') Gottlund theilt im zweiten Bande seiner Otawa zwei Lieder, aus lappischem
Munde niedergeschrieben, im Texte und in finnischer Übersetzung mit. Das eine ist ein
roher Zuruf an die Renthiere, das andere an den Bären — eine Aufforderung, aus seinem
Winterschlaf zu erwachen. Letzteres könnte man etwa so wiedergeben:
Alter vom Berg’, Alter vom Berg’!
Raff” dich empor, raff” dich empor!
Blatt ist so grols wie Mäuseohr!
Soll ohne Zweifel heifsen, dafs der Frühling schon eingetreten und sonach eine Lieblings-
speise des Bären, zarte junge Blätter, schon zu haben sei.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 305
gegangen; epische Volkspoesie fehlt ihnen ganz, und die lyrische scheint
nicht weit hinaufzureichen. Es versteht sich von selbst, dafs magyarische
Schriftsteller und Dichter aus der Periode der Europäisirung dieses Volkes
nicht mehr hierher gehören.
Tausendjährige Nähe germanischer Völker und vielfache Berührung
mit solchen haben den Sprachen Finnlands und Lapplands eine Menge ger-
manischer, insonderheit alt- und neuscandinavischer Wörter zugeführt, die
entweder neben dem finnischen Urworte fortbestehen oder dasselbe verdrängt
haben (!). In die Suomisprache, besonders den Dialekt des sogenannten
russischen Kareliens, sind aus gleichen Gründen viele russische Wörter ein-
gedrungen (?). Noch unbedingter und gleichsam frecher offenbart sich diese
Zudringlichkeit in den Sprachen der meisten übrigen Finnenstämme, die,
im Innern des russischen Reiches zerstreut, ohne geistige Spannkraft und
fast ohne alle Tradition dahin leben. Ganz analog ist der lexicalische Ein-
flufs des Arabischen und des Persischen auf die Sprachen der Türkenvölker
gewesen, besonders der gebildeteren und sefshaften, unter denen Litteratur
gepflegt wurde (?); denn ihre höchsten Muster blieben ja die Geisteswerke
der beiden gebildetsten Nationen Vorderasiens; und das Arabische inson-
(') So z.B. finden wir für Kupfer koppari neben waski, welches letztere dem mon-
golisch -türkischen jas und jes die Hand bietet. Nicht gar selten trifft es sich auch, dals
ein für germanisch geltendes Wort des finnischen Sprachschatzes in den meisten, ja in
allen Hauptsprachen altai’schen Schlages wiederkehrt. So stimmt zurpaha Torf, Rasen, ei-
nerseits mit dem zorfva der Schweden, andererseits mit dem türkischen zoprak, mongolischen
towarak, tungusischen Zuor, turu, tor, was alles die Erde als Wesenheit (Substanz) be-
deutet. Übrigens finden wir dieses Wort selbst bei den Arabern, und zwar in den For-
men O5 tarb und „5 zuräb Erde, Staub, woher auch zarid humo adhaesit. Dies ist ein
Beispiel von Urwurzelverwandtschaft.
(2) Selbst mit dem finnischen Worte für frei (!) scheint mir dies der Fall. Es lautet
wapaa, was zunächst eine Zusammenziehung von wapada, wapata sein muls. Erwägen
wir nun ferner, dals die Finnen, so oft ein Fremdwort mit zwei Consonanten anlautet,
den ersten (wenn es drei sind, sogar die beiden ersten) schonungslos abwerfen, und stel-
len wir damit zusammen, dals das 5 ausländischer Wörter in p erhärtet wird: so ergiebt
sich uns wapaa = swapada —= swoboda, welches das russische Wort für Freiheit. —
Im Ungarischen ist szabad entstanden, weil man hier nur den zweiten Mitlauter ver-
drängt hat.
(°) Nur der (heidnisch gebliebene) Jakute ist mit Wörtern aus Vorderasien ganz
verschont geblieben, und sein türkischer Dialekt verdient daher grolse Beachtung.
Philos.- histor. Kl. 1847. Qq
306 Scuorrt über das Altai’sche
derheit war für sie die Sprache des göttlichen Buches, die Allah selbst mit
seinen Knechten reden werde am Tage des Gerichts. Die bunte Mosaik des
geschriebenen Osmanli — beim Sprechen sind die Türken mit Fremdwörtern
sparsamer — gewährt einen wunderlichen Anblick. Man hüte sich aber,
eine Sprache darum schon für hülflos zu halten, weil sie ihres angeborenen
Adels sich schämt oder ihre Bildungskraft verkennt. Welchen Begriff mag
ein Ausländer von unserem Deutschen sich formen, wenn er es nur aus Zei-
tungen oder Tagesschriften kennen lernt? (?)
Das Osman-Türkische kann seine ausländischen Fesseln nie wieder
abstreifen; denn die Osmanen sind, allem Anschein nach, in keiner Hinsicht
mehr einer Erhebung fähig. Dagegen fühlt der Ostsee -Finne nun schon
seit Jahrzehnden ein steigendes volksthümliches Bewufstsein, das einstweilen
in emsigem Sammeln seiner vaterländischen Sagen, in trefflichen Forschun-
gen auf ihrer Grundlage, und in dem Bestreben, jede Ausländerei von der
Muttersprache fern zu halten, sich kund giebt. Ein verwandtes Bewufstsein
regt sich immer stärker bei dem Magyaren, dessen leidenschaftlichere Natur
aber dem ruhigen Nachforschen ungünstig ist, und ihn mehr zu neuen
Schöpfungen oder zu kühnen Thaten fortreifst.
* *
*
Wir versuchen jetzt, von den merkwürdigsten Eigenthümlichkeiten
des ganzen Sprachengeschlechtes oder einzelner Familien desselben eine
Übersicht zu geben.
Die Wurzeln der Wörter dulden von vorn keine Zusätze; alles Bei-
werk, mag es nun Redetheile unterscheiden oder ihre Verhältnisse bezeich-
nen, mufs hinten an. In den finnischen Sprachen an der Ostsee versuchte
(') Der Vorwurf des zügellosesten Gebrauches von Fremdwörtern trifft bei uns die
Tagesschriftsteller jeder Partei mit ziemlich gleichem Rechte. Begegnen uns nicht auf
jeder Seite ihrer Blätter Ausdrücke wie Hausse und Baisse, Decharge, Actionair
und Reactionair, Indignation, gravirende Umstände, Amendement, desavou-
iren, tendentiös, Success, abandoniren, malcontent, reell und Reellität,
reussiren, u.s.w. u.s.w. Kann man, inmitten der ruhmvollen Erhebung unseres Va-
terlandes gegen jede andere Art von Knechtschaft, diese freiwillige Knechtung der Sprache,
dies ekelhafte Überbleibsel zweihundertjähriger Sclaverei und politischer Niederträchtig-
keit, ohne Abscheu ertragen?
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 307
man eine Zeitlang die Einführung untrennbarer Praepositionen am Zustands-
worte; allein der Sprachgenius hat sie bald zurückgewiesen. Im Magyari-
schen allein ist das Zusammensprechen einer Präposition mit der Wurzel
gestattet (?); erstere ist aber sehr versetzlich.
Dagegen können zwei selbstständige Wurzeln sehr wohl zu einem zu-
sammengesetzten Worte sich einen, wo dann freilich die eine vorangehen
und die andere folgen mufs. Die stärkste Neigung zur Bildung solcher zu-
sammengesetzter Wörter zeigen die finnischen Sprachen; viel bedächtiger sind
in diesem Punkte die tungusischen und noch mehr die Turksprachen (?).
Als Zusammensetzung zweier oder selbst mehrerer Wurzeln darf man
auch wenigstens einen Theil der abgeleiteten Zustandswörter betrachten,
welche mit kraftvoller Kürze manchen Nebenumstand ausdrücken, der in
anderen Sprachen durch Hülfsverben, beigegebene Umstandswörter, oder
auf andere Weise bezeichnet wird. Verschwenderisch mit solchen Ableitun-
gen ist die Sprache der Lappen, sehr viel wirthlicher die Suomisprache.
Die eigentlich tatarischen Idiome halten eine Art Mittelweg, den besonders
die türkische Sprache schön zu wandeln versteht.
Die Zusammenfügung einer Wurzel mit einer anderen oder mit einem
grammatischen Zusatze führt in den tatarischen und einem Theile der finni-
schen Idiome entweder gar keine oder doch unerhebliche Lautveränderun-
gen herbei(°). Die Ostseefinnen aber besitzen in ihrer schön durchgebildeten
Beugung des Wortstammes einen lebensvollen Pulsschlag, der schon bei
den Lappen viel schwächer und unsicherer wird, in den Idiomen des Ural
sogar zu tödtlichem Stocken kommt. Ob dies, die Suomisprache und das
verwandte Ehstnische auszeichnende organische Leben schon in Nordasien
oder erst in Nordeuropa erwachte — diese Frage glaube ich, da eine gewisse
(') Von lautlicher Verschmelzung beider kann ohnedies nicht die Rede sein.
(?2) Etwas Ausführliches hierüber in der Folge. Von mands’uischen Zusammense-
tzungen erwähne ich einstweilen nur: fosoba erleuchtete Stelle, aus foso leuchten und da
Ort, Stelle; fwaburu veilchenblau, aus fula roth und buru grau.
(°) In mands’uischen Zusammensetzungen mit ergi Seite, Gegend, verschwindet z.B.
dessen e: amargi (ama + ergi) hintere Gegend, Norden; dergi (den + ergi) obere Ge-
gend, hoch, erhaben. — Im Finnischen hat man päiwätzär Sonnentochter, für päiwä-tytär;
das letzte Glied ist also gleichsam verschrumpft. Doch kommt dergleichen nur selten vor.
Qq2
308 Scuorrt über das Altai'sche
Nachwirkung im ganzen tschudischen Gebiete sich zeigt, zu Gunsten Nord-
asiens beantworten zu mülsen.
Der lose Zusammenhang der Wurzel oder des Wortes mit grammati-
schen Zugaben wird in dem ostaltai’schen Gebiete sehr gut gefühlt, sonst
würde man letztere beim Schreiben nicht so gern isoliren. In der Mandsu-
sprache und der Mongolischen geschieht dies regelmäfsig mit den sogenannten
Casuspartikeln, d.h. Postpositionen von mehr abgezogener Bedeutung, wel-
che unsere Beugefälle vertreten; es trifft sie also insofern mit allen übrigen
Verhältnifswörtern ein gleiches Schicksal ('). Das Mongolische erlaubt sich
dasselbe Verfahren mit gewifsen Zeichen der Mehrheit, mit Bestimmungen
des Zustandswortes, und selbst mit Auslauten der Nennwörter; oder der
Schreiber zerbricht gleichsam einen längeren grammatischen Zusatz. Mag
man den nächsten Grund einiger Erscheinungen dieser Art in graphischen
Eigenheiten suchen; jedenfalls liegt ein dunkeles Bewufstsein dahinter, dafs
die Verbindung kein organisches Ganzes ausmacht. Bei den östlichen Tür-
ken wird von den sogenannten Casuspartikeln das Genitivzeichen sis ning
fast immer vom Worte getrennt, oft auch das Dativzeichen LE gha oder S ge,
das ‚„ ni des Objectsverhältnifses, das ‚3 Zar der Mehrheit (z.B. ‚9 =) ini
ler jüngere Brüder, ‚9 sus gitti ler sie gingen ab), alle fürwörtlichen Zuga-
ben (Suffixa), u.s.w.
Auf Lautveränderungen wollen wir hier gar nicht eingehen, und nur
im Vorübergehen erwähnen, dafs das Fürwort, sofern es im Verbum die
Personen unterscheidet, bei den westlichen Türken von seiner Ganzheit mehr
verliert, mehr der Metamorphose anheimfällt, als bei den östlichen. Nur
wenn es besitzanzeigend dem Nennwort oder einem Zwitterworte zwischen die-
sem und dem Zustandsworte folgt oder anhängt, ist es in Ost und West ziem-
lich gleich stark verändert. In der Sprache der Ostsee -Finnen ist die Wur-
zel des Nennwortes und des Zustandswortes, sofern ein nothwendiges Gleich-
gewicht der Laute sie verlangt, jener eigenthümlichen Beugung unterworfen,
(') Ich sage insofern, weil Verbältnilswörter (Postpositionen) von weniger abge-
zogener Bedeutung dem Worte in der Regel nicht ohne Dazwischentreten einer jener
sogenannten Casuspartikeln folgen, was immer schon zur Genüge zeigt, dafs man ein
Gefühl vom Unterschied der Verhältnisse gehabt hat. Einstweilen, und bevor man etwas
besseres über diesen Gegenstand von mir lesen wird, verweise ich auf S. 50 meines
„Versuch über die Tatarischen Sprachen”. Berlin 1836.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 309
die ich kurz vorhin angedeutet, und deren Regeln durch die Bemühungen
heutiger Sprachforscher, wie Castren, Fählmann, Euren, Akiander, glücklich
entwirrt sind. Auch bilden sämmtliche Zusätze mit dem Worte, das sie er-
hält, noch mehr als selbst bei den westlichen Türken, ein untrennbares Gan-
zes. Das Letztere kann man auch mit Hinsicht auf einige andere finnische
Sprachen, vor allem die der Magyaren, unbedenklich behaupten.
Das Verhältnifswort oder die Präposition (seiner Stellung nach vielmehr
Postposition) folgt dem Worte, auf das es bezogen wird, immer nach.
Gewifse Verhältnifswörter, die keine selbstständige Bedeutung haben und
dabei durch die Kürze ihrer Form sich auszeichnen, folgen aber unmittelbar;
und kann man sie theils aus diesem Grunde, theils, weil sie gröfstentheils
von weitester Bedeutung sind, Casuspartikeln nennen. Andere wieder,
und zwar die meisten, erheischen einen Vermittler, und dieser ist dann eine
jener Casuspartikeln, gewöhnlich die des Genitivs. Das eigentliche Verhält-
nifswort bleibt also im Grunde Selbststandswort und regiert dasjenige Wort,
auf das es bezogen wird, in einem Casus (!). Die Mands’usprache und die
Mongolische verfahren oft in dieser einfachsten Weise.
Da jedoch Ausdrücke, wie z. B. „Meeres Inneres” (für im Meere)
eine Zweideutigkeit enthalten, so hängen schon die Mandsus dem regierenden
Worte, wenn es als Verhältnifswort zu denken ist, gewöhnlich noch eine
Casuspartikel an. Es werden also die meisten Verhältnifswörter schon bei
den Mandsus durch Umschreibung ausgedrückt: für „zwischen Himmel und
Erde” sagt man „im Zwischenraum des Himmels und der Erde”; für „unter”,
„am Untertheil”; für „vor”, „am Vordertheil” u.s.w. In der türkischen Spra-
che, wo das Genitiv-Verhältnifs, wie in der Magyarischen, durch einen be-
sitzanzeigenden fürwörtlichen Zusatz am regierenden Worte noch Verstär-
kung erhält, wird dieser Zusatz auch dem auf obige Weise umschriebenen
Verhältnifswort eingekörpert; man sagt für „unter dem Baume” nicht etwa
blofs „am Untertheil des Baumes”, sondern „an Baumes seinem Unter-
theil’(?). Die Suomi-Sprache, welche das Verhältnifswort ebenfalls durch ein
(') Einer im ganzen altai’schen Geschlechte waltenden Regel gemäls, geht das Re-
gierte dem Regierenden voran.
(?) Beispiel eines Selbstandswortes mit blofsem fürwörtlichem Anhang, das nur als
Postposition vorkommt, ist im Türkischen gi2i, wörtlich sein Bild, seine Gleichheit,
310 Scuorrt über das Altai’sche
Selbstandswort in einem Casus umschreibt, nimmt weniger häufig noch für-
wörtliche Suffixen dabei zu Hülfe, obschon sie diese in eben der Vollkom-
menheit, wie die Türkische, besitzt. Manche ungarische Postposition
würde das Gesetz ihrer Bildung kaum enträthseln lassen, wenn uns der ent-
sprechende Redetheil im Finnischen nicht die Augen darüber öffnete.
Die Postpositionen üben im ganzen finnisch -tatarischen Sprachenge-
biete eine wahrhaft despotische Macht, da sie nur wenige Verhältnifswörter
der Sätze (Bindewörter) aufkommen und auch diese wenigen nur schüchtern
auftreten lassen. Denn die Postposition klammert sich nicht blofs an reine
Nennwörter, sondern auch an Zwitterformen zwischen Verbum und Nomen;
und so oft letzteres geschieht, entsteht ein schwerfälliges Surrogat für einen
Satz, den ein Bindewort mit einem anderen dergleichen verknüpfen sollte.
Dafs aber die Postposition so viel sich anmafsen darf, davon liegt wieder der
Grund in zu überwiegend nennwörtlicher Auffassung des sogenannten Infi-
nitivs, der in der That nur wenig vom Verbum hat. Dieser duldet Casus-
partikeln, und, wo sie vorhanden sind, auch angehängte Fürwörter des Be-
sitzes, wie jedes andere Nennwort — er duldet sie nicht allein, sondern ver-
langt sie. Überall wo bei uns Bindewörter wie als, da, zu, um zu, dafs,
weil, ihr Amt verwalten, ist das finnisch -tatarische Sprachengeschlecht,
wenn es sich selber treu bleiben will, entweder auf Casus seiner sogenann-
ten Infinitive, oder auf eigentliche (meist umschriebene) Verhältnifswörter
hinter diesen Zwitterformen angewiesen. Wenn z.B. der Türke seines gibi
wie (wörtlich sein Bild, seine Gleichheit; s. oben) hinter einer solchen
Form sich bedient, so tritt diese in den Genitiv, und man ist einem Satze mit
dem Bindewort als ausgewichen: sen geldig-in gibi wird verstanden „als du
kamst”; es heifst aber nur „wie dein Kommen”, oder „deines Kommens Gleich-
heit”(1). Für „wie” könnte auch „in seiner (deines Kommens) Zeit”, oder was
Ähnliches stehen. Wendungen gleich dieser: anyn kalkdyghyny (oder kalka-
dsaghyny) bildim sein Aufgestandensein (oder Aufstehenwerden) kenne
ich, für: ich weils, dafs er aufgestanden (abgereist) ist (aufstehen [abrei-
sen] werde), sind eben so legal wie: „ich kenne seine Sprache”. Will man
d.i. wie; also arslan gibi Löwe sein Bild, wie ein Löwe. Auf dieses Wort kommen wir
in der Folge zurück.
(') Wenn man bei uns im gemeinen Leben wie für als hört, so ist ersteres ge-
radezu Conjunction geworden, und nicht Präposition geblieben wie das türkische gibi.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 311
eine Absicht andeuten, so ist „im Vorhaben seines Thuns”, „wegen. seines
Thuns” (letzteres auch für weil), oder, wenn auf der Absicht kein Nach-
druck liegt, ein blofser Dativ des Infinitivs dem Genius der Sprache am an-
gemessensten (!).
Ich wähle meine Beispiele vorsätzlich nur aus den vollkommensten
Sprachen des Geschlechtes, denen doch mancher Ausweg offen steht, welcher
z.B. der Mands’usprache und der Mongolischen ganz versperrt ist, damit auch
hier der Spruch sich bewahrheite: naturam expellas furca, tamen usque re-
eurrit(?). Wie sehr die lebendige, gesprochene Suomisprache dergleichen
für uns unnatürliche Wendungen noch liebt, davon überzeugen uns unter
anderem die Inhaltsanzeigen in Prosa, welche Lönnrot den einzelnen Runot
der Kalewala vorausschickt, und in denen er, wie man versichert, die Volks-
sprache Kareliens treu wiedergegeben. Beispiele: Ilmarinen kertoo Wäi-
nämöiselle sammon takoneensa, Ilmarinen erzählt dem Wäinämöinen des
Sampo Geschmiedethaben-sein, statt „dafs er den Sampo geschmiedet”. —
Ei olewan itkettäwätä, emo; jo kauan toiwoneensakin Wäinämöistä langok-
sensa, nicht Seinwerden zu Beweinendes, (sagt) die Mutter; schon lange das
Gewünschthaben-ihrer-auch den Wäinämöinen zu ihrem Schwiegersohne; d.
h. die Mutter sagt, dafs es nicht beklagenswerth sei, ja dafs sie schon lange
gewünscht habe, den W. zum Schwiegersohn zu bekommen. — Zappalainen
wahtaa surmataksensa häntä ein Lappe steht auf der Lauer Tödten -zu
seinem-ihn, d.i. um ihn zu tödten. - Huutaa wenettä joen poikki pää-
(') Der Mongole und der Türke bezeichnen das Vorhaben auch gern durch eine be-
stimmte Verbalform, mit „sagend” dahinter, und bilden so zwei ganz einfach verbundene
Sätze, z. B. „ich will einen Brief schreiben sagend ging ich nach Hause”, d. i. ich
ging nach Hause, um einen Brief zu schreiben.
(2) Der Osmane hat persische und arabische Conjunctionen angenommen, ohne je-
mals einen anderen als ausnahmsweisen Gebrauch von denselben zu machen; und so bleibt
seine Satzbildung, besonders in der höheren Prosa, vom Eintlusse des Arabischen und
Persischen fast unberührt, während er doch Wörter und ganze Phrasen aus beiden Sprachen
mit schrankenloser Willkür aufnimmt. Der musivische Riesenbau eines grölseren osma-
nischen Satzes, besonders in historischen Werken, ist meist aus fremden Bausteinen aufge-
thürmt, und türkisch ist fast nur der Kitt, welcher die bunte Masse zusammenhält; diesen
Kitt bilden aber die Infinitive mit Postpositionen und die Gerundien, welche einer be-
stimmten und persönlichen Verbalform erst ganz unten am Schlusse Platz zu gönnen
pflegen.
312 Scnorr über das Altai'sche
stäksensä er ruft ein Boot an, über den Flufs Gelangen -zu-seinem, d.i. um
über den Flufs zu gelangen, u.s. w.
Der Leser wird nun schon argwöhnen, dafs ein bezügliches Für-
wort in unserem Sinne den Sprachen des Altai fehlen müsse. Wirklich ist
auch bei Mands’us und Mongolen statt dieses Fürwortes nur ein Deutewort vor-
handen, welches wie die Verhältnifswörter und die charakteristischen Zusätze
der Redetheile ohne Ausnahme hinter dem Worte steht, auf das esbezogen wird.
Es bildet immer eine Art Eigenschaftswörter, mögen sie nun rein nennwört-
licher oder halb zuständlicher Natur sein. Bei den alten Türken verhielt
sich die Sache gewils nicht anders; denn noch jetzt offenbart die osmanische
Sprache selber eine gewifse Vorliebe, das bezügliche Fürwort mittelst Par-
ticipien und Infinitiven mit Suffixen entweder ganz zu umgehen, oder das
Wörtchen ki, welches seine Stelle vertreten soll, hinten anzuhängen. An
gewilsen Wörtern hat dieses ki rein adjectivische Bedeutung. (') Türken und
Mongolen bedienen sich seiner vorzugsweise gern nach einer Postposition,
die das Befinden an einem Orte anzeigt, und: es mufs dann eben die Stelle
eines Zustandswortes für Sein oder Befinden vertreten. Hinter andere Orts-
partikeln setzen es beide Völker niemals, ohne Zweifel darum, weil die
Bewegung von oder zu einem Orte kein einfaches Sein mehr ist, und also
nach ihrem Sprachgefühl durch ein Zustandswort (und zwar ein concretes)
bezeichnet werden mufs.
Viel freier und kühner sind die Magyaren im Gebrauche ihrer nach-
gesetzten Partikel i, welche sonst mit dem erwähnten persönlichen Deutewort
am besten zu vergleichen ist. Auch sie bildet eine Art von Adjectiven, und
kann nicht blofs unmittelbar, sondern auch durch Vermittlung einer Orts-
partikel wie in, zu, von, aus, bei, einem Selbstandswort oder blofsen
Deutewort angehängt werden. Beispiele: az abbani viz das in jenem (Gefäfse)
befindliche Wasser. Hier ist abbani zusammengesetzt aus dem Deutworte
az jener, der Ortspartikel dan in (der sich das z von az anbequemt hat) und
i. Man könnte die sonderbare Composition genau wörtlich etwa nur durch
(') Z.B. wenn der Türke aus seinem „Od dün Nacht und gestern, ESS dün-ki
bildet, was in Verbindung mit einem folgenden Worte für Tag s.v.a. gestrig bedeu-
tet. — Vergl. das mands’uische ningge oder ngge, z.B. in singgeri-ngge ania, gleichsam das
mausige Jahr, oder, wie ein Russe sagen könnte, mrımii rog&, was aber hier heilsen soll:
das nach der Maus benannte Jahr.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 313
jenes-in-iges wiedergeben (!).— Sok borivdstöliborzalom roszsz ein aus vie-
lem Weintrinken entstehender Schauder (ist) übel, aber genau: viel Wein-
irinken-aus-iger Schauder übel (ist), — Az egyikröl a’ mäsikrai dt-
menetel der eins-ihrer-von anderes-ihrer-zu-ige Durchgang, d.i. der
Übergang vom Einen zum Anderen.
Die meisten Casusverhältnifse des Relativums können der Mandsu und
der Mongole nicht anders als durch Umschreibung ausdrücken, und der
Türke tritt noch in ihre Fufstapfen wenn er z.B. den Satz: der Herr, dessen
Bruder dein Freund ist, mit Bruder-sein Freund-dein seiender Herr
wiedergiebt. Aber der Letztere hat auch dahin gestrebt, ein bezügliches Für-
wort im Sinne unserer Sprachen zu erhalten. Wir finden nämlich ki schon
bei den östlichen Türken und mehr noch bei den Osmanen dem Satze auf
den es sich bezieht, sehr oft fefsellos vorangestellt. Dennoch ist die Be-
mühung, dem persönlichen Deutewort sätzebindende Kraft zu geben, ge-
scheitert; denn man wagt nicht eine unmittelbare Verbindung des Az mit
Casuspartikeln, sondern deutet seine doppelte Bestimmung in zersetzender
Weise an: ki wird isolirt hingestellt, als einfacher Vertreter des vorher ge-
nannten Subjectes, und dahinter schleppt sich ein anderes, für jener und
er gebrauchtes Deutewort, welches mit der erforderlichen Casuspartikel
versehen ist. Dies Letztere ist also das satzverknüpfende Mittel: der Türke
sagt welcher-sein, welcher-ihm, welcher-ihn, für dessen, welchem,
welchen. — Finnen und Magyaren haben in dieser Beziehung das alte Joch
ganz abgeschüttelt. Sie besitzen ein wahres bezügliches Fürwort, mit Casus-
partikeln die unmittelbar angefügt werden, und das weder in seiner Stellung
noch in seinem Gebrauch etwas Aufsergewöhnliches darbietet. Eine Spur
aber von ehemaliger Auffafsung des Relativums im Sinne der Tataren glaube
ich in dem so merkwürdigen Gebrauche der nachgesetzten Partikel i (s. kurz
vorher) wahrzunehmen.
Ausdrücke für die Verneinung eines Zustandes werden im Mandsui-
schen und Mongolischen mittelbar, im Türkischen unmittelbar der Wurzel
angehängt. Der Mongole läfst auch negative Partikeln ganz einfach dem Zu-
(') Will man i hinweglalsen, so ersetzt man es mittelst valo’ seiend, befindlich. Ganz
eben so verführe in solchem Fall der Türke mit seinem gleichbedeutenden o/an, z.B. das
in der Hand befindliche Schwert, entweder Hand-in-iges, Hand-in-welches Schwert (e-
de-ki kylyds) oder Hand-in seiendes (el-de olan kylyds‘).
Philos.- histor. Kl. 1847. Rr
314 Scnortrüber das Altaische
standsworte vortreten. Aber schon die Schwestersprachen des Mandsuischen
in Ostsibirien gehen noch weiter. Diese bezeichnen, wie wir oben gesehen,
jede Person des Verbums mittelst eines fürwörtlichen Suffixes, wie die Tür-
ken. Sollnun ein Zustand verneint werden, so läfst man die betreffende
Partikel dem Verbum vorangehen, entzieht diesem sein Suffix, und hängt
es dafür der Verneinungspartikel an. Beispiele der ersten Person dieser Art
Negativ, und zwar von den Zustandswörtern sehen und schlafen, bringt die
oben angeführte Tabelle: ich schlafe heifst z.B. im Dialekte der ochotsker
Tungusen uklarym; ich schlafe nicht, efam uklar — ich sehe, kojerym;
ich sehe nicht, etam kojer. Im nertschinsker Dialekte heifst ich schlafe,
aschinap, ich sehe, üschetschip. Der Negativ des ersteren lautet aschim
aschina, wo das suffigirte p (für di ich) beim Herüberziehen zu dem ver-
wandten m geworden; der des letzteren aber aschim üschere, wo die Blöfse
der Wurzel durch einen neuen Zusatz bedeckt wird. Auch in den Beispielen
aus anderen Dialekten sehen wir die ihres Suffixes beraubte Verbalwurzel
auf ähnliche Weise gleichsam entschädigt; nur die Lamuten begnügen sich
mit einfacher Voranstellung der Verneinung, und lafsen das Verbum im ruhi-
gen Besitze seiner fürwörtlichen Anhänge: eischi ukljarem ich schlafe nicht;
etschi kuerem ich sehe nicht.
In allen bekannteren Sprachen der finnischen Familie — das Magya-
rische allein ausgenommen — beraubt die vortretende Verneinung das Zu-
standswort ebenfalls gern der Personalendung, und läfst es, wie bei den och-
otsker Tungusen, meist unbeschützt. So z.B. die Suomisprache: (minä)
sanon ich sage, und en (minä) sano ich sage nicht; sanomme wir sagen, und
emme sano wir sagen nicht. — In der hebräischen Sprache darf die Ver-
neinung 7x En ebenfalls vorgesetzt und mit einem Suffixe verbunden werden,
z.B. "a un Enenni ömer nicht-ich redender, d.h. ich rede nicht, für x>
man lö dmarti. Dies Verfahren ist aber ein anderes: hier kann von Berau-
bung des Zustandswortes nicht die Rede sein; das Suffix der Negation ist ihr
unbestrittenes Eigenthum, und das Verbum steht als Partieipialform, die ohne-
hin kein auf die handelnde Person sich beziehendes Suffix erhalten würde,
daneben. Die alten Hebräer sorgten also, dafs ihr wichtigster Redetheil
in seinem Rechte ungekränkt blieb; und es würde eine arge Barbarei sein,
en-ti ämar oder lö-ti ämar zu sagen. In der koptischen Sprache sind es
nun allerdings die Personalpartikeln des Verbums was der vortretenden
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 315
Verneinung angefügt wird; allein hier kann es kaum anders kommen, da die
Kennzeichen der Person dem Verbum ohnehin regelmäfsig vortreten. Auch
pflegt man, mit der vortretenden Verneinungspartikel nicht zufrieden, noch
eine andere der Zustandswurzel folgen zu lassen, z.B. $ mows Zi moschi
ich gehe, iv mouyr aıt en-ti moschi-an nicht-ich gehe-nicht; ey mows ef
moschi er geht, \tj mowys aıı en-f moschi-an er geht nicht.
Ich will noch eine, die Suomisprache allein auszeichnende Eigenthüm-
lichkeit berühren: es ist dies ihr auffallender Hang zum Gebrauche der Mehr-
heit, zumal in solchen Fällen, wo eine Dauer des Zustandes ausgedrückt
werden soll. In ähnlichem Sinne sagen wir, dafs jemand Schmerzen oder
Qualen erleide, wenn auch nur eine Art von Qual, die ihren Sitz nur an
einer Stelle hat, gemeint ist. Bei den Finnen greift dies aber sehr viel
weiter und aufserdem in ganz anderer Form: zu einem Verbum des Seins
oder Kommens (Werdens) gesellt sich ein den Zustand näher bezeichnen-
des Wort, das aus einer Mehrzahl im Orts-oder Werkzeugsfalle, oft noch
mit fürwörtlichem Anhang, besteht. (!) Beispiele: on Zulissansa er ist in
seinen Feuern, d.i. im Feuer, er ist zornig; tulen tulihini ich komme zu
meinen Feuern, d.h. in Zorn; makoilla mit (in) Lagerungen, d.i. darnie-
der liegend; murheissansa in seinen Betrübungen d.h. kummervoll; zurwis-
sani, in meinen Beschützungen, d.i. unter meiner Obhut; olen näljissäni ich
bin in meinen Hungerleiden, d.i. ich leide Hunger. Eben so mit Beziehung
auf Dinge aufser uns: olen tulillani ich bin bei meinen Feuern d.h. zu Hause;
tulen tulilleni ich komme zu meinen Feuern (ad focos meos) d.i. nach Hause.
Der Casus des bestimmten Objectes wird im Finnischen zugleich als
adverbialer Casus gebraucht, (?) aber nicht blofs in der Einheit, sondern
auch, und zwar noch viel häufiger, in der Mehrheit; ja diese Mehrheits-
form ist eigentlich nie Objectscasus, sondern immer Adverbium; daher ältere
Grammatiker in ihr einen eigenen Casus adverbialis aufstellen. So heifst
turmin gleichsam in Unklugheiten, auf unkluge Weise, von Zurma un-
klug. Es steht aber diese Form auch da, wo eine Mehrheit oder Wieder-
(') Der Zustand würde schon durch die beschriebene Wendung allein, ohne Anwen-
dung der Mehrzahl, energischer hervortreten, als wenn man das Prädicat in gewöhnlicher
Weise ausdrückte.
(*) Also wie z.B. im Arabischen, wo jedes Object gewilsermalsen als ein zum Ver-
bum gehörendes Umstandswort betrachtet wird.
Rr?
316 Scuorr über das Allaische
holung unmöglich, z.B. in päin quoad capita, wenn es nicht Postposition
ist und gegen, — wärts, sondern buchstäblich in Hinsicht des Kopfes, mit
dem Kopfe, bedeutet (1); denn es kann Einer zwar mit Launen, Sinnen,
sogar Geistern, aber nicht mit mehreren materiellen Köpfen gedacht werden.
So haben wir päin in den Redensarten paljain päin nudo capite, und alla päin,
welche letztere z.B. folgenden öfter wiederkehrenden Runovers anfängt, der
in der That aus lauter adverbialen Ausdrücken besteht:
Alla päin, pahoilla mielin, Kopfgesenkt, verdrofsnen Sinnes,
Kaiken kallella kypärin. Ganz mit schief gesetzter Mütze.
Es ist unmöglich, diesen Doppelvers wörtlich wiederzugeben; annähe-
rungsweise könnte man aber sagen: unten in Hinsicht der Köpfe (des Kopfes),
mit Übeln hinsichts der Gedanken, ganz mit Schiefheit hinsichts der Müt-
zen. (?)
Gleichwie nun die Mehrheit in adverbialen Ausdrücken dem Sinne
nach keine wahre Mehrheit ist, so wird auch bei dem sehr häufigen Gebrau-
che der sogenannten Häufigkeitsverba (frequentativa) nicht eigentlich eine
Wiederholung der Handlung gedacht; sie sollen nur gröfsere Lebendigkeit
in die Rede bringen.
Schliefslich ein Paar Worte über das Gesetz des Einklanges der Vo-
cale. In den meisten finnisch-tatarischen Sprachen entscheidet der Vocal
der Stammsilbe über die der folgenden Silben. Letztere müssen nämlich,
wenn auch sonst von jenem verschieden, wenigstens in Stärke oder Schwäche
mit ihm übereinstimmen, ja in einigen Sprachen erheischt der Stammvocal
sogar vollkommene Gleichheit des nächsten Selbstlauters. Die Stärke oder
(') Postposition ist es z.B. in minua päin gegen mich, sinne päin dorthin. Grolse
Analogie mit diesem finnischen Sprachgebrauche zeigt das Hebräische, wo Wörter wie
Obertheil, Untertheil, Hintertheil, Richtung, ebenfalls im Plural, und zwar mit oder ohne
persönliche Anhänge, ein Verhältnifs (zunächst einen Umstand) bezeichnen. Heilst z.B.
“orin zachta-j, WON acharä-w, mo» äle-chä etwas anderes als Untergegenden meiner, Hin-
tergegenden seiner, Obergegenden deiner, d.i. unter mir, etc.’ Sollte die Mehrheit nicht
auch hier zunächst auf eine Dauer (des Verhältnilses) hingewiesen haben und später erst
mifsbräuchlich zur Regel geworden sein? Oder steht die Mehrheit, wo es räumlichen Ver-
hältnilsen gilt, nur darum, weil die Stelle am Körper nicht näher bestimmt ist?
(2) Päin, mielin und kypärin sind Beispiele des adverbialen Casus in der Mehrheit;
kaiken ist derselbe Casus in der Einheit, und nur so besitzen ihn auch die Magyaren. Ale,
kalella und pahoilla sind Nennwörter im Instrumental, wie oben makoilla.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 317
Schwäche der Vocale ist oft von den Mitlautern die sie begleiten, zunächst
abhängig. Von den Schriftarten tatarischer Völker stellt diejenige, die bei
den Kalmyken sich ausgebildet hat, das Lautsystem und somit auch den
Einklang der Vocale sehr befriedigend dar. Dagegen hat die meisten Dia-
lekte der türkischen Sprache das Unglück getroffen, sich in arabische Schrift
kleiden zu müssen, welche, wo es auf Ausdruck der Selbstlauter ankommt,
schlechter als jede andere dazu geeignet ist. Da nun die Schrift immer ei-
nige Rückwirkung auf die Aussprache hat, so dürfen wir uns nicht wundern,
dafs es schon lange zweierlei Aussprachen des Osmanli giebt: die sogenannte
feinere, gebildetere, in welcher jenes Gesetz weniger durchgreift, und die
rohere oder volksmäfsige. Sollte aber Letztere, die uns den Grundsatz des
Einklangs, auf eine eben so bewundernswürdige Weise wie im Magyarischen
durchgeführt, beobachten läfst, nicht die wahrhaft naturwüchsige sein? (1)
(') Diese volksmälsige Aussprache des Osmanli lehrt keine der bis jetzt erschienenen
Sprachlehren. Man mus ihre Regeln aus türkischem Munde und aus dem Lesen solcher
Texte, die mit armenischen Buchstaben geschrieben sind, entnehmen.
318 Scnuorr über das Altai’sche
Nachträge zur Einleitung,
Zu S.291, Z.12. Der erste Ilchan der Tu-kiu wird pP}
T’ü-men genannt, was derselbe Name ist. Sein Sohn hiefs Mu-han, was
offenbar für Muchan steht. Dieses Wort hatte anfänglich gewifs die Bedeu-
tung Stier, wie Oghuf; denn noch jetzt bedeutet es in der Mandsusprache
das Männchen starker, zunächst gehörnter, dann auch reifsender Thiere, z.B.
des Tigers. Mucha-schan ist in derselben Sprache Stier. (')
Zu S.293 ff. Im Hoan-jü-ki (B. 194, Bl. 9) und bei Ma-tuan-Iin (B.
343, Bl.2) finden wir gleich nach Nennung des Titels /-Z-Ro-han folgende
Bemerkung eingeschoben: „Zur Zeit des T’äi-wu-ti! vom Hause Heu- Uei
legte sich schon Tu-Iun, der damalige Häuptling des Volkes S’en-sen, den
Titel X’o-han bei. Die Tu-kiu folgten seinem Beispiel ( ix] 7 in ischi)”.
Ferner steht in dem Artikel S’en-sen (H-j-ki, B. 193, Bl. 9; M-t-l.,
B. 342, Bl. 14): Tu-lun habe sich Kiu-teu-fa K’o- han betitelt; der Titel
K’o- han sei damals überhaupt zuerst angenommen worden.
Diese beiden Citate verlangen Erläuterung. Heu-Uei (oder Juan-Uei)
war der chinesische Name, unter welchem das tatarische Volk Topa (Tö-pö)
über das von ihm eroberte nördliche China herrschte. T’ai-wu-ti ist der
posthume Name ihres dritten Kaisers; er regierte von 424 bis 451 u.Z. Die
S’en-sen, von denen die chinesische Geschichte sagt, dafs sie ein Stamm
der Hiung-nu gewesen, waren eine Zeitlang im östlichen Turkistan mäch-
tig, und unterlagen den Tu-kiu, die ihnen anfänglich Frohndienste (als Ei-
senschmiede) geleistet hatten. Der Name ihres Häuptlings Tu-Zun erinnert
lebhaft an Tului, wie der jüngste Sohn des Tschinggis- Chan hiefs.
Kiu-teu-fü bedeutete nach unseren chinesischen Quellen einen ge-
schickten Rosselenker. Hier pafsen nun die beiden ersten Silben vor-
trefflich zudem mongolischen küte-le (mands. kutu-le) leiten, führen, ohne
Zweifel von einem Worte für Strick oder Leitseil, das aber die Finnen al-
(') Ohne Zweifel ist muchan identisch mit dem türkischen dogha Stier, und verwandt
mit dem mands’uischen duchü Hirsch, etc. S. meinen wörtervergleichenden Abschnitt unter
den Lippenlauten.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 319
lein, und zwar in der Form köyte (köysi) besitzen. Statt des dritten chine-
” 1}
sischen Zeichens { x fä ist vielleicht IX tai zu lesen, und alsdann wär’
es ein eigenschaftswörtlicher Zusatz, der Mongolen und östlichen Türken
gleich geläufig ist.
Im Anfang des die S’en-sen betreffenden Artikels kommt ein Name
a
Mü-kü-liu vor, welcher chinesisch mit 37 FE scheu-t’ö kahlköpfig er-
klärt wird. Dieses Wort hat zunächst die gröfste Ähnlichkeit mit den man-
ds uischenmocholo Ochs ohne Hörner, und mulchüriKuh ohne Hörner. Konnte
man diese Bezeichnung nicht auch auf Menschen ohne Kopfhaar anwenden?
Im Mongolischen finden wir moghol-tsar hornlos, mogho-tur hornlose Kuh.
Verwandt sind auch die mongolischen Wörter mochor und mologhor abge-
stumpft, von denen Letzteres der mandsuischen Form mulchüri am näch-
sten kommt. Vergl. das finnische mylä stumpf, und mongolische müli aus-
glätten.
Die mehrerwähnten zwei grofsen chinesischen Sammelwerke bieten
uns in dem Artikel Tu-kiu noch verschiedene andere Wörter aus der Spra-
che dieses Volkes. So z.B. wurde die erste Classe ihrer Würdenträger
Kiü-lü-tschü, die zweite Classe O-p’o oder A-pa genannt. In dem er-
steren Titel glaube ich das mongolische külük fester, unerschütterlicher
Mann wiederzuerkennen; das andere kann Vater, auch Oheim heifsen(!).
Mit schi-po-lo, wie man Leute von ausgezeichneter Stärke und Tapferkeit
nannte, wäre das mongolische Wort schibor Krüppel-Eiche(!) am meisten laut-
verwandt. — K’o-la-tschü war ein nicht näher bezeichneter Beamter, dessen
Titel von Ko-lü = kara schwarz abgeleitet wird. Dieser Titel findet sich
noch bei den östlichen Türken (Uiguren) in der Form charatschu Minister;
ich glaube ihn aber von kara beschauen, überschauen, das mit dem Worte
für schwarz gleichlautend, ableiten zu müssen. — Neben Ko-k= türk. kary
wird auch k’o-Ü-t4 = türk. w,5 kart erwähnt: beide Formen bedeuten alt. —
(‘) Im Mongolischen ist abu, abai ein Liebkosungswort wie Väterchen; aba-gha (abä&)
bedeutet hier und im Jakutischen Vatersbruder; aba-ghai ist Titel der jüngeren Söhne eines
Fürsten. Verwandt ist die geschwächte Form ebüge Grolsvater. — Andere Beispiele von
Verwandtschaftsnamen aus denen Titel geworden: L&} agha älterer Bruder; W510 dai oder
5 daji Mutterbruder. — A-p’a (Ada) hiels der dritte Chaghan der Tu-kiu, und Abagha
der zweite mongolische Ilchan von Persien (1265-82), ein Sohn des Chulaghu.
320 Scnorr über das Altai’sche
Der mittelst ho-lan Pferd (s. oben) gebildete Titel Ro-lan-k’ii-su-ni, ver-
dolmetscht SD SE tschäng -ping Heerverwalter, Kriegsoberster, scheint
für Se 635>> chulan jusuny zu stehen, und bedeutet dann wörtlich: equo-
rum (für equitum, equitatis) lex, administratio, equitum curator, denn das
Heer bestand aus Reiterei. — Aufserdem erfahren wir, dafs der Titel X’o-
han (Chaghan) auch anderen Personen, als dem Oberhaupte, beigelegt ward.
So nannte man einen durch Mordlust ausgezeichneten Mann /u-lin-k’o- han
d.i. „EL> (5) » bury chakan, Wolfs-Chan. Selbst grofse Hausbesitzer beti-
telten sich w-k’o-han d.i. „&> (ss! Haus-Chan. — Ich übergehe einige
Wörter deren Dolmetschung mir allzu bedenklich scheint.
Die alten Geschichtschreiber der Chinesen kennen auch das, nur noch
bei Türken vorkommende Wort & ak weiss. In der zur urkundlichen Ge-
schichte des Kaiserhauses Sui (581-618 u. Z.) gehörenden Beschreibung der
Länder im Westen Chinas heifst es an einer Stelle, wo von dem feuerspei-
enden \=) \ | y Pe-schan d.h. Weissberge (er gehört zum T’ien-schan
oder Himmelsgebirg im Süden der heutigen Statthalterschaft /-Z) die Rede
ist, derselbe werde auch 4-ki-schan genannt. A-ki ist nichts anderes als
das obige türkische Wort. Die Stelle ist ausgezogen bei Ma-tuan-lin, B.
336, Bl. 22.
Zu S.295, Z.13. An den Bewohnern des westlichen Turkistan, oder
der Länder von Ta-uan (etwa Fergana) bis An-si (jetzt Charesm) bemerkten
die alten Chinesen tiefe Augen und dazu noch starken Bart (26 siü-s’än).
Hoan-jü-ki, B. 182, Bl.6. — Wenn man, beiläufig gesagt, in dem Namen
Ta-uan das tatarische Wort daban Bergstrafse erkennen will, so verdient
Beachtung, dafs dieses Wort seine Wurzel nicht im Türkischen, wohl aber
im Mongolischen findet: es ist daba hinübergehen.
Zu S. 315. Die koptische Grammatik hat überhaupt einen von der
finnischen so ganz verschiedenen Charakter, dafs schon darum von einer
Vergleichung beider Sprachen keine grofsen Ergebnifse zu verhoffen sind.
Merkwürdig aber bleibt immer die grofse Übereinstimmung gewifser kopti-
scher Wurzeln mit solchen des finnisch - tatarischen Geschlechtes. Beispiele:
aAor Ferse; tungusisch algan, finnisch jalka Fufs. any leben; f. henki
Hauch, Geist. ane Kopf; f. pää. &w Holz; f. puu. eboA von, aus;
‘
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 3
magyarisch 50l aus. eAeı wider, gegen; magyar. ellen (!). enaare grofs;
magy.nagy. Ma Ort, Gegend; finnisch maa. ıta% sehen; f.näy, näk. sw
sitzen; f. asu. cwirr Schöpfung, Geschöpf; f. synii Geburt, Entstehung.
rs oder nes Haus; türkisch ‚ss!, »! und „). erarbeiten, machen; türk. s!'
ej in au! ej-le, mandsuisch wi in wi-le; chinesisch se ei, ui. sııt machen;
türk. wel, et. ep, ıpe, spı, machen, vorhanden sein; bei östlichen Tür-
ken „). sr waschen; türk. „. ram Schilf; türk. yB. org Mond, ist
ganz das tschuwaschische oich, gegenüber dem rein türkischen ai. caı
Schönheit, und case schön, gut; mongolisch sain. cer ziehen; türkisch
>. rar Berg, entspricht völlig dem türkischen zlb tagh nach gemeiner
Aussprache.
(') Kopt. est, it nicht, kommt dem hebräischen ’»s zunächst, aber die abgekürzten
Formen des letzteren, "x und "x, sind fast identisch mit dem finnischen ei. Man muls
also keinen zu grolsen Werth darauf legen, dafs dieses auch mit dem schwedischen ej
übereinstimmt, welches aus icke entstanden.
Philos.- histor. Kl. 1847. Ss
322 Scuorrt über das Altai’sche
Verwandtschaft finnisch-tatarischer Wurzeln mit Rücksicht
auf Lautverwandlung.
Es erfordert vielleicht Entschuldigung, wenn ich einen Abschnitt vor-
angehen lafse, der das Ganze befser beschliefsen sollte; denn ich will die
Beschaffenheit der Wurzeln dieses Sprachengebietes hier nicht erläutern.
Auch dürfen ganze und fertige Wörter nicht ausgeschlossen sein; und in
Rücksicht solcher haben die Ergebnifse der Forschung gröfsere Glaubwür-
digkeit, wenn wir den Leser über keinen, wenn auch noch so geringfügigen
Theil des Wortes im Zweifel lassen, wenn wir nirgends dem Mifstrauen
Nahrung geben, als würden unsere Schritte von Willkür geleitet.
Es müfste demnach eine Aufzählung und Erläuterung aller Zusätze
vorangehen, die eine Wurzel erhalten kann, um in ein Wort sich zu ver-
wandeln. Allein diese Aufzählung hätte, an die Spitze gestellt, einen zu
dürren, zu wenig einladenden Charakter. Wir fafsen also die Wörter zuerst
in ihrem vollen Leben, und zwar mit Rücksicht auf Laut und Bedeutung;
das grammatische Zersetzungswerk mag dann in ununterbrochener Folge nach-
kommen. Unterdefs erlaube ich mir, den wesentlichen Theil, also die
Wurzel des Wortes, wo es irgend zur Deutlichkeit nothwendig scheint, von
dem unwesentlichen durch einen Querstrich zu trennen, und bitte wegen der
Grundsätze, die mich dabei geleitet haben, einstweilen um ein Votum des
Vertrauens.
Da mir in diesem Abschnitte vor Allem der Zweck vorschwebt, die
bekannteren Hauptsprachen des finnisch - tatarischen Geschlechtes mit ein-
ander zu vergleichen: so schenke ich dem Verhältnifse derselben zu ihren
anerkannten näheren Schwestersprachen oder zu blofsen Dialekten nur inso-
weit Aufmerksamkeit, als es wegen der Fingerzeige, die merkwürdige Laut-
wechsel geben, wichtig scheint. Aus der Vergleichung ergiebt sich oft die
Thatsache, dafs ein Wort in blofsen Dialekten einer und derselben Sprache
bis zur Unkemntlichkeit sich verstümmelt hat, während es in einer anderen,
selbst ungeheuer entfernten Familie fast unverändert geblieben ist. Wir
würden gänzlich daran verzweifeln müfsen, gewifse tungusische Wörter mit
den entsprechenden anderer tungusischen Dialekte, besonders der Man-
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 323
dsusprache, für identisch zu halten, wenn uns die verschiedenen Stadien
ihrer Metamorphose nicht offen vor Augen lägen.
Welche sind aber die unterscheidenden Merkmale eines verwandten
und eines bloss erborgten Wortes? Es kann nicht geläugnet werden, dafs
& und zum
5
Theil Vermischung ihrer Stämme auch viele Wörter gegen einander ausge-
Türken, Mongolen und Tungusen in Folge vielfacher Berührun
tauscht haben müssen. Allein verhältnissmäfsig wenige Wörter tragen ihre
Erborgung ganz unverkennbar zur Schau. Man darf einigen Verdacht gegen
solche Wörter hegen, die, ein Gemeinbesitz mehrerer Sprachen, bei glei-
cher oder fast gleicher Form auch gleiche Bedeutung haben, besonders wenn
die eine Sprache daneben noch ein anderes und verschiedenes Wort für den-
selben Begriff hat. Allein bewiesen ist die Erborgung damit noch nicht,
und sie wird höchstens wahrscheinlicher, wenn das in mehreren Sprachen
übereinstimmende Wort in der einen lebendig fortwuchert (abgeleitete Wör-
ter erzeugt), in der anderen aber ohne Zeugungskraft und vereinzelt bleibt.
Kommt nun zu den übrigen Verdachtsgründen noch eine Endung, oder ein
Zusatz zur Wurzel, der in der einen Sprache Seltenheit oder etwas Uner-
hörtes, in der anderen gewöhnlich ist: so steht der Ausweisung des Wortes
aus jener wenig oder nichts mehr im Wege (!). Doch ist auch in solchen
Fällen grosse Vorsicht zu empfehlen, da man z.B. in den tungusischen und
selbst in den Turksprachen noch nicht alle möglichen Endungen der Wörter
übersehen kann, und schon die Bekanntschaft mit einem neuen Dialekte
etwas bis dahin fremdartig scheinendes als der Sprache wirklich angehörend
ergeben kann. Bei Vergleichung ostaltai’scher Sprachen mit dem Idiome
o°
der Ostsee-Finnen, darf man in jeder Hinsicht dreister verfahren, weil hier
(') Wenn z.B. im Dialekte der jakutischen Türken amtan Geschmack, dbarachsan
zerstört, chabtasun Brett heisst, so hat man diese Wörter gewiss von den Mongolen er-
borgt; denn 1) sind sie bei den Mongolen in stärkstem Gebrauche; 2) besitzt sie kein
anderer türkischer Dialekt, wenn gleich verwandte Wurzeln nachzuweisen sind; 3) haben
die verwandten Wurzeln bei den Türken eine verschiedene Form; 4) sind die Endungen
tan, chsan, sun den Mongolen geläufig, den Türken aber fremd. Dagegen muss das mon-
golische c%ono übernachten, eine naturalisirte türkische Form sein; denn es ist cAo mit
dem rückwirkenden türkischen n, das bei den Mongolen sonst nicht vorkommt. Im Tür-
kischen hat man ko setzen, niederstellen, und davon abgeleitet: kon sich niederlassen, lo-
giren, wohnen. — Das finnische koz£i (auch kossi) ist das schwedische gosse. $. Seite 290.
Ss?
324 Scuorr über das Altai’sche
eine angenommene Vermischung oder engere Verbindung mit tatarischen
Völkern aller geschichtlichen Begründung entbehren würde (!).
Wenn aber auf der einen Seite nicht jedes ähnliche oder identische
Wort schon die Verwandtschaft der Sprachen darthut: so darf uns auf der
anderen Seite auch die Beobachtung, dafs Wörter für die nothwendigsten
Begriffe in den vier grofsen Familien oft wesentlich verschieden sind, an
ihrer Verwandtschaft nicht irre machen. Denn ein gleiches Ergebnifs stellt
sich heraus, wenn wir anerkannte Schwestersprachen, wo nicht Dialekte,
mit einander vergleichen; vor Allem liefern eines Theils die tungusischen,
anderen Theils die finnischen Sprachen merkwürdige Belege hierzu (?).
Auf wesentliche grammatische Verschiedenheiten in einer und derselben Fa-
milie ist oben schon hingedeutet worden. Was aber die grammatischen Über-
einstimmungen betrifft, so gehören diese überhaupt nicht, oder nur beiläufig,
in die zunächst vorliegende Untersuchung.
Die verglichenen mongolischen und mandsuischen Wörter kann ich
leider nur mit europäischer Schrift drucken lassen, da die Akademie für
beide Sprachen bis jetzt keine Typen hat (?). Das Tschuwaschische, Jaku-
tische, und die Sprachen der östlichen Finnenstäimme werden mit russischen
Buchstaben geschrieben, die der Lappen und Östsee-Finnen bekanntlich
mit europäischen; und ohne Zweifel werden Castren und Reguly bei ihren
Forschungen an dieser Schrift festhalten, da das russische Alphabet, bei al-
len sonstigen Vorzügen, zum treuen Ausdruck des finnisch - tatarischen Laut-
systems, mamentlich was die Abschattungen der Vocale angeht, wenig geeig-
net ist.
(') Dass kleine finnische Völker Sibiriens, gröfstentheils erst in den letzten Jahr-
hunderten, ihre Muttersprache mit der türkischen vertauscht haben, kann hier gar nichts be-
weisen. — In der magyarischen Sprache ist, bei Vergleichung ihres Wörterschatzes mit
dem der türkischen, schon mehr Behutsamkeit nöthig, weil die Ungarn wirklich mit Tür-
kenstämmen vermischt sind.
(2) So z.B. besitzen die Mands’us für Himmel ein ganz anderes Wort als die übri-
gen Tungusen. So begegnen uns in den tungusischen Dialekten drei absolut verschiedene
Wörter für Sonne, u.s.w.
(°) Ein gelindes s schreibe ich [; ein deutsches z, um jedes Missverständniss zu ver-
meiden, zs. Den Laut des französischen j und russischen x, mag er nun isolirt stehen,
oder, wie gewöhnlich, ein d vorangehen, soll s vertreten, derjenige Buchstabe, mit wel-
chem Bopp das sanskritische I ausdrückt. Für dsch findet man also immer ds geschrieben.
Qu
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 32
Selbstlauter.
Eine bedeutende Anzahl Wurzeln erscheint in einer und derselben
finnisch -tatarischen Sprache doppelt, das eine Mal mit starkem und das an-
dere Mal mit schwächerem oder schwachem Vocale, und bald mit, bald ohne
Veränderung der Bedeutung. Auch die Mitlauter sind dann bisweilen, je-
doch unerheblich, verändert. Beispiele aus dem Mongolischen: abu und
ebü (in ebü-ge) Vater, bakdara und bekdere vor Kälte oder vor Entsetzen
erstarren; baki-m und beki fest, dauerhaft; duru grau, und dürü trübe, däm-
merig; gongsi und gengsi durch die Nase reden; churija und kürije umzäunen,
zusammenfassen; chasu zurechtschneiden und kese zerschneiden; sabagha
Stange und sibege Spitzpfahl, Verpfählung; daghus (nicht taghus) und tegüs
fertig machen, vollenden; ztoghori und tegeri umkreisen, umdrehen. — Aus der
Suomisprache: aika Zeit, und ikä Lebensalter; jalka Fufs, und jälke (jälki)
Fufsspur; puuhkia und pöyhkiä beides turgidum, tumidum; onnista und
Önnistä beglücken; tarma und tärmä Körperkraft; zarkka und tärkiä acutum;
tuhma und tyhmä stupidum.
Im Türkischen und Mandsuischen sind solche Erscheinungen seltner.
Beispiele aus ersterer Sprache: oghuf neben öküf Ochse; tangry neben
tenri Himmel; kara schauen, neben kör oder gör sehen (). Lieber be-
zeichnet die Mandstusprache gewisse Gegensätze mit starken oder schwa-
chen Vocalen: chacha männliches Wesen, cheche weibliches; ama Va-
ter, eme Mutter (?); wasi abwärts steigen; wesi aufwärts steigen. Ein
ähnliches Verfahren zeigen uns verwandte Wörter der anderen Sprachfamilien;
nur ist es in diesen erst einem geübteren Blick erkennbar. Dem chacha,
cheche entsprechen mongolisch: acha, türk. agha Oheim und älterer Bruder,
mongolisch eke (für eche) Weib, Mutter. Im Finnischen ist ukko Greis,
Ehemann, und akka Greisin, Ehefrau. An ama schliefst sich das aba, abai,
(') Am häufigsten finden sich stärkere Formen im Dialekte der Tschuwaschen. S.
weiter unten.
(°) Daher auch amcha Schwiegervater und emche Schwiegermutter, ersteres für ama-
cha = mongol. abagha, letzteres für emeche = mongol. emeke Grolsmutter. Andere Ab-
leitungen sind ami-/a männlicher Vogel, und emi-Ze weiblicher Vogel.
326 Scuorr über das Altai'sche
abu Vater und abagha Oheim der Mongolen; eme aber heifst bei Letzteren
Weib überhaupt. Hierher gehört auch türk. „} am weibliches Glied. Da-
gegen ist das türkische »! ebe Grofsmutter und Hebamme offenbar die ge-
schwächte Form des mongolischen aba Vater, wofür die Türken baba sagen.
Die Wurzel wasi hinabsteigen erblicken wir in dem türk. & as-Z Untertheil;
wesi hinansteigen aber in ww! üs-t Obertheil. Wegen der consonantischen
Veränderungen verweise ich auf die Wiederkehr solcher Wörter an passender
Stelle. — Dämpfung oder Schwächung des Vocals drückt übrigens im Tür-
kischen auch selbstständig Gegensätze aus, z.B. ol werden, aber öl verge-
hen, sterben ('); kal bleiben, aber kel oder gel kommen.
In Wörtern der Mandsusprache wechselt imit a, ü, ü, und o, zu-
weilen u mit d&. Beispiele: aibitsi und aibatsi woher? ifi und ufi nähen;
imiacha und umiacha Gewürm; dachi und dachü wiederholen; dalchükan
und dalükan klebrig, zudringlich. — Das Mongolische ist reicher an Vari-
anten. Hier wechselt i mit a, o (u), ü; a mit o (u); e häufig mitü, und
zuweilen mit 0; u. am Ende mit ai; ü mit o. Beispiele: machan und michan
Fleisch; chorighan und choraghan Lamm; utsira, utsara begegnen; schir
und schar Ochse; schirkire und scharkira reissenden Gliederschmerz em-
pfinden (?). Die Verbindung agha wird gern ja und ege, ije: dsajaghan
und dsijaghan Schicksal; büligen und bülijen warm. — udughan und
idughan Zauberei; choso und kiso abschaben; nighon und noghon Knabe;
nicho und nocho kneten, zerreiben; dsoghos und dsogis schluchzen. — bidü-
gün und büdügün dick, grob; elintsek und elüntse (mit ebüge) Urgrofsvater;
nidü und nüdü stossen, stampfen (?). — üdtschi und ebtschi schinden; seike
und süike Ohrgehänge; tümüsün und temesün Feldfrüchte. — obor und
über selbst, eigen. — choral und chorol Versammlung; omak und omok
Stolz; nojan und nojon Herr; choina und choino nachher; aba-Ida und
abu-Ida ringen; kilai und kilui seitwärts blicken, taghos und toghos Pfau;
tarni und torni sich verschönern; kiru-chu und kira-chai scharfsichtig.
(') Im Mongolischen und Finnischen lautet erstere Wurzel ebenfalls 02 (bei den Ma-
gyaren vol); aber letztere ist bei jenen ala, bei diesen kuol (magyarisch Aal) geworden.
Dagegen heifst ö2 im Magyarischen, a/a im Mongol. tödten.
2) Fine Versetzung der Vocale ist wohl in Akıler = chalir schielend anzunehmen.
5
(°) Versetzung der Vocale: glü-ger und güli-ger glatt, glänzend.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 327
Von den bekannten Turksprachen ist die tschuwaschische diejenige,
welche mit Selbstlautern am rücksichtslosesten verfährt. — Ihr a steht für
e, i, ü(t): an hinabsteigen (en); ala Hand (el); bala mit (bile); bar geben
(bir, wer), ka abgehen (kit, git). — i und y findet man für a, e, o, u: simis
Baumfrucht (jemisch); jieys Baum (jyghads, aghads);, ywyl Sohn (oghul);
simarda Ei (jumurta)(?), sywa gesund (sagh, sau). — o undu für a: pos
Kopf (basch); toban flache Hand (Zaban Sohle); ut Pferd (at). Das ö der
übrigen Türken wird bei den Tschuwaschen gern in aw aufgelöst.
Wegfallen kann der Vocal im Mands’uischen nur, wenn zwei Wörter,
deren erstes auf einen Vocal auslautet und das andere mit einem solchen an-
lautet, zu einem zusammengesetzten Worte sich vereinigen. Beispiele: Säug-
amme heifst meme enie (wörtlich Brustmutter), und memenie, der Mann der-
selben, meme ama (Brustvater) und memema. Hintere Gegend (Norden)
sollte ama ergi heifsen, man sagt aber nur amargi. Im ersten Compositum
ist also eines der beiden e, im anderen das a, und im dritten das e ausgewor-
fen; denn die Sprache duldet kein e+a oder a-+e, auch keine Wiederholung
desselben Vocales (00 ausgenommen). Da nun Assimilation und Zusam-
menziehung ihr fremd sind, so wird jedes Mal der zweite der beiden Vocale
preifsgegeben (°).
Im Mongolischen finden wir zuweilen, ob anscheinend unnöthiger
Ausstofsung eines Vocals in der Mitte die Wortform verkürzt und verhärtet,
z.B. cholgi statt chologo Ohrenschmalz; nighorsun statt noghorasun Rük-
kenmark; changchu (für chanchu) neben chanuchu befriedigt sein; songchu
(für sonchu) neben sonochu sich strecken. Selbst das Wegfallen anlauten-
der Vocale ist nicht ohne Beispiel: ınan findet Zsüken wenig, ütsüken klein. —
(') Was ich in Parenthese setze, ist die gewöhnliche türkische Wortform. — We-
gen der veränderten Mitlauter mufs ich auf andere Abschnitte verweisen.
(?) Bei den Jakuten symyt. Überhaupt treten im Jakutischen das dumpfe und das
helle i gern an die Stelle von a: y/ nehmen (a2); yt werfen, schielsen (at); yi Mond (ai);
si! Speichel (ja2); sidirdach Blatt (japrak).
(°) Die anderen tungusischen Sprachen haben, wie ich schon angedeutet, ein viel
reicheres vocalisches und consonantisches Leben, und manches mands’uische Wort ist als
eine von früheren Lautrevolutionen übriggebliebene Schlacke zu betrachten. Man ver-
gleiche z. B. schun die Sonne, mit dem tungus. schiggun oder schiwun; duin vier, mit
disgin, dygin, dügün. Selbst die, sonst in dem ganzen finnisch -tatarischen Sprachenge-
schlecht heimischen Vocale ö und ü sind für die Mands’usprache verloren.
328 Scnuorr über das Altai’sche
Wenn im Mongolischen ein Kehllaut zwischen zwei Vocalen ausfällt, und
die beiden Vocale sind identisch, so schreibt man im Ostmongolischen
ausnahmsweise, im Westmongolischen (Kalmykischen) aber ohne Ausnahme
nur einen Vocal, der alsdann etwas gedehnt wird. Ich begnüge mich mit
den wenigen Beispielen aus ersterem Dialekte, die das Wörterbuch enthält:
jagha-kin und ja-kin (was thuend?) auf welche Weise? baraghalcha und
baralcha Audienz haben; dsegerte und dserte (morin), vothes Pferd; bigir
und dir Pinsel. In südam für sigidam Stock, sind die beiden Vocale ge-
blieben, und in zeire für tigire ist das erste i sogar e geworden. Sind die
beiden Vocale verschieden, so fällt der erste entweder aus, oder assimilirt
sich dem zweiten: daher findet man gün (für geün) neben gegün Stute; aber
egülen Wolke wird öülen, köbegün Sohn, köwöün; (1) naghor See, noor.
Die türkische Sprachenfamilie hat in ihren gebildetsten Mundarten
weit mehr consonantische Endungen als alle übrigen. Während der Mandsu,
sofern er nicht blofse Schälle und Klänge wiedergiebt, von allen Mitlautern
nur das n als Auslaut duldet, und jede auf einen Mitlauter endende Ver-
balwurzel, selbst wenn er n ist, durch einen Vocal mit ihren Zusätzen ver-
bindet, duldet der Türke sogar zwei vocallose Consonanten als Auslaute (?).
So kalk aufstehen, kork fürchten, im Infinitive kalk-mak, kork-mak; bords
Anleihe, Schuld; bords -Iu Schuldner; bords -lan-mak Schulden machen.
Doch scheint dabei nothwendige Bedingung, dass der erste der beiden Mit-
lauter r oder Z sei. Auch hört man die Türken mittelst Einschiebung ei-
nes halben, dem vorhergehenden analogen Vocales die Aussprache mildern,
z.B. borüds für bords, kyryk vierzig, für kyrk. In manchem Worte giebt
sich der zweite ganze Vocal als eingeschoben zu erkennen, da er immer weg-
fällt, wenn der grammatische Zusatz mit einem Vocale anfängt. So sagt
(‘) Im Mongolischen assimiliren sich e und i einem folgenden ü auch wenn der da-
zwischen stehende Consonant nicht Guttural ist und bleiben mufs. So schreibt und
spricht der Kalmyk ömüskü, förüken, schüdün, für emüskü (anziehen, von Kleidern), dsi-
rüken (Herz), schidun (Zahn). Vgl. S. 326.
(?2) Das Mongolische widerstrebt immer zwei Consonanten am Schlufs einer Silbe
und eines Wortes; und überhaupt kommen nur n, ng, k, m, I, r, d, s, als Auslaute ganzer
Wörter vor, niemals sch, isch, ds, was doch bei den Türken so gewöhnlich. In der Mitte
der Wörter dürfen aber, wenn zu zwei Silben gehörend, selbst % und c} zusammen sto-
fsen, z.B. asak-chu fragen. Dies ist den Türken fremd.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 329
man oghul Sohn, oghul-dan vom Sohne; aber oghlun des Sohnes, oghlu
sein Sohn, u.s.w. Im Tschuwaschischen finden wir einzelne noch härtere
Häufungen als die Turksprachen sonst zu gestatten pflegen, z.B. schochsch
mens, cogitatio, schochschlas gedacht werden; im Ganzen aber neigt sich
diese Sprache mehr zur Milderung der Endungen, vor Allem durch über-
hangende Vocale, z.B. uga Pfeil (0%), jida Hund (it), sywa gesund (sagh),
wonna zehn (on), wisse drei (ütsch), dwatta vier (dört), ja sie wirft ein
schliessendes.k gern ab, um das Wort mit einem Vocal auslauten zu lassen.
Zur Assimilation der Vocale giebt sich das Türkische nicht so gern
her, wie die mongolischen Dialekte; und Zusammenziehung von Vocalen ist
gar nicht gestattet(!). Das merkwürdigste Beispiel ersterer Art zeigen uns die
Vocale o und v in den persönlichen Deutwörtern o jener, er, bu dieser,
schu jener dort, wenn sie, mit ile (der Instrumentalpartikel) vereinigt, Um-
standswörter in der Bedeutung auf diese oder jene Weise, so, solcher-
gestalt, bilden. Den sonstigen Gesetzen des Einklanges der Selbstlauter
gemäss müsste das 7 von le, als der schwächere Vocal, dem vorangehenden
stärkeren sich anbequemend, entweder u oder wenigstens dumpfes y wer-
den. Allein es erfolgt das Umgekehrte: die starken Vocale o und u schwä-
chen sich, dem zu Gefallen, und werden üö oder gewöhnlicher ö, man sagt
öile und böile, schöile (büile, schüile),. — Ein Kehllaut (gh, g) zwischen
zwei Vocalen geht entweder verloren, oder wird sehr erweicht; allein die
Vocale selbst bleiben unverändert, und Keiner von Beiden fällt aus, selbst
wenn sie identisch sind. So hört man im gemeinen Leben das Wort jigirmi
zwanzig, jäörmi sprechen; g ist unhörbar geworden, aber die beiden i ste-
hen unberührt, und sind nach einander deutlich vernehmbar. Für oghul
Sohn sagt man im gemeinen Leben oul, und für aghyf Mund, ayf, auf,
oder lieber ou/; dem Doppellaut au wird nämlich gern ausgewichen, es
sei denn, dass u die Stelle eines gAh verträte, wie z. B. in sau für sagh ge-
sund, Zau für tagh Berg, aury für aghry schwer (?).
(') In meiner Abhandlung De Lingua Tschuwaschorum (Berlin 1842), S.9, habe ich
gewils mit Unrecht angenommen, dieses Volk besitze in seinem aw, wenn es dem son-
stigen türkischen ö entspricht, die primitive Form. Es ist eine blofse Auflösung des ö.
S. weiter unten.
() Eben so kommt in Mundarten des Finnischen statt eines (in der Mitte) die Silbe
schliefsenden A (ch) oder % der Vocal u zu stehen. Beispiele: aura neben ahra Pflug;
Philos. - histor. Kl. 1847. Tt
330 Scnorr über das Altai’sche
In den Sprachen der Ostsee-Finnen waltet das üppigste vocalische
Leben. Diese sind, wenn man alle Mundarten zusammenfasst, mit den
mannigfachsten Diphthonggen reicher ausgestattet, als wohl überhaupt eine
Sprache unserer Erde; und wenn ja eine Vocalverbindung in der einen Mund-
art unverträglich ist, so gestattet sie wenigstens eine andere. Mitlauter die
zwischen zwei einander gleichen Vocalen aus Gründen des lautlichen Gleich-
gewichtes ausgefallen sind, können die Nachwirkung haben, dafs man beide
Selbstlauter getrennt spricht, wie wir oben in dem türkischen jiirmi für jügirmi
gesehen haben; gewöhnlich aber werden sie zu einem langen Vocale ver-
einigt (1). Ausserdem besitzt die finnische Sprache von Natur lange Vocale,
jedoch, wie Euren bemerkt, nur in der Wurzelsilbe (?); in den folgenden
Silben verdanken sie alle einer Zusammenziehung ihr Dasein. Gewisse Mund-
arten lösen selbst von Natur lange Vocale in Diphthonggen auf. Wenn ob
Wegfallens eines Consonanten drei Vocale zusammentreffen sollten, giebt man
gern, des Wohllauts wegen, den Ersten Preifs, oder umgeht den Triphthong-
gen auf andere Weise. Inmitten der Wörter können auch einzelne Vocale
dialektisch ausgeworfen werden, z.B. waska für wasikka Kalb; ruska für ru-
sikka Faust. Vocalische Endungen sind besonders in der Suomi- Sprache
überwiegend, und zeigt sie in diesem Punkte mehr Empfindlichkeit als die
Mongolische, wenn auch lange nicht so viel wie die Mandsuische. Ich bleibe
bei diesen kurzen Andeutungen stehen, da das Lautsystem der Östsee-Finnen
von mehreren einheimischen Gelehrten meisterhaft entwickelt worden ist.
Die magyarische Sprache zeigt uns in Ansehung der Vocale weit eher
eine gewisse Erstarrung. Sie hasst die Doppellaute, wie Kellgren sehr rich-
tig sagt; nur kann ich in seine fernere Bemerkung, dafs sie lange Vocale
weniger liebe, als die finnische, nicht einstimmen (?). Dem Zusammenstofs
taula neben zakla Zunder; paula neben pakla Schnur u.s.w. Der zweite Consonant scheint
in solchem Falle Z2 oder r sein zu müssen.
(') Der lange Vocal wird im Finnischen immer durch Verdoppelung ausgedrückt, im
Magyarischen durch das scharfe Tonzeichen: so ist puut = püt, fak = fük. Da beide
Sprachen mit unseren Buchstaben geschrieben werden, so habe ich auch ihre Orthographie
beibehalten müssen.
(?) Lärobok i Finska Spräket, S.5: „En lang vokal eller diftong kan icke ursprung-
ligen förekomma längre fram i ordet än dess första stafvelse. Der annorlunda skulle
synas, har man alt söka grunden i sammandragning af tvenne enkla vocaler.””
(°) S. dessen Grundzüge der finnischen Sprache, S. 8. Ich möchte vielmehr wissen,
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 831
dreier Consonanten wird durch eingeschobene Vocale ausgewichen, z.B.
‚Forogni für forgni sich umdrehen, und umgekehrt verschwindet ein kurzer
Vocal der zweiten geschlossenen Silbe in gewissen Nennwörtern vor gramma-
tischen Zusätzen die mit Vocalen anfangen, z.B. torok Kehle, Objectsfall
torkot, Mehrzahl torkok. Ein Theil der langen Vocale ist nachweislich
aus Diphthonggen entstanden, oder vielmehr aus einem kurzen Vocal und
einem Halbvocale; denn sobald noch ein Selbstlauter hinzutritt, lösen sie
sich wieder in ihre Elemente auf, z. B. fo Kopf, aber fej-em mein Kopf;
ho Monat, aber har-i monatlich; Io Pferd, lov-ak Pferde; jo kommen,
jöv-ök ich komme (!). Auslautende kurze Selbstlauter, mögen sie nun wur-
zelhaft sein oder nicht, werden durch Bildungszusätze lang; dagegen ver-
kürzen sich die langen Vocale der letzten geschlossenen Silbe einiger Wörter
unter gleichen Bedingungen: Zerel Blatt hat in der Mehrzahl levelek, während
das schon kurze zweite e in lelek Seele (vgl. torok) ganz weichen muss (Mehr-
zahl lelkek).
Die türkische Sprache widersteht langen Vocalen in solchem Grade,
dafs der Osmane im gemeinen Leben sogar die Längen in Wörtern jeder an-
deren Sprache, selbst das Arabische nicht ausgenommen, verkürzt. Eine
gewisse Dehnung bemerke ich nur, wenn ein gA am Ende eines Wortes in u
zerfliesst; sie ist hier als Nachwirkung des Mitlauters zu betrachten. Unter
den tungusischen Stämmen haben, so scheint es, nur die Mandsus einen
langen Selbstlauter; es ist derjenige, den man bis jetzt bald 6, bald & ge-
schrieben. In dem Verzeichnisse aller möglichen Silben dieser Sprache,
welches dem grofsen Wörterbuche Nonggime toktobucha Mandsu -i Gisun-i
welches Idiom unserer Erde den langen Vocal noch mehr lieben sollte, als eben die magya-
rische Sprache, in der das längste Wort alle seine Selbstlauter lang haben kann, was im
Finnischen unmöglich. Nichts verletzt das Ohr eines Magyaren mehr, als wenn der Aus-
länder eine Länge dieser Sprache aus Bequemlichkeit verkürzt, auch wenn die Bedeutung
dadurch nicht eine andere wird. Fällt manche Dehnung des Finnischen in einem ent-
sprechenden ungarischen Worte hinweg, so.ist es auch oft gerade umgekehrt; und ausser-
dem besitzen die Ungarn ihre ganz selbstständigen Regeln der Dehnung, welche dem
langen Vocale Thor und Thür öffnen.
(') Obschon die Tschuwaschen statt des ö der übrigen Türken aw oder wa haben,
z.B. awd = öt singen, awang = öng oder ön Vordertheil, kwak = gök himmelblau: so
muls man dergleichen Formen doch nicht für primitiv halten; denn in keiner verwandten
Sprache haben die entsprechenden Wörter andere als einfache Vocale.
10
332 Scuortr über das Altai’sche
Buleku Bitche (Vermehrtes und verbessertes Spiegelbuch der Mands’uspra-
che) vorangeht, wird dieser Vocal mit o bezeichnet; im Wörterbuche selbst
aber vertritt ihn bei jeder chinesischen Umschreibung erklärter Wörter, in
denen er vorkommt, das Zeichen Am dessen Aussprache &, also ein rei-
nes langes w ist ('). Vielleicht hält er die Mitte zwischen beiden Vocalen,
wie gewöhnlich das o der Schweden. Man findet diesen Laut sowohl in
Wurzeln als in Bildungszusätzen.
* *
*
Es giebt eine Anzahl Kernwörter, die, wenn sie auch in allen Fami-
lien und in den vornehmsten Sprachen des grofsen Geschlechtes wiederkeh-
ren, immer nur mit einem Vocale anlauten. Aber schon in einer und derselben
Familie, ja in einer und derselben Sprache finden wir auch, dafs ein betref-
fendes Wort bald einen Vocal, bald einen Consonanten vor dem Vocale zum
Anlaut hat; und diese Erscheinung wiederholt sich noch öfter, wenn wir
Wurzeln verschiedener Familien mit einander vergleichen. In Dialekten des
Tungusischen begegnen uns guio und Auta neben uzu Sohn; kularin und
cholarin neben ularin roth; chukito und ukyt Bauch; chalgan, halgar und
algan Fuls; higgin, sugi und ui Sturm; nongokon und unukan, onkan Fül-
len; tauschakki und uschkan Hase. Das tungusische Wort chosega Stern
lautet bei den Mands’us usicha; ninakin Hund wird im mandsuischen inda-
chün; nitschikon klein, adsige, emanda oder imanna Schnee, nimanggi.
In der Mandsusprache selber haben wir ubali neben käbuli verwandeln.
Beispiele aus dem Mongolischen: imaghan und nimaghan Ziege; iütara und
niltara sich ablösen oder schinden (von der Haut); aidanggoi und naidanggoi
Lüsternheit; zergen Räderwagen und ergi sich umdrehen. Aus dem Türki-
schen: Si jefek neben «S4.} ipek Faden; „Wu jyghads neben „Li aghads
(') Unter den heutigen Mands’us in China darf die ächte Aussprache des Mands’ui-
schen wohl nicht mehr gesucht werden, da für sie, wie für die im eigentlichen China
angesessenen Mongolen, schon lange das Chinesische Muttersprache geworden ist. Sie
lernen die Sprachen ihrer Väter wie fremde Idiome: Ymo kacaemes 10 Mansuxyporn u
Mouro.10B6 — sagt Pater Hyacinth — aueyımx& euympn Kumas, onnu Aasıo 3a6sLım
cBoü POAHLIe A3bIEH, H HbIHb OÖyualomıca OHBIMBb Kakb HHOCHPAHHLIMG A3bIKaMmB.
S. dessen Statistische Beschreibung Chinas, Theil 1, S. 55.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 333
Baum; „es jughu und s&,} ughu, auch „5 kuju und 2s} uju (ss) ui sich an-
hängen, ansetzen, gerinnen; st enek und &>tschene Kinn; „ap, 3 kap,
ol jap und ol> tschap falsen, mit Gewalt nehmen; &,! öp und bei den Tschu-
waschen Zschöp küfsen; sl! umak und &= sümük Knochen. Die Tschu-
waschen sprechen jat (Name) für >) ad; jida (Hund) für wit; jut (Fleisch)
für @! et; jiwyr schwer für 2) aghyr oder awyr. Der Halbvocal w kann als
Anlaut gewisser türkischer Wörter stehen und wegfallen, z.B. wur und ur
tödten; er ist bei den Tschuwaschen vorzugsweise beliebt: wot Feuer =)
od; wul jener = Js! ul, ol; wonna zehn = .,! won, on; wisse drei = <>
ütsch (1). Das anlautende s der meisten Türkenstämme vermifsen wir sehr
häufig im jakutischen Dialekte: agys acht = ;& sekif; as Haar = „w satsch;
aty Verkauf = ilo saly; emis fett = ;w semif; en du = m sen; is ihr = zw
sif; ingir Faden = X sinir Nerv; u Wasser = yo su. Vergl. oben umak Kno-
chen (auch bei den Jakuten ungoch) und das Hereibelleurände sümük (sün-
gük). In der Suomisprache finden wir hieno neben eino weich, fein, hilkku
neben ilkku leinenes Kopfzeug; iyppy-rä neben hyppy-lä und ypä-let oder
ypy-Ikö Hügel; pölwästi neben ölwästi stupide. Maus heifst ostjakisch Zen-
gir und magyarisch eger (für enger); säugen heifst lappisch niam und fin-
nisch em.
Doch finden wir auch Wörter, die sich, wie die angeführten, haupt-
sächlich durch Abwesenheit oder Anwesenheit eines consonantischen Anlauts
unterscheiden, ihrer Bedeutung nach mehr oder weniger verschieden, wenn
gleich verwandt. So ist im Mongolischen arisun Haut, Fell, aber sarisun
gegerbtes Leder — in der Mandstusprache adsige klein, aber madsige wenig;
namu Meer, und omo See (lacus); asicha Flügel und gas'cha Vogel (?); arfa
und murfa zwei Arten Gerste (°).
(') Das türkische ö löst sich, wie wir schon oben gesehen, bei den Tschuwaschen in
aw oder, wenn es nicht Anlaut, in wz auf; doch finden wir auch wa und zuweilen wi als
Anlaut für ö, z.B. wat = Sy) öd Galle; wi! = Je} öl sterben. In verwandten Sprachen
ist der Vocal immer einfach, z.B. mands’. ungg@ und onggo, mongol. öni Vorderseite,
türkisch öng, ön, aber tschuwaschisch awang, was mit dem französischen avanz lächer-
lich übereinkommt.
(°) Ein ’ zwischen s und c% schreibe ich, wenn die beiden Mitlauter kein deutsches
sch bilden, sondern getrennt zu sprechen sind wie das sc” der Holländer.
(°) Bei den Türken ist &3)! arpa und bei den Mongolen erdai Gerste überhaupt.
334 Scuorr über das Altai’sche
Ein Theil dieser consonantischen Anlaute sind noch jetzt blofse Hau-
che und Halbvocale; andere sind aus Hauchen oder Halbvocalen durch Er-
härtung die entsprechenden ganzen Mitlauter geworden oder in ganze Mitlau-
ter verwandter Art übergegangen. Der gelindeste Lippenlaut w konnte in
f p, m sich erhärten, der gelinde Hauch A in ch, k, j, eben so in das ver-
wandte s ('); und die einmal ausgebildeten Mitlauter waren dann wieder
der Metamorphose unterworfen: %k quetschte sich zu isch, s plattete sich
unter Umständen zu zZ ab. Auch j wurde leichtlich s, noch leichter ds,
möglicher Weise d, oder das härtere z. In gewissen Fällen verdankte Jod
wohl seine Existenz einem älteren 7 (rn), und dieses wieder die seinige ei-
nem ng oder besser, einem weit feineren Laute, wie ihn z.B. die Araber
in ihrem g besitzen und der auch geradezu n ward.
Wenn in einer tatarischen Sprache bisweilen ein und dasselbe Wort
mit m oder s anlautet, zwei Consonanten die doch unmöglich aus einander
entstehen können, so scheint mir das Räthsel in der Entstehung des m und s
aus Hauchen seine beste Lösung zu finden. Bei den östlichen Türken hat
man sanglai und manglai Stirn, bei den Mandsus menteche und daneben
senteche zahnlos. Nehmen wir an, die ältesten Formen seien respective
anglai und enteche gewesen, so sprach etwa der eine Volkstamm vor dem
Vocale einen schärferen, mehr der Kehle angehörenden Spiritus, der andere
einen gelinderen, bei dessen Formung die Lippen mehr sich betheiligten.
Wegen ihrer Zartheit und Feinheit waren beide Spiritus einander so nahe
verwandt, dafs sie fast verwechselt werden konnten; allein mit der Zeit gin-
gen sie, indem jeder zu einem bestimmten Organe sich hielt, ihre eignen
Wege, und wurden, zu Mitlautern sich erhärtend, einander vollständig
entfremdet.
Ich will nun die von mir ausgewählten Beispiele von Wurzeln dieser
ö
Classe so ordnen, dafs das Einartige nach Möglichkeit bei einander steht.
=5E. z0
Murfa wird im Buleku Bitche (B. 28, Bl. 31) mit 2) A ising-ko, wörtlich dun-
kelfarbiges, schwärzliches Getreide, übersetzt.
(') Ein vermittelndes % wird man nicht entbehren können, um das anlautende s tür-
kischer Wörter zu erklären, die im heutigen Jakutischen mit einem blofsen Vocale anfangen.
In den Mundarten der lebensvollen Suomisprache sehen wir noch s aus % entstehen, z.B.
himiä und simiä dämmerig, dunkel (jakut. im Dämmerung).
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 335
Wenn, was häufig vorkommen dürfte, Wörter, die ich hier nur hinsichtlich
ihrer Anlaute vergleiche, noch in anderer Beziehung merkwürdige Lautver-
änderungen darbieten, so komme ich in einem anderen Abschnitte auf die-
selben zurück, und betrachte sie dann nur von dieser Seite.
Das einfache % fehlt ursprünglich, wie den Mandsus und Mongolen,
so auch den Türken, oder es ist bei diesen Völkern schon längst, bald ein
rauhes und starkes ch, bald (vergl. oben) ein s geworden. Die Sprache der
Östsee-Finnen zeigt uns manche mit Ah, k anlautende Wurzel, die in anderen
Idiomen des Geschlechtes den Halbvocal j, # oder einen blossen Selbstlauter
zum Anlaut hat, aber auch umgekehrt. Beispiele:
Finnisch huja Fassungsvermögen, Intelligenz, verw. mit aju Hirn,
Verstand, und begreifen, einsehen; aiwo Schlafbein, Gehirn (aiwoinen mies
weiser Mann)(!). — Mongol. 0ojo-n Geist, oi-la sich merken (?). — Ost-
türkisch (s»! ui Gedanke, wi-la denken; jakut. öi Verstand.
Finnisch Aawa erwachen. — Türk. ‚u wja-r und „‚u} uja-n das-
selbe. Heifst eigentlich zum Bewusstsein kommen, und ist also gewifs von
dem vorigen abgeleitet, daher die Wurzel im Türkischen nur um das bei-
gegebene a abweicht; denn r und n sind Zusätze, von denen ersterer ein
Werden, letzterer eine Rückwirkung andeutet.
Finn. halja warm, lappisch uljo Wärme. — Türk. je und Li il.
Finn. haisu Geruch. — Osttürkisch u} is Dunst, Geruch (guter und
schlechter), Hauch, Geist, Verstand; ;»je/Gestank. Osmanisch vos! us Geist
und (»' es wehen (?). Tschuwasch. us und a/, Verstand. — Magyarisch &sz.
Finnisch Aymy lächeln. — Osttürk. \.x. jemi (*).— Mongol. inije
lachen. Tungusisch inja, ine, insi, indse, intschi. — Magyar. nevet lachen,
für inwet, injet.
(') Lapp. ist diwe geradezu Kopf.
(*2) Damit stimmt unter den finnischen Formen die mordwinische oi-me Geist.
(°) Da das osttürkische is, wie wir gesehen, neben dem Göttlichen in uns, dem
Geiste, auch etwas so materielles wie einen schlechten Geruch bedeuten kann, so trage
ich kein Bedenken, das osmanische ao) usu-r pedere auf die Wurzel s zurückzufüh-
ren, welche gewiss ehemals alle Bedeutungen von is in sich vereinigt hat.
(*) Koreanisch örn lachen.
336 Scuorr über das Altai'sche
Finn. hämy und himu Dämmerung, himi Dunkelheit; Aämä dunkel
machen. An him schliefst sich das jakutische im Abendröthe (finnisch hä-
märä, ehstnisch ämmarik); an häm aber das mandsuischejam-dsi Abend (!).
Finn. häet fortstossen, fortjagen. — Mongol. it-cha. — Türk. ws}
it, z.B. in id-il gestofsen werden.
Finn. kukka zu Grunde richten, Aukku zu Grunde gehen. — Man-
dsuisch guku vertilgt werden, sterben. — Im Mongolischen unterscheidet
man zwischen üök verderben und ükü sterben, indem das erstere ohne über-
hängenden Vocal bleibt. — Dieselbe Wurzel erkenne ich ferner in dem tür-
kischen (342 jyk zerstören, jyk-yl zerstört werden. — Das lappische jawka
verlieren hat die nächste Lautverwandtschaft mit dem türkischen 3, jok
nicht-sein, nicht, nein, welches überhaupt, im Vereine mit dem gleichbe-
deutenden mongolischen ügej und mandsuischen akü, den angeführten Wur-
zeln des Verderbens, Zerstörens, Sterbens sehr passend sich anreiht(?). Die
östlichen Türken gebrauchen zudem ihr Nö, jok-Za im Sinne von zu Grunde
gehen. Auch umschreiben der Mongole und der Mandsu den Begriff ster-
ben gern mit ügej bolchu, akü ome d.i. zu Nichts werden (°).
Finn. hawi nachhaschen, eilig nachstreben, ist vielleicht das mongo-
lische awa Treibjagd, awa-la Treibjagd halten, türk. „) aw, Ss) aw-la.
Das türkische iwet eilen wird besser mit jouz (s.w.u.) zusammengebracht.
Finn. hiukse (hius) Kopfhaar. Eine Vergleichung dieses Wortes mit
dem mongolischen üsü wird mir noch hingehen; aber gegen das türkische
ir satsch dürfte wohl mancher sich empören. Doch finden wir schon im
Dialekte der Jakuten as, und ein Übergang dieser Form in satsch war ohne
Vermittelung eines Hauches nicht denkbar; es muss also has existirt haben.
Die Tschuwaschen sagen süs, und sonach wär’ es gar nicht auffallend, wenn
in irgend einem anderen türkischen Dialekte üs oder hüs sich fände. Die
(‘) Japanisch jarni dunkel. Auch das gleichbedeutende chinesische Wort > in lautet
in Dialekten im und jam.
(2) Es kann niemand entgehen, dass jok dem türk. jyk befreundeter ist, und ügej
dem mongol. ük, ükü.
(°) Mongol. mükü und mands’uisch mukie zerstört, vernichtet, besiegt sein, gehö-
ren wohl auch hierher; das m ist aber natürlich aus einem anderen Spiritus entstanden.
Vergl. was ich oben zu menieche und senteche bemerkt habe.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 337
Verwandtschaft mit dem finnischen Worte unterliegt also kaum noch einem
Zweifel. Das magyarische haj kommt dem nothwendig angenommenen türk.
has zunächst; denn j und s gehen in einander über.
Finn. Aöiri Maus. Die Verwandtschaft dieses Wortes mit dem magy-
arischen eger wird durch Vergleichung mit den entsprechenden tungusischen
und mongolischen Wörtern am besten sich ergeben. Im Mandsuischen haben
wir singgeri, an welche Form zunächst die Lappische, snjera (für sinjera,
singgera) sich anschliefst. Das schon bei den Lappen zu nj erweichte ng
hat in der Suomisprache nur noch in der Verlängerung des Vocales (ii für i)
eine Spur hinterlassen und s ist 7 geworden (!). Dagegen behauptet sich der
Sauselaut wieder in dem türkischen „L=w sitschan, das offenbar für sir-
ischan steht, und dessen Endung mit dem Zscha des lappischen Verkleine-
rungswortes snjera-tscha Mäuschen zu vergleichen ist (?). Die Türken ha-
ben sich also hier die kühnste Verstümmelung erlaubt, eben so in dem ost-
türkischen „3! ir-lan Ratte, wo s weggefallen und nur r bewahrt ist; ir
steht für ingir, inir, igir, und bietet also dem magyarischen eger die Hand,
welches zunächst aus enger, henger entstanden sein mag.
Finn. härkä Ochse. Das Ah dieses Wortes ist nur noch in dem tun-
gusischen hAukur zu finden, welches aber auch kukur, ukur und örgö (für
ögör) lautet. Die Türken haben eine stärkere Form ; s&,i oghuf (für oghur)
und eine schwächere ;,i öküf (für ökür). Bei den Magyaren ist ökör der
Ochse, bei den Mongolen üker das Rindvieh überhaupt. Man sieht dass
nur die Türken dem ursprünglichen schliefsenden 7 ihr beliebtes / substituirt
haben und dass dieses 7 nur bei den Finnen und in einem tungusischen
Dialekte vor X steht.
Finn. kala Fisch. Dieses Wort behält seinen gutturalen Anlaut in
näher verwandten Sprachen, z.B. magyarisch hal, ostjakisch chul, mord-
winisch kalt; ferner in dem zusammengesetzten mongolischen und osttürki-
schen Namen des Fischadlers, chalu mergen und „+ Jö kalmergen, dessen
(‘) Für Züri könnte eine finnische Mundart sehr wohl süiri besitzen; vergl. kimiä und
simiä dämmerig, dunkel.
(?) Die Tschuwaschen haben schisi Maus und serfi Fledermaus. Im letzteren Worte
könnte ser eine Ausbeinung von singgeri sein, wie sir in sir-tschan = si-tschan; denn
mit einer Wurzel des Fliegens oder Flatterns hat dieses Wort nichts zu thun.
Philos. histor. Kl. 1847. Uu
338 Scuorr über das Altai'sche
erstes Wort mir Fisch zu bedeuten scheint (1). Ohne Anlaut finden wir das
Wort noch bei den Tungusen (aufser den Mandsus) wieder, wo es aldo,
olda, olla, auch wohl alla lautet. Hier sehen wir ein d hinter /, das sich
letzterem auch assimilirt, und welches unter den finnischen Völkern noch
bei den Mordwinen in der Form kalt sich erhalten hat. Die Bedeutung ist
wohl glatt, dessen Wurzel im Mongolischen chal und in der Suomisprache
kalja lautet.
Finn. kartu anwachsen, sich mehren. — Türk. Pl art-yr dasselbe;
(5) art-yk darüber hinaus, mehr, im Übrigen. — Mongol. ghadana hin-
aus, aufserdem, ausser, steht offenbar für gkardana, und ist unmittelbar
von gharda übertroffen werden, zurückbleiben, dem wieder ghar hinaus-
gehen, übertreffen, den Vorsprung abgewinnen zum Grunde liegt. |
Finn. kolka heftig schlagen; Schrecken einjagen. — Mongol. cholcho-
ldsa durch Schrecken des Verstandes berauben. — Türk. 5, #3 kork fürch-
ten und daneben 8,,) örk erschrecken. — Mands. olcho fürchten, wozu
sich örk nur wie eine geschwächte Form verhält; daneben aber auch golo
und gele, näher bei kork. — Am meisten erweicht ist das mongolische uuli
sich fürchten, erschrecken, zagen. — Vergl. weiter unten ein sehr ähnliches
Verhältniss von choorai, koru und olchon trocken.
Finnisch kope hochmüthig sein. Ehstnisch kobro aufwallen, schäu-
men. — Türk. „is 5 kob-schu aufgeblasen, ‚5 köbür anschwellen, SS
köp-ük Schaum (?); ‚u5 kabar Blasen bilden, aufsieden, „,u3 kabary Schwie-
le. — Mongol. chaba-ngga Hautgeschwulst. — Lappisch köppal, kappal
u.s. w. Blase, Blatter (?). — Ohne den gutturalen Anlaut zeigt sich uns nur
obo in dem mandsuischen Worte obo-nggi Schaum.
Finnisch koho Anschwellung, aufgeblähter Zustand, Schaum, und
als Verbalwurzel schwellen, sprudeln, schäumen; kuh-lo und kuh-mo Ge-
schwulst, Beule; kiuah-mi Schaum; köykkä kleiner Hügel, Anschwellung
(') Das Ganze bedeutet dann Fischjäger, da mergen von guten Schützen ge-
sagt wird.
(?) Wahrscheinlich ist auch das türkische = „5 köpri, köprü Brücke hierher zu zie-
hen. Vergl. die folgende Wurzel. — Aus dem Mongolischen kann man auch ghordi An-
höhe vergleichen.
(°) Das mongolische Wort chadar Nase kommt mit kabar u. s. w. gewiss nicht blols
zufällig überein. — Vgl. noch mongol. chabud schwellen, chadudar Geschwulst.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 339
des Bodens. — Ferner gehören hierher: koko Gröfse, Statur, kokas-tella
das Haupt erheben u.s.w. Magyarisch gögös hoffährtig. Aus der mongo-
lischen Sprache erwähne ich: küke anschwellen, sich heben; kükün weibli-
che Brüste; küke-sün Schaum; küker-ge Blasebalg (von seinem Anschwel-
len), kük -tü- gür Hochland; kükür -ge Brücke (vergl. das türkische kö-
prü), u.s.w. — In der Mandsusprache haben wir kuche dick und fett
(geschwollen); guk-de-chun Anhöhe, kuk-duri Lobpreisung, Schmeichelei
(Hochmachung); in ihren tungusischen Schwestern aber guk-da, gog-da,
guu-dan, gu-dan hoch, und hok-dinga, hag-dinga grols; daneben auch,
ohne den consonantischen Anlaut und mit verschiedenen Vocalen: ok-di,
ög-dson, eg-dsan. — In den Turksprachen beginnt die Wurzel mit k, j
oder blofsem Vocale. Beispiele: 5 kökü-f oder göjü/ Brust überhaupt
(von ihrer Erhöhung); kügen Schaum (im Jakutischen); jok und jük in
> joka-ry Obertheil, »,&,2 jokar-da oben; > jok-usch Hügel; us
jük-sek hoch. Zu den verweichlichten Formen ög, eg, jük der Tungusen
und Türken steuert auch das Mongolische in öke-de aufwärts, jeke grofs (jeker-
ge stolz, eingebildet sein); und endlich besitzen auch die Türken ihr ög,
aber nur in figürlicher Bedeutung: es heifst rühmen (grofs machen), und
die rückwirkende Form ., 5»! ögün sich selbst rühmen, prahlen (!). Diesem
entspricht wieder das finnische öyhkä.
Finn. kopio, kope-ra, kowe-ra, auch komo leer, hohl. — Finnisch und
türkisch 1,5 koda Höhle, womit das mongolische ghaba Grube zu verglei-
chen. Dieselbe Wurzel hat den Vocal y in &3 und seiner Verkleinerungs-
form sl=43 kyp-tschak, deren Anlaut nach Abulghasi auch gequetscht
wird (?).— An das finnische komo reihen sich die mandsuischen Formen
—
(') Zu diesem Artikel vergleiche man noch das chinesische — kao hoch. — Ver-
wandt in Form und Bedeutung sind auch finnisch-tatarische Formen die p und m zu An-
lauten haben. — Zu dem türk. U&sÖs2 gehört finnisch jukko Rasenhügel.
(?) Er sagt an derj. Stelle wo vom Ursprunge des Namens Kyptschak die Rede ist
(S. 13 der Kas. Ausg.): ‚3,> ges A et SS
San en 2 us > 13 > ge .o.... ® ISCH B .eor] 000. 3» Se)
u) ger BORN & Sa ai BLIPSSN) > d.i. In der alten türkischen
Sprache hiels ein Baum dessen Inneres hohl ist, Ayptschak .... heutzutage sagt man
auch zschiptschak .... das gemeine Volk liest nämlich wegen der Unbeholfenheit seiner
Uu2
340 Scuorr über das Altaische
kum-du und un-tu-chun (für umtu-chun), von denen also die zweite ohne
consonantischen Anlaut erscheint (!). Mong. kün-tej hohl, Höhle.
Auch hier giebt es eine Nebenwurzel auf einen Kehllaut statt des Lip-
penlautes, die vorzugsweise bei den nicht-finnischen Völkern des Altai zu
Hause ist. Mongolisch chogho-sun, türk. us kogh-uk, :» 5 kow-uk,
5239 koghuf und U kow-usch hohl; denn gh geht in der Mitte gern in
w über, nicht so 5. Im Mandsuischen finden wir mit blofsem Selbstlauter
als Anlaut ucht aushöhlen, ausleeren. Vereinzelt steht das finnische ukura
Grube neben dem türkischen 5> ischukur.
Finnisch kuol sterben, in abgeleiteten Wörtern auch kal (?); magy-
arisch hol (in hol-t gestorben), sonst aber hal. Im Östjakischen ist wöl und
im Magyarischen öl tödten; diesem kommt das türkische öl sterben gleich,
während das mongolische ala tödten wieder an hal und kal zunächst erinnert.
Hinsichtlich des Austausches der Bedeutungen vergleiche man z.B. das per-
sische 2» morden welches sterben, und das gleichlautende deutsche mor-
den, welches tödten bedeutet.
Finnisch kilu, kültä glänzen, schimmern, und ihre Ableitungen. Im
Mongolischen gil (gib) z.B. gilbe, leuchten, gilba-gha Glanz, Schein;
güu-ghan Feuerkugel; gil-üng zunächst glänzend, glatt, dann kahl, ohne
Zunge s k wie z isch und spricht daher ischiptschak was kyptschak ist. — Im Dsihän-
numä (S. 370) steht ausdrücklich, das fragliche Wort sei ein pa d. ı. Diminutivum
von ‚äu
(') Im Finnischen hat man für hohl auch konke-lo, dessen Wurzel dem chinesischen
k’ung entspricht.
(2) Vergl. kal-ma Leiche und Leichengeruch; kal-met leichenblals; ka/-mannos in-
fans posthumus. Lönnrot möchte in seiner Vorrede zum Epos Kalewala auch dem mythi-
schen Namen KÄalewa diese Wurzel unterlegen. Seine Worte (auf S. XI.) sind: Muuten
luulisin nimityksen Kalewa ıierkitsewän jotai hirwiätä, surmaawaista, ollen yhtä rotua kun
sanat kalpa, kalma, kallo, kalu (ensis), kuolen. D.i. Übrigens will mir bedünken, dafs die
3enennung K. irgend etwas Schreckbares, Todtbringendes bedeute und mit den Wörtern
kalpa (Schabmesser), kalma (s. oben), kallo (Schädel), kalu (sofern es Schwert bedeutet),
kuolen (ich sterbe) gleiche Wurzel habe. — Was kallo betrifft, so ist dies wohl eher auf
eine Wurzel für glatt (s. oben unter kala) zurückzuführen, und ka/pa kommt gewils von
kalp oder kalu schaben (vgl. scalp). Kalu Schwert mag von seinem Glanze genannt sein,
wie das türkische Akylyds. Wenn endlich der Name Kalewa von einer Wurzel sterben her-
käme, so würde er dasselbe ausdrücken was kuolewa, einer der stirbt oder sterben wird,
nicht ein Wesen das den Tod bringt.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 341
Haare, wie das chinesische JE kuang die Bedeutungen Glanz und Kahlheit,
Nacktheit vereinigt. Nebenform ist ger (gerb) in gere Aurora, gerel Licht-
schein; gereb-tschi Licht, Kerze. — Im Mandsuischen hat man gilta und
güta-ri blendender Glanz, wovon giltar-scha blenden; giltu-kan glänzend,
anmuthig, auch gilmar -dsa glänzen und schön sein. Zwei tungusische
Dialekte bezeichnen die weisse Farbe mit gilta-Idi und gelta-Idin, der erste
Theil des letzteren erinnert an das finnische kelta gelb. Andere mit einan-
der verwandte Wörter für weiss und gelb werde ich am passenden Orte be-
sprechen. — Aus dem Türkischen scheint kyl-yds’ Schwert hierher zu ziehen.
S. unten bei iltu.
Statt k oder g haben wir den sanften Lippenlaut « vorzüglich wo die
Wurzel im Magyarischen vorkommt. Beispiele: vil-ag Licht und Welt
(vgl. finnisch ilma) (!); vill-am Blitz (türkisch jülderim);, vill- ag schimmern.
Im Lappischen ist wi-ge leuchtend, weiss, das finnische walkia, welches
auch für Feuer im Gebrauche. Mordwinisch ist waldo Licht. — Ein j als
Anlaut, mit folgendem i, e, seltner o (w) lieben die Türken, z.B. „Ih jil-
traw Glanz, Schein; „,AL jülderim Wetterstrahl; ;AL jüldif und jeldif, auch
53» jolduf und juldu/ Stern (?), und vielleicht ‚su jel-ma-ghai polirt,
glatt, weil das Polirte glänzt. Tschuwaschisch jüldyrga Krystall.
(') Vgl. zsillag (tschillag) Stern und Zsilliam-la schimmern, blinken in derselben
Sprache. In dem doppelten 7 steckt wohl ein assimilirtes @ oder . So wird auch das
finnische Axltä nach Erfordernils kiillä.
(2) So ist das tungusische chosega (usicha), offenbar von der Wurzel choso = foso
schimmern abzuleiten. Zu den beiden tungusischen Wörtern stimmt das syrjänisch - fin-
nische kodsjuv und ostjakische c%os Stern, desgleichen, wenn man die Endung jener beiden
abrechnet, das japanische fosi oder Aosi. Will man mit fos auch die Sanskritwurzel
b’as scheinen u.s.w. vergleichen, so habe ich nichts dawider.— Bei den östlichen "Türken
bezeichnen die Formen jeldif u.s.w. auch insonderheit den Nordstern und die nördliche Him-
melsgegend. Da nun dieser Stern aulserdem bei Türken und Mongolen goldner und eiserner
Pflock genannt wird, so ist es auffallend, ein dem türkischen jo/duf sehr ähnliches lappisches
Wort tschuold zu finden, welches die Bedeutungen Pfahl und Nordstern in sich vereinigt.
Aber die Ähnlichkeit der Wörter darf uns nicht täuschen; es wäre ganz ungereimt, eine
Bedeutung wie Pfahl von der Bedeutung Stern abzuleiten, wogegen das Umgekehrte de-
sto natürlicher: der Lappe vergleicht den unverrückbaren Nordstern mit einem Pfahl oder
Pflocke, wie seine mongolischen und türkischen Urverwandten. Bei den Mongolen heifst
selbst ein Planet (der Jupiter) gradusun, was schlechthin Pllock hedeutet.
342 Scuorr über das Altai’sche
Oft hat die Wurzel nur einen Vocal zum Anlaut, und dieser ist häufigst
i, nur ausnahmsweise e, a, u. Mit u beginnen das mandsuische ulde Tag
werden, ulden Morgenröthe; mit e das gleichfalls mandsuische elden Strahl,
Glanz, und seine Ableitungen. 4 haben die Türken in altyn Gold (tschu-
waschisch yldym); die Mongolen in dem gleichbedeutenden altan und in
aldar Ruhm (geistiger Glanz). Hierher gehört auch der Name des Gebirges
Altai und vermuthlich der des aldanischen Gebirges zwischen Jakutsk und
Ochotsk. Mit ianlautend finden wir bei den Mandsus de-tu klar, aufge-
klärt, öffentlich; ia erglänzen, aufblühen, sich entfalten (von Blumen),
daher il-cha (für ila-cha) aufgeblüht, Blume. Die Mongolen besitzen ie
sichtbar, deutlich, mit vielen Ableitungen; ia ausgezeichnet sein; J-gha
unterscheiden; iltu Säbel, offenbar von seinem Glanze, wie das deutsche
Flamberg, das altenglische brand; ferner ii poliren, glätten, de-gür Plätt-
eisen, weil es glänzend, d. i. glatt macht, u. s.w. Aus dem finnischen
Sprachschatze gehören hierher: ölmi sichtbar, offenbar; ilma Luftkreis, Welt,
und ihre Ableitungen (!); vielleicht ij@ glatt (?).
Neben 2 und r hat die fragliche Wurzel im Mongolischen auch i zum
Auslaute: gej heisst leuchten, erleuchtet sein (?); und diesem könnte
wieder als stärkere Form das finnische koi erster Morgenschimmer entspre-
chen. — In der ungarischen Sprache finden wir einige Mal vir als gleichbe-
deutend mit vil (Vergl. ger = gil); so ist vira Tages Anbruch, virag Tag
werden, und virdg Blume, welches letztere Wort mit dem mandsuischen
ilcha zu vergleichen ist (*). —- Wie aber dem kil, vil ein ger, vir, so steht
auch dem al, il, el, ul ein ar, ir, er, ör zur Seite. Mongolisch ist ör (ver-
gleiche vira) Tages Anbruch; in derselben Sprache heifst er-te (ärtä), im
türkischen x, irze und »5,} erde frühzeitig; im Lappischen aru zeitig, ar-et
am Morgen, früh. Ob auch mandsuisch eri, erin Jahreszeit und Zeit über-
haupt, damit zusammenhängt?
(') Vgl. im Magyarischen vitag Welt und vilag-os licht, hell.
(2) Ohne Zweifel verwandt ist auch die Wurzel si, se, das Klar-und Reinwerden
oder — machen ausdrückend, die ich übrigens erst unter den Sauselauten besprechen will.
(°) Den Doppellaut ei schreibe ich ej, damit man ihn nicht wie ai lese.
(°) Eben so kommt das arabische 59; /ehret Blume, von 2 glänzen, schimmern.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 343
Es wird niemanden entgangen sein, dafs dem ursprünglichen Auslaute
Inoch gern ein £ oder d, auch wohl ein Lippenlaut sich anschmiegt, den
man nicht als grammatischen Zusatz betrachten kann. Er ist mit d in unse-
rem Gold, mit 5 in gelb zu vergleichen. Wenn die Finnen m haben (öJ-
mi, ilmoi-ta), so scheint dieses, wie z.B. in der mands. Form gilm-ar-dsa,
aus d entstanden zu sein.
Tungusisch chalgan, halgar, algan Fufs. Mit diesen Formen be-
rühren sich zunächst: das mandsuische cholchon Bein, das magyarische gya-
log, welches nur noch zu Fufse bedeutet, und das finnische jalka Fufs,
wovon jälki Fufstapfe('). Als Verstümmelungen, aber mehr an cholchon
erinnernd, begegnen uns das mongolische kül Fufs und Bein, das ostjakische
kur, und syrjänische kok: in ersteren beiden fehlt der ursprüngliche Kehl-
laut hinter /(r); im dritten ist umgekehrt die Liquida vor dem Kehllaut ver-
drängt (?). In den Turksprachen erscheint das Wort ohne den consonanti-
schen Anlaut und ohne äufsere Zugabe zur Wurzel; diese ist aber innerlich
erweitert, indem man zwischen die auslautenden Consonanten a eingescho-
ben. Von diesen ist aufserdem der flüssige erste einem, später in £ erhär-
teten d, und letzteres wieder bei den westlichen Türken einem j gewichen.
Daher sprechen Uiguren und Jakuten adach, atak, die Osmanen aber ©
ajak, für alk, alka. Der tschuwasch. Dialekt hat sogar ora, dessen r eben
sowohl aus d als aus / entstanden sein kann.
Dagegen erinnert uns die türkische Wurzel (36 kalk aufstehen sehr
lebhaft an das tungusische chalg-an, wie anderer Seits das tungusische gi
(bei den Mandsus :&) stehen an alga und die finnische Form jalka. Der
Fufs ist ja die nothwendige Bedingung des Stehens; warum könnte das ent-
sprechende Wort nicht eine Verbalwurzel dieser Art erzeugt haben (°)? Wie
(') Im Mordwinischen ist jalga Gefährte. Vergl. das türkische IASL) ajak-dasch,
zunächst Reisegefährte, von ajak Fuls.
(?) So gleicht denn das syrjänische Wort, vermuthlich unschuldiger Weise, sehr dem
chinesischen keök, wie man in Canton für kio‘ Fuls spricht.
(°) Mongolisch heilst aZchu Schritt und als Verbalwurzel schreiten. Dies scheint mir
einerseits noch zusammenhängend mit dem tungusischen a/gan Fufs, andererseits gleich dem
finnischen a/ku Anfang, Ursprung; denn dieser kann mit einem, die eingetretene Bewegung,
gleichsam die Störung der bisherigen Ruhe versinnbildenden Schritte verglichen werden.
Mehr ausgeartet ist das türkische pO} adum Schritt, zunächst aus alchum, einer noch vor-
344 Scnorr über das Altai’sche
dem aber sei: an kalk aufstehen lehnt sich wieder das ostjakische chala,
den Aufgang (Osten) bezeichnend, und das magyarische kel aufstehen, wovon
auch nap-kelet Sonnenaufgang.
Tungusisch gala (auch ngala, ngal und vermuthlich gal) Hand, in
einigen Dialekten der ganze Arm (1). — Mongolisch ghar Hand und ganzer
Arm, aber ala-gha (ohne gh) flache Hand. — Türkisch Js kol, näher an
gala (*): bei den östlichen Türken zweideutig, wie ghar, bei den westlichen
der Arm allein; ferner ala und } el (von alagha), nur die Hand bedeu-
tend (3). Wie nun das altindische krı und neupersische Pf ker machen,
von 7 kara Hand abstammen, so offenbar die türkische Verbalwurzel 3
kyl ihun, machen von Js kol, dessen Abschattung sie ist. Das man-
ds’uische gai nehmen zeigt uns r in ö untergegangen; noch gröfser ist die
Abschwächung in dem mongolischen kithun, verrichten. — In der finnischen
Sprachenfamilie hat das Wort mit wenigen Ausnahmen einen schwachen
Vocal und behält immer den Anlaut k. Das k&@ der Mordwinen hat, wie
das mongolische ki, den consonantischen Auslaut ganz verloren; in der Suo-
misprache und einigen anderen ist er ein, vermuthlich aus (kds = kas= kar))
entstandenes s, z.B. käsi, magyarisch kez; auch zu £ verflacht, wie z.B.
in dem wogulischen kat und lappischen kät (*).
Mands’uisch chacha männliches Wesen, cheche weibliches. Das er-
stere Wort ist in dieser allgemeinsten, auf keine Blutsverwandtschaft hin-
kommenden Nebenform von alchu, aber hinsichtlich des d wieder im Einklang mit adak
gebildet.
(') Der Dialekt von Jenisejsk hat sogar hanga = handa!!
(?) Wegen des Vocales vergleiche das türkische x, kusch Vogel mit dem man-
ds’uischen gas’cha.
(?) Das türkische a2 und mands’uische a4 nehmen möchte ich gern von a/= el ablei-
ten; allein im Lappischen entspricht hier wald (infin. wald-et capere, sumere).
(*) Ich weils zwar, dals käsi und viele andere Suomi- Wörter auf si vor den Fallen-
dungen ihr s mit d oder z vertauschen und dals man diese Form für älter erklärt. Sollte
aber die Verwandlung des ? in das nominativische s nicht Rückkehr zu einer noch älteren
Form sein? oder warum steht s auch in verwandten mongolischen und türkischen Wörtern,
die doch von keinem Nominativ etwas wissen? Dem mongolischen us-un Wasser ent-
spricht im Finnischen wesi, nicht weze; dem mongolischen es? Ursprung und türkischen es
(in Km) es-ki alt) ebds. esi prius, antiguum, nicht ee; dem türkischen | desch, auch bes
die Zahl fünf, ebds. wiisi, nicht wüte. — Da jedoch r(7) auch in d übergehen kann, so
habe ich nichts dagegen, wenn man käsi (käte) lieber von kad = kar ableiten will.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 345
weisenden Bedeutung den verwandten Sprachen und selbst den übrigen tun-
gusischen Dialekten fremd; es sei denn, dafs wir in dem ostjakischen cho
(ebenfalls Mann schlechthin) eine gleichsam krampfhafte Zusammenziehung
des Wortes erkennen wollten, wie etwa wenn der Afgane das persische
dochter (Tochter) in lör (zunächst für dor) zusammenzieht. In den übrigen
Sprachen ist es, meist ohne consonantischen Anlaut, aber sonst sehr wohl
erkennbar, die Bezeichnung geehrter Blutsverwandten: so bedeutet
aga bei den Jakuten Vater; \Ü) aka oder LE! agha bei den übrigen östlichen
Türken Oheim und älterer Bruder. Letzterer heifst bei den Mongolen acha,
bei Mandsus und übrigen Tungusen achün, akmu, akin, aki. Das syr-
jänische wo%k Bruder ist sicherlich aus acha entstanden; denn es verhält sich
zu diesem genau so, wie wom Mund in derselben Sprache zu dem mongoli-
schen ama: jenes wok ist aber wieder nichts anderes als das werka und weiko
der Suomalaiset Finnlands (!). Die Osmanen, in deren Dialekte eigne Wör-
ter für den älteren und jüngeren Bruder nicht mehr vorhanden sind, ge-
brauchen agha nur noch als Titel, etwa gentleman; es wird vorzugsweise
dem Kriegerstande beigelegt; aber in den Formen „Sl agu, age ist das Wort
schon bei den östlichen Türken und den Mands’us „Herr” in der Anrede.
Auf demselben Wege sind die Mongolen, wenn sie einen Vorsteher oder
Ältesten acha-man, acha-tschinennen, und von acha selbst ein Verbum bil-
den das die Aufsicht, den Oberbefehl führen bedeutet.
Cheche Weib, hat bei den Mongolen, wo es eke lautet, noch dieselbe
allgemeine Bedeutung, heifst aber bei diesen auch schon insbesondere Mut-
ter. Davon ist wieder eke-tschi ältere Schwester, im Tungusischen ek-
mu (vergl. akmu), ökkim, okmu, welche Formen lebhaft an das finnische
eukko Matrone (vergl. ukko) erinnern. Bei den jakutsker Tungusen heifst
aber die ältere Schwester akin (wie bei denen von Nertschinsk der ältere
Bruder); bei den Jakuten agas; und eine Form akka Matrone (neben eukko)
besitzen auch die Finnen (?).
(') Eben so das ukko dieser Nation, welche Form aber die Bedeutungen Grofsvater,
ehrwürdiger Greis, Ehemann sich angeeignet hat.
(2) Die Benennungen für geehrte Verwandtschaftsgrade haben zu ihrem mittleren
Consonanten einen Kehllaut wie obige, einen Lippenlaut, ein n, oder £, 7, s. Der An-
laut ist im vorliegenden Sprachengeschlechte gewöhnlich Vocal, oder höchstens ein Con-
sonant von der labialen Classe. Vergl. aba, baba, mafa u.s.w.; ferner ana, enie; endlich
ala, ese, isä, etsi-ge.
Philos.- histor. Kl. 1847. Xx
346 Scuorrüber das Allai'sche
Tungusisch chola-rin, kula-rin, ula-rin roth.— Aus dem Türkischen
gehört hierher & a5 Aula at der Schweilsfuchs. — Mongolisch ula-ghan,
der dritten tungusischen Form zunächst. — Mands’uisch hier, wie öfter, mit
f als Anlaut: ful-gian roth und fula-chün vröthlich ('). — Finnisch puna
Röthe und roth machen.
Das türkische kyf in J5 kyf-yl voth, „15 kyf-ar roth werden, wovon
ich eine Nebenform in „> jer-en fuchsroth, mongolisch jer-te erröthen,
zu sehen glaube, ist wohl von vorstehender Wurzel zu trennen. Mit 7 fin-
den wir auch bei den Mandsus Aura und giru erröthen, bei den Mongolen
kira in der Redensart ör kira-ghachu «das Erscheinen der Morgenröthe. —
Die finnischen Sprachen vertauschen hier (wie öfter) k mit «, und lehren
uns zugleich die Urbedeutung kennen; denn im Suomi heilst weri Blut, im
Östjakischen wyry roth. Seinen Derivaten giebt werö die Bedeutungen blu-
tig, vollsaftig, frisch, und weres wird auch von Wangenröthe gebraucht;
aber das ungarische veres (von ver Blut) ist roth überhaupt (?).
Tungusisch hokto, hokta, hokto-ron, 0ot, ol, und udsa Weg. — Ma-
gyarisch 1, woher auch ul-an (auf seinem Wege) hinterher, nachdem; fin-
nisch nur ula sich ereignen, zutragen (gleichsam auf den Weg kommen):
Beides der abgekürzten tungusischen Wurzel überraschend nahe (?). Das-
selbe Wort, jedoch so, dafs # und der Hauptvocal ihre Plätze gewechselt,
erkennen wir wieder in dem syrjänischen Zui und finnischen ie Weg. Eine
Verschiebung der Urform hokta aber zeigt uns das finnische kohta begegnen,
wiederfinden, welchem bei den östlichen Türken und Mongolen Lö,| okta
und uhkdu entsprechen. Eine Abkürzung od oder w,! ut heifst bei Mongolen
und östlichen Türken „sich wohin begeben”, „wohin abgehen”, wie im Magy-
arischen zl-az reisen.
Türkisch und Mongolisch: kerek, gerek das Nothwendige, nothwen-
dig. Eben so ohne Persönlichkeit ist das magyarische kell, dessen Einheit
(') Koreanisch pu? Feuer und Purpur.
(?) Yörös ist = veres. Überhaupt wird e in Mundarten gern mit ö vertauscht; so
haben auch die Türken z. B. götür neben gezir bringen.
(°) Hokto verhält sich zu oot, ot, it wie das mands’uische oA/o zu dem türkischen
ws ot (Beides Kraut, Pflanze). — Die tungusische Form uds’a könnten wir in dem ma-
gyarischen visza Gafse wiedererkennen; aber letzteres ist wahrscheinlicher eine Zusam-
menziehung des (auch zu den Walachen übergegangenen) slawischen Wortes ulizsa.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 347
mit obigem aber erst aus der lappischen Verbalwurzel kalka (galga) sollen,
sich ergiebt. Das einfachere Kernwort begegnet uns oft in den Formen ker,
kär, kör, kor, und vocalisch anlautend in er. So besitzen die Mordwinen
unpersönlich erä-wi es muls, es ist nothwendig. In allen übrigen Fällen ihres
Vorkommens bezeichnet die Wurzel ein Suchen und dringendes Ansuchen,
aus welchem der Begriff der Nothwendigkeit naturgemäfs sich entwickelt:
mongolisch eri suchen, fragen, fordern; magyarisch ker-es suchen, ker-de
fragen, ker bitten; finnisch käri dringend fordern und kerjä betteln; syrjä-
nisch kor bitten. Bei den jakutischen Türken finden wir kör-dö suchen,
begehren, bitten (vgl. magyarisch ker-de) und kere-si vor Gericht fordern,
anklagen; endlich die Mandsus haben ger-ischi Ankläger.
Türkisch: kap, jap, tschap, mit dem Grundbegriffe des Angreifens,
Nehmens. Daneben in vier Sprachenfamilien dieselbe Wurzel ohne conso-
nantischen Anlaut: mongolisch ap nehmen, holen; abu-ra (für ap-ra) er-
halten, schützen; mandsuisch abu-ra gewaltsam anfafsen; finnisch apu Hülfe,
Beistand, au-ta (für aww-ia) Hülfe leisten; türkisch Y&s2) ap-usch theilen,
wörtlich zusammen oder untereinander nehmen, denn das angehängte sch
zeigt gemeinsames oder gegenseitiges Handeln an. — Das türkische „L jap
anfassen ist ebenfalls in dem abgeleiteten Ab jap-ysch am bekanntesten,
was aber nur stark anfassen, anpacken bedeutet. Im Mandsuischen stehen
diesem dsa/a und ds’afu mit ihren zahlreichen Ableitungen, z.B. dsafu-nu
einander packen, ringen, zur Seite. — „U kap und ol> tschap bezeichnen
den gewaltsamen, räuberischen Angriff; das magyarische kap aber heifst
bekommen, empfangen ('). Im Mongolischen ist chabu die Fähigkeit (Capa-
eität); chabu-tai geschickt, gewandt, ausgezeichneter Schütze, ungefähr das
gab-sichian der Mandsus. An die Geschicklichkeit knüpft sich das Gelingen,
der Vortheil; und dieser ist namentlich in mands’uischen Formen wie dsap-
scha, dsap-du und ihren Ableitungen ausgedrückt; letztere heifst noch zu-
nächst: das Ziel (beim Schielsen) sicher treffen (?).
(') Ob das gleichbedeutende mands’uische dacha nur eine Versetzung von chab = kap
ist? Wie dem auch sei, der Form nach gehören zu diesem das lappische fagge und unga-
rische fog.
(?) Nicht zu verwechseln mit dieser Wurzel ist ein jap (kapa) zumachen, verschlie-
[sen, und ein drittes jap (Z£schap) gehen und machen. Von Beiden später. — Dagegen scheint
das finnische kopa, sofern es mit Händen greifen bedeutet, wieder hierher zu gehören.
Xx?2
348 Scnorr über das Altai Yohe
Mongolisch chabar (chawar) und bei den Kalmyken chamar, chamur
Nase. — Zunächst kommt mandsuisch oforo für choforo, das bei den Un-
garn in orr zusammenschwindet. — Türkisch „», » mur-un und «,,» bur-
un, mit der zweiten kalmykischen Form am meisten verwandt, aber die ganze
erste Silbe preifsgebend und durch Verlängerung am Ende wieder entschä-
digt. — Den tungusischen Formen ongokto, ookto, ogoi muls ebenfalls ein
Prototyp mit m, etwa omoro, zum Grunde liegen (1). Man vergleiche übri-
gens die schon besprochene Wurzel kaba u. s. w., welche das Anschwellen,
Vorspringen, sich Erheben ausdrückt.
Türkisch ;e! aghy/ Mund. Dies die gewöhnliche Form; aber verschie-
dene Gründe ergeben unzweifelhaft, dafs sie in alter Zeit anggir und janggir
gelautet haben müfse. Noch jetzt haben ‚#) anghyr, „#L janghyr, Pi air,
£ aghyr, deren Quetschungen „sil> ischangyr, > Ischagyr, und das
abgekürzte ‚> ischar die Bedeutung des Schreiens und Rufens (2). Sodann
finden wir die Urform bei den Mandsus in anggir nieche, was eine Ente
(nieche) mit sehr starkem Schnabel bedeutet. Das gewöhnliche mands’uische
Wort für Mund ist aber angga (ohne r ), dessen Schwächung engge Schna-
bel bedeutet. In den tungusischen Dialekten erscheint statt des ng ein m,
also amga; der Dialekt von Jakutsk verdrängt noch das folgende g,
läfst v+ n folgen, und wählt einen Hauch als Anlaut: Aamun. Blofse Ab-
schattungen oder Milderungen dieser Wörter sind folgende tungusische Wör-
ter für Lippe: emgin, amun, ömün, hömun und das mandsuische femen statt
hemen, chemen. Der jakutsker Dialekt, wo Mund Aamun lautet, hat für
Lippe sogar amga, was in den meisten übrigen den Mund selber bedeutet. —
Die Mongolen besitzen für Mund nur ama, aman, dem jakutsk. Aamun
sich anschliefsend, für Lippe ein ganz anderes Wort(°). Dieses aman kehrt
unstreitig abgekürzt wieder in am-tai schmackhaft (gleichsam mundrecht,
(') Ein ng und zwar mit o vorher, sehen wir auch in dem mongolischen chong - sijar
Nasenspitze, Schnabel. — Obgleich die Nase sehr passend vom Athem genannt sein könnte,
wie der Mund (s. w. u.), so möchte ich doch dem tungusischen ongokto u. s. w. nicht gern
eine besondere Wurzel unterlegen und diese Formen von chamar losreilsen.
(?) In dem söüwar der Tschuwaschen kann s nur aus einem anlautenden j entstanden
sein. Ganz übereinstimmend wird z.B. das Wort Be jagh Öhl bei ihnen zu süw. — Ob
auch dem finnischen suu Mund eine Form wie süwar oder suwa zum Grunde liegt?
(°) Uru-ghul, vermuthlich Rifs, Spalt; denn uru heilst in Stücke reilsen. Verwandt
ist vielleicht das osttürkische re Lippe; vergleiche wo. Jirt zerreilsen.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 349
mundend), am-tan Geschmack, am-sa kosten, versuchen (mands. angga-
si); ich erkenne es ferner in dem wom (Mund) der syrjänischen Finnen (!). —
Aber auch Formen mit ng statt m hat das Mongolische aufzuweisen, z.B.
angga-Idsan der mit offnem Munde dasteht, Maulaffe; die Verbalwurzel
anggai sich öffnen, klaffen; ang-chan Anfang (gleichs. Eröffnung), und ver-
muthlich angga dürsten, schmachten, wenn es von dem Bilde eines ausge-
dorrien, daher gesprungenen und klaffenden Erdreichs, das wirklich angga-
sun ghadsar heifst, hergenommen ist.
Unter den türkischen Stämmen besitzen die Jakuten in ihrem ajag ein
Wort fürMund, das, wie man sich auch seine Herausbildung denken möge,
gewifs nur einer der erwähnten Formen sein Dasein verdankt. Es ist um so
merkwürdiger, als es mit ajak, dem ungarischen Worte für Lippe, fast ge-
nau übereinstimmt.
Diejenigen von den hier aufgezählten Formen welche am meisten das
Gepräge der Ursprünglichkeit tragen, zeigen so viel Anklang an eine finnisch -
tatarische Wurzel des Athmens, dafs ich angga u.s.w. fast unbedenklich
davon ableiten möchte. Als vornehmstes und verläfslichstes Werkzeug dieser
Lebensthätigkeit konnte der Mund sehr pafsend vom Athem genannt werden.
Gewifs unter einander verwandt sind das finnische Aenki Hauch, Athem,
Geist, das tscheremissische jang Seele, das mongolische onggo-li aufser
Athem kommen, und, sofern Hauch zugleich für Geruch steht (vergl. oben
haisu, is, us), die mongolischen Verba angki-l riechen, ongki-la und chang-
gu-la schnüffeln, wittern(?). — Da Athem die erste Bedingung des Lebens
ist, so darf es uns nicht wundern, wenn das Leben selbst nach demselben
bezeichnet wurde (?). Dies leidet nun im Mongolischen gar keinen Zweifel;
denn athmen schlechthin heifst hier ami-scha, das Leben aber amin. Sind also
(') Das ug? der Östjaken (für ugr?) erinnert an aghyr, aghyf, also die türkische Form.
(2) Den sanften Labial » haben die Mands’us in ihrem wa Geruch, dessen Laut schon
das Wehen malt. Eine regelmäfsige Ableitung davon ist wa-ngga wohlriechend, hat also
mit dem gleichbedeutenden chinesischen Aiang Ed nichts zu schaffen und begegnet sich
auch wohl nur zufällig mit henki und angki.
(°) Vergleiche das chinesische /£ seng Leben, wohl urverwandt mit Aenki. Bei
den Mands’us heifst das Blut senggi, vielleicht weil man diese edle Flüssigkeit neben oder
nächst dem Athem als Hauptbedingung des Lebens betrachtet hat.
350 Scuorrt über das Allai’sche
die Wörter für Mund und Leben einander sehr ähnlich, so erklärt sich dies
aus ihrem gleichen Ursprung. Ich möchte noch weiter gehen und auch die
mongolische Wurzel amu Ruhe und Glück hierher ziehen (!); denn im Fin-
nischen bedeutet henkä (von henki) neben athmen auch sich erholen, ruhen;
und als Parallele haben wir z.B. das hebräische 2” welches zuvörderst Le-
ben und dann Glückseligkeit bedeutet.
Onggo-d (*) heilsen bei Mongolen und Tungusen die Elementargei-
ster des Schamanendienstes. Kernwörter für geistige Thätigkeiten die an
unsere fruchtbare Wurzel unverkennbar sich anreihen, sind: türkisch SS}
ang, Ö} an (in den Geist zurückrufen) erwähnen, erinnern; ang-la, an-la
verstehen — mongolisch ang-char Kenntnifs nehmen, wissen; ong-si Ge-
lerntes hersagen und lesen. Das Lesen ist ein Wiedererkennen, und wir haben
etwas sehr Analoges im Gebrauche des griechischen avayıyrwszew. Eben so
ist das türkische s3,1 oku lesen offenbar dieselbe Wurzel wie das mongolische
ucha verstehen, woher ucha-ghan Verstand u. s.w. Oku und ucha mülsen
ebenfalls aus onggo entstanden sein; das ng ist hier k oder ch geworden,
wie es als blofses n erscheint in dem mongolischen ono einsehen, begreifen.
Bei den Jakuten bedeutet ana ungefähr dasselbe was ono, und auch in dem
an der Osmanen wird 7 jetzt nur noch als einfaches n gesprochen (?).
Türkisch Sy sümük, SKyw süngek, Sys sünck, & „w süjek Kno-
chen. Bei den Tschuwaschen in schunu (für schunuk) verstümmelt. Die
meisten türkischen Stämme haben aufserdem SS kemük, gemük, Si kemik,
gemik Knochen, Ribbe u. s. w., die Jakuten aber ungoch. Diese letztere
Form kommt wohl mit der ursprünglichen am meisten überein (*); und sehr
belehrend ist in dieser Hinsicht eine Stelle des Abulghasi in seinem mehrer-
wähnten Werke (S. 29), wo sich’s vom Aufenthalte des Kajan und seiner
Genofsen in dem grofsen Gebirgsthale Erkene Kun handelt. Der Verfasser
sagt: die Nachkommen dieser Leute hätten viele Jahre daselbst gewohnt,
(') Ist nicht Ruhe und zwar Ruhe um jeden Preis auch unsern Spiefsbürgern gleich-
bedeutend mit Glückseligkeit und beinahe mit Leben überhaupt?
(2) Das 4 zeigt hier die Mehrzahl an.
(°) Überhaupt kann ich in der Aussprache des 2 und n bei Osmanen keinen Unter-
schied mehr wahrnehmen.
(*) Das mands’uische umuchun, welches die Spanne des Fufses bezeichnet, könnte
einen verwandten Ursprung haben, da der Fufs in dieser Gegend ohne Zellgewebe, nur
Knochen ist.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 351
und, nachdem ihre Zahl sehr angewachsen, in einzelne sl»! umak (oder
omak) sich abgetheilt. Er setzt hinzu: ‚les Slus Sum ml Ss ala
BU ee ergehen ae
„> d.i. Umak heifst s.v.a. süngek. Wenn der (östliche) Türke jeman-
den frägt: welches ist dein umak? so will er sagen: welches ist dein süngek‘?! —
Knochen bedeutet nämlich hier Geschlecht, Abstammung. Die Mongolen
gebrauchen ihr omok im nämlichen Sinne, wie z.B. aus folgender Stelle des
Sanang -Setsen (S. 62 der Ausgabe Schmidts) überzeugend hervorgeht: Aijot
jasu-lu, Bordsigin omok-tu d. i. vom Stamme Kijot, vom Geschlechte
Bordsigin. Das Wort jasun, gleichfalls Knochen und Geschlecht, steht
hier parallel mit omok, von welchem letzteren Schmidt und Kowalewski in
ihren Wörterbüchern nur Stolz, Anmafsung, Selbstgefühl als Bedeutungen
angeben.
Verwandt mit den angeführten Wörtern sind ohne Zweifel aimak oder
aiman Stammesabtheilung, Horde, bei Mongolen und Tungusen, vielleicht
auch das oma der Finnen, welches proprium, peculiare bedeutet; denn als
wahrhaft Eigenes gilt das Angestammte (historisches Recht!).
Türkisch 13 kara schauen und sehen, ‚ss kür, gör sehen. Von kara
bildet sich bei den Jakuten charak und karak Auge. Die westlichen Tür-
ken, bei denen nur noch die zweite Wurzelform sich erhalten hat, lassen
sie, um das Auge zu bezeichnen, ohne Zusatz, und verwandeln nur r in f
küf, göf ('). Diese Verwandlung erlauben sie sich auch in dem von der
Wurzel unmittelbar gebildeten Worte IS güf-el schön (ansehnlich) und
in dem Verbum ws gös-ter (mit scharfem s) zeigen, während man im Öst-
türkischen kür-ük Schönheit, kürük-lü angenehm, kürgel schön hat. Auch
im Mongolischen heisst chara sehen und schauen; im Mands’uischen aber
ist kara ein Jägerwort, das da bedeutet: von einer hochgelegenen Stelle
nach dem Wilde ausschauen, um zu erfahren ob seine Zahl grofs oder
klein sei (?).
Nach kar, kür (küs) nenne ich: finnisch katso, lappisch kätsche be-
trachten, sehen; ehsinisch kaje und kae sehen; endlich koje und Aue, bei
(') Doch kommt bei den Uiguren schon küs Auge vor, und bei den östlichen Tür-
ken überhaupt „5: küf-gü Spiegel.
pt ss, pieg
(?) Den ba-tsi gurgu gas’cha-i labdu komso-be tuara. (B-B. IX, Bl. 4).
352 Scuorr über das Altai’sche
Lamuten und ochotsker Tungusen, dasselbe. Auf Klaproths Tabellen (a.
a. ©.) steht dieses, wie andere tungusische Verben des Sehens (S. 86-87,
7.2 und 4 von Oben) nur als erste einheitliche Person der Gegenwart, und
zwar das erste Mal bejahend: kojerym, kuerem ich sehe, das zweite Mal aber
verneinend: etam kojer, etschi kuerem ich sehe nicht (!). Auf den ersten
Blick war ich geneigt, das in diesen Formen mit zur Wurzel zu rechnen
und diese als eine Erweiterung der türkischen Wurzel kür zu betrachten;
allein » steht auch in uklarym, ukljarem, was in denselben Dialekten „ich
schlafe” hedeutet, und hier kann nimmermehr von einer solchen Bedeutung
des r die Rede sein. Im Türkischen heifst ich sehe: 2,5 kür-er-im; ich
schlafe (schlummere) 2,8} ujuk-la-r-ym; und beide Formen sind so ent-
standen, dafs nicht die reine Wurzel, sondern ein Mittelwort auf 7 mit dem
fürwörtlichen Zusatze verbunden ist. Von ujuk-la (?) mufs dieses Mittel-
wort ujukla-r werden, von kür (gür) aber kür-er (gör-er). Die Mandsus
besitzen denselben Zusatz zur Wurzel, aber mit Vocalen (ra, re, ro) und
von mehr infinitivischem Gebrauche: warum sollte er also den übrigen Tun-
gusen fremd sein; oder warum sollten diese nicht eben so, wie die Türken,
ihre persönlichen Fürwörter erst durch Vermittlung jenes r dem Kernworte
anfügen? Wenn nun die Wurzel des Sehens bei jenen zwei tungusischen
Stämmen ohnehin schon auf r auslautete, so würden sie wohl nicht diesen
Laut zugleich als partieipiale Endung haben gelten lafsen.
Endlich giebt es, vor Allem bei Tungusen und Mongolen, Wörter
für Auge, sehen, u. dgl., in welchen der Anlaut Vocal oder höchstens j,
und der folgende Consonant ein Sauselaut ist. Auge heifst in den verschie-
denen Dialekten des Tungusischen oscha, escha, esja, esa-1, isa-1, und (man-
dsuisch) jasa. Sehen heifst in der Mehrzahl dieser Dialekte itsche (?), im
(') In Geistesabwesenheit schreibt Klaproth das zweite Mal wieder „ich sehe” und
setzt als entsprechende mands’uische Wörter Zuambi, sabumbi, statt (bi) uarakıl, saburakü,
daneben. — Fehlerhaft ist es auch, beiläufig bemerkt, wenn er gleich in der vorhergehenden
})
Zeile dieselbe Person des Negativs von „‚schlafen” mands’uisch durch amgambi-aku wie-
o ” fe]
dergiebt, da es (di) amgarakü heilsen muls.
(?) Aus uk Schlummer und dem Nennwörter in Zustandswörter verwandelnden
la (le).
(°) Nach A. Erman auch :ö, welches dem lappischen wizez hastig anblicken, sehr
ähnlich.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 339
Mongolischen üdse (üdse, üfe), woher üdsel Gesicht. Aufserdem finden wir
bei den Mongolen adsi bemerken und erscheinen, bei den syrjänischen Fin-
nen aber adsi sehen.
Die zuletzt sehen Formen berühren sich so unverkennbar mit
der Sanskritwurzel Zug öksch sehen, dem von ihr abgeleiteten akschi Auge,
und den verwandten Wörtern anderer indisch - ankahen Sprachen (!),
sofern auf den Vocal ein Sauselaut folgt, dafs man ihren gleichen Ursprung
mit diesen fast nothgedrungen annehmen mufs. Sollte aber dasselbe nicht
auf die mit % anlautenden Formen Anwendung finden, und um so mehr;
wenn wir im Sanskrit selber neben akschi auch ischakschu für Auge haben,
dessen sch aus k entstanden sein mufs? Wie sausr, so entsteht auch aus s,
und könnte dies mit kara, kür u.s. w. nicht der Fall gewesen sein?
Ich reihe hier noch tatarische Wurzeln an, deren Zusammenhang mit
denen für Auge und sehen mir keinen Zweifel zu gestatten scheint.
Die Ostinken und Magyaren besitzen für nn ge ein nach meiner Über-
zeugung von allen bis jetzt vorgekommenen 2 ah verschiedenes Wort,
8
nämlich sem (szem), dessen ungefälschte Form das silmä und silm der Ost-
seefinnen ist. (2) Mit demselben Worte bezeichnen beide Völker auch den
Begriff Saamenkorn, offenbar wegen seiner runden oder rundlichen Form,
mit besonderer Beziehung auf den Augapfel (?). Eben so haben die östlichen
Türken ;,5 küf in den Bedeutungen Auge und Saamenkorn (*). Soll man
nun dieses küf von dem ;,! üf derselben Sprache trennen, das mit Bestes
oder Edelstes einer Sache erklärt wird, dann auch, besonders bei den östli-
chen Türken, die Selbstheit bezeichnet (°), und auf dessen ältere Bedeutung
„Kern einer Frucht” die Ableitungen 8>; „} üf-dek Dattelkern und S; „I üf- ek
Kern eines Geschwürs unverkennbar hinweisen? Gewifs wäre dies eben so
(') Vergleiche hinsichtlich dieser Potts Etymologische Forschungen Th. 1, S. 269.
(?) Näheres unter der Wurzel siz.
(°) In vielen anderen Sprachen werden die Knospen der Gewächse, im Chinesischen
die Knoten des Bambus Augen genannt.
(“) Dahin gehört z. B. die bildliche Redensart Ah,L Ss küfü jaryldy ihr Korn
(nicht ihr Auge) spaltete sich, d.i. sie wurde entbunden.
(°) Ein ganz analoger Sprachgebrauch im Magyarischen kommt uns hier auch zu
Hülfe. Hier bedeutet mag Kern, Saamen, und mit fürwörtlichen Anhängen selbst: mag-
unk z.B. ist wir selbst, wie > üfü - müf.
Philos.-histor. Kl. 1847. Yy
354 Scuorr über das Altai’sche
unrecht, wie die Zurückweisung des mandsuischen use Saamenkorn und als
Verbalwurzel sien, wovon wieder usin Saatfeld. — Ferner finden wir bei
den Mongolen kürü-ngge Saamenkorn neben üre-le säen, das zunächst von
üre Frucht (und Nachkommenschaft) gebildet ist; bei den Mands’us oori und
bei den östlichen Türken ;J, >} ur-luk Saamen. Diese verhalten sich eben
so zu einander wie küf, üf, use, obgleich von keinem derselben eine Grund-
bedeutung Auge nachzuweisen. Sollte endlich das mongolische ürü Inneres,
wenn es zunächst an den Begriff Kern sich anschliefst, nicht eben dahin ge-
hören’?
55 küf, göf hat im Türkischen noch die dritte Bedeutung Herbst.
Insofern entspricht ihm das magyarische öz (öf) und ostjakische suf.
Mandsuisch as’cha Flügel und als Verbalwurzel „zur Seite stehen”(!),
„an der Seite oder am Gürtel tragen.” Offenbar verwandt ist das mandsui-
sche gascha Vogel(?). Unter den türkischen Dialekten kommt diesem Worte
zunächst das tschuwaschische kaik, wenn es für kask steht (so hat man 22;
kaf-ghu neben „u3 kai-ghu Gram), unter den finnischen aber das lappische
kusk Wafserschnepfe, wenn wir annehmen dürfen dafs die ursprünglich so
umfassende Bedeutung bei ihnen so sehr sich verengt habe. Das gewöhnli-
che türkische u%s5 kusch könnte in irgend einem östlichen Dialekte kusichu
oder kos’cholauten, da z.B. türkisch U» bosch (leer) im Jakutischen bos’cho
wird.
Nun mufs aber jenes kusch selber weiland Flügel bedeutet haben (°),
denn es vereinigt mit der Bedeutung Vogel noch die eines Paares, z.B. in
s£2l 05 ein Paar Rippen; und der Übergang von Flügelpaar zu dieser ab-
gezogenen Bedeutung ist sehr natürlich. Aufserdem ist dasselbe Wort mit
und ohne nachlautendes a Verbalwurzel für zusammenpaaren, zusammen-
thun, verbinden, gürten, und diese ihrerseits erzeugt (, „% kusch -un grö-
(') Daher wieder das Nennwort as’chan, wie z.B. in as’chan-i amban Grolser von
der Seite, oder der zur Seite (eines noch Höheren) steht, beigeordneter Rath. — Beiläu-
fig bemerkt: von geheimen oder gar wirklich geheimen Räthen (wenigstens dem
Titel nach) wissen Chinesen und Mandsus nichts, obschon ihr Staatsleben keineswegs
öffentlich ist.
(2) Vergl. unter $: finnisch süwe Flügel, mongolisch siva-ghon Vogel.
(°) Nicht zu übersehen ist die türkische Wurzel _ „| uzsch fliegen, welche sehr wohl
für &,} stehen und eine Nebenform von kusch sein kann. Das Eine verhält sich zu as’cha
wie das Andere zu gas'cha.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 395
fserer Heerhaufen, Armeecorps, neben ‚sL& kusch-ak Gürtel. Im Mongo-
lischen haben wir chos, nur für Paar, und chosi-gho Armeecorps, dem tür-
kischen kuschun gleich, aber keineswegs daraus entstanden.
Mandsuisch chorgi sich umdrehen, kreisen; daher chorgi-kü was in
einer Höhlung sich umdreht, Axe, 'Thürangel und dergleichen; ferner chergi
etwas umkreisen, sei es gehend oder fliegend, einen Kreis ziehen, etwas
umwinden, umwickeln; daher chergin Kreislauf, Cyclus, der einbleibenden
Handlung wegen besser zu chorgi passend. Ohne consonantischen Anlaut
entspricht dem chergi das mongolische ergi um sich selbst oder um einen
anderen Gegenstand kreisen; dem chorgi aber das mongolische ortschi, nur
intransitiv (1). Aufserdem besitzen die Mandsus gur (in gurun begränztes
Land, Reich), die Mongolen chor (?), kör oder kür in Verben und Nenn-
wörtern, deren Bedeutungen an die des Umkreisens mehr oder weniger un-
mittelbar sich anschliefsen, z. B. kür-dü Rad; chorija umzäunen und ein-
friedigen, dann in sich aufnehmen, sammeln, vereinigen; chorijan Hof,
Umzäunung; kürijen dasselbe und Feldlager; kürije-leng Hof, Garten; chori
einschliefsen, einsperren, chori-ghol Einzäunung; chora-ghan innerer Hof,
von chora, das aber nur noch versammeln bedeutet; choral Sammelplatz
und Versammlung; chorim Festmahl, eigentlich Versammlung, aber mit dem
Nebenbegriff der Feier. — Im Türkischen haben wir 1, 5 kura Hof (°), (3
kur-yk ein verbotener, geheiligter Ort, ein adurev (offenbar daher so genannt,
weil man dergleichen Orte einfriedigt), vielleicht », 5 kuru beschützen, ver-
theidigen, weil dies am besten von jeder Seite d.i. im Kreise herum geschieht,
in jedem Falle u, kür-üsch einander ringend bekämpfen, wegen der
dabei erforderlichen Windungen und Drehungen des Körpers (*). Vergl.
das deutsche Wort.
In der Suomi-Sprache hat diese fruchtbare Wurzel meist schwache
Vocale. Ausgenommen ist nur korja das mit einer der angeführten mongo-
(') Daher z.B. orischi-lang die Seelenwanderung (Kreislauf der Geburten), dem re
der Hindus entsprechend.
(?) Auch im Tibetischen finden wir Kor kreisen, umdrehen; Kkor-Io Kreis; gor-mo
kreisförmig.
©) OEL küren Feldlager ist wohl den Mongolen entlehnt (siehe kürjjen).
(*) Das angehängte U* zeigt die Gegenseitigkeit der Handlung an, und darf nie weg-
allen, weil ohne Gegenseitigkeit kein Ringkampf denkbar ist.
Yy2
356 Scuorr über das Altai'sche
lischen Formen vollkommen einklingt, und auch Gleiches bedeutet. Die
übrigen Verwandten lauten ker, kier, käär, z.B. in kieri volvi, circumagi,
kieri-tä circumagere; kiertä volvere, torquere; kiera, kieru, kierto convo-
lutum, curvatum etc.; endlich kääri volvere, involvere, implicare; kerä
Knäuel und keri glomerare (!). — Die Magyaren haben kör Kreis (woher
kör-ül im Kreise, rund umher), und ker in ker-ül herumgehen, kerület Kreis,
kerek rund, ker-eg Rad, ker-enge sich wälzen, keri-te umzäunen, umgeben.
In der Form ger scheint die Wurzel auch Mongolen und Mands’us
nicht fremd zu sein; denn bei Ersteren heifst ger Wohnung, Haus, und bei
Letzteren ger-en Gesamtheit, Alle, zunächst wohl Versammlung. — Von
dem finnischen kääri stammt vielleicht das Wort käärmet, kärmet Schlange,
und brauchen wir diesem alsdann keine Wurzel unseres Stammes unterzu-
legen. Ohne Widerrede selbständig ist das mongolische choro-chai Wurm,
da sein choro offenbar das Winden und Krümmen ausdrückt, welches (s. die
finnischen Wurzeln) so leicht an Kreisen und Umziehen sich anschliefst.
Vergleiche das türkische w, 35 kurt und 8,5 kurd Wurm, Raupe, bei den
westlichen Türken auch Wolf (?).
Wenn magyarisch kor Zeit einen Kreislauf ausdrücken soll, so kann
es hier nicht abgewiesen werden. Davon kommt nun in derselben Sprache
kor-os bejahrt, alt. — In den verschiedenen Dialekten des Türkischen be-
gegnen uns für alt (von Menschen gesagt) die Formen kary, kart, kar-tschik,
kurt-ka (im Jakutischen kyry altern), sogar bei den Finnen kari-las senex
decrepitus. Aber vergebens sieht man sich in der Suomisprache und im
Türkischen nach einem ähnlichen Worte für Zeit um. Ist dieses nur bei
den Magyaren erhalten, oder haben wir die erwähnten Wörter von kor ganz
zu trennen?
Das mongolische or-tschi neben chor-gi (or neben chor) kann noch
auf gewifse andere bis jetzt unerklärte Wörter Licht werfen. Dahin gehören
(') Mongolisch ist kerö zusammenkoppeln und kerüdesün Knäuel.
(2) Das germanische Wolf vereinigt bei den Holländern ebenfalls mit der gewöhnli-
chen Bedeutung die einer Raupe (rups). Ob wegen der Gefrälsigkeit Beider? Es ver-
dient Beachtung, dafs chinesische Schriftzeichen für Raubthiere jeder Art (nicht blofs des
Katzengeschlechtes, wo man an die wurmähnlichen Windungen des Rückens denken könnte)
mit dem Wurzelbilde welches einst Würmer und Raupen darstellte, zusammengesetzt
sind; die meisten stellen Fuchs- und Wolfsarten dar.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 357
söj,! ordu, by»! orta, und das ungarische orszdg. Erstgenanntes Wort be-
deutet im Mongolischen und Türkischen Heerlager, dann insonderheit Hof-
lager (1). Wie nun das mongolische kür-diü kreisförmiges Ding, Rad, von
kür (das auch kürijen und küren [s. oben] erzeugt hat), so or-du ein Zel-
tenkreis, von der stärkeren, aber des consonantischen Anlauts entbehrenden
Wurzel or. — Orta ist nur bei den Türken gebräuchlich; es bedeutet Mit-
telpunkt, Mitte, nach meiner Ansicht buchstäblich im Kreise, weil man ent-
weder gleich anfangs den (von der Peripherie überall gleich weit entfernten)
Mittelpunkt selber, oder zunächst eine denselben schneidende Linie dachte,
wie die Chinesen (?).— OrszägKreis, Versammlung, begränztes Gebiet, Land,
findet sich zwar auch bei den Polen, steht aber im Polnischen eben so verein-
zelt wie im Ungarischen, und wird von den Ungarn in ausgedehnterem Sinne
gebraucht. Es ist mir zweifelhaft ob das sz in diesem Worte zur Endung
gehöre oder nicht; im ersteren Falle haben wir or wie in ordu u. s. w., im
letzteren können wir das mongolische or-tschi (s. oben) vergleichen (°).
Zu den oben vorgekommenen Formen ergi und chergi verhält sich,
wie ihr Echo, das mongolische ztergen Räderwagen mit seinen Ableitungen.
Wo aber die Wurzel sonst noch mit dem Anlaute z vorkommt, sind r und g
versetzt, z.B. mongolisch zügür-ük Rundung, Scheibe; jakutisch zegür -ük
rund; ferner mongolisch degere zurückkehren (*). — Türkisch & teker und
£> degir kreisen, wovon teker-lek Rad, degirmen Mühle. — Magyarisch
teker drehen, winden.
Nicht zu verwechseln mit kor kreisen ist die türkische Wurzel , kor
bauen, zurichten und schmücken, woher z.B. „U,»? kur-ghan Bau über-
(‘) Bei den Mongolen auch geradezu Palast. Vgl. das gleichbedeutende mands'. gur-
ung, dem chines. = kung entsprechend, aber nicht aus diesem entstanden, sondern
wie gur-un Reich, Land, von gur = chor = or einen Kreis ziehen.
(?) Das chinesische ischung Mitte war in der alten Schrift nicht, wie heutzu-
tage, ein Viereck, sondern ein Kreis, den eine senkrechte Linie schnitt. — Das du und
ta beider türk. Wörter halte ich nur für Formen einer Postposition des Locativs, die
abwechselnd zur, zu, ta, da, de lautet, und von der wir am gehörigen Orte ausführlich
handeln werden.
(°) Orszag ist also dem mands. gurun (s. oben) analog gebildet und hinsichtlich der
Wurzel auch mit demselben verwandt.
(*) Vgl. vower im Spanischen.
358 Scuotrüber das Altai'sche
haupt und dann Grabmonument. — Bei den Finnen hat diese Wurzel nur
die Bedeutung von Schmücken und Zierlichkeit: koria ornatus, decorus;
kori-ta exornare.
Mandsuisch chüd-un rasch. — Finnisch jout eilen. — Türkisch ou}
iwet dasselbe. Vergleiche unter dem Lippenlaute Z.
Mongolisch chaghorai, nach heutiger Aussprache choorai trocken. —
Türk. », # koru. Mandsuisch ol-chon für or-chon(!); tungusisch olgorin. —
Diese Wurzel scheint den Finnen fremd zu sein; dagegen ist ihnen eine an-
dere, die noch in dem mongolischen Eigenschaftsworte chowa-chai vertrock-
net, verdorrt, sich erhalten hat, desto geläufiger: finnisch kuiwa trocken, dürr,
als Verbum austrocknen; lappisch köike mit seinen Ableitungen, dasselbe. —
Da der Begriff Härte sich gern an den der Trockenheit anschliefst (?), so
darf man auch das finnische kowa hart hierher ziehen.
Türkisch +5 küm, göm vergraben und begraben. — Mandsuisch somi
verbergen und begraben; in derselben Sprache auch, ohne den consonanti-
schen Anlaut: um-bu begraben.
| Gehen wir nun zu einer Reihe solcher Wurzeln oder Wörter über,
die in verschiedenen Sprachen des Geschlechtes entweder nur mit dem Halb-
vocale Jod oder mit einem blofsen Vocale anlauten.
Finnisch jyrkiä, järkiä und jyriä, järiä grob, derb, feist. — Türkisch
5} iri dasselbe.
Finnisch jyrkä und jyrki steil, jäh. — Mongolisch. erki steil, hoch;
erki-m ausgezeichnet; ergü aufheben, erheben, Ehre anthun.
Finnisch joki kleiner Flufs. Im Tscheremissischen und im türkischen
Dialekte der Tschuwaschen ist jog fliefsen (?). — Bei den Lamuten heifst
Flufs ok-at. — Im Türkischen ist 5) ak als Verbalwurzel fliefsen.
Verwandt scheint auch die andere finnische Wurzel wuo fliefsen, die
wohl eigentlich wwok lauten müfste; denn man hat wuoksi Flufs. (*)
(') Die osttürkische Form für koru ist kor-ku.
2) Vel. z.B. jakutisch chat austrocknen, mongol. chatan hart; türk. katy hart, sehr.
8 ] 9 5 Y 9
(°) Tungusisch jukta und juukto Quelle.
(*) Wuosi Jahr möchte ich gern durch Zeitfluls erklären; da jedoch wuoze zum Grunde
liegt, so kann es auch aus dem russischen Worte ro» entstanden sein.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 399
Finnisch jouko Haufen, Menge. — Türkisch & jygh anhäufen und
use jyghyn Haufen. — Mandsuisch ik-ta anhäufen, sammeln. — Ein isch
für j sehen wir in dem lappischen zschöke, mongolischen ischuk gehäuft, bei-
sammen, Zschuktscha Anhäufung, und mandsuischen zschoocha Heerhaufen,
Armee. Dem mongolischen ischukist aber wieder sehr befreundet das türkische
Gs> tschok und gleichbedeutende magyarische sok (schok) Vielheit, viel.
Lappisch jakke und jakko, Wurzel des Glaubens und Vertrauens. —
Mandsuisch ak-da vertrauen (vergleiche ik-ta neben jouko).
Lappisch jukka drinken. Vereinigt gleichsam das finnische juo mit
dem mongolischen ughu. An juo reiht sich das türkische ws jut schluk-
ken. — Auf eine Nebenform juok verweist das lappische ischuoke schlap-
pen, saufen (').
Lappisch juglo Kind. — Türkisch Js£,} ughul, oghul Sohn, woher
ones! oghlan Knabe. — Tungusisch omol-gi Sohn und mandsuisch omolo
Enkel, welche beide Formen auch ng und g für m haben könnten. Vergl.
unter Ng.
Lappisch jörre fallen. — Mandsuisch ure einstürzen. — Türkisch
3» Jor-ul ermatten.
Lappisch jäsko-te fragen. — Mongolisch asak. Letzteres kommt der
bekannten germanischen Wurzel noch näher als Ersteres.
Lappisch jätte sagen. — Türkisch wu! ejit, wenn das Gesagte unmit-
telbar folgt.
Türkisch »\,L jar-at schaffen, machen. — Lappisch saret. — Man-
dsuisch ara. — Östjakisch wer.
Türkisch @Ll jak-ty klar, hell; ‚s jak anzünden. — Mandsuisch ja-
cha glühende Kohle. — Lappisch tschuouk Licht und seine Ableitungen;
daneben zsakke brennen. — Magyarisch eg (für jak) brennen, und vielleicht
eg Himmel, von der Bedeutung Helle, Klarheit (?). — Das türkische cl
(') Ein anderes Kernwort des Trinkens besitzen die Tungusen in omi, um, un, imi;
die Mongolen nur in abgeleiteten Wörtern wie um-ian Getränk, um-ia-gas dürsten u.s.w.
a
hier nicht an finnische Formen wie juoma Getränk, juomari Trinker u. s. w., denn in die-
Vergleiche das chinesische jen oder in, welches in Dialekten jam lautet. — Man denke
5 ’
sen ist m nicht wurzelhaft; sie gehören zu juo.
(?) Vergleiche das finnische /ma Luftkreis, von einer Wurzel hell.
360 Scuorrt über das Altai'sche
weifs halte ich für eine Nebenform jenes jak; vergleiche was oben (S. 341)
zu dem tungusischen giltaldi bemerkt worden (').
Wie tschap zu jap (s. oben), so verhält sich zu vorliegendem jak das
mongolische ischaki-l blitzen, woher tschakil-ghan Blitz. Dieses scheint
zunächst abgeleitet von zschaki Feuer schlagen, was auch bei den Türken
öl tschak ist (?). — Die tungusischen Wörter zalkian und talingu (Blitz)
möchte ich für blofse Verderbungen des mongolischen Wortes erklären (°).
Türkisch u aghads und „Li jaghads (jyghads, jiwys) Baum (*).
Östjakisch juch Baum und magyarisch ag Ast, jedes in seiner Art Verstümm-
] ji 87 5 ]
lung, wie das mongolische azscha Ast. In Jenen ist der Kehllaut allein er-
©’
halten, in diesem allein untergegangen. Die Suomisprache bewahrt
Beides in ihrem oksa Ast, indem sie nur den mittleren Vocal ausstöfst.
Türkisch zb jagh vom Fallen des Regens, Schnees, Hagels; ,L
jagh-myr Regen. — Mandsuisch aga regnen und Regen. — Lappisch ök-te
Regenschauer.
Türkisch ‚s'„b japrak, ‚s\2\> dsafrak, und bei den Jakuten sibirdach
Blatt. — Mandsuisch afacha mit vocalischem Anlaut und ausgestofsenem r
nach dem Labiale. Tungusisch abda-nda, awda-nna. Hier ist abda wesent-
lich und zugleich näher den türkischen Formen, von denen aber jakutisch
sibirdach am meisten das Gepräge der Ursprünglichkeit trägt, mag nun r in
japrak noch jenes r vor d, oder das verwandelte d sein; jedenfalls ist ein
Consonant ausgefallen (°).
(') Eben so vereinigt das finnische wa/kia die Bedeutungen glänzend, weils, und
Feuerschein.
(*) Der Umstand, dafs zschak und zschaki nur allein vom Anschlagen des Feuers
gebraucht werden und nie ein anderes Schlagen bezeichnen, spricht mir für ihre Einheit
mitjak, obschon an ähnlich lautenden Wörtern für schlagen, hämmern, schmieden (türkisch
tok und dög, finnisch zak, mands’uisch zu, 26) kein Mangel ist.
(*) Diese Annahme würde sie also von dem finnischen wa/kia, tscheremissisch wal-
gantsa (Blitz) u. s. w. fern halten und uns einer Fusion des jak mit schon da gewesenen
Wurzeln des Leuchtens überheben. — Beiläufig bemerkt: die magyarischen Formen mit
doppeltem Z hahe ich oben aus der Assimilation eines d erklärt; allein es kann z.B. villdm
auch für vi/gam stehen und also ein (freilich aus d entstandenes) g assimilirt sein.
(*) Aleutisch jagakch Baum.
(°) Im Mongolischen und in den finnischen Sprachen haben die verwandten Wörter
n oder zum Anlaute. Vergl. Z.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 361
Türkisch ; „ jü/ schwimmen (wofür kein Dialekt jür hat) scheint nur
eine andere Form des Wortes für Wasser, das sonst in den meisten Spra-
chen dieses Geschlechtes mit « oder u anlautet. Der jakutische Dialekt hat
noch jetzt usun schwimmen und schiffen, ganz gleichlautend mit dem
mongolischen usun (auch usw) Wafser; und im Ungarischen ist die Wurzel
des Schwimmens usz (üss). Walser heifst ebendas. viz (wif) und finnisch
wesi (1). In der gewöhnlichen türkischen Form „o su Wafser hat man wohl
das mongolische usw mit ausgefallenem vocal. Anlaute zu suchen. (?).
Türkisch ei essen, nur in «£#! et-mek Brod, was sich als ein Infinitiv,
wie unser Efsen für Speise, kund giebt. — Die gewöhnliche mongol. Wurzel
ide (?) verhält sich zu diesem e2 wie die gleichlautende mongolische ide
verfertigen, machen, zu dem gleichbedeutenden türkischen i (auch et). —
Bei den Mands’us erscheint ds’et für je? im Verbalnomen dset-ere, sonst aber
dse für je, welches in der türkischen Familie das gewöhnliche Kernwort des
Efsens. Auch von diesem wird das Verbalnomen «Sz, je-mek im gemeinen
Leben für Speise und Mahl gebraucht (*), ein anderes, y%*s. je-misch, für
Obst, Früchte. Im Mandsuischen bedeutet dse-ku die Cerealien, weil sie
eine Hauptnahrung sind: ein Grund mehr, in dem türkischen eimek (Brod)
nur Efsen, Speise überhaupt zu sehen. — Die türkische Wurzel je wird im
Jakutischen se, im Tschuwaschischen si. — Finnisch ist efsen syö und syy;
aber die Magyaren haben wieder et in et-ek Speise, Gericht, u. s. w.
(') So sagen z.B. die Tschuwaschen wis für ze uds Äusserstes, Ende; wisse für
—„' uisch drei.
T (2) Als verwässerte Formen erscheinen mir: finnisch wi (für si?) schwimmen, und
mongol. oi-ma (oimachu), wenn nämlich das m des letzteren nicht zur Wurzel gehört; im
anderen Falle kim es dem arabischen “,2 sehr nahe. Aber auch die oben angeführten
tungusischen Wurzeln des Trinkens: omi u.s. w. böten jenem oima die Hand. Analog
heilst in einigen Eskimo-Sprachen mmyk oder tangak Wasser, und myka oder tanga
trinke du! — Ich nehme hier Gelegenheit zu bemerken, dass ein die Tungusen aus-
zeichnendes Wort für Wasser (muke, muja, mu) seinen treuesten Anklang in dem zmımyk
des Eskimo-Stammes Kangjulit findet, dessen Anlaut nur ein mit stark gepresster Lippe
gesprochenes und insofern doppeltes m ist.
(°) Auch ede findet sich bei den Mongolen, z.B. in ede-mek gekochtes Viehfutter
(der Form nach fast genau das türk. eimek Brod); ede-kü Speise oder Futter in ein Ge-
fäls thun.
(*) Jemek jemek Essen essen, d.i. ein Mahl halten. Hier ist die Form auf mek das
erste Mal wahres Nennwort und das zweite Mal Infinitiv.
Philos.- histor. Kl. 1847. Zz
362 Scuorr über das Altai'sche
Türkisch ®! ei Fleisch, allem Anschein nach ein verkommenes Wort.
Die tschuwaschische Form juwt giebt uns den Muth, ein ausgefallenes 2 an-
zunehmen, wie in den tungusischen Formen ulda, ulla, und dem jali der
Mandsus.
Türkisch x, 2232 jumurta Ei. — Tungusisch umukta, umutka und
umta. — Mongolisch ümdü-gen. — Mandsuisch um-chan. In dem tungu-
sischen umta und mongolischen ümdü sehen wir von den letzten zwei Conso-
nanten nur Z (d) erhalten, eben so in der jakutischen Form symyt. Die
Mandsus behalten um allein, denn chan ist wie mongolisch gen nur ver-
kleinernder Zusatz. Umu oder um scheint in allen diesen Formen allein
wesentlich, und in dem finnischen mu-na mag der anlautende Vocal wegge-
fallen sein wie z. B. in mui-nen = emü-ne (').
Tungusisch umuk, unuk, unjak (mit und ohne Zusätze) Finger. —
Auf ein ausgefallenes j (oder +) läfst uns die mandsuische Form sim-chun
schliefsen, ferner das, nur bei den Jakuten erhaltene, türkische semija(?).—
Dagegen schliefst sich an eine tungusische Form wie unjak das ungarische
ij Finger und Zehe.
Mongolisch dsir und ir als Ausdruck der Heiterkeit und des Erfreu-
lichen, z. B. in dsir-gha sich erfreuen, belustigen; ira-gho angenehm, ira-
ldsa lächeln. — Mandsuisch lga-scha einen Besuch zu seinem Vergnügen
machen. — Türkisch &! ir-mek munter, kurzweilig. — Finnisch zo Freu-
de (°). Mit u haben die Mandsus ur-gun Freude; mit ö, die Ungarn ör-öm
dasselbe und ör-ül sich freuen. Endlich finden wir bei den Jakuten ür und
nach Erman jor, ein Beispiel mit j als Anlaut, der übrigens auch in dsirgha
vorausgesetzt werden mufs.
Es folgen Wörter, deren Anlaut entweder Labial oder Selbstlauter
ist, jedoch ohne Wiederholung derjenigen die schon beiläufig vorgekommen.
Mongolisch aba und adu Vater, mehr in schmeichelnder Anrede; sonst
noch erhalten in aba-gha Oheim, aba-ghai ältere, ehrenwerthe Person;
geschwächt in edü-ge Grofsvater, ebü-gen Greis. — Mit u in dem jakutischen
(') In verschiedenen Eskimosprachen heilst Ei: manni, manik, mannit.
(?) Das gewöhnl. türk. darmak oder parmak finden wir in dem finnischen warwaha
Zehe wieder.
(°) Ob alle diese ir, ur, ür, ör, il ursprünglich mit den oben besprochenen Wurzeln
des Leuchtens und Glänzens zusammenfallen, dies will ich unentschieden lassen.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 363
ubai älterer Bruder (!),; mit w als Anlaut in dem Lappischen wuop Schwie-
gervater.— Dieselben Formen für geehrte Personen weiblichen Geschlechtes:
tscheremissisch aba Mutter; tschuwaschisch dasselbe in ab-ai meine Mutter,
ab-u deine Mutter; mongolisch aba-chai vornehme Jungfrau (als Titel). Das
geschwächte a! ede im Türkischen Grofsmutter und Hebamme. Mit ö im
Lappischen öppa Schwester. — Einen Labial als Anlaut haben die Türken
in baba Vater, die Mandsus in mafa Grofsvater, Ahnherr (für maba = baba),
und die Lappen in wuop (s. vorher).
Mandsuisch ama Vater. Sonst mehr für weibliche Personen: so im
Mandsuischen selber amu Weib des älteren Oheims oder Bruders; tschuwa-
schisch amy-s Mutter (neben aba und anja). Bei den Türken überhaupt
noch in .) am Geburtsglied (?). — Geschwächte Formen: mandsuisch eme
Mutter; mongolisch eme Weib überhaupt (von seiner vornehmsten physischen
Bestimmung, d.h. Mutter zu werden), eme-ge Grofsmutter; eme-gen alte
Frau. — Finnisch emä, emi, emo, emu Mutter und Geburtsglied; emä-ntä
Hausmutter, Wirthin. — Hierher gehören ferner Ausdrücke für Zitze, weib-
liche Brüste, und saugen, an der Brust trinken, in welchen die Wur-
zel als em oder im erscheint (?). Bei den Mandsus hat mama Grofsmutter
(vergl. mafa), bei den Türken meme Mutterbrust auch m zum Anlaute.
Das m in der Mitte ist, jedoch fast nur im weiblichen Sinne, häufig
nj,niund blofses n geworden. So haben schon die Mands’us neben eme auch
enie Mutter (*); die Tschuwaschen neben amys auch anja; die Ungarn nur
anya (anja);, die meisten Türkenstämme nur Ü' ana. Aus der Suomisprache
nenne ich eno Mutterbruder.
In diese Kategorie von Verwandtschaftswörtern gehören nun auch
Bezeichnungen des Geschlechtes an Vögeln und Säugethieren. Bei den Man-
ds us ist ami-la (von ama) das männliche, emi-le (von eme) das weibliche
(') Vergl. zu diesem ganzen Artikel die Verwandtschaftsnamen mit einem Kehllaut
in der Mitte.
(?) So ist das mands. fefe cunnus nur eine andere Form von cheche femina.
(°) Ob das Mands. simi auch hierher gehört, oder mit dem Ungar. szio (tibet. si)
eine eigene Wurzel bildet, mag vorläufig dahin gestellt bleiben.
(*) Sonstige tungusische Formen sind ani, oni, önni, bei den Lamuten aber anja, wie
bei den Ungarn und Tschuwaschen.
Zı2
364 ... ScHuortrt über das Altaische
Thier (!). Sodann heifst eni-chen (Mütterchen) der weibliche Hund; eni-en
(eine Erweichung dieser Form) das Weibchen des Hirsches und Elenthiers,
endlich uni-en das weibliche Rind, die Kuh. Bei den Mongolen ist üni-gen
oder üni-jen die Kuh, ing-gen (statt ini-gen) die Kameelstute; bei den Türken
Su inek (für ine-ken) die Kuh.— Von eme bilden die Mongolen eme-ktschin
weiblicher Vogel, und bei den Suomalaiset ist emä überhaupt das weibliche
Thier (?). Bei den Uiguren heifst der weibliche Vogel matschian (für matschi-
gan), womit matscha-la (Kuh) bei einem tungus. Stamme zu vergleichen.
Mandsuisch wesi hinansteigen und wasi hinabsteigen. Daher wesi-chun
hoch, geehrt; wasi-chun niedrig und Gegend des Niederganges, Westen. In
letzterer Bedeutung häufiger wargi aus wa-ergi = wasi ergi Niedergangs-Ge-
gend (*). Jene Wurzel haben die Türken in den Formen üs und üf, woher
ww) üs-t Obertheil; ,;s! üf-er dasselbe; aber dies und sein Dativ s,;,1 üfr-e
nur als Partikeln (auf, über, gegen, gemäfs) im Gebrauche. Die andere Wur-
zel lautet bei den östlichen Türken as in vu as-t Untertheil, als Partikel
unter (*); bei den westlichen ascha, jedoch nur mit dem Zusatze gha:
si) (°). So besitzen die Mandsus fedsi = wasi in fedsi-le und feds-ergi
unten.
Mandsuisch udsu Kopf und uds-an Wipfel. — Türkisch zZ) uds
Spitze, Extremität. — Mongolisch üdsü-gür. — Ehstnisch ots Spitze, Ende,
und finnisch oisa Stirn (°). — Neben den zwei erwähnten Formen hat der
Mandsu auch eine mit wa für u, und zwar in wadsi endigen, gleichsam: bis
zur Spitze, zum Äufsersten bringen. — Wahrscheinlich ist dieses derbere
Etymon mit üs und wesi verwandt; allein es bildet in seinen verschiedenen
(‘) Zunächst bedeuten sie Hahn, Henne und resp. mas und femina der übrigen Haus-
thiere, dann auch des wilden Geflügels.
(2) Für Mutterschwein sagt man emisä und emis neben emä-sika.
(°) Aufgangs-Gegend ist aber dergi von einer anderen Wurzel. S. 7.
€) 9) EN) 'ust-urt Hochland; ws can) ast-urt Tiefland.
(?) Das angehängte gha ist eigentlich nur der osttürkische Dativ, hat aber hier, wie
öfter, im Gebrauche die Kraft eines wortbildenden Zusatzes erhalten: aus nach Unten
ist das unten Befindliche geworden.
(°) Davon o1so der Breitgestirnte, ein beliebtes Epithet des Bären, das auch oo und
ohto lautet. — Sollte der mongolische Name dieses mächtigen Thieres, özö-ge, öte-ge nicht
damit zusammenhangen? Oder kommt dieser von der Wurzel özö alt sein, wozu das an-
dere finnische Epithet, korwen ukko Waldes-Greis, sehr gut palste?
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 365
Formen eine selbstständige, geschlossene Reihe, und einige bestimmter aus-
geprägte Bedeutungen geben ihm Anspruch auf höheres Alter.
Mandsuisch wala Untertheil, untere Stelle. — Finnisch ala, ali, alu,
dasselbe, mit vielen Ableitungen (!). Tscheremissisch wal niedersinken,
wal-t hinablassen. Lappisch wuola = ala. — Jakutisch ala in ala-ra nach
unten; bei den übrigen Türkenstämmen aber nur al, wie in wJ al-t Unter-
theil, unter, ee al-tschak niedrig, besonders im übertragenen Sinne.
Türkisch (s,!ir-mak Flufs, offenbar Verbalnomen von ir fliefsen, das
bei Türken nicht mehr vorkommt, als dessen Anverwandter aber (5,! eri in
©,! erit flüssig machen, schmelzen, gelten kann (?). Mit w als Anlaut haben
die Finnen wir-ta strömen und Strom, Flufs — mit 5, die Tungusen bira,
bera, birja in letzterer Bedeutung. — Stärkeren Vocal hat mongolisch ur-
us strömen; und ein mür = bir, wir, ur, ir mag in mür-en grolser Flufs
aufbewahrt sein.
Türkisch &} and Eidschwur. — Mongolisch anda-ghar. — Ehstnisch
wand Fluch, Eid. Finnisch wanno (für wanto) schwören.
Tungusisch uro, urjo, urä Berg (?). — Finnisch wuori, das also dem
russischen ropa eben so wenig sein Dasein verdanken mufs, als dieses oder
0005, oDgos dem hebräischen "7.
Finnisch wät-kä mit Gewalt werfen. — Türkisch & at werfen, schie-
fsen. — Auf die Verwandtschaft von jacere und jacere im Latein gestützt,
könnte man auch das türkische wL jat liegen und finnische wuot in wuote-he
Lager, Bett, hierher ziehen (*). Die Lappen haben jäwat sternere, wovon
jäwatak pulvinar, fast genau das türkische D jatak.
Finnisch wiru zwitschern. — Türk. p} ir Gesang, woher ir-la singen.
Finnisch «yö Gürtel, Mitte des Leibes. — Türkisch (> wi-Zuk Hüfte,
ohne Zweifel buchstäblich Gürtel-Gegend, obschon wi in jener Bedeutung
nicht mehr vorhanden (°).
(') Z.B. alukse (alus) Unterlage, Grundlage. Dahin gehört denn ohne Zweifel auch
alu (alku) Anfang, was ich oben (S. 343), durch Ähnlichkeit getäuscht, mit dem mongol.
alchu Schritt zusammengestellt habe.
(2) Mands. ist eje (j für r) Nliefsen.
(°) Mands’. nur alin, womit Gabelentz das magyarische ralom Hügel verglichen hat.
(*) Vergl. finnisch maka liegen und mands’uisch mak-ta werfen. — Zu jat gehören
noch: mands‘. jada matt werden; mongol. jarz unfähig zu etwas sein, nicht können.
(?) Nachweisliche Formen: ze) ur und 3 kur; also wieder r neben :.
366 Scuorr über das Altai’sche
Türkisch ,s£s! oghur stehlen; ss} oghry, ouru Dieb. Jakutisch or
stehlen. — Finnisch warka-ha und woro Räuber; wora Betrüger.
Türkisch ‚s! wur und ur schlagen. — Mands’uisch fori. — Magy. ver.
Mandsuisch oron das zahme und iren das wilde Renthier. Tungu-
sisch auch irum, irjunj u. s. w. — Bei den Lappen heifst das männliche
Renthier ron-tscho und ron-tscha, wo also der anlautende Vocal vermifst
wird; der Zusatz am Ende scheint verkleinernd zu sein, wie etwa in snjera-
ischa neben snjera Maus. — Im Buleku-Bitche ist des zahmen Renthiers
unter dem Namen oron-buchü gedacht, d.h. es ist ihm noch das Wort für
Hirsch beigegeben (!). Wie ron aus oron, so könnte das scandinavische ren
aus iren entstanden sein, obgleich Letzteres nur noch bei den Tungusen er-
halten scheint (?).
Die Finnen haben für dieses Thier den Namen poro, peura, also mit
starkem Labial als Anlaut.
Wir wenden uns nun zu denen Wörtern, in welchen einfaches n oder nj
(rn), das bei Tungusen und Mongolen oft geradezu ni wird, mit blofsem vo-
calischen Anlaute wechseln.
Mandsuisch nelche und elche, beides Ruhe, Frieden (?). Offenbar
abgekürzt für nele-che und das noch vorhandene ele-che gesättigt, zur Genüge,
befriedigt, von der häufigen Verbalwurzel ele die auch ele-chun zufrieden,
ruhig, u.a. erzeugt hat. — Mongolisch el Frieden, Ruhe. — Ungarisch el-eg
hinreichend, genug. — Ob man die finnische Wurzel elleben, deren Selbst-
(') Die kurze Beschreibung lautet: Eine Art Hirsch. Beide Geschlechter tragen
Geweihe. Man verspeist ihn. Die Oronzschos unterhalten ihn als Hausthier.— Das scho
in orontscho (Renthierhalter, nomadischer Tunguse) ist, beiläufig bemerkt, nicht mit
dem ischo im lappischen ronzscho zu verwechseln; es zeigt, wie das sonstige Zschi, einen
Beruf an.
(?) In dem durch Langles’s Bemühungen gründlich verpfuschten Dietionnaire Mant-
chou-Frangais des Paters Amiot heilst es unter iren: Nom d’une espece de cerf, qui ressemble
a celui qu’on appelle pouhou, ou oroun. — Allein bucht (pouhou) schlechthin ist allge-
meiner Name des Hirschgeschlechtes und also mit oron (nicht oroun) keineswegs gleich-
bedeutend; dafs aber das wilde Renthier gemeint sei und oron-buchü zusammen den Namen
des gezähmten ausmachen, davon bemerkt der immer confuse Langles nichts.
t : N ii >
(°) Ersteres im Buleku-Bitche durch 1:3 k’ang und Letzteres durch DE ngan
erklärt.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 367
lauter ebenfalls kurz ist, nicht als gleicher Abkunft betrachten darf? Ist dies
der Fall, so haben die Ungarn beide Bedeutungen durch Dehnung oder
Kurzsprechen des e unterschieden; denn bei ihnen ist leben £l.
Mongolisch neng in hohem Grade, sehr. — Türkisch 8} en aus eng
dasselbe. — Mandsuisch ronggi hinzuthun, vermehren. — Mongolisch auch
neng-de und neng-gü übertreffen.
Mandsuisch nergin gelegene Zeit. — Türkisch „5! erken früh, zei-
tig. Vgl. S. 342.
Türkisch 5, aryk hager. — Finnisch arka zart, empfindlich, daher
auch furchtsam. — Mandsuisch nar-chün fein, dünn. — Mongolisch nar-in
fein; geschickt, klug. — Lappisch njuor-es zart, weich (!).
Türkisch ©, arka Rücken. — Lappisch njorga Schulter.
Lappisch njuow schinden und schlachten. — Mongolisch üp-tschi
schinden.
Lappisch njuor bemitleiden. — Mongolisch ure.
Finnisch neuwo Rath. — Türkisch »s,! ügüt, üwüt.
Mongolisch nidü und nüdü stofsen, stampfen, desgleichen &-cha zu-
rückhalten. — Türkisch it. Vgl. S. 336.
Mandsuisch niele ausdreschen. — Mongolisch ele-ku Dreschwalze. —
Türkisch el-le worfeln; ss} el-ek Sieb.
Türkisch ‚ss, ögür Thiere die an einander gewöhnt sind; daher
5» öjre-n sich mit etwas befreunden, es lernen; öjre-t lehren. — Mongo-
lisch nügür Gefährte, Freund; daher nügü-tse begleiten.
Tungusisch njuktschu-kan und nitschu-kun, nitschi-kon klein. Bei
den Mandsus nur mit vocalischem Anlaute adsi-gen, asi-kan, oso-chon.
Diese Formen sind mehr abgewichen als das mongolische ütschü-ken (auch
tschü-ken), wenigstens hinsichtlich der Vocale; aber Alle begegnen sich in
einem die Kleinheit noch mehr verkleinernden Anhange k-n, g-n (?). — Im
(') Wegen des Verhältnisses zum finnischen Worte vergl. lapp. niam an der Brust
trinken; finnisch im; türk. em.
(?) Hammer-Purgstall sagt in seiner Geschichte der Goldnen Horde (S. 50.), dafs,
nach Raschideddin, der jüngste Sohn einer Familie bei den Mongolen allemal Ur-dasigin
d. i. der Feuersitzer, genannt worden sei, weil er zu Hause blieb, um den Heerd zu
schützen. Bei Abulghasi (a. a. O.) geschieht (S. 96) eines OS EH Uttschikin Erwähnung,
den Tschinggis auf die Nachricht von Tschutschi’s plötzlichem Tode nach Kyptschak ab-
sandte, um dessen Sohn Batu an seines Vaters Stelle zu setzen. Wer jener Uttschikin ge-
368 Scuorrüber das Altai'sche
Im Türkischen ist adsi oder asi zu 5 a/ vereinfacht, das bei den östlichen
Türken noch klein, bei den westlichen aber wenig bedeutet. — Dagegen
tritt das Lappische uzse, von welchem auch eine neue Verkleinerung utse-
katsch parvulus gebildet wird, besonders der mongolischen Form wieder
sehr nahe; und gewifs nichts anderes ist das magyarische öttse (ötsche). Die-
ses bedeutet zwar nur jüngerer Bruder; allein der Übergang von klein
zu jung, jünger ist überall so sprachgemäls, dafs er gar keiner Beispiele
bedarf. Nur zum Überflusse führ’ ich an, dafs die Osmanen den jüngeren
Sohn oder Bruder immer den kleinen und den älteren immer den grofsen
nennen (!).
Bei den westlichen Türken ist für klein das Wort S>sS kütschük und
nur dieses im Gebrauche. Aber auch die östlichen, wenigstens muham-
medanischen, besitzen es in der Form kitschik. Kütschük kommt nun dem
persischen S>s‘ küdsek so auffallend nahe, dafs man seine Erborgung kaum
bezweifeln darf, um so mehr, da die heidnisch gebliebenen Jakuten kein
solches Wort besitzen. Und doch könnte es in dem tungusischen njuk-
tschukan schon enthalten sein!
Finnisch nenä Nase und vorderes Ende. Lappisch njuone Nase,
aber njuono der Vorderste, Erste (?). — Mandsuisch nene vorangehen, be-
sonders zeitlich, daher nene-che vergangen, ehemalig; ferner nen-de vor-
wesen wird nicht gesagt; offenbar meint aber Abulghasi den jüngsten Sohn des Tsching-
gis, Tului, welchen er sonst > e-re} Tuly-Chan nennt. Der Jüngste einer Familie
heifst bei den Mongolen ozchan, welches Wort sich, wenn es in o£+chan zerlegt
wird, mit Feuer-Chan, Feuer-Herr erklären läfst, wobei nur die Schwierigkeit, dals oz
zwar bei den Türken, aber nicht bei den (heutigen) Mongolen, Feuer bedeutet. Was
nun uz-tschikin anlangt, so bedeutet dessen zweiter Bestandtheil in beiden Sprachen we-
der Herr noch Sitzender, im Mongolischen das Ohr! Ohne Zweifel hat Raschideddin
sich vergriffen, und das mongolische üzschüken (klein) für ozchan genommen.
(') Bruder überhaupt heist bei ihnen UMS karyndasch oder abgekürzt kardasch,
von karyn Bauch, buchstäblich Bauchgenosse, analog dem griech. @deAdbos. Um nun
das Verhältniss des Alters zu unterscheiden, spricht man vor diesem Worte San büjük
grols oder "S>sS kitschük klein. — Die östlichen Türken haben, wie die meisten Völ-
ker dieses und noch manches anderen Geschlechtes, kein Wort für Bruder im Allgemeinen,
für älterer oder jüngerer Bruder aber Ausdrücke die unter sich ganz verschieden sind.
(2) Das türk. Wort urun Nase hat besonders bei den östlichen Türken häufig die
Bedeutung vor (von Zeit und Ort gesagt), z.B. (Wenn durun-ghy (aus Nase und dem
angehängten bezüglichen Deuteworte) vorig, ehemalig.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 369
angehen im örtlichen Sinne und etwas zuerst (vor Anderen) thun.— Vorde-
rer in Hinsicht des Ortes und der Zeit ist bei den Finnen en-te (ensi), oder
e-te (esi), jedes mit zahlreichen Ableitungen (!). Beide können mit nenä Nase
u.s.w. urverwandt, ihre Abstammung aber wegen des fehlenden Anlautes
nin Vergefsenheit übergegangen sein. Esi (ete) erscheint mir als eine blofse
Abkürzung von ensi (ente); doch finden wir nur Ersteres bei Mongolen und
Türken wieder: mongolisch heifst esi Ursprung, esi-le auf den Ursprung
hinweisen; türkisch heifst ‚=! es-kö ehemalig und alt (?), aber nur von Zeit
und unbeseelten Dingen.
Ein anderes Etymon für Vorderes und Vergangenes hängt wohl auch
mit einem Worte für Nase, nur keinenfalls’mit dem erwähnten, zusammen.
Seine wahrscheinliche Urform war ung, und diese finden wir in den man-
dsuischen Wörtern ungga Vorältern und unggu, welches letztere, mit mafa
und mama verbunden, die Urgrofsältern bezeichnet (?). — Türkisch ist
os) umghan, wunstreitig für ung-ghan, das Bruststück der Hausthiere;
“&,} öng und &y) ön Vorderseite überhaupt. — Mongolisch öni vordem,
längst. — Ich habe schon oben bemerkt, dafs das weitverbreitetste Wort
für Nase in tungusischen Dialekten die Formen ongokto und ongot annimmt,
auch aus dem mongolischen chong-sijar auf ehemaliges Vorhandensein eines
ähnlichen, nur guttural anlautenden Wortes in dieser Sprache geschlofsen.
Finnisch notko Biegung; notku sich ab und zu biegen; notkia biegsam,
u.s. w. (*). Mongolisch nogAho-l umbiegen; nogho-ra sich umbiegen. —
(') Unter diesen befindet sich eze-2ä Südland, wörtlich Vorderland. Es hat also
der Finne, die Weltgegenden bestimmend, sich mit dem Gesichte nach Süden gekehrt,
wie der Tunguse, der Türke und gewöhnlich auch der Mongole.
(*) Aus s und dem bezüglichen Deuteworte. Vergl. Burun-ghy vorig, dün-ki ge-
strig, u. S. w.
uud BR
(°) Dals die Chinesen den ältesten Ahnherrn einer Familie EI INEL vie, buch-
>IT=
stäblich Nasen-Ahnherr nennen, hat wohl ganz einfach seinen Grund darin, dafs hier,
wie in den tatarischen Sprachen, die Nase zugleich Vorderstes, Altestes, Ursprung be-
deutet hat. Dies bestätigen auch die Sprachgelehrten der Chinesen selber. Siehe K’ang-hi’s
Wörterbuch unter Nase. Zu künstlich ist es aber, wenn ebendaselbst gesagt wird, der
erste Stammherr heifse darum pi-is&, weil die Nase das erste Glied des Mutterkindes sei,
welches Form erhalte.
(‘) Mitr haben die Finnen nuoria und nöyrä biegsam, dann nachgiebig, demüthig. —
Ob wäärä krumm, gebogen, dem türkischen gjri nur zufällig so nahe kommt?
Philos. - histor. Kl. 1847. Aaa
370 Scuorr über das Altai’sche
Lappisch niakko gebogen, geneigt. Mandsuisch niakün Knie. — Dann wie-
der lappisch neike-le biegen, neigen. Mandsuisch naichü biegen und sich
neigen. — Mit einem Selbstlauter als Anlaut: mandsuisch uchu biegen und
falten (daher z. B. uchu-ken was leicht zu biegen ist, schwach) (!); ferner
uku in uku-le bücken, hinabdrücken (die Mütze ins Gesicht), uku-nu Ge-
bogenes, Kreis versammelter Menschen (?); endlich 0jo biegen, falten, über-
decken, einen Kreis beschreiben (daher ojo-nggo das Umgebogene, Umfas-
sende, Wesentliche). — Türkisch oghu in „s&s} ogh-un sich krümmen,
sich niederbücken, ferner 8} eg oder ej (vergl. neike) biegen, neigen u.s.w.
Daher \sS1 ej-ri krumm, schief.
An die einmal ausgebildete Bedeutung Umgebendes, Kreis knüpft sich
wieder die einer Gesammtheit, Allheit, eines Ganzen, wie wir oben unter
ch-r, k-r, g-r gesehen. Daher mongolisch ogho-ghata völlig, ganz; oghoo
in hohem Grade, sehr; mandsuisch uche Gesammtheit, uche-ri im Ganzen,
zusammen, u.s.w. Also ist die Wurzel ohne consonantischen Anlaut auch
den Mongolen nicht fremd (°).
Finnisch nielu Schlund, Gurgel; niele schlucken. Davon unmittelbar
magyarisch zyelo Zunge (*) und nyel schlucken. Lappisch njölo lecken und
magyarisch zyal dasselbe. An die Bedeutung Kehle oder Schlund knüpft
sich die des Schluckens und an die Bedeutung Zunge die des Leckens. —
Im Türkischen haben wir Sb jal lecken; im Mongolischen ds’al-gi (für jal-gi)
schlucken. Beide sind offenbar von einem verlorengegangenen Worte für
Kehle und Zunge, das einen starken Vocal hatte wie z. B. nyal, njolo. Das
mongolische dolo lecken gehört eben dahin; das türkische JS dil oder dil-ge
(tschuwaschisch Zschilge) Zunge aber zu der schwächeren Wurzel niel. —
Einen blofsen Vocal ö als Anlaut hat das mandsuische üe lecken, womit
wieder ie-nggu Zunge innig zusammenhängt (°).
(') Auch bedecken, sofern dies durch Umbiegung, Umwindung geschieht.
(?) Uku allein heilst als Verbalwurzel: jemanden im Kreise umdrängen, sich gleich-
sam um ihn herum biegen.
(°) Verwandte Wurzeln des Biegens und Krümmens, die mit einem Kehllaut oder
einem Lippenlaute anfangen, werden an ihrem Orte zur Sprache kommen.
(*) So ist mongolisch kele Zunge verwandt mit choola und choolai Schlund, Kehle.
(°) In den tungusischen Dialekten ist das 2 von i/e meist n geworden oder sogar aus-
gefallen: ingni, inggi, inni sind Verkümmerungen von ienggu. Die Lamuten haben enga
neben :i/ga, welches letztere dem Zschige der Tschuwaschen sehr ähnlich wird.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 374
Aus dil Zunge entsteht nun im Türkischen unstreitig dile sich sehnen,
verlangen (gleichsam die Zunge nach etwas ausstrecken) und, wie ich glaube,
auch di sagen, das zu dil eben so sich verhalten mag, wie das mongolische
ge sagen zu kele Zunge. S. unter X. Das den Lappen eigenthümliche Wort
für Mund, njal-me, kommt wohl von njal in der Bedeutung schlucken.
Mandsuisch nialma Mensch. Dieses wohltönende, den übrigen tun-
gusischen Dialekten unbekannte Wort findet erst Anklang im Lappischen,
und zwar zunächst in der Form almatsch Mensch, woneben auch ulmutsch
und ölma (dieses nur in der Bedeutung Mann) vorkommen. Aber die For-
men mit o und z führen uns zu einem Bruderwort in der Suomisprache, das
uns allererst die Wurzel und ihre Bedeutung enthüllt: es ist ole-mus le-
bendes Wesen überhaupt, von ol (ole), jener den meisten finnisch -tata-
rischen Sprachen geläufigen Wurzel des Daseins, auf welche ich hier nur
hindeuten will. Mus ist blofser grammatischer Zusatz, wie mutsch, matsch
und ma ('!); wir können daher unbedenklich nial im mandsuischen Worte
für jene Wurzel des Lebens, Daseins erklären, die sonst nur noch mit vo-
calischen Anlauten erscheint. Aber unmittelbar aus nial entstanden sind die
Formen mit dem Anlaute & oder e (lappisch äl, finnisch und magyarisch el,
el), deren bereits oben unter nelche gedacht worden.
* *
*
Bis jetzt haben wir verwandte Wurzeln kennen gelernt, die entweder
mit einem Vocale oder mit einem Consonanten vor dem Vocale anlauteten (?).
Nun eine kleine Anzahl solcher, deren Anlaut entweder blofser Consonant
oder ein Vocal vor demselben ist.
Lappisch mangga und mangge was hinten oder später kommt. Ist
als Adjectiv und Verhältnifswort (Postposition), im letzteren Falle mit ver-
(') Mus steht für ma + us; es ist Zusammenschweilsung zweier den abgezogenen
Zustand bezeichnender Zusätze, von denen letzterer für wkse steht. Eben so verhält sichs
mit mutsch, matsch im Lappischen, und mit der Endung isch im Türkischen. — Mit blo-
(sem ma (mä, m) bildet man z.B. von o/ im Finnischen olle-ma dasein, vorhanden sein,
und von el, elä-mä Leben, Lebensweise; magyarisch el-em dasselbe. Diesen Formen stehen
also ö/ma und nialma am nächsten.
(?) Von Wörtern mit blofsem Vocale oder z, d, auch s, isch als Anlaut sind einige
beiläufig vorgekommen; andere werde ich, da ihrer nicht viele sind, unter den erwähnten
Mitlautern aufführen.
Aaa
372 Scnuorr über das Altai’sche
schiedenen Casuspartikeln, im Gebrauche. Bei den Ungarn haben wir da-
für meg in meg-E und meg-ett hinter, nur örtlich. — Mandsuisch manggi,
Verhältnifswort in der Bedeutung nachdem; daneben auch ama in den Wort-
bildungen ama-ga, ama-la, ama-si nach hinten, später, nachherig, künftig,
und ama-rgi (aus ama + ergi) hintere Gegend, Norden. Es steht also manggi
selber für ama-nggi, und ist die abgekürzte Wurzel in Verbindung mit dem
bezüglichen Deuteworte, das man aber nur noch bei den Mands’us als solches
erkennt. — Die Mongolen besitzen diese Wurzel in dem einzigen Worte
uma-ra Norden, dessen ra dem mandsuischen ergi entspricht. Das mon-
golische emü-ne Vorn und Süden lehrt uns aber eine Wurzel emü kennen,
in welcher der Gegensatz der Bedeutung durch Schwächung der Vocale be-
zeichnet scheint. Diesem emüne begegnen wir wieder in dem finnischen
muina Vergangenes, frühere Zeit, wo der anlautende Vocal verschwunden
ist (1).
Türkisch ; „! omu/f für omur Schulter. — Mongolisch mürü und man-
dsuisch mejren. — Tungusen haben n statt m in nuru, nöru, neri, niri,
welche Wörter aber Rücken bedeuten (?).
Mongolisch edütük Knie. — Finnisch potka Knie des Ochsen.
Mongolisch ebü-sün Gras, Kraut. — Magyarisch fü für bü.
Mandsuisch ede weich machen (in Wasser einweichen), schwächen;
ebe-re schwach werden. — Türkisch w,;} epre-t verdünnen, abnutzen, aus-
mergeln, schwächen. — Lappisch eber-es schwächlich, kränkelnd; auch für
schwanger. — Mongolisch ebe-d Schmerz empfinden, krank sein, ebed-tschin
Krankheit; auch eber in eber-schil plötzliche Krankheit, eber-le plötzlich
erkranken. — Der vocalische Anlaut fehlt in dem magyarischen bet-eg un-
päfslich und krank, worin ich det allein für wurzelhaft halte; desgleichen in
dem (durch einen starken Vocal sich auszeichnenden) finnischen poti schmer-
zen, kränkeln, krank sein.
Mongolisch masi, in hohem Grade, sehr; masi-la in reichem Maafse
ihun. — Mandsuisch umesi aufserordentlich.
Beispiele von Verschiebung, wodurch ein Vocal statt eines Conso-
nanten Anlaut wird oder umgekehrt, sind: Mandsuisch fo reiben; türk. ow. —
(') Wegen der Bedeutungen vergleiche das türkische ung Vorderseite mit dem man-
ds’uischen ungga Vorlahr.
(2) Ob das lappische njorga (s. oben) eher hierher als zu dem türkischen arka gehört!
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 373
Tungusisch oot, magyarisch it Weg; syrjänisch zwi, finnisch tie. — Man-
dsuisch zua Feuer; türkisch ut (s. unter T). — Mandsuisch orcho Pflanze;
finnisch ruoho. — Tungusisch oktscha neben kotscha Widder, welches Wort
bei Mongolen chotscha, bei Türken <> kotsch lautet.
* *
*
Es folge nun eine Anzahl Wörter, die in den verschiedenen Familien
des altai’schen Geschlechtes nur mit Vocalen anlauten.
Finnisch aja treiben, jagen und fahren, reiten. — Mongolisch aja-n
Jagd, Reise, Feldzug; aja-la reisen, jagen. — Mandsuisch aja sich zum
Auffluge, zum Stofsen anschicken, von Jagdfalken und dergleichen. Vor
den Namen gewifser Raubvögel steht ajan und scheint dasselbe zu bedeuten
was die erste Silbe in Stofsvogel. Auch der Wind (edun) wird, wenn er
stark und stürmisch ist, ajan edun genannt. Endlich giebt man dem Worte
die Bedeutung stark und grofs überhaupt, mit besonderer Beziehung auf
Thier-Arten.
Türkisch ‚s’ aöiMond; beiJakuten yiund Tschuwaschisch oich. Wenn
die Nacht eben so vom Monde genannt werden kann, wie der Monat, und
wie der Tag von der Sonne, was doch in sehr vielen Sprachen geschieht:
so darf man in dem erwähnten, ursprünglich nur aus einem Doppellaute be-
stehenden Worte das finnische Wort für Nacht — im Suomi yö; lappisch
ijja,; magyarisch £j (1); mordwinisch wä; syrjänisch woi (?) — wiedererken-
nen. — Von yö bilden die Finnen yökkö Nachtvogel (?); und es ist sehr
merkwürdig, dafs dieses Wort in der Form 5! ögü auch bei den Türken,
selbst den osmanischen, sich vorfindet (*). Von Erborgung kann hier nicht
(') Das an dj gehängte zszaka heilst offenbar Zeit, also ejtszaka Nachtzeit. Vergleiche
unter chagha — jaka — tschak.
(2) Chinesisch heifst Nacht je, ein Wort, das ebensowohl mit den obigen, als mit
jue‘ Mond verwandt sein kann. — Die mit einem Lippenlaut anfangenden tungusischen
Wörter für Mond, wie djega, biga, bech, bia, sind mit wä& und woi zu vergleichen; eben
so mit oich.
(°) Nach Einigen Fledermaus, nach Anderen Nachteule oder Nachtschwalbe.
(*) In Giganows russisch-tatarischem Wörterbuche wird ,5,} durch Bram (Uhu,
grolse Ohreneule) erklärt; im Lehds'et-ül-loghat (S. 197) durch TG sus Nachtvogel.
374 Scuorr über das Altaische
wohl die Rede sein; aber vielleicht ist der Vogel in beiden Sprachen nach
seinem Geschrei genannt (was dann freilich in sehr übereinstimmender Weise
geschah); und alsdann wäre die Gleichheit des Anlautes von yökkö mit yö
Nacht entweder zufällig, oder man hätte das Wort absichtlich so gebildet,
dafs die Nacht mit hineinkam.
Türk. © at Pferd. — Mongol. ada-ghosun Thier überhaupt (!). —
Mands. ad-un Gestüte, adu-tschi Pferdehirt, und adu-la Pferde und andere
Hausthiere weiden lassen. — Bei den jakutischen Türken heifst das männ-
liche Pferd atyr, und in einem tungusischen Dialekte ad-irgi, ich werde
weiter unten zeigen, dafs diese beiden Wörter nichts anderes als eguus mas
bedeuten können (?). Allein die Abkunft des Wortes ist dadurch verdunkelt
worden, dafs sein 2 oder d in allen übrigen Dialekten und verwandten Spra-
chen zu j, und dieses wieder zu ds und ds wurde; daher mands. adsirgan,
mongol. adsirga, in einem tungusischen Dialekte sogar adsarga;, bei den
westlichen Türken aber +! aighyr, dessen gh wohl durch Verschiebung
des irgi in ad-irgi zu erklären. — Selbst das finnische Wort orAhi Hengst
könnte aus ohir = aighyr entstanden sein. — Mongolen und Mandsus be-
zeichnen übrigens mit ihrem Worte für Hengst auch das Männchen anderer
Hausthiere; die Mandsus namentlich den männlichen Hund. Selbst ein ge-
wifses wild wachsendes Kraut heifst bei ihnen adsirgan sogi das Hengst -
Kraut.
Mands. adsa ritzen, leicht verletzen; ads’a-bu den Anfang machen,
z.B. mit Reden. — Türk. <' atsch öffnen. Die türkische Bedeutung steht
inmitten der beiden mandsuischen; denn anfangen knüpft sich erst an öff-
nen. Vergl. insofern das chinesische er Kai (°).
(') So erhält das germanische Thier im Englischen (deer) die sehr eingeschränkte
Bedeutung Rothwild.
(°) In dem türkischen ol, junad (verdorben junda) Stute, geht umgekehrt das Zei-
chen des Geschlechtes voran; denn jun kann hier nichts Anderes sein, als eine weitere
Erweichung des mongolischen gün, wie man für gegün Stute spricht. Die Mands’us haben
geu, die Tungusen ohne Erweichung, nur abgekürzt, gök und wjoog. — Gegün ist wahr-
scheinlich eine andere Form von cheche femina. Vergl. S. 341-342.
(°) Auch sagen die Türken = je söf atschmak das Wort öffnen, d.h. anfan-
gen zu reden.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 375
Türk. u# asch ein Paar ('); häufiger noch ü! esch Paar, Gleiches,
Gefährte, und als Verbum zusammengehen. Diese Wurzel könnte wohl aus
ascha (s. oben) eben so entstanden sein, wie kusch aus gas'cha. Im Wör-
terbuche wird als zweite Bedeutung derselben aufkratzen, aufscharren an-
gegeben; das ist aber ein anderes esch, dem im Ungarischen as (äsch) graben
entspricht. — Dagegen darf man Erstere in dem mandsuischen atscha zu-
sammenfügen (Nebenform von as’cha?) wiedererkennen.
Türk. b} ata Vater. Tschuwasch. attjä, dagegen afin af-ü dein Va-
ter, asch in aschsche sein Vater. Dazu noch a/ männliches Thier. Ob mung
afi, wie die Tschuwaschen den Donner nennen, grofser Vater oder grofser
Geist (vergl. S. 335) bedeute, mufs ich unentschieden lassen; im Lappischen
ist atscha Donner von attsche Vater wenig verschieden. Jakutisch ese Grofs-
vater (?). — Mongol. eisi-ge (mit verkleinernder Endung) Vater. Mands.
etsi-ke und es-chen Vatersbruder. — Finnisch isö Vater und isä-ntä Haus-
herr. — Bei den heidnischen Ehsten wurde die oberste Gottheit wanna essa
(finnisch wanha isä), d.i. der alte Vater, genannt. Bei den Mongolen ist
etsen oder esen (offenbar verwandt mit eisi-ge) Herr, Gebieter; eben so das
edsen der Mandsus, auch vom höchsten Gotte gesagt, welcher dergi edsen
(erhabener Herr) betitelt wird. Wiederholt aber der Mands’u den mittle-
ren Consonanten am Anfang und sagt dseedse, so bedeutet dies Vater, wie
ama. Dsedse ist also den Ww. mafa, mama, baba analog gebildet.
Das türkische |.» issi Herr, Eigenthümer, kann ich, theils die Be-
deutung, theils die Form (vergl. finnisch zsä) ins Auge fassend, nur für eines
Ursprungs mit ata halten; und eben so das ungarische isten Gott (neben
atya Vater), welches gewifs für itsen steht, und so besonders dem mongol.
etsen Herr sehr befreundet ist. Anlautendes a für die Bedeutung Vater fin-
den wir nur bei Türken, Ungarn und Lappen (atsche); aber verwandte For-
men bedeuten Mutter und geehrte weibliche Verwandten: so mongol. edsi
Mutter; mands. adsa Vatersschwester, und ascha Weib des älteren Bru-
ders. Vergl. unter chacha und ama.
(') Nicht zu verwechseln mit asch Speise und efsen, einer stärkeren Form von es,
ed, die ich oben unerwähnt gelassen.
(?) Auch der Bär wird ese genannt, wie er bei den Finnen ukko (s. unter chacha)
als Beinamen führt. Vergl. das mongolische ötege. i
376 Scuorr über das Altai’sche
Türk. ‚ er, „Sir und .,' er-en (für ergen) Mann (!). — Mongol. ere das-
selbe. Diese sehr fruchtbare Wurzel kehrt in allen Sprachen des Geschlech-
tes, meist mit dem Vocale e, nur ausnahmsweise mit o wieder, und bezeichnet
aufser der Mannheit auch Stärke, Gewalt, Tugend. — Mongolisch erül
kräftig, gesund; ereu Gewalt, Zwang; ereu-le zwingen; ere-gü Qual, Tor-
tur; ere-me-gej tapfer; er-dem Tugend; er-ke Macht, Vermögen; erke-ten
die Mächtigen, auch die Sinne. — Mands‘. erw ein Athlet oder Ringer der
gar nicht müde oder matt wird (?); er-ki Kraft, Macht; er-gen Lebenskraft
und ihr Urstoff (); er-ke Tapferer. — Magyarisch erö Kraft; erö-szak Ge-
walt; er-dem sittliche Stärke, Tugend. — O für e haben die Mongolen in
or-mas Muth, Tapferkeit. — Den männlichen Vogel nennen die Mongolen
ere-ktschin. Unter den Vierfüfsern heifst der männliche Zobel bei ihnen
erki-s; das Männchen der Thiere überhaupt, bei den Türken «SS; er-kek.
Verwandt erscheint mir der zweite Bestandtheil des altai’schen Wortes für
Hengst (s. oben), welcher yr, irgi, irga, irgan lautet.
Das 7 ist mit dem Vocale i vertauscht in dem mands‘. ejgen verheira-
theter Mann, und türk. s&! ige Herr, Besitzer, z.B. in LG} (ss! ui ige-si
Hausbesitzer. Beide stehen für ergen, irge.
Finn. iz& (Morgen) Morgengegend, Osten. Lapp. iddiet Morgenzeit.
Magy. idö (idej) Zeit überhaupt. — Mongol. edü-r Tag; edü-ge jetzt.
Mongol. eris-le gerade durch hauen oder schneiden, abtheilen, tren-
nen (*). — Finn. eri trennen, ero Trennung. — Türk. wohl ir in Gr) ir-ak
entfernt: ferner FR air wennen, 93! airy getrennt, abgesondert, entfernt,
Anderer u. s. w. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dafs das arabische 42
hier zum Grunde liegen sollte.
(') Sö er-äk ist Mannheit; yo Sp) e. suju virilitatis liquor s.v.a. semen virüle.
Dieses Wort hat mit ur/uk (Saamen überhaupt) nichts zu schaffen. S. oben unter küf-
üf-ür.
(?) Umai schadacha ebereke ba akü. B-B.
(°) Entspricht dem 5 jang der Chinesen, welches von den alten Missionaren also
definirt wird: materia mota, et quidquid perfectionem indicat, ut forma, coelum, masculus,
juventus, generatio, etc. Es wird auch geradezu das männliche Princip genannt.
(*) Zunächst von eris (durchdringend, gleichsam schneidend, und in Verbindung mit
oola Berg, schroff, steil), worin aber nur eri wesentlich sein kann. Ich glaube dieselbe
Wurzel in eri-jen verschieden-farbig, bunt, zu erkennen.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 877
Türk. .„' in und en absteigen, niedersteigen. — Mands‘. in-de ein-
kehren. — Auch mit ein dem Worte en-en Nachkommen (Descendenten). —
Ob mands. ina Schwestersohn, türk. ‚s-} ini oder eni jüngerer Bruder den-
selben Ursprung haben, oder mit dem mongolischen inak Freund, Geliebter
als verwandt zu betrachten sind? (')
,‚ gerinnen
(von der Milch). — Mands. ek-schun Gährungsstoff geistiger Getränke. —
Türk. „Ss ek-schi sauer.
Türk. zu iste begehren, verlangen. — Finn. eisi. Lapp. usto.
Mongol. ege-de durch beigemischte Säure zusammenlaufen
Türk. «S£! imek in imek-le kriechen. — Mongol. üme wimmeln, üi-
me-gen Gewimmel. — Mands’. imia-cha und umia-cha Insect, von imia
(umia) ansammeln. — Bei den Jakuten finden wir ün oder ön (für um?) Wurm,
und bei den Finnen jumi Holzwurm.
Türk. 41} uwan neben .,&) ufan sich zerkrümeln, beides von uwa;
&%' ufak (Krümeln) Kleinigkeit; .,,' un, wohl aus uwan, Mehl. — Mands.
ufa Mehl und zermahlen.
Mands’. usa und us’cha hassen und traurig sein; usu-n gehäfsig; usu-r-
scha verabscheuen. — Türk. .‚Los! osa-n Ekel oder Abscheu haben (?).
Türk. (im Osten) bs} in uja-la sich schämen, wjat Scham; (im We-
sten) &») ud Scham, ut-an sich schämen. — Finn. jo schamhaft, ujo-2 sich
schämen.
Finn. okka Stachel, Haken. — Türk. :»| ok Pfeil. — Mongol. uk-la
die Pfeilspitze in den Schaft setzen.
Tungus. orcho, orokto und rokta Gewächs. — Finn. ruoho. — Mon-
gol. orghu wachsen. — Türk. »,») uru Ort wo Futtergras wächst, Wiese,
Weideplatz. — Vermuthlich gehört auch das türkisch-mongolische uruk
Verwandtschaft, Familie (man denke an Stammbaum) hierher.
Türk. w1;,| ufa-t lang machen, ausdehnen; öl) ufa-k entfernt, aber
on! ufu-n lang. Dagegen ws} üs und mongol. üdse, üfe (lang werden) wach-
sen. — Magy. hoszszu (hossü) lang. — Verwandt ist vielleicht mands’. uscha
oder wascha ziehen, zerren.
(') Mands. heilst der jüngere Bruder deo, mongolisch degö. Die freien Tungusen
haben dafür andere Wörter, welche mit mands’. non jüngere Schwester verwandt scheinen.
(?) Verw. sind wohl mands. kusch-un Ekel, Brechlust; türk. vos3 kus speien.
Philos.- histor. Kl. 1847. Bbb
378 Scuorr über das Altai’sche
Finn. yle Obertheil, mit vielen Ableitungen. — Mongol. üle über-
treffen (finn. yl-ty). — Tschuw. süle hoch und sül-de oben, von jüle, was
im Türkischen sonst zu fehlen scheint (!), wenn es nicht in dem ie von „L)
ile-ri vorwärts zu suchen ist, und also an ein Vorragen gedacht wird. Zu
ileri gehört unzweifelhaft das mands‘. ds’ule (für jule) in ds’ule-si nach vornen,
ds’ule-ri vor, und ds ule-rgi Vorderseite, Süden; dann wieder dsulen Vor-
zeitliches, längst Vergangenes.
Mands’. onggo vergefsen. — Finnisch unoht und unhot. — Türk.
ws, unut.
Finn. äyhky Jähzorn, äkä Groll, Zorn. — Türk. xy} öike und sy}
öke Zorn. — Mongol. öke Groll, Feindschaft.
Türk. .»' ön Stimme. — Finn. äni. — Mongol. ani-r.
Mongol. ösügej Ferse. Türk. (durch Verschiebung) ss} öktsche.
Mands'. une in une-nggi wahr. — Mongol. üne-n Wahrheit; ünem-le
als Wahrheit erkennen; ünem-si glauben, versichert sein. — Türk. „Wu
ina-n glauben, vertrauen. Also nicht aus dem arabischen „le! iman Glaube,
Religion.
Türk. „sy! öksür husten. — Finn. yskä für yksä, obwohl k vor s
den Laut des Hustens besser darstellt.
(') Doch haben die Jakuten u/a-£ wachsen (an Wohlstand) und steigen (im Range),
von welcher Wurzel ula-chan grols und das gleichbedeutende türkische „Jul lu nicht ge-
trennt werden können.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 379
Mitlauter.
1. Kehl-und Gaumenlaute.
Sind im finnisch-tatarischen Sprachengeschlechte die folgenden: A,
ch, k, gh, g, j, ng. An der Gestaltung desgA, g, undj nimmt die Zunge,
an der des ng aber die Nase Antheil. Fafsen wir die möglichen Verände-
rungen ins Auge, denen diese Laute an jeder Stelle des Wortes unterliegen
können (!).
Als Anlaut wechselt ch im Mongolischen zuweilen mit gh, z.B. cho-
rom und ghorom eine Zeitlang, chontochu und ghontochu wuchern; selten
mit ds: chagha und dsagha spalten, trennen (?). — Viele türkische Stämme
sprechen im Anlaute lieber k als ch (?). Vor starken Vocalen wechselt dieses
k zuweilen mit j: kap und jap falsen, kapa und japa zumachen, verschliefsen;
tschuwasch. jor für kar Schnee, jon für kan Blut; einige Mal mit s: tschu-
wasch. sönat — kanat Flügel. Gewilse Stämme verwandeln es regelmäfsig
in isch; vergleiche tschap neben kap und jap, auch die Stelle aus Abulghasi
(S. 339 d. Abh.). — Gh ist als Anlaut den Mongolen geläufig und den Tür-
ken fremd; der Osmane spricht k wo ein ausländisches, z. B. arabisches Wort
mit & gh anfängt. Das schwächere g ist dem Osmanen eben so mundrecht
wie dem Mongolen; dieses kann schon als Anlaut j werden, z.B. sis‘ gene
und s& jene wiederum. — In der Suomisprache kann A wenigstens vor i zu
s werden: man hat simiä neben himiä dämmerig (*). Die Tschuden am See
(') Es versteht sich von selbst, dafs dieser Abschnitt mit Wurzeln deren Anlaut ent-
weder zu vorliegender Classe gehört, oder Selbstlauter ist, nichts mehr zu schaffen hat.
Vom Wegfallen eines Kehl- oder Gaumenlautes wird hier nur die Rede sein, sofern
seine Stelle in der Mitte oder am Ende des Wortes war.
(?) Die Mongolen sprechen vor starken Vocalen nur ch, nicht %, und der Laut des
gänzlich zu fehlen.
(°) Ausnahme machen z.B. die Jakuten, die vor a sogar nur ch (statt k) als Anlaut
einfachen A} scheint ihnen, wie ursprünglich auch den Türken,
zu dulden scheinen. Bei den Tschuwaschen kann ch eben so gut wie k vor jedem Vo-
cale Anlaut sein. Den heutigen Osmanen fehlt ein rauhes geschnarrtes ch überhaupt. Wo
ch geschrieben wird, sei es in türkischen oder ausländischen Wörtern, sprechen sie 7,
das man höchstens am Ende der Silben etwas stärker haucht und bisweilen mit % vertauscht,
wie in akscham für Lu achscham Abend.
(*) Im Suomi wird immer % geschrieben, auch wenn man ch spricht. Letzteres ist
nun allemal am Ende einer Silbe der Fall. Doch ist dieses %, ganz wie das deutsche c%
Bbb2
380 Scuorrt über das Altai’sche
Peipus verwandeln initiales % in isch. Nicht selten alternirt der Kehl- oder
Gaumenlaut mit einem Lippenlaute: so ist pimiä dunkel gewils aus himiä
entstanden; so haben die Finnen kuol sterben, die Ostjaken wöl tödten.
Das Lappische zeigt häufig f in Stelle des A der Suomisprache, und in
Mundarten des Lappischen selber finden wir z.B. fuomatset neben hu-
omatset sich erinnern. — In den tungusischen Sprachen ist einfaches A
nicht selten; nur den Mands’us scheint es zu fehlen ('). Diese dulden das
rauhe ch eben so gut wie k vorjedem Vocale. Dasselbe gilt von g; ob aber
letzteres bei ihnen je geschnarrt wird, ist mir zweifelhaft, daher ich es nie-
mals gh schreibe. — Für } oder ch der Tungusen sprechen und schreiben
die Mandsus zuweilen f. Beispiele: hömun und femen Lippe; chorki und
fakuri Beinkleider; chola-rin und ful-gian roth. Im Mands’. selber hat man
cheche Weib neben fefe Geburtsglied.
Jod als Anlaut ist bei den heutigen Mongolen nicht eben häufig. Weit
öfter sprechen sie dafür ds (auch ds und /). Die Ostmongolen haben für
beide Aussprachsweisen einen und denselben Buchstaben: ohne Zweifel hat
man weiland nur gesprochen. — Unter den türkischen Stämmen sind unsere
Osmanen dem ursprünglichen j viel häufiger treu geblieben als östliche und
nordische Türkenvölker; diese sprechen dafür ds’, die Tschuwaschen und
selbst die Jakuten gewöhnlich s (?). Dasselbe findet auf verwandte mongol.
und mands’. Wörter Anwendung. — In der Suomisprache hat man z. B. jyn-
kkä neben synkkä dunkel.
im grölseren Theile Deutschlands, nur nach starken Vocalen wahrer Kehlhauch, nach mitt-
leren und schwachen aber Gaumenhauch. — Die Magyaren kennen in Schrift und Aus-
sprache nur einfaches A. Wenn dieses, was selten geschieht, am Ende einer Silbe vor-
kommt, so begnügt man sich, den vorhergehenden Vocal zu dehnen, als wäre er accentuirt,
z.B. moh Moos, juh Schaf. Ersteres Wort ist das slawische moch; letzteres das ver-
setzte tatarische chui, koi.
(') In dem oben erwähnten mands’uisch - französischen Wörterbuche ist ch zwar im-
mer durch % wiedergegeben; allein S. XXVI der Vorrede steht ausdrücklich, dals es den
Laut des spanischen Joza habe. Überhaupt schreibt Amiot die mands’. Anlaute ganz nach
denselben Regeln wie die chinesischen; so vertritt k bei ihm die Laute k und g, und jenen
nennt er unpassend k aspire.
(2) Der Jakute beweist dem Vocal grölsere Schonung: so ist bei ihm so2=jol Weg,
syl = jyl Jahr, wogegen der Tschuwasche Beides in sö2 verwandelt.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 381
Ng scheint als Anlaut nirgends vorzukommen, oder doch nur verein-
zelt in tungusischen Dialekten, z.B. ngala Hand (gala), das aber Erman
gnala schreibt.
In der Mitte einer mongol. Wurzel kann ch mit gh wechseln, z. B.
bocholsichu und bogholsichu sein Ansehen verändern. Am Ende der Silben
und Wörter spricht man immer %k, niemals ch. Als dienstbarer Auslaut kann
dieses k wegfallen, z. B. elintsek und elüntse (mit ü). Es wird leicht gA oder
nach schwachen Vocalen g, wenn das betreffende Wort am Ende wächst.
Gh und g wechseln zuweilen, wenn sie zwischen Vocalen stehen, mit w,
wofür man aber 5 schreibt, z.B. toghorak —= tobarak Erde, Staub; ögere
= öbere Anderer, Fremder; ferner mit j, namentlich in den Endungen jja,
üeneben agha, ege (S. 326). Meist verhallen sie ganz, wo dann der West-
mongole (Kalmyk) sie auch ungeschrieben läfst, der Ostmongole aber im
Schreiben beibehält (!).
Das stärkere ‚s k der Türken stuft sich in 2 gh und ihr schwächeres
Skin& gab (?), wenn eine mit einem Selbstlauter anlautende Casuspar-
(') Ausnahmsweise läfst auch dieser sie ungeschrieben. Vergl. die Beispiele S. 328.
Eben so ist es mit der Postposition ghar (ger) vermittelst, durch (wohl das Wort für
Hand), die ihr g in Sprache und Schrift schon bei den Ostmongolen sehr gern verliert:
üne-r = üne-ger (mit Wahrheit) fürwahr. — Über Anähnlichung oder Zusammenflielsen
der Vocale s. S. 328.
(*) Hier etwas Näheres über beide k und g. Das _; der Türken ist unser k, wird
aber nur mit starken Vocalen (zu denen auch y gehört) gesprochen; $ ist derselbe Laut,
hat aber seine Stelle weiter vorn, beinahe an den Zähnen, und eignet daher nur für schwache
Vocale, denen er aufserdem nie ohne Vermittlung eines gelinden Jod sich anschmiegt;
also z. B. ke und sogar ki fast wie Aje, kji. Man versuche ein k möglichst nahe den Zäh-
nen zu sprechen und man wird dieses verstohlene Eindringen eines Jod zwischen k und
den Vocal sehr natürlich finden. Noch vernehmlicher wird der genannte Eindringling,
wenn die Türken (was ihnen in arabischen und persischen Ww. so häufig begegnet) das
«S mit starken Vocalen verbinden müssen, z.B. \xß Ajamil (arabisch) vollkommen. — Der
Laut gh mag bei den östlichen Türken etwas geschnarrt werden und dem arabischen E
das ihn immer bezeichnet, ähnlicher sein. Bei den Osmanen fällt das Schnarren ganz
weg; wenn ihr z zwischen Vocalen seinen Werth behält, ist es rundes oberdeutsches g,
das sich zu dem schwächeren, näher den Zähnen geformten g $ eben so verhält, wie &
zu &. Das schwächere g begleitet in rein türkischen Ww. nur schwache, in persischen
Ww. auch starke Vocale; und besonders bei der Aussprache solcher wird im Munde des
Türken ein verstohlenes Jod wieder vernehmlich, z.B. SE, rufgjar (nicht ru/gar) der
Wind. — Alle bei den Osmanen mit g anlautenden Ww. haben übrigens bei den Tatar-
382 Scnuorr über das Altai’sche
tikel zum Worte tritt. Ausfallen eines k findet statt: a) am Ende einer Silbe
vor ds, z.B. in sou-ds’ak etwas kalt, aus souk + ds’ak, büjü-ds’ek etwas
grofs, aus büjük + ds’ek,; b) wenn der sogenannte Infinitiv in mak (mek)
mit Casuspartikeln oder fürwörtlichen Anfügungen verbunden wird, wo es
aber auch bleiben und sich abstufen kann (!); c) in Dialekten, wenn ein Wort
mit % auslauten sollte, z. B. tschuwaschisch puda = budak Ast, toda =
dudak Lippe, sürü — jüfük Ring. Auch ein etwas geschärftes w kann es
am Ende werden: uruw Geschlecht = uruk. d) als Anlaut wortbildender und
anderer grammatischer Zusätze, wo es auch schon in gA gemildert sein kann.
Dies geschieht regelmäfsig bei den Osmanen, wo z.B. kulak für kul-ghak
Ohr, jalan für jal-ghan falsch, koru für kor-ku trocken gesagt wird, die
Dativpartikel a (e) für ka oder gha (ke, ge) ist, u. s. w.
In der Mitte der Wörter zwischen Vocalen bleibt das wurzelhafte k
unangetastet, aber g% behält selten und g niemals seine runde Aussprache;
das gh wird zuweilen A (ahads’ für aghads’ Baum; kjahat für kjaghyd Pa-
pier), gewöhnlich « oder beinahe w; das g aber j oder beinahe j, wenn es
nicht, wie in järmi (S. 329) spurlos verschwindet. Sind die Vocale zu bei-
den Seiten des gh, o oder u, so ist auch dieses im Munde des Osmanen kaum
vernehmlich. Am Schlufs der Silbe wird g% nach a und o immer u; g nach
e aber i. Ein unwesentlicher Vocal, wie z.B. das y in aghy/ Mund, stört nicht;
man verschluckt ihn und spricht auf (?). Im Osmanli pflegt die veränderte
Aussprache auch hier keinen Einflufs auf die Schrift zu äufsern; doch ist dies
z.B. der Fall in ;» »o oder \syo souk kalt, statt des osttürkischen ;,£lo
saghuk (?). Im kyptschakischen Dialekte wird mehr nach der Aussprache
Türken k &, und überhaupt scheint die türk. Sprache ursprünglich keine anderen Kehl-
Initiale gekannt zu haben als c} und k, von denen ersterer das stärkere k erzeugte, und
letzterer entweder unverändert blieb, oder (wie bei den Osmanen so häufig) zum schwä-
cheren g wurde.
(') Die verwandten Zusätze ma (mä) im Finnischen und me (seltner ma) im Man-
ds’uischen haben niemals k zum Auslaute, wohl aber das (ausnahmsweise vorkommende)
mek der Mongolen, z.B. in einer Textstelle der Chrestomathie Kowalewskis (I, S. 57),
wo amin jeküt-ke-mek-tse nach dem Verlorenhaben (Verluste) des Lebens heilst, und mek
mit der Postposition Zse = etse (von, ab) verbunden ist.
(?) S. 329 habe ich das g% in aghyf für ausgefallen erklärt; es ist aber vielmehr u
geworden.
(°) Hier sehen wir zugleich eine Anähnlichung der Vocale wie im Mongolischen,
wo z.B. naghor See zu noor wird.— Das osttürkische saghuk bietet übrigens dem mands'.
schachü-run (für schachi-kun) die Hand.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 383
geschrieben, z.B. ‚ Ss} für „Is! Linde, „lo für zLo gesund, „lb für gib
Berg, 1, 5 für (s-£s5 gerade.
Einige tungusische Dialekte haben in der Mitte gewifser Wörter zwi-
schen Selbstlautern einfaches oder geschärftes g, das in anderen zu j oder
w wird, auch ganz verhallt. Beispiele: jöggin, jugin und ujun neun; töggemi
und tümi, temi morgen (cras); toggo, logo und iua Feuer; bjega, biga und
(mands‘) dia Mond; schiggun, schiwun und (mands’.) schun Sonne; diggin,
dügün und (mands’.) duin vier. — Vor t kann das k ausfallen: so hat man
Jukta und (mit veränderten Vocalen) njauta Quelle; hokta und oot, ot Weg;
ingakta und ingat Haar am Körper. Assimilirt ist k in njuritta für njurikta
Haar. Dasselbe Ausfallen bemerkt man vor sch und isch: toukschaki und
tauschakki Hase; njuktschukan und nitschukun klein. Beispiel eines hin-
ter Z unstäten Kehllauts ist in der Mands’usprache dalükan neben dalchükan
klebrig. Das Mands. zeigt auch im Verhältnifse zum Mongol. und Türk.
einen mittleren Kehllaut bisweilen ausgefallen: der Bart heifst türkisch ‚eo
sakan, mongol. sachal, mandsuisch salu (für sal, da 2 nicht Schlufslaut
sein kann).
In der Mitte eines finnischen Wortes wechselt k oder h zuweilen mit
w oder härteren Labialen: man hat zikiä, tihiä und tiwi-s dicht, säikähtää
und säwähtää erschrecken; ukista und upista wehklagen; nirkka und nirppa
spitz, scharf; norkata und norpata schmarotzen. Ferner mit einem Sause-
laute: nuohka und nuoska feucht; kahila und kaisila Schilf. In der Mitte
vor anderen Consonanten fällt A (ch) einige Mal aus: rymy=ryhmy Knoten.
In gewifsen Ww. kann, wenn r oder /folgt, der Vocal u an seine Stelle tre-
ten (vergl. S. 329). Ein Kehllaut am Ende des Wortes wird s oder mittel-
bar {. Wenn er bleibt, so behält er nur in gewilsen Mundarten seine volle
Stärke, in anderen hört man ihn schwach, oder er verschwindet spurlos (1). —
Als letzter wurzelhafter Consonant mildert sich %, wenn die ursprünglich
offne Silbe durch grammatische Zusätze eine geschlofsene wird, ing, w, 7,
oder verhallt ganz. Die besonderen Regeln nach denen dies geschieht,
gehören in die finnische Lautlehre (?).
(') Beispiel: weneh (wenech), wenes, ‚wenet, oder wene ein Boot.
(?) Siehe Eurens bündige und vortreffliche Darlegung in seinem Zürodok i Finska
Spräket S. 11 ff.
354 Scuortrüber das Altai’sche
Jod widersteht der Metamorphose inmitten des Wortes eher als zu
Anfang. Doch kann es auch in der Mitte ds werden oder, wie wir schon
an manchem Beispiele gesehen, ganz wegfallen. Wenn es hier und als Aus-
laut mit anderen Consonanten alternirt, ist Jod nicht immer als ursprünglich
zu betrachten. Beispiel eines Ausfallens desselben mit Zusammenziehung
der Vocale oder Untergang des einen Vocals im anderen sei das mongolische
chor-in zwanzig, dessen chor aus dem sonstigen chojar zwei entstanden ist.
Bei Vergleichung türkischer Wörter mit verwandten mongolischen fin-
den wir gewöhnlich die zusammengezogene Form auf türkischer Seite (1).
In mehreren sehr bekannten türkischen Wurzeln würde man schwerlich an
einen ausgefallenen Guttural denken, fände sich dieser nicht in den entspre-
chenden mongolischen aufbewahrt. So heifst Staub türkisch zo/ oder (tschu-
wasch.) tos-an; allein die (Ost-) Mongolen schreiben toghosun und sprechen
toosun (*). Zerbrechen heifst türk. kyr (im tschuwasch. Dialekte chor');
der Mongole aber schreibt choghora und spricht choora (?).
Die Mandsus schreiben zwei sch hinter einander in ihrem aschscha
sich bewegen. Dies ist wohl für aschi-scha, und sonach aschi allein Wur-
zel (*), das aber für äschi stehen mufs; denn mongol. heilst agha-si (d-schi)
was sich bewegt; äschi-la sich bewegen. — Verwandt scheint mir lappisch
swatscha sich rühren, wo s, wie öfter, nicht primitiv ist.
Das k der Finnen, sei es vor oder nach einem anderen Mitlauter, fin-
den wir in anderen Sprachen des Geschlechtes öfter ausgefallen, z.B. mahta
können, vermögen, mands. mute; üke weinen, jakutisch yia; ulko Aussen-
seite, mands. oilo Oberfläche.
(') Zu den Ausnahmen gehört türk. syghyr Rind, mongol. schir, was immer nur sir
geschrieben wird. Eine Wurzel des Weinens (verwandt mit d. türk. agh-la, aw-la, au-la)
schreiben die Mongolen ogi und ws.
(?) Das finnische Wort zuoksu fliegender Staub verhält sich zu diesem zZoghosun un-
gefähr wie das finnische oksa Ast zu dem türkischen aghads Baum.
(°) Vergl. chaghorai neben koru trocken, S. 358. — So kann dem türkischen zuf
Salz ein zaghusun zum Grunde liegen, obschon die heutigen Mongolen nur dawusun (ge-
schrieben dadusun) besitzen; denn man schreibt ja auch z. B. Zoghorak und zodarak (s. oben).
(*) Scha ist im Mands. eine der Silben welche Nennwörter in Verba verwandeln.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 385
Ng in der Mitte und am Ende.
Kann aus m oder n entstanden sein; aber auch in m, n, g, n(nj), j
übergehen und ganz verhallen.
Einige mongolische Beispiele seines Entstehens aus n findet man S,
327. Vertauscht mit n oderg ist es in Zegrineben tengri Himmel, negdsikü
neben nengdsikü nachspüren, Zentschirekü neben tengtschirekü schwindeln;
ausgefallen vor g in segerekü neben senggerekü sich einüben ('!). — Von
Verwandlung des ng in nj weifs ich kein mongolisches Beispiel; aber tungu-
sische Dialekte haben anja-ni und ania für angga-ni Jahr (mongolisch in on
zusammengezogen). Auch fällt es bei einigen Stämmen vor nj und selbst vor
einem Vocale aus: njang-nja und njanja Himmel, kungakan und kuakan
Knabe. In ztschanen neben schang-njan weifs ist vermuthlich nj nach dem
Wegfallen des vorhergehenden ng zu n geworden, wie dies am Ende ge-
schieht in jan für njanja Himmel. — Das so häufige ng der östlichen Tür-
ken geht vor r im tschuwasch. Dialekte unter: sor für songra nach; tora für
tangry Gott (?). Die Osmanen haben statt dieses für sie nicht mehr vor-
handenen Lautes gewöhnlich ihr sogenanntes taubes n, welches jetzt nicht
mehr von dem gewöhnlichen n zu unterscheiden ist (?). In einigen Ww.
(z.B. domuf = donguf Schwein; bim = bing tausend) wird dafür m gespro-
chen, aber niemals geschrieben; und gewifse Dialekte vertauschen es zuwei-
len mit Jod: so hat man SL. jek für enek oder engek Kinn; selbst im Os-
manli entspricht .! ejer Sattel dem jakutischen ynggyr, während die Mandsus
engge-mu, die Ungarn nyereg (statt enyer-eg) sagen. In einem Worte für
Knochen (S. 350) sehen wir alle Lautwechsel offen vor uns liegen. Vergl.
auch Mund (S. 348 ff.) und verschiedene andere Wörter, die aber wegen
ihrer consonantischen Anlaute erst später sich vorstellen werden.
* *
(') Ein Beispiel aus den finnischen Sprachen: lappisch mangge, magyarisch mege. S. oben.
(?) Die heidnischen Ehsten hatten für das höchste Wesen den Namen Tara, der wohl
eben so aus Tangry entstanden sein kann wie d. tschuwaschische Tora.
(°) Man schreibt es im Osmanli mit blofsem &, demselben Buchstaben der das ge-
lindere & darstellt und hier eine Abkürzung der osttürkischen Schreibweise ist, wo noch
n vorhergeht: «S5 nk für ng. Wenn statt des tauben n jetzt m gehört wird, so hat wohl
Philos. - histor. Kl. 1847. Cce
386 Scnorr über das Altai’sche
Finn. jama zusammennähen und -fügen überhaupt; daher jamakka
frisch geronnene Milch. — Türk. L. jama anflicken; daher |; jamak ange-
fliekt'und Handlanger, Gehülfe.
Mongol. jabu gehen, wandeln; daher jabu-ghan zu Fufse, Fufsgän-
ger. — Mands. jabu dasselbe, aber auch jafa in jafa-chan Fufsgänger. —
Türk. 4: jaja Fufsgänger, wohl aus jawa = OL: jap, welches Letztere die Tür-
ken nur in der Bedeutung verfertigen besitzen (!). Die Urbedeutung ist aber
auch in der gequetschten Form oL> tschap erhalten, welche noch den Pass-
gang der Pferde bezeichnet (?). — Vergl. magyar. lab (Fufs) unter Z.
Türk. ‚sb jai Platz machen, ausbreiten. — Mongol. dsai, sai Platz,
Raum. — Lappisch saje und finnisch sia Platz, Stelle.
Lappisch jägna Eis. Daher das magyarische jeg und finnische jäi. —
Mands. dsuche (für juch) dasselbe. — Mongol. dsige (für jig) in dsige-kün,
aber nur in der Bdtg Frost, Kälte. — Tungusisch ingin und ingynja (vgl.
besonders jägna), ebenfalls nur Kälte, kalt.
Mands. jo gehen. — Ungar. jö (jöv) kommen. — Mit dieser Wurzel
kann das türkische ds» jol Weg (etwa Gang) zusammenhangen, wie das man-
dsuische dsu-gün Weg (für jugün) mit ju—=jo. Auch hat man im Unga-
rischen jut ankommen (°). — In dem mongol. dsol-gha begegnen finden
wir jol Weg wieder. Vergl. hokta und kohta, S. 346.
Türk. », „> jürü gehen. — Tungus. schurw dasselbe. Mands. dsura
(jura) sich aufmachen, von einem Orte aufbrechen. — Mongol. dsur-ischi
wandern, gehen. — Ungar. jar.
Türk. 5; „ jüfük Fingerreif, ohne Zweifel für jürük, wie denn auch
die Tschuwaschen sürü haben. Von einem verlornen Worte für Finger,
eine Verdumpfung (etwa der französische Nasal) den Übergang gebildet. Aber Jod konnte
auf diesem Wege nicht aus ng entstehen; wo dieses für ng erscheint, da muls ein spani-
sches % oder ungarisches ny (unbehülflich durch nj ausgedrückt) der Übergangslaut gewesen
sein — ich sage gewesen, da ich diesen Laut aus osmanischem Munde nicht höre. Eben
so ist der französische dumpfe Nasal dem osmanischen Organe fremd und sogar unbequem.
(') So vereinigt das chinesische AT hing die Bedeutungen gehen, wandeln, und
verfertigen, machen.
(?) So entstand aus amdulare das französische amdle Passgang.
(°) Mands. as? kommen, steht, wie aus dem Verbalnomen dside-re sich ergiebt, für
dsit = jit, und entspricht also dem türkischen «> jez erreichen, einholen.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 387
welches dem finnischen sormi (woher auch sormus Fingerreif) ähnlich ge-
lautet (!).
Mands. jun die von den Rädern der Fuhrwerke dem Boden eingedrück-
ten Furchen (?), die Wagengleise.— Lapp.juone die Spuren der Renthiere im
Schnee. — Finn. juoni und jono Reihe, Strecke, Strich, Linie. — Türk. ., „»jün
Strecke, Gegend; daher jün-il einer Richtung folgen, wohin abgehen (*). —
Das finnische Wort wana, dessen Verwandtschaft mitjuoni auch formell nichts
entgegensteht, bedeutet furchenähnliche Spur, Geleise, und Strich, Linie (*).
Türk. 8,» jür-ek Herz und Muth. — Mongol. dsur-ik Muth, aber
auch Vorsatz, Wille, von dsuri sich vornehmen, entschliefsen, wünschen. —
Lappisch jur-te denken, jur-tak Gedanke.
Türk. ‚Is. juwar eylindrisch, rund. — Lapp. jörba.
Finn. johta leiten, führen. — Türk. „2 jüg-en Zügel. Vergleiche
köysi unter K.
Mands. jangga ringend niederwerfen. — Türk. »&% jenge und jene
besiegen.
Türk. ; » jüf Gesicht; Art und Weise. — Mongolisch jos-un Sitte,
Brauch; joso-ghar nach Sitte; demnach, dem gemäfs: türkisch als; „.
Türk. bs joda in Kindesnöthen sich quälen. — Mongol. dsoda Qual
leiden, Schmerzen haben überhaupt.
* +
*
Türk. Ul5 kalja fliegen. — Mongol. chali. — Lapp. halwe.
Finn. %kolo Einschnitt, Höhlung. — Mands. cholo Flufsbette. — Mong.
ghool Flufs. — Türk. 3,5 göl See (°).
(') Dieses stimmt merkwürdig mit dem tibetischen sor oder sor-mo. Der nicht un-
entbehrliche Zusatz no scheint dem 2 des finnischen Wortes sein Dasein gegeben zu
haben. Unter den tungusischen Ww. für Finger lautet eines (nach Erman) jureguni.
(?) Sedsen-i mucheren-de gidabucha jochoron. B—B.
3 . . en - “ Eee ®
(°) 7. B. in der Redensart „Sul, 3&> öl> Del‘ „US von dem irdischen Sein
abgeschnitten, die Richtung zu Gott einschlagen, d.i. sterben.
(*) Diese Form gleicht sehr dem chinesischen DR uen Streifen, Adern in Holz und
Steinen, u.s. w.
(°) Diese Wurzel konnte eben so gut für ein flielsendes, wie für ein stehendes Was-
ser gebraucht werden, da sie eigentlich nur das Becken respect. Rinnsal einer Wasser-
malse bezeichnet.
Cce?
388 Scuortrt über das Altaische
Lapp. kawa Krümmung, Bucht, und krumm werden, daher kawa-l
(finn. kawa-la) schlau, listig. Andere Form köje Krümmung, Biegung. —
Mands. chaja sich krümmen, winden, schlängeln. — Mongol. chadsa in
chadsa-ghar und chadsa-ghai krumm, schief, auch falsch, nicht aufrich-
tig. — Türk. LS kyja und (zus kyjyk, 33 kyjuk schief, schräge ('). Dieser
Form sind wieder näher verwandt: mongol. keje in keje-te sich niederbeugen;
mands.. keike nicht gerade, schief; finn. keikka aufwärts- oder zurückgebogen.
Bei den Mandsus heifsen chajakta die aufwärts gekrümmten Hauzähne
der wilden Eber, wenn sie alt geworden.
Mongol. und Mands. chada Stein, Felsen. — Lapp. ked-ke Stein. —
Türk. LS kaja für kada. — Finn. kiwi und magyar. ko.
Mongol. chasu ausschneiden, zurechtschneiden (?); auch kes in kes-ek
zerstückt, getheilt. — Mands. chasa schneiden, in chasa-cha Scheere. —
Verwandte Wurzel chadsiin dem mongol. chadsi-ghor Sense; chatsi in dem
mands. chatsi-n Zuschnitt, Form, Art und Weise, Sache; daher chatsi-ngga
verschiedenartig. — Türk. »S kes schneiden, abschneiden, mit vielen Deri-
vaten. — Finn. kes-en abgebrochen, unvollendet. ÖOstjakisch käsi und ungar.
kes (kesch) Messer. Mands. chuesi dasselbe.
Mongol. chada einschlagen, festschlagen. Daher chada-ghasun oder
chadä-sun Nagel, Pflock, und mit altan (Gold) vorher: Polarstern (goldner
Pflock). (?)— Mands. chada, wovon chada-cha Gestecktes, Pflock, Na-
gel, chadacha usicha Fixstern. — Türk. s\05 kadak Pflock, Pfahl (woher
kadak-la einschlagen); daneben und häufiger s);ö kaf-ak, 58 kaf-yk. Jede
dieser Formen, mit ,s„& /emür oder „x demir Eisen vorher, bezeichnet den
Nordstern. — Verwandte Wurzeln sind demnächst: mongol. chadchu ein-
stechen, stechen, reizen, woher z.B. chadchu üge Stachelreden; und (wie
uns ka/ak neben kadak lehrt) türk. ;5 ka/ graben, wozu ja einstechen die
erste Bedingung.
(') Chinesisch Kiz gebogen, krumm, krümmen. — Tibet. kug, 'sug, gjog und K'jog,
Alles von gleicher Bedeutung.
(2) Eine platte Form chadu heilst Getreide schneiden, mähen; daher ckadu-ghor Sichel.
(°) Eine Nebenform ghadasun bedeutet auch für sich allein den Planeten Jupiter.
Vergl. S. 341, Anm. 2.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 389
Türk. ® katsch davon laufen, fliehen. — Lapp. kätsche eilig gehen,
eilen. — Mands. chasa und chatsi-chia rasch gehen, eilig thun (').
Mongol. chadum, die Schwiegerschaft von Mannesseite bezeichnend,
z.B. in chadum acha älterer Bruder durch Verschwägerung d.i. Mannes
Bruder; chadum etschige (eke) Schwieger-Vater (- Mutter). Nebenform
choda durch Ehe verwandt, Vetter, Schwager. — Bei den östlichen Türken
ist noch d in „yl> chadin oder „U kadin (?), bei den westlichen j in .z.l
kajin. Die Tschuwaschen ziehen das Wort in chon zusammen. — Finnisch
ist heimo jeder Verwandter durch Anheirathung, kaima aber der Namens-
vetter.
Mongol. cham, Wurzel des Zusammenseins und Zusammenbringens,
z.B. in cham-tu vereinigt, cham-sa sich vereinigen, cham-uk Allheit, Alle. —
Mands. kam-ni und kam-tsi zusammenfügen; auch gem in gemun Stadt und
gemu Alle. — Türk. kam in 5 kamu Alle, aber küm in &s5 küm-ek Hau-
fen. — Finn. kan für kam in kansa Volk und als Partikel zusammen, mit (°);
vielleicht küm in kymmen die Zahl zehn, was Haufen bedeuten mag.
Türk. „£;5 kaf-ghu, gewöhnlich 323 kai-ghu Kummer, Betrübnifs. —
Mongol. ghasa-l jammern, trauern. — Magyar. gyasz Traurigkeit.
Mands. chaksan rothgelb, goldroth. Verbalnomen chaksa-cha (in
Verbindung mit zugi Wolke) Wolken in denen der Sonnenstrahl sich feuer-
roth bricht. In derselben Sprache mit gequetschtem Anlaute: dsaksan s.
v. a. /ulgian tugi vothe Wolke, das chinesische "33 hia; ferner dsaksa-ka
eine am Horizont ausgebreitete rothe Wolkenschicht; ds’aksa-ngga purpur-
zu tsfe.
raschende Weise im Lappischen: kwokso die Morgenröthe, und kwoksek
farbig, das chinesische — Mit dieser Wurzel stimmen auf eine über-
oder kweksekasek das Nordlicht; denn sie sind ohne Frage aus kaksa, kak-
(') Wohl Nebenform der vorhin erwähnten Wurzel des Schneidens.
(?) Nicht zu verwechseln mit dem aus chatun vornehme Frau entstandenen Aadin.
Vergl. S. 294.
(°) Als Partikel wird dieses Wort unnöthiger Weise kanssa geschrieben. Wegen
des Übergangs der Bedeutungen vergleiche man Hebr. cs Gesamtheit, Volk, und 2» mit-
sammen, mit, Beide von der Verbalwurzel &»», arabisch = die in letzterer Sprache ge-
meinschaftlich sein und Vielen etwas mittheilen bedeutet.
390 Scuorr über das Altai’sche
saka entstanden (1). — Die Bedeutung goldroth, feuerroth, oder purpurn
gründet sich aber auf etwas Brennendes, Glühendes, für Gesicht und Ge-
fühl; daher obenerwähnte Verbalwurzel chaksa auch brennenden Schmerz,
sei es durch Sonnenglut, sei es durch Krankheit, bedeutet. Das verwandte
chakschan heifst verbrannt und vom Feuer geschwärzt; chakscha aber etwas
rösten. — Mongol. ist chaksa durch Feuer oder Fieberglut ausgedörrt und
schlechthin trocken werden. Verwandt ist chagha-ri mit heifsem Eisen sen-
gen, rösten, hart braten und trocknen überhaupt (selbst an der Luft). Mit
diesem chaghari hängt ohne Zweifel chaghorai trocken (s. oben) und also
auch das türkische », 55 koru zusammen, wie das türkische 55 kak in kak-la
dörren auch der Form nach ungemein zu chagha-ri stimmt.
Mongol. chagha, Wurzel des Spaltens und Entzweiens (im buchstäbl.
Sinne); daher chagha-l spalten, durchschneiden, abbrechen, trennen; pflü-
gen. Abschattungen derselben: chaghu-l und chaghu-r, mehr im Sinne des
Reissens, daher chaghur-chai Riss; ferner chogho-l entzwei brechen, zer-
brechen; chogho-ra entzwei gehen. Mit gequetschtem Anlaute: dsagha
durch Einschnitte trennen. — Mands. dsaka Spalte, Ritze; als Verbum
Kerben machen; ds’aka-ra durchbrochen sein; dsakan bestimmter Platz;
just, so eben (?). — Türk. und mongol. s> tschak, &> tschagh Zeitab-
schnitt, Zeit; türk.(3> dsak nur eben, nur. Ersteres haben die Ungarn in
der Form zszaka (Ej-tszaka Nachtzeit), Letzteres in isak (ischak) nur. Aus
choghor (choor) zerbrechen bilden die Tschuwaschen chor, die übrigen
Türken „5 kyr. Das türk. ‚Lu jar spalten ist offenbar für jaghar (vergleiche
chaghur und dsakar), daher z.B. \s,» jary Hälfte (Spalte), s,, jara Wunde
(Klaffendes). Auch das mands. jeru Höhle (Spalt?) darf man hierher zie-
hen (3). — Finn. kah in kah-te zwei (s. d. Zahlwort); jaka theilen und (nä-
her zu choghor) haur in haura-ha zerbrechlich.
Einen Lippenlaut statt des Kehl- oder Gaumenlautes finden wir a) in
dem mands‘. fak-tscha sich spalten, trennen, theilen, und fak-sa, woher
(') So wird im Lappischen kwekte zwei, kwele Fisch, aus den finnischen Ww. kahte, kala.
(?2) Tibet. ’ds’og zerspalten.
(°) Das türk. 5 jaf schreiben habe ich schon früher von jar spalten, einschneiden
(vergl. ygapew und unser graben, graviren) abgeleitet. In dieser Bedeutung wird die Wur-
zel bei den Tschuwaschen sir, den Ungarn ir. Am nächsten verwandt ist das mongolische
dsiru zeichnen, malen.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 34
faksa-la trennen, theilen; b) in dem türkischen s&&L baschka abgesondert,
besonders, welches für bBakscha = faktscha stehen mufs, also mit basch Kopf
nichts gemein hat.
Mongol.chal, chol, Wurzel der Kahlheit und Glätte. Beispiele: chal-
dsan Glatze, Blässe (der Pferde), chaltsa-ghai kahl, chaltsa-ra kahl werden;
chal-tschi glatt machen, chaltu-ri abglitschen, chal-ghu ausglitschen, chol-gho
glitschen, rutschen. — Finn.kal und kol: kalja oder kalju Kahlkopf und glatt,
schlüpfrich ('); kallio Felsen (Kalewala Felsenland); kallo Schädel; kolkki
Pferd das leicht strauchelt oder ausgleitet. Lappisch kallo Stirn und Felsen.
— Bei den Mands’us ist die betreffende Silbe kal und gal, letzteres z.B. in gal-
ds’u durch Eis schlüpfrig gewordene Stelle; aber Schädel und Obertheil der
Stirne heifst giolo, welches Wort aus einer innerlich erweiterten Form entstan-
denscheint. Eine solche ist deutlich das mongol. kabala (kawala) Schädel.
Dieselbe Wurzel finden wir in allen Familien des Geschlechtes auch
mit einem Labiale als Anlaut. Schon im Mongol. und Mands. begegnen
uns bal-isa, bal-da in den Zustandswörtern baltsa-ldsa und balda-sita aus-
gleiten. — In der lappischen Sprache ist puold (für pald) eine abschüfsige
Anhöhe, dann ein Hügel oder kleiner Berg überhaupt. Das finnische Wort
pelto (ehstnisch pöld) scheint — wie Gottlund bemerkt — von diesem ab-
geleitet, da die Finnen alter Zeit häufigst ihre Äcker und Felder an Abhän-
gen bauten (?). Jetzt bedeutet pelto allerdings, wie das ehstnische pöld und
magyarische föld, einen Acker; allein die Finnen besitzen noch ein verwandtes
Wort, das auch die Bedeutung jenes puold bewahrt: es ist palta oder palto
abschüssige Bergseite, und von Gottlund übersehen (?). Bei den Lappen
heifst palda (pald) Seite, insonderheit des Körpers, und wird mit Casus-
zeichen und Suffixen zu einem Verhältnifsworte wie bei, an.
Wie eine Abkürzung verhält sich zu pelto das mongolische del Berg-
lehne. Turksprachen haben dal und bil in der Bedeutung Hüfte, daher „U,
bil-bau Hüftengurt. — Das türk. ab bal-yk Fisch ist das finn. kala.
(') Vermuthlich auch kala Fisch. S. oben S. 338.
(?) Se näyttää kuin Suomi sana pelto oisi tästä lähtenyt, koska Suomalaiset ennen
wanhuudessa useimmittäin tekiwät peltojansa ja halmeitansa rinteillen. Otawa, Th. 2.
(°) Verwandt ist wohl ferner palto, nach Renyall: fera ex decipula e/apsa (entschlüpft,
entglitten), und callidus, audax (der zu entschlüpfen weiss).
392 Scnhorrüber das Altai’sche
Mands. kaba in kaba-ra zusammendrücken, kaba-chün zusammenge-
drückt, abgeplattet. — Mongol. chap-ta in chapta-ghai flach, platt, chapta-
sun Brett. — Finn. kapia eng, knapp, kape-ne eng werden (1). — Türk.
ob kap in kap-la und LS kapa zumachen, verschliefsen, bedecken; daher
z.B. kapy Thüre, kapak Deckel (?). Die Türken haben auch „L jap mit
gleicher Bedeutung, daher & „\ jabuk verschlossen. — Lapp. jap-te sich ver-
bergen (gleichsam zudecken), auch heimlich nachstellen. Vergl. unter Z.
Mongol. chang in chang-gai hoch und dünn aufwachsen; changga-
ghar lang und hager; changki-jal schmächtig aber lang. — Mands.genggen
schwach von Beschaffenheit (Gegens. ganggan stark); gengge-de im Gehen
schwanken wie z. B. Greise; gengge-chun langer und dürrer Mensch, der
gekrümmt einhergeht. — Magyar. gyenge schwach.
Lapp. kapa und finnisch kipa hüpfen; daher lapp. kipp und kappa-njes
glühende Asche, finn. kipinä Funke. — Türk. „„&3 kyp-kyn und (mit g%h)
Us kyghy-Idsym Funke (°).
Mongol. chantu wenden, eine Richtung wohin haben. — Finnisch
ö
käänt wenden und wäänt winden, drehen. — Mands. wen die Wendung
zum Guten, Besserung.
Türk. ‚& kar Schnee. — Lapp. wuor tiefliegender Schnee.
Türk. (55 kary bejahrt. — Lapp. wuor-as dasselbe.
Mongol. charai springen. — Finn. kar-ka heftig aufspringen; laufen.
Finn. kau-ni in kaunis schön. — Mong. ghowai, ghuai (*).
Finn. kari, kari-tsa, kar-ko Lamm. — Mongol. chori-ghan. — Tun-
gus. kuri-kan, kur-kan. — Türk. 555 kufy für kury.
Mongol. chatsar, chasar Backe, Wange (°). — Finn. kas-wo Wange;
kaswot Wangen und Gesicht.
(‘) Plattheit und Enge können beide als Ergebnils eines Zusammendrückens be-
trachtet werden, die entsprechenden Wörter also eine gleiche Wurzel haben.
(?) Tibet. gad bedecken.
(°) So hat ein anderes türkisches Wort für Funke, ON) utsch-kun seinen Stamm
in „| uzsch fliegen. — Mongol. otschim Funke.
(*) Koreanisch köw schön. — Chines. + chüo, hao gut und schön.
(°) Sollte dieses Wort mit ghadsar Land, Erde verwandt sein? Das türk. D,,\ ort
Wange (ungar. oriza) gleicht sehr dem türk. b, » jort Land, und im Uigurischen heifst
lül £ jer jangak des Landes Wange d.i. Oberfläche.
[2
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 393
Mongol. ghal Feuer und in Zusammensetzungen leuchtend, z.B. ghal-
tu chorochai leuchtender Wurm, Johanniskäfer; ghal tsetsegei Licht-Papa-
chen (?), der Lichtpunkt im Augapfel. Verwandte Wurzel chala bedeutet
nur die Wirkungen des Feuers auf das Gefühl: Hitze, brennen, wärmen. —
Mands. chala kochen, sieden; chalu in chalu-kan wenig warm, lau; chal
in chal-chün heiss.— Türk. jal in SL jal-yng Flamme, dann, wegen der
Verwandtschaft des Zund n: .„‚» jan brennen. — Finn. vielleicht kyl-we ein
warmes Bad gebrauchen.
Mands‘. chan-tsi= cham-tsi benachbart, nahe. — Türk. „uxiy3 kong-
schu für kom-schu Nachbar. — Mongol. cham-ds’i zu etwas gehören. Diese
Wörter schliefsen sich ohne Zweifel an die oben erläuterte Wurzel cham,
kam.
Mongol. chair in chair-tu gadsar steiniges und sandiges Land.— Türk.
Fi hor.
Türk. (5; kafy schaben. — Mongol. choso.
Mongol. chairagha-na Möwe. — Finnisch kajawa für kajaga oder
kairaga.
Türk. (sö kai Allheit, „B kai-sy ihre Allheit, sie Alle. — Finn.
kaikki Alle (').
Türk. -$ kep Rede; MSuS kep-tschil plauderhaft. — Syrjänisch kyw
Wort. — Mands’. chebe Berathung. Mongol. kebei und choobi.
Mands. keli Schwager. — Türkisch .,,S kilün, u kilin, «5$ kilen
Schwägerin. — Finn. käly Schwägerin.
Finn. keri-t scheeren; kero geschorener Kopf. — Türk. 53 kyrk
und > kyrp scheeren.
Mands’. chese Befehl; chese-bun dasselbe, insonderheit der himmli-
sche Befehl, das Schicksal, chines. en. — Finn. käs-ke befehlen.
Finn. kepiä leicht. — Mongol. kep-rek locker und leicht; aber küp-ki
sehr leicht sein. — Türk. iss gew-schek schlapp.
Mongol. kebeli, mands. chefeli Bauch. — Ungar. kebel Schoofs.
Mongol. kep Vorbild, Form. — Türk. Ss kip, aber nur in .sS kib-i
(sein Bild, seine Gleichheit) gleichwie. — Finn. kuwa Bild, lapp. köw, magy.
kep. Das lappische Wort kann ebenfalls Vergleichungspartikel werden,
c) Chines. kai und kai.
Philos.- histor. Kl. 1847. Ddd
394 Scuorrüber das Altai’sche
erhält aber in solchem Falle kein Suffix, z. B. il son almatsch köw nicht
ist er Mensch Bild (wie ein Mensch). — Mands‘. gebu Name halte ich für
dasselbe Wort, weil der Name wie ein Bild an den Gegenstand erinnert.
Mongol. kele Zunge und Sprache. — Finn. kieli, keel dasselbe. —
Mands. chele und chelen, nur ausnahmsweise gebraucht. Obwohl chele für
sich allein mit stumm erklärt wird, so kommt doch in diesem Sinne auch,
und wohl häufiger, chelen-akit vor, was nichts Anderes als zungen- oder sprach-
los (akü ist die bekannte Verneinung) heifsen kann, also dem türkischen ‚wo
dil-sif (aus Zunge und ohne) ganz analog sein mufs. Da chele den Man-
dsus viel weniger geläufig ist, als ilenggu (s. oben S. 370), so konnte es
mifsbräuchlich auch ohne akü die Bedeutung stumm erhalten und so gewisser
Mafsen das Gegentheil von dem ausdrücken, was es sollte. — Xele heifst
ferner bei den Mongolen sprechen und kieli bei den Finnen plaudern,
woher kiele-wä plauderhaft. — Das mands. che-ndu sagen zeigt uns die Wur-
zel verkürzt, wie das gleichbedeutende mongolische ge, zu welchem wieder
giin dem mands. gi-sun Wort, Rede stimmt (!). Eben so verhält sich türk.
di sagen zu dil Zunge.
Eine Form der erwähnten Wurzel mit starkem Vocal, jedoch nur in
der Bedeutung Kehle, ist mongol. choola, choolai (?). Vielleicht gehört
auch das finnische kaula Hals hierher. Mit choola klingen aber zusammen:
lapp. höl und höla Rede, höle sprechen; tungus. in Ochotsk gol sprechen;
mands. chäla rufen und lesen, welche zwei Bedeutungen auch das hebräi-
sche x"p vereinigt. — Die oben angeführten Wörter für Aushöhlungen des
Bodens hätte ich wohl zweckmäfsiger hier angereiht, um so mehr, als z.B.
das mands. cholo zunächst engere Vertiefungen (Schluchten und Rinnsale
von Gewäfsern) bedeutet. Alle diese Wörter heifsen eigentlich nur Kehle
oder Schlund (°).
(') Vermuthlich ist kele selber, sofern es reden bedeutet, in ke und Ze zu zerlegen.
In diesem Fall wäre ke ein Fragment von %kele Zunge und /e die bekannte Silbe welche
Nennwörter in Zustandswörter verwandelt.
(?2) Hiernach wäre z.B. in dem 5» und Js (Stimme, Rede) der semitischen Spra-
chen, wenn es mit c$oola urverwandt, die älteste Bedeutung (Kehle) verloren gegangen.
(°) Man vergleiche den sehr analogen Gebrauch des türk. ‚Ley boghaf Schlund (Schlucht
und Meerenge), französ. gorge u. s. w.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 395
Finn. heit werfen, abwerfen; lassen, verlassen. — Türk. ws jit ver-
loren gehen; jit-ir verlieren. — Vergl. oben (S. 365) das finnische wätkä.
Finn. helppo schlaff. — Türk. „uw sülpü dasselbe als Verbum: schlaff
da hangen.
Finn. keisa heimlich zu sich nehmen. — Türk. ;£ gif verheimlichen;
gi/-L heimlich; gif-le verstecken.
Türk. N krl Haar am Körper. — Mongol. kil-ghasun Pferdehaar. —
Lapp. kwol-ga Haar der Thiere.
Finn. hüli Kohle. — Türk. kül glühende Asche.
Mongol. und türk.: kiraghu (kirau) Reif (pruina). — Finn. huuru,
kuura.
Mands. gira-n Gebeine; gira-nggi Knochen. — Ungar. gerentz (mit
und ohne hat Rücken) Rückgrat. — ongelh kira niedriger Bergrücken und
kira ghadsar Hochland.
Finn. Airw und Airm, Wurzel des Schauderns, Grauens, Erschre-
ckens. — Mong. sür Furchtbarkeit, Überlegenheit.
Ostjak. chogh-od laufen (nach Erman). — Finn. juok-se. — Türk.
5.» jüg-ür. — Mong. güjü.
Mongol. choli mischen. — Finn. koli mischend verunreinigen.
Mongol. cholki-ta sich umhertreiben. — Finn. kulke wandern ().
Mongol. chokija verarmt, Bettler. — Mands. koki-ma sehr arm. —
Finn. köyhä arm. — Türk. Jem>. joch-sul arm (?).
Mongol. chomsa Abnahme, Schaden, klein. — Mands. komso wenig.
Mongol. chomosun und kimüsün Nägel an Fingern und Zehen. — Finn.
kynsi für kümsi Nagel und Klaue.
Mongol. BE hlo- li Obertheil des Schenkels. — Finn. konti en
bein. Magyar. csont (tschont) Knochen.
Mongol. und Mands. gol Länge; daher mongol. ghol-tu in die Länge;
mands‘. gol-min lang. — Verw. sind mongol. chola entfernt (vergl. die Wur-
zel uf); mands. gul in gul-chun vollständig; finn. kyllä dasselbe (°).
(') Gehört wahrscheinlich zur Wurzel Fuls, S. 343.
(?) Mands’. giocha betteln ist wohl das mongolische gAuju bitten, erbitten.
(°) So hat im Portugiesischen comprido (aus dem lateinischen completum) die Bedeu-
tung lang erhalten.
Ddd2
396 Scuorr über das Altai’sche
Mongol. chorki-ra schnarchen, röcheln. — Finn. koris.
Mongol. chorboi gekrümmt sein. — Ungar. görbe gebogen, krumm;
görbi-te krümmen. Wohl eines Ursprungs mit chorgi u.s.w. S. 355.
Mongol. chosi Ceder. — Finn. kuusi Fichte.
Finn. koski reilsender Strom, Wafserfall. Lapp. kwoik (für kwosk)
und kweik dasselbe. — Türk. »& 5 kui-gha und ., +3 kui-ghun Strom (!).
Mands. godsi ziehen (trahere). — Türk. <> kütsch herumziehen,
nomadisiren, woher die Russen ihr koyerams haben. — Lapp. kese ziehen
(trahere).
Mongol. choi in choi-tu Hinteres, Folgendes, Künftiges, choi-na hin-
ter, zurück; später; nach. Ferner chodsi in chods'i-t hinten, nach; chodsi-m
spät, verspätet, chodsi aufschieben.— Schwächere Wurzel: türk. es ketsch,
getsch spät, WS gidse Nacht. — Magyar. kesö (keschö) spät.
Finn. köyte (köysi) Strick; köytä binden. Magyar. köt binden. —
Mands. chüaita anbinden; kute dasselbe; aber kutu-le leiten, führen. —
Mongol. küte leiten, führen.
(‘) Der Name des ältesten Ahnherrn Tschinggis-Chans wird von den Mongolen Kijor
geschrieben und findet im heutigen Mongolischen keine Deutung mehr. Adulghasi, der
diesen Namen us schreibt, was man Ayjan und Kajan lesen kann, deutet ihn an drei
Stellen seines Werkes. Das erste Mal (S.21) sagt er: x5° 1% Wr ER Ss os
ES RSG 5 Jos Heeneone ven OS AR, a5 ah ES or > un» &
Berge kommt, einen reissenden Waldstrom ..... Man nannte ihn also, weil er ein starker
DS u olus Kor ist
Mehrzahl von Ä-n. Schon ein Paar Zeilen vorher wird bemerkt, X-/ seien die Kinder
und rascher Mann war. — Es folgen die Worte: BO)
(Nachkommen) des X-n genannt worden (was auch sehr wahrscheinlich, da das pluralische
2 der Mongolen ein auslautendes » verdrängt). Das andere Mal (S. 51) heilst es:
ae de ee LU a ls Klum,
d.i. man nannte diese Leute Ä-7, weil die Mongolen einen von einem Berg herabflie-
(senden Strom k-n nennen. — Endlich die dritte Stelle (S. 39) lautet: Le ‚wol ge
3 da ak m ET eb he Su al dass di. Kon bedeutet ei-
gentlich stark und rasch, wie ein vom Berge stürzender Gielsbach. — Ich meines Theils bin
sehr geneigt, das heutige mongolische chaja-ghan Wurf als eine andere Form jenes ver-
lornen Wortes zu betrachten, das Aıjaghan (kijän) oder kijaghon (kijön) gelautet haben
mag. Der reilsende Lauf kann mit einem Wurfe verglichen werden, und so dürfen wir
also auch in dem Awoi, kui, kos obiger finnisch- türkischer Ww. eine Wurzel des Wer-
fens erkennen, die bei den heutigen Mongolen chaja ist.
ug
oder Finnisch- Tetarische Sprachengeschlecht. 397
Türk. 23 kum und (325 kumak Sand. — Mongol. chomaki feiner
Sand, Stäubchen. — Magyar. homok Sand. — Mands. jonggan dasselbe
(für jom-gan).
Finn. kuul hören. Ostjak. chol. Wogul. jul. Magyar. hall. — Die
finnische Wurzel ist in dem türkischen Worte für Ohr, (355 kul-ak (aus
kul-ghak) und chulgha, besser zu erkennen als in dem finnischen korwa (r
für 2), womit übrigens die tungusischen Formen kor-at, kor-ot Ohr am mei-
sten übereinkommen. — Wegen des türkischen .l-d und ischit hören sehe
man unter Z.— Mit einem Labiale vertauscht ist der Anlaut z.B. in dem
magyar. fül und ostjak. pal Ohr.
Mongol. ghol-ki Ekel empfinden; chuli ausbrechen, speien. — Finn.
kyölä sich erbrechen.
Mongol. kül-te erfrieren, frieren. — Finn. kyl-mä kalt.
Mongol. kündü schwer, mühsam, ehrenwerth; kündü-le ehren. —
Finn. kunnia Ehre, Ruhm.
Tungus. kunga-kan, kua-kan Kind, Knabe. — Mongol. köwe-gün
Knabe, Sohn. — Syrjänisch kaga Kind.
Mongol. küse wünschen, verlangen, begehren. — Finn. kysy suchen,
bitten, fragen; kose prüfen, versuchen; kosi um eine Braut werben. — Mands.
gosi nach Jemanden Verlangen haben, ihn lieben.
Türk. ws kös grollen. — Finn. kiusa ärgern, verdriefsen.
2 Zungenlaute.
Diese sind r, Z, n, t(d). Wenn ni zu nj zusammenfliefst, so wird
es innige Paarung eines Zungenlautes mit dem gelindesten Gaumenlaute.
Wir beginnen mit, das als Anlaut einer Wurzel nur in den finnischen
Sprachen häufig, in der türkischen und tungusischen Sprachenfamilie sehr
selten (!), in der Mongolischen ohne Beispiel ist. Für die meisten Türken-
stämme, besonders die westlichen, hat das anlautende 7 so vieler von ihnen
aufgenommenen Fremdwörter keine Schwierigkeit mehr, Andere aber schie-
ben (wie der Mongole immer thut), den nächsten Vocal echo -artig wieder-
(') Der tungusische Dialekt von Jenisejsk hat rokta Gras (finn. ruoho) für orokta (s.
oben). Erman citirt auch roktschan Berg, raketa Bär. In türk. Dialekten findet man
Ey rugh und 2, Tumw für En) urugh Stamm; rach oder rach-tach für Gl irak fern.
398 Scuorr über das Altai’sche
holend, gleichsam ein Kissen zwischen das r und ihre ungeübte Zunge: sie
sagen z.B. >! Oros für Ros, Russe, Js, iriskal für Sliw, riskal Glück. (?)
R in der Mitte kann mit einem Kehllaute den Platz wechseln, z.B.
mongol. borghotsok und boghortsok Knollen am Obste, delger und dergel
(mit sara) Vollmond; türk. dokuf und tschuwasch. Zuruch neun. — Es kann
ausfallen: mongol. bordsigir und bodsigir kraus, lockig (?); türk. arslan
und aslan Löwe; jumurta Ei, jakut. symyt; finn. sinerwä und sinewä bläu-
lich — oder sich assimiliren: türk. dört vier, tschuwasch. dwatta; yrla sin-
gen, jakut. ylla. — Es wechselt unter den Lauten seiner Olasse: a) mit Z,
was gar keiner Beispiele bedarf; b) mit n, z.B. in einigen tungus. Dialekten
wo men (zehn) zu mer wird; c) als Anlaut gewifser finnischen Ww. mit t:
reuhka und teuhka Wintermütze. Statt eines Kehllautes steht es als An-
laut in dem finnischen ryAmy für kyhmy kleiner Buckel, Knoten; sonst am
Ende der Silben: finn. mörkälet für möhkälet grofser Klumpen; mongol.
setser-lik für tsetsek-lik Blumengarten (°); auch in der Mitte zwischen Voca-
len: mongol. doghokschi und dorokschi abwärts. — Beispiele seines Über-
gangs in j oder i seien: finn. Zuiki für turki ganz, völlig; mongol. dsila-ghai
für dsila-ghar seicht (*); türk. arkury und im gemeinen Leben aikary queer,
schräg. — Wenn s oder häufiger / für r erscheint, so ist jenes wohl in den
meisten Fällen (wie wenn r zu j wird) eine spätere Bildung. Beispiele sind
öfter vorgekommen, besonders wo ich türk. Wörter mit mongol. und tun-
gus. verglichen habe (°).
*
*
Das 2 ist als Anlaut den türkischen Dialekten ziemlich eben so fremd
wie; und auch von ächt mongolischen Wörtern lauten nur wenige damit an.
In der Mitte kann es vor einem anderen Consonanten ausfallen oder
demselben sich anähnlichen. So hat man türk. osun für olsun es sei, ge-tir
(') Dieses ist aus dem arabischen Gh Geschenk, Güter.
(2) Immer vor dem die Mehrheit anzeigenden 2: ghadsat für ghadsart Länder.
(°) Vergl. tungus. umukta und türk. jumurta Eı.
(*) Der Zusatz ghai entsteht wohl immer aus ghar. — Vergl. im Italien. caldajo neben
caldaro und überhaupt die Endung ajo neben aro. — Manches andere Beispiel von j oder
i für r findet man zerstreut in den bisherigen Wörtervergleichungen.
(°) Der tschuwasch. Dialekt hat regelmälsig r für /, z.B. chyr = kyf Mädchen; pur
= buf Eıs.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 399
für gel-tir kommen machen, bringen; ofur für ol-tur sitzen; otu/ für ol-tuf
dreifsig; eder (jakut.) für i-der jung. Der Osmane spricht im gemeinen Le-
ben ann für alen Stirn; onnar für on-lar jene, sie. — Im Mongol. finden wir
sidsirekü neben sildsirekü zerkochen. Am Ende ist I ausgef. in dem jakut.
ary für aral Insel. Unter den Lauten seiner Classe wechselt es zuweilen in
der Mitte und als Anlaut mit #: so hat man finn. Zadikko neben tadikko Mist-
gabel, patja neben palja grolser Schmiedehammer — oder es wird n: mon-
gol. emnekü für emlekü Arznei einnehmen, u. s. w. (!).
L kann Jod werden, in der Mitte vor einem Consonanten und noch
häufiger als Anlaut, auch wenn es nicht Z mouille ist (?). So verwandelt sich
das finnische kolm drei bei den Syrjänen in kuim; bei den Suomalaiset be-
gegnet uns jorotus neben lorotus. — Ofter noch erscheint in den finnischen
Sprachen anlautendes /, wo andere Familien des Geschlechtes Jod haben.
So dürfen wir das ostjakische Zil Geist (hier Z mowille) nicht blofs in den
magyarischen Wörtern lehel athmen, lel-ek Seele, sondern auch in dem tür-
kischen \\ je! Wind wiedererkennen. Magy. lod.ıl eilen legitimirt sich als
Verwandter des finn. jout und türk. iwez (S. 358); und unzweifelhaft ist ma-
gyar. lep bedecken das türk. jap = kapa.
Die meisten finnischen Sprachen besitzen in Z-b, l-p eine Wurzel des
Abgeplatteten, Flachen. Dahin gehören die Suomiwörter Zapa Schulter-
blatt, Zappa dünne Eisenplatte, Zappia flach, platt und breit, u. s. w.; das
lappische Zapa Sohle des Fufses, die auch bei den Schweden Fufs-Blatt
(fotblad) heifst; das ostjakische Zibit Baum-Blatt; endlich die ungarischen
Wörter Zap Fläche, Seite, ad Fufs (unmittelbar aus dem lappischen Zapa
Sohle), und ler in Zev-el Baumblatt und Brief (?). Zu 2a Fufs gehört wieder
lep schreiten. Nur ein türkisches Wort bewahrt den Anlaut Z: es ist ss
lep-tschik, welches Giganow in der Redensart N», „2 us 1. burunlu, rus-
sisch 1.I0eROHoCBMI d.i. plattnasig, anführt (*). Mongol. nap-tschi Baum-
(') So steht das finnische Wort omena Apfel wahrscheinlich für on/a und verhält
sich wie eine Verschiebung zu dem mongol. alima und den türk. Formen alma, elma, olma.
(*) Aus den slawischen Sprachen vergleiche das böhmische Zedwa neben dem russi-
schen jedwa kaum.
(°) So ist bekanntlich unser deutsches Blatt eine und dieselbe Wurzel mit platt.
Vergl. auch die Bedeutungen des griechischen :ir«2.ov.
(*) S. dessen russisch -tatar. Wörterbuch, S. 387. — Übrigens hat man im Finnischen
)
400 Sen über das Altai'sche
blatt steht gewifs für Zap-ischi, hier ist Z das als Anlaut den Mongolen mund-
rechtere n geworden. Eben so wenig dürfen wir aber die Identität des türk.
jap, dsaf, tungus. ab, af, injaprak, afacha u.s. w. ('), wie auch des mon-
golisch-tungusisch -türkischen jap, jafa, tschap gehen, mit lap u. s. w. in
Zweifel ziehen (?). Nur die finnische Sprachenfamilie offenbart uns diese
ursprüngliche Einheit zweier ostaltaischen Wurzeln, dieman, weil im eignen
Gebiete kein Mittelglied ihre Bedeutungen zusammenhält, für grundverschie-
den halten sollte.
Endlich alternirt Z auch mit sch. Dem eine Silbe schliefsenden sch
der meisten heutigen Türkenstämme entspricht besonders gern bei den Tschu-
waschen Z, oder wahrscheinlich /, da ihm in solchen Fällen fast immer ein
schwaches Jer von den Russen beigeschrieben wird (?). Beispiele: xmas chi
— 045 kysch Winter, moAs tül = ss tüsch Begegnung; mMIOMORB Lülük
Schlaf und Traum = us düsch Traum; umaur® pilik fünf = gs besch;
u.apae ilde hören = ww! ischit. Die Formen chil und ilde sind jedenfalls
vor kysch und ischit dagewesen; chil Winter erinnert an eine Wurzel der
Kälte, des Frostes, welche bei Finnen und Mongolen kül lautet (s. oben);
und das il in lde hören kann sich zu finnischen Wurzeln des Hörens (kuul,
chol) eben so verhalten wie etwa mands. il-an drei zu den finn. Formen
kol-m, kur-om, oder türk. iki zwei, zu finn. kok, kah-te u. dergl. (*).
Ich vergleiche jetzt noch einige Wörter, deren anlautendes 2 bleibt
oder höchstens n wird:
Mongol. Zap-chu kothige Stelle. — Tschuwasch. Zapra Koth, labyr-
da besudeln.
auch wlappa weite geräumige Fläche, was von obigem Zap u.s.w. nicht getrennt werden
kann; es ist durch vorgesetzten Vocal erweiterte Wurzel. An die Bedeutung weit, um-
fassend scheint das mands’uische /ad-du viel sich anzuschlielsen.
(') Vergl. S. 360. In dem jakut. sibirdach istjap zu sid geworden, analog dem ost-
. Sth= .
jak. Zd in Zidit. — Chines. je Blatt, in Canton jip, ip.
(?) Sofern jab u.s.w. gehen bedeutet, ist es natürlich nichts Anderes als ein zum
Verbum gewordener alter Ausdruck für Fuls, dem magyar. /d& (lapp. apa) entsprechend.
(°) Eben so ist das ch (sch) vieler portugies. Wörter aus einem Z mouillE hervorge-
gangen; denn im Spanischen steht allemal der letztere Laut (geschrieben Z) gegenüber:
llamar (aus clamare) wird chamar; hallar (finden) wird achar.
() Wegen pilik vergl. das Zahlwort; zü) und zülük s. unter T.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 401
Finn. Zoihka und loiku schwingen, wedeln. — Mands. Zakia hangen,
aufhängen.
Finn. Zaaha und laahi schleifen, glätten. — Mands. Zecke schleifen,
wetzen. |
Finn. Zau in Zau-su sprechen. — Mands. leo sprechen.
Mands. laktscha und las’cha zerbrechen. — Finn. Iuhi-sta entzwei
gehen, einstürzen.
Finn. Zäiky sich stark hin und her bewegen; lüke bewegter Zustand.
Lapp. likka sich regen, rühren. — Tschuwasch. lügga schütteln. — Mands..
leki-de Evolutionen machen, tanzen.
Finn. löka Auswuchs, überflüssig (1). — Mands‘ Zuku reichlich.
Mands. Zusu müde und matt sein. — Lapp. löds’o erschlaffen. Finn.
löysä lose, schlaff.
Tungus. Zamu und namu Meer. — Finn. lampi Landsee.
Mands. lenggeri eine Art Maus oder Ratte, während singgeri dieses
Thier überhaupt ist (*). — Bei den Östjaken heifst Zengir Maus schlechthin.
Finn. läwa breiartige Masse, Schleim, lüpi ausgleiten; Züpa dasselbe,
lipa-kka Schlüpfriges, Schleim; Ziima und lima-ska (auch lima-kka?) s.v.a.
lüwa. — Sollte nicht das mandsuische nima-cha Fisch von einem verlorenen
nima — finn. lima sein und also schleimiges, schlüpfriges Wesen bedeuten?
Auf eine ähnliche Bedeutung des anderen Wortes kala habe ich oben schon
hingewiesen.
*
N ist als Anlaut ächt türkischer Wörter selten. Inmitten solcher fällt
es dialektisch aus, z.B. muinuf oder boinuf Horn, bei Kirgisen mujuf, Ja-
kuten mos, Tschuwaschen myr& (für muinur), günesch Sonne, kirgisisch
kajasch,; osman. karyndasch Bruder, im gemeinen Leben kardasch. Am
Ende der Ww. wird es, wenn blofser wortbildender Zusatz, von Mandsus
(') Daher Zian allzusehr, was so merkwürdig mit dem griech. ?«v übereinkommt.
Das wurzelhafte k ist wegen der geschlossenen Silbe ausgefallen.
(?) Vgl. unter Züri, S. 337. — Das Thier Zenggeri wird im Buleku Bitche so be-
schrieben: eine grolse Maus, deren Kopf dem des Hasen ähnlich und deren Schwanz be-
haart ist. Sie hat eine grünlich-gelbliche Farbe und kann wie der Mensch aufrecht stehen.
Philos.- histor. Kl. 1847. Eee
402 Scnuorr über das Altai'sche
und Mongolen gern abgeworfen, und selbst wurzelhaftes 2 weicht einem an-
gehängten Mehrheitszeichen, z.B. mong. chat für chan-t, von chan Fürst(!).
Vor 5 wird es m: mands. mim-be = min-be mich. Unter den Lauten
seiner Classe kann n mit d wechseln (?); so heifst schlafen mordwinisch ud,
lappisch öda; im Suomi aber ist uni Schlaf und uina schlummern. Zuweilen
wird esj (?): tungus. nima und jema Schnee; finn. nysky und jysky krachen.
Besonders geschieht dies, wo ein Übergang in 7 (durch i hinter n) entweder
vorbereitet oder schon erfolgt ist, z.B. mands. niobo und jodo Possen trei-
ben (*). Einfaches 2 wird nj in dem tungus. nurit = njurikta Haar; ein
w + i erscheint an seiner Stelle in dem finn. wäl aufschlitzen, magyar. nyıl
sich öffnen. — Einfaches n streitet um den Rang mit s in der finnischen En-
dung ne (n) = se (°) und dem Worte intiara neben istara Zaubergeräth.
Wörter aus verschiedenen Familien des Geschlechtes:
Mongol. naghor (noor) See. — Finn. noro sumpfige Aushöhlung
zwischen Bergen.
Mands. naka aufhören etwas zu thun. — Finnisch naka hinwerfen,
wegwerfen.
Finn. nahka Haut; daher nahkia zäh. Ehstnisch nakka anhängen. —
Mongol. nagha kleben; daher nagha-nggi schiroi zähe oder klebrige Erde,
Lehm. — Mands. notcho Haut, Fell.
Mongol. nasu Lebenszeit, Lebensalter. — Türk. Lil jascha leben,
das aber wieder von ib jasch nafs, frisch, woher auch ul jasch-yl oder
jeschil die grüne (frische) Farbe, herzuleiten ist. — Lappisch njuos-ka nafs,
frisch: njuoska muora das noch saftige, grüne Holz, im Gegensatze zum
(') Das türkische Wort zeigt uns öfter die reine Wurzel, während im Mongol. eine
Art Nunnation nachtönt, z.B. türk. — 5 gütsch Gewalt, Stärke, mongol. küzsch-ün; türk.
BE znuf oder 3 duf Eis; mongol. müs-ün.
(2) Einige Parallelen: im Sanskrit ist neun nawan, im Slawischen dewjaz; littauisch
dewyni. Das chines. Wort für Vogel ist nido und ziäo (diao).
(°) Vgl. altslawisch jefero und bulgarisch nejero See.
(*) Mands. niam-an Herz ist das tibet. Wort am Gemüth mit aufgelöstem 7; und
wenn die Wurzel des mands. ine-nggi Tag mit dem tibet. min Tag verwandt ist, so steht
Ersteres für nienggi.
(°) Nur der Nominativ ist nen; in der Mehrzahl und in allen Casus erscheint dafür se.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 403
dürren, trocknen; njuoska pjärga rohes Fleisch. — Mands. nas-chin gün-
stige oder glückliche Zeit, gute Gelegenheit.
Finn. näh, mordwin. nej und nee sehen. — Mongol. nik oder ni in
nighor Gesicht und nidun (für nikdun?) Auge.
Finn. noki Rufs; noke mit Rufs besudeln. — Mongol. noki-d mit Koth
bespritzt werden.
Mongol. noit-an feucht. — Finn. neitiä, magy. nedv dasselbe.
Finn. nokka Nase, Schnabel, Spitze; daher nokki picken, hacken;
nokkoinen Brennnessel (weil sie sticht). — Mands. nuka stechen, und nuki
reizen, necken, in Zorn setzen.
Finn. nous und nos sich erheben, aufstehen, auch vom Fische gesagt,
z.B. kala nousee rannallen der Fisch erhebt sich zum Strande, was in der
That ein Auffliegen im Wafser ist. — Mongol. nis fliegen.
Syrjänisch nyw Weib, fast gleich dem chinesischen njü, nü. Magyar.
nö. Finn. nei und lapp. ni, aber Ersteres nur in nei-tsi, nei-tsy Jungfrau,
Letzteres in ni-su Weib. — Mongol. nai in nai-dsi und naidsi-nar (!). —
Türk. „> dischi, nur noch von weiblichen Thieren (für ni-schi).
Finn. nila Schleim; nilwa-kka und nilja-kas schleimig. — Mongol.
nilmu spucken, nilmu-sun Speichel; nilbu-sun Thräne.
Mongol. nidur-gha, nudur-gha Faust. — Finn. nyrkki. — Türk.
Ge Juturuk und 2 jumruk. — Lapp. tschörmö, offenbar zunächst für
jormö, jömrö, also viel näher der türk. Form jumruk, während das finn.
nyrkki wie ein verkommenes mongol. nidurgha (das wieder näher dem türk.
juturuk) sich ausnimmt.
Mongol. nirai frisch, neu. — Finn. nuori frisch, jung.
Tungus. zjur, niru, noru Pfeil. — Finnische Sprachen: nuoli, nol, nyil.
Mands. niobo und jobo scherzen, Possen treiben. — Finn. juopo li-
stig täuschen. — Türk. jod in ‚„sL , jobandur belustigen, erheitern.
(') Naidsi wird durch Gefährtin, Freundin erklärt, als käme es von nais oder nair
Einigkeit, Harmonie; naidsi-nar heilst Weib überhaupt, ist aber nichts Anderes als das-
selbe Wort mit einer mongol. Mehrheits-Endung. Ist das chines. njü-tsfe
Tochter, wörtlich weiblicher Sohn (worin dem Worte für fernina überhaupt noch das
Wort für filius beigegeben), hinsichtlich der zweiten Silbe dem finn. neitsy nur durch Zu-
fall beinahe gleich?
Eee2
404 Scnorr über das Altai'sche
Lapp. njölk (in verschiedenen Ableitungen) mäfsig schneller Ritt. —
Türk. jal in SL jalang at Reitpferd, „Sl jal-ky Pferd überhaupt. —
Mands. jalu reiten.
Mongol. nara Sonne. — Magyar. nyar Sommer. — Türk. ,ı jar,
‚sb jai und ;b ja/ dasselbe (1). — Eben so ist mong. sun Sommer mit mands.
schun Sonne verwandt.
Mongol. nigho verbergen, verheimlichen. — Finn. wihja (von wihi
leise zischen) heimlich anzeigen (der Bedeutung nach ursprünglich).
Mongol. nogho (auch nigho?) grün, Grünes. — Mands‘. nio (für
nigho) in nio-boro grün-braun (dunkelgrün), nio-chon grünlich, nio-anggian
grün. — Finn. wiho das Grünen, wiha-nta grün (?).
Magyar. nyil sich öffnen, nyil-ds Öffnung. — Türk. 35 del in ss
del-ik Loch. — Mongol. Zail öffnen. — Finn. wül aufschlitzen, spalten,
welche Bedeutung an die Spitze der übrigen gehört.
* *
*
T (d) kann im Mongolischen in der Mitte zwischen Vocalen ausfallen,
wobei dann wenigstens der erste Vocal sein Schicksal theilt, z.B. mochor =
mochotor abgestumpft; tü-tschinen = tedüi-ischinegen so viel, so stark. Bei
den Finnen stuft sich 2 in d ab oder verhallt ganz, wenn aus der offnen Silbe
eine geschlossene wird; aber auch aus der offnen Silbe mufs es zwischen
kurzen Vocalen weichen, so oft sie wenigstens die dritte vom Anfang ist.
Im Türk. und Mongol. kann schliefsendes £, wenn das Wort Casuspartikeln
erhält, d werden (?). Nach Z und n fällt das z in türk. Dialekten gern aus,
(') Nicht hierher gehört mands. ds’ua-ri Sommer, vermuthlich aus dem Zahlworte
dsue zwei und der Abkürzung ri für eri Zeit, womit die Namen aller vier Jahreszeiten
zusammengesetzt sind. Der Sommer ist ja die zweite Jahreszeit.
(') Wegen der Endung vergl. man tungus. jema-nda Schnee, mands’. nima-nggi.
(°) Beiläufig bemerkt: die Buchstaben & und _b stellen bei den Arabern zwei ver-
schiedene 7-Laute dar, keineswegs aber bei den Türken, die nur eine Art von z besitzen.
Warum hat nun der Türke nicht einem dieser Buchstaben entsagt? Offenbar darum, weil
er mit dem einen die Stärke, mit dem anderen die Schwäche des begleitenden Vocales an-
deuten wollte. Man halte mir nicht vor, dafs & öfter geschrieben wird, wo nach diesem
Grundsatze _b stehen sollte; dies ist blofse Fahrlälsigkeit, die gegen den Grundsatz nichts
beweisen kann. Auch wird man wenigstens nie umgekehrt ein _D& finden, wo w stehen
muls, d.h. bei schwachen Vocalen: 25 für zb Berg ist etwas Gewöhnliches; aber _b}
für zo} ee Fleisch, oder eX4o} für wSf} ezmek Brod etwas Unerhörtes.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 405
2. B. tschuw. künüs = kün-düf bei Tage; sulus = jelduf Stern; jakut. olor
= ol-tur sitzen(!). Finnische Mundarten assimiliren d einem vorhergehenden
l,n, r und lassen es hinter % (ch) gern verhallen, auch das bequemere 2 oder
r an seine Stelle treten, z.B. ahdet, ahlet, ahret, ahet steiles Ufer. — Als
wurzelhafter Laut wechselt Z bei den Finnen gern mit k und A (ch), z.B. teuhko
für keuhko Lunge, saitta für saikka Stange; wartii für warkki eine Art Ente,
olra für ohra Gerste. Vor einem nicht ursprünglichen i geht 2 unter gewissen
Bedingungen in s über. — Bei Mongolen und Mands’us kann d mit ds’ oder
isch (ts) wechseln, z. B. mongol. irdaichu und irdsaichu Zähne blecken,
bügdüikü und büktsüikü sich krümmen, wölben; mands. medege und medsige
Kunde, Botschaft; tungus. dude, buda und mands. butsche sterben. Der
tschuwasch. Dialekt des Türk. hat z.B. tschil-ge für dil Zunge, tschitre für
titre oder detre zittern.
Bei Uiguren und Jakuten erscheint zwischen Vocalen öfter t, d, wo
die westlichen Türken jhaben, z.B. uigur. adik Bär (mongol. ötege), ufbe-
kisch ajik, osman. ,.! ajy; chadin Schwiegervater, osman. („U kajin, adach
(jakut. atach) Fufs, osman. ‚sb! ajak; baduk grofs, osman. Syr bujuk;, bytyk
Bart, (u dyjyk. Jakut. chatyn Birke, („U kajyn; kuturuk Schwanz, > 3
kuiruk; utui schlafen und utuk-ta schlummern (?), >} uju, Ws} wjuk-la. —
Zu Anfang der Wörter ist mir aus Sprachen von gleicher Familie kein solches
Beispiel bekannt; aber das lappische Zwolpa flach, eben, entspricht dem
türk. sub jalbak, und das lapp. zuol ächt, rechtmäfsig, dem mands. jala
in Wahrheit, allerdings.
Finn. tako, tawo, tao schmieden. — Mands. t6 oder /& hämmern. —
Türk. tok in (33,5 tok-mak Schlägel; $,> dög (döj) schlagen überhaupt.
Finn. zaka Hintertheil, hinten (?). — Tungus. in Jakuzk: taka-l
rückwärts. Mands. dacha nachfolgen. — Mongol. tagho nachjagen, ver-
folgen; aber docho das Hinterhaupt.
Finn. zahto wollen, begehren. — Mongol. tagha-la Gefallen ha-
ben, lieben.
(') Im Osmanischen umgekehrt o-Zur. Die Tschuwaschen verstümmeln diese Wurzel
gar in /ar. Nur die Formen mit o/ überzeugen uns von ihrer Identität mit dem magyar.
ul sitzen.
(°) Vgl. unter den finn. Formen: mordwinisch ud, lappisch dda.
(°) Bei den Eskimos von Kadjak heilst zakka nachher.
406 Scuorr über das Zltaische
Finn. zaika Ahndung, Vorzeichen; wahrsagen. — Mongol. tagha
ahnden, muthmafsen, rathen. — Jakut. Zai muthmafsen.
Mands’. dachi wiederholen. — Mongol. dakinoch. — Türk. x
und „>> dachy dazu, auch.
Finn. tähti Stern, etwa von einer Wurzel des Festsieckens wie das
Türk. Su tik (1)?
Mongol. zeg vollenden, z.B. in zegü-s vollständig, vollkommen, tegülter
in vollem Mafse. — Magyar. tökelletes vollkommen.
Finn. zaiwas Himmel. Scheint unserem Sprachenstamm entlehnt (?).
Es giebt aber im Suomi selber ein Verbum der einbleibenden Handlung zaipua
sich biegen, neigen (Gegenwart Zaiwun), welches für die Thätigkeit nach
Aufsen eine Form Zaipa (Ggnw. Laiwan) voraussetzt, und sonach liefse sich
Himmel (taiwas steht für faiwa-ha) aus dem Finnischen selber und ganz un-
gezwungen mit Biegung, Wölbung erklären. — Ein verwandtes Wort für
biegen und gebogen werden ist finnisch Zaita, taitu; und dieses findet sich
wieder in dem mongol. daita-ghar der krumme Kniee hat.
Mongol. zar-an Schweifs der die Kleider durchdringt. — Türk. Ster
Schweifs ohne Nebenbegriff.
Mongol. darw drücken und unterdrücken, daher z.B. daru-gha Be-
vollmächtigter eines Fürsten (von dem er also das Recht zu drücken empfan-
gen hat!). — Türk. ‚Lb tar und ‚0 dar (gedrückt) knapp, enge.
Mongol. Zari pflanzen, säen, anbauen; daher Zari-ja Getreide, tarija-
lang eher Türk. &,5 zarla dasselbe. — Die östlichen Türken und die
Mandsus haben auch te Steppe, Wildnifs, was also das Gegentheil von
tarla und gewifs eine andere Wurzel ist. Als eine Schwächung jenes Zala
betrachte ich das osman. tere oder »,0 dere Thal und Ebene; magyar. ter
Ebene. Grundbedeutung des Etymons war ohne Zweifel Thal, eine Aus-
höhlung des Bodens; und so trage ich kein Bedenken, dasselbe auch in dem
ımnongol. Worte dal-ai Meer wiederzuerkennen. Es wird hier wie in dem
mongol. ghool Flufs und türk. göl See (s. oben) nur auf das Becken, den
Behälter der Wafsermafse, nicht auf das Wafser selbst, hingedeutet.
(') So bedeutet im Lappischen ein Wort für Pfahl oder Pflock zugleich den Polar-
stern. S. 341, Anm. 2.
(?) Vgl. im Sanskrit Ze daiwa göttlich, von Ze dewa glänzend, Gott, und dieses
wieder von fa div oder far diwa glänzen und Himmel.
oder Finnisch - Tatarische Sprachengeschlecht. 407
Türk. (s# teri und (5,2 deriHaut, Fell. — Mongol. ari-sun Haut und
sari-sun gegerbte Haut, Leder.
Mongol. tala (tele), und mands. tala (tele, tolo) die Postposition bis
zu, bis. — Magyar. talan (telen) ohne, {ol aus, von. Den magyar. Bedeu-
tungen liegt wohl ein ausschliefsendes bis zum Grunde.
Finn. Zalte in talte-Ita verwahren, talte-wa sorglich verwahrend. —
Mongol. und Mands. dalda verbergen, verheimlichen.
Mongol. zani erkennen und kennen; daher tani-l bekannt. — Türk.
tany kennen, tan-ysch sich berathen; tan-yk Zeugnifs. — Magyar. tan in
tan-ul lernen, tani-ta lehren, tan-u Zeuge (!). Finn. tait und tiet, für tanit,
tinet, wifsen, verstehen (?). — Im Mands‘. könnte Za-1si lernen s. v. a. zum
Wissen kommen bedeuten und für Zani-tsi stehen, wie z. B. Zu-isi heraus-
kommen höchst wahrscheinlich für Zule-isi.
Mands. den hoch, erhaben; daher dergi Obertheil, oben und Ge-
gend des Aufgangs (Osten), aus de = den + ergi. Als Verbalwurzel ist
dergi steigen. — Mongol. degre = dergi, auch blofs dege in dege-tu hoch,
erhaben, u.s.w. — Türk. nur ‚Stekir, ;S tekif'in teki/-lik Hochmuth (°).
Mongol. und Mands. zata ziehen u. s. w. (*). — Türk. Llb tarta
spannen, w& Zat kosten, versuchen, ol» dada anlocken. — Finnisch tan in
tan-ot ausstrecken und sich sehnen.
Finn. tawa erreichen, treffen. — Türk. LUD tap.
Mongol. daba hinüberschreiten, übersteigen; daher dabaghan Berg-
strafse; dabal überschwellen, daher dabal-ghan grofse Welle, Woge. —
Mands. Zafa hinansteigen; tafu in Zafukü Stufe. — Türk. nur .‚> daban
(') Das magyar. zandes (tanätsch) Rath ist wohl unmittelbar aus dem türk. tanysch.
(®) Im Finn. selber fällt n mundartlich zwischen Vocalen aus: menen und meen ich
gehe. — Obige Wurzel ist übrigens auch im Tibetischen, wo sie zan (bs-tan) und zon
(s-zon) lautet, jedoch nur unterrichten bedeutet. Sie braucht also keineswegs den Persern
entlehnt zu sein.
(?) Tibet. "deg-s aufheben, emporhalten. — Das mands’. den ist sicher aus deg-en zu-
sammengezogen und brauchen wir also degre nicht als eine Verschiebung von dergi zu
betrachten. — Für eine verwandte Wurzel halte ich /uk in dem mands’. zukie aufheben
und tragen, ferner dük in dem mongol. dükdüi sich heben, wachsen. — Ob das finnische
tuo tragen für Zuko steht?
(*) Vergl. meine Abhandl.: Älteste Nachrichten von Mongolen und Tataren, Seite 27 ff.
408 Scnorr über das Altai'sche
Bergpafs (') und ss!lo dalgha für dabalgha Welle. — Vergl. weiter unten
die Wurzel zoghol.
Türk. sus tepe, depe und » 5 tübe Hügel. — Lapp. täwa; finn. /yp in
typä-let und typpy-rä dasselbe. — Mongol. mit starken Vocalen: dobo Hü-
gel und doboi hervorragen. — Ausfallen des ersten Radicals: finn. ypä-let
und ypy-kkä=1ypälet; mongol. obogha Erhöhung und türk. Li oda Anhöhe,
Hügel.
Türk. ‚5 zamur Wurzel. — Mongol. tamir Festigkeit, Stärke. —
Türk. ‚3 timur und „> demir Eisen; mongol. temür Eisen.
Finn. zasa ebenen, glätten, nivelliren. — Mands. dasa ausbefsern,
schmücken, behandeln, regieren. — Türk. ;»> düf gleich machen, in Ord-
nung bringen.
Türk. tok und togAh in „,E»b togh-ru gerade, recht; Löss zok-ta stehen
bleiben, Halt machen. — Mongol. tok-da dasselbe und in Ableitungen
feststellen, verordnen; tok-dam (Feststellung) Anfang und Methode. Schwä-
chere Form türü Regierung. — Mands‘. doro Regel, scheint aus einer Form
wie doghru entstanden. Zu derselben Wurzel gehört wohl to in dem mands..
tondo gerade, aufrichtig, treu. — Finn. toti wahrhaft, todi-staa bezeugen;
tosu Zeuge.
Mongol. zoghon Zahl. — Mands. ton; daher zo-lo zählen. — Türk.
üsi tüle bezahlen.
Tungus. tongor und tongar ein Landsee, seiner ersten Bedeutung
nach wahrscheinlich Wafser (?). Mands. tenggin (mit n) grofser See. —
Mongol. tenggis dasselbe, vermuthlich aus zenggir als der osttürkischen
Form. Die Bedeutung Meer hat dieses Wort nur bei Türken und Magya-
ren; das zenger der Leizteren ist seinem Urbilde viel treuer als das osma-
nische 32 denif (°).
(') Das türk. tagh Berg gehört nicht hierher. Diesem entspricht mongol. zak hoher
Berg oder Pik mit Stufen. — Japan. dake Berg.
(?) Das tangakch oder zangak der Aleuten und einiger Eskimo - Stämme bedeutet noch
Walser schlechthin. — So ist aus dem sanskrit. wäri Walser das lateinische mare ent-
standen.
(°) Noch unlängst hat Jemand in allem Ernste Zenggis in teng + gis zerlegt, und gis
für das deutsche gielsen erklärt!
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 409
Mongol. toghol, doghol (tol, döl) hindurchgehen, überschreiten;
daher auch dol-gin für doghol-gin Welle. — Mands. zuli überschreiten,
vorübergehen (Zeit); dule dasselbe und als Adverbium vormals; zule (allein
und in Zusammensetzung) aufserhalb, äufserlich. — Finn. zul-wa Überflu-
thung. Magyar. tl jenseits. — Abkürzung: mands. Zu-isi herauskommen,
für Zule-tsi. — Geschwächte Wurzel: mongol. düli anschwellen, aufblähen.
Mands. dulin was (mitten) durchgeht (?), Hälfte. — Mongol. düli
Mittag und Mitternacht. — Magyar. del Mittag, Süden. Türk. züsch (für
tül) in ‚g®, &ss Mittagzeit, &Ai,s Süden.
Mongol. tol in tolo-ghai Kopf. — Türk. tor, dor in 52,» doruk
Obertheil und Gipfel einer Sache. — Schwächere Wurzeln: tungus. dül,
del, dil Kopf (!); mands. deli rund, z.B. in deli weche runder Stein (?);
aber dele Obertheil einer Sache; sodann deri in deri-bun Anfang. — Mongol.
teri in teri-gün Haupt, Erster, Anfang. — Finn. zeli walzenförmiger Körper.
Türk. „,D tolu, dolu voll. — Mit schwächeren Vocalen entsprechen:
mongol. del in del-ger sara Vollmond; magyar. 1öl in Zöl-te füllen, und tele
voll; syrjänisch Zyr voll (für zyl). — Ausgefallen oder durch einen Vocal
vertreten ist der letzte Mitlauter in dem türk. (ssb toi, doi voll d.i. satt
werden; mongol. zü-ge füllen, vollständig machen; finn. zäy-ti voll. — Den
Anlaut £ (d) vertritt Zsch (ds) in dem mongol. ischolu voll, und mands.
ds alu füllen.
Mands‘. tol-gi träumen. — Jakut. zül Traum; tschuwasch. zül-ük;
osman. 02 düsch Schlaf und Traum.
Mands. don in don-dsi hören. — Finn. Zun in tun-te fühlen (°).
Finn. zukki verstopfen. — Türk. sub iyka.
Finn. iykö herausströmen. — Türk. 8,» dök ausgiefsen (*).
(') Ein tungus. Wort für Sonne: duljadsa, dülatscha, deljäds a gehört wohl auch
hierher. In der chines. Umgangssprache sagt man E BE] rec Sonne-Kopf; und
das finnische päwä Sonne scheint von pää Kopf abzuleiten.
—a >
(?) In der chines. Umgangssprache v2 schi-feu Stein -Kopf.
(°) Vergl. franz. senztir fühlen; ital. senzire hören.
(*) Tibet. Z-dug vergielsen, eingielsen.
Philos. - histor. Kl. 1847. Fff
410 Scnhorrüber das Altai'sche
Finn. zukka Stirnhaar, Haupthaar. — Türk. $,5 zük Haar, Wolle,
Federn; (ss3 fü: dasselbe (!). — Mands'. zui-le das Haar weggerben.
Finn. iyk in tykö nahe bei. — Mongol. dü-tü (für dügü-tü) nahe. —
Türk. 85 deg berühren; dek, degin (als angehängte Partikel) bis zu (?).
Finn. zul kommen. — Mongol. Zula wegen, um ... willen.
Finn. Zuli Feuer. — Mongol. dul in dula-ghan Wärme; aber tül ver-
brennen. — Bei den jakut. Türken iöl-öng Flamme. — Ausgefallen ist 2
in dem mongol. Züi-mer Brand. — An eine tungus. Nebenform togo, toch
schliefsen sich mongol. zügü-tsek nachgebliebener kleiner Feuerbrand, und
tüge-ne Brenneisen. Das mands. Zua (für tuwa) Feuer ist wohl eine ent-
nervte Form. — Der Vocal eines verkürzten (oder ursprünglichen) iu ist
vorgetreten in dem türk. &s} uz Feuer und mongol. od-on Stern (°).
Finn. zuuli Wind. — Östtürk. 3,5 Zaul und tschuwasch. zul oder zuwyl
Sturm. — Schwächere Wurzel: jakut. zel Wind, tel-lach windig. Die übri-
gen Türken haben dafür \ jel oder sil (*).
Mongol. tülki stofsen, schieben. — Finn. Zylki. — L vor k ist u ge-
worden oder verschwunden in dem sonst stärkeren ehstnischen Zouk und os-
man. sb toku.
Finn. typpi Stammende des Baumes. — Türk. os tüp Baumstumpf,
Wurzel, Boden; ‚ss tüben Niederung. Andere Form _u> dip überhaupt
das Untertheil, der Boden, Grund. — Mands’. dude unterster Theil, dann
Äufserstes und Spitze einer Sache; duben Ende.
Türk. ., 5 tün, dün Nacht, gestern, 3%; ., »3 £.jaka Nachtseite, Nord. —
Tungus. tiniwo, tinü gestern.
(') Lapp- zöl-ke Feder, Daune; magyar. 202! Feder. Können mit obiger Wurzel eben
so gut verwandt sein wie das finnische zufi (Feuer) mit dem tungus. Zoch und Zua. S.w.u.
(°) Magyar. nur :g, z. B. veg-ig bis ans Ende.
(°) Tibet. od Licht, welches Wort auck für die Ursprünglichkeit von zz zeugen könnte.
(*) Das ostjak. ze/ ist ohne Zweifel mit \s je identisch, und läfst uns also auch über
dessen Verwandtschaft mit allen stärkeren Formen, selbst ,5 zZau/ eingerechnet, keinen
Zweifel. Welcher Anlaut ist aber nun an die Spitze zu stellen, z oder Jod? An je? schmiegt
sich tschuwasch. si Wind, Wetter, Luft, vielleicht auch magyar. sze2 Wind, welches je-
doch Kellgren (S. 9 seiner Abhandl.) unmittelbar von zuuZi herleitet. Noch verwickelter
wird die Sache durch das ZZ der Ostjaken (s. oben), mit welchem magyar. Zehel und elek
zusammenhangen. Auch dieses macht auf Erzeugung des je Anspruch.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 411
Türk. ‚»> Zur, dur stehen. — Mands. tor sich legen oder gleichsam
stellen, vom Winde (!); ferner dur in dura-chün starrend, unverrückt, von
Blicken. — Mongol. tor (zum Stehen bringen) aufhalten; tor-charu bestän-
dig, immerfort.
Mongol. düri Gesicht; dür-sün Bild, Figur. — Türk. tür und dür,
nur in #, 5 Zür-lü verschiedenartig.
Mongol. zora Mangel leiden. — Mands. zur-ga mager. — Finn. tur-ka
armselig, häfslich (?).
Mands. durge zittern (auch dargi), und in durge-me akdsa erschüt-
ternd donnern; aber tungus. lürgi für dürgi einschlagender Blitz. — Magyar.
dörög Donner.
Mands. dur-gi singen, zumal von Vögeln. — Türk. SS türki Ge-
sang überhaupt.
Türk. &sb zut ergreifen, festhalten. — Finn. Zyty gehalten, gehemmt
werden. — Mongol. iut-chur Hindernifs, Drangsal; daneben tutu (greifbar)
klar, deutlich. Aufserdem eine schwächere Wurzel züit gehindert, aufge-
halten sein (Züit-ge hindern, aufhalten) und Züte zurückbleiben, zögern. —
Mands. zuta zurückbleiben und -lassen.
Noch einige Beispiele der Vertauschung mit Zsch. Eine Wurzel des
Zitterns, am einfachsten in dem finnischen Zörä (°), verdoppelt in den türk.
Formen ietre, titire, und dem stärkeren mands. darda (*), lautet bei den
Tschuwaschen zschitre und den Mongolen tschitschire. — Dem türk. Worte
für Huhn, 6 Zakuk und ;»& tauk, bei den Mongolen Zakia, entspricht
im Mands. ischeko. Die Tungusen sagen dogi, aber mit der Bedeutung
Vogel überhaupt (°).
(‘) Nur noch in dem Mittelworte zoro-ko. Das B-B. erklärt edun toroko mit edun
iindsacha der Wind hat sich gestellt, chinesisch 5 ung ling.
tlinds ach g N BE fung
(2) Vergl. el aryk hager und häfslich.
(°) Tibet. "dar.
() In der Redensart dardan seme zitternd, wofür auch dordon dardan zitternd und
bebend gesagt wird. Auch der Mands’u hat übrigens die Wurzel einfach in dar-gi, dur-ge
(s. vorher).
(°) So ist das englische fow? (faul), welches Hühner bedeutet, nur platte Aussprache
des deutschen Wortes Vogel.
Ftif2
442 Schott Men das Altai'sche
3. Zahn- oder Sauselaute.
Diese sind /, s, $, sch (!). Oft hat einer derselben ein d oder 2 als
steten und unzertrennlichen Begleiter; aber ds (d/) und zs (deutsches z) sind
blofse verweichlichte Aussprachsweisen, jenes von ds’, dieses von isch. Für
die Bedeutung der Wurzel ist nurd oder? vor dem Sauselaute mafsgebend (?).
Wie leicht ein zarterer Sauselaut mit einem derberen und ein einfacher
oder reiner mit einem ds (ds), oder isch (ts), schon in Dialekten derselben
Sprache, wechseln — dies haben wir bereits an manchem Worte gesehen.
Eben so wird ihr häufiges Entstehen aus Kehl-und Gaumenlauten, dann aus
Zungenlauten (namentlich 7), noch in frischem Andenken sein. Öfter ist es
jedoch schwer, ja geradezu unmöglich, zu entscheiden, ob der Sauselaut
älter, oder umgekehrt. Das türk. (s» in söi-le sprechen scheint jünger als
5. söf Wort, obgleich f’z. B. in göf-le beschauen (von gö/ Auge) unverändert
bleibt; betrachten wir aber söi als ältere Form, so stimmt diese besser zu
dem magyar. szö Stimme, woher sz0-lla sprechen. Vergl. syrjänisch schu
sprechen (?). — Eben so mufs das magyar. tüz (tüf) Feuer jünger sein als
tii (für Zuli). In dem jakut. iti heifs (finn. yfi Brunst) haben wir vermuth-
lich die Urform des osmanischen issi. Ob aber z.B. im Mongolischen chas
(kes), oder chad ursprünglich sei, dies wage ich, obgleich jene Form der
Wurzel schneiden überhaupt, und diese (heutzutage) mähen bedeutet,
nicht zu entscheiden. Dafs alle übrigen Sprachen die verwandte Wurzel
mit s schliefsen, beweiset nichts für dessen höheres Alter. Im Finn. geht 7
vor auslautendem ; regelmäfsig in s über; wenn aber die finn. Wörter süpi
Flügel, seiwäs Zaunstange, im Ehstnischen zZäp, teiwas lauten, so kann das
i der Lietzteren auch späteren Ursprungs sein.
(') Auf die zwei Bezeichnungen des scharfen s im Türk., w und (jo, findet buch-
stäblich Anwendung, was oben von ©» und _b gesagt worden ist.
(?) In den meisten der bekannteren Sprachen Europas und Asiens, die solche Unter-
scheidungen besitzen, verhält sich’s bekanntlich anders, und kommt für die Bedeutung sehr
viel darauf an, ob man Zs oder zsch, ds oder ds spricht,
(*) Das mands’. se sagen mag ze für # zur primitiven Form haben. Vergl. türk. &
oder |sS di sagen.
oder Finnisch - NE Sprachengeschlecht. 413
Kommt in einem türkischen Dialekte s + ch statt sch vor — wie dies
z.B. im Jakut. mit Bos’cho leer (türk. &s Bosch) der Fall ist — so darf man
erstere Form unbedenklich für die ältere halten (').
Beispiel einer Umstellung, wodurch der Sauselaut an die Spitze ge-
kommen, ist das tschuwasch. mus schil, gegenüber dem sonstigen türk.
vs disch Zahn (?). Schil mufs nämlich für schid stehen, das wir auch in
der mongol. Form schid-un mit unverändertem d vor uns haben.
Mands‘. sabu sehen, woher sabi ansehnlich, schön. — Lappisch
tschäbba-s schön. — Ungar. szep dasselbe.
Mands. seb in seb-dsen Freude, Gefallen an etwas (?); seb-si-ngge
und seb-si-chien Mensch von verträglicher, liebevoller Sinnesart. — Türk.
9» sew und sü lieben. — Finn. suo in suo-sio Wohlwollen, Willigkeit,
Eintracht.
Mongol. saba-gha Stange, langer Stock; sibege Verpfählung. — Finn.
saikka Stange, offenbar eine Contraction; daneben seipä-hä (seiwäs) Zaun-
stange. — Uigur. ischibichi und osman. 3 >4> tschibuk Stange und Rohr (*).
Türk. Jlo sal werfen, schleudern; absenden. — Mongol. salu ab-
stammen; sal-gha ableiten, herleiten. — Mands. salga-bun (Wurf oder
Schickung) Schicksal. — Mongol. sala-gha Trieb, Ast, Zweig; mands'. sal-
dsa ein Weg der sich in mehrere andere theilt, gleichsam Zweige versendet;
türk. us&lo sal-ghyn Ranke; finn. sal-ko lange Stange.
Finn. selkä Rücken. — Mands’. sejre Rückgrat. — Türk. wo syrt
dasselbe. — Mongol. sili Nacken.
Finn. selkiä, seliä hell, klar. — Türk. \w sil klar machen, reinigen. —
Mongol. sili auswaschen, durchsieben, reinigen; auslesen, auswählen; sil-
gha auslesen, prüfen. — Mands. selgie (Aufklärung geben, erklären)
obrigkeitlich bekannt machen.
(') Vergl. as’cha und gas’cha (S. 354). Die Aussprache unseres sch im Munde des
Westphalen und Holländers zeigt uns, dafs dieser Sauselaut im Deutschen überall aus s+cA
entstanden ist.
(°) In disch Zahn muls ein n ausgefallen sein, wie in |jas desch fünf. Vergl. die
entsprechenden Ww. unseres Sprachenstammes.
(°) Tibet. "dsed angenehm.
(*) So nennt man chinesisch die Flinte, obgleich sie ein Rohr ist, Ao-tsiiang d. ı.
Feuerstange, Feuerlanze.
414 Scuorr über das Altai’sche
Bei den Finnen ist sil = sel unstreitig in dem Worte sil-mä Auge, das
hiernach ein Glänzen, etwas Helles bedeutet (!). Ferner scheinen hierher
zu gehören: mands'. sil-men Sperber (da dieser Vogel wohl von der Schärfe
seines Gesichtes genannt ist), und mongol. sili-güsün Luchs, welchem finn.
ilwes (ilwekse) entspricht (?).
Ob eine Wurzel des Schüttelns, die mit grofser Übereinstimmung
türk. uw silk, mongol. silg und finn. sylk lautet, ebenfalls hierher gehört?
Es wäre dann natürlich nicht an die Bewegung, sondern an den Zweck des
Schüttelns gedacht, sofern der leidende Gegenstand von etwas gereinigt wer-
den soll. Bedeutet doch das mongol. sili auch durchsieben, und das türk.
sil abwischen.
Mongol. sario krummlinig. — Finn. saari Insel, saar-ta umziehen,
umlagern. — Türk. ‚Lo sar umwinden.
Finn. särke zerschlagen, zerbrechen; verwunden. Magyar. ser in
ser-el verletzen. — Mongol. sircha Verletzung, Wunde. — Mands. sirke
anhaltende Krankheit.
Verwandte stärkere Wurzel: türk. „l>yo sar-chau und „„o sairu
krank. — Finn. saira-ha (sairas) dasselbe.
Mongol. dsata Regenwetter. — Finn. sata regnen.
Mongol. sed-ki denken (?); daher sed-kil Herz. — Finn. sydä-me
(sydän) Herz. — Mordwin. dasselbe, aber auch sod wissen.
Mongol.sigha einschlagen, einstofsen, z.B. einen Pflock; auch pres-
sen, quetschen. Gepresstes ist dicht, daher sighoi dichtes Gesträuch. —
Türk. (wo syk pressen, drücken; als Umstandswort syk und syk-tscha (ge-
drückt, gedrängt) häufig, oft (*). — Finn. sakia dickflüssig, dicht beisam-
men; saka verdicken, von einer Flüfsigkeit.
Finn. siki sich erzeugen, entstehen; auch sich fortpflanzen. — Mands..
seki-en Quelle, Ursprung.
(') Das sem, szem der Ostjaken und Magyaren hat / ausgestolsen. Man lasse also die
Perser mit ihrem ea scheschm in Ruhe, welches von sta Ischaksch herkommt.
(?) Vergl. überhaupt kiz, il, wil auf Seite 5340-42.
(?) Verwandt ist wohl mands’. sere wissen; türk. u se/f (für ser) denken.
(*) Vgl. z.B. ital. spesso (von spissum) und holländisch dickwyls (aus dick und PPeile). —
Die schwächere türk. Wurzel wXw sik heilst coium exercere (wohl von der ersten Be-
deutung des mongol. sigha).
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 415
Finn. säpi und süwe Flügel (1). — Tungus. zschip in tschip-kan (ge-
flügelt) Vogel. — Mongol. siba-ghon (schiwa-ghon) Vogel (?).
Mands. sira akgerissene Enden verknüpfen; jemandes Stelle einneh-
men, ihm nachfolgen. — Finn. seura folgen, begleiten.
Mongol. sirge austrocknen; daher sirg-ek hart und straff (Haare); fer-
ner sirü in sirü-günrauh, streng. — Finn. siera mit einer Kruste überziehen,
verhärten. — Türk. os ser-t rauh, strenge.
Finn. sisä, sisi Inwendiges, Inneres. — Mands. sisi ein Ding in ein
anderes stecken.
Verwandt scheinen: türk. au isch Inneres und als Verbum trinken. —
Magyar. isz trinken.
Mongol. sita in Brand gerathen. — Finn. syty.
Mongol. side zusammenheften. — Finn. sid knüpfen, binden.
Mongol. sobi Eisen strecken. — Tschuwasch. säd hämmern, aber
osman. „Lo sap stofsen. — Finn. seppä Schmied (3).
Mongol. sochor blind. — Mordwin. sokor und finn. sokia.
Türk. Sys sög schimpfen. — Lapp. ischig.
Türk. »o sok stechen, stecken. — Lapp. suwogge durchbohren. —
Mongol. tsogh-ol durchbohren; aber Zsoki schlagen.
Finn. solka mischen und durch Mischung verschlechtern. — Mongol.
soli durch einander mischen oder werfen.
Mands. sondso auswählen. — Türk. am setsch für sends’.
Mands. songko Räderspur im Boden; " songko- lo auf der Spur gehen,
zum Muster et — Türk. iyo song, son Hinterbliebenes, Äufserstes,
8
Ende; daher songra nach, nachdem.
Finn. sonka murren, schelten. — Mongolisch dsanggo-ra im Zorne
schreien und schimpfen. — Tungus. songgo, schonggo, tschonggo schrei-
end weinen.
Türk. ‚so sor fragen. — Mongol. sor fragen und erkunden, lernen;
sori versuchen, erproben. — Mands. sol einladen.
Mongol. suicha dünnes Reis. — Finn. suikia schwank, geschmeidig.
(') Verwandt ist wohl siw« Seite und berühren.
CO) Vergl. ascha und gas cha S. 354.
(°) Grönländisch sabdi.
416 Scnorr über das Altai’sche
Mongol. sula locker, ledig, frei. — Finn. sula aufgethaut, flüssig,
weich; lauter, blofs. — Türk. uw sülp-ük schlapp, hangend.
Mongol. sünü verlöschen; süni Nacht. — Mands. sun-te zerstören. —
Türk. (,»+= süjün verlöschen.
Mands. suri in suri.cha abgestorben, von Bäumen. — Finn. sur in
sur-ma Verderben. — Türk. »,»> ischürü faulen.
Tungus. schiggun, schiwun, schun Somne (1). — Mongol. dsun, sun
Sommer. — Türk. -,»> ischun (nur Verbalwurzel) sich sonnen.
Mands. schum in schum-in tief. — Türk. »»> dsüm (jakut. um) sich
in die Tiefe senken, untertauchen. — Mongol. schinggu (für schunggu)
dasselbe.
Tungus. schinggarin und schurin gelbe Farbe; mands. suajan (für
suaran, suarin) gelb; aber soro gelb werden. — Türk. (se sary, bei den
Tschuwaschen sara, und mongol. sira (schira) gelb. — Verwandt scheint
ein Wort für weiss (?), das bei den Tschuwaschen schora, bei den Mands’us
schara lautet; doch besitzen es Letztere nur in schara-ka und schara-ka-bi
gebleicht, weiss geworden (von Haar und Bart) (?). — Hierher gehört auch
wohl das mongol. Wort sara(n) Mond (*).
Türk. &&> ischek ziehen. — Lapp. sagge.
Türk. (34> ischyk herauskommen. — Mongol. tschocho (nur figür-
lich) sich auszeichnen. — Diese Wurzel scheint eine Zwillingsschwester der
vorigen: man denke an unser ausziehen.
Mongol. tschilagho Stein. — Tungus. dsollo.— Tschuwasch. tschöl.
1) Da schun, wie die Übergangsform schiwun beweist, ein verkommenes schiggun ist
sang
(vergl. S. 383), so kann man seine grolse Ähnlichkeit mit Sonne (alleman. Sunn) nur
für zufällig erklären. — Die Existenz jenes schiggun erregt aber auch gegründete Zweifel
an der Verwandtschaft von schun und dsun mit d. türk. 05 kün, gün, u.s. w.
(?) Japanisch siro weils. — Tibet. ser gelb. — Das magyar. särgan gelb kommt nicht
von dem pers. = pm surch roth.
°
(°) Das gewöhnliche Wort für weiss bei den Mands’us ist schanggian, bei den Mon-
golen Zschaghan (für ischanggan). Wenn Letztere den Schnee Zschasun nennen, so steht
dies offenbar für Zschagha-sun etwas Weisses, welche vollständige Form aber jetzt Pa-
pier (auch von seiner Weisse) bedeutet.
(*) Nach seinem schimmernden Weiss benennen die Araber den Mond in ihrem
‚A kamar und die Hebräer in dem mehr poetischen Worte m3=b.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 417
Türk. 8> tschök die Kniee biegen, niederkauern. — Lapp. tschökka
sitzen. — Mongol. saghö (soo) sitzen.
Türk. ss5, „X= 1schigürtke, $S X> Ischigirke und s>> tschertsche Heu-
schrecke. — Den ersten beiden türk. Formen nähert sich am meisten das
finn. sirkka und der dritten das mongol. Zschartscha-ghai.
Türk. ischenge, tschene, tschejne, engek und jek Kinn. — Tungus.
dsögi, dsuch, dseg, ds’ag; mands. sentsche-che. — Mongol. schina und
schana (').
Mongol. ischigin (ischin) Ohr. — Bei den Mands'us hat tschikin nur
die übertragene Bedeutung Rand, auch Ufer eines Flufses; allein die meisten
übrigen Tungusen nennen das Ohr sin, sen, schen = tschin; die Mandsus
selber schan; und allen diesen Formen mufs also Zschigin zum Grunde liegen.
Dem schan nähert sich wieder son in dem mongol. son-os hören.
4. Lippenlaute.
Unter diesen ist / denMongolen und den Suomi-Finnen ganz fremd (?);
und als Anlaut fehlt es auch Türken und Tungusen, mit Ausnahme der Man-
dsus. Wörter türkischen Ursprungs haben, obwohl nur ausnahmsweise,
in der Mitte / statt w oder 5, p: so begegnet uns „,,) ufan für „,) uwan,
&l3> ds’afrak für si2% Japrak. Im gemeinen Leben spricht man auch f
stait des arab. gh, persischen ch (vor£), und statt + A, z.B. (arab.) »& loghat
oder Zofat Sprache, (pers.) sy,» süchte oder sofa Student (buchstäbl. Ver-
brannter, nämlich von Wissensdurst), (arab.) &u% schübhe oder schüfe, schife
Zweifel (?). — Die gröfste Rolle spielt fim Osten bei den Mands’us und im
Westen bei den Ungarn.
(') Diese Wurzel begegnet uns also abwechselnd mit zsch, ds‘, ds, sch und s als Anlaut;
und der folgende Hauptmitlauter ist abwechselnd ng, 7, j, 8, ch oder n! So proteisch kann
ng sich verwandeln.
(?) So oft Leizteren in der Mitte ausländischer Wörter f begegnet, zerlegen sie es
in seine Elemente, den gelindesten Lippenlaut » und die durch % bezeichnete Aspiration
oder Schärfung. Unter vielen Beispielen führe ich kahwe d. i. Kaffee an, weil der Finne
hier, ohne es zu ahnden, die arabische, also die ächte und ursprüngliche Form des Wortes
wieder herstellt; denn die Araber schreiben und sprechen ebenfalls 5,55 kahwe; und wir
haben hier ein redendes Zeugnils, dals Aw eben so gut zu f werden kann wie umgekehrt.
(°) So schreibt der Engländer enough und spricht heutzutage enof; so hat der Hol-
länder kracht, lucht — der Deutsche Kraft, Luft; so wird das ı7 5% der Hindus in
Philos. - histor. Kl. 1847. Ggg
4418 Scnorrüber das Altai’sche
Proben des Wechselns der Lippenlaute unter einander: finn. wehi-
läinen und mehiläinen Biene, närwi und närmi weisses Oberhäutchen der
Birkenrinde, soipia und soimia lauwarm; mongol. chobor (chowor) und chomor
dürftig (1); chabar und chamar, chamur Nase; tsabi und isami, die Gegend
unter den Rippen (xevewv). — Bei den Türken kann w oder 5 in der Mitte zu
f sich schärfen (s. oben); m ist als Anlaut in den östlichen Dialekten sehr
beliebt, im Osmanli aber ohne Ausnahme mit 5 vertauscht; wogegen anlau-
tendes 5 der östlichen Türken im Osmanli öfter zu w wird.
Von Vertauschung der Kehl-oder Gaumenlaute mit Lippenlauten ha-
ben wir schon manches Beispiel gesehen (?).
Mit dem Zungenlaute n vertauscht der Mongole gern sein auslautendes
oder die Silbe schliefsendes m, z. B. erkim und erkin vorzüglich, ausgezeich-
net, umtarachu und untarachu einschlafen, erlöschen, ümdügen und ündügen
Ei. In der Suomisprache mufs m, wenn es ein Wort schliefsen sollte, im-
mer n werden. — Beispiele eines £ für p: jakut. tarbach Finger = türkisch
parmak, barmak Finger; finn. warwaha Zehe. Die Suomisprache bietet uns
lirinä neben pirinä Geriesel, Zursku neben pursku protzen, aussprützen (°).
Anwesenheit oder Abwesenheit eines nach m: mongol. chomichu und
chombichu aufbinden, namuldsachu und nambuldsachu wackeln; ferner
eines 5 vor k: mands. lekideme neben lebkideme Evolutionen machen.
\ Finn. waha Stein. — Mands. weche.
Finn. wanha alt; lapp. pönje Greis (*).— Türk. buna in ls; buna-
mysch hochbejahrt, alterschwach.
verwandten Sprachen gern f. — Ich mufs übrigens bemerken, dafs f statt g%, ch oder dA
nur von türkisch redenden Armeniern oder sonstigen Rajas, wenn sie ihrer eigenen
Schrift sich bedienen, auch geschrieben wird: jo’bwfd /ofat, woxbldw softa, zhıpk schife.
(') Die Mongolen haben ursprünglich kein w; aber ihr & wird zwischen Vocalen so
ausgesprochen.
(?2) Hier einige Nachträge zu Wurzeln die schon vorgekommen. Das finnische ja/ka
Fufs (S. 343) wird bei den Mordwinen pi/gi, eine Form die sich dem tungus. i/gi stehen
auffallend nähert. Neben chuaita, küte (binden, leiten) u.s. w. haben wir mands’. futa
Strick, Seil. Von einer Wurzel des Aushöhlens, %o7 und cAho7, ist auch das mands'. fo/o
schnitzen, sculpiren. Dem türk. kü/ Asche entspricht gewils fule im gleichbedeutenden
mands’. fule-nggi. — Als Auslaut ein k für p (oder umgekehrt): magyar. 156k (£schök) Kuls;
türk. ischöp und öp külsen.
(?) Türk, Ss püskür protzen, mit dem Maul eine rc90n nachmachen.
(*) Ob das mands‘. fe alt (nicht von Menschen) für we steht und die kürzere Wurzel ist?
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 419
Finn. wal-he Lüge. — Türk. jal in „2. jalan falsch, lügenhaft. —
Mongol. ds’ali Betrug, Arglist.
Finn. wasikka Kalb. — Türk. „21; „» dbufaghu.
Finn. waski Erz, Kupfer. Magyar. vas Eisen. — Türk. m jes, z
Jef Kupfer (1). — Mongol dses dasselbe.
Finn. wäki Stärke, Macht. — Mongol. baki-m und baki, auch bäki
fest, dauerhaft. — Türk. «S, pek hart, gediegen; stark; sehr. — Mands.
mangga stark, tüchtig, vielleicht der älteste Typus.
Mands. wej in wej-chun lebendig, lebhaft, und wej-dsu aufleben, le-
ben. — Finn. wieka lebhaft, flink. Magyar. vig munter.
Finn. weistä schnitzen, behauen; weisti und weitsi Messer. — Türk.
os bitsch zuschneiden, schneiden; bitsch-ak Messer.
Finn. wieri kreisen, sich drehen, rollen; wier-te Wafserwirbel und
Rand; wieri Rand, Kante, Seite. Lapp. wer hölzerner Reif. — Mands.
weren Wafserwirbel; runder Besatz, runde Einfassung, Kreis oder Reif;
beren Einfassung, Rahmen (?).
Mands. wedsi dichter Wald; tungus. mos’a, moosa. — Finn. metsä
Wald.
Mands. wejche Zahn. — Magyar. fog für wog, — Wegen der Vocale
vergleiche mands. mejren und türk. omur, omu/ Schulter. i
Mands. da Ort. — Mongol. bai stehen, verweilen; bai-sing Gebäude. —
Finn. paikka Ort.
Finn. paha böse, schlecht. — Mongol. bogha hassen. Verwandt ist
auch mongol. magho schlecht.
Mongol. Bacha empfangen. — Lappisch fagge erwerben; magyar.
fog nehmen. — Türk. eb bak benutzen, geniefsen.
Türk. ‚5, dak schauen. — Mands. facha Augapfel, womit wieder ver-
schiedene Ww. für schwarz verwandt sind (?). — Mongol. bacha Lust.
(') Bei den westlichen Türken pb bakyr, welches für kadyr stehen und so mit unserem
Kupfer verwandt sein kann.
(?) Aus der Bedeutung kreisen, sich umschwingen erwächst zuvörderst die eines ab-
gerundeten Randes, einer runden Einfassung (Schwinge, Kreis, Reif); dann bedeuten solche
Ww. auch Einfassung, Leiste und Rand überhaupt. — Die Wurzel wir, wer, ber ist übri-
gens in diesem Sinne verwandt mit bor, for (s.w.u.), und mit or, kür, kier, ker (S. 3558-57).
(°) Magyar. feke-te schwarz. — Mongol. und türk. beke Schwärze, Tinte.
Gg3?2
420 Scnorr über das Altai’sche
Mongol. bagha klein. — Finn. wähä. — Türk. wak, z. B. in si,
„lb wak tasch kleine Steine, Sand; ss®) a wak aktscha kleines Geld.
Mongol. Bari geben und empfangen. — Türk. ‚u bir, ber und „> wer
geben. — Finn. wero Abgabe, wie das türk. 2» wer-gü. Lapp. wiär in
wiäro-te opfern (').
Mongol. bara (auf den Grund bringen) zu Ende führen. — Finn. perä
und mands. fere Grund oder Boden, Ersteres auch Hintergegend. Magyar.
‚far geradezu podex.
Mongol. barok tauglich, gut. — Lapp. puorak; mordwinisch paro;
finn. parha, dieses aber nur in den Steigerungsformen.
Türk. + bark Familie. — Mands‘. falga dasselbe; aber auch Be-
wohner desselben Ortes, Gemeinde. — Mongol. dalgha und balgha-sun
Wohnort, Stadt. — Die Wurzel ist wohl mands. fali knüpfen und eng ver-
einigt sein.
Türk. üb basch Kopf, in Dialekten besch und pos. Dieses Wort be-
deutet daneben auch Wunde, und insofern ist die Wurzel vielleicht als eine
ganz andere zu betrachten; diese zweite Bedeutung ist aber deswegen für
uns wichtig, weil sie einen starken Grund für die Gleichheit des türkischen
mit dem finnischen Worte für Kopf hergiebt. Zu den finnischen Formen ge-
“hört nämlich fej (0) der Ungarn (?); und die Mands'us haben fast genau das-
selbe Wort (feje), aber nur in der Bedeutung Wunde! Wär’ esnun blofser
Zufall, dafs dem türk. basch, sofern es Kopf heifst, im Ungar. fej, und,
sofern es Wunde heifst, in der Mands sprache feje gegenübersteht (*)?
Türk. (su badsa-k Unterschenkel. — Mands. fatcha der thierische
und betche der menschliche Fufs (*).
(') Mands. vielleicht weri nicht nehmen, lassen (hingeben).
(2) Der Form nach kommt das lappische bagje, pagje Obertheil dem türk. dasch Kopf
am nächsten. Die Suomisprache hat püä für Kopf.
(°) Wunde ist ungarisch sed (scheb), was ich für blolse Versetzung eines unverän-
derten desch = basch halte. — Dass dem mands’. feje im finn. kawa, und, sofern es Vo-
gelnest bedeutet, im türk. ls} ya entspricht, kann meine obige Behauptung nicht wan-
kend machen.
(*) Das ds des türkischen Wortes ist gewils aus 2 + ch erst entstanden, wie sch aus
s-r ch entstehen kann.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 424
Mongol. batu fest, stark. — Finn. paatu sich verhärten; pättä fest, stark,
grofs sein.— Osttürk. batuk, baduk grofs, woher das osman. 84 büjük(!).
Türk. (s» boi Gestalt, Körper. — Tungus. doja, mongol. und mands..
beje Mensch, Körper, Selbstheit.
Mands. duja und duja-ka klein. — Finn. poi-ka Kleines, Junges,
Knabe, Sohn. — Das k scheint also noch mehr verkleinernd. Vergleiche
njuktschukan, S. 367.
Lapp. buok Allheit, Buok-ok Alle. — Mongol. bük-ün Alle. — Scheint
eine Umstellung von gup, küp: mands. gup-tschi Alle, türk. &s5 köp Viele.
Mongol. bok in bok-da göttlich. — Türk. 2» dogh, und mit schwa-
chen Vocalen: Su big, &; beg, bej Stammesfürst, Oberhaupt. — Finn.
pyhä heilig.
Mands’. ducha Stier, duka Widder, bukün wildes Schaaf; duchü
Hirsch (?). — Türk. 2, bogha und mongol. döge Stier; mongol. bük-ük
Gazelle. — Mongol. döke stark; daher wohl lapp. puoike Athlet. — Mands'.
auch mit m: mucha-schan Stier. Selbst das Männchen des Tigers nennen
die Mandsuus muchan.
Türk. &» dogh Dunst (?). Finn. puh, puhk blasen, athmen; reden.
Ungar. fuj blasen. — Mands. fuka Blase. — Mongol. bokia gedunsen, plump,
feist. — Finn. puhka heftiges Athemholen und aufgeblasen, stolz, dünkel-
haft; puuhkia aufgebläht, geschwollen, strotzend. Ungar. doho dumm. —
Schwächere Wurzel: finn. pöyhkiä und pöyhiä pauschig und hochmüthig;
pöhkö dumm (*).
Dieselbe Wurzel mit m: finn. muhkia s.v.a. puuhkia;, möykky dickes
Laib Brod; muku-la Knollen. — Mands. muk in muk-de zunehmen, sich
erheben, wachsen, muk-den (°) Erhebung, Wohlstand; muktschu-chun ge-
wölbt.
Verwandt sind wohl: mands. dus-che Brandblase; finn. poski Wange,
Backe; mongol. bökse mgwxrcs.
(') Das also mit dem persischen Sn dufurk nichts zu schaffen hat.
(?) So ist das griechische &i«bos Hirsch wohl aus y>x Stier.
(°) Tibet. d-ug-s Hauch, Athem.
(*) Vergl. oben (S. 3338-39) koho Anschwellung u. s. w.
(?) Mukden, die Hauptstadt der Mandsurei, ist dasselbe Wort.
422 Scnuortrüber das Altai'sche
Türk. Sy: bök, mongol. böküi sich bücken; mongol. böke-dür krumm,
bucklig. — Daher wieder mongol. bükkü verbergen, verhehlen; bükkü-ksen
tserik Hinterhalts-Truppen. Mands. duksi sich in Hinterhalt legen (!), buksin
Hinterhalt; duksi-cha tschoocha s. v.a. bükküksen tserik. — "Türk. sus pusu
und „us pusy s. v. a. buksin.
Mongol. bogho und bagho (boo) niedersteigen, herabkommen, heim-
kehren; daher bogho-ni niedrig, dagho-riBoden, Flur; bagho-ial Lager. —
Mands. 5oo (für bagho) Zelt, Haus. — Türk. s. dak in „zb bak-yn sich
unterwerfen, das also mit da% schauen nichts zu thun hat. Vergl. mongol.
baghu-ra demüthigen. — Finn. pohja Boden, Grund; Norden. Daher
Pohjo-la der alte Name Lapplands.
Türk. Js» dol Fülle. — Mands. fulu viel. — Finn. paljo dasselbe.
Ungar. bol-dog glückselig.
Türk. Js dül theilen (?). — Finn. puoli, magyar. fel Hälfte.
Finn. pol in pol-ta brennen. — Mands. dulu in bulu-kan warm. —
Mongol. büli in büli-d sich erhitzen und düli-gen warm. — Magyar. mel in
mel-eg warm.
Türk. und mongol. Js dul in ss: bulak Ursprung, Quelle. — Mands.
ful in fuleche Wurzel (*); aber bul in dul-chü überschwellen, vom Wasser.
Mongol. bolgho sich fürchten. — Finn. pelkä; magyar. fel-el (*).
Türk. und mongol. du! Trübe, Verdüsterung; daher türk. bs. bul-ut,
oJ bülüt, bület Wolke. — Tscheremis. pul, finn. pilwi, magyar. fel-hö
Wolke.
Verwandte Wurzel dor, bur, bür. Mongol. boro grau; bor schlammig
(trübe), dor-dak Koth (türk. mor-dar). — Mongol. auch borong in borong-
choi Händelsucher (iurbas ciens); ferner bürüi, bürüng-güi dämmerig; bürük
dunkel, undeutlich. — Ungar. boronga sich trüben, wolkig werden.
Türk. „,» durw bedecken, einhüllen, verdunkeln. — Mongol. büri
überziehen, bürkü bedecken und überzogen, wolkig sein; als Nennwort ein
Sommerhut (türk. dörek). — Ungar. bori-t zudecken.
Vergl. besonders mongol. Büküs-ki gebückte Stellung einnehmen.
Daher usi,,; dülük Abtheilung, Rotte, von den Russen in noaxs verwandelt.
Koreanisch pil! Wurzel.
So mands’. gele und g0/o fürchten. Vergl. o/go, kork und kolk, S. 338.
oder Finnisch- Tetarische Sprachengeschlecht. 423
Türk. ‚> dur (umdrehen, umdrehend einstechen) bohren. — Mands.
/oro umdrehen, drechseln; auch for-go, woher forgon Zeitlauf, Jahres-
zeit, forgo-scho mit den Plätzen wechseln. — Magyar. for-og (for-ga) sich
umdrehen, wälzen. Schwächere Wurzel: finnisch pyörä Wirbel, Rolle,
Rad; pyöri kreisen (!).
Türk. 5,» dork verrenken, ausrenken. — Finn. purka Zusammen-
gefügtes aus einander nehmen, lostrennen. — Mongol. bolgha-ra einen
Knochen brechen.
Türk. Gr drak (bürak) werfen. — Lapp. palk in palke-ste werfen.
Türk. 8. dud Oberschenkel; 10» bud-ak Ast eines Baumes. — Finn.
puda-ha Fluls-Arm, Flufs- Bucht.
Mands. dbudsw (für duju?) kochen. — Mongol. dutsch-al. — Türk.
ua pisch. — Magyar. Jo.
Finn. mata in mata-la niedrig. — Türk. wL dat untersinken, auf den
Grund gehen.
Mongol. mede erkennen, wissen. — Finn. mieti bedenken, einsehen. —
Finn. mieli der innere Sinn; lapp. miäle wissen. Türk. di} dasselbe (?). —
Verwandt ist auch wohl mongol. bel in bel-ge (Erkennung) Zeichen.
Mongol. menek Lähmung, Schwäche, menek-de gelähmt werden; den
Verstand verlieren. — Finn. meneh-ty das Bewusstsein verlieren, vergehen.
Mongol. modo (n) Baum, Holz (*). Tungus. moo und lapp. muora. —
Finn. puu.
Mands. monggon Vorderhals. — Türk. ., „+ mojun und dojun Hals.
Mongol. mata krumm biegen. — Finn. mutka Krümmung, Biegung. (*) —
Mands. mudan krumme, gewundene Sache. — Schwächere Wurzel: finnisch
myöt sich fügen, nachgeben; daher myöte geneigt; myöten gemäls, wie. —
Bei den Mongolen noch aufbewahrt in metü gleichwie.
(') Vergl. kor u. s. w. (S. 355-57), dann wieri, fere (s. kurz vorher). — Das türk.
dur wird auch von bohrendem und schneidendem Schmerze (z. B. der Kolik), ja selbst von
scharfem, picantem Geschmacke gebraucht. Ob dies uns berechtigt, das finnische pur beilsen
ebenfalls hierher zu ziehen?
(?) Zu dem mands‘. ule-ku Spiegel past am besten das koreanische po/ sehen.
(°) ‚Ob das türk. vd! otun, odon Holz mit modon verwandt, oder von oz Feuer
abzuleiten ist und in diesem Falle zunächst Brennstoff bedeutet? Dies war sicher sein
ältester Gebrauch.
(*) Mongol. moroi krumm, gebogen. — Finn. mur-ta biegen und biegend brechen;
muru Brocken, Krume.
424 Scnorr über das Altai'sche
Finn. mykky und mykkyrä zusammengebogener oder gewickelter
Zustand, Convolut: on mykkyrässä er ist zusammengerollt wie eine Schlan-
ge. — Mongol. moghai und mands. mejehe Schlange. — Türk. &s: bogh
Wurzel des Knüpfens und Würgens; mongol. bogho umwickeln, verbinden,
würgen.
Noch einige Beispiele von Versetzung, wodurch der Labial Anlaut
wird: ischuw. dek gleichwie; türk. Aub in kıbi, gibi (s. oben). Türk. „us
tab-an Fufssohle; mands. fat-an dasselbe.
Nachträge.
S. 314. Die Verneinung der Finnen mufs als eine eigene Verbalform
betrachtet werden; dies ergiebt sich unzweideutig aus ihrer gebietepden Art.
Kellgrens Grundzüge der finn. Sprache, S. 93-94.
S. 315. Die Mehrzahl im Werkzeugsfalle kann auch bei den Hindus
adverbiale Bedeutung erhalten, z.B. zaq utschtschais hoch, laut, von gg
utschtscha hoch, grofs. Doch gilt dies nur von einigen Adjectiven. Bopp’s
krit. Gramm. der Sanskritsprache, $. 615.
S. 339. Zu kopio u.s.w. Mongol. güb in gübü-gür Wölbung; küm
in kümüri sich wälzen. — Finn. kymärä krumm, sich krümmen.
S. 340, Anm. 1. Hier ist das mongolische chong übersehen, z. B. in
chongkija, chongchor Wölbung, chongcho Glocke.
S. 340 ff. Wörter für Kahlheit und Glätte können nicht alle von einer
Wurzel des Glänzens abgeleitet werden; es kann auch Eindruck auf das Ge-
fühl zum Grunde liegen. So unstreitig in dem Kernworte chal oder kal.
Auf dieses will ich nur verweisen und einige Schöfslinge der wahrscheinlich
mit ihm und unter sich verwandten Stämme jal, jel, il, sil hier zusammen-
stellen, ohne Rücksicht auf Helle und Glanz:
Türk. jal in jal-yng und jalan-ghads kahl, nackt, jalyng-yf blofs,
nur allein.
Türk. jel in jelmaghai glatt, jelischkak glatt, schlüpfrig.
Finn. ijjä schleimig, schlüpfrich, glatt. — Mongol. ii glatt machen,
poliren; ili-gür Plätteisen.
oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 425
Finn. siiä und silo glatt, eben; silkka blofs, rein, lauter; sili-tä aus-
glätten, poliren; vielleicht sila-wa Speck.— Mong. silün u. silü-sün Speichel.
Finn. silpa glatte Tannenrinde, silpu glattrindige Tanne, astloser
Baum; silpi und silpo die Rinde ablösen; silpa und silpo wenig einschneiden,
leicht ritzen; aber auch lange Stücke ausschneiden.
Mongol. silbu-ra sich ein wenig ritzen, die Haut verletzen; sich ab-
lösen oder abfallen, z. B. Fleisch von den Knochen.
Dann kommt endlich noch in fast allen Familien des Geschlechtes eine
Wurzel nil für das Schleimige und Schlüpfrige, wegen der ich auf N verweise.
Dahin gehört denn auch das ungarische nyal Speichel.
S. 345. Vergl. ausserdem: mands. uchen Weib des jüngeren Bruders
und oke oder uchume W. des jüngeren Vatersbruders. — Mongolisch üküi
Schwester, ükin Tochter, Jungfrau. — Ungar. Aug jüngere Schwester.
S. 353. Kara, kats, kai u.s. w. sind doch wohl von zksch zu trennen.
Man legtihnen besser rej kd@s leuchten als Wurzel unter. Vergl. das engl.
gaze starr ansehen, russische kaf zeigen, u. s. w.
S. 354. Kusch in der Bedeutung Paar. In dem 1822 zu Kafan ge-
druckten Leben des Tschinggis-Chan und Aksak Timur sagt Ersterer (S. 52)
zu einem seiner Feldherren: ss SG a8F sa,6 Sid ya KL KLüiw
Yopi) Ro son 2,6 d.i. dein Baum sei eine Birke, dein Vogel
ein Habicht, dein Siegel ein Paar Rippen; die Figur desselben ist diese
X: — Die Worte x£.5 5 werden auch im angehängten Wortregister mit
mapa peöep» ein Paar Rippen erklärt.
S. 360. Zu tschaki-l blitzen von ischaki Feuer schlagen. Im Finn.
sagt man Ukko iskee tulta Gott schlägt Feuer, oder geradezu iskee tulta es
schlägt Feuer, d. i. es blitzet.
S. 367. Zu njuktschukan u. s. w. Ich habe hier die mongolische
Abkürzung ischüken für ütschüken angeführt. Ähnliche Abkürzung ist un-
zweifelhaft das tungusische zschikan in murin-tschikan Pferde -Kleines d. i.
Füllen; und damit stimmt wieder fast buchstäblich das ungarische isiko
(tschikö), welches für sich allein Füllen bedeutet, wie das ungarische öttse
für sich allein jüngerer Bruder (!). Die verkleinernde Endung (3u> dsyk,
(') Ohne Kenntniss des Mongolischen und Tungusischen würde man nicht ahnen dafs
tsikö6 und öttse Beide eigentlich klein (ohne Nebenbegriff) heissen, und noch weniger,
dals Beide im Grunde ein und dasselbe Wort sind!
Philos.- histor. Kl. 1847. Hhh
426 Scnorr über das Altai’sche
> dsik im Türkischen ist gewifs nur ein Bruchstück von nitschikon oder
ütschüken (*).
Anm. 2. Die hier übersehene Hauptstelle des Abulghafi (S. 39 der
Kas. Ausg.) lautet: „Aa SS lt on) (lie u dr FE
d.i. den Jüngsten (der Familie) nennen die Mongolen U., was Herr des
Feuers bedeutet. — Also nicht Sitzer, sondern Besitzer. Es leidet hier-
nach kaum einen Zweifel, dafs ütsügen und ot-chan verwechselt sind. Wegen
1 s. S. 367.
S. 3586-87. Zu jüf-ük und sormi. Das einfachere sor (Finger) ist bei
den Mandsus noch erhalten in sor-ko Fingerhut. — Die Wurzel lauiet chor
in dem mongol. choro-ghon Finger und Zehe.
S. 391. Zu pal oder dal für chal, kal. Übersehen ist hier das finn.
paljas (paljaha) kahl, glatt (für kalja), welches dem türk. (zb balyk Fisch
noch stärkeren Anspruch auf Verwandtschaft mit kala giebt.
S. 395. Unter den Wurzeln deren A in s übergeht, oder umgekehrt,
nenne ich noch: Lapp. harme Augenbraue. — Mands. solmin (für sormin). —
Mongol. sormo-sun Wimper (auch Braue?).
Finn. karwa undicht, selten. — Mongol. chowor (Versetzung des r
mit dem Labiale) selten, dürftig. — Schwächere Wurzel mit s: mands. seri
und seri-ken dünn stehend, selten; türk. Sm sejrek.
S. 407. Neben tafa giebt es eine andere mands. Form dufe, nur im
übertragenen Sinne: ausschweifen, Excesse begehen.
S. 408. Wurzel zarb, tarp (in den finnischen Sprachen) erschüttert
werden, schwanken; aufstören, aufrühren, wühlen. — Türk. 0,5 tarb sich
brüsten, grofs thun; daher ‚sleb,& tarba-ghai Grofsthuer, Stutzer. — Mongol.
tarba-gha (von der eigentlichen Bedeutung aufrühren, wühlen) das asiatische
Murmelthier. Vergl. einen Artikel in Ermans Archiv, B. 7, S. 409 ff.
S. 418. Das räthselhafte mands. abka Himmel ist zuverlässig, wie
das tibetische nam-mka (namka), aus den beiden Sanskritwörtern PIE
und ıg entstanden.
Nachwort. Manches was ich an einzelnen Stellen irrig behauptet,
findet man schon im Verlaufe der Arbeit verbessert. Eine viel gröfsere Zahl
(') Auch bin ich jetzt sehr bereit, meinen oben ausgesprochenen starken Verdacht,
dals das türk. küzschük aus dem pers. küdsek entstanden sei, für unbegründet zu erklären.
oder 'Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 427
von Fehlgriffen werden kundige Beurtheiler entdecken; besonders aber
wird die Anordnung des Stoffes, die ich übrigens selbst nicht für die zweck-
mäfsigste halte, vielem Tadel ausgesetzt sein. Wenn der Beifall das Mifs-
fallen überwiegen sollte, so denke ich nach einigen Jahren eine gramma-
tische Vergleichung der hier behandelten Sprachen folgen zu lassen. Etwas
Vorläufiges über mehrere Zahlwörter enthält der akademische Monatsbericht
vom Januar 1849.
Hhh?2
na ee La a Br
ee ha Ba
ee ya
ri Ip FRE i Be?
EN ns EN RIOIN fa
re
he
Y a
N Eu hr lk en in Zap TaRe 2 Se
Bee EURE OR re m. an NEUER. alla
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' ri “ f ) ah NA IE ENRE N EmeT ' 2
ve en 2207 7
UBER MARCELLUS BURDIGALENSIS
v-
von herrn JACOB GRIMM.
mnannnmnannamUn
[vorgetragen in der Akademie der wissenschaften am 28 juni 1847.]
Schon oft haben Theodosius der grofse und sein zeitalter den blick auf sich
gezogen, weil man ihn gerne weilen läfst bei der beruhigenden regierung ei-
nes fürsten, in dessen händen eins der gewaltigsten weltreiche das letzte mal
ungetheilt zusammengehalten wurde. beruhigend aber nicht ruhig mag eine
zeit heifsen, die alle zeichen einer unhemmbar, wenn auch langsam anrücken-
den auflösung der bisherigen zustände an sich trug. Seit Constantin christ
geworden war und aus dem stolzen Rom den hauptsitz der römischen her-
schaft nach dem thrakischen Byzanz verlegt hatte, muste ein wechsel in der
öffentlichen stimmung greller vortreten, Julians apostasie die gemüter vol-
lends verwirren. das christenthum aber schlug seine wurzeln tiefer. noch
kein jahrhundert war abgelaufen, dafs ein ganz neuer anfangs verachteter
glaube galt, der in den herzen der menschen sich wieder ausgleichen und
hergebrachten heidnischen prunk durch die entsagungen einer zu desto grö-
fserem innerlichen anspruch auffordernden lehre ersetzen sollte. Wie man-
cher mochte an den alten tempeln, zwischen deren bildseulen nun gras sprofs,
kalt vorübergegangen sein, den der aus kerzenerleuchteter, weihrauchduften-
der kirche erschallende gesang einer andächtigen christlichen gemeinde lockte
und gewann. Alles neue, wenn es den sieg davon trägt, verbreitet sich mit
hinreifsender kraft schnell über die oberfläche, während noch still am boden
das alte haftet, um bei zahllosen anlässen wieder hervorzubrechen. Daraus
entspringt eine lang nachhaltende mischung des glaubens mit dem wahn, des
gottesdienstes mit verworfnen, aber unausgerotteten bräuchen, über wel-
che uns Arnobius und Augustinus den reichhaltigsten aufschlufs geben, wo-
für des Chrysostomus werke, derunmittelbar vor Theodosiustagen patriarch
430 Jacos GrIımM
zu Constantinopel war, von merkwürdigen belegen voll sind. Leute die
streng am christlichen dogma hielten und jeden zu verketzern oder zu ver-
dammen bereit waren, dem ein zweifel an der dreieinigkeit aufstiefs oder der
seine fasten gebrochen hatte, nahmen keinen anstand, sobald sie ein leiblicher
schmerz quälte oder ein glied des fingers ihnen weh that, beschwörungen
herzusagen, worin die alten götter um hilfe angerufen wurden. neben dem
öffentlichen glauben waltete noch ein häuslicher aberglaube, der mit den
überlieferten mitteln fieber zu segnen und wunden zu heilen fortfuhr.
Dies leitet mich unmittelbar auf den gegenstand meiner heutigen vor-
lesung, die zusammenhängend mit einer früheren (Jahrgangs 1842), worin ich
Adensche offenbar heidnische zaubersprüche bekannt machte, lateinische
heilformeln aus dem werk eines unter Theodosius dem grofsen zu Constanti-
nopel lebenden arztes entnehmen, erläutern und auch zum behuf künftiger
erläuterungen hier bequem neben einander stellen will.
Marcellus heifst entweder burdigalensis oder empiricus, weil er aus
Bourdeaux (Burdigala) in dem damals noch den Römern unterwürfigen theile
Galliensgebürtig war und den empirischen ärzten beigezählt zu werden pflegt.
Was man von ihm weifs ist theils zu schöpfen aus dem inhalt und der vorrede
seines buchs de medicamentis, theils aus der anführung eines späteren arztes
Aetius, der zu Justinians zeiten eine medieina e veteribus contracta grie-
chisch schrieb.
Man hat gezweifelt, und bald den Marcellus in die zeit des zweiten
Theodosius (408-450) verlegen, bald zwei Marcelle unterscheiden, den älte-
ren bei Aetius angezognen für den leibarzt Theodosius des grofsen, einen
jüngern für den verfasser der zu besprechenden schrift erklären wollen.
Sie liegt vor mir in der ersten jetzt seltnen ausgabe, welche Janus
Cornarius(!) besorgte unter dem titel: Marcelli viri illustris de medicamentis
empirieis, physieis ac rationabilibus liber, ante mille ac ducentos plus minus
annos scriptus, Jam primum in lJucem emergens et suae integritati plerisque
locis restitutus. Basel bei Froben 1536 in folio 252 seiten, ohne den nicht
paginierten index. wiederholt in den medieis antiquis, Venetiis apud Aldum
1547 % 81-141 und inH. a art. med. prineip. Paris 1567 2, 239 ff.
c ) mit en namen Johannes or e 1. ee ee er war ge-
boren 1500, starb 1558 und arbeitete thätig für die TESELLSEIER NETT der classiker. die
zueignung unsers werks ist bereits von 1535.
über Marcellus Burdigalensis. 431
Das werk selbst beginnt mit einer an seine söhne gerichteten zuschrift:
Marcellus vir inluster, ex magno officio Theodosii sen. filiis suis salutem
dieit. Sequutus opera studiosorum virorum, qui licet alieni fuerint ab
institutione medieinae, tamen hujusmodi causis curas nobiles intulerunt, li-
bellum hune de empirieis quanta potui solertia diligentiaque conscripsi, re-
mediorum physicorum sive rationabilium confectionibus et adnotationibus
fartum unde unde collectis. nam si quid unquam congruum sanitati cura-
tionique hominum vel ab aliis comperi, vel ipse usu approbavi, vel legendo
cognovi, id sparsum inconditumque collegi, etin unum corpus quasi disjecta
etlacera Aesculapius Virbii membra composui. nec solum veteres medicinae
artis auctores latino duntaxat sermone perscriptos, cui rei operam uterque
Plinius et Apulejus et Celsus et Apollinaris ac Designatianus (') aliique non- _
nulli etiam proximo tempore illustres honoribus viri eives ac majores nostri,
Siburius, Eutropius atque Ausonius (?) commodarunt, lectione scrutatus
sum, sed etiam ab agrestibusetplebeis remedia fortuita atque sim-
plicia, quaeexperimentisprobaverant, didieci. quorum vobis copiam
labore nostro vigiliaque faciendam, filii duleissimi, pro necessitate infirmitatis
humanae piissimum duxi, orans primum divinam misericordiam ne vobis ves-
trisque experiendi hujus libelli necessitas ulla na scatur. Es ist kein grund
da, diese vorrede für später erdichtet und dem buche vorgeschoben zu hal-
ten; des Marcellus und seiner söhne gedenkt auch Libanius in einem briefe (°),
der also noch in Theodosius des grofsen lebenszeit fällt. doch mufs Mar-
cellus, schon als Libanius schrieb ein betagter mann, den kaiser überlebt
(') Seribonius Largus Designatianus, ein arzt aus dem ersten jh. unter Claudius. seine
compositiones medicae hat Joa. Rhodius, Patavii 1655 in 4 drucken lassen. cap. 26 p. 176
nennt Marcellus den Ambrosius Puteolanus medicus; cap. 29 p. 203, 205 den Julius Bassus,
zwei noch ältere, schon bei Scribonius cap. 152 und 121 angeführte ärzte.
(2) Julius Ausonius, leibarzt Valentinians und vater des bekannten dichters Ausonius,
der 394, jener schon 377 starb. den Siburius und Eutropius kann ich nicht nachweisen,
Flav. Eutropius, der um 378 schrieb, war historiker, kein arzt, und schwerlich hatte Eutro-
pius der bekannte eunuch, welcher 399 consul war, sich jemals der medicin beflissen.
(°) Libanii epistolae ed. Joa. Christoph. Wolf. Amst. 1738 fol. p.179. 180 epist. 365:
or mou MagzeAAov ATO THS TEXuNS, za Erı Ye maoregov amo rw Toomum. 0U ap MEAAoV
ana; iarass, 7 Xanzres dung sarthh MogasXNos, oe more Buruezg: razne yes dıcr on
TOUTO TOaVU YEedgwv wu Tavv VEOoUGS VIOoUG rasıber, ovG @orL YaraAroS AmaAAayYEVTES &ıs OFEETIWFARG
5 Rusırsus aveygale, #. 7. A. auch epist. 362. 381. 387. 395 gedenken seines ärztlichen
beistandes. Libanius starb ungefähr um 385.
432 Jacos Grimm
und darum konnte er selbst oder ein abschreiber in jener stelle dem namen
Theodosius das beiwort ‘senior’ zugefügt haben.
Theodosius war am 17 jan. 395 nicht zu Constantinopel, sondern zu
Mailand gestorben, und des Marcellus verdienste um seinen fürsten müssen
schon vor dessen letzter krankheit erworben gewesen sein. noch aus dem-
selben jahr 395 weisen uns zwei im theodosianischen codex enthaltne erlasse
an “Marcellus magister officiorum VI. 29, 8 und XVI. 5, 29, dafs ihm auch
mit einer staatswürde gelohnt war, eine auszeichnung, die gleich dem titel
“vir illustris’ seit Constantin dem grofsem öfter gelehrten und hervorragenden
männern zu theil wurde, wie könnte aber dieser magister officiorum ein andrer
Marcellus, als unser leibarzt sein, der sich selbst ausdrücklich “ex magno
officio Theodosii’ nennt?
Es ist wahr, dafs das buch einigemal ein aussehn gewinnt, als sei es
von einem schüler des arztes niedergeschrieben wenigstens durch zusätze
überarbeitet. cap. 20 p. 145 heifst es: “oxyporium, quo Nero utebatur ad
digestionem, quod Marcellus medicus egregius ostendit, quod et nos usu
probavimus’, und cap. 30 p. 216: “confectio salis cathartiei, quam Marcellus
ostendit sic’. der verfasser wird sich nicht selbst medicum egregium nennen,
es war spätere einschaltung, die ihm den ruhm sichern sollte, das mittel zu-
erst gelehrt oder angegeben zu haben, wenigstens von neuem gebraucht,
nachdem es abgekommen war. denn schwerlich hatte Nerons 6Eumogıov einen
älteren Marcellus zum urheber. An vielen andern stellen redet auch der ver-
fasser von sich in erster person.
In solchem sinn der urheberschaft wird ‘ostendere’ gebraucht, wie auch
folgende, unsers Marcellus lebenszeit bestätigende stelle zeigt. cap.23 p. 168:
ad splenem remedium singulare, quod de experimentis probatis Gamalielus
patriarchas proxime ostendit. dieser Gamaliel war jüdischer patriarch zu
Constantinopel unter Theodosius dem grofsen und nachher. Hieronymus
epist. 57 ad Pammachium (opp. ed. Vallars 1, 334. 305) schreibt im jahr 395:
dudum Hesychium virum consularem, contra quem patriarcha Gamaliel
gravissimas exercuit inimieitias, Theodosius princeps capite damnavit, quod
sollicitato notario chartas illius invasisset. die begebenheit selbst ist wol ei-
nige Jahre früher ((dudum’) zu setzen, Gamaliels ansehn mufs sich aber länger
aufrecht erhalten haben, denn der cod. theodos. XVI. 8, 22 liefert ein an Au-
relianus den praeses provinciae erlassenes gesetz des kaisers Honorius vom
über Marcellus Burdigalensis. 433
j. 415, dessen eingang lautet: Quoniam Gamalielus existimavit se posse
impune delinquere, quod magis est erectus fastigio dignitatum, inlustris
auctoritas tua sciat nostram serenitatem ad virum inlustrem magistrum ofhi-
ciorum direxisse praecepta, ut ab eo codicilli demantur honorariae prae-
fecturae, ita ut in eo sit honore, in quo ante praefecturam fuerat constitutus,
ac deinceps nullas condi faciat synagogas.. Wie dem juden die ehrenprae-
fectur, konnte dem leibarzt das magisterium zugetheilt worden sein, die
jüdische bekanntschaft mit arzneien leicht dem Marcellus ein besonderes heil-
mittel nachgewiesen haben. lauter umstände, die auf einen Marcellus unter
dem ersten, nicht dem zweiten Theodosius deuten.
Es steht dahin, was aus einer anführung in cap. 26 p. 175 zu ziehen
sei; beim erwähnen einer aqua pota in qua ferrum candens dimissum est,
wird gesagt: hoc tractum est ab aquis calidis, quae sunt in Tuscia ferratae,
quae mirifice remediant vesicae vitia, unde appellantur vesicariae, qui locus
quondam fuit Milonis Brochi praetoris, hominis optimi, ad quinquagesimum
ab urbe lapidem. Ich gewahre eben, dafs dies aus Sceribonius entnommen
ist, der cap. 146 hat: aquae vesicariae, quondam Milonis Gracechi praetorii
hominis optimi ad quinquagesimum lapidem reddentis. welche lesart richti-
ger sei entscheide ich abernicht, da beides altrömische geschlechtsnamen sind,
Brocchus und Gracchus. eines Gracchus praetor gedenkt Taeitus ann. 6, 16
im }. 33 nach Chr.
Unter den römischen hofärzten mögen sich einzelne recepte lange zeit
fortgepflanzt haben, aufser jenem neronischen oxyporium geschieht cap. 13
p- 96 einiger zahnpulver meldung, deren sich frauen des kaiserhauses be-
dienten: hoc dentifricio Octavia Augusti soror usa est... . Augustam constat
hoc usam Messalinam, deinde aliorum caesarum matrimonia hoc dentifricio
usa sunt. cap. 35 p. 238 nennt Marcellus ein @xorov ad perfrictionem et
lassitudinem, quo fere semper Livia Augusta et Antonia usae sunt. cap. 15
p- 105: hoc Livia Augusta semper compositum habuit et reconditum in vas-
'culo vitreo.
Anziehender ist es des Marcellus gallische abkunft näher zu beleuch-
ten und aus seinem werke für die sprachgeschichte keltische wörter zu
gewinnen.
Auch zwei gallische Ausone gehören dem vierten jh. und Aquitanien an;
man vermutetleicht, dafs eben sie den Marcellus angeregt und in die gunst des
Philos.- histor. Kl. 1847. Tii
434 Jacos Grimm
hofes gebracht haben. Julius Ausonius gebürtig aus Cossio Vasatum, dem
heutigen Bazas an der Gironde, lebte im nahen Bourdeaux, wurde aber her-
nach Valentinian des ersten leibarzt und versah ämter in Illyrien und Rom,
er lebte von 287 bis 377; sein sohn Magnus Ausonius war der berühmte
dichter, geboren schon vor 309, als erzieher Gratians und Valentinian des
zweiten gelangte auch er zu hohen würden, ward quaestor und im j. 379
consul, er starb in seine heimat zurückgezogen um 394. ist es nicht
wahrscheinlich, dafs Marcellus der verbindung mit seinen landsleuten den
eintritt in den kaiser lichen dienst zu danken hatte und dafs er des älteren
Ausonius schüler war? (1!) auch Theodosius, seit 379 neben Gratian her-
schend, erwies dem dichter Ausonius vielfache gunst. des “Ausonius medi-
cus’ gedenkt Marcellus cap. 25 p. 172. Auf seine aquitanische herkunft weist
übrigens eine angabe cap. 19 p. 129: Soranus medicus quondam ducentis
hominibus hoc morbo (mentagra) laborantibus curandis in Aquitania se
locavit. man kennt einen Soranus ephesius aus Trajans und Hadrians zeit
und einen spätern, ich weifs nicht welchen von beiden Marcellus meint. (?)
Dafs dieser, bevor er nach Byzanz gelangte, auch in Rom gelebt hatte, ist
aus seiner erzählung von einer Africanerin (cap. 19 p. 204) zu schliefsen,
die er in Rom kennen lernte (°).
Wie Dioscorides oft fremde kräuternamen anführt, verzeichnet Mar-
cellus hin und wieder gallische und sie bezeugen uns von neuem den aus
Aquitanien stammenden gallischer sprache kundigen verfasser des buchs. dort
wohnten Bituriges Vibisci, bei Strabo s. 190 Oisxzo:, bei Plinius Ubisei ge-
(') nach einer äulserung cap. 16 p. 114 sollte man dem Marcellus einen lehrer Va-
lens zuschreiben, es heilst: hoc medicamentum Apuleji Celsi fuit et praeceptoris nostri
Valentis; nec unquam ulli vivus compositionem ejus dedit, quia magnitudinem opinionis
ex ea traxerat. dies alles aber ist einfältig aus Scribonius cap. 94 erborgt, welcher sagt:
hoc medicamentum Apulei Celsi fuit, praeceptoris Valentis et nostri, es nunquam ulli se
vivo compositionem ejus dedit, quod magnam opinionem ex ea traxerat. Valens Vettius oder
Vectius war arzt zu Rom unter Claudius und das mittel hatte Celsus gefunden, dessen
schüler Valens und Scribonius es nachher anwandten. Die stelle lehrt mit welcher vor-
sicht man solche angaben des Marcellus aufzunehmen hat.
(?) von beiden ganz unterschieden ist Serenus samonicus, dessen hexametrisch gedich-
tete praecepta de medicina von mir im verfolg gebraucht werden.
(°) hoc medicamento primum muliercula quaedam ex Africa veniens multos Romae
remediavit. postea nos per magnam curam compositione ejus accepta, id est pretio dato ei,
quod desideraverat, qui venditabat, aliquot non humiles neque ignotos sanavimus.
über Marcellus Burdigalensis. 435
nannt (!), fern von den Kelten, die wir heute an der armorischen küste,
in Britannien und Hibernien kennen, es ist wichtig zu ermitteln, welchem
dialect die aufbewahrten alten benennungen gleichen.
cap. 3 p. 40 trifolium herbam, quae gallice dieitur uisumarus; es
ist deutlich das ir. seamar, seamrog, gal. seamrag, woher das engl. shamrock
und altn. smäri, jütische smäre. abweichend ist das welsche meillionen,
armorische melchon, welche zum gr. uerAurov (it. span. meliloto) gehören
und sämtlich ihre abkunft von u&rtı, welsch mel zur schau tragen: der ho-
nig duftende, von bienen gesuchte klee. uisumarus gewährt uns die wollau-
tende volle, in seamar schon entstellte form des namens; kühn wäre, sie mit
unserm ahd. suınar, ir. samh, sambhra, gal. samradh zu verknüpfen und som-
mergras, sommerblume zu verstehn. auch bei sumar schien ein anlautender
vocal weggefallen (GDS. 316) gerade wie seamar aus uisumar entspringt.
cap.7 p.48: herba quae graece chamaeacte, latine ebulus, gallice
odocos dieitur. hiermit verbinde man Dioscorides 4, 172 Yauaıcırn, "Punaicı
Eßeurcun, TarAcı deuzwve, welchem letzten wort nur ein vocal vorgesetzt zu
werden braucht, um es mit odocos gleichbedeutend erscheinen zu lassen;
des Dioscorides gewährsmann hörte es schon ohne diesen vocal aussprechen.
bei dok denkt man ans ags. docce, engl. dock lapathum, rumex, die von
den Kelten entlehnt scheinen; aber aus den heutigen keltischen sprachen kann
ich den namen nicht aufweisen. Dagegen ist das ahd. atah, nhd, attich ebu-
lum sichtbar jenes odocos, doch nur einmal lautverschoben. mit unrecht
stellt Graff 1,153 hinzu das ags. atih zizania, denn dies ist ätih, von äte
abzuleiten.
cap. 10 p. 86: herba proserpinalis, quae graece dracontium, gallice
gigarus appellatur. das kraut ist polygonum, centumnodia, die wörter-
bücher liefern aber keinen entsprechenden galischen oder welschen namen.
cap. 10 p.87: radicem symphyti, quod halum gallice dieunt. auch
Plinius 26, 7,26 halus, quam Galli sie vocant, Veneti cotoneam, und 27,6
alum nos vocamus, Graeci symphyton petraeum, simile cunilae bubulae,
die Römer hatten also halus oder alus in die lateinische sprache aufgenom-
men, wie bei uns das symphytum, consolida major, bein heil, den Nieder-
ländern haelwortel heifst, weil ihm knochen und wundenheilende kraft bei-
(‘) Vivisca ducens ab origine gentem. Ausonii Mosella 438.
Iii2
436 Jaıcos GrImMm
gemessen wird. stupurov von suupVw drückt dasselbe aus. die irische und
galische sprache haben kein anlautendes H, in der welschen steht es häufig
für das S jener; irisch bedeutet ala wunde, oil alere, nutrire.
cap. 11 p. 88: serpillum herbam, quam Galli gilarum dieunt. thymus
serpillum, gr. EomuAAov, quendel. doch die heutigen keltischen sprachen
lassen bei gilarus wie bei gigarus ohne auskunft.
cap. 16 p.121: ad tussem remedium efficax herba, quae gallice callio-
marcus, latine equi ungula vocatur. im zweiten theil ist das ir. gal. mare,
welschemarch equus nicht zu verkennen, welchem ags. mear, ahd. marah ent-
spricht. bekanntlich gibt Pausanius X. 19, 6 bei erwähnung der galatischen
rgıuagxıria schon das keltische wort an. callio aber mufs den begrif ungula
enthalten, welchem lat. wort das ir. gal. ionga nahe kommt. wie wenn call
für ioncall stände, vgl. ahd. anchal talus, und ahd. chlöa, ags. clavu, engl.
clow, altn. klö, lat. clavus gleichfalls aphaeresis erlitten hätten? denn unguis
und ungula liegen sich verwandt.
cap. 20 p. 144: fastidium stomachi relevat papaver silvestre, quod
gallice calocatanos dieitur. man darf mutmafsen catocalanus, wozu das
irische codlainean papaver, gal. codalan nahe stimmen, die wurzel ist codal,
cadal somnus, wovon cadalan somnus brevis, weil der mohn schlafbringend,
papaver somniferum, altn. svefngras, spanisch dormidera heilst. man sagt
auch papaver caducum, nhd. fallblume, er macht in schlaf fallen, und ir.
bedeutet cadaim, welsch codwm fall, vgl. lat. cadere. ohne zweifel ist das
franz. coquelicot, nnl. kollebloem auf das keltische wort zurückzuführen.
cap. 23 p. 162: herba quam nos utrum, Graeei isatida vocant, qua
infectores utuntur. nos zeigt jedoch kein keltisches wort an, vielmehr ein
lateinisches des lateinschreibenden, und für utrum setze man vitrum, wel-
ches der pflanze isatis entspricht. Caesar B. G. 5, 14: omnes vero se Bri-
tanni vitro inficiunt, quod caeruleum efheit colorem, vitrum aber, in diesem
sinn, scheint das ags. väd, engl. woad, ahd. weit, woher weitin caeruleus.
gleichviel mit väd und weit ist nun das mlat. guadum, guasdum, it. guado,
franz. guede, guesde, auch vouede. da auch mlat. glastum gilt und in
welscher sprache die isatis glas, glasddu, glaslys heifst, glas wiederum caeru-
leus, so gelangen wir bei diesem namen wunderbar zu dem deutschen glas,
glesum, wie zum lat. vitrum. galisch finde ich für die pflanze gorman guir-
mein und gorm ist blau, weitin.
über Marcellus Burdigalensis. 437
cap. 25 p. 174: herbae pteridis id est filiculae, quae ratis gallice
dieitur, quaeque in fago saepe naseitur. hier ist alles klar. ir. rath, raith,
raithneach, gal. raineach, welsch rhedyn, armor. raden. auch das baskische
iratzen entspricht, wonach der august, in welchem die heide blüht, irailla,
wie im poln. der september wrzesien genannt wird.
cap. 26 p. 179: artemisia herba est, quam gallice bricumum appel-
lant. ich bedenke mich kaum zu bessern britumum, britunum, denn brytwn
ist noch heute der welsche name der artemisia.
cap. 33 p. 231: herba est quae graece nymphaea, latine clava Her-
culis, gallice baditis appellatur. ir. und gal. bath bedeutet see, wasser,
duilleag-bhaite wörtlich seeblatt, nymphaea. das unzusammengesetzte alte
baditis mag geradezu eine nymphe, wasserfrau ausgedrückt haben, deren
name mythisch auf die wasserpflanze erstreckt wurde.
Dies, soviel ich sehe, sind alle bei Marcellus verzeichnete keltische
pflanzennamen. er führt aber auch noch cap. 29 den bekannten namen ei-
nes vogels an, pag. 202: avis galerita, quae gallice alauda dieitur, und 207
nochmals: corydalus avis, id est quae alauda vocatur. das wort war den
Römern längst eingebürgert, auch Plinius II. 37, 44 berichtet: parvae avi,
quae galerita appellata quondam postea gallico vocabulo etiam legioni no-
men dederat alaudae. die krieger hatten ihre helme, gleich dem vogel,
der darum selbst cassita und galerita (!) heifst, mit kämmen geschmückt,
Sueton im Jul. Caesar cap. 24: unam etiam (legionem) ex Transalpinis con-
scriptam vocabulo quoque gallico: alauda enim appellabatur. derlegio alau-
darum gedenkt Cicero ad Attic. 16, 8 und Philipp. 13,3. Noch Gregor von
Tours 4. 31: avis corydalus, quam alaudam vocamus, und bis auf heute dau-
ert das franz. alouette fort, altfranz. auch unverkleinert aloe; it. mit aphaeresis
lodola, vollallodola, prov. alauza, sp. alondra. von den heutigen kelti-
schen sprachen hat nur die armorische alehoueder, allweder, echoueder, cCho-
ueder bewahrt, die welsche uchedydd und üblicher hedydd, was aufdie wur-
zel hedegu fliegen, uchedu sich erheben führt, hedydd, uchedydd ist der sich
in die luft schwingende vogel. abweichend sind die ir. uiseog, fuiseog, gal.
uiseag, ir. gal. riabhag. Auch unser deutsches lerche, ahd. l&racha, leri-
cha, ags. läferce, altn. 16 pl. ler mahnt an alauda, doch ist das finn. leiwo
(') haubenlerche, schopflerche, bei Theocr. 7, 23 ZrırunQröros zogvöardıs, man ver-
gleiche die scholie und Babr. 72, 20.
438 Jıcos Grimm
und leiwoinen zu erwägen. das -icha scheint blofs verkleinernd und R: D
könnte sich verhalten wie in sirablas srebro und sidabras silapar.
Durch angabe dieser keltischen wörter hat Marcellus, wie früher schon
Dioscorides, dem sprachstudium einen wahren dienst erwiesen, und sie lassen
gewahren, wie tief die gallische zunge in Europa verbreitet war. gilarus und
gigarus werden sich vielleicht künftig einmal aufklären. unverkennbar ist
aber, dafs die im vierten jh. in Aquitanien herschende sprache, wie uisuma-
rus, catocalanus, baditis, ratis zeigen, sich mehr der irischen und galischen
mundart, als der armorischen anschliefst; nur alauda und britumum haben
armorischen und welschen klang.
Ich wende mich nun zum eigentlichen gegenstande meiner abhand-
lung. Jene von Marcellus aus dem munde des volks, wie er sich ausdrückt,
ab agrestibus et plebejis erkundigten heilmittel lassen, gleich allem volks-
mäfsigen, hohes alterthum und weite verbreitung ahnen; sie müssen mit
gebräuchen und lebendigen eindrücken der vorzeit zusammenhängen und
können, so abgeschmackt und unnütz sie unsern heutigen ärzten erscheinen,
die poesie und sitte der europäischen völker manigfach aufhellen. Nachdem
ich alles ausgezogen haben werde, was unter den angekündigten gesichtspunect
fällt, sollen einzelne bemerkungen und aufschlüsse folgen.
1) cap. 1 pag. 35. herba in capite statuae eujuslibet nasci solet.
ea, decrescente luna, sublata capitique circumligata dolorem tollit.
2) cap. 1 pag. 35. cum intrabis urbem quamlibet, ante portam ca-
pillos, quiin via Jjacebunt, quot volueris collige, dicens tecum ipse ad
capitis dolorem te remedium tollere, et ex his unum capiti alligato, ceteros
posttergum jacta, nec retro respice.
3)ibidem. faecula, quainfectoresutuntur, sispon dampriorem, quavir
cubat, perunxeris, et spondae medio inligaveris, dolores capitis remediabis.
4) cap. 1 p. 36. hirundinum pulli lapillos in ventriculis ha-
bere consuerunt, ex quibus qui albi maxime fuerint, si in manu etiam sin-
guli teneantur, aut circa caput lino nectantur, veterrimos et diutinos capitis
mulcent dolores, nisi contactu terrae lapillorum potentia minuatur.
5) cap. 2p. 38. hemicranium statim curant vermes terreni pari nu-
mero sinistra manu lecti, cum terra de limine eadem manu triti.
6) cap. 2 p. 39. herba vel hedera in capite statuae cujuslibet
nasci solet, ea siin panno rufo, acia rufa vel lino rufo ligata capiti vel tem-
poribus alligetur, mirum remedium hemicraniae vel heterocraniae praestabit.
über Marcellus Burdigalensis. 439
7) cap. 8p. 56. cum primum hirundinem audieris velvideris,
tacitus illico ad fontem decurres vel ad puteum, etinde aqua oculos fovebis,
etrogabis deum, ut eo anno non lippias, doloremque omnem oculorum
tuorum hirundines auferant.
8) cap. 8 p. 57. si mulieris saliva, quae pueros, non puellas
ediderit, et abstinuerit se pridie viro et cibis acrioribus, et inprimis si pura
et nitida erit, angulos oculorum tetigeris, omnem acritudinem lippitudinis
lenies, humoremque siccabis.
9) ibidem. lacertam viridem excoecatam acu cupreain vas vi-
treum mittes cum annulis aureis, argenteis, ferreis aut electrinis, si fuerint,
aut etiam cupreis, deinde vas gypsabis aut claudes diligenter atque signabis,
et post quintum vel septimum diem aperies, lacertamque sanis luminibus
invenies, quam vivam dimittes, anulis vero ad lippitudinem ita uteris, ut non
solum digito gestentur, sed etiam oculis crebrius adplicentur, ita ut per fora-
men anuli visus transmittatur.
10) cap. 8 p. 58. de manu sinistra muscam capies, et dum capias
dicere debebis nomen ejus, cui remedium facturus es, te ad curandos oculos
ejus muscam prendere. tum vivam eam ligabis in linteo et suspendes collo
dolentis, nec retro respicias.
11) ibidem. ut omnino non lippias, cum stellam cadere vel trans-
currere videris, numera, et celeriter numera, donec se condat. tot enim
annis, quot numeraveris, non lippies.
12) ibidem. qui erebro lippitudinis vitio laborabit, millefolium her-
bam radicitus vellat, et ex ea circulum faciat, ut per illum aspicjat, et
dicat ter "excicumacriosos, et totiens ad os sibi eirculum illum admoveat,
et per medium exspuat, et herbam rursus plantet. quae si revixerit,
nunquam is qui remedium fecerit vexabitur oculorum dolore, ad utrumque
oculum hoc facito; quae si minus revixerit, ex alia iterum faciat, oportet
autem dari operam ut non nimis herba constringatur, quo facilius plantata
consurgat.
13) cap. 8 p. 63. acriore collyrio ad cicatrices extenuandas et ad
palpebras asperas utimur, quod quia ex quatuorrebus, ut quadriga
equis constat, et celeres effectus habet, harma dicitur.
14) cap. 8 p. 66. ad oculos scabros et palpebras perforatas humore
vetusto vel peduneulis exesas remedium praesens barbaricum quidem, sed
440 Jacos Grimm
multis probatum. scarabaeum pilosum, qui similis est scarabaeo vero,
in sepibus vetustis, lapidosis, aut in fossatis sepium requires, qui cutiones
sunt colore pseudoflavo quasi leonino, pilosi, lucentes. Ante ergo quam
illum cutionem tollas, folium caulis primo mane cum suo sibi rore vel gutta
conclusa in eodem folio teneatur, ut ubi cutionem illum inveneris, digitisque
pollice et medicinali adprehenderis, confestim supra folium illud caulis
teneas, ut supra guttam illam lotium ejus exeipias, quia ubi manu adpre-
hensus fuerit, statim se submejit. providendum ergo ut velocius supra fo-
lium illud caulis ponatur, ne lotium ejus, quod eito effundit, alibi exeidat,
quod commixtum cum illo rore caulis per spieillum palpebris impones et
loca scabra vel exesa inter pilos perunges: effectum rei cito miraberis.
15) cap. 8 p. 67. mel atticum et stercus infantis, quod primum
dimittit, statim ex lacte mulieris, quae puerum allactat, permiscebis et
sic inunges: sed prius eum, qui curandus est, ereetum ad scalam alliga-
bis, quia tanta vis medicaminis est, ut eam nisi alligatus patienter ferre
non possit, cujus beneficium tam praesens est, ut tertio die abstersa omni
macula mirifice visum reddat incolumem.
16) cap.8 p.70. digitis quinque manus ejusdem, cujus partis oculum
sordicula aliqua fuerit ingressa, percurrens et pertractans oculum ter dices
te tune resonco bregan gresso,
ter deinde spues, terque facies. Item ipso oculo clauso, qui carminatus
erit, patientem perfricabis, et ter carmen hoc dices et totiens spues
inmon dercomarcos axatison.
scito remedium hoc in hujusmodi casibus esse mirificum.
17) ibidem. si arista vel quaelibet sordicula oculum fuerit ingressa,
obeluso alio oculo ipsoque qui dolet patefacto et digitis medicinali ac pollice
leviter pertractato, ter per singula despuens dices
os Gorgonis basio.
hoc item carmen si ter novies dicatur, etiam de faucibus hominis vel ju-
menti os aut si quid aliud haeserit, potenter eximit.
18) cap. 8 p. 71. varulis id est hordeolis oculorum remedium
tale facias. anulos digitis eximes et sinistrae manus digitis tribus oculum
circumtenebis et ter despues terque dices
“rica rica soro.
si in dextero oculo varulus erit natus, manu sinistra digitis tribus sub divo
über Marcellus Burdigalensis. 441
orientem spectans varulum tenebis et dices:
nec mula parit,
nec lapis lanam fert,
nec huie morbo caput crescat,
aut si creverit tabescat!
cum haec dixeris iisdem tribus digitis terram tanges et despues, idque ter facies.
19) ibidem. efficax hoc remedium hordeolis. novem grana hor-
dei sumes et de singulis varum punges, perque singula puncta carmen dices,
et projectis novem granis septem alia corripies et similiter de singulis pun-
ges et carmen septies dices. abjectis etiam iis gquinque sumes et idem quin-
quies facies. idem de tribus granis similiter. idem de uno similiter. car-
men autem hoc dices
zuge KUgIa KanTapıc ouawoßt.
20) ibidem. item hoc remedium efficax. grana novem hordei
sumes et de eorum acumine varolum punges, et per punctorum singulas vices
carmen hoc dices
bevye beuys, „0.04 ve diwxei.
item digito medieinali varum contingens dices ter
vigaria gasaria,
varumque grano hordei ardenti, aut stipula foeni, aut palea ures.
21) cap. 10 p. 85. seribes carmen hoc in charta virgine et linteo li-
gabis, et medium einges eum vel eam, quae patietur de qualibet parte cor-
poris sanguinis fluxum:
sicoycuma cucuma ucuma cuma uma ma a.
22) ibidem. item carmen hoe utile profluvio muliebri:
stupidus in monte ibat,
stupidus stupuit,
adjuro te, matrix,
ne hoc iracunda suseipias.
pari ratione scriptum ligabis.
23) cap. 11 p. 89. pustulae cum subito in lingua nascuntur, prius-
quam idem (l. quidem) loquaris, extremae tunicae, qua vestiris, ora
pustulam tanges et ter dices:
tam extremus sit, qui me male nominat!
et totiens spues ad terram, statim sanabere.
Philos.- histor. Kl. 1847. Kkk
4493 Jıcog Grimm
24) cap. 12 p. 93. carmen ad dentium dolorem mirificum de experi-
mento, Juna decrescente, die Martis sive die Jovis, haec verba dices septies
argidam margidam sturgidam.
dolorem rumpes etiam si caleiatus sub divo supra terram vivam stans
caput ranae adprehendes et osaperiesetspuesintra os ejus, etrogabis
eam, ut dentium dolores secum ferat, ettum vivam dimittes, et hoc die
bona et hora bona facies.
25) cap. 12 p.95. cum primum hirundinem videris, tacebis et
ad aquam nitidam accedes atque inde in os tuum mittes. deinde digito ob-
scoeno id est medio tam manus dextrae quam sinistrae dentes fricabis et dices:
hirundo tibi dico,
quomodo hoc in rostro iterum non erit,
sic mihi dentes non doleant toto anno!
item alium annum et deinceps sequentibus similiter facies, si volueris re-
medii hujus quotannis manere beneficium.
26) cap. 14 p. 100. salis granum, panis micam, carbonem mortuum
in phoenicio alligabis.
27) ibidem. carmen ad uvae dolorem, quod ipse sibi qui dolet prae-
cantet, et manus supinas a gutture usque ad cerebrum conjunctis digitis
ducens dicat
crisi crasi concrasi.
quibus dietis rursum manus a gutture ducat, et ter hoc faciat.
28) cap. 14 p. 102. uvam toto anno non dolebit, qui cum primum
uvam viderit procedentem, sinistra manu digito medieinali et pollice
granum vulsum sic transglutierit, ut dentibus non contingat.
29) cap. 14 p.103. herbae cymbalitis radicem ante solis ortum
colliges sinistrae manus digitis pollice et medicinali in nomine ejus qui uvam
dolebit, et licio conligatam collo ejus suspende.
30) ibidem. picem mollem cerebro ejus impone, qui uvam dolebit,
et praecipue ut super limen stans superiori limiti ipsam picem capite suo
adfıgat.
31) ibidem. ad dolorem uvae scribes in charta et collo laborantis in
linteolo suspendes:
formica sanguinem non habet nec fel,
fuge uva, ne cancer te comedat.
über Marcellus Burdigalensis. 443
32) cap. 14 p. 104. araneam quae sursum versus subit et texit
prendes, et nomen ejus dices cui medendum erit et adjieies: sic cito su-
beat uva ejus, quem nomino, quomodo aranea haec sursum repit et texit.
tum ipsam araneam in chartam virginem lino ligabis et collo laborantis sus-
pendes die Jovis, sed dum prendes araneam, vel phylacterium alligas, ter
ın terram spues.
33) cap. 15 p.105. sed praecipue contra synanchen prodest, si hi-
rundininos pullos vivos in nido prendas et vivos incendas, ut pulvis
ex his fiat, die Jovis, luna vetere. sed observa utinpares in nido invenias,
et quanti fuerint exuras. horum in calida aqua pulverem bibendum dabis
et de ipso pulvere digito locum synanches ab intro continges. miraberis
remedium, sed inlotis manibus remedium facies.
34) ibidem. praecantabis jejunus jejunum, tenens locum, qui eritin causa,
digitis tribus id est medio, pollice et medieinali, residuis duobus elevatis
dices: exi hodie nata, si ante nata, si hodie creata, si ante creata, hanc pe-
stem, hanc pestilentiam, hunc dolorem, hunc tumorem, hunc ruborem,
has toles, has tonsillas, hunce panum, has paniculas, hanc strrumam, hanc
strumellam, hancrelegionem evoco, educo, excanto de istis mem-
bris, medullis.
35) cap. 15 p.108. si volueris explorare, utrum struma sit loci illius,
qui tumebit, ante quam medieinam adhibeas, Jumbricum terrestrem ad
tumorem adplica et postea super folium pone: si struma erit, lumbricus
terra fiet, si non erit struma, integer atque inlaesus permanebit.
36) cap. 15 p. 109. strumae optime medetur radix verbenae. si
eam transversam reseces, extremamque ejus partem laborantis collo subnec-
tas, priorem autem partem in fumo suspendas. arescente enim ea strumae
quoque siccabuntur et omnis earum humor arescet. cum sanus fuerit quem
curaris, si tibi ingratus exstiterit, utramque partem in aquam conjicito,
strumae renascentur.
37) cap. 15 p. 110. remedium valde certum et utile faueium do-
loribus. sic scribas in charta haec:
eidov Tounepn Malreov Toavadev,
za TagTageUy,cU Tovravader.
FCuTeV ME Tee veprepwv ÜmEgTaTE.
quam chartam in phoeniceo obvolutam lino conligabis colloque suspendes
Kkk2
444 Jıcos Grimm
meminerisque ut mundus fias haec facias, et ne tertia manu scriptura tan-
gatur.
38) cap. 15 p. 111. carmen mirum ad glandulas sic:
albula glandula,
nec doleas nec noceas,
nec paniculas facias,
sed liquescas tanquam salis (mica) in aqua!
hoc ter novies dicens spues ad terram et glandulas ipsas pollice et digito
medicinali perduces, dum carmen dices, sed ante solis ortum et post
occasum facies id, prout dies aut nox minuetur.
39) ibidem. glandulas mane carminabis, si dies minuetur, si nox,
ad vesperam, et digito medicinali ac pollice continens eas dices:
novem glandulae sorores,
octo glandulae sorores,
septem glandulae sorores,
sex glandulae sorores,
quinque glandulae sorores,
quattuor glandulae sorores,
tres glandulae sorores,
duae glandulae sorores,
una glandula soror
novem fiunt glandulae,
octo fiunt glandulae,
septem fiunt glandulae,
sex fiunt glandulae,
quinque fiunt glandulae,
quattuor fiunt glandulae,
tres fiunt glandulae,
duae fiunt glandulae,
una fit glandula,
nulla fit glandula.
40) ibidem. ad ea quae faucibusinhaerebuntremedium; si os aut
arista haeserit gulae, vel ipse cui acciderit vel alius confestim ad focum
adcurrat ettitionem verset, ita ut pars ejus, quae ardebat, forinsecus
emineat, illa vero, quae igni carebat, flammae inseratur; convertens vero
über Marcellus Burdigalensis. 445
titionem ter dices remedii gratia te facere, uti illud quod haeserit in fauci-
bus tuis vel illius, quem peperit illa, sine mora et molestia eximatur.
hoc inter certissima remedia subnotatum est.
41) ibidem. omnia quae haeserint faucibus, hoc carmen expellet:
Heilen prosaggeri uome sipolla nabuliet onodieni iden eliton. hoc ter dices
et ad singula exspues. Item fauces, quibus aliquid inhaeserit confricans
dices: xi exucricone xu crigrionaisus scrisumiouelor exugri conexu grilau.
42) cap.15 p.112. si de pisce os faucibushaeserit, spinam mediam
ejusdem piscis infringes et aliquam partem ex ea pollice et medicinali digito
super verticem ejus, cui os vel spina haerebit, adpones, sed utilius erit, si
nescientiid facias.
43) ibidem. ad os, sive quid aliud haeserit faucibus, hi versus vel
dicendi in aurem ejus qui offocabitur, vel seribendi in charta, quae ad col-
lum ejus lino alligetur, quo remedio nihil est praestantius:
un por Dogyei necbaAnv Ösvolo mErWgoU
EE" Aldew meunbeiev Eraivm Hegreooveia.
44) cap. 16 p.116. foeniculi radicem viridem nitidam in pila lignea
contunde atque ejus succum jejunus cum vino vetere per dies continuos
novem in limine stans bibe, validissime adversus tussim quamlibet mo-
lestam tibi proderit.
45) cap. 17 p. 124. ad suspiriosos remedium salutare. spumam
de ore mulae collige et in calicem mitte, atque ex aqua calida sive viro
seu feminae, quae hanc molestiam patitur, continuo da bibendam: homo
statim sanabitur, sed mula morietur.
46) cap. 17 p.126. serpentis senectusid est exuviae licio alliga-
tae et vulso circumdatae mire prosunt.
47) cap. 19 p.130. hie morbus (elephantiasis) peculiariter Aegyp-
tiorum populis notus est, nec solum in vulgus extremum, sed etiam in reges
ipsos frequenter inrepsit, unde adversus hoc malum solia ipsis in balneo
repleta humano sanguine parabantur. mustelae igitur exustae cinis et
ejusdem beluae id est elephantis sanguis immixtus et inlitus hujusmodi
corporibus medetur.
48) cap.20 p.143. remedium physicum magnum adversum dolorem
stomachi. in lamina argentea scribes et dices: arithmato aufer dolores
stomachi illi, quem peperit illa. eandem laminam lana ovis vivae in-
446 Jacos Grimm
volutam collo de lieio suspendes et id agens dices: aufer mihi vel illi sto-
machi dolorem arithmato.
49) cap.20 p. 144. cum te in lecto posueris, ventrem tuum perfricans
dices ter:
lupusibat per viam, per semitam,
cruda vorabat, liquida bibebat.
physicum hoc ad digerendum de experimento satis utile.
50) cap. 21 p. 154. praecordiorum dolorem catuli lactentes ad-
moti visceribus humanis transferre in se adseruntur, idque exenteratis
perfusisque vino deprehenditur vitiatis eorum visceribus.
51) ibidem. ad corcum carmen in lamella stagnea scribes et ad col-
lum suspendes haec, ante vero etiam cane:
corcu nec megito (l. mejito) cantorem
utos utos utos,
praeparabo tibi vinum leve,
libidinem discede a nonnita.
in nomine dei Jacob, in nomine dei Sabaoth.
52) item ad id aliud carmen:
corcedo, corcedo, stagne (l. stagna),
pastores te invenerunt,
sine manibus collegerunt,
sine foco coxerunt,
sine dentibus comederunt.
Tres virgines in medio mari mensam marmoream positam habebant.
duae torquebant etunaretorquebat. quomodo hoc nunquam factum
est, sic nunquam sciat illa Gajoseja corci dolorem.
53) cap.22 p.160. delupipraeda, id est de reliquiis vervecis aut ca-
prae aut cujuslibet animantis, quam comederit, carnem vel pellem vel os collige
etserva, etquandoaliquisjecur doluerit, inde eumtange, continuo sanabitur.
54) cap. 22 p. 161. lacertam viridem prende, et de acuta parte
cannae jecur ei tolle, etin phoenicio vel panno naturaliter nigro alliga, atque
ad dexteram partem lateris aut brachii laboranti epatico suspende sed vivam
lacertam dimitte et dicito ei: ecce dimitto te vivam: vide ut ego quem-
cunque hine tetigero epar non doleat!
55) cap.23 p. 164. herba salutaris id est spina alba, qua Christus
über Marcellus Burdigalensis. 447
coronatus est, quae velut uvam habet, lienem leniter in eodem loco
perfricata sanabit.
56) cap. 23 p.166. lacerta viridis viva in ostio splenitiei ante cu-
biculum ejus suspenditur, ita ut procedens et rediens eam semper
manu sinistra et capite contingat, quo facto mire ad sanitatem proficiet.
57) cap.23 p.167. catellum lactentem de canna occide, et de ipsa
canna splenem ejus tolle, ac nescienti splenitico in carbonibus coctum
vel assatum manducandum dato.
58) cap. 25 p. 171. pellem lupi aluminatam per dies sex lumbis
dolentibus impone, statim subvenies.
59) ibidem. remedium ad ischiadem sic. colliges herbam, quae
dieitur britannice, die Jovis, vetere luna et liduna, siecabis et repones,
quia hiemenonapparet. nam et viridis prodest. teres hanc cum tribus
granis salis et cum piperis granis quinque aut septem, addes et plenum
grande cocleare mellis et vini portionem bonam et si volueris modicum ca-
lidae aquae adjicies et sic bibendum dabis. sed hanc herbam ter dum teres
et antequam colligas praecantare debes sic:
terram teneo, herbam lego,
in nomine Christi prosit ad quod te colligo.
medicinalibus digitis eam sine ferro praecides vel avelles.
60) cap.25 p.173. et cum daturus fueris remedium, a die Jovis incipe
et per dies septem continuos dato, ita ut qui remediandus est, stans in
scabello contra orientem bibat.
61) ibidem. remedium coxendicis mirum de experimento sie. mus-
cerdae novem tritae ex vini quartario super scabellum vel sellam laboranti
potui dantur, ita ut pede uno quem dolet stans ad orientem versus
potionem bibat, et cum biberit saltu desiliat, et ter uno pede saliat,
et hoc per triduum faciat, confestim remedio gratulabitur.
62) p.174. fel terrae (d.i centauris, ahd. ertgalla, ags. eordgealle)
tritum ex vetustissimo vino bibere dabis jejuno supra limen stanti uno
pede, quicoxam dolebit, sed non in vitro hanc potionem bibat.
63) ibidem. vermis terrenus exfoditur et in ligneo cauco ponitur,
si fieri potest, fisso, et ferro alligato. tunc aqua perfunditur rursusque
eodem loco unde prolatus est defoditur, aqua vero in qua dilutus est, in
eodem poculo bibitur ab ischiadico ob insigne remedium.
448 Jıcos Grımm
64) cap. 26 p. 176. hoc medicamentum tunditur in pila lignea et pilo
ligneo, qui contundit anulum ferreum non habeat.
65) cap. 26 p.177. ad lapides de vessica ejieciendos remedium sin-
gulare. hircum segregatum vel clausum septem diebus lauro pasces et
postmodum a puero impubi oceidi facies et sanguinem ejus excipies mun-
diter, ex eo dabis laboranti in vini eyatho seripulos tres. at vero ut ejus
rei experimentum capias lapillos fluviales in vessicam mittes, in qua sanguis
exceptus fuerit, nam in vessica exeipi debet, et signatam repone. intra dies
septem solutos penitus invenies.
66) cap. 26 p. 179. artemisia — hanc ubi nascatur require et inventam
mane ante solis ortum sinistra manu extrahes et ex ea nudos renes prae-
cinges, quo facto singulari et praesentaneo remedio uteris.
67) ibidem. mulier quae geminos peperit, renes dolentes super-
calcet, continuo sanabit.
68) cap. 26 p. 181. calculosis expertus adfırmat incredibiliter suc-
eurri remedio tali. sihircum, meliussi agrestem, melius si annieulum
et si mense Augusto, claudas loco sicco per triduum, ut ei solas laurus
edendas sumministres et aquae nihil accipiat, ad postrenum tertio die id est
aut Jovis aut Solis occidas. melius autem erit, si castus purusque fuerit
et qui oceidit et qui aceipiet remedium. exsecto igitur gutture ejus sanguis
excipitur, utilius si abinvestibus pueris excipiatur, comburitur in vase
fietili usque ad cinerem, vas autem in quo torrebitur coopertum et inlitum
gypso in furnum mittetur ete. . . dabis infirmo die Solis aut Jovis coclearis
mensuram in meri potione, providere autem debes ut digesto jejunoque
potio detur. quam cum acceperit qui caleulum patitur, mox lapides solu-
tos omnes per urinam emittet. ut vero ammireris sanguinis hircini vir-
iutem, adamas lapis invictus, qui neque igni neque ferro vincitur, si san-
guine hireino perfusus fuerit, mox solvetur.
69) cap. 26 p.183. pellem leporis recentem in olla munda vel te-
gula ita cum lana sua combures, ut in tenuissimum pulverem redigere possis,
quem cribratum in vaso nitido servabis, inde cum opus fuerit tria coclearia
in potione dabis bibenda, quae res sive calculos sive vessicae dolores con-
tinuo compeseit, sed multo potentius erit remedium, si leporem vivum
in olla nova claudas et gypso omnia spiramenta vasis obstruas et in furno
usque ad favillam tenuissimam cremes tritamque et cribratam recondas.
über Marcellus Burdigalensis. 449
70) cap.26 p. 184. ad calculum remedium mirum sic. hederam
quae in quercu natafuerit, vulnerabis cupro, et permittes humorem, qui
inde manaverit, indurari in modum gummis, postea sublatum condito re-
solves, et admiscebis, et bibes quotiens usus exegerit.
71) cap.26 p.185. in cubili canis urinam faciat, qui urinam non
potest continere, dicatque dum faecit, ne in cubili suo urinam ut canis faciat.
72) cap.27 p. 190. tormina patientibus multi ventrem viventis ana-
tisadponunt adfirmantes, transiremorbumadanatem, eamque mori.
73) cap.27 p.196. ad profluvium et incontinentiam ventris reme-
dium sic. spongiam, quae in pruno silvestri vel in spina autinrosa
silvestri nascitur, colliges et supra batilum torrebis et diligenter teres.
74) ibidem. ut explorari possit ex latentibus morbis, qui sit ille
qui vexat infirmum comprehendique qualitas vitii et pars viscerum possit,
catulus foetae canis lactens die ac nocte cum eo qui laborat accumbat.
is postea sectus inspieitor, translatusque in eo morbus haud difficile
notatur, ita tamen ut aeger ei lac de suo ore frequenter infundat.
eum tamen catulum cum fuerit exsectus obrui oportet. nec ab re est, si
triduo idem catulus vivens cum aegro maneat. vitium enim aegri transire
in eum usque adeo certum est, ut moriatur catulus, hominemque morbis
latentibus relevet.
75) cap.28 p.200. carmen ad rosas sive hominum sive animalium
diversorum sic. palmam tuam pones contra dolentis ventrem et haec ter
novies dices: stolpus a coelo decidit,
hunce morbum pastores invenerunt,
sine manibus collegerunt,
sine igni coxerunt,
sine dentibus comederunt.
76) cap.28 p.200. si ventrieulus perversatus (?praevexatus) fuerit
alicui, aguam bibat unde pedes laverit suos, et de lana ovis, quae a lupo
oceisa fuerit, ad ventrem suum alliget. de herba quoque quae muris
auricula dieitur novem folia tollat et cum piperis granis novem terat et ex
aqua bibat per triduum.
77) ibidem. radix inulae in vino decoquitur, deinde succus ejus ex-
primitur, potuique datur ad tineas enecandas. sed ea radix postea quam
eruta est, terram non debet adtingere.
Philos.- histor. Kl. 1847. Lil
450 Jacog Grimm.
78) cap.28 p.201. corrigia canina medius cingatur, qui do-
lebit ventrem, statimque remediabitur.
79) cap.29 p. 202. lupi stercus, dummodo non in terra inventum,
sed supra fustem autsupra astulas aut supra juncum, colliges et ser-
vabis, et cum opus fuerit laboranti colico alligabis ad brachium vel ad col-
lum in osse aut in auro clusum.
80) cap.29 p.206. anulus de auro texta tunica fit exusta, cui
insculpitur vice gemmae piseis aut delphinus, sic ut holochrysus sit et ha-
beat in ambitu rotunditatis utriusque id est et interius et exterius graecis
literis scriptum
Seds nedeyeı mM nveıw noAov mOvous.
observandum autem erit, ut si in latere sinistro dolor fuerit in manu sini-
stra habeatur anulus, aut in dextera, si dextrum latus dolebit. luna autem
decrescente, die Jovis, primum in usum adhibendus erit anulus.
81) cap. 29 p.206. ad coli dolorem requires fimum lupi et ossa,
quae ibidem inveneris, contundes et pulverem ex his facies et in aqua frigida
jejuno bibendum dabis. |
82) ibidem. ad coli dolorem scribere debes in lamina aurea de
graphio aureo infra scriptos characteres luna prima vigesima et laminam ipsam
mittere intra tubulum aureum et desuper operire vel involvere tubulum ip-
sum pelle caprina et caprina corrigia ligare in pede dextero, si dextra pars cor-
poris colo laborabit, aut in sinistro, si ibi causa fuerit, habere debebit. sed
dum utitur quis hoc praeligamine, abstineat Venere, et nemulierem aut
praegnantem contingat, aut sepulchrum ingrediatur, omnino servare
debebit. ad ipsum autem coli dolorem penitus evitandum, ut sinistrum
pedem semper prius caleiet observabit. hi sunt characteres scribendi in
aurea lamina
L*XMORIA
LxXMORIA
LXMORIA
83) cap. 29 p.208. si ad versus colum viro remedio opus erit, de
ariete, quem lupus occiderit, fasciolam puer impubis faciat, et inde
virum ad corpus adceingat. si vero mulieri medendum erit, similiter de
ove, quam lupus occiderit, puella virgo cingulum faciat, et mulierem
circa corpus adeingat. efficaciter prodest.
über Marcellus Burdigalensis. 451
84) ibidem. lepori vivo talum abstrahes, pilosque ejus de sub
ventre tolles atque ipsum vivum dimittes. de illis pilis vel lana filum va-
lidum facies et ex eo talum leporis conligabis corpusque laborantis praecinges:
miro remedio subvenies. efficacius tamen erit remedium, ita ut incredibile
sit, si casu os ipsum id est talum leporis in stercore lupi inveneris, quod
ita custodire debes, ne autterram tangat aut amuliere contingatur,
sed nec filum illud de lana leporis debet mulier ulla contingere. hoc autem
remedium cum uni profuerit ad alios translatum cum volueris, et quotiens
volueris proderit. filum quoque, quod ex lana vel pilis, quos de ventre
leporis tuleris, solus purus et nitidus facies, quod si ita ventri laborantis
subligaveris plurimum proderit, ut sublata lana leporem vivum dimittas,
et dicas ei dum dimittis eum:
fuge, fuge lepuscule, et tecum aufer coli dolorem!
85) cap.29 p.209. lacertum viridem, quem graeei r«ügev vocant,
capies perque ejus oculos acum cupream cum licio quam longo volueris
trajicies, perforatisque oculis eum ibidem loci ubi ceperas dimittes, ac tum
filum praecantabis dicens: trebio potnia telapaho.
hoc ter dicens filum munditer recondes, cumque dolor coliei alicujus
urgebit, praeeinges eum totum supra umbilicum et ter dicas carmen supra
scriptum.
86) ibidem. ovis agnum, quem primum pariet, manu excipies,
itautterram non ttangat, et de fronte ejusdem agni lanam tolles, sed et
de ipsa ove et verris, qui coitum cum scrofa faciet, semen eadem lana ex-
eipies, ita ut terram non tangat, et includes lanam cum semine verris in
brachio, vel mediis partibus corporis colico suspendes.
87) ibidem. denovem coloribus, ita ut ibi album vel nigrum non
sit, facies ex singulis singula fila, et omnia in se adunata acu argentea per
oculos catuli novelli, qui nondum videt, trajicies, ita ut per anum
ejus exeant. tum ipsa filain se counata torquebis, et pro cingulo ad corpus
mediis partibus uteris. catulum sane vivum confestim in flumen
projicies.
85) cap. 31 p.221. ad ficos, qui in locis verecundioribus nascuntur,
de orbita rotae collige calvos lapides non praegrandes neque parvos,
et pone in foco ut bene candescant et lotio infantis eos exstingue, postea de
L112
452 Jıcos Grimm
ipso lotio locum assidue lava, ita ut frequenter mutes et lapides et lotium
infantis; tantum proderit, ut sectione et ferro opus non sit.
89) cap.31 p.222. luna XIII. hora nona ante quam exeant vel
erumpant mori arboris folia, oculos tres tolles digitis medieinali et pol-
lice manus sinistrae, et in oculis singulis dices:
absi apsa phereos,
mittesque in coccum galaticum et in phoenicio lino conchyliatae purpurae
conligabis et dices:
tolle te hinc tota haemorrhoida,
absis paphar,
et nudum eum, cui remedio opus est, praeligamine illo cinges.
90) cap. 32 p.225. ne inguen ex ulcere aliquo aut vulnere intumes-
cat, surculum anethiin cingulo aut in fascia habeto ligatum in sparto vel
quocunque vinculo, quo holus aut obsonium fuerit innexum, septem no-
dos facies et per singulos nectens nominabis singulas anus viduas et
singulas feras, et in cruce vel brachio, cujus pars vulnerata fuerit alliga-
bis. quae si prius facias ante quam nascantur inguina, omnem inguinum
vel glandularum molestiam prohibebis, si postea, dolorem tumoremque se-
dabis. surculum quoque ex myrto terra tactum si quis gerat, ab ingui-
nibus tutus erit. inguinibus potenter medebere, si de licio septem nodos
facias, et ad singulos viduas nomines, et supra talum ejus pedis alliges,
in cujus parte erunt inguina.
91) cap. 33 p. 229. si puero tenero ramex descenderit, cerasum
novellam radieibus suis stantem mediam findito, itautperplagam puer
trajici possit, ac rursus arbusculam conjunge, et fimo bubulo aliisque
fomentis obline, quo facilius in se quae scissa sunt coeant. quanto autem
celerius arbuscula coaluerit, et cicatricem duxerit, tanto citius ramex pueri
sanabitur.
92) cap. 33 p. 231. mulierem, quam tu habueris, ut nunquam alius
inire possit, facies hoc. lacertae viridis vivae sinistra manu caudam cur-
tabis, eamque vivam dimittes. caudam donec inmoriatur, eadem palma
clausam tenebis, et mulierem verendaque ejus, dum cum ea cois, tange.
93) ibidem. si quem ad usum venerium infirmum volueris esse, ubi-
cungque minxerit, supra lotium ejus obicem id est axedonem ex usu figes.
über Marcellus Burdigalensis. 4393
94) ibidem. si quem coire noles, fierigue cupies in usu venerio tar-
diorem, de lucerna, quae sponte exstinguetur, fungos adhuc vi-
ventes in potione ejus exstingue, bibendamque inscio trade: confestim
enervabitur.
95) cap. 34 p. 236. frumenti grana novem in tegula candenti com-
bures et in cinerem rediges, et cymini, quot duobus digitis pollice et medi-
cinali tenere potueris, addes.
96) ibidem. verrucas minores congestas, quas Graeci myrmecidas
vocant, ut abstergeas hoc facito. nocte cum videris stellam quasi
praecipitem sead aliam transferentem, eodem momento locum, in
quo verrucae erunt, quacunque re volueris, deterge, protinus omnes ex-
cident. quodsi manu tua nuda id feceris, continue ad eam transibunt.
97) ibidem. lapillum quemlibet involutum hederae folio ad ver-
rucam admoveto, ita ut eam tangat lapillus, atque ita celebri loco abjieito,
ut ab aliquo inventus colligatur: miro modo ad illum, qui collegerit,
verrucae transferuntur, etideo quot fuerint verrucae, tot lapilllis tangi
debent.
98) cap. 35 p. 240. de tribus tumulis terrae, quos talpae faci-
unt, ter sinistra manu quot adprehenderis tolles, hoc est novem pugnos
plenos, et aceto addito temperabis.
99) cap. 36 p.246. pueri inpubis detonsi super pedes dolen-
tis capilli atque illuc aliquandiu compositi compescunt dolorem.
100) cap. 36 p. 260. carmen idioticum, quod lenire podagram dieitur
sic. im manus tuas exspues, ante quam a lecto terram contingas, et a sum-
mis talis et plantis usque ad summos digitos manus duces et dices
fuge, fuge podagra, et omnis nervorum dolor
de pedibus meis et omnibus membris meis!
aut sialii praecantas, dices illius gquem peperit illa,
venenum veneno vincitur,
saliva jejuna vinci non potest,
ter dices haec et ad singulas plantas tuas, vel illius, cui medebere, spues.
454 Jıcos GrimMm
Solcher heilmittel und heilsprüche ist das alterthum aller völker voll;
es brechen, wie in sprache und mythen überhaupt, hier gleich starke und
wunderbare einstimmungen vor. cap. XXXVI, XXXVIL und XXXVIIH der
deutschen mythologie habe ich davon schon vieles angezogen und geltend
gemacht. in Rudolf Roths literatur und geschichte des Veda, Stuttgart 1846
s.12. 37-45 findet man merkwürdige indische sprüche, welche gegen krank-
heiten und schädliche thiere schützen, anrufungen heilsamer kräuter und
verwünschungen der feinde ausgehoben. Agni und Varuna, Indra und
Mitra, die hohen götter des feuers und wassers, der luft und sonne, werden
wechselsweise angefleht um ihren beistand wider gefahr und seuche. kusta
(costus speciosus), ein heilendes kraut, soll den takman (eine hautkrankheit,
wahrscheinlich den aussatz) vertreiben und heifst davon takmanäsana, tak-
mans vernichter. kustha, ein andrer name des aussatzes, scheint mit jenem
kusta selbst zusammenzuhängen.
Alle griechischen und römischen heilsprüche verdienten eigne samalung,
damit man ihren gehalt und ihr gewand vergleichen könne. wie bedeutsam
ein von Cato überlieferter segen für verrenkte glieder mit unsern altdeut-
schen und den nordischen stimme, wurde bereits nachgewiesen. andere von
Plinius aufgezeichnete werden wir den marcellischen begegnen sehn.
Was mir zumeist anliegt, istaber, den ursprung einiger bei Marcellus
enthaltnen, auf den ersten blick unverständlichen formeln zu entdecken.
es war natürlich, dafs zu Rom und Byzanz ihm vor allem lateinische und
griechische formeln bekannt wurden; es kann sein, dafs andere ganz ver-
derbt oder sinnlos erscheinen, wie 21, worin stufenmäfsig von einem aus-
druck einzelne buchstaben. abgeschnitten werden, bis zuletzt nichts als der
vocal übrig bleibt; auch in 18. 24. 27. 41 wiederholen sich die wörter. Nicht
so bewandt sein mag es um den sechzehnten spruch zur vertilgung der ins
auge gerathnen sordieula; denn hier verrathen sich gallische formeln mit
geeignetem sinn, die dem Marcellus noch aus seiner heimat im gedächtnis
gehaftet hatten. alle wörter von unkundigen schreibern aus der fuge gebracht
scheinen, ohne dafs das geringste zugefügt oder weggelassen werde, herstell-
bar. ich will sie erst zusammenschieben und dann von neuem, der galli-
schen sprache gemäfs, zertheilen:
tetuncresoncobregangresso
inmondercomarcosaxatison
über Marcellus Burdigalensis. 455
das ist:
tet un cre son co bregan gresso
inmon derc omar cos ax atison
oder nach heutiger irischer schreibweise:
teith uainn cre soin go breigan greasa
inmhion dearg omar gus agus ait soin
es sind, wie der lateinische text lehrt, eigentlich zwei von einander unab-
hängige sprüche, deren ersten ich verdeutsche:
fleuch von uns staub hinnen zu der lügen genossen!
den andern:
lieblich (sei das) augenbett, weh und schwulst (sei) fort!
teith ist imperativ von teich fliehen, uainn bedeutet von uns, wie uaim von
mir, uait von dir, uaibh von euch. cre staub, erde, unrat drückt die lat.
sordieula aus. co für go entspricht der altirischen schreibung, und nicht
anders wird cus acus für gus agus, derc für dearg gesetzt. breigan gen. pl.
von breag lüge. gresso erkläre ich greasa hospitibus, denn der von der
praeposition go verlangte dat. pl. kann nach Odonovan p.84 auf -a oder
-u, also auch -o endigen, statt des gewöhnlichen -aibh, ‘“fri teora gressa
bedeutet with three processes, statt gressaibh. könnte man übertragen: zu
der lügen erfolgen? doch scheint mir lügengästen vorzüglicher, d.i. teufeln,
welchen die sordicula überwiesen wird. Im andern spruch ist inmhion,
inmhuin gratus, dearg auge, omar trog, höle, rinne, bett, deargomar also
augentrog, augenhöhle = auge, gus weh, schmerz, ax=acs acus agus die
bekannte conjunction, dem lat. ac, wie dem goth. jah verwandt; ati das
heutige ait geschwulst. son = soin hence, thence. unverkennbar sind aber
irischen diphthonge in der alten sprache einfach.
Teuscht sich meine auslegung, wenn schon im einzelnen, doch in
der hauptsache nicht, so gewähren diese sprüche für die kunde der aquita-
nischgallischen sprache im vierten jh. noch einen wichtigeren beitrag als jene
pflanzennamen, bestätigen die nähe des irischen dialects, und entheben uns
aller zweifel über des Marcellus abkunft und sein verhältnis zum ganzen werk.
kein arzt zu Rom oder Constantinopel wäre so wie er ausgerüstet gewesen
mit gallischen formeln. ich habe, ohne rechten erfolg, versucht auch die
sprüche 24. 27. 41 gallisch zu deuten und will nun andere zähne in sie bei-
456 Jacos Grimm
fsen lassen. doch werde ich auch zu 48 ein entschieden gallisches wort
nachweisen können.
Überbliekt man aber alle diese abergläubischen mittel, deren Marcellus
gewis nur eine geringe zahl verzeichnete oder kannte, so erhellt, dafs sie ei-
gentlich nicht bei schweren, lebensgefährlichen krankheiten angewandt wur-
den, sondern fast nur für leichte oder äufserliche gebrechen wie kopfweh,
zahnweh, fliefsendes auge (lippitudo), gerstenkorn am auge (hordeolus, varu-
lus), kropf, zapfengeschwulst (uva), schlundentzündung (suvayxn), bruch,
warze, huste, engen athem (suspirium), magenweh, leibweh, milzweh, hüftweh,
herzweh, leberweh, steinschmerz (calculus) und mancherlei drüsen und
geschwulst. toles und tonsilla 34 ist auch schlundweh, corcus 52 scheint
ein herzübel und corcedo gebildet wie axedo 93 von axis. bei solchen lei-
den läfst sich noch heute unter uns der gebrauch eines unschädlichen, sym-
pathetisch wirkenden und die einbildung spannenden hausmittels nicht ganz
verdrängen.
Die meisten arzneien wurden aus heilkräftigen kräutern gewonnen,
einzelne gaben auch thiere her, zumal wurm, käfer, spinne, fliege, eidechse,
frosch, schwalbe, ente, hase, welf, bock, maulthier und wolf. bär, hirsch,
eber, hahn und viele andere kommen hier nicht vor. wenn es angeht, wird
aber die gebrauchte pflanze wieder in die erde gesetzt, die gespaltne wieder
zusammengebunden, das thier, welches einen dienst geleistet hat, lebendig
entlassen. die ihnen angedeihende schonung fördert des menschen heilung,
sie sollen gleichsam nur mitleidende sein. alles ist voll geheimer sympathie
und wie die spinne an ihren fäden aufsteigt soll die geschwulst aufgehn (32),
wie der brand gedreht wird, die ähre im schlund sich umkehren (40).
Stein, kraut und thier sind kräftig, allein noch gröfsere macht üben
die dazu gesprochnen worte. aufser den lateinischen und gallischen sprüchen
begegnen vier griechische, worunter 43 aus Od. 11, 634 (vgl. D. 5, 741)
entnommen, doch rain für @yavy gelesen ist. woher 37 stamme, weifs ich
nicht und der goldne Toanados, der höllische Tusanados sind mir unbe-
kannt, die vegrego sind die inferi, unterirdischen. den trimeter 80 können
vielleicht andere aufzeigen. aber die formel 20
beuys beüys, „0.94 ve diwzei
kannte schon dreihundert jahre vor Marcellus Plinius 27, 11: lapis vulgaris
über Marcellus Burdigalensis. 457
juxta flumina fert muscum siccum, canum. fricatur altero lapide addita ho-
minis saliva, illo lapide tangitur impetigo, qui tangit dieit
deuyere navSagides, Aunos dygios UuuE diwxei,
und das fuge, fuge lepuscule im spruch 84, das fuge uva in 31, das fuge fuge
podagra in 100, ja das irische teith (s. 455) mufs dazu gehalten werden.
Unter den lateinischen formeln ist die wiederholung von 52 in 75 bei
verschiedenem eingang zu beachten und das ‘sine foco’ dem “sine igni’ gleich-
bedeutend. focus verdrängte in den romanischen sprachen allmälich das
ältere ignis. In 49 hebt ‘lupus ibat per viam’ an, in 22 “stupidus in monte
ibat’ wie in anderen sprüchen “ibant tres puellae in via virente’ oder “Christus
in petra sedebat’ (mythol. s. 1195. 1196), “Petrus, Michael et Stephanus am-
bulabant per viam’ (mythol. s.1184) oder eiris säzun idisi’. der ganze spruch 22
stupidus in monte ibat,
stupidus stupuit,
adjuro te matrix (oder heifst es: matris nomine?)
ne hoc iracunda suseipias
rührt offenbar an unsern althochdeutschen, den ich im jahrgang 1842 seite
26 bekannt gemacht habe, aber noch nicht zu deuten vermochte:
tumbo saz in berke
mit tumbemo kinde in arme,
tumb hiez der bere,
tumb hiez daz kint,
der heilego tumbo
versegene dise wunta,
ad stringendum sanguinem, wie hier carmen utile profluvio muliebri. wen
dachte sich das vierte jh. unter dem stupidus, das eilfte unter dem
tumbo? auch die voraus erwähnten Genzan unde Iordan kieken, Vrö unde
Läzakere kieken’ erkenne ich jetzt für mhd. giegen d.i. stulti(M S. 2, 79a
246b von der bir 314 und Ls. 1, 509) nhd. gecken. es scheint mir, dafs
die Christen, wenn sie den überlieferten heilspruch in ihren mund nahmen,
an des heidnischen gottes stelle einen herabwürdigenden ausdruck wie stu-
pidus, tumbo, giego setzten, oder zu den fremden wörtern Genzan und lor-
dan giego fügten. auffallend ist, dafs in jener formel Vrö, worunter doch
Frö, Fröho der gott oder herr gemeint wird, haftete und daraus neue be-
stätigung des Fröcultus darf geschöpft werden; Läzakere sollte es bedeuten
Philos. - histor. Kl. 1847. Mmm
458 Jacos Grimm
“der den speer im stich läfst’, wie der nordische Freyr sein schwert hingab,
also ein mythischer beiname des gottes sein? so will ich einmal rathen, und
wäre darauf zu lesen 'molt peträtun’ terram caleabant? oder 'molt stellio, papi-
lio (Graff 2, 719) tritto’ tertius? “petritto’, das ags. bedrida clinicus? wie dem
sei, so gut die jüngere formel sagte: Tumbo saz in berge, konnte die ältere
haben: Wuotan saz in berge (wie jenes Christus in petra sedebat), folglich das
Stupidus in monte ibat im vierten jb. irgend einen heidnischen gott ersetzen.
In den drei jungfrauen, deren marmortisch mitten im meer steht,
deren zwei (den faden) drehen, die dritte zurückdreht (no. 52), sind alte
schicksals göttinnen zu erkennen, die im deutschen spruch idisi, später puel-
lae (mythol. s. 1196) oder Marien heifsen. statt dafs sie ihren tisch oder
thron auf berge und wiesen setzen, ist er hier absichtlich ins meer gestellt.
Spruch 75 beginnt mit den worten: stolpus a coelo decidit, wofür
Casaubonus zu Persius sat. 8 lesen willstlopus, sonus quem buccae inflatae
edunt. ich ändre nichts und lasse dem ausdruck die bedeutung des litth.
stulpas, sl. stlp” columna, russ. stolb’, serb. stup, walach. stulp, altn.
stölpi, dän. stolpe. dem poln. slup, böhm. slaup, ungr. oszlop ist das T
nach dem S entfallen, wie auch das goth. sauls, ahd. sül, altn. süla für
stauls, stül, stüla stehn, die dem gr. srüAss und oryAn entsprechen (!), vgl.
ahd. stollo basis. vielleicht wird ags. stypel turris, engl. steeple dasselbe
wort sein. im estnischen tulp ist umgekehrt das S aufgegeben, die Finnen
gebrauchen ein unverwandtes patsas.
Hat nun stolpus columna seine richtigkeit, so erlangt für die gewöhn-
lich erst mit dem sechsten jh. angehobne geschichte der slavischen sprache
werth, dafs hier schon zur zeit des vierten in lateinischen zauberformeln ein
slavischer oder litthauischer ausdruck begegnet. nach meiner ansicht unter-
liegt es kaum dem zweifel, dafs bereits in den ersten jhh. und sogar vorher
Slaven als Sarmaten den Griechen und Römern benachbart wohnten, und
gleiches mufs von den vorfahren der Litthauer gelten.
Im spruch 41 klingen einige wörter: nabuliet onodieni iden beinahe
slavisch, was aber, da ich die übrigen nicht damit zu vereinen weifs, spiel des
zufalls sein mag. wie fehlerhaft die abschriften dieser stellen sein müssen
zeigt der folgende spruch, in welchem ich nichts verstehe, doch erkenne, dafs
(') vgl. das welsche seren mit unserm stern.
über Marcellus Burdigalensis. 459
das xi exucricone sich vier mal wiederholt, wie nun die rechte lesart laute.
Entschieden christlich sind 55. 59, vielleicht 24, jüdisch klingt 51,
alles übrige darf heidnisch sein. nonnita 51 bedeutet mädchen, nicht nonne.
Ich schliefse mit einigen bemerkungen zu den einzelnen heilmitteln.
1 und 6) herba in capite statuae, vgl. Athenaeus lib. 15 p.68: Niruvdges
dnsw, E£ üvögıavros ans nedaAds "Arekavdgov Tyv RaAoumevnv außgesiav bierIar &v
Ko. Plinius 24,19 vgl. mythol. s.1129. 1143.
2 und 88) lapilli in via. nicht zurückschauen 2. 10.
4) schwalbensteine vgl. Dioscorid. 2,60. Schmeller 3, 399.
4, 77,84 und 86) die erde nicht zu berühren, aber 18. 90 zu berühren.
7 und 25) die erste schwalbe im frühling sehn, mythol. s. 853. 1085.
abergl. no. 517. 1086. das chelidonium heifst so, weil es mit ankunft der-
selben spriefst, mit ihrem abzug verdorrt. Diosc. 2, 211.
8) pura et nitida. 84 purus et nitidus.
9 und 85) lacerta viridis geblendet, der leber und des schwanzes be-
raubt 54. 92, vor der thür aufgehängt 56.
11 und 96 fallender stern. mythol. s. 685.
17) os Gorgonis, vgl. caput Gorgonis 43.
19. 20.25 neun gerstenkörner.
24) dem frosch in den geöfneten mund speien, wie dem fisch, weis-
thümer 2,528, vgl. Matth. 17,27 und Hel. 98,24.
27) wäre in crisi erasi ein ir. greis gürtel, greas heil enthalten?
25) die geschwollne uva im gaumen hat den namen von der traube,
wird daher durch ein verschlucktes traubenkorn geheilt.
30. 44.62) super limen stare.
34) tolesgallica lingua dieuntur, quas vulgo per diminutionem toxillas
(al. tusillas) vocant, quae in faucibus turgescere solent. Isid. orig. XI. 1, 57,
vgl. tonsilla bei Festus O. Müll. 356, 27. 224, 16 und Serenus samon. 291.
ir. toll a head, tola superfluity.
38.39) die glandula wird angeredet, die glandulae gelten für schwe-
stern. wie wenn das ahd. druos glandula (Graff 5, 263) personification an-
kündigte? altn. ist drös femina.
40) umkehren des feuerbrandes, vgl. myth. s. 1185.
40. 48. 100) quem peperit illa.
42. 57) nescienti facere, vgl. mythol. s. 1151.
Mmm2
460 Jacos Grımm über Marcellus Burdigalensis.
44) dies pilum ligneum auch bei Scribonius cap. 152.
46) serpentis senectus, bei Plinius senectus anguium, altn. ellibelgr.
48) arithmato ist das gal. ardhmhath summum bonum, das als daıueviov
angerufne 75 «yaScv, von ard arduus summus und math bonum. dem ir. und
gal. vocativ wird heute ein a oder o vorgesetzt, hier scheint es suffigiert. ob dem
schreiber, als er arith für arth setzte, dasgr. ügıSuos vorschwebte, oder arith
der alten sprache gemäfs war, weifs ich nicht. das &gw rrepew war bei den
Griechen häufig, aber auch deutschem alterthum nicht unbekannt.
50. 57.74.87) catuli lactentes. mythol. s. 1123 und Serenus 443.
53. 76. 83) lupi praeda. mythol. s. 1093.
52) illa Gajoseja, vielleicht besser: illa Gaja Seja, was wir heute
durch N. N. ausdrücken.
56) so wurde nach dem lex. Alam. 102 der getödtete hund dem das
ganze wergeld fordernden vor die thür gehängt, vgl. RA. s. 665.
58) die wolfshaut heilkräftig. mythol. s. 1123.
59. 64) die pflanze ohne eisen abschneiden und stofsen. zur britannica
vgl. mythol. s. 1247.
61. 62) stare in scabello, pede uno. mythol. s. 1189.
65. 68) kraft des bocksblutes. Plin. 37, 4. Augustinus de civ. dei
21,4. Notk. Cap.69. Erec 8428 ff. MS. 1,180a.
68) der lorbeer war heilig und dapvnpayos hiels den Griechen auch
ein begeisterter seher.
70) hedera in quercu nata, d.i. viscus, mistel, vgl. mythol. 1156. 1157.
72) übergang auf enten. mythol. s. 1123.
73) spongia in rosa silvestri, der schlafdorn. mythol. s. 1155.
87) faden von neun farben. lieium var coloris filis intortum. Pe-
tronius cap. 131.
90) beim knotenmachen werden alte weiber als zauberinnen und
böse unthiere genannt.
91) den gebrochnen knaben durch einen baumspalt ziehen. mythol.
s44149.
Die aufgedeckten überbleibsel gallischer sprache aus dem theodosiani-
schen zeitalter sollen, traue ich, fortan dem Marcellus gröfsere theilnahme zu-
wenden, als ihm um seiner abergläubischen arzneien willen, die mich dennoch
beschäftigten und nicht ganz leer ausgehn liefsen, bisher geschenkt worden ist.
KEEP Dt ne
Über
Agathodamon und Bona Dea.
Von
H” GERHARD.
mn
[Gelesen in der Königl. Akademie der Wissenschaften am 24. Juni 1847.]
N anderes Thiersymbol hat in den Religionen der alten Welt gröfsere
Wichtigkeit erlangt als das der Schtinge, eines nach Klima und Naturell
in seinen verschiedenen Gattungen sehr verschieden gearteten und somit
auch einer sehr verschiednen Bedeutung empfänglichen Geschöpfes. Als
feindliche Gewalten sind die persische Schlange des Ahriman, der babylo-
nische Tempeldrache des Belus, die alte Schlange der heiligen Schrift und
die typhonische Schlange ägyptischer Kunstdarstellungen bekannt, denen
auch aus griechischer Bildnerei manches Schreckbild in Schlangengestalt sich
vergleichen läfst('!). Anderwärts bildeten ähnliche grofse Schlangen viel-
mehr den Inbegriff einer doppelsinnigen, bald feindlichen bald freundlichen
Kraft: nicht nur die Weltschlange indischer Mythen, sondern auch die um
Baum oder Stab gewundenen Schlangen asiatischer sowohl als griechischer
Mythologie sind als Ausdrücke solchen Doppelbegriffs zu bezeichnen, denen
der schlangengestalte Heros griechischer Gräber als friedlichstes solcher
Symbole sich anreiht(?). Vielleicht dafs manche dieser Beispiele bereits
der durchaus freundlichen Anwendung angehören, welche hauptsächlich
von kleinen und schmiegsamen Schlangenarten, namentlich von dem ägypti-
schen Uraeus bekannt ist—, dem Uraeus, welcher zugleich mit dem Zeichen
der Landesherrschaft den Stirnschmuck ägyptischer Götter und Könige
bildet, mit der Sonnenscheibe vereint den Pforten ägyptischer Tempel zum
Wahrzeichen dient(?) und auch als geheiligter Gegenstand ägyptischen
Schlangendienstes bezeugt wird(*). Die griechische Benennung eines guten
Naturgeistes Asarnopimon, welche diesem ägyptischen Schlangensymbol
allgemein zugestanden ist, beruht auf späten und spärlichen Zeugnissen (°):
462 GERHARD
wie das Gewicht derselben durch Gleichsetzung mit dem vielleicht auch
nicht uralten Götternamen Kneph nicht genügend gesteigert wird(°), wird
die altägyptische Geltung des Agathodämon überdies noch durch Begriffe
verdächtigt, welche vielmehr asiatischer Vorstellung angehören(?). Die
Untersuchung hierüber liegt uns jedoch fern: uns genügt, dafs jener gangbare
Begriff des Agathodämon wenigstens seit alexandrinischer Zeit hinlänglich fest
steht, um verwandte griechische Religionsbegriffe daran zu knüpfen.
In den gangbarsten Quellen und Darstellungen griechischer Mytholo-
gie pflegt jener Agathodämon nur in der gedachten Geltung einer symbolischen
Wunderschlange bekannt zu sein, dagegen der entsprechende und von der
älteren Gräcität allein anerkannte Ausdruck eines Aaiuwv aya9os(°) vielmehr
einen persönlichen Gott uns kund giebt. Den sogenannten „guten Gott“
eines arkadischen Tempels(?) war Pausanias, über dessen Namenlosigkeit
befremdet, für Zeus zu halten geneigt, und wie dort ein persönlicher Gott
vorausgesetzt wird, läfst das thebanische Heroon('?) eines gleichfalls namen-
losen „guten Dämons“ mit gleicher Wahrscheinlichkeit einen persönlichen
Heros vermuthen. Dieselbe persönliche Geltung wird durch die griechische
Mablessitte(!!) wahrscheinlich, nach welcher der „gute Dämon“ am Ende
des Mahls eine Weinspende zugleich mit Zeus Soter('?) erhielt, dieser einen
Trank von gemischtem, jener von reinem Wein: Natur und Bildung des
vielangerufenen Dämon blieben dabei nicht viel weniger unbekannt, als sie
in Ermangelung sonstiger charakteristischer Erwähnung es für uns sind. Diese
Dunkelheit steigt, wenn der entsprechende Gegensatz eines „gebenden“
Gottes Epidotes(!?) zum ebengedachten Zeus Soter hinzutritt, und uns
bestimmt, bei nachweislicher Beziehung beider Namen auf geheime Natur-
macht ('*) wie bei sonstiger Uebereinstimmung des Epidotes mit dem Aauwv
@yaSos, auch diese letztere Benennung eines guten Gottes, dem Euphemis-
mus altgriechischer Götternamen gemäfs, in einem am Ende des Mahls zu
versöhnenden „Schlaf- oder Todesgott“ zu suchen(!?). Somit sind wir
geneigt in jenem dämonischen guten Geber uns eine der Göttergestalten zu
denken, die, nehmend zugleich und gebend ('°), dem Dionysos und andern
Unterweltsmächten in reifer menschlicher Bildung vergleichbar sind: wie
aber vermöchte damit die Uebertragung eines und desselben Namens auf
den ägyptischen Agathodämon zu stimmen, den wir nicht anders als in der
wohlthätigen Bedeutung einer heilkräftigen Schlange uns denken mögen?
über Agathodämon und Bona Dea. 463
Den gefälligen Formen griechischer Kunstbildung zum Trotz müssen
wir diese Frage mit der Annahme vermuthlicher Schlangengestalt des grie-
chischen, wie des ägyptischen Dämons beantworten. In der That ist diese
Erklärungsweise, obwohl sie unserer Vorstellung von "Ayas9cs dauwv als per-
sönlichem „guten Geist‘ wenig zusagt, die einzig richtige und theils durch
Uebergänge der Schlangen- zur Menschenbildung(!7), theils durch die nach-
weisliche Schlangengestalt mehrerer Gottheiten(!°) so bezeugt als begreif-
lich. Von den ältesten Zeiten griechischer Religion anhebend, ist das
Schlangensymbol ein selbständiger Ausdruck der Götterkraft, sofern sie im
Grundbegriff feuchten Erdsegens('?) und heimlicher Zeugung (?°), zunächst
als Ortshüter von Quellen und Wohnungen, Tempeln und Gräbern, als
Genius loei und als cixouges &pıs und Gräberheros (*!), sodann aber auch als
cerealisches(??), apollinisches(?°), äskulapisches(**) Attribut mit befruchtender,
erleuchtender, heilender Kraft und mit der schmerzstillenden Besänfti-
gung sich kund giebt, welche dem Begriffe des Todesschlafes(?) entspricht.
So drängten die mancherlei Beziehungen, durch welche der schlangengestalte
Ortsgenius gottgeweihten Besitz, gedeihliche Fruchtbarkeit, geistige Erleuch-
tung, lindernde Heilkraft und, über die Grenzen des Lebens hinaus, un-
heimlichen Segen ertheilte, in der Gesammtidee eines gleichfalls als Schlange
gedachten Erdgeistes sich zusammen, für welchen der Euphemismus griechi-
scher Rede den Ausdruck des „guten Geistes“ nicht ohne verfänglichen
Doppelsinn gestempelt hatte. Zum bildlichen Ausdruck dieses guten Erd-
geistes war als ältestes Erdsymbol die Schlange geeignet befunden worden,
und es reihen demnach den schriftlichen Zeugnissen bildliche Belege jenes
altgriechischen Schlangendämons in reichlichem Mafse sich an. Aufser der
allgemeinen Hinweisung auf Dienst und Pflege desselben (?*) macht sich in
ihnen die wechselnde Darstellung bald eines Paares von Schlangen, bald
einer einzigen, etwa der männlichen Schlange bemerklich. Die völlige
Gleichsetzung einer wie der anderen dieser Darstellungsweisen (?”) ist in
Belegen cerealischen Tempeldienstes und italischer Hausgottheiten gleich
augenfällig, wird aber auch durch die Doppelzahl von Schlangengöttern
bestätigt, als welche wir unbedenklich nicht nur den epidaurischen Heilgott,
sondern auch den Zeus Epidotes und den chthonischen Hermes Eriunios
samt dem ihm entsprechenden Zeus Ktesios bezeichnen dürfen (*°).
464 GERHARD
Die bis hieher erörterte Schlangenbildung war jedoch nicht die einzige
des „guten Erdgeistes“: dem Anthropomorphismus griechischer Sitte gemäfs
ging im Fortgang der Kunst noch eine andere Darstellungsweise nebenher.
Wie das Trankopfer reinen Weines bekanntermafsen dem „guten Erdgeist‘*
geweiht blieb, ward mit Bezug auf den geistigsten aller Erdsäfte derselbe
Aciuwv dya$es auch als Weingeist gedacht und das bacchische Fest der Er-
öffnung des jungen Weins ihm gewidmet(??). So ist es denn keineswegs
unwahrscheinlich, dafs, wie man vermuthet hat, dieser Erdgeist aufser dem
ihm ursprünglich entsprechenden chthonischen Schlangensymbol auch einen,
der quellenden Naturfülle und dem Erdsegen im Wein entnommenen, bild-
lichen Ausdruck fand, nämlich das vollbärtige Antlitz des Akraros-SıLE-
nos(3). Dieses bacchische Bild des Erdgeistes durfte aber auch eines
cerealischen Beiwerks nicht ermangeln: der Frucht- und Aehrensegen, aus
dessen Fülle sich die dämonische Erdschlange zu erheben pflegt(°!), ward in
ein Füllborn gesammelt, als natürlichstes Attribut jenes quellenden zugleich
ke)
und sprossenden, aber auch reichen zugleich und unheimlich finsteren, dem
Pluton(3?) nicht weniger als dem Plutos entsprechenden Dämons. Ein
solcher mit seiner Erdmacht verknüpfter Doppelsinn dieses Erdgeistes brachte
im euphemistischen Fortgang griechischer Religion und Kunst es mit sich,
dafs seine vollbärtige Bildung in gefällige Jünglingsgestalt überging, und
diese Jünglingsgestalt mit dem Füllhorn ist es, welche nicht nur den vor-
zugsweise cerealischen Dämonen, dem Plutos, Eleusis, Bonus Eventus,
gleich ihnen den Dioskuren, mehr oder weniger zusteht, sondern in alexan-
drinischer und römischer Zeit mit oder ohne Begleitung der Schlange den
anerkanntesten Typus des Agathodämon abgibt (°°).
Sehr vereinzelt, aber vollgültig ist das im böotischen Trophonios-
dienst von Lebadea uns erhaltene Zeugnifs, dafs der bis hieher erörterte
„gute“ Erdgeist, Auiuwv dayaSes, nach dortigen Kultusbegriffen mit einer
„guten“ Glücksgöttin, AyaSıy Tuyn(*) oder Bons Fortuna (°), zu-
sammengestellt war. Diese Göttin ist ohne den Erdgeist auch anderweitig
bekannt: in attischen Rednern war ein ihr errichteter Tempel erwähnt(°°),
und häufiger findet sie sich in ansehnlicher Götterverbindung, ideellen Gott-
heiten wie Themis und Nemesis (*) gleichgestellt oder mit ihnen verwech-
selt, aber auch mit so kosmischen und materiellen wie Aphrodite und Pan(‘),
ferner mit Leto und Hekate(“), mit Zeus(*), Apoll(“) und den Unterwelts-
über Agathodämon und Bona Dea. 465
mächten, wird sie verbunden und pflegt als Schutzgöttin der Städte (7), am
Anfang von Volksbeschlüssen (°®), als Geburts- (%°) und als Todesgöttin (*°)
_ auf Grabinschriften fast eben so häufig genannt zu werden als ihr dabei zu-
gleich genannter Begleiter (*), der gute Erdgeist, am Schlufs von Sympo-
sien begrüfst ward. Kenntlich ist diese mächtige Göttin nicht nur durch ihr
Füllhorn (*°), durch Krone oder Schleier (“*), durch dienende Umgebung
niederer Glücksgöttinnen (**), sondern zuweilen auch durch den Liebreiz
in welchem Praxiteles sie der Kora ähnlich gezeigt haben mag und in wel-
chem ihr statuarisches Prytanenbild zuweilen entflammend wirkte (*%). Eine
so hohe und ausgebildete Geltung der sogenannten „guien Glücksgöttin ”
läfst uns nicht zweifeln, dafs sie der dann und wann als Götterfortuna,
Tuyn Sewv (*6), hochgestellten, aber auch dafs sie der schlechthin so genannten
Glücksgöttin Tyche identisch sei, wo diese als Städtegründerin (*7) und als
Pflegerin städtischer Schutzgottheiten, namentlich mystischer Glücks- und
Rettungsgötter gedacht war. Es war dies der Fall in Aegira und Theben,
wo Tyche einen Knaben Eros (**) oder Plutos (“), sie oder er mit Füllhorn
versehen, im Arm trug; ein ähnliches Kind war als Säugling nach Elis ge-
bracht, wo es in Kriegsgefahr zur Schlange gewandelt die Feinde scheuchte
und als „Stadtretter” Sosipolis mit der olympischen Ilithyia verbunden Ge-
genstand eines furchtbaren Dienstes geblieben war. (°°)
Diese Zusammenstellung altgriechischer Gottheiten, welche bei man-
cher Verschiedenheit ihrer Namen doch nur auf zwei mit einander ursprüng-
lich verbundene Wesen zurückverweisen — einerseits auf Tyche als gute
Glücksgöttin oder als Götterfortuna oder auch als Schöpfungsweberin Ili-
thyia (°') bezeichnet, andrerseits auf jenen wohlthätigen Erdgeist, der bald
ausschliefslich als „guter Dämon” bald auch als Reichthumsgeber Plutos oder
als Stadtretter Sosipolis auftrat — wird, auch abgesehen von Göttervereinen
der Kaiserzeit (Taf. I) durch nicht wenige ältere Spuren erfolgreich, aus
denen jene Verbindung einer geheimnifsvollen Glücksgöttin mit ihrem tellu-
rischen Dämon bestätigt wird. In dieser Beziehung ist längst bemerkt wor-
den, dafs nach griechischer sowohl als italischer Auffassung alle göttlichen
Pflegerinnen der meistens als „Rettung” (°?) bezeichneten Staatswohlfahrt
die Dauer ihres Schutzes an ein Unterpfand und zwar an ein solches ge-
knüpft hatten, wie es in Schlangengestalt als ursprünglicher Bildung des
Philos.-histor. Kl. 1847. Non
466 GERHARD
„guten Erdgeistes” uns kund ward. Beispiele zum Beweis dieses Satzes
bieten die attische Pallas, die eleusinische Demeter, die lanuvinische Juno
in ihren Burg-und Tempelschlangen uns dar; sie gewähren uns allbe-
kannte Zeugnisse eines vermuthlich nicht minder allgemeinen als uralten und
auch Seitens männlicher Gottheiten bezeugten Schlangendienstes (°°), wel-
cher, nachdem er für Dasein und Dauer pelasgischer Städte den Grund ge-
legt, die symbolische Schlange zum Bild alles örtlichen Heils und Segens
und neben der Stadt-und Heilgöttin Athene, der die Burgschlange zur
Seite stand (°*), allmählich, von Ortsbestimmungen entblöfst, auch eine be-
sondere Gesundheitsgöttin Hygiea (°°) als ähnliche Schlangenpflegerin aus-
bilden half.
Gruppirungen solcher Art sind es, aus deren ansehnlicher Geltung
auch die Verbindung einer als Schöpfungsgöttin gedachten Tyche mit einem
Erdgeist, den wir gemeinhin als Schlange zu denken haben (°%), sich er-
klärt. Aber nicht blofs dem schlangengestalten Aajuwv ayaSss ist jene Tyche
beigesellt; auch in seinen sonstigen Bildungen ist jener Dämon neben ihr
nachzuweisen. Dafs es selbst in verfeinerter menschlicher Bildung, in Jüng-
lingsgestalt geschah, ist durch die praxitelische Gruppe uns bezeugt, in
welcher der wohlbekannte cerealische Bonus Eventus mit Bona Fortuna ver-
bunden war (°’); aber auch die andren seltsamen und rein dämonischen Bil-
dungsweisen desselben Erdgeistes und Reichthumsgebers finden in gleicher
Verbindung sich vor. Es ist Panofka’s Verdienst, die sileneske Bildung
desselben in verschiedenen Gruppen (Taf. III) erkannt zu haben, deren frü-
here Deutung auf Plutos und Kora dadurch mehr bestätigt als bestritten
wird (°%); aber auch eine andre nicht minder derb sinnliche Bildungsweise
entspricht eben jenem Dämon, diejenige nämlich, die in einfacher Phal-
lusform die Zeugungskraft der Natur neben einer grofsen Natur-und Schick-
salsgöttin Tyche anschaulich machte und wegen ihres Bezugs zu dieser letz-
teren auch als Tychon benannt ward (°°). Endlich ist, mythisch verkleidet,
aber darum nicht minder kenntlich, dieselbe Gruppe in der Notiz einer rö-
mischen Fortuna uns erhalten, der in tiefer Verhüllung angeblich Servius
Tullius zur Seite stand (°°). Und so bekundet der bald als Schlange bald
als Silen von uns nachgewiesene „gute” Erdgeist im Übergange zur Phallus-
gestalt auch dem Phallusidol sich gleich, dessen uralte Verehrung, im sa-
über dgathodämon und Bona Dea. 467
mothrakischen Hermes sowohl als auch im Apollo Agyieus, eben so füg-
lich für eine der Kultusformen jenes pelasgischen Agathodämons gelten darf.
Noch andere Bildungsweisen dieser dämonischen Göttergruppe liegen
ebenfalls nahe, müssen aber dem Aaiuwv @ya$os erst durch seine jetzt ein-
verstandne Verbindung mit’Aya9A Tuyn zuerkannt werden. Wenn jener Erd-
geist im jugendlichen Bonus Eventus sich uns kund gab, so kann es wenig
Schwierigkeiten haben, seine wandelbare Naturkraft, wie dort aus bärtiger
Silensgestalt zujugendlicher, so auch aus jugendlicher zur Knabenbildung (*')
umgewandelt zu erblicken: ein Übergang, welcher in den bereits oben be-
rührten Fällen einer mit Eros, Plutos oder Sosipolis verbundenen Nithyia
oder Tyche seine vollgültigen Zeugnisse findet.
Unter so vielen versteckten Namen und Bildungen also gibt jener
gute Erdgeist sich kund, dessen griechische Benennung gemeinhin nur auf
ägyptische Vorstellungen angewandt wird. Will man mit bekannteren grie-
chischen Gottheiten ihn vergleichen, so kommt Pausanias uns zu Hülfe, wel-
cher das obengedachte dämonische Knäblein im Arm der Tyche als Eros be-
zeichnet; noch füglicher aber ist unser Aaiuwv ayaSos mit Hermes ver-
gleichbar, welcher theils seinem Begriffe nach, als fruchtbarer und spen-
dender, doch auch einschläfernder Erdgeist (°?), theils auch in gleicher Zu-
eignung des Schlangen - und Phallussymbols dem „guten Erdgeist” von dem
wir reden ganz gleichbedeutend erscheint. Diese Verwandtschaft ist durch-
greifend genug um aus attischen Stammtafeln den Hermes als Vater des guten
Erdgeistes nachzuweisen, nämlich im Heros Eleusis (°), welcher dem Bonus
Eventus gleichkommt; wie aber der Aaiuwv @ya9ss nie zum Umfang des
Hermesbegriffes gelangt erscheint, so lälst auch umgekehrt sich behaupten
dafs dieser letztere die Eigenthümlichkeit jenes von ihm dann und wann
vertretenen Dämons nicht leicht erschöpfte. Heil - und Unheilschlangen —
die des Apollo, Kadmos, Tason sind beides — haben als Ortsbesitzer gleichen
Anspruch auf Heroendienst (°*) wie auch Ortsgenien italischer Sitte ihn ha-
ben, und selbst die älteste Hermesgestalt, in Viereck und Phallus erkennbar,
darf schwerlich für älter gelten als jenes der ältesten Städtegründung anhaf-
tende Religionssymbol, (6°) dessen Verhältnifs zu Griechenlands anerkann-
testen Kultusformen nun weiter in Frage kommt.
Zu schärferer Bestimmung dieses Verhältnisses blicken wir auf die
schon berührte Götterverbindung einer Natur- und Schicksals-
Nnn?
468 GERHARD
göttin (°°) mit dem ihr scheinbar untergeordneten, zugleich aber mütter-
lich von ihr gepflegten Erdgeist zurück. Wir hatten kein Bedenken, in
den von Sosipolis, Eros und Plutos in Schlangen - oder Kindesgestalt be-
gleiteten Göttinnen Tyche und llithyia dieselbe ’AyaSn Tuyn zu erkennen,
die im Trophoniosdienst mit dem Aciuwv @ya9ös verbunden war; aber wir
durften auch nicht in Abrede stellen, dafs die mancherlei als Pallas, Deme-
ter und sonst benannten Stadtgöttinnen höchster und ältester Geltung, sofern
ihre Obhut dem als Schlange oder als Kind gedachten Ortsdämon verknüpft
ist, eben denselben Typus einer ganz ähnlichen und gleichgeltenden Göt-
terverbindung enthalten. Hinaufreichend in jene Vorzeit griechischer Göt-
terbildnerei, in welcher die Einfachheit pelasgischer Göttersteine der Unter-
scheidung späterer Götternamen noch keinen Raum gab, führen jene und
andre verwandte Göttergruppen und Göttergestalten auf den ursprünglichen
Kultus nicht eines Götterpaars, sondern einer einzigen GÖTTERNUTTER ZU-
rück, welche den beseelenden Dämon des Ortes, das Unterpfand aller
Städte- und Völkerglücks, in bedeutsamer Schlangen- und Phallusgestalt
bei sich hegte. Nach dem bekanntesten Ursitz pelasgischer Kulte, nach Do-
dona, weist jene Göttermutter nicht hin, da weder der überwiegende Dienst
einer weiblichen Göttin noch auch Phallus- und Schlangensymbol von dort-
her ausdrücklich bezeugt sind (°7); wohl aber zeigt sie unleugbare Ähnlich-
keit mit der mannigfach benannten und gestalteten Göttin dardanischer
Religion, deren berühmteste Göttersitze — Samothrake, Chryse, Latium —
bald Phallus- bald Schlangendienst zeigen, und im samothrakischen Götter-
trabanten Kadmilos auch eine Bildung enthalten, in welcher der Phallus-und
Schlangenfetisch zum anthropomorphischen Götterdämon geworden war.
Dem gedachten samothrakischen Göttersystem, welches nach Zeug-
nissen aus der Alexandriner Zeit vier Personen umfassen sollte (°°), kann die
mythologische Kritik aus dem Grund nur bedenklich folgen, weil in seinem
künstlichen Aufbau, der an und für sich mit der Einfachheit ältester Zeit in
Widerspruch steht, manche andre dardanische Gottheit und namentlich auch
das göttliche Brüderpaar vermifst wird, das in dardanischer Mitte kaum
fehlen durfte (°®). Um so sicherer ist es, die wirklich vorhandenen Götter-
gestalten des heiligen Eilands in Münztypen des benachbarten Sestos zu er-
kennen, in welchen, dem oft erwähnten frivolen Mythos von Hermes und
über Agathodämon und Bona Dea. 469
Brimo entsprechend, eine sitzende cerealische Göttin mit daneben stehen-
dem ithyphallischem Hermes den hieratischen Namen von Axiokersos und
Kadmilos gleichgeltend sind. (7°) Zu dieser Gruppe hatten die tyrrhenischen
Pelasger die Göttermutter gesteigert, die auch als kekropische Burggöltin ein
ähnliches Beiwerk von ihnen erhielt (?!); andrerseits genügte statt dessen ein
einfacher Phallus, wie denn als ganz ähnliche weibliche Gottheit, vom phal-
lischen Terminus begleitet, auch die kapitolinische Juventas sich wiederer-
kennen läfst (7°). In übereinstimmender Weise wie dort der derb sinnliche Phal-
lus oder derihm erwachsene Phallusgott, ist der Nährgöttin anderwärts als ihr
zugehöriges Sinnbild geheimen Triebes die bald offen sichtliche bald in der
Cista verschlossene Schlange oder auch eine derselben entsprechende mythi-
sche Person beigesellt. So ist das übliche Schlangenkästchen an Demeters
Seite im attischen Mythos von Erichthonios zugleich zur Wiege des Stamm-
herrn geworden (’?): ein Übergang vom Schlangensymbol zur Kindesgestalt(?*),
dem Mythos des eleischen Sosipolis und schlangengestalter Rettungsgötter
entsprechend, wie als Vater des Zagreus Zeus selbst einer war.
Im Zusammenhang solcher Erörterungen steht nun nicht blofs der auf
Phallus und Schlange beruhende pelasgische Typus eines dem Hermes selb-
ständig vergleichbaren Erdgeistes fest, der als Göttertrabant die Schöpfungs-
mutter begleitet, sondern es wird der dardanisch -samothrakische Mittel-
punkt altgriechischer Kulte, aus denen jene Götterverbindung so mannigfach
bezeugt ist, uns auch zum leitenden Führer für die Erkenntnifs und Wür-
digung entsprechender über Griechenland und Italien weitverbreiteter Göt-
terwesen verwandter Idee und Verbindung. Mit einer im Gebiete der My-
thologie nur selten gestatteten Zuversicht können wir jetzt die Reihe weib-
licher Gottheiten überschauen, denen ein ähnlicher Götterdämon in gleicher
dardanischer Form beigesellt ist. Wenn einerseits aus idäischen, Iydischen,
phrygischen Kulten die Göttermutter mit ihrem Liebling (?°) auf die
dardanische Kulte eingewirkt haben und Aphroditens Bezug zu Aeneas, As-
kanios, Adonis davon betheiligt sein mag, so ist andrerseits ein ganz ähn-
licher Göttertypus auch in den Kulten nicht zu verkennen, in denen Demeter
mit Hermes, Iasion, Plutos, Taechos, Athene mit Hermes, Apollo, Erech-
theus, andre Göttinnen mit ähnlichem Beistand und Beiwerk die Schöpfung
ordnen. Wie diese Göttinnen bald Schlangen und Schlangenkästchen, bald
470 GERHARD
Zeugungs-Licht-und Segenssymbole, an und für sich oder zu Dämonen
gesteigert, zur Seite haben, (7°) ist Hygiea’s Begleiter Telesphoros als Zwerg-
gestalt einem Phallus entwachsen nachweislich (77); in ähnlicher Beglei-
tung eines phallischen Tychon ward Tyche schon oben erwähnt, und ähnli-
che Göttervereine finden, aus gleicher pelasgischer Wurzel, auch in Italiens
Religionen sich vor. Hier überrascht es zuvörderst, den dämonischen Wun-
derknaben, ganz wie der eleische Sosipolis es ahnden läfst, als Ausdruck des
höchsten Gottes entschieden benannt zu finden: bald sind Juppiter und Juno
Fortuna - Primigenia’s Säuglinge gewesen bald ist dieser letzteren ein mysti-
scher Juppiter arcanus beigesellt (°°). Häufiger zwar bleibt dort die ältere
Gestalt solcher Dämonen: im Kultus der Juno Sospita und im allverbreiteten
Ortsgenius ist die Heiligkeit des Schlangensymbols seit ältester Zeit begrün-
det, eben so neben Juventas, die als Erdgöttin des Kapitols der Juno voran-
ging, das Phallussymbol des Grenzgottes Terminus. Ohne Zweifel dersel-
ben uralten Symbolik gehört der uralte, unzugängliche und unaussprechliche,
Genius Roms an, dessen bunt durch einander spielende Deutungen — auf
Mann und Frau, Juppiter, Luna, Ops, Angerona (7?) — im Schlangenbild
andrer Ortsgenien und in dessen üblicher Hüterin eine leichte Erklärung fin-
den. Und als Schlangendämon mag endlich wol auch der etruskische Genius
Jovialis (°°), als Schlangenpaar den Seeis erıdwraus vergleichbar die Grabesgott-
heit der Manen zu denken sein, deren allverbreiteter römischer Name (®!)
nichts andres als „gute Götter” bedeuten sollte.
Zum Schlufs dieser Untersuchungen ist aber auch eine Göttin noch
zu erwähnen, deren gangbarster Name sie als Gurz Görrın bezeichnet.
Diese vom Zusammenhang griechischen Götterwesens bisher fast ausgeschlos-
sene (3?) Göttin ist, weit entfernt blofs italischen Ursprungs zu sein, der älte-
sten weiblichen Göttergestalt Griechenlands, in welcher Demeter und Hera,
Tyche und Eileithyia zusammenfallen, durchaus ebenbürtig. Ihr bisher ver-
milster griechischer Name (®°) ist in der ausführlich von uns besprochenen
Bona Fortuna oder ’AyaSy Tyxn bereits gefunden. Ganz wie bei dieser sind
die pelasgischen Natursymbole, Phallus und Schlange, auch bei Bona Dra
leicht nachzuweisen. Ersteres ist bereits geschehen, sofern die derbe Ge-
schlechtssymbolik cerealischer Thesmophorien auch in den Gebräuchen
der Bona Dea, wie auch in denen der pränestinischen Fortuna Primigenia
über Agathodämon und Bona Dea. 474
sich fand (%*), und dafs eine gleichfalls ganz ähnliche italische Gottheit,
die Dea Dia (%), in ähnlicher Weise verehrt ward, ist aus dem Verhältnifs
abzunehmen in welchem dieselbe gleich der Proserpina zum brünstigen Her-
mes stand. Weniger anerkannt, aber nicht weniger entschieden ist die Gel-
tung des Schlangensymbols im Mythos der Bona Dea, deren mystische Ehe
mit Faunus durch gleiche Verwandlung erfolgt war wie Zeus als mystischer
Gemahl Kora’s sie geübt haben sollte (°°); die Geburt eines mystischen Jup-
piter, vermuthlich des Vejovis (7), wird aus sonstigen Gründen ihr beigelegt
und erhält durch Vergleichung des Bona-Dea-Dienstes mit dem mystischen
Fortunendienst von Präneste höhere Wahrscheinlichkeit. Wie nun solcher-
gestalt Bona Dea bald an die mütterliche Demeter, bald an die vom Schlan-
genzeus bewältigte jungfräuliche Kora als an die in griechischem Götyerwesen
ihr ähnlichsten Göttergestalten erinnert, gehört ihr über allen cerealischen
Kultus und Mythos weit verbreitetesSchlangensymbol mit gleichem mysti-
schem Zwielicht auch den männlichen Gottheiten Altgriechenlands (®°), denen
es bald freundlich bald feindlich, bald als überwundene Schranke der Schöp-
fung, bald aber auch als eine zum Ausdruck der Gottheit gereichende Na-
turkraft zur Seite stand. Nicht nur der orphische Zeus der Zagreussage er-
scheint in solcher Schlangengestalt; auch andere Götter, die vorzugsweise
dem Volksglauben angehören, Hermes sowohl als Asklepios, wurden in glei-
cher Thiergestalt von uns nachgewiesen (*°). Häufiger freilich ist das Schlan-
gensymbol nicht mehr ein Bild des Gottes, sondern nur Beiwerk desselben:
an Apolls Dreifufs, am Schlangenstabe des Hermes und neben dem Hammer
des Hephästos (*°) diente es die Gewalt dieser Götter über alle geheimste
Erdkraft anschaulich zu machen, die, erst besiegt und getödtet, zum Dienste
des Gottes sich neu verjüngt, wie nach dem Tode des Python der schlan-
genumwundne delphische Dreifufs am augenfälligsten es bezeugt. Ebenda-
selbst, aber häufig auch sonst, bei Penaten und Laren sowohl als in apolli-
nischen Heiligthümern, gibt mit gleicher Schlangenumwindung jenes Halb-
rund sich zu erkennen, welches als uraltes Abbild des Himmelsgewölbes
neben Phallus und Schlange verehrt werden mochte und nicht nur im Erd-
nabel Delphi’s und den ihm ähnlichen Heiligthümern erkannt (*'), sondern
auch auf den leuchtenden Häuptern der Dioskuren, zwei Hemisphären dar-
stellend, ebenfalls in der Nähe von Schlangen bemerkt wird (**). Wie in die-
472 GERHARD
sem Falle der unorganische Stein durch bedeutsame Form zum Ausdruck
lebendiger Schutzgötter diente, zeigt sich der oben zur Seite der Götter-
mutter bemerkte Übergang von Phallus und Schlange zur bildungsfähigsten
Kindsgestalt auch bei den vornehmsten männlichen Gottheiten der helleni-
schen Welt. Euamerion (3) bei Asklepios, aber vielleicht auch Ganymedes
bei Zeus, bei Apoll Hyakinthos, bei andren Göttern vielleicht noch andere
Götterlieblinge mögen auf ähnlicher mythischer Ausführung eines und des
andern, derb sinnlichen oder thierischen Göttersymbols altpelasgischer An-
schauungsweise beruhen.
ANMERKUNGEN.
(1) FEINDLICHE SCHLANGEN. Indischer, mexikanischer, nordischer (Grimm deutsche
Myth. S. 649. Panzer Beitr. d. Myth. S.345) Beispiele zu geschweigen, ist die persische
Schlange des Ahriman aus dem Zend-Avesta (Creuzer Symb. I, 223 N.A. Des Mithras dop-
pelfüfsiger Feind: Lajard Nouv. Ann. I, 478ff. Ann. d. Inst. XIII, 191. Mithrasschlange
die Ahrimansschlange bekämpfend: Nouv. Ann. II, 80 ss. pl. VD), die babylonische des
Belustempels aus Diodor I, 9 und dem Buch Daniel (zu cap. 14 dgazwv neyes), die jüdi-
sche aus der Apokalypse (cap. 12 ödbıs agy,aios. Movers Phönic.I, S. 390 £.), die typhoni-
sche aus phönicischer Sage (Movers I, 504-522ff.) und aus ägyptischer Bildnerei (Apophis:
Wilkinson Egypt. Manners V p.243 pl. 42. Lepsius Todtenbuch Kap. 39. S. XVII. Röth Zoro-
astr. Glaubenslehre Anm. 193) bekannt. Feindlich ist die Schlange auch in griechischen
Mythen des rettenden (Thespiä: Paus. IX,26,5. Vgl. Adler und Schlange Anm. 19. Löwe auf
Schlange M. von Phistelia: Carelli tav. 63) und des unterirdischen Zeus (Orph. Arg. 931),
des Herakles, Kadmos, Archemoros und sonstiger Helden (Anm. 64); auch gilt sie, sei es
als Lufterscheinung (Mon. d. Inst. 1,7. Gerhard Ann. V, 349. Auserl. Vas. 11,86. S.22,11),
sei es in schlangenschwänziger Hunds - (Cerberus ebd. S. 154f.) oder Rolsbildung (M. von
Nikäa: Klausen Aen. 1,129. Taf. I, 8. Vgl. Schlange auf Rofs Anm. 21) oder auch drei-
köptig (Schlange am delphischen Dreifufs: Herod. IX, 81. Amalth. I, 123f.), oder in dämoni-
scher Fessel der Unterweltsmächte (Aloaden: ad columnam serpentibus deligati, Hyg. fab. 28),
oder in cerealischem (Pferdekopf Paus. VIII, 42, 3) und gorgonischem (wegen Tempeltluchs:
über Agathodämon und Bona Dea. 4783
Ovid. Met. IV, 795. Bötticher Hell. T. S. 88) Schlangenhaar zu allgemeinem Ausdruck des
Schreckens: eine durch Furiensitte und selbst durch priesterliche Anwendung schreckender
Schlangen, namentlich aus Etrurien (Liv. IV, 33. VII, 17. Mon. d. Inst. II, 5. Vgl. auch das
Grab der Volumnier und Dennis Etr. I, 221. 310, 5) bestätigte Bedeutung, durch welche das
bis ins Mittelalter (Anm. 5) herabreichende Waffenemblem der Schlange (Mon. d. Inst. I, 22.
Vgl. Paus. X, 26, 1) selbst ohne den anderweitig (Anm. 21) bekannten Bezug auf Autoch-
thonie allzeit verständlich ist.
(2) SCHLANGENBAUM UND SCHLANGENSTAB. Um einen Baum gewunden ist die
Schlange Paradises-und Hesperidenwächter, in griechischer Bildnerei (Müller Archäol. 431, 2
auch Grabeshüter, mit behaglicher Gaukelei (Mus. Borb. IX, 49 „‚pastore e tirso”. Münz-
typen von Etenna Pell. II, 74, 2. 3, ungenau bei Eckhel D. N. IH, 11 erwähnt. Vgl. die
Druidenkünste bei Plin. XXIX, 12 und Böttiger Kl. Schr. I, 101. Schlange durchs Trink-
geräth schlüpfend: Senec. de ira II, 31. Virg. Aen. V, 91) um ein Stäbchen geschlungen
ein heilkräftliges Symbol: dieses in der ehernen Schlange der Israeliten (Num. 21, 5. 2 Reg.
48, 4) sowohl als im Hermes-und Asklepiosstab (Macrob. I, 19. Preller Hermesstab, im
Philologus, S. 521), welcher letztere auch als schlangenumwundenes Scepter erscheint
(Panofka Asklep. I, 10). Beides verbunden darf auf einer Münze von Gythion (ebd. II, 5:
neben dem Schlangenstab des Asklepios noch ein Schlangenstamm) erkannt werden, ohne
dafs letzterer für ein Puteal zu halten wäre.
(3) ZAUME SCHLANGE. Von allen bei Aelian (H. A. II, 5.7. IV, 31. X, 31), Pli-
nius VIII, 35 und Solinus cap. 27 erwähnten Schlangenarten ist als zahm und geheiligt zu-
gleich nur diejenige anerkannt, die in der ägyptischen Benennung (a) Uraeus (d.i. Ba-
grie-
chischen &sz:s oder ragsıcs (Anm. 24) verstanden wird. Vom Uraeus unterscheidet Wil-
siırz0s Zoega num. aeg. p. 400. Creuzer Symb. II, 225 ff. 256 N. A.) und in der
kinson (Eg. Mann. V, 235 ff.) noch eine Hausschlange und den gehörnten zes«rrys (Anm. 4);
lediglich dieser letztere ist auch in ägyptischer Bildnerei und Bilderschrift noch aulser dem
Uraeus zu finden (Leemans zu Horap. p. 121 tab. 1, 6-24), während selbst die von Herodot
II, 75 erwähnten geflügelten Schlangen darin fehlen. Allbekannt ist die bildliche Anwen-
dung jener geheiligten Schlange, theils als bauliche Verzierung hauptsächlich von Tempelfron-
ten (Zoega obel. p. 430. Guign. Relig. CXVII, 189), in Verbindung mit Sonnenscheibe oder
Perseablume, wie auch mit Geierflügeln (Hor-Hat, Horus von Edfu: Wilk. pl. 28, 1.77,1),
oder als Gefälshenkel (Zoega. num. aeg. X,1. Neben Harpokrates Mus. Borb. IX, 2), theils
in einfacher (Guign. no. 135) oder künstlich verschlungener (Guign. no. 184. 186a) An-
wendung als königlicher Stirnschmuck, (Aelian. H. A. VI, 18: em: rav Öadruarwv dsmi-
ö«s. Dennis Etr. I p. 311), der ursprünglich für Gottheiten gilt (Osiris: Guigniaut no.
484. Isis ebd. 138. 140. 148 Joh-Lunus 150. Val. Flacc. IV, 353: aspide cincta comas. Isis eine
Schlange haltend bei Io’s Ankunft Mus. Borb. X, 2). Ebenfalls auf Isis als erzürnte Göttin,
vielleicht der schlangenköpfigen Göttin Rennu (Wilk. Mann. pl. 58, 4) entsprechend, mag
ohne wesentliche Verschiedenheit vom Uraeus die angeblich giftige Schlange Trermutkis (Ael.
H.A.X,31. Jablonski Panth. I, 118 f.) zu deuten sein, in deren Namen Röth (Aegypt. und
Zoroastr. Glaub. S. 170) und nun auch Lepsius (Einleitung zur äg. Chronol. S. 140) nur eine
Ausführung des mit Isis gleichgeltenden Mutternamens Muth erkennen. Mehrere Uräen fin-
Philos. - histor. Kl. 1847. Oo0o
474 GERHARD
den sich gehäuft im festlichen Kopfschmuck eines Fahnenträgers (Wilk. pl. 80). Eigen-
thümlich ist die Paarung zweier mit dem Pschend bekrönter Uräen aus Eilethyia (Wilk. pl.
52, 3. 4. Vgl. 53, 1). — Nicht minder ist denn auch (6) in der griechisch-italischen Welt
die Unschädlichkeit sowohl [Paus. IX, 28, I, 4; ihrer viele am Helikon. Paus. II, 28, 1: äsku-
lapische gelbliche Gattung, rg&ps: BE non bäs % rav "Eridavgiow ya. Plin. XXIX, 4:
Hausschlange, vulgo pascitur et in domibus. Serv. Georg. II, 417: gaudet tectis ut sunt
ayaSoı Öwinoves quos Latini Genios vocant. Haus-und Zeltschlange, fünf Ellen lang, die
der lokrische Aias gleich einem Hund mit sich führte (Philostr. Her. 706); auch Heraclides
Ponticus schlief mit einer Schlange (Diog. L. V, 87. Suid. “Ho«zrsiörs). Bekannt aus Lucian
Alex. 18ff. und aus Münzen (Eckhel D. N. III, 383. Ann. d. Inst. XII, 217 £. tav. P, 10 ist
auch die Zauberschlange des bithynischen Glykon und sonstiger, zum Theil bacchischer
Schlangenumgang z. B. der makedonischen Olympias (Anm. 27). — Bergschlangen kennt
Aelian H. A. VI, 36: Eonınav mo0 rov arryurDv dtarai@ew. Vgl. Pitt. d’Ere. I, 38 not. 27 zu Genio
huius loci montis] als die Heilkraft und Heiligkeit ähnlicher Schlangen oder Vipern (Virg.
Georg. III, 417) bezeugt.
(4) ÄsYPTIscHER SCHLANGENDIENST: hauptsächlich aus späteren Isisgebräuchen (Tab.
Isiaca. Vgl. Böttiger Kl. Schr. III, 264) bekannt, aber auch aus altthebanischem Ammons-
dienste bezeugt. Herodot II, 74: eisı de megı O4ßas igoı odıes, avIowmun cudauns ÖrAyun-
ve" 0 Meyaler Eovres Mizgor Övo Heer ogzousı, mebvzor« eE arens 775 AEbarns. FOUS EmO-
Saveıras Samrousı Zu 70) iou Tau Aros: FoUrou yap odews roÜ Seo0 dbavı eivar igous. Als
Ammonisches Symbol wird die Schlange auch in der spätgriechischen Sage (Anth. Palat.
IX, 241. Vgl. Alexander € Ögarovros 7 "Anisuvos Anm. 20) betrachtet, bei Thierverwand-
lungen der Götter sei Ammon zur Schlange geworden. Die Schlangenbestattung, der
Plutarch Isid. p.349 widerspricht, wird durch noch vorhandene Mumien (Wilk. V, 100. 242)
bestätigt, dagegen die Heilighaltung der gehörnten Schlange (zeoasr7s Wilk. pl. 76. Pho-
netisch f) lediglich auf Herodots obiger und gemeinhin (Wilk. V, 245) befolgter Autorität
beruht, der doch nur von unschädlichen Schlangen spricht, während, wie bereits Böttiger
Amalth. II, 189 nach Plin. VIII, 35. Paus. VIII, 4, 4 bemerkte, die zeg&rre: giftig sind. Dafs
die Aegyptier auch schädliche Schlangen verehrt hätten ist zwar nicht unglaublich,
aber dem Herodot widersprechend und sonst unerwiesen (Thermuthis? Anm. 3a), man
mülste denn in dem auch sonst (Anm. 7) unrichtigen Artikel des Horapollo I, 1 auf die
Behauptung Gewicht legen wollen, von drei vorhandenen Schlangenarten sei diejenige hei-
lig gehalten, als Lebens und Todes Gebieter angebetet worden, deren Vergiftung ohne
Bifs schon durch blolsen Hauch erfolgt.
(5) AsAruopämon. Von der Schlange sagt Sanchuniathon bei Eusebius (Praep. I, 10):
Borwızes aure (70 wor) . . AyaSov Ömimove zaAovew. öMorws de zur Aiyymrıo Kund Erovonnd-
doust. rov de nerov obw ... (Anm. 7). Derselbe Name Agathodämon wird ferner als Königs-
name dem „Schlangenwesen” Ophion gleichgesetzt (Anm. 7), aber auch dem Nilstrom ver-
möge der Göttlichkeit, in welcher dieser dem Zeus und Ammon gleichsteht (Röth Anm.
S. 125). Als Agathodämon soll Nilus den Hermes erzeugt haben der bei Manetho (Syncell.
p- 40) ’AyaSod Öwtnovos vios, bei Cicero aber des Nilus Sohn heifst; es wird daher nach
Ptolemäus IV, 5 auch ein besonders fruchtbarer Arm des Nil Agathodämon genannt (Ja-
über dgathodämon und Bona Dea. 475
blonski Panth. I, 98. III, 148) und gemäls der Analogie mit Ophion und Schlangenbildung
auch in der mächtigen Schlange erkannt, auf welche die mit Emblemen gehäufte Sphinx
einer hadrianischen Münze (Eckhel Syll. VI, 15 p. 70. Guign. LII, 172b) als Sinnbild Ägyp-
tenlands aufruht. Im Übrigen ist die Schlangenbildung des Agathodimon auch aus Kai-
sermünzen — Römische mit veo(s?) «y«S(o) day (wv) Zoega num. aeg. tab. II, 9. X.
Guigniaut LII, 180b. Sabatier Iconogr. Imp. XI, 20. Eckhel D. N. IV, 135 —, aus Servius
(eyaSar Öcinovss: oben Anm. 3), aus Lampridius (Elagab. 28: 4egyptios dracunculos Romae
habuit, quos illi Agathodaemonas vocant) und noch aus dem Mittelalter bezeugt, wenn anders
das durch Jacob Grimm mir bekannte Wunderthier Ecidemon an Schild und Helm heid-
nischer Kämpfer am natürlichsten dem an gleicher Stelle im Alterthum üblichen Schlan-
genbild (Anm. 1) und dem ganz ähnlich lautenden Agathodämon gleichgesetzt wird (*).
Vgl. Zoega obelisc. p. 430ss. Böttiger Amalthea II, 188. Creuzer Symb. II, 225 ff. 282
N. A. Wilkinson Egypt. Manners IV, 238. Lajard Ann. d. Inst. XIII, 216.
(6) KNEPHSCHLANGE. Euseb. |. c.: Bawızes de aurd (70 Cwov) "AyaSov Öamove zaAodsıw"
Smorms de zur Alyumrıoı Korb Erovondgovsı. Plutarch Isid. cap. 21 p. 259= VII, 418 Rsk. ov
zaroüsıw auror Kurıb ayevuyrov ovra zur aScverov. Vgl. Röth Aeg. u. Zor. Anm. 79. 106. Als
(*) Mit Verweisung auf Benecke’s Wörterbuch I S. 409. Eine Zusammenstellung der dort nicht
vollständigen Zeugnisse steht mir durch Wilhelm Grimm’s freundlichen Beistand zu Gebote und wird
an dieser Stelle willkommen sein. Demnach ist ‚, Zceidemön ein thier, das der heide Feirefiz (der schwarz-
gefleckte sohn eines weilsen ritters und einer mohrenkönigin) auf dem helm trägt. giftiges gewürm
(schlangen und drachen) stirbt, sobald es das thier riecht. Wolfram sagtertruog ouch durch prises
lön üf dem helme ein Ecıpemonx: swelhe würm sint eiterhaft (giftig), von des selben
tierlines kraft hänt si lebens decheine frist (können sie nicht länger leben), swenn ez
von in ersmecket ist (wenn sie seinen geruch empfinden) Parzival 736, 9-14. dagegen wird
es in einer früheren stelle 481, 11 neben Aspis und andern schlangen genannt, die gift bei sich
tragen. schwertstreiche fallen auf den helm, Ecınemön dem tiere wart etslich wunde geschla-
gen, ez moht der helm dar under klagen 739, 16 -18. Feirefiz hatte von der königin Se-
ceundille, die er liebt, das thier als schildzeichen empfangen, durch der minne condwier Ecı-
DEMOoN daz reine tier hetim ze wäpengegebnin der genäde er wolde lebn, diu küngin
Secundille: diz wäpen was ir wille 741, 15-20. ich (Feirefiz) trage ein Ecınrmon üf
dem schilde, als si mir geböt 768, 24. 25. in Wolframs Wilhelm 369, 26. 444, 8 führt auch
ein anderer ritter das Zeidemön. in dem wartburger krieg wird von dem Ecidemön gesagt, es habe keine
galle, Ezyvemon eintier din pflac, daz was gar sunder gallen Minnesänger bei Bodmer 2, 6b.
darauf erwidert Eschenbach din engel istEzydemön 2, 7b. ein zauberer bindet die haut des thiers
um, die dem gehirn kraft verleiht: eins Dezedemönes (l. Zzidemöns) hüt er umbe bant 2, 13h.
der jüngere Titurel gewährt in folgenden stellen noch weitere auskunft, von Tasme ein pfelle
(kostbarer stoff‘), darinne vertgebilde näch dem tiere Ecidemön: daz edel kosteriche
gesmidet dar mit kunste, üf dem helme füert erz lebeliche, und istiedoch niht lebende:
rich kunst dar an erzeiget, lebelichen vert ez strebende, sö daz von im üf
richten und geneiget (l. geneigen) wirt gesehen in lebelichem wäne. 2959, 3. - 2960, 2. von
dem thier wird die luft gereinigt, drizec künege stent begarwe, ..... die dines vanen varwe warten
suln, dar inne daz edel kunder (das fremdartige geschöpf) Ecıpemon sö spilnde vertmit gufte (mit
freudigkeit); diu werlt von ime gereinen (l. gereinet) wirt, wan die edeln kraft git ez
dem lufte 3311, 2-4.
0002
476 GERHARD
entsprechend wechselnde Namensformen desselben Gottes werden die hieroglyphischen’ Neö,
Chneb, Nub, Num, die griechischen Änuphis (Strab. XV. 817 A), Xvoöß:s (Letronne Inscr. p.
360) und Xvoüß«s (Ortsname bei Ptolemäus) angeführt (Röth Anm. 83); der Name Xvoüß:s der
noch in gnostischen Gemmen (Matter Hist. du gnostie. II p. 32 .pl. IT A, 2. 3. 5. Vgl. Ip. 182.)
der Schlange mit strahlendem Löwenkopf oder auch der kreisförmigen (ebd. no. 11) zur Seite
steht, findet in griechischen Inschriften sich auch als Beiname des Ammon (Letronne p. 125.
345. 360. Röth Anm. 83), während durch sonstige Combinationen (Röth Anm. 111) Kneph
nicht nur dem Nil (Röth S. 124f.) sondern auch dem Pan (Champoll. Panth. pl. 3) gleichge-
setzt wird. Diese Namen als dem Agathodämon gleichgeltend nachzuweisen, hat bereits
Jablonski (Panth. I, 37) ein koptisches nuf „„bonus”, Röth aber (Anm. S. 62) neuerdings
das hieroglyphische Hor nofre eines schlangenköpfigen Gottes (Wilk. pl. 68) beigebracht,
zugleich mit Analogieen für die wechselnde Aspiration (Anm. S. 40). Hiebei ist jedoch
nicht zu übergehen dafs Lepsius die obengedachten hieroglyphischen Belege des Namens
Kneph für unzulänglich oder doch für so spät erachtet, dals dieser Name seiner Ansicht
gemäls nur für ein spät aufgekommenes Prädikat des Widdergottes der südlichen Thebais
(Wilk. IV, 237 p. 21) zu halten sei, ohne auf höhere und ältere Göttlichkeit Anspruch
zu machen.
(7) AGATHODÄMON ASIATISCH. Die bei Eusebius 1. c. in den Begriff des Agathodä-
mon mit eingeschlossene und auch als ägyplisch bezeichnete Vorstellung der kreisförmig
gewundenen Schlange (zöv ö& nerev oc euvezrizov vovrov, nämlich zoo zUrAou, "AyaSov
darnove anaeivovrer), eine dem Kronos -und Janusbegriff verwandte phönieische (Macrob. I, 9)
Vorstellung der Ewigkeit, die auch in der Form eines gekreuzten Theta (Jablonski Panth.
I, 86. Movers I, 504. Röth Anm. 104), der altägyptischen Hieroglyphe für „„Land”,
gesucht wird, findet in altägyptischen Denkmälern keine Bestätigung, wenn gleich Horapollo
(1,1. 2), durch falsche Etymologie des Uraeus von oög« dazu verleitet sie anerkennt, und
darf daher vielleicht für phönicisch, nebenher für chaldäisch und gnostisch (Xvoupes: Mat-
ter Hist. du gnostieisme II pl. HA, 11) gehalten werden. Womit nicht geläugnet werden
genwindung — Ma-
erob. I, 17: draconis effigies flexuosurm iter sideris monstrat. Vgl. Lajard Ann. d. Inst. XII,
202. Schlangenweg: ebd. 213. Mondlauf (wol gar im Gorgohaar: Ann. VI, 318. 324): Ann.
d. Inst. XIV, 58. Zeitflufs: Uschold Vorhalle II, 15 — eine früh und mannigfach gehei-
ligte Erscheinung sei: selbst aus celtischem Götterwesen (Gott Pryd: K. Meyer im Report
soll dals die auf Sonnenweg und Zeitfluls gedeutete Schlan
on Ethnology 1847 p. 304) wird sie bezeugt. Aus phönicischer Mitte, aus welcher auch
eine Schlange als Votivrelief (Gozo: Nouv. Ann. I, p. 175.) bekannt ist, entspricht ferner
jenem Symbol die aus Pherekydes (Euseb. I. c.) bekannte Urschlange Ophion oder Ophio-
neus, zumal wenn es mit der manethonischen Notiz seine Richtigkeit hat, dafs Ophion und
Agathodämon wechselnde Ausdrücke eines altägyptischen Königsnamens sind (Ideler Her-
mapion App. p. 31. Röth Anm. S. 62. 124).— Ebenfalls von phönicischer Weisheit be-
theiligt scheinen auch die überschwenglichen Deutungen zu sein, nach welchen der Uraeus
nicht blofs königliches Symbol der Herrschaft (r«vrozgerwo Horap. I, 64), sondern auch
Ausdruck des Weltgeistes ist (Wilk. IV, 2355. Bunsen Aegypt. I, 442f.)
über Agathodämon und Bena Dea. 477
(8) AAIMRN ATAOOS: wofür erst die römische Zeit, aber doch wol schon seit Nero
(Anm. 5) mit vorangestelltem Adjectiv (Cornut. 27. Vgl. Serv. Georg. IIE, 417: ayaSoı
Öxtuoves quos Latini Genios vocant. Lobeck Phrynich. p. 603) in zusammengezogener Form
den Ausdruck Agathodämon brauchte.
(9) ’AyaSoo SeoV veos: Paus. VIII, 36, 3. Wahrscheinlicher als auf Zeus läfst
jener ’Aya@Sos Seos, dessen Gleichsetzung mit dem "Aya>os daruwv zunächst (Anm. 12)
Athenaeus bezeugt, auf Pan oder Hermes sich deuten (Prodr. S.100), obwohl die Inschrift-
formel Bono Deo Brontonti (ebd.) auch einen mystischen Zeus zuläfsig macht. Bezie-
hung auf Unterweltsmächte wird, wie Panofka bemerkt (T. ©. S. 5, 13), auch durch das
benachbarte Grabmal Aristodemos des Besten” (%27sr0s) nahe gelegt, und in der That
haben Dionysos (Athen. II, 7: dxgerov, deryu@ Ts Övvansws roO ayaSov Teoü) und Hades
minderen Anspruch auf jenen Beinamen als Zeus. Vgl. Anm. 15.
(10) HERooN. Suid. v. ’AyaSod Ömmovos . . . zur &v Oyßzıs 8 nawov yv "AyaSod
Öatuovos. Vgl. Anm. 64.
(11) Manuessirte. Hesych. (Vgl. Suid.). ’AyaSod daimovos, mau To ner Oermvov,
zgterov iwoWEvoV Mage "ASyvatoıs“ zar iv Ösuregev Hınzgar oUrWs Exarouv. Aristoph. Eq. 107:
Fmovönv Added zur Fmeirov, "AyaSod datlovos.
(12) ’AyaSos dalnuv und ZEUS SOTER. Diod. IV, 3: basıv em zWv Osirvav,
örav @x00r0S oiwvos Emididwrar, mgogEmıA.EyEw ’AyaTod darmovos (daher auch sprichwörtlich
od av ayaSo dcimove Paus. 1,5, 4), erav de mer +0 deimvov d1öwreı zerrgu1EvoG Üdarı, Aros
swrhoos emuhwvei.... Nämlich des gemischten milden Regengottes im Gegensatz des berau-
schenden reinen Bewältigers Akratos. Andeutung beider scheint ein kleines Gefäls des Hrn.
Temple zu vereinigen, welches am Hals die Inschrift Aros surrgos, am Bauch aber eine von
Panofka auf den ’AyaSos dam gedeutete Silensmaske zeigt (Arch. Z. N. F. II, 246); ent-
sprechend ist das AyaS(ov Öam)ovos eines aus Akrä bekannten Gefälses (Ann. d.Inst. VII p.
40), wie denn ’Ay«S3 datnove auch als Weihinschrift an Thürschwellen (eisodos Koaryre: Bött.
Hellen. T. S. 92) bezeugt ist. Eben hieher gehören auch folgende Stellen. Athen. II, 7.
38D: za: Seruov &Sero (Arovusos) mooscheger Sau ner® Fe Fire dsgeerov lagvov Erov yeucasSar,
deiyınc 775 Övvausws FoU ayaSod SsoÜ, v0 ds Aoımov Ho zergaevov dmosov Erusros DovRsria
maogemiAeyero de rouru 70 roü Auog Swrpoos Ovone. Hesych. v. ’AyaSodmmonsrei, 0:
&rryororoövrss. Aelian. V. H. I, 20: "AyaSov darnovos Sidovres mgcmorw. Ausnahmsweise wird
die Trinkordnung auch so angegeben, dals dem Becher auf Zeus Soter als drittem
(Pind. Isthm. V, 10) einer auf das olympische Götterpaar Zeus und Here und einer für
die Heroen vorangeht: dieses nach Aeschylos (Schol. Pind. |. c.), wobei denn die Heroen des
Artuwv ayaSos Stelle einnehmen. Wie in solcher Folge ein Trinkspruch an die Olympier
vorangestellt ist, findet die Ansprache an die geheimen Mächte sich verstärkt, wenn den
beiden Bechern für ’Ay«Sos daıuwv und für Zeus Soter ein Becher für Hermes, vermuth-
lich den chthonischen und Schlafgott folgt. Hesych. v. “Esuzs’ rov “Eaızv em morsws eidoug
(vgl. Phot.) Ereyov, za Tareo "AyaSod Öaimovos zer Ads swrngos. Poll VI, 16: "Eaufs f rersuraie
mosıs. Hom. Od. VII, 138: M mUndrW mivdeszov.
(13) Zeus EPpıDoTEs, den auch Hesychius v. ’Erıdwres als Zeus bezeugt, ist dem
Zeus Soter verbunden bei Paus. VIII, 9, 1. Offenbar ist Zeus als ‚„„gebender” Gott ge-
478 GERHARD
meint, wie auch Pausanias es verstand und wie solches auch des Auwöwwetos (Steph. s. v.
drı ddwrw zu ra ayaSa) Bedeutung sein sollte. Aber auch als Dionysos - Akratos
und Geber des reinen Weines ist Epidotes verstanden, wenn Diodor (IV, 3), von der
bekannten Mahlessitte redend, sagt: örav @zgaros eivos Eridiösiree. Vgl. Prodr. S. 97, 118.
(14) GEHEIME NATURMACHT des Zeus Soter sowohl und seiner hülfreichen Schlan-
genbändigung (Paus. IX, 26, 5) als auch des Epidotes den Pausanias als Schlafgott (II,
10, 2) und Empfänger von Sühnopfern (III, 17 extr.) bezeugt, ist längst nachgewiesen
(Prodr. S. 36. 91). Beiden verwandt, aber dem Epidotes eigenthümlich ist neben den
Heilgöttern von Epidauros dessen äskulapische Doppelzahl (Seor emıdurcı Paus. II, 27, 7.
Vgl. Ass zryrıc Athen. XI. 473 B. Prodr. $. 37), die man auf Schlaf und Tod (Prodr. S.
97, 118) deuten, aber auch für das dämonische Schlangenpaar nehmen kann welches uns
im Verfolg dieser Untersuchung allerwärts begegnet. Wenn Panofka (T. C. S.8) dieser
Ansicht mit Vergleichung der Münzen von Epidauros das Wort redet, so stimme ich
vollkommen bei, ohne jedoch die daran geknüpften Folgerungen (S. 8, 39): „,Cista zwi-
schen schlangenumwundenen ’Eriöwr«us” (in der Kircherschen Cista Gerhard Eitr. Sp. I, 2
gesucht), namentlich auch die für den Dämon Epidotes vermuthete Satyrgestalt (S. 9, 41:
etruskischer Kandelaber. Vgl. unten Anm. 34) billigen zu können.
(15) Eupnemismus des Prädikats &ya«Sös, bonus: Prodr. S. 49f. Abh. Etrusk. Gottheiten
Anm. 195. ’Aya<os heilst Hades bei Plato (Phaed. p. 40) und, wie oben (Anm. 9) aus
Athenaeus II 38D gezeigt ward, Dionysos, wonach Panofka T. C. S. 5, 14 allzurasch
mehrere weilshaarige Plutosbilder auf Vasen diesem 'AyaSos Seos zuspricht. Bono Deo
puero phosphoro ist inschriftliche Anrede an den Iacchos (Grut. I, 88, 13). Bonorum Deo-
rum wird als übliche Inschrift von Tempeltischen bei Cicero Nat. D. III, 34 erwähnt, in-
dem er den auch aus Aristoteles Oecon. II, extr. und Athen. XV, 693 bekannten Raub von
Tischen erzählt, welche derselbe durch die Aufschrift "Ay«Sod dainovos sich zueignete.
Den Doppelsinn dieser Zueignung macht eine Erzählung des Plutarch (num. vind. p.542=
VIII, 146. R.) verständlicher, nach welcher Timoleon sein Haus dem ’AyaScs daupuv d.h. den
Unterweltsmächten, vielleicht dem Familienheros des Hauses, weihte: #7» oiziev 'AyaT dei-
ovt zaSızgurev.
(16) NEHMEN UND GEBEN wird in geheimnilsvoller Götternatur stets verbunden ge-
dacht: Aaußavsı za diöwrı sagt Plutarch (defect. orac. 945C) von Selene und Gleiches von
Helios (@roraußausı rov voov drdovs), während Ilithyia nur verbinde, Artemis nur trenne.
(17) SCHLANGEN - UND MENSCHENLEBEN ist in thebanischen Mythen, der Menschen
mit Drachenzähnen sowohl als der mit Kadmos befreundeten Encheleer (nach Welcker Kret.
Kol. 89 von &prs, 0%,5), und in der Sage der Schlangenkinder von Parion ("Odroyevsis Strab.
XII, 388: MuSsvoust dE zul ev dayınyernv Foü yevovs Howe ra neraldareiv 2E ohewc. Vgl.
Plin. VII, 2. Ähnliches wulste Baccchylides von der Laokoonsschlange: Serv. Ann. II, 20) ver-
knüpft, die Millingen (Coins V, 10) auf Anlals einer richtiger auf Demeter zu deutenden
schlangenumwundenen Göttin (Taf. I, 8) erwähnt. Dieselbe Idee beiderseitiger, etwa durch
den Verjüngungsprocels (Anm. 24) der Schlangen glaubhafter, Verwandtschaft gibt in der
Sage von Entstehung der Schlangen aus Menschenmark (Aelian. H. A. I, 51. Plin. X, 66)
sich kund und ist selbst der nordischen Sage (Grimm d. Mythol. II, 648) nicht fremd.
über Agathodämon und Bona Dea. 479
Schlangen mit Menschenköpfen (Lucian. Alex. II, 12ss.) sind aus spät ägyptischen (Taf. I, 6)
und gnostischen Denkmälern bekannt.
(18) GOTTHEITEN IN SCHLANGENBILDUNG sind, insofern wechselnde mythische Zu-
stände beweisfähig sind, Zeus, Dionysos, Ammon, Faunus in ihren Begattungen (Anm. 20),
aulserdem aber nach festem Tempelbrauch Asklepios als epidaurisch- römischer Gott (Panofka
Asklep. S. 21. Taf. II. Vgl. ’Eriöwrys Anm. 14 desgl. 24. Neuer Aeskulap: Luc. Alex. 14),
Hermes als "Egrovvios (Anm. 28), Zeus vermuthlich als I:Awges (Athen. XTV, 639.HErwg ei-
ner der thebischen Sparten nach Apollodor III, 4,1) und als Ktesios (Anm. 29), beide
letztern überdies als Trophonios (Anm. 28); ja es läfst sich fragen ob im Beinamen %,Sovios
bei Dionysos, Hermes und sonst so genannten Gottheiten vielleicht durchgängig auch
5
Schlangengestalt gemeint sei, eine Ansicht der auch die orphische Abstammung des Her-
mes Chthonios von Dionysos und Aphrodite (Orph. H. LVII, 3) und dessen etwanige
(Rückert Troja S. 96) Gleichgeltung mit Erichthonios einigermalsen zu Gute kommt.
Eine Spur für hieratische Schlangenbildung des Dionysos folgt nach Paus. III, 13, 5 wei-
ter unten (Anm. 64). Dagegen sind von weiblichen Gottheiten höchstens Eurynome und Echi-
dna (Anm. 34), aber gewils nicht Hygiea (Anm. 24) irgend je schlangenleibig zu denken.
(19) ERDSCHLANGE. Das aus ägyptischem (Wilk. V, 65. 100) und phönieischem (Della
Marmora Sardaigne p. 198) Brauch reichlich bezeugte Schlangensymbol hauptsächlich tellu-
risch zu fassen wie im häufigen Gegensatz von Adler und Schlange (Klausen Aen. I, 132.
348. Lenormant N. Gal. myth. VII, 12 p. 27) es nahe liegt, in der Abkunft des delphi-
schen und kolchischen Drachen von Gäa mystisch ausgedrückt ist und dem Volksglauben
entspricht nach dem man die Schlange für erdfressend hielt (Nic. Ther. 372. Sil. Ttal. XVII,
499), scheint im Zusammenhang der obigen Darstellung unabweislich, wenn auch der von
Schlangenwindungen entnommenen Bezeichnung von Flüfsen in mythischem Sprachgebrauch
(Forchhammer Ann. d. Inst. X, 279. Hellen. I, 57 f. 114) nebenher ihre Geltung unbe-
nommen bleibt. Minder ursprünglich ist die von Symbolikern des Alterthums (Macrob.
1, 20. Artemid. II, 13) allerdings eben auch bezeugte solarische Bedeutung der Schlange,
die sich zunächst durch ‘das Hervorschlüpfen dieses Thiers aus Verborgenheit zu dem Licht-
blick erklärt. Verbunden sind beide Begriffe in der gleichzeitig auf Sonnenlauf und Welt-
erfrischung gedeuteten Tränkung der Mithrasschlange (Lajard Ann. d. Inst. XII, 215).
(20) HEIMLIcHE ZEUGUNG, verbunden mit ausnehmender Fruchtbarkeit (unbezwing-
licher (nisi incendiis exureruntur: Plin. XXIX, 4) und inniger Paarung (Plin. VIII, 39:
coniugia ferme vagantur, nec nisi cum pari vita est) hatte im Bild zwei sich begattender
Schlangen ihren entsprechenden Ausdruck frühzeitig gefunden. Auf diesem Begriff und auf
dem märchenhaft unterstützten Glauben zärtlicher Schlangenbegattung mit schönen Mäd-
chen (Plutarch sollert. anim. 972. Ael. H.A. VI, 17. Tzetz Chil. IV, 135) oder, wie
Melusina, auch mit Knaben (Ael. H. A. VIH, 11: Aleuas), wurzeln die Sagen dals in Schlan-
gengestalt Zeus mit Kora (Vgl. Arw Orph. H. 38, 6. Sog. Ägina Impr. d. Inst. IT, 34),
Dionysos vielleicht mit Nikäa (Klausen Aen. I, 131), Faunus mit Bona Dea (Anm. 86)
buhlten, und dafs göttergleiche Sterbliche, wie Aristomenes (Paus. IV, 14, 4), Alexander
(Dio Chr. IV, 19: &z Ögazovros 7 ’Anuwvos) und Scipio (Liv. XXVI, 19. Gell. VII, 1)
480 GERHARD
durch Schlangenbesuch ihrer Mütter erzeugt worden waren. Vgl. Böttiger Kl. Schr. I,
128, 2. Klausen Aen. II, 1030f.
(21) OrrtsuürunG der Schlangen (Bötticher Hellen. Tempel S. 88) — in aedium,
adytorum, oraculorum custodia (Macr. I, 20: angeblich wegen Scharfblick des Thie-
res) oder auch in Erd - Wasser und Tempelhut (Serv. Aen. II, 204: angues aquarum
sunt, serpentes terrarum, dracones templorum) unterschieden — ist besonders aus feuchten
Lagerstätten nahe bei Quellen unversiegenden (Forchhammer Hellen. I, 114ff.) Wassers
und aus Brunnenmündungen (Vasenbild Berl. Mus. no. 1676. Panofka Askl. II, 1) bezeugt;
ferner, da jede Ansiedelung von der Nähe lebendigen Wassers auszugehen pflegt, ward
die Schlange auch ein natürliches Bild der Ansiedlung sowohl ("Od:s Kolonieführer Paus.
VIII, 8, 3; Pareias zu Parion Klausen Aen. I, 339) als auch jeden am Erdboden haften-
den Götterschutzes. Besonders nach italischer Vorstellung hat jeder Ort seinen Ge-
nius, und dieser wird in Schlangengestalt gedacht (nullus locus sine Genio est, qui per
anguem plerumque ostenditur: Serv. Aen. V,85, Vgl. Isidor. orig. XII, 4.), wie er als
Schlangenpaar aus einem Gefäls heraustretend auch aus einer etruskischen Grabmalerei
(Bomarzo: Dennis Etruria I, 221), als Deckelverzierung aus einem etruskischen Sarkophag
gleichen Fundorts (Mon. d. Inst. I, 42. Dennis I, 222.227) und auch als Wahrzeichen einer
Grabesthür (etr. Vasenbild Ann. d. Inst. VII iv. D p. 115. Vgl. Fabretti IV, p. 281) bezeugt
ist. ‚Jenem aus römischer Zeit, namentlich aus Pompeji, allbekannten Geniusloci [Taf.I,
1-5. Müller Handb. 405, 6. Vgl. Virg. Aen. V, 84. Pers. I, 113: pinge duos angues, sacer
est locus. Jahn ebd. p. 111. Archäol. Beiträge S. 223. Genio huius loci montis — vor schlan-
genumwundenem Altar etwa Harpokrates — Pitt. d’Ere. I, 38. M. Borb. IX, 52. Vgl. Genius
Zheatri Millin Gal. XXXVIII, 139] entspricht aus griechischer Mitte theils der cizcvgcos
oıs athenischen (Herod. VIII, 41. Hesych. s. v.) und sonstigen Tempeldienstes, zugleich
ein Sinnbild der Autochthonie [Herod. I, 78: opıw y7s ratö«. So bei den drachengesäten
Erd „und Schlangenmännern Thebens (Welcker Kret. S. 73), in Athen bei Erichthonius
und bei Ion (Eur Ion. 1422); nach Pausanias X,26 auch im Schildzeichen des Menelaos und
dem Phallus als 79ws oizovges (Plutarch. fort. Rom. 323 = VII. 281) verwandt], theils der
dann und wann durch Schlangenbild über dem Grabmal (Mon. d. Inst. III, 265. Ann. XIII
p- 18) angedeutete Heros griechischer Grabreliefs (Müller Handb. 431, 2), welcher in der
auch für Kadmos und Harmonia (Apollod. III, 3, 4. Schol. P. Pyth. III, 153), Kychreus (Paus.
I, 36, 1) und andre Heroen bezeugten Schlangengestalt den das Grab umschattenden Baum zu
umschlingen pflegt. (Müller Handb. 431, 2. Grolse Schlange zwischen zwei Bäumchen: Kan-
tharos schw. Fig. Archäol. Zeitung N. F. 23%, 16). So heilst es auch von Scipio’s Grab (Plin.
XVL, 85): subesz specus, in quo manes eius custodire draco traditur. Einem solchen chthonischen
Familienheros— Geniumne loci famulumne parentis Virg. Aen. V, 95. Klausen Aen. II, 1015 ff.
— ist vielleicht der "AyaSs daruuv gleichzusetzen, dem Timoleon sein Haus weihte (Anm. 15)
und dessen Anrufung "AyaSoü Öntnovos (C. Inser. 2684 etc. Franz Elem. p. 319, 2) griechischen
Grabinschriften oft vorangeht; dem Genius loci aber, der bei solchen Verknüpfungen dem Ge-
nius infernus und Juppiter indiges nahe gerückt wird (Klausen Aen. II, 1015f.), kommt grie-
chisch der Zeus Ktesios gleich, auf dessen Schlangengestalt wir hienächst (Anm. 29) zu-
rückkommen. Bei so viel Übereinstimmung griechischer und italischer Zeugnisse für die Schlange
über dJgathodämon und Bona Dea. 481
als Bild der Ortshut findet denn auch die Anwendung desselben Symbols auf den be-
weglichen Wohnsitz des Reisenden, zu Schiff oder Pferd (M. v. Nikäa: Klausen Aen.
I, 129), seine glaubhafte Erklärung — eine Erklärung mit der auch das seltsame Bild ei-
ner auf Pferdesrücken enteilenden Schlange zu betheiligen ist, obwohl es aufser den
mysischen Münzen von Atarneus (Pell. II, 48, 5) auch auf einem Gemmenbild vorkommt,
das allerdings bereits Caylus (V, 54, 5) auf Vorstellungen des Agathodämon, der Erklärer des
Tassie’schen (no. 13252 pl. 56) Abdrucks aber auf ein gestacheltes Corsopferd deuten wollte.
(22) CEREALISCHES ATTRIBUT des Erdsegens und der daran geknüpften Heilkraft
(Anm. 24) ist das ‚Schlangenpaar am cerealischen Wagen und in der mystischen Cista.
In der Hand der Göttin erscheint das der Cista entnommene Thier auf einem Gemmen-
bild (Impr. d. Inst II, 36); den Schlangenwagen fährt statt der Göttin und ihres Lieb-
lings Triptolemos auch wohl eine Siegs-und Weihegöttin (Tassie no. 7773. pl. 45). Ce-
realisch ist auch die Schlangenumwindung eines Granatapfels in einer
chen Gefälsform des Berliner Museums (Neuerw. Denkm. III no. 1964).
(23) APOLLINISCHES ÄTTRIBUT, vom Python als dämonischer Erdfäulnils (rvSw) ab-
geleitet, ist die Orakelschlange (vgl. Anm. 24) am Dreifufs; in ähnlicher Bedeutung waren
Seher wie Iamos (Pind. Ol. VI, 45), Melampus (Apollod. I, 9, 11. Schol. Ap. Rh. I, 118),
Kassandra und Helenos von Schlangen genährt und umgaukelt (Welcker Kret. Kol. S. 79f.
Klausen Aen. I, 187f. Eckerm. Melampus S. 126), wie denn auch Wetterahndung diesem
Thierbeigemessen wird (Ael. H. A. VI, 16). Wohlgeeignet zum Doppelbezug auf Sonnen-und
Erdkraft durch ihre vom Boden dem Lichte zudrängende Beweglichkeit war die Schlange
zu solchem Rufe verborgner Weisheit auch durch ihren Scharfblick (Ael. H. A. VIII, 12
not. Hor. Serm.I, 3, 28) befähigt, der vielleicht selbst sprachlich die Namensverwandtschaft
zwischen ög«zuw und Ötgzw (&£vöegzye: Macrob. I, 20. Anders Forchh. Hell. I, 57), oyıs
und o&ıs (vgl. opıs, epSaruos: J. Grimm Gesch. d. d. Sprache I, 127) erklären hilft.
(24) Zur HEILSCHLANGE wird die von Athene Hygiea und von Hygiea deren Nach-
bild gefütterte Ortsschlange dergestalt dals der spätere Heilgott Asklepios vom schlangen-
reichen (Paus. II, 28, 1) Epidauros in der Schlangengestalt nach Rom gebracht wurde in
welcher auch Münzbilder (Panofka Askl. Taf. II, 3) ihn uns zeigen; auf einer Münze von
Nikäa (Panofka Askl. II, 9) erscheint diese Asklepiosschlange als beflügelter Träger
des Gottes, in ähnlicher Weise wie die beflügelten Schlangen am Triptolemoswagen. Zu
ganz eigenthümli-
besonderer Ausbildung jenes Begriffs der Heilschlange eignete sich die dabei vorausgesetzte
mageias ochıs (Aelian. H.A. Yaute 12, Y magoves, not. Aristoph. Plut. 690. not. Demosth.
de cor. 79 not. Vgl. Spanhem. num. I, 221. Böttiger Kassandra S. 54. Panofka Askl. S. 19)
bekannte unschädliche Schlangengattung zunächst durch ihre schmiegsame, ohne Hand uud
Fufs wundersame (Euseb. Praep. I, 7) Beweglichkeit, die durch zauberische (Anm. 2) und
erotische (Anm. 20) Verschlingung, wie durch daran geknüpfte Weissagung (Opfertlamme:
Böttiger Kl. Schr. I, 130 £.) göttlicher erschien; überdies war auch die Häutung der Schlangen
ein augenfälliger Umstand um zum Symbol der Verjüngung (Macrob. I, 20. Klausen Aen.
1, 132 £. Rathgeber Ann. XI, 75. Eleusinische Schlangenfütterung ebd. p- 47) und Wieder-
belebung (Thylo und Glaukos, Kraut als: Plin. XXV, 5. Apollod. III, 3, 1. Hygin. Fab. 36.
Creuzer hist. gr. fr. p. 193) sie zu eignen. Übrigens ist jenem Begriff der Heilschlange der
Philos. - histor. Kl. 1847. Ppp
482 VGERHARD
kurz vorher (Anm: 23) berührte der Weissagung wiederum verknüpft, namentlich im itali-
lichen Augurium Salutis (Schlange auf Altar. R. Salus: Familienm. der Nonia bei Mo-
rell. consul. 26, 17) einer mit Schlangensymbol bezeugten (Macrob. I, 20), nämlich der
Hygiea gleichgeltenden Göttin. Wunderlich, nämlich auf Äskulap und Salus als Schlan-
genfüfsler ist diese letztere Stelle milsverstanden bei Dennis Etruria I p. 304.
25) TOoDESSCHLAF bringt die durch Grabeshut (Anm. 21) und Erdsegen (Anm. 19)
bewährte Schlange zunächst im cerealischen Symbol des die Ähren begleitenden Mohns:
plenaque somniferi serpens peregrina veneni (Ovid. Met. IX, 6935).
(26) SCHLANGENPFLEGE, von den Heilgottheiten Asklepios (Panofka Askl I, 7. 13),
Athene (ebd. V, 3), hauptsächlich Hygiea (ebd. I, 18. II, 5. 10) geübt, findet auf Münzen
und sonst nicht selten sich dargestellt, zumal wenn die Darstellungen des Hesperidenbau-
mes damit verbunden und dämonische Flügelgestalten (Schiffs-Nike Mus. Borb. X, 15)
angereiht werden. Als Schlangenfutter finden nächst Honig (Serv. Aen. IV, 483) und Honig-
Kuchen (Paus. IX, 39,5. Jahn Beitr. S. 223, 15. Mehl und Honigwasser auf gastlichem Tisch,
ägyptisch: Ael.H. A. XI, 17. Lajard Ann. XIII, 216) auch Fenchel und Pappelblätter (u«g«Sov
zo Aslms Bekker Anecd. p. 279) sich angegeben, alles im Einklang mit den für die Erdmächte
üblichen Gaben. Eigenthümlich ist die äskulapische Fütterung einer Schlange mit einem Vo-
gel auf Münzen von Trikka (Panofka Askl. I, 13), und die ebenfalls äskulapische mit einem Ei,
das der attischen Burgschlange eines Reliefs (Mus. Borb. X, 15) von einer Nike des Seesiegs
gereicht wird.
(27) ZWEI SCHLANGEN finden sich oftmals statt einer einzigen und sind, gleich dem
schlangengestalten Paar von Serapis und Isis (zu Taf. I, 6), dem ein Schlangengespann assyri-
schen Feuerdienstes mit Löwen-und Kuhkopf (Layard Nineveh II, 469) und das auf Sonne
und Mond gedeutete Schlangenpaar eines babylonischen Amulets (Lajard Nouv. Ann. 1,162ss. zu
Mon.pl.IV.1. Vgl. Ann. XIII, 201) entspricht, ursprünglich wol aus männlicher und weiblicher
Schlange gepaart zu denken, obwohl der von Eckhel (D.N.IV, 35) nach Solin angegebene Un-
terschied (Solin. 40: subziliora sunt capita feminis, alvi tumidiores, pestis nocentior, masculus
aequaliter teres est, sublimior etiam mitiorque. Aelian. H. A. II, 26: ö ev Ögeemv 6 ooyv
rev Roov (E81) za Tiv Umyvrv Öaseevr. Vgl. Bochart Hieroz. II, 432) in Kunstdar-
stellungen nur selten (Taf. I, 7. Vgl. M. der Crispina Mus. Sanelem. IL, 24, 209 p. 280)
sich kund gibt. Dals in solcher wechselnder Darstellung bald einer Schlange bald zweier
nur ein und immer derselbe Erdgeist gemeint sei ist sicher: Öginoves dyeSor finden
sich dem dan ayaSos gleichgeltend zu Lebadea neben Tyche (Paus. IX, 39, 5), und Cicero
übersetzt das ’AyaSol Ö«tuovos des Dionys mit Bonorum Deorum (Anm. 15). In mystischer
Cista darf ein Schlangenpaar vorausgesetzt werden wie Olympias als Bacchantin es hegte
(Sgazovras MEyanovus YsıgoyTeis &perzero Fels Sıero:s Plut. Alex. 2), dagegen die ihr ange-
fabelte Liebesumarmung einer Schlange, dem erotischen Bezug der Schlange (Anm. 20)
entsprechend, natürlich nur von Einer Schlange gilt. In ähnlicher Weise wechselt auf
Cistophorenmünzen das Bild einer einzigen aus der Cista tretenden Schlange mit dem eines
Schlangenpaars im Reverse derselben Münzen (Millin Gal. LVII, 274). Zwiefach war
auch der Burghort im Erechtheion (Eur. Ion. 23 Hesych. Phot. v. oizovaov opıw. Vgl. Forchh.
Hellen. T, 131), und erscheint neben Pallasstatuen doch nur als Eine Schlange, wie auch
Athene Chryse zum Bils Philoktets nur eine einzige (Arg. Soph. Phil.), Poseidon aber gegen
über Agathodämon und Bona Dea. 483
Laokoon (Virg. Aen. II, 200. 225) zwei Schlangen aussendet; eben so findet als Stadtsym-
bol auf Münzen sich bald ein Schlangenpaar (Itanos: Cab. Allier VII, 3), bald, wie auf Mün-
zen von Syrakus (Muf. Hunt. 53, 13), nur eine einzige Schlange. Endlich begegnet uns
auch der Genius loci römischer Zeit auf pompejanischen Wandgemälden bald als einfache
(Gell Pompei. pl. 18) bald als doppelte (pl. 76) Schlange; zwei in einander gewundene
Schlangen ersetzen, auf einen berühmten etruskischen Sarkophag (Mon. d. Inst. I, 42) ge-
legt, die als Grabeshüter (Anm. 21) gemeinhin vereinzelte Schlange. Es darf hinzugefügt
werden dals auch die Schlangen des Asklepiosdienstes (Paus. II, 11, 8) in den üblichen Bil-
dungen des Gottes nur in Gestalt einer einzigen Schlange erscheinen. -
(28) SCHLANGENGÖTTER in Doppelbildung. Als solche sind aufser den oben erwähn-
ten Seois 2m:öwreıs (Anm. 14) des Asklepiosdienstes auch die durch Menschenopfer versöhn-
ten Ssor Zgeovuveoı (Anton. Liber. 25) zu betrachten. Wie dort an Zeus, werden wir durch
diesen Ausdruck an Hermes erinnert, dessen Doppelheit auch sonst bezeugt ist (Auserl.
Vas. III, 240. S. 165£.); dabei ist jedoch, auch ohne auf Hermes als Sohn eines schlangen-
gestalten Agathodämon - Nilus (Anm. 5. Vgl. Creuzer II, 108) zurückzugehn, die Schlangen-
gengestalt keineswegs unzuläfsig. Der chthonische Hermes Trophonios mit Schlangenstab
(Paus. IX, 39,2. Vgl. die Schlange auf M. von Aenos u. a. Tafel IV, 8.9) war Bruder
des Asklepios (Cic. N. D. III, 22. Creuzer III, 400 N. A.), dessen Schlangenbildung aus
Epidauros und Rom bekannt ist. Es gehört ferner hieher auch der dem italischen Pe-
natenbegriff verwandte Zeus Kresıos. Dieser Gott, der bald einfach (Prodr. S. 37, 93)
bald auch als Doppelgott (Ares Kryrıcı Athen. XI, 46. 473 B) vorkommt, läfst füglich in
Schlangengestalt sich denken, der Schlangenbildung des Zeus als Zagreusvaters und als
Epidotes, aber auch der des italischen Ortsgenius entsprechend, der in ganz ähnlicher
Weise selbst bei der barbarischen Bevölkerung Italiens, bei Langobarden (Grimm d.
Mythol. I, 648: viperae simulacrum . . ... adorabant) sich wiederfindet. Damit stimmt
denn auch der Umstand ganz wohl zusammen, dals als Anzeichen des Zeus Ktesios (Ads
zrnciou orusie Athen. XI, 46) Amphoren genannt werden, solche vermuthlich wie sie schlan-
umwunden auf Münzen von Sparta (Anm. 74) sich finden; auch die Aufbewahrung des
Ktesios in Schränken (Harp. Krysiou Ars &v ToIs raısıoıs vgl. Bötticher Hellen. Tempel
S. 73) ist mit dessen muthmafslicher Schlangenbildung, die Schlangen in Körben oder Ge-
fälsen (wie im Grab zu Bomarzo: Anm. 21. Dennis Etr. I, 221) gedacht, nicht unvereinbar.
(29) FASSÖFFNUNG, IkScryie, heilst der erste Tag des Anthesterienfestes (Meurs.
Gr. fer. v. ’AuSesrrgte): za Tyv Anegcev ezeivnv HlrEIS jev "AyaTod Öcimovos , "ASyvarcı ds
IlSoryiev moosayogevousw, sagt Plutarch Symp. VII, 10.
(30) SILENSBILDUNG des ’AyaSos Öinwv: nach Panofka’s (T. C. zu Taf. D) Vermu-
thung, welche er auch auf die häufigen Silensköpfe kleiner Votivbilder von Thon (Taf.
XLVII, 1.2.5) ausdehnt.
(31) CEREALISCHE FÜLLE pflegtim Schlangenfutter (Anm. 26) auf Cistophoren und
sonst durch Trauben und Backwerck reichlich angegeben zu sein. Um ein Füllhorn gewun-
den ist die Schlange des als Agathodämon dargestellten Antinous (Berlins Bildw. IS. 89 no.
140), eben so neben dem Harpokrates eines rothen Jaspis in meinem Besitz, der Zusammenstel-
lung von Füllhorn und Schlangenstab an andern Harpokratesbildern (Cuper Harp. p. 32) ent-
Ppp2
484 GERHARD
sprechend. Als verschlungenes Emblem finden beide Symbole sich verbunden auf Münzen
der Byllionen (Num. M. Brit. V, 12 p. 113. Müller Handb. 436, 4) und sonst.
(32) PLUTONISCHES FÜLLHORN. Das Füllhorn, das als Reichthumissymbol dem Gott
Plutos gehört (Anm. 33), ist auch in der Hand des greisigen Erdgottes Pluton-Hades (Mo-
num. d. Inst. I, 4) nicht selten, daher auch die seltsame Darstellung des von Herakles ge-
tragenen Gottes mit Füllhorn (Millin Gal. CXXI, 468) trotz wesentlicher Bedenken (Hy-
perb. R. Studien I, 89) von Welcker (zu Müllers Handb. 412, 5) noch neuerdings lieber
auf Pluton gedeutet ward als auf Zeus. Ein Zeus jedoch, dessen olympisches Ansehn
chthonische Bedeutung nicht ausschliefst, empfängt von Herakles das Acheloushorn auch
im Vasenbilde bei Millin Gal. CXXV, 467 (*). Plutonisch ist denn auch das Füllhorn
gewisser silenesker Dämonen, von denen bei Anm. 58 und zu unsrer Tafel III die
Rede sein wird.
(33) ÜCEREALISCHES FÜLLHORN. Obwohl cerealische Dämonen des vollendeten Kunst-
gebrauchs, namentlich Bonus Eventus, der dem eleusinischen Ortsdämon Eleusis selbst
sprachlich gleichkommt (Anm. 63), meist nur durch Ährenbüschel und Opferschale kennt-
lich gemacht sind (Winck. Stosch I, 1826 ff. Müller Handb. 398, 2. Mit Ähren und Reh?
Gemmenbild Br. Mus. no. 668), so ist doch weder dem Plutos (Prodr. S. 78f. Jüngling
mit Füllhorn. R. Kopf der Kogy swreise auf M. von Kyzikos. Vgl. Jüngling mit Füllhorn
und Schwein auf einem Iatta’schen Aryballos) und den mit Demeter und Tyche verwandten
Dioskuren (Füllhorn bei Dioskurenhüten auf asiatischen u. a. Städtemünzen, Adramyttium,
Amasia, Panticapaeum, Sinope: Pell. I, 37,11. II,40, 12. 48,3. Cab. Hauteroche VII, 20), de-
nen der idäische Tempelhüter Herakles (Anm. 32) und selbst der römische Ruhmesgott H o-
nos (Millin Gal. LXXII, 356. LXXIX, 357. Im schönen, aber vielleicht modernen Berliner
Karneol ‚, Venus, Hercules, Honos” nach Tölken Verz. IV, 18) beigeht, noch selbst dem
Bonus Eventus (Stosch II, 1829) das Füllhorn versagt, dessen herschende Anwendung in
den Händen der Glücksgöttin (Anm. 42) mit cerealischen Bezügen durchaus verknüpft ist.
Jenem Bonus Eventus aber ist Agathodämon oder "Ay«Sos datumv (statt des älteren Act
«ya >ös Anm. 8) als griechischer Ausdruck späterer Zeit schlechthin gleichzustellen. Wie
ein Bonus Eventus mit Ährenbüschel auf ephesischen Münzen der Salonina auch begriffs-
mälsig als #0 aya>ov "Epertov bezeichnet werden konnte (Müller Handb. 398, 2), war vol-
lends die persönliche Auffassung des 'AyaTös dauv als eines Jünglings mit Füllhorn in
späterer Zeit dergestalt durchgedrungen dafs Antinous in der Göltergestalt des Agathodämon
(Anm. 31. Vgl. Cornut. p. 154) ein schlangenumwundenes Füllhorn trägt, ja dals derselbe
Agathodämon im Götterverzeichnils des Cornutus cap. 27 unter den Landgottheiten nächst
Pan und Priapos, unmittelbar vor Demeter und Hestia geschildert wird, dieses in einem
bisher verkannten und in der neuesten Ausgabe (p. 154) der Beschreibung des Priap unter-
. . . [a \/ ni , x Les
mischtem Abschnitt. Es heilst dort: ”AyaSos de darmmv yror marw 6 »osuos iriı BgıSuw
(*) Das Füllhorn, das Herakles bald dem Achelous entnommen (Anm. 32) bald vor der Geryonsthat
von Hermes erhalten haben sollte (Hesych. ’AuarSeiaz xtpas) ist ihm, dem Äpfel und andere Früchte sam-
melnden (Paus. IV, 19
J
4) Tempelhüter Demeters, auch in statuarischer Bildung zuweilen gegeben, wie in
der von Panofka T. €. LVI, 2 als „Eridanatas” bezeichneten 'Thonfigur.
über Agathodämon und Bona Dea. 485
zu wÜrds Tois Augmois 4 6 moossrWüs aurol Aoyos..... Ioosrarys de za owrng Fuv oizeiwv
est... Te 775 "AnarSetas #Egees olzstov aurw doonuc EITW ... Beiläufig: die von ge-
wissen Priapusidolen gehaltenen Hörner, auf welche Osann hiebei (p. 155) nach Neapels
ant. Bildw. S. 122f. verweist, sind nicht cerealische Füllhörner, sondern bacchische Trink-
hörner.
(34) ATAOH TYXH und Acinwv ayaSos waren in Lebadea (Paus. IX, 39, 4: +0
de olzmme Acimovos v2 dya$od zer Tiyns iepov Errıv &yaS7s) und, wenn eine demnächst
(Anm. 35) zu erwähnende Gruppe des Kapitols einem athenischen Tempel galt, vermuth-
lich auch zu Athen mit einander verbunden. Nach ägyptisirender Auslegung (Zoega obel.
p- 513) wurden beide verbunden als Sonne und Mond erklärt; andre Ausleger setzten die
orphische "AyaSy Hovor« (der Athene identisch) damit in Verbindung. Vgl. Prodr. S. 99f.
Schlangenfülsige Bildung der Agathe Tyche wäre für ein solches Urwesen nicht unmög-
lich, wird jedoch an einem bekannten etruskischen Kandelaber (Micali Storia XL, 3) nur
willkürlich vorausgesetzt (Panofka T. C. S. 9, 41).
(35) BonA Fortuna: der ’Ay«S; T)yn und ihrem Dämon durchaus entsprechend
in der kapitolinischen Gruppe des Praxiteles, die Plinius XXXVI, 5, 4 als Boni Even-
tus et Bonae Fortume simulacra in Capitolio anführt — , ein attisches und demnach
ursprünglich vielleicht dem athenischem Tempel der ’"Ay«S% Tuxn (Anm. 36) gehöri-
ges Werk. Denselben Namen scheint eine der zwei Fortunen getragen zu haben, de-
nen Servius Tullius Tempel errichtete. Obwohl die von Panofka T. C. S. 8,40 be-
folgte Annahme einer solchen Bona Fortuna, der Fortuna virilis gegenüber, nur auf den
unsichern Worten des Dionysius IV, 27 — Tiyrs % rege mavra rov Bıv EdoEev ayayı
zeygne Tat —, beruht, so ist sie doch theils dem dortigen Zusammenhang theils auch dem
anderweitig bezeugten (Anm. 36) Dienst einer ’Ay«Sn Tyx%n durchaus entsprechend. Eine
Fortuna Bonae Spei (Tuyns Awnos edermıdos) erwähnt Plutarch p- 323 = VII. 280. R.
(36) ATAOH TYXH hatte, doch wol zu Athen (Altar daselbst: Ael. V.H. IX, 39.
Ob neben dem Prytaneion? Anm. 45) ein laut Harpokration (v. "Ay. Tyyrs vews. Vgl. Sui-
das) von Lykurg und andern attischen Rednern erwähntes Heiligthum. Dieselbe Göttin
erscheint in Götterverbindung (a) mit Themis und Nemesis (Chishull Mon. Asiat. p.
69), welchen Göttinnen sie auch gleichgesetzt wird. ’AyaSy Tuyn 7 Nenesis zur Hy Osus:
Hesych. s. v. Bekker Anecd. p. 209. — Ferner (5) mit Aphrodite und dem auch sonst
(Impr. d. Inst. IV, 12. Panofka T. C. S. 11, 61) der Fortuna verbundenen Pan (Paus.
V, 15, 4); auch (c) mit Zeto und Hekate, sofern diesen, vorher aber der ’Aya&y Tiyn
eine Phiale zuerkannt wird (C. Inser. 2852, 31). — Dieselbe ’AyaSy Tyxn findet sich (4)
mit Zeus, sofern ein Priester Aus vUbisrov zur Tuyrs @yaS7s erwähnt wird (C. Inser.
2693e), und (e) mit Apollo Agyieus, ('AyaSy Tiyn "Arorruvos ’Ayviews) in der Inschrift
eines attischen Appolloreliefs (Böckh C. I. 465. Müller Denkm. II, 130. Vgl. Panofka T,
C.S. 11), aber auch (f) mit den Unterweltsmächten Despöna, Pluto und Persephone
(Schweinsopfer C. Inser. 1464, 11). Vgl. Prodr. S. 99.
(37) "AyaSıy Tiyn als Stadtgöttin auf Münzen von Nikäa (Eckhel Num. anecd. XI,
11 p. 183: Aya9n Tyyr Nezerewv, Faustina jun.) inschriftlich bezeugt, ist nach Eckhel’s
Bemerkung (D. N. II, 426) hauptsächlich auf Münzen asiatischer Städte jenseits des Taurus
486 GERHARD
ein häufiges Götterbild. Im Brustbild, verschleiert, ein Füllhorn und auch wol Aehren
haltend erscheint sie auf Münzen (Smyrna Pell. I, 1 p. 64. Millingen Coins V, 13. Vgl-
Pell. I,55,1. 76,28: Erythrä, Heraclea Cariae) und Gemmenbildern (Tassie no. 1793. pl. 48),
eben so auch mit der mystischen Cista im Revers (Hgezyvav Cab. Allier IX, 16).
(38) ’AyaS% Tiyn als Eingangsformel öffentlicher und sonstiger Inschriften (Franz
Elem. epigr. pag. 318s.) ist allbekannt; als wechselnde ähnliche Formeln finden auch
Seo: ’AyaTav ruyan, Teor "AyaTov FUxev, Ieös ayaTos "AyaSa TUyE zur em Fwrrgie, auch
’Ayasf Tuyn Zeve Ewrng (Ebd. p. 318) sich vor. Eben dahin gehört die Formel eines
mit allerlei Gaben, vermuthlich Backwerk (Etym. M. "Yyısiav. Lobeck Agl. 11,707) vonobscöner
(Anm. 59) Form begleiteteten cerealischen Bettelgesangs: d2£aı rav ayaSav ruyev, deEau
rov Uyıziev, av pegonev magc no TEN.“ (Arg. Theoer. p. ar Bergk. Poet. Iyr. p.'883, 18.
Welcker Kleine Schr. I, 407).
(39) Geburtsgöttin ist Tyche in der hochzeitlicheu Zusammenstellung Tdyrn za
"Egusı yereIAtors eVEoner (Phot. Bibl. II p. 367. Panofka Arch. Zeit. II, 251).
(40) Todesgöttin ist Tyche vermöge des Begriffs einer Schicksalsgöttin, doch
sind Kunstdarstellungen solchen Bezugs durch den seltsam (gleich bauschigem Gewand)
umgürteten 'Todtenkranz eines rohen 'Thonbildes (Panofka T. C. XXXI S. 98) noch nicht
hinlänglich nachgewiesen. Eine Grabesgöttin jedoch heilst sie in der Sprache orphischer
Hymnen (Orph. H. 71, 5: ruwßeöry) und auch in römischer Zusammenstellung mit Spes
und Venus (Fortunae Spei Veneri et memoriae Claudiae Semnes Zoega obel. p. 370.
Uhden in Wolf’s Museum d. Alterth. I, 542) erscheint sie als solche.
(41) ’AyaSg Tiyn und ’AyaSod daimovos sind wechselnde Formeln auf Grab-
inschriften (Franz Elem. p. 319, 2). Beides verbunden findet sich in der Formel Seös
(Mews &17) Ayaıy ruyn "AyaSod Öwimovos (Bull. d. Inst. 1841 p. 57s.).
(42) CEREALISCHES FÜLLHORN. Das Füllhorn, als Attribut Fortunens (Forzuna cum
cornu pomis ficis aut frugibus autumnalibus pleno: Arnob. VI, 25) allbekannt und bereits
aus frühen Darstellungen derselben (Paus. VII, 26, 3) bezeugt, kommt von allen Göt-
tinnen vielleicht auch nur ihr ausschliefslich zu. Auf die Hore Eirene geht es über, weil
sie wie Tyche den Plutos trägt (Prodr. 79, 64), und dem cerealischen Bonus Eventus
wird es in seltnen Fällen (Anm. 33) gegeben; für Demeter aber, zu deren Begriff es
wohl geeignet sein könnte, ist es nur in dem Sinne nachweislich, in welchem Demeter
und Zyche, hauptsächlich neben Dionysos, die gemeinsame Götteridee einer Ceres - Fortuna
(Prodr. S. 99, 131. Taf. CCCXI, 19-22) darstellen. In solchem Sinne findet hie und da
bei Göttergestalten sich auch die Verbindung von Aehren und Füllhorn (Gemmen: Gal.
d. Fir. V, 46, 4).
(43) VERSCHLEIERUNG ist dieser Göttin hie und da, namentlich auf asiatischen
Münzen (Anm. 37) neben den allbekannten Attributen Fortunens — Mauerkrone und Füll-
horn, auch Ruder —zu besonderer Auszeichnung ihres Begriffs als Städtegöttin gegeben.
(44) DIENENDE FORTUNEN, auf Münzen von Laodicea, Amasıa u. a. (Prodr. S. 109
zu Taf. IV, 8) die oberste und auch wol gröfser gebildete Tyche bis zur Vier-oder Fünf-
zahl umgebend. Eine stehende vor einer sitzenden auf Kaisermünzen von Diocäsarea (M.
Jul. Philippus: Sestini Lett. IX, 3, 7).
über Agathodämon und Bona Dea. 487
(45) Tyene’s Liebreiz: Aelian.'V. H. IX, 39: Nedvisrzos ASyımsı oVv e0 yeyovorwv
moös vu Iguravsiu dvögıevros Errüros Ye "Ayaıns Tiyns Seguorere HonsSy . . Sollte dies
Bild vielleicht eins und dasselbe sein mit der praxitelischen Bona Fortuna (Anm. 35. 36)?
Man wird an die als Persephone’s Gespielin bekannte Okeanide Tyche (Hes. Theog. 360.
Hom. H. Cer. 421), aber auch an derselben Göttin Geltung als Schöpfungs-und Schicksals-
göttin, als mächtigste der Mören nach Pindar (fragm. 13. Paus. VII, 26, 3) dabei erinnert.
(46) Tixyn Sewv. Paus. I,11,8: avazeraı ayaruara ev sh oro&, Aviv zar "Erarss,
"Abdgodirn re zer Ayuysng zer Oeuv T)yr, wie ich nach mehreren Handschriften aus früher
(Prodr. S. 99, 132) erörterten Gründen zu lesen fortfahre, obwohl bei Bekker und Walz
Myryo Sewv za Tuxyn vorgezogen wird.
(47) Als Städtegründerin erscheint Tyche gleich Themis (Etym. Harp. Suid. v.
Bouxere. Prodr. S. 95f.) vom Stier oder Steinbock getragen nicht selten in Gemmenbildern
(Prodr. S. 83, 83. Delphin und Dreizack Impr. IV, 11. Vgl. ebd. 12 mit Pan) zugleich
mit neptunischer Hindeutung auf Meergeburt.
(48) TxvcHE und Eros. Paus. VII, 26, 3: od« zaı olznıe Ev Alyeio Sersanevos ayamın
yv Ev FU olaynerı Tuyns; 70 zeoas hegouse 70 AnarSeiac map dE aurnv "Egws mreoc Ey mv
sr... Vgl. Aristoph. Av. 1315: Tuyn movov maosein" Zarey,ovsı Ö "Egwrss euds morEwsS.
Dieselbe, auch aus römischen Wandgemälden (Taf. I, 1. Vgl. Mon. d. Inst. III, 6) und
Gemmenbildern (Taf. IV, 13) nachweisliche, Zusammenstellung findet im Amor sich wieder
der neben einer der beiden Fortunen von Antium schwebt (Taf. II, 12). Eben dahin ge-
hört das Gemmenbild eines Flügelknaben der ein sehr grolses Füllhorn hält (Aurou: Tassie
6607 pl. 43), und die auf römischen Münzen nicht seltene Darstellung von Füllhörnern aus
denen Kinder hervorgehn. Vgl. Creuzer Symb. IV, 302 N. A. Gerhard Prodr. S. 54,
81. Schulz Ann. d. Inst. XI, 122 ss.
(49) TychE MIT PLuTos, vermuthlich nur durch Zusatz eines Füllhorns vom obi-
gen Eros verschieden. Paus. IX, 16, 1: Oy@atoıs de here 700 Anuuwwvos ro iegöv oinworzomelov
He Terserioy Aahoulsevov zaı mern tov Tuyns errıv iegov" hegsı jasv ön IModrov raide. Gesicht
und Hände des Bildes waren von Xenophon aus Athen, das Übrige von Kallistonikos aus
Theben (*). Als ein verwandtes Kunstwerk vergleicht Pausanias die Gruppe des Kephi-
sodotos, in welcher Plutos von Eirene gehalten erschien (IX, 16,1. Vgl.I, 8, 3. Gerhard
Auserl. Vas. II, 83. Elite eeramogr. I p. 80. 309. II p. 145). Aufserdem ist die Verbindung
von Athene Ergane und Plutos aus Thespiä (Paus. IX, 26, 5) zu vergleichen.
(*) Eine ähnliche Gruppe, in welcher der Knabe ungeflügelt, die mit Modius bedeckte Göttin aber
Tixn genannt und an eine Säule gelehnt ist, findet sich auf einer Münze von Melos (Taf. IV, 12), bei der
man an eine mehr venusähnliche Gruppe athenischer Münzen (Cab. Allier VII, 17. Vgl. Müller Denkm.
H, 99 „Demeterund Iacchos”) wie an andre ähnliche auf Münzen von Halikarnass (Sestini N. Lett. VII, 2, 4)
und von Sidon (Pell. Lettres I, 1, 8: „Esel?” daneben, oben Astartewagen. Vgl. Eckhel D. N. IN, 371) erin-
nert wird. Ferner wird die seltsame auf Ceres und Neoptolemus gedeutete Gruppe einer Münze von Ama-
stria (Taf. IV, 14 nach Cab. Allier X, 13: Frau mit kauerndem Kind) in diesem Zusammenhang verständ-
licher, wie denn auch der von Klausen (Aen. 1,153. TE. I, 10,) auf Hestia gedeutete Münztypus von Ske-
psis (Verschl. Frau mit daneben stehendem Knaben) verwandt sein mag. Hauptsächlich aber ist die durch
Ruder unverkennbare und von sitzendem Knäblein begleitete Fortuna wichtig, welche auf einer ansehn-
lichen Glaspaste des Berliner Museums (Taf. I, 14) mit Herkules und Minerva gruppirt erscheint.
488 GERHARD
(50) Irırayıa unn Sosıpouis. Paus. VI, 20, 2: ’Ev de reis miganı so0 Kooviov . ..
eorıv Ev nErw Tau Syravgwv za To0 ogous teoöv EirsSuies, Ev BE ara Nwoimoris "Hr.sors
Eriyuigtos dauamv Eyzı Funds. ryv ev 4 EireıSvev Erovonagovres "OAywriav (Vgl. Tuyn Sewv
Anm. 46)... . Folgt die Beschreibung des geheimnifsvollen Dienstes welchen Sosipolis
im Adyton des Ilithyiatempels weinlos erhielt (furchtbare Eide wurden auf seinen Namen
geleistet) und die Sage von seiner Erscheinung. Im Krieg gegen die Arkader war den
Eleern eine Frau erschienen, die einem Traumgesicht zufolge ihren Säugling zum Beistand
darbot: nackt auf den Boden gelegt ward im Angesicht des Arkaderheeres das Kind zur
‚Schlange (Anm. 74) und brachte beim Anblick des Wunders die Feinde zur Flucht. Ohne
Zweifel ist dieser Sosipolis, dem eine tief verhüllte Priesterin Aure« und Honigkuchen
(Anm. 26) zur Speise brachte, eine Schlange; gleichfalls zu Elis aber ward neben Tyche
Sosipolis in der Gestalt eines Knaben verehrt, der in sternenbesäte Chlamys gekleidet
ein Füllhorn hielt (VI, 25, 4) — , dieses in einem nicht grolsen Nebengebäude des Tyche-
tempels, &v olzyuarı od neyaAw, welches an die vorgedachten Gebäude mit ähnlichen Grup-
pen, an Tyche mit Eros im ciz7u« zu Aegira (Anm. 48), an Tyche mit Plutos im Tyche-
tempel zu Theben (Anm. 49), an ’Ay«Sy Tyyy mit "AyaSos daimuv zu Lebadea (Anm. 34)
und im attischen Prytaneion (Anm. 45), aber, bei so sichtlicher Gleichsetzung der Schlan-
gen-und Knabengestalt (Anm. 61. 74. Prodr. S. 103. Rathgeber Allg. Encykl. II, 3, 120),
auch an den Rundbau einer asiatischen Münze (Eckhel Syllog. V, 7 p. 49ss.) erinnert, an
welchem ein Schlangenpaar die vermuthliche Bestimmung ähnlicher Gebäude uns nachweist,
den schlangengestalten Ortsdämon zu pflegen.
(51) Ilithyia als webende Schöpfungsgöttin aus Delos und sonst bekannt (Prodr.
S. 31, 77), hier aber durch das Beiwort Olympia besonders hervorgehoben.
(52) Rettung, owrygi« (Paus. VII, 24, 2), als kosmischer Begriff: Prodr. S. 57.
fl. Zwrrgie cerealisch auf Münzen von Metapont ebd. S. 97, 120. Luynes Etudes
num. p. 9.
(53) TEMPELSCHLANGEN sind hauptsächlich bezeugt aus dem Dienst der Burggöt-
tin Polias zu Athen (Herod. VIII, 41. Hesych. oizovgos os. Vgl. Paus. I, 24, 3 & Bouradav
— statt omovdaısv? Gerhard Zwei Minerven. 1848. Anm. S. 11,54 — öaiuwv) und der spartani-
schen Chalkiökos (Hesych. v. ögazeurcs), womit die Athene Pareia (Paus. III, 20, 8. Mül-
ler Kl. Schr. I, 180, 54) zu vergleichen; ferner der eleusinischen Demeter (Steph. Kuygsios
mayos. Vgl. Strab. IX, 1. 393) und Xora (Taf. II, 1. 2. Vgl. auf M. von Priansos Pell. III,
100, 52 die nackte Göttin mit Schlange und Palme. R. Poseidon), wie auch der pelasgi-
schen (Tyrospiegel: Millin Gal. XXV, 425*. Gerhard Etr. Sp. II, 170) und lanuvinischen
Juno (Jungfrauenprobe bei Aelian. V. H. XI, 16. Prop. V, 8, 3ss. Böttiger Kl. Schr. I, 178f.
Gerhard Abh. Etr. Gotth. Anm. 67). Von männlichen Gottheiten zeigen das Schlangen-
symbol neben sich Apollo und Asklepios in Attributen, und in den Gebräuchen ihres Dien-
stes auch Hermes und Dionysos, aulserdem manche Heroen wie der auf Münzen von Za-
kynthos abgebildete und bekannte Stammheld dieser Insel, den Eckhel D. N. II, 273, zwar
lieber auf Asklepios oder Aristäos deuten wollte. Auch neben den Dioskuren findet auf
einem griechischen Relief (Taf. I, 3) ein Schlangenpaar sich vor. Zeus selbst ist von
gleichem Symbol schwerlich auszuschliefsen. In bedeutsamem Gegensatz zu einem Zeus
über Agathodämon und Bona Dea. 489
des Revers, ohne Zweifel dem des dardanischen Zeus, findet die Schlange sich auf Mün-
zen von Dardanos (Pell. II, 52, 22), wie auf Münzen von Kos zu dem des Asklepios
(Pell. I, 102, 9), und auch das römische Kapitol gewährt die Spur einer Zeusschlange
(Anm. 79). Einen stehenden Zeus- Dionysos mit Adler, Traube und Schlange geben die
Münzen von Kassandria (Pell. Mel. I, 21, 1).
(55) ATHENE Hy6iEA (Paus. I, 23, 5), deren athenische Statuenbasis neuerdings ent-
deckt ist (Bull. 1840 p. 68. Panofka Askl. S. 31. Rochette Lettre A Schorn p. 396 s.)
und deren Sitzbild (Plut. Pericl. 13) Panofka (Askl. Taf. V, 3) in einem Münztypus von
Nikäa vermuthet. Vgl. Creuzer Symb. II, 403ff. Panofka Heilgötter der Griechen S.
3fl. Asklepios S. 31f. Jahn archäol. Beitr. S. 222f). Hygiea die Asklepiostochter,
die in Athen neben Athene Hygiea aufgestellt war, ist als aus dieser entstanden und als
eine Göttergestalt des späteren Hellenismus zu betrachten. (Vgl. Panofka Askl. S.31ff.) Weni-
ger abstrakt, sondern als herschende und Orakelgöttin gleich Juno und Minerva bezeugt, war
die italische Salus (Tac. Ann. XV, 53. Böttiger Kl. Schr. I, 127ff. Jahn Beitr. S. 224.
Gerhard Etr. Gottheiten Anm. 112).
(56) SCHLANGEN BEI FORTUNA zu finden ist allerdings selten; unter den sechs For-
tunen auf Münzen von Amasia (Prodr. S. 109, 203) wird von einer der Nebenfiguren
eine Schlange gehalten. In die Menge der auf Alltagsleben bezüglichen Fortunenbilder
ging jenes der Fortuna Primigenia zustehende Schöpfungssymbol begreiflicherweise nicht
über; diese letztere dagegen lälst cerealischen Sitzbildern mit Schlange (Taf. II, 2) ganz
entsprechend sich denken, und erscheint in eine Doppelheit ätherischer und tellurischer
Macht aufgelöst wenn Dionysos zwischen Tyche und Hygiea (Paus. IX, 26,5), wie andre-
mal neben Demeter und Kora, erschien.
(57) Boni Eventus et Bonae Fortunae simulacra: Plin. XXXVI, 4, 5. Müller Handb.
398, 2. Oben Anm. 35.
(58) SILENESKE BILDUNG mit einem Füllhorn in der Hand erinnert, wo eine
solche Figur ausgestreckt auf einem Widder sich findet (Fogelbergsche 'Thonfigur, jetzt
in München), theils an Hermes Kriophoros theils an den Widder als Todtenopfer. Ähn-
liche Silensfiguren mit Füllhorn finden sich nun aber mehrfach mit einer Frau ge-
paart, welche ich demnach als eine mit Plutos vereinte Kora zu fassen pflege (Taf.
III, 1-5); Panofka (T. C. Taf. I S. 1 ff.) zieht vor einen Agathos Daimon mit Agathe
Tyche darin zu erkennen, und deutet scharfsinnig auf gleiche Weise auch die wieder-
holte Verbindung von Silens-und Frauenkopf, dieser verschleiert, vielleicht auch mit Flü-
geln, auf einem berühmten etruskischen Goldschmuck (ebd. S. 10 zu Mon. d. Inst. II, 7.
Ann. VI, 244). Dieselbe Verbindung eines Silens mit einer Frau wiederholt sich aber
auch in Gruppen, in denen die gleichmälsige Paarung eines Gottes mit einer Göttin un-
gleich mehr zur Deutung auf Liber und Libera sich eignet (Panofka T. C. XLIX, 1. 2).
Ähnliche Paare sind auch aus etruskischen Bronzen (Gerhard Bildw. CCCIH, 6. 7) nach-
weislich, in denen die Vergleichung mit Faunus und Fauna nahe liegt. Einen Silen mit
einer nackten Frau, die Flöten hält, an eine Säule gelehnt, zeigt der Kamee Impr. d.
Inst. IV, 45. 1
Philos- histor. Kl. 1847. Q0qgq
490 'GERHARD
(59) TycHon. Hesych. Etym. M. v. Tuyoor. evıcı Tov “Epunv, arrcı Ö8 rov megi va
"Apgodırnv. Diod. IV, 6: ro0rov röv Szov rıves ev IOUDEAAoV ovonagous, swes de Tuywva ...
örwsobVrare zuv dumeAuvuv amodsızvuvres. Als phallischen Dämon bezeugt den Tychon
auch Strabo (XIII. 588. Vgl. Creuzer II, 436. Panofka T. C. XLIX S. 9, 47. 139f.
Archäol. Zeit. II, 249ff.), und das zu Aquileja gefundene Relief eines geflügelten und
neben Fortuna einherschreitenden Phallus (Taf. IV, 3) stimmt damit überein. Nebenher
freilich gab die Wortbedeutung auch den allgemeiner gefafsten Begriff eines Glücksdämons
an die Hand: die Lanze, mit welcher Pelopidas seinen Feind erlegt hatte, nannte er Tychon
(Plut. Pelop. 29) ohne dafs ein phallischer Nebenbegriff dabei zu suchen wäre. Eher ist
ein solcher bei dem schon oben (Anm. 38) berührten Bettelruf der Hirten de&aı av aye-
Sdv ryyav zu suchen, die mit allerlei spalshaften Gaben (Arg. Theoer. dögreı dt zus
Ara wa madıds zur yeruros Ey,ousve) begleitet war.
(60) Fortuna unD Servius. Dion. Hal. IV, 40: &v yap ru ve ris Tuyxns, ov avros
HATETHEURTEV, six auroü zeuaeun Evrmy HarEygUTos, Eumgnews yevonEung, ToV @AAwv mavruv
dab Iagevrwv jaovn Ilmewev .. . za Erı vüv... j eizwv, or moorepov vv, aoyaien TYV ZarTE-
szeunv Ötamzver . . . (Vgl. Plin. VIII, 74: togam undulatam in aede Fortuna, qua Servius
Tullius fuerat usus). Ovid. Fast VI, 565: Sed superiniectis quis latet iste togis? Servius est...
Seit ein ganz ähnlicher phallischer Telesphorus mit beweglich übergedecktem Gewand
bekannt ist (Anm. 77), liegt nichts näher als jene Fortuna mit dem vermeintlichen Ser-
vius bekannten Gruppirungen von Hygiea und Telesphorus zu vergleichen, wobei
auch Sestini’s (Ann. d. Inst. II, 158) Meinung sich wieder aufdrängt, Tylos der lydische
Triptolemos bedeute eigentlich einen Phallus; die Lautähnlichkeit mit Tullius liegt am
Tage. Uebrigens scheint jene Gruppe nicht sowohl dem Tempel der Bona Fortuna (in
welchem Panofka S. 8, 40 demnach mit Unrecht den Lar familiaris sucht) als dem der
Fortuna virilis anzugehören, sofern nämlich diese der Fortis Fortuna gleich ist, deren Fest
die Kalender auf FIT Kal. Jul. angeben (Prodr. S. 106, 167).
(61) Diese Knabenbildung des Artnwv ayeSos, im Eros, Plutos, Sosipolis schon
oben (Anm. 47 ff.) nachgewiesen, ist vielleicht auch als dämonische Vermenschlichung der
Schlangen - (Anm. 17) oder Phallusgestalt denkbar: der schreitende geflügelte Phallus des
Reliefs von Aquileja (Anm. 59) sowohl als auch die Entwickelung Eros des Flügelknaben
aus dem thespischen rohen Stein (Paus. IX, 27, 1) spricht dafür.
(62) HERMES DER ERDGEIST: spendend als durugp Zar, Zgiovvios, azemmsıos (Prodr. S.
87. 100), welches attische Prädikat dem «ya Ss Öainwv zukommt; einschläfernd als Aeurop-
gerıs, nämlich mit dem Stabe (Od. XXIV, 3) FA F Avögwv Ounare Seryaı . . . . Fous dE
(Etr. Spiegel I, 57) z«i Urvwovres Eysıpsı. Phallische Hermenform und die Schlange am
Heroldstab sind gleicherweise bekannt und hieher gehörig (Anm. 65).
(63) Eueusıs des Hermes Sohn: Paus. I, 38, 7. Hygin Fab. 275 (Eleusinus). Creu-
zer zu Cie. Nat. D. p. 606. Der Bonus Eventus (Anm. 33) ist nur eine römische Ueber-
setzung jenes im Sinne prägnanter Erscheinung von erTewv, venire (Vgl. Eileithyia, Venus)
abgeleiteten Stammes.
(64) HEIL-UND UNBEILSCHLANGEN sind der delphische Python, dessen Tod Apollo
zu sichern hatte (Müller Dor. I, 319ff.), der salaminische Kychreus (Steph. Kuxgsios r«-
über Agathodämon und Bona Dea. 491
yos) dessen Heiligthum Pausanias (I, 36, 1) bezeugt, ohne Zweifel auch die von Ja-
son und Kadmos besiegten Schlangen: nicht unmöglich dafs das von Suidas (v. "Ay. dan.) er-
wähnte thebische 7390 "AyaSoU daruovos ein Heroon jenes kadmeischen Drachen war, des-
sen Geltung als Ausdruck besiegter Autochthonen (Welcker Kret. 78.ff.) nebenher nicht
geleugnet zu werden braucht. Von Ares und Telephassa-Erinnys (Schol. Soph. Ant. 117)
den zürnenden Erdmächten des Landes erzeugt, wie auch der Hesperidendrache Ladon
Gäa’s Kind heifst (Schol. Ap. Rh. IV, 1396), heischte er Jünglingsopfer (Eur. Phoen.
941. Philostr. Im. I, 4) und mufste in Zeiten der öffentlichen Noth gleich ähnlichen Erd-
mächten versöhnt werden (Welcker Kret. Kol. S. 78ff. Noch unerklärt ist das Gemmen-
bild eines Heros, welcher zu Pferd gegen eine Schlange kämpft: Impr. d. Inst. I, 24).
In verwandtem Doppelsinn lälst auch eine bei Pausanias (X, 33, 5) erhaltne Legende im
bacchischen Ophiteia ein Kind von einer Schlange genesen und sterben. Wie übrigens
der gedachte Kychreus Schlange sowohl (od: Steph. I. c.) als Heros (Paus. 1. c.) heilst
und "Od:s als Kolonieführer anderweitig bekannt ist (Paus. VII, 8, 4), darf es für wahr-
scheinlich gelten dafs der in spartanischem Geheimdienst oben angestellte Heros, welcher den
Dionysos Kolonatas nach Sparta gewiesen hatte (II1,13,5), eben auch nur eine Schlange war.
(65) PHALLUS UND SCHLANGE, neben Kopf und Bock des Hermes wechselnd, auf
Münzen von Aenos (Taf. IV, 7-9): beides einander entsprechende Zeugungssymbole nach
Klausen Aen. I, 131.
(66) NATUR-UND ScHicKSALS bedeutung griechischer Gottheiten ist, vom physischen
Element allzeit ausgehend, in meinem Prodromus mythol. Kunsterklärung (Vgl. Hyperb.
röm. Studien I, 53) so durchgängig angenommen und nachgewiesen worden, dafs ich
ohne Befürchtung späteren Mifsverstandes (Panofka T. C. S. 7, 29) in Tyche und ihrem
Dämon eine „allgemeine Idee waltenden Schicksals und Geistes” (Prodr. S. 80, 70) an-
nehmen durfte.
(67) DoponAa’s eigenste Gottheit ist der im Eichbaum und durch prophetische 'Tau-
ben waltende Zeus; erst als statt der priesterlichen Sellen (Il. XVI, 233. Od. XIX, 296)
Priesterinnen das Orakel übernahmen, war laut Strabo Dione Tempelgenossin des Zeus
geworden (VII. 329: svvveos ro Au meosaredaiy,SY za % Ay. Klausen Aen. I, 410), die
demnach in umgekehrtem Verhältnils zu ihm gestanden haben mag, wie nach dem gang-
baren Text des Pausanias (V, 17,1) der neben der thronenden Hera stehende Zeus zu
Olympia. }
(68) Gottheiten Samothrake’s: bekanntlich vier an der Zahl — Axieros, Axio-
kersos, Axiokersa, Kadmilos—, nach Mnaseas Schol. Apoll. Rhod. I, 916. Vgl. Welcker
Tril. 236 £f. Hyperb. Röm. Studien I, S. 39 ff.
(69) DARDANISCHE GOTTHEITEN waren auch der dreiäugige Zeus zu Argos (Paus.
II, 24, 5), vormals des Priamos Hausgott, der Dionysos Aesymnetes in heiliger Lade zu
Paträ (Paus. VII, 20,1), vor allen aber Pallas (Steph. Axgoavos. D. Hal. I, 68) und das
Brüderpaar grolser Götter (Varro L. L. IV, 40. Dion. Hal. I, 68. Welcker Tril. S. 223 ff).
(70) Axiokersosund Axiokersa, jener als phallische Herme dem mit Brimo gepaar-
ten brünstigen Hermes (Cic. Nat. D. III, 22. Creuzer ebd. p. 604 ss.) entsprechend, auf Mün-
Qqgq2
492 GERHARD
zen von Sestos: Taf. IV, 4-6. In entsprechendem Gegensatz erscheint auf Münzen von
Kyzikos (Klausen Aen. I S. 97) ein Korakopf mit dem Heroldstabe des Hermes im Revers.
(74) HERMES BEI ATHENE Polias. Paus. I, 27,1: zeirer ös Zv 70 ven r%s Hordos
“Eauns Eurou Kezgomos eivar Aeyolsevov dvaSnue Umo aAddwv Mugaivns (Welcker 'Tril. S. 287 £.)
ou GUvorrov.
(72) TERrMINUS UND JUVENTAS, jener als Phallus diese als weibliche Herme mit Mo-
dius, sind zu beiden Seiten eines auf Altar thronenden Juppiter custos oder Zeus &gzelos
vertheilt: Taf. IV, 1.
(73) CıstA des Erichthonios: als heilige Lade und Göttervermächtnifs mit wech-
selndem Namen, bald schlechthin als z1@wrös (Paus. I, 18, 2), #7 (Apollod. II, 14, 6)
und zexta de vimine cista (Ovid. Met. II, 554), bald auch als magerara IHN (Paus. I,
18,2. Vgl. IX, 25,6 von der kabirischen Lade) bezeichnet. Vgl. Welcker Tril. S. 285.
(74) SCHLANGEN UND KINDSGESTALT erscheint, dem bereits oben (Anm. 17. 50)
berührten Wechselbezug der Schlangen - und Menschennatur gemäls, öfters in Wechsel-
verhältnils: so im schlangenumwundenen Erichthonios der attischen Cista (Apollod. IIV,
14, 6. Die Schlange zugleich als Abwehr und Heiligung: Bötticher Hell. T. S. 87) und mit
sichtlichem Uebergang hauptsächlich im Mythos des eleischen Sosipolis (Anm. 30. Paus.
VI,20,3: rıSeası 70 maıdiov Treo Foü Fro@reumaros yupvov. emmeraundn or "Agudöss, PR
7 madiov Evradte 404 Ögazuw A). Dazu die Legende, die am gemeinsamen Grabmal eines
Kindes und einer Schlange diese als des Kindes Wohlthäter bezeichnete, zu Ophiteia
(Paus. X, 33,5), wo auch Bacchusmysterien ohne sichtliches Götterbild stattfanden. Der-
selben Verwandtschaft beider dämonischer Bildungen gehört auch das schlangenumwundene
Gefäls an, welches aufser der gedachten Legende von Ophiteia auch als geheiligtes Sym-
bol auf spartanischen Münzen (Pellerin I, 19, 1-3) sich findet und bereits oben (Anm. 29)
mit Bezug auf Zeus Ktesios erwähnt ward.
(75) GÖTTERMUTTER UND DEREN LIEBLING. Der idäischen (Ap. Rh. I, 1127) Götter-
mutter und ihrem phrygischem Agdistis (Klausen Aen. I,28f. 141) entsprechen im griechi-
schen Götterwesen zunächst (@) Aphrodite mit Anchises, deneas, Askanios, Julos u. A.
(Klausen Aen. 1,32 ff. 127 ff. 133. 543ff. 1072. Engel Kypros II, 319ff.), aber auch mit
Hermes und Priapos, mit Eros und dem gleichfalls als Flügelknabe gebildeten (Eir.
Spiegel I, 116) Adonis. Mit (4) Demeter finden sich Hermes (Anm. 70) und wol auch
Eros (Abh. Über den Gott Eros: Berl. Akad. 1848), in bekannter Sage Jasion (Klausen
I, 339. 384), Plutos, Jacchos, Triptolemos (Prodr. S. 84); mit (c) Athene Hermes (Anm.
74) und Apollo Agyieus (Paus. VII, 32, 3: Sec Zgyaraı. Vgl. Dione und Agyieus M. von
Ambrakia Klausen Aen. Taf. IT,3. Anm. 662), wie auch die arkadischen Heiligthümer der
Athene Mechanitis und des AyaSos Seos (Paus. VIII, 36, 3) einander benachbart waren.
Priesterlicher Knabendienst wie zu Siris (Lycophr. 984 ff: auch neben Hestia auf M. von
Skepsis vgl. Klausen Taf. I, 2. S. 153) ist auch im Sinne der Ilischen Athene, die auf
troischen Münzen (Klausen Taf. I, 2. 3. S. 65, 448) mit Ganymedes zusammengestellt wird.
Wobei auch „Herakles und Athene’s heilige Hochzeit”, wie der von Braun auf Tages ge-
deutete Flügelknabe Epiur sie nahe legt (Braun Tages 1839. Gerhard Etrusk. Spiegel II,
165), und, mit Erinnerung an Athene - Chryse, auch Chryse als Gattin (Welcker
über Agathodämon und Bona Dea. 493
Kret. Kol. S. 37) des Dardanos in Anschlag kommt. Endlich (4) Tyche mit dem phalli-
schen Z’ychon (Anm. 59), mit Pan und Agyieus (Anm. 362. e); auch (e) Llithyıa mit einer
Pyramide, die für Apollo Karinos galt (Paus. I, 44, 3), ist dem Agyieus neben Athene
durchaus vergleichbar, und (f) noch seltnere heroisirte Göttinnen dürfen, wie das
mit Hermes und Selene vergleichbare Paar Kadmos und Telephassa (Welcker Kret. S. 37 f.)
bei solcher Übersicht hieratischer oder mythischer Ehe der Göttermutter nicht ganz über-
gangen werden.
(76) LicHT - UND SEGENSSYMBOLE, welche statt Phallus oder Schlange schon
früh sich finden, sind hauptsächlich die Fackel und das Füllhorn. Aus jener, die oftmals
schlangenumwunden gezeigt wird (Millin Gal. GVI, 421), scheinen in hieratischer Grup-
pirung Jacchos sowohl als Eros, aus diesem Plutos erwachsen zu sein, jener als Fackel-
träger, dieser ein Füllhorn haltend— , ganz wie aus dem Phallus Hermes, Priapos, 'Tychon,
Telesphoros sich entwickelt, der Schlange aber Triptolemos und Jasion als Lenker sich
beigesellt haben mögen.
(77) Telesphoros, dessen zwerghafte Mantelfigur neben Asklepios und Hygiea (Mül-
ler Handb. 394,1.3) oder auch nur neben dieser letztern (Panofka Askl. II, 10) hauptsächlich
aus kleinasiatischen Münzen bekannt ist, erscheint in einer Thorwaldsenschen Erzfigur (Panofka
Askl. VI, 5) als schreitender Phallus, dem Tychon (Anm. 59) ähnlich, dergestalt dals Kopf und
Gewand erst als gesonderter Aufsatz hinzutreten mulsten um den vollständigen Telesphoros
zu bilden.
(78) Fortuna und Juppiter, die auch neben einandergestellt als Hausgötter sich fin-
den (Mon. d. Inst. III, 6, c), sind doch hauptsächlich in mütterlichem und Kindesverhält-
nils bezeugt. Namentlich ist dies der Fall bei der pränestinischen Fortuna Primigenia, die
bald als Juppiter’s und Juno’s Amme aus Cicero (Divin. II, 41. Creuzer Symb. IV, 302
N.A.=IV, 215 Ed. 2) bezeugt, bald auch inschriftlich mit einem Juppiter arcanus (Grut.
LXXII, 5. Gerhard Prodr. S. 100) verbunden wird.
(79) GENIUS URBIS, sive mas sive femina: Serv. Aen. II, 293.— Macrob. III, 9: ati
enim Jovem crediderunt, alii Lunam, sunt qui Angeronam (Schlangengöttin? Anguitia Serv.
Aen. VII, 758. Vgl. Klausen Aen. II, 1037 ff.) quae digito ad os admoto silentium denun-
tiat, alii Opem Consiviam. Vgl. Prodr. S. 103. Ann. d. Inst. XIX, 332. Creuzer Symb.
III, 498 N.A.). Auf eine Tempelschlange des kapitolinischen Juppiters scheint auch Scipio’s
(Anm. 20) häufige Andacht in dessen Heiligthum (Klausen Aen. II, 1030) zu deuten.
(80) Genıus JovIALIs: mit Ceres, Fortuna, Pales als etruskischer Penat erwähnt von
Arnobius III, 40. Vgl. Abh. Etrusk. Gottheiten Anm. 21. 135. 161.
(81) MANEN: bonum antiqui dicebant manum (Narr. L. L. VI, 4. Vgl. Abh. Etr. Gotth.
Anm. 195). Manes draco custodire traditur Plin. XVI, 44, 85. Vgl. Klausen Aen. II, 1029.
(82) BonA DEA, deren Verwandtschaft mit der altgriechischen Thesmophoriengöttin
Creuzer (Dionys. p. 214. Symb. III, 571. IV, 431 N. A.) nicht verkennt (Vgl. auch Fiedler
Mythol. S. 355. 541), ist doch nur im Zusammenhang italischen Götterwesens mit eini-
ger Gründlichkeit bisher erörtert worden (Del dio Fauno p. 7. 28 ss. Klausen Aen. II,
849ff. Hartung II, 195 ff. Schwenck röm. Myth. 202ff. Gerhard Etr. Gotth. Ann. 73.
74) und wird selbst bei dahin einschlagenden Darstellungen nicht selten fast (Eckerm.
Myth. II, 191) oder völlig (Müller Handb. $. 407) übergangen.
494 GERHARD
(83) BonaDea griechisch würde’AyaSy Sea sein, die unbezeugt ist. Dagegen kann
Artemis Kary und Ka?r:srn um so mehr mit der italischen Faunusgemahlin verglichen
werden, als auch Artemis Triklaria in enger Beziehung zum mystischem Dionysos steht
(Paus:V.IE,519, 4):
(84) Thesmophoriensitte: für Bona Dea sowohl in den sacris opertaneis (Creuzer
Dion. p. 214. Symb. TI, 571. IV, 431 N. A.) als auch für Fortuna Primigenia, für diese
zugleich in allgemeinerem Zusammenhang cerealisch - bacchischen Dienstes (Prodr. S. 47)
nachweislich. Vgl. Anm. 882.
(85) DeA Dia, als Unterweltsgöttin aus den Gebeten der Arvalbrüder bekannt
(Abh. Etr. Gotth. Anm. 83), aber auch als samothrakische Axiokersa - Persephone unver-
kennbar, wenn die bekannte Liebesbrunst des Hermes zu dieser von Cicero (Nat. D. IIE,
22 Cr. p. 603 ss.) auf Dia zurückgeführt wird: Mercurius unus Caelo patre Dia (vgl. Ayu, Theia)
matre natus, culus obscoenius excitata natura traditur, quod aspectu Proserpinae commotus sit.
Die Lesart Die ist längst verworfen, obwohl sie im Text blieb.
(86) Mystische Ehein Schlangengestalt. Macrob. I, 12: transfigurasse se tamen
in serpentem pater creditur et coisse cum filia. Wie Zeus als Vater des Zagreus von Kora
(Taf. I, 9). Vgl. Klausen Aen. I, 131£.
(87) Vejovis, Bona Dea’s vermuthliches Kind, nach Klausen Aen. II, 856. 1094.
(88) BonA DEA CEREALISCH. Der Demeter (a) gleicht sie theils als Kurozrophos
(Abh. Etrusk. Gottheiten Anm. 74. Taf. TII, 1) theils durch die ihr gleichfalls gewidmeten
Schweinsopfer. An beide letztere Züge erinnert die Erzfigur Taf. II, 3, an Demeter als
Unterweltsmächte das clusinische Sitzbild mit Sphinxen Taf. II, 4. 5. Die römische Sage,
Bona Dea sei von Faunus mit einem Myrtenstabe geschlagen worden (Macrob. Sat. I, 12),
vergleicht Rückert (Troja S.102) mit dem symbolischen Schlagen des Bodens am Fest der De-
meter Kidaria von Pheneos (Paus. VIII, 14,8. Prell. Dem. 169). Nicht weniger steht das
Schlangensymbol der Bona Dea sowohl als der Demeter und deren Doppelbildern (Tu Sew)
Taf. II, 1.2.6) zu; andre beglaubigte Darstellungen lassen sie durch Attribut eines Füllkorns
(Taf. I,7) mit Tyche-Fortuna identisch erscheinen, and geben sogar durch Beinamen
wie Mens und Memoria (Taf. II, 8-10) ihre Übereinstimmung mit Juno Moneta (Abh.
Etr. Gotth. Anm. 89) und mit der Minerva etrusca (Ebd. Anm. 99 nach Stat. Silv. II,
2,2) Unteritaliens zu erkennen. — Aber auch (2) mit Kora stimmt Bona Dea mannig-
fach überein, theils im vorgedachten Doppelbild beider Göttinnen mit Schlangensymbol,
theils in den mancherlei silenesken (Anm. 58) und sonstigen Paarungen die an Faunus
und Fauna erinnern, Darstellungen die dem Thesmophorienbrauch (Anm. 84) nackter Frau-
en in Kindespllege und cerealischem Korb (Gerhard Bildw. GCCXI, 4) entsprechen; auch
der Frauenzug eines Gemmenbildes, wo ein Knäblein mit Fackel das Ziel ist (ebd. CCCXI,
3), mag dahin gehören.
(89) Götter in Schlangenbildung: oben Anm. 18.
(90) Hephästos mit Schlange und Hammer, sofern die bekannte Kabirengestalt auf
balearischen Münzen dem obersten Feuergott beigelegt werden darf, nach Panofka Askl.
S. 71. Taf. I, 21. Schlangenumwunden ist auch der Hammer des etruskischen Todesdämons
in einer tarquiniensischen Wandmalerei: Bull. 1844 p. 98. ’
über Agathodämon und Bona Dea. 495
(91) HALBRUND mit Schlange: aulser dem apollinischen Gebrauch (delphischer Om-
phalos: Gerhard Vas. III, S. 140, 22. "Ouberos rerawınatvos: Rochette Mon. p. 188), der zu-
nächst auf Asklepios überging (Mus. Borb. IX, 47. M. der Rubria) auch neben Penaten und
Laren Taf.I,2. Vgl. Müller Handb. 394, 1).
(92) DioSKURENMÜTZEN die man symbolisch als Hälften des Weltalls nahm (Klausen
Aen. I, 132. Rück. Troja S. 78. Aehnlich der Polos als Junonische Stephane Prodr. S. 6,
36 ff.), finden sich zwischen Schlangen auf einem griechischen Relief (Taf. I, 3), ein Pileus
neben gewundener Schlange auf Münzen von Amorgos (Cadalvene III, 18 p. 222), wie
andremal mit den Dioskurenhüten ein Füllhorn verbunden ist (Anm. 33). Ein verwand-
tes Symbol sind auch die Amphoren welche sich hie und da neben den Dioskuren (Ger-
hard Etr. Spiegel I, 48, 6. 8) zeigen; auch diese finden auf Münzen von Sparta (Combe
Mus. Brit. VIII, 1. Ohne Schlange ebd. XIII, 25 Naxos) sich schlangenumwunden.
(93) Euamerion (Paus. II, 11, 7): fackeltragend neben Asklepios auf pergamenischen
Münzen (Panofka Askl. S. 27. Taf. II, 4).
ERKLÄRUNG DER KUPFERTAFELN.
Tafel I. AGATHODÄMON ALS SCHLANGE.
1. Ortsgenius, oberhalb eines Flufsgottes; darüber Vesta am Altar stehend zwischen
beiden Penaten, am linken Ende der Darstellung auch Fortuna und Amor. Wand-
gemälde aus Pompeji: Monum. d. Inst. III, 6a.
In ähnlicher Weise ist die doppelte Ortsschlange (auf deren Rücken man mensch-
liche Figuren, vielleicht der Penaten, zu erkennen glaubt) mit der Darstellung der zwölf
Gottheiten verbunden bei Gell und Gandy Pompei. pl. 76.
2. Ortsgenius, um den Omphalos gewunden und von den Penaten umgeben. Wandgemälde
aus Pompeji: Mus. Borb. IX, 20. Vgl. Müller Handb. 394, 1.
3. Doppelter Ortsgenius, darüber die Dioskuren: zwischen diesen ein Halbmond
und ein pyramidales Idol auf einem Altar, zwischen den Schlangen ein Pileus. Vgl.
Anm. 92. Griechisches Relief, sonst im Palast Nani zu Venedig. Nach einem fliegen-
den Blatt, dessen Abdruck sich bei Paciaudi nicht findet.
4. 5. Doppelter Ortsgenius am Hausaltar, nach pompejanischen Wandgemälden, deren
erstes zugleich Augurienvögel darstellt, während im zweiten nebst einem darüber be-
findlichen Larenopfer auch ein Schwein und einiger Inhalt der Speisekammer anschau-
lich gemacht ist. Nach Gell Pompejana II, 101. 145.
496 ö GERHARD
6.
SI
6.
Schlangenmensch (’Odroyevrs Anm. 17), nämlich als Schlange mit Bildnifskopf:
Münze von Nikomedia nach Cab. Allier XI, 10. Vgl. Klausen Aen. 1 S. 132. (*)
Schlangenpaar einer ägyptischen Kaisermünze: die männliche Schlange ist mit dem
Merkurstab, die weibliche mit dem cerealischen Mohn versehen. Nach Zoega num.
aegypt. II, 9. Vgl. Anm. 27.
Schlangenumwundene Demeter von Parion, neben ihr ein Delphin: Münze von Parion,
nach Millingen (Coins V, 10 p. 71) den bereits Müller (Denkm. II, 98) berichtigt hat.
Die eigenthümliche Anwendung dieses Götterbilds mag durch die Besonderheiten ört-
licher Sage veranlalst worden sein, ohne dals man deshalb einen der schlangengebore-
nen Urmenschen (’Odoysveis Anm. 17) Parions in dieser Frauengestalt zu erkennen
hätte, wie Millingen wollte.
. Schlangenzeus im Andrang an Kora. Münze von Selinus, nach Torremuzza 66, 6:
Müller Denkm. II, 97 (wo irrig Demeter genannt ist). Vgl. Anm. 86.
Tafel II. BonA DEA, CERES, FORTUNA.
. Demeter und Kora, aufrecht in Halbfiguren, deren eine durch entblöfste Brust sich
auszeichnet, auf einer Kline welche verzierungsweise mit je zwei Löwenköpfen, im untern
Raum aber mit einer Schlange ausgestattet ist. Die Köpfe fehlen. Pränestinisches Mar-
morwerk im Keller des Palast Barberini zu Palestrina. Nach Gerhard Ant. Bildwerke
Dat: 111,4. S, 47.
. Säugende Ceres oder Bona Dea, eine Göttin welche an ihrer entblöfsten Brust ein
Kind säugt, während jederseits eine aufstrebende Schlange ihr zugewandt ist. 'Thon-
figur, vermuthlich ebenfalls aus Präneste. Nach Gerhard Ant. Bildw. III, 2. S. 47.
. Bona Dea, stehende bekleidete Göttin, in ihrer gesenkten Rechten ein Opferschwein,
in der Linken aber ein Wickelkind haltend. Erzfigur in einem Drittheil der Gröfse
des Originals. Nach Antigg. Middleton Tab. I.
.5. Bona Dea sitzend, durch einen von Sphinxen umgebenen Thron (ganz wie auch an
zweiähnlichen zu Berlin und Chiusi befindlichen Figuren bei Panofka T. C. III-V und
Micali Mon. XXVI, 1 zu sehen ist) als Unterweltsgöttin, durch das über ihren
Schofs gelegte Kind aber als Kindespflegerin Ilithyia bezeichnet: clusinische Statue von
mephitischem Kalkstein, fast lebensgrols. Nach einer von deren Besitzer Hrn. Luigi Dei
mitgetheilten Skizze. Eine in Grölse und Darstellung ähnliche Figur (nicht von
Erz) ward neuerdings ins brittische Museum versetzt: Arch. Zeitung N. F.T, 188. 116*.
Vgl. oben Anm. 88. Abh. Etrusk. Gotth. Anm. 74. Über die Kunst der Phönicier
Anm. 35.
Beide Göttinnen, tief verschleiert und in strengster Haltung neben einander sitzend;
über ihren Häuptern ist eine Schlange oder schlangenähnliche Tänia ausgebreitet.
R. Weiblicher Kopf mit Stephane. Münze von Capua (Äape) nach Carelli’s von Braun
herauszugebendem Münzwerk tav. LXX, 12.
(*) Eine Schlange mit bärtigem Menschenhaupt das ein Modius bedeckt, ohne Zweifel des
Serapis, zeigt ein Relief bei Caylus (Rec. II, 14,9); auf einem spät ägyptischen Altar (Deser.
de VEg. V,69, 11. Guigniaut XLII, 180) ist es einem schlangenleibigen Frauenkörper mit feder-
ähnlichen Kopfputz verbunden, den man als „Isis myrionyme” bezeichnet.
ST
über Agathodämon und Bona Dea. 497
- Bona Dea, so genannt in einer pästanischen Münze, auf welcher eine Frau ein Füll-
horn haltend in einem Tempel sitzend erscheint. (R. Z. Marci N. Pae. Mitten $.). Nach
Major Ruines de Paestum XXIV, 3. Paoli Antich. di Pesto LVII, 4 (*).
. Aehnliche Darstellung aus defektem Exemplar mit undeutlicher Inschrift. Bona Dea sitzt
links gewandt, einen Zweig in der Rechten haltend, in einem Tempel (R. Mitten P-
AE-S, am Rand .... /IT vir...). Nach Paoli LVII, 1.
Aehnliche Darstellung einer Münze von Pästum mit der Inschrift BONA MEMO (ria)
R. N. Gavi. L. Marci. IT vir.— Pae. $). Nach Sestini Lettere V p. 36 tav. 2, 18. Mionn.
Suppl. I, 317, 815. Ein ähnlicher Münztypus— Bona Dea rechtshin im Tempel sitzend,
in ihrer Linken eher ein Füllhorn als Wehrgehenk oder Rolle haltend. Inschrift Bo...
Me..Bev. fast wie vorher) — ist nach Paoli LVII,2 (vgl. ebd. no. 3) als unterstes’
Bild unserer Tafel mit no. 12 bezeichnet.
10. Achnliche Darstellung einer gleichfalls pästanischen Münze, deren Revers die Inschrift
K. Marcius III vir, mitten Paes, trägt. Das Hauptbild zeigt wiederum in einem Tem-
pel eine sitzende leicht bekleidete Frau, die in einer Rolle liest; daneben die Umschrift
BonA Mens. Nach Carelli’s unedirtem und von Braun gefälligst mitgetheiltem Münz-
werk CXXX, 27. Zwei ähnliche Münzen, ebenfalls mit BonA MEN(Ss), sind im Museum
Hedenar. Ip.35 (Mionnet Suppl.I p. 816) mit Attributen der dargestellten Götter (897 Spin-
del, 898 Füllhorn) erwähnt, welche in der ebd. tab. II p. 45.46 gegebenen Abbildung fehlen.
11. Doppelfortuna von Antium, als Minerva und als die von Amor begleitete Ve-
nus dargestellt. Bekannter Münztypus der Familie Egnatia, nach Morelli (num. fam.)
Vgl. Gerhard Bildw. Taf. IV, 5. S. 66, 207.
42. s. oben no. 9 (Bona Dea).
43. Minerva, Fortuna und Amor oder Genius, um einen sitzenden Herkules mit Keule
geschaart; der Knabe neben Fortuna erinnert an den etruskischen Tages (Abh. Eitr.
Gotth. Anm. 162ff.). Als Attribute sind die Keule des Herkules, das Ruder Fortunens,
in Minervens linker Hand ein Speer unverkennbar; in ihrer Rechten scheint sie einen
Oelzweig, wenn nicht einen Schiffschnabel, zu erheben. Neuerworbne Glaspaste des kgl.
Museums zu Berlin, in doppelter Grölse gezeichnet.
Tafel III. AGATHODÄMON - AKRATOS.
. Plutos Akratos ausgestreckt auf einem Fels, durch Efeubekränzung und sile-
neske Züge als Akratos, durch das Füllhorn in seiner Linken als Plutos-Pluton be-
zeichnet; in seiner Rechten scheint er eine Schale zu halten. Vor ihm steht in be-
haglicher Stellung eine langbekleidete und verschleierte Frauengestalt, vermuthlich Kora,
(*) Ein ähnliches Götterbild mit Füllhorn rechtshin gewandt, ohne deutliche Inschrift, gibt
ebenfalls Paoli tav. LVII, 3. (Vgl. unten no. 9). Noch einen verwandten Münztypus mit verschiedenen
Revers (Z. Marci Flavi II vir Pae erwähnt Eckhel D. N. I p. 158. aus der Wiener Sammlung und nach,
„Magnan orig. Paest”. Auch Mionnet Suppl. I p. 317 no. 815) erwähnt dieselbe und zwar aus Magnan
Numism. XXVII, 11; in den Misc. numism. (Rom. 1774) III tab. XXXVII ist bei unvollständiger In-
schrift nur eine sitzende Frau mit Stäbchen oder Rolle zu finden.
Philos. - histor. Kl. 1847. Rrr
498 GERHARD
u
4.
obwohl ihr Begriff auch der "Aya>y Tyan entsprechen würde. Thonfigur im königl.
Museum zu Berlin. Abg. bei Panofka Terra-Cotten Taf. I. Vgl. oben Anm. 58.
. Plutos-Pluton und Kora. So bezeichnen wir eine kauernde männliche Figur, die ihren
Zügen nach dem Silen Akratos, in starker Männlichkeit und im rechts gehaltenen Füll-
horn dem reichen und zeugungslustigen Plutos-Pluton, in der efeubekränzten und
nackten Frau aber die er zugleich mit einer Schale auf seiner linken Schulter hält,
als Entführer der Kora sich kundgibt. Gruppe von Thon, im kgl. Museum zu Berlin.
. Plutos-Pluton und Kora auf einem Schwein sitzend. Alles in dieser merkwür-
digen Gruppe gehört gleich dem Opferthier den chthonischen Mächten an. Auf dem übli-
chen cerealischen Opferschwein folgt wiederum Plutos-Akratos in zusammengeschrumpf-
ter silenesker Gestalt, auch wol efeubekränzt, einen Hahn haltend, das als Todtenopfer
des Sokrates bekannte Symbol. Zu seiner Linken sitzt in höherer und edeler Gestalt
die ihm vermählte Kora; das segensreiche Füllhorn wird in diesem Bildwerk von ihr
gehalten. Gruppe von Thon nach einer vom Canonicus A. de Jorio herrührenden
Zeichnung, welche ich Hrn. Prof. Lepsius verdanke.
. Plutos und Kora als thronendes Götterpaar, die. Göttin wieder in edler Gestalt,
der Gott durch sileneske Verschrumpfung und durch das Füllhorn in seiner Hand aus-
gezeichnet. Gruppe von 'Thon im königl. Museum zn Berlin, bei Panofka Terra - Cotten
Taf. XLIX, 1 mit einer jetzt ebenfalls dort befindlichen ansehnlichen Gruppe (XLIX, 2
zusammengestellt, in welcher die männliche Figur zwar mit Silenskopf, übrigens aber
durchaus natürlich und regelmäfsig erscheint.
. Aehnliche Gruppe mit frivolem Ausdruck. Die sitzende weibliche Figur, der vori-
gen ähnlich, wird von einem vor ihr knieenden Silen an der Brust gefalst. Gruppe
aus gebrannter Erde von roher Ausführung, im Kgl. Museum zu Berlin.
Tafel IV. AGATHODÄMON PHALLISCH UND ALS KınD.
. Thronender Juppiter Gustos oder &gzeios, umgeben vom Gott Terminus in Phal-
lusgestalt und von der hermenförmigen Erdgöttin Juvenztas, welche der griechischen
Hebe entspricht. Aus einem berühmten etruskischen Spiegel: Mus. Kircher I, 13. Lanzi
Saggio II, 6, 3. Millin Gal. CXIX, 463. Gerhard Etr. Spiegel II, 147. Ann. d. Inst.
XIX p. 331 pl. 7. Oben Anm. 72.
. Venus mit phallischer Herme: stehende nackte Frauengestalt einen Spiegel in
der rechten Hand haltend, während die linke dem bärtigen Hermengott aufruht. Schöne
Bartholdysche Erzfigur im Museum zu Berlin. Unedirte Zeichnung, um ein Drittheil
der originalen Grölse verkleinert. Vgl. Mus. Bartold. p. 35.
. Tyche und Tychon, Fragment eines Marmorreliefs, etwa 2 Fuls hoch, aus Aquileja
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linkerseits bezeugt durch den linkshin gewandten Dämon Tychon, eine schreitende Jüng-
lingsgestalt deren Obertheil als geflügelter Phallus gebildet ist; daneben steht, den
Blick abwärts gewandt, in Vorderansicht die durch ein Ruder unverkennbar bezeichnete
Glücksgöttin. Nach Bertoli Antich. di Aquileja p. 33. Vgl. oben Anm. 59.
Phallischer Hermes einer cerealischen Aehre gegenüber, als Revers ein Kopf der
Kora. Silbermünze von Metapont aus dem Carellischen Münzwerk Taf. CLIIT, 7.
10.
11.
12.
über Agathodämon und Bona Dea. 499
. Demeter mit phallischer Herme, welche überdies gehörnt zu sein scheint; die
Göttin hält Aehren. Inschrift SHY'TI(wv). Auf der Kehrseite ein Kopf der Kora. Erz-
münze von Sestos. Nach Streber numism. I, 15.
. Aehnliche Münze. Demeter ist durch den Modius und wiederum durch Aehren in ihrer
Hand ausgezeichnet, die Herme wiederum bärtig, doch ohne sichtlichen Phallus. In-
schrift SA. AR. Kopf der Kora. Erzmünze von Sestos. Nach Streber num. gr. I, 14.
. Bock und Herme mit der Inschrift AINI, auf der Kehrseite ein Kopf des Hermes
mit Petasos, ähnlich dem der nachfolgenden Münze (no. 8). Münze von Aenos. Nach
Cab. Allier de Hauteroche III, 1.
. Hermes, Bock und Schlange, wiederum auf beide Seiten der Münze vertheilt,
die laut der Inschrift AINION wiederum nach Aenos gehört. Nach Cab. Allier de
Hauteroche III, 2.
. Hermeskopfund Schlange, auf beide Seiten einer Münze vertheilt, welche nach ihrer
Inschrift OpoA:-zwv von Mionnet VI. Inc. no. 227. p. 645 der thessalischen Stadt Ho-
znolion beigelegt wird. Die spitze Mütze erregt Zweifel ob vielmehr ein Hephästos ge-
meint sei. Nach Cab. Allier de Hautroche IV, 13 p. 39.
Ceres und Flügelknabe. Die Göttin stehend hält einen Zweig (eher Oelzweig als
Aehren) nebst einem Mohnstengel einem Flügelknaben entgegen, der ihr eine Frucht-
platte reicht. Glaspaste im Besitz des Herausgebers. Nach Gerhard Bildw. CCEVL, 2.
Geres und Flügelknabe. Die verschleierte, ein Scepter haltende Göttin empfängt
sitzend aus der Hand eines nackten Knaben ein mit Mohnstengeln gefülltes Gefäls.
Nach Gal. di Firenze V. tav. 46, 3, wo diese Darbringung von Erstlingsfrüchten nur
als Alltagsscene betrachtet wird. Vergl. Lippert I, 98. Gerhard Bildw. CCCXT, 12.
S. 84.
Fortuna und Amor, Gemme (Plasma di smeraldo, nicht Karneol) der Nottschen
Sammlung. Impronte dell Inst. II, 39. Mon. d. Inst. II, 64. Vgl. Schulz Ann. XI
p- 101. 126. Eine ähnliche erwähnt Tassie no. 8157 aus Lippert III A. 396.
. Tyche mit einem Kinde, vermuthlich Plutos. Die Göttin ist mit Modius be-
deckt und an eine Säule gelehnt; das Kind wird von ihrer Linken gehalten, während
sie mit jubelndem Ausdruck die Rechte erhebt. Das Ganze in einem Lorbeerkranz.
Münze von Melos, aus später Zeit und von untergeordneter Kunst, wenn auch die
rohe Angabe des Untertheils der Figur nur der Unvollkommenheit des hier abge-
bildeten Exemplars dieser seltenen Münze beizumessen wäre, welches übrigens durch
gute Erhaltung der früher (Pellerin III, 104, 2 Nızr) verkannten, aber seit Neumann
num. ined. II p. 234 berichtigten Inschrift wichtig ist. Nach Sestini Deser. di molte
medaglie XIV, 1. p. 100 s. Mionnet II, 319, 58. Vgl. oben Anm. 49.
14. Tyche und Plutos, die Stadtgöttin mit dem Dämon der Stadt, welcher als geheim-
nilsvolles Knäblein wie in einer Höhle erscheint, über welcher die gedachte Göttin
hoch auftretend wacht; Verschleierung (Anm. 37) und das in ihrer Rechten aufge-
stützte Scepter unterscheiden dieselbe von den gewöhnlichen Fortunen des Alltags-
lebens. Münze von Amastria. Nach Cab. Allier X, 13. Vgl. oben Anm. 49.
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