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Full text of "Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin"

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Abhandlungen 


der 


Königlichen 
Akademie der Wissenschaften 


zu Berlin. 


1847. 


Abhandlungen 


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Königlichen Irene 7 


Akademie der Wissenschaften 


zu Berlin. 


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Aus dem Jahre 


1847. 


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Berlin. 


Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie 
der Wissenschaften. 


1849. 


In Commission bei F, Dümmler. 


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Bemerkung. Diese Verbesserungen sind in den Band der Abhandlungen von 1847 (ed. 1849) einzuheften. 


Verbesserungen. 


Seite 270 Zeile 15 von unten lies: dafs jener für dafs jeder. 
» 37» 46 » » » den südeuropäischen Scirocco. 
DD ee a ERGE en GEXE 
21 Be ee ie » vom 17. Oct. für am 17. Oct. 
» 32 » 41 » oben » 37a C. für 35a. C. 
» 39 » 9 » unten » 9 und 10 Uhr für S und 9 Uhr. 
» 354 » 12 » »  » bei Constantinopel für bis Constantinopel. 
2 » » » Vredeland für Urdeland. 
1» » » 4808 für 1818. 
De ee » » Leuchtregen für Luftregen. 
3 » oben » in 300, 356 und 380 Meilen für 380, 356 und 380 Meilen. 
9 » unten » Algen für Alpen. 
Den u a » als fester Boden für als festen Boden. 


» Mi » 8 » oben » XII. für XI. 
» 47 » Aa » » XIV. für XIII. 
» 420 » 4 » unten » März für Mai. 
» Mh » 3» nn. xkısıg?* für —#ısag? + 
» 420 Asien. 
Arabien Palaestina Klein Asien Persien Indien 
und Syrien mit Armenien (Nebelgebirg;) 
p. C. 570 2.C. 910 1348 a. C. 950 1056 p- C. 1076 p. C. 1272 1833? 
1065 332 1546  p.C. 358 1110 1680 1837 
1365  p.C. 100 1637 860 1194 1810 1846 
1680 610 897 


1825 929 


Verbesserungen. 


Seite 450 Zeile 15 von oben lies: kornartigen Crystall für kronartigen 


454 


» 


3 
1 
4 
10 


» 


» 


» 


unten 
oben 
unten 
oben 


» 


La Verpilliere für Labillardiere. 
Lithostylidium sulcatum für L. falc. 
Campylodiscus. 

Nodosaria. 

sexangularis. 

glatten Art für platten Art. 

die farblosen leer für die farbl. sind. 
als Kreuz für im Kreuz. 
Lithochaeta. 

amphioxys. 

Sporangium sexloculare. 

Surirella Entomon. 

Ala Dipteri. 

Lithostylidium Cassis für L. Cassia. 
Fibra spiralis. 

Particula fibrosa für Fibra fıbrosa. 


Pilus fasciculatus für P. fasciatus. 


Inhalt. 


Historische Humlerkın DES ee ed a AT NEN ETEINE BOTEN ORT 
NVerzeichuilssden Mitaliedenider Nkademierer en. 2 ne 


Physikalische Abhandlungen. 


V NEUMANN über ein allgemeines Princip der mathematischen Theorie inducirter 

; elektrischer Ströme ....... A I a ZU E BD Eu 1 
VHErmann KARsTEn: Die Vegetationsorgane der Palmen, eine vergleichend - ana- 
tomisch-physiologische Untersuchung... .. 2... cr. .00.- 

“ YMöLLer über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten .... 2.2... 20. 
Derselbe: Bemerkung über die Fufsknochen des fossilen Gürtelthiers, G/yptodon 
ERTTES U SE E Dnc ao rDnn 100.00 6.08.00 0:0 re 

VW EHRENBERG: Passatstaub und Blutregen. Ein grofses organisches unsichtbares 


Mebengtngderg Am aspharerz gegen 


Mathematische Abhandlungen. 


NV = s ER 
SEINGKE"über die Asträa. aaa ee ee ee Re 
“ VSTEINER: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, und über einige damit 
in Beziehung stehende Eigenschaften der Kegelschnitte....... 


Philologische und historische Abhandlungen. 


VBEKKER: Der Roman von Aspremont, Altfranzösisch, aus der Handschrift der K. 
Bibliothek (Ms. Gall. 49 48) abgeschrieben ............. 
“H. E. Diesen über die, durch die griechischen und lateinischen Rhetoren ange- 
wendete, Methode der Auswahl und Benutzung von Beispielen 
romisch- rechtlichen Inhalts nn see sro: SB rn 
“ WELCKER: Die Composition der Polygnotischen Gemälde in der Lesche zu Delphi 
“N. E. Dieksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus und die alte Glosse 


der. Ruriner Institutionen Handschrift. ra 


Seite I 
EXT 


Seite 1 


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- 237 


- 266 


- 269 


Seite 1 


Seite 1 


“Pertz über ein Bruchstück des 98 ten Buchs des Livius 2 2222222200. Seite 221 
V'TRENDELENBURG über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme ... - 241 
VNEANDER über Matthias von Janow als Vorläufer der deutschen Reformation und 


Repräsentanten des durch dieselbe in die Weltgeschichte einge- 


ITBIENLENENEUEN WELEHE N ee. - 263 

SCHOTT über das Altai’sche oder Finnisch - Tatarische Sprachengeschlecht . . . . . - 281 

‘ Jacoß GRIMM über Marcellus Burdigalensis......... VE een - 429 
\GERHARD über Agathodämon und Bona Dea ........ a. no ER: | 


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D. öffentliche Sitzung zur Feier des Jahrestages des Königs Fried- 
richs II. am 28. Januar wurde durch die Anwesenheit Sr. Majestät 
des Königs und Sr. Königl. Hoheit des Prinzen von Preulsen geehrt. 
Der vorsitzende Secretar Hr. v. Raumer vertheidigte in seiner ein- 
zeln im Druck erschienenen Einleitungsrede Friedrich II. gegen neuere 
Angriffe und theilte hiernächst die im abgelaufenen Jahre bei der 
Akademie vorgekommenen Personalveränderungen mit. Sodann trug 
Hr. Encke die Einleitung zu seiner Abhandlung über die Entdeckung 
und erste Bahnbestimmung der Asträa vor. Diese Einleitung ent- 
wickelte, nach dem geschichtlichen Gange, den Antheil, den fast jeder 
Theil der praktischen Astronomie an der Entdeckung der sechs Pla- 
neten, Uranus, Geres, Pallas, Juno, Vesta und Asträa gehabt hat. Die 
Vervollkommnung der optischen Instrumente führte die Entdeckung 
des Uranus herbei, die Genauigkeit und methodische Anordnung der 
Meridianbeobachtungen die der Geres, die genaueste Bekanntschaft 
mit dem gestirnten Himmel die der Pallas, die Vervollkommnung 
der graphischen Hülfsmittel die der Juno, und eine noch mehr ge- 
steigerte Vervollkommnung derselben Karten die der Asträa, wäh- 
rend vorher eine kühne, aber einsichtsvoll verfolgte Hypothese zu 
der Auffindung der Vesta geführt hatte. Die für die Astronomie so 
wichtige Verbindung der Theorie mit der Praxis hat durch die Ent- 


deckung des Neptun fast den Kreis der Möglichkeiten abgeschlossen. 


11 


Es lälst sich indessen vermuthen, dafs dieser letzte Weg auch in Zu- 
kunft seltner zu der Entdeckung eines neuen Planeten führen wird, 
da die günstigsten Umstände, welche bei dem Neptun, auch für eine 
weniger sorgfältige Untersuchung als die des Hrn. le Verrier war, 
denselben Erfolg zu erreichen möglich machten, in den nächsten Zeit- 
perioden schwerlich wieder eintreten werden. Am Schlusse bemerkte 
Hr. Encke noch, dals die von Hrn. d’Arrest mit Rücksicht auf die 
Störungen berechnete Ephemeride die Wiederauffindung der Asträa 
ungemein leicht gemacht und die Richtigkeit seiner Bahnbestimmung 
bestätigt hat. Am frühesten ward sie m Pulkowa am 4. November 
aufgefunden, nachdem sie sechs Monate von den Sonnenstrahlen ver- 
deckt gewesen war. 

Die öffentliche Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahres- 
tages am &. Juli eröffnete Hr. Böckh als vorsitzender Secretar mit 
einem einleitenden Vortrage, welcher im Berichte über die Verhand- 
lungen der Akademie im Jahre 1847 gedruckt ist. Demnächst hielt 
Hr. Dieterici als neuerwähltes Mitglied seine Antrittsrede, welche von 
Hrn. Böckh beantwortet wurde; beide Vorträge sind ebendaselbst be- 
kannt gemacht. Sodann berichtete der Secretar der physikalisch- 
mathematischen Klasse, Hr. Encke, über die Preisfragen, welche an 
diesem Tage zur Entscheidung kamen. Im Jahre 1844 hatte die Klasse 
eine sorgfältige Discussion der sämmtlichen Beobachtungen des am 
22. November 1843 von Hrn. Faye in Paris entdeckten Cometen ver- 
langt, um daraus die wahren Elemente der Bahn mit Berücksichtigung 
der Störungen herzuleiten. Hierauf ist keine Beantwortung eingegan- 
gen, und da die Untersuchungen über diesen merkwürdigen Himmels- 
körper inzwischen von mehreren Seiten aufgenommen, zum Theil auch 
schon bekannt gemacht worden sind, so hatte die phys.-math. Klasse 


keine Veranlassung, die Aufgabe zu wiederholen, welche folglich zurück- 


III 


genommen wurde. Im Jahre 1845 hatte die Klasse für das Jahr 1847 
aus dem Cothenius’schen Legate einen Preis von 300 Rthlrn. auf die 
Lösung folgender Aufgabe ausgesetzt: „Anatomische Untersuchung des 
„Flachses, besonders der Bastfaser desselben zu verschiedenen Zeiten 
„seiner Entwickelung in Bezug auf seine Güte, verbunden mit einer 
„Untersuchung der chemischen und mechanischen Veränderungen, wel- 
„che er während des Röstens und welche die Bastfaser desselben bei 
„der Verarbeitung zu Leinwand und der Leinwand zu Papier erleidet.” 
Es sind zur Beantwortung dieser Preisaufgabe zwei Schriften einge- 
gangen. Die erste mit dem Motto: „adspectione propria” enthält in 
Bezug auf die anatomische Untersuchung des Flachses nur eine kurze 
Aufzählung der Theile desselben ohne gehörige Rücksicht auf ihre 
Entwickelungsgeschichte, und was die chemische Untersuchung betrifft, 
weder hinreichende einzelne Beobachtungen noch eine klare Darstel- 
lung der Untersuchungsmethoden. Es konnte dieser Schrift der Preis 
daher nicht zuerkannt werden. Die zweite Abhandlung mit dem Motto: 
„Wohin der Blick des Naturforschers dringt, ist Leben oder Keim 
zum Leben verbreitet” ist eine gründliche Untersuchung der Structur 
und eine umfassende Entwickelungsgeschichte des Flachses. Der Verf. 
hat hierbei die besten Instrumente benutzt, und, mit den Untersu- 
chungen der neueren Zeit bekannt, diese Arbeit mit eben so viel Ge- 
schicklichkeit, als Ausdauer und Fleils durchgeführt. Die Beobachtun- 
gen sind genau und ausführlich beschrieben und durch eine sehr 
grolse Anzahl von Zeichnungen erläutert. Diese Zeichnungen erfüllen 
zwar den von dem Verf. beabsichtigten Zweck, sind aber nicht mit 
der Genauigkeit ausgeführt, die man jetzt bei botanischen Abhand- 
lungen verlangen kann und an welche man gewöhnt ist. Es ist zu 
bedauern, dals nach seiner eigenen Äufserung besondere Umstäden 


den Verf. gehindert haben, über die botanische Untersuchung hinaus- 
b 


IV 


zugehen, und selbst in dieser hat er Einiges unausgeführt lassen müs- 
sen, z. B. was die Krankheiten des Flachses betrifft. Da er indessen 
die Entwickelungsverhältnisse der Bastfasern des Flachses für techni- 
sche Zwecke, den Anforderungen gemäls, gründlich nachgewiesen und 
mühsam dargestellt, er also durch diese Arbeit in ökonomischer Be- 
ziehung etwas Förderndes geleistet hat, so beschlols die Akademie, 
ihm den Preis aus dem Legate, welches für wissenschaftliche Unter- 
suchungen über ökonomische Gegenstände im Allgemeinen gestiftet 
worden ist, zu ertheilen, und hofft, dals der Verf. durch diese öffent- 
liche Anerkennung veranlalst werde, seine Untersuchungen fortzusetzen 
und sie besonders auf die speciellen Forderungen der Preisfrage, näm- 
lich auf die chemischen und mechanischen Veränderungen des Flachses 
und der Leinwand auszudehnen; aulserdem hält sie es für nothwen- 
dig, dals er für den Druck aus der grolsen Anzahl von Zeichnungen 
die wichtigsten wähle, sie noch einmal mit dem Gegenstande selbst 
vergleiche, und ihnen eine grölsere Vollendung gebe. Als Verfasser 
der gekrönten Preisschrift fand sich bei Eröffnung des versiegelten 
Zettels Hr. Aloys Pollender, Doctor der Medicin und Chirurgie, 
prakt. Arzt, Operateur und Geburtshelfer in Wipperfürth. Hierauf ver- 
kündete Hr. Böckh eine neue Preisfrage der philos.-histor. Klasse, 
aus dem von Hrn. v. Miloszewski gestifteten Legat. Diese lautet wie 
folgt: Die letzte Schule der griechischen Philosophie, die neuplatonische, 
verschmelzt mit ihrer platonischen Richtung und ihrer orientalischen 
Anschauung Elemente von Systemen, welche sonst in ihrem Ursprunge 
gegen dieselben einen Gegensatz bilden, namentlich peripatetische und 
stoische Elemente. Schon der erste Neuplatoniker, Ammonius Sakkas, 
suchte recht eigentlich den Plato und Aristoteles in Übereinstimmung 
zu setzen, und einer der letzten, Simplicius, schrieb gelehrte Commen- 


tare zum Aristoteles. Das Verhältnils «les Neuplatonismus zum Ari- 


Vv 


stoteles ist einer genauern Untersuchung werth, da eine solche die 
Mischung der Elemente in dieser Lehre aufklären, das Verständnils 
derselben fördern und zugleich einen wichtigen Beitrag zur Geschichte 
des Aristotelismus geben wird. Indessen beschränkt die Akademie 
diese Aufgabe zunächst auf den Plotin, und wünscht dadurch zu 
veranlassen, dals jene allgemeine Untersuchung eine specielle Grund- 
lage empfange. Plotin hat den Aristoteles studirt. Bald nimmt er still- 
schweigend Elemente von ihm auf, bald führt er seine Lehren prü- 
fend an. Bis in seine Terminologie und seine Sprache hinein erkennt 
man diese aristotelischen Spuren. Daher wird zur schärferen Auffas- 
sung des Plotin und selbst zur Kritik seiner Schriften eine Unter- 
suchung wichtig sein, welche darauf ausgeht, das Verhältnifs des Plotin 
zum Aristoteles nach allen Seiten hin aufzufinden und möglichst zu 
erschöpfen. Anfänge dieser Untersuchung finden sich in den letzten 
Arbeiten auf diesem Gebiete. Die Akademie stellt hiernach folgende 
Preisfrage: „Wie falst und beurtheilt Plotin den Aristoteles? und welche 
„aristotelische oder peripatetische Elemente lassen sich in seiner Lehre 
„und seiner Darstellung erkennen? Diese Fragen sind so zu beant- 
„worten, dafs Plotin in diesen Beziehungen zugleich einer Kritik unter- 
„worfen wird.” Die ausschlielsende Frist für die Einsendung der Be- 
antwortung dieser Aufgabe, welche nach der Wahl der Bewerber in 
deutscher, lateinischer oder französischer Sprache geschrieben sein 
kann, ist der 1. März 1850. Jede Bewerbungsschrift ist mit einem 
Motto zu versehen und dieses auf dem Äulfsern des versiegelten Zet- 
tels, welcher den Namen des Verfassers enthält, zu wiederholen. Die 
Ertheilung des Preises von 100 Ducaten geschieht in der öffentlichen 
Sitzung am Leibnizischen Jahrestage im Monat Juli des gedachten 
Jahres. Endlich hielt Hr. Müller einen ausführlichen wissenschaft- 


lichen Vortrag über den fossilen Hydrarchos des Hrn. Koch, mit 
b2 


VI 


Vorzeigung mehrerer Stücke des versteinerten Skelets; worüber das 
Genauere theils in dem Monatsbericht der Akademie, theils in den 
später erscheinenden Abhandlungen derselben enthalten ist. 

Die öffentliche Sitzung zur Nachfeier des Geburtstages Sr. Ma- 
jestät des Königs am 21. October wurde von dem vorsitzenden 
Secretar Hrn. Encke mit einer Einleitungsrede eröffnet. Nachdem 
er die Veranlassung der Feier hervorgehoben hatte, behandelte er die 
Frage von der Öffentlichkeit wissenschaftlicher Vereine. Die bei der 
Akademie schon bestehende Einrichtung heise in dieser Beziehung 
eine Änderung des Bestehenden überflüssig und nicht rathsam er- 
scheinen, da die unmittelbare Einwirkung einer solchen auf Wahl 
des Gegenstandes und Form der Darstellung, für die Fächer, welche 
in das Gebiet der Akademie gehören, weniger geeignet sein werde, 
und die vielfachen Berufsthätigkeiten der Mitglieder aufserhalb der 
Akademie, ein angemessenes Eingehen auf die Bedürfnisse und For- 
derungen der Zeit an sich schon sicherten. Eine Besorgnils, dals die 
Wissenschaften dadurch an Geltung verlieren möchten, könne in un- 
sern Verhältnissen nicht stattfinden, und es sei reiflich zu erwägen, 
ob die Abhängigkeit, welche das Heraustreten aus dem angewiesenen 
Kreise mit sich führe, im Verhältnils stehe zu dem Nutzen, der sich 
dadurch erreichen lasse. Am Schlusse ward eine Übersicht der Thä- 
tigkeit der Akademie in dem verflossenen Jahre gegeben, durch eine 
kurze Zusammenstellung der gelesenen Abhandlungen und Vorträge, 
und der Fortschritte in den grölseren Unternehmungen, welche un- 
ter der Leitung der Akademie stehen. Hierauf las Hr. J. Grimm 
über das Pedantische in der deutschen Sprache, welches er zunächst 
in der Abweichung unserer höfischen Anredeformen von dem ein- 
fachen naturgemälsen Ausdruck nachwies, dann auch in der Ungunst 


des deutschen Artikels, gegenüber dem der romanischen Sprachen, 


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bestätigt fand. Hierauf wurde das Streben neuerer Grammatiker ge- 
tadelt, welche eine der glänzendsten Eigenschaften unserer Sprache, 
das ablautende Verbum verkennend, bemüht sind, dessen schöne Ge- 
stalten, durch die angeblich regelmälsigeren einer Verbalbildung zwei- 
ten Ranges zu verdrängen. Nicht minder pedantisch scheint die lä- 
stige Häufung der uns ausgestorbene Verbalformen ersetzen sollenden 
Hülfswörter. Vor den allzu leichtsinnig vervielfachten, zusammen- 
gesetzten Wörtern wurde im ganzen den abgeleiteten der Vorzug zu- 
erkannt, obgleich auch in der Ableitung es nicht ohne Milsgriffe ab- 
gegangen ist, wie das Beispiel der zahlreichen Verba auf ieren dar- 
thut. Dann kam die Rede auf unsere heutige Schreibung, welcher 
der Vorwurf pedantischer Barbarei nicht erspart werden kann, wie 
zumal die Milshandlung unserer Eigennamen an den Tag legt, noch 
mehr die grundlose Auszeichnung der Substantiva durch grofse Buch- 
staben. Der Vortrag schlols mit einer Erwägung, in wiefern es im 
Vermögen der Akademie früher lag, noch liegt, und künftig liegen 


kann, über der deutschen Sprache zu wachen. 


Zu wissenschaftlichen Zwecken hat die Akademie in diesem 
Jahre folgende Summen bewilligt: 
400 Rthlv. an Hrn. Prof. Dr. Franz für die Bearbeitung des Cor- 
pus Inseriptionum Graecarum. 
300 » zur Anfertigung und Erwerbung von Zeichnungen des 
Hydrarchus des Hrn. Koch unter Leitung des Hrn. 
Joh. Müller. 
100 » zur Unterstützung der von Hrn. Dr. Gerhardt in Salz- 
wedel unternommenen Herausgabe der mathematischen 


Abhandlungen von Leibniz. 


VIII 


Hr 


100 Rithlr. an Hrn. Dr. Rammelsberg zur Untersuchung der Li- 


150 


200 


175 


200 


300 


thion - Verbindungen. 

zu kleinen Ausgaben bei der Sammlung des Corpus 
Inseriptionum Latinarum. 

an Hrn. Prof. Dr. Koch zur Ausführung der Zeich- 
nung seiner Karte vom Kaukasischen Isthmus. + 

an den Prof. Dr. Winckelmann zum Behufe der Ver- 
gleichung von Handschriften des Plutarch. 

an Hrn. Prof. Bonitz in Stettin für die Anfertigung 
des Index zur akademischen Ausgabe des Aristoteles. 
an Hrn. Prof. Schwartze hierselbst zu einer Reise nach 


London, um dortige Coptische Codices zu kopiren. 


Personal-Veränderungen im Jahre 1847. 


Gestorben sind: 


. J. G. Hoffmann, ordentliches Mitglied der philosophisch - histo- 
rischen Klasse. 


F. Jacobs in Gotha, auswärtiges Mitglied der philosophisch - hi- 


storischen Klasse. 


Rühle von Lilienstern in Berlin, Ehrenmitglied der Akademie. 


Alexandre Brongniart in Paris, corresp. Mitglied der physikalisch- 


mathematischen Klasse. 


von Linde in Warschau 


Graf de Clarac in Paris 


Geijer in Upsala 


corresp. Mitglieder der philoso- 
phisch--historischen Klasse. 


Finn Magnussen in Kopenhagen 


Ausgeschieden sind: 


Hr. F. C. Eichhorn, ordentliches Mitglied der philosophisch - histo- 


Sir 
Hr. 


rischen Klasse, in Folge der Verlegung seines Wohnsitzes von 
Berlin nach Ammern bei Tübingen, wurde aber zugleich zum 
auswärtigen Mitgliede der philosophisch -historischen Klasse er- 
nannt (s. unten). 

F. v. Raumer, ordentliches Mitglied der philosophisch - histori- 
schen Klasse und Secretar der Klasse, in Folge seiner Erklä- 
rung vom 22. März 1847. 


Erwählt wurden: 


. Trendelenburg, ordentliches Mitglied der philosophisch - histo- 


rischen Klasse, zum Secretar derselben Klasse am 31. Mai und 
bestätigt durch die Königl. Kabinets-Ordre vom 12. Juli 1847. 

Dieterici zum ordentlichen Mitgliede der philosophisch - histori- 
schen Klasse am 17. December 1846 und bestätigt durch die 
Königl. Kabinets-Ordre vom 20. Januar 1847. 

F. C. Eichhorn in Ammern bei Tübingen, bisher ordentliches 
Mitglied der philosophisch-historischen Klasse, zum auswärtigen 
Mitgliede derselben Klasse, am 15. April 1847. 

Garabad Artin Davoud-Oghlou in Constantinopel zum Ehren- 
mitgliede der Akademie am 10. Juni und bestätigt durch die 
Königl. Kabinets -Ordre vom 24. Juli 1847. 

J. M. C. Duhamel in Paris 

H. Milne Edwards in Paris zu corresp. Mitgliedern 

Hugo von Mohl in Tübingen der phys.-math. Kl. 

Rooderick Impey Murchison in London| am 15. April 1847. 

H. V. Regnault in Paris 


'. A. J. C. A. Dureau de la Malle in Paris]zu corresp. Mitgliedern der 


G. F. Grotefend in Hannover philos.-histor. Klasse 
E. Sarti in Rom am 15. April 1847. 
Visconde de Santarem in Paris 

P. A. Munch in Christiania zu corresp. Mitgliedern derselben 
C. Bartholmes in Paris Klasse am 10. Juni 1847. 


F. Ravaisson in Paris 


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Verzeichnils 
der Mitglieder der Akademie 
am Schlusse des Jahres 1847. 


nmannmmmnmannnnn 


Il. Ordentliche Mitglieder. 


Physikalisch-mathematische Klasse. 


Herr Grüson, Yeeran .... 
A.®v. Humboldt ... 
Eytelwein, Neteran . . . 


v. BucaA u Mr. 1806 März 27. 
Erman, Newan., .... 15806 März 27. 
Lichtenstein Veteran „ . 1814 Mai 14. 
Weis .. . . 1815 Mai3. 
VE A a etrri.c 1815 Juli 15. 
Mitscherlich. ..... 1822 Febr. 7 
Karsten. N... . 1822 April 18. 
Encke, Secear . 2... 1825 Juni 21. 


Dirksen (E. 


Be 


Datum der Königl. 
Bestätigung 


——— 


1798 Febr. 22. 


1800 Aug. 4. 
1803 Jan. 27. 


1825 Juni 21. 


Ehrenberg, Seceu@r . . 1827 Juni 18. 


Crelle 


v. Savigny, 


Böckh, Veteran. Secretar „ 


Bekker.... 
Ritter 
Bopp » 


Lachmann . 
Ranke 
v. Schelling 


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Jac. Grimm 
Zumpt 


1827 Aug. 23. 


Herr Klug 


Kunth . . 
Dirichlet 


Steiner 
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v. Olfers 


Dove 


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Philosophisch-historische Klasse. 


Veteran 


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2) Let ie oille 


. . 1811 April 29. 
. 1814 Mai 14. 


1815 Mai 3. 


. 1822 April 18. 
1822 April 18. 


1830 Juni 11. 
1830 Juni 11. 
1832 Febr. 13. 
1832 Mai 7. 
1832 Mai 7. 


. 1835 März 12. 


Herr Gerhard 
Panofka 
Neander. . 


von der Hagen... . 
Wilh. Grimm 


‚Schott 


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Pertz 


ehe ce.ce, lej ie, je hie 


Trendelenburg, Secretar 


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[p) 


XI 


Datum der Königl. 
Bestätigung. 


1830 Jan. 11. 
Jan. 11. 
Febr. 13. 
Febr. 13. 
Juli 16. 
Juli 16. 
Juli 16. 
April 5. 
Jan. 4. 
Jan. 4. 
Febr. 4. 
Jan. 27. 
Juni 28. 
Juni 28. 


März 12. 
April 5. 
März 14. 
März 9. 
März 9. 
März 9. 
März 9. 
1843 Jan. 23. 
1846 März 11. 


. 1847 Jan. 20. 


Xu 


N. Auswärtige Mitglieder. 


Physikalisch-mathematische Klasse. 


Herr Gaufs ın. Göttingen. .....:.20 een ee 
- Freih. v. Berzelius in Stockholm ........... 
"Aragon Pause.) BDk Klar NN SEUNER. 
- Robert Brown in London ..... N NEN: 2 


=B'Gauchy: in Paris lem nae u. er RE 
Sir John Herschel in Hawkhurst in der Grafschaft Kent 
Herr Faraday in London 


oo. 


As: Norlaie, ın, fahre Pate lei .ulkeiitutn ud Lied 


-0Gay-Lussac in ‚Paris\ sro ...2 0 2 ad. 
Sir David Brewster in Edinburg 


Philosophisch-historische Klasse. 


Herr Gottfr. Hermann in Leipzig ......... C . . 1820 Sept. 3. 
06. Ritter intGöftingen. .... 1 ee 1832 Febr. 13. 
- Eichhorn in Ammern bei Tübingen ......... 1832 Febr. 13. 
us. Betronne mW Barisenart te Sa b . 1832 Mai 7. 
1. Gousiryin „Parisv nahe ae ee DRIN ER: 1832 Mai 7. 
= Lobeck: in. Königsberg: %...2.%. ee 1832 Mai 7. 


- H. H. Wilson in Oxford 
- Guizot in Paris 
- Welcker in Bonn 


De u JR 3 Din SIsO En PO oe ee 


Me a, nie a Ne we) ae, im Sohle 8 BLU 


Datum der Königl. 
Bestätigung. 


1810 Juli 18. 


1825 Juni 28. 
1828 Jan. 4. 


. 1834 März 20. 


1836 April 5 
1839 Febr. 4 
1842 Juni 28. 
1842 Juni 28. 


. 1846 März 11. 


1839 April 21. 
1840 Dec. 14. 
1846 März 11. 
1846 März 11. 


II. Ehren-Mitglieder. 


Datum der Königl. 
Bestätigung. 


Herr /Imbert Delonnes in Paris ............ 1801 Oct. 22. 

- Graf v. Hoffmansegg in Dresden... .. ... 1815 Mai 3. 
- William Hamilton nLondon.......... 1815 Juni 22. 
Fresken MioRdon. 222.272 RER. Eh et: 1815 Juni 22. 
-  General-Feldmarschall Freih. v. Müffling in 

Berlinik v. en HE MIESBER ne a1 1823 Juni 23. 
- ». Hisinger auf Skinskatteberg bei Köping in 

SChweden ne 2 2 BUT EL METER. . 1828 Jan. 4. 
- Freiherr ®. Zindenau in Altenburg... ..... 1828 Jan. 4. 
- Bunsen in London ...... I ENG Al 1835 Jan. 7. 
- Duca di Serradifalco in Palermo ........ 1836 Juli 29. 
- Freiherr Prokesch von Osten in Athen... ... 1839 März 14. 
- Duc'de Zuynes in Paris .. +...» vo... 1840 Dec. 14. 
- Carl Lucian Bonaparte Prinz von Uanıno in 

BIOVENZ. .. 2 euer. AREA ERS 1843 März 27. 
- HWheaton in New-York . 2... c.»s..... 1843 Sept. 30. 
= MerianiintBasel u. ..u.n: AR Bere. 1845 März 8. 
-  Garabed Artin Davoud-Oghlou in Constanti- 

MODEIR eu. = nase nem en en. AR eh REEHRNE 1847 Juli 24. 


c2 


xXIn 


XIV 


IV. Correspondirende Mitglieder. 


Für die physikalisch-mathematische Klasse. 


Datum der Wahl. 


Herr Agassiz in Neuenburg. .... . 1836 März 24. 


Biddell Airy in Greenwich . . . 1834 Juni 5. 
Amıcinm Blorenz eu . . 1836 Dec.1. 
Argelander n Bom ....... 1836 März 24. 
v. Baer in St. Petersburg ..... . 1834 Febr. 13. 
Becquerel in Paris ....... . 1835 Febr. 19. 
P..Berthier.n Paris ..... . . 1829 Dec. 10. 
Biot. ın „Paris .rel.d. 2. a1 unzer. 
Brandt in St. Petersburg ..... . 1839 Dec. 19. 
Adolphe Brongniart in Paris . .. 1835 Mai 7. 


Bunsen in Marburg ....... 1846 März 19. 
Garlima in) Mallandean eur 1826 Juni 22. 
Carus, in. Dresdenu.!. ‚a. 1827 Dec. 13. 
Chevreul, in) Parıs ser u: 1834 Juni 5. 

®. Dechen in Bonn ....... 1842 Febr. 3. 

Döbereiner in Jena ....... 1835 Febr. 19. 
Dufrenoy in Paris ........ 1835 Febr. 19. 
Duhamel cm Paris) ven an a 1847 April 15. 
DNB DumasıınWDarisa 1834 Juni 5. 

Elie de Beaumont in Paris ... . 1827 Dec. 13. 
Eschricht in Kopenhagen ... . 1842 April 7. 
Fechner in Leipzig ........ 1841 März 25. 


F. E. L. Fischer in St. Petersburg 1832 Jan. 19. 
Gotthelf Fischer in Moskau ..... 1832 Jan. 19. 


Klauti in Neapel... ..... » ... 1829 Dec. 10. 
Kuehs, in München@. m... 1834 Febr. 13. 
Gaudichaud in Paris ....... 1834 Febr. 13. 
Gergonne in Montpellier ..... 1832 Jan. 19. 
C. G. Gmelin in Tübingen ....... 1834 Febr. 13. 
L. Gmelin in Heidelberg ....... 1827 Dec. 13. 


Göppert in Breslau ........ 1839 Juni 6. 


Datum der Wahl. 


Herr Thom. Graham in London... .. . 1835 Febr. 19. 


- Haidinger in Wien .:... “2.2.0. 1842 April 7. 
Sir W.R. Hamilton in Dublin ..... . 1839 Juni 6. 
Herr Hansen in Gotha ......... . . 1832 Jan. 19. 


- Hansteen in Christiania ....... . 1827 Dec. 13. 
- Hausmann in Göttingen ....... 1812 


Sir W. J. Hooker in Kew........ . . 1834 Febr. 13. 

Herr Jameson in Edinburg ......... 1820 Juni 1. 
ER KOM ZEINBDJOTDIat 2 ee ee 1841 März 25. 
- Kummer’ in Breslau . !. 2... . . 1839 Juni 6. 
SER ANENIN? Parist nur Pu OEM EUpS ER. ZRIE, 1838 Dec. 20. 


- m. Ledebour in Dorpat ........ 1832 Jan. 19. 
me Werrier ın“ Paris? see SNENSAGHDec.lT. 
ee Grat Prbronin Paris) Nasa Janzıy. 
- Freiherr ®. Liebig in Gielsen....... 1833 Juni 20. 


MEMAIEP IMNEORAON*. U. ur ee. . 1834 Febr. 13. 
WE Eiouptllern. Parse ont. REINE ER ER 1839 Dec. 19. 
9.2 Martıus in% München ı.. "a N 1832 Jan. 19. 
= MellonesinuINeapelen rasen. N 1836 März 24. 
- Milne Edwards’ in ‘Paris... 1847 April 15. 
- Möbius in Leipzig ..... Sergio 1829 Dec. 10. 
- Hugo v. Mohl in Tübingen ...... 1847 April 15. 
#8 Morun Netzer een N, 1839 Juni 6. 
- "Moser in Königsberg... ........ 1843 Febr. 16. 
Se Yen mW Ütrechteie Emo 1845 Jan. 23. 
Sir Roderick Impey Murchison in London . 1847 April 15. 
Herr Naumann in Leipzig.......... 1346 März 19. 
- F.E. Neumann in Königsberg .... . 1833 Juni 20. 
- Oersted in Kopenhagen... ...... 1820 Nov. 23. 
Se Ohr NUrDberet ee 1839 Juni 6. 
- R. Owen in London... ..... . . 1836 März 24. 
Se delPambourn" Paris ma asien ale . 1839 Juni 6. 
ur EN LE Were koesfeer 1812 
AN N a NL es are 1832 Jan. 19. 
SEWPOTLCEIEL INT DArIS? N ee iR am 1832 Jan. 19. 
- "de Pontecoulant in Paris... .. .... 1832 Jan. 19. 
EP TESCNIYDTACH. > RR SEN NE BE ERS IEER 1838 Mai 3. 
SBNPruinkinfe in "Breslau... 20 Memaur BE! 1832 Jan. 19. 


Se @nerelee im. Brüssel 4 3 2.0 RR DE 1832 Jan. 19. 


XV 


xXVI 


Herr Rathke in Königsberg... . . 


Regnault in Paris ......: 
Retzius in Stockholm... .. 
Achille Richard in Paris... 
Richelot in Königsberg ..... » 
de la Rive in Genf ...... 


Aug. de Saint-Hilaire in Paris .. 


Jul. Cesar de Sayigny in Paris 


v. Schlechtendal in Halle .. 
Schumacher in Altona .... 


Seebeck in Dresden... ..... 
Marcel de Serres in Montpellier . 
v. Siebold in Freiburg ...... 


Struve in St. Petersburg ... 
‚Studen ın "Bern Ylayicy a ai 
Sturm nt Paris ra acer 
Tenore in Neapel ...... - 
Thenard m Paris... ..... 
Tiedemann in Heidelberg .. 
Tilesius in Leipzig ...... 


Datum der Wahl. 


. 1834 Febr. 13. 


1847 April 15. 
1842 Dec. 8. 
1835 Mai 7. 


. 1842 Dec. 8. 


. 


1835 Febr. 19. 
1834 Febr. 13. 
1826 April 13. 


. 1834 Febr. 13. 


1826 Juni 22. 
1845 Jan. 23. 
1826 April 13. 


. 1841 März 25. 


1832 Jan. 19. 
1845 Jan. 23. 
1835 Febr. 19. 
1812 
1812 
1812 


. 1812 


Treriramus ın Bonn. » 2 unnrsc 


Aug. Valenciennes in Paris . 
Rud. Wagner in Göttingen . 
Wahlenberg in Upsala.... 
Wallich in Caleutta ..... 


1834 Febr. 13. 


. 1836 März 24. 


1841 März 25. 


. 1814 März 17. 


E. H. Weber in Leipzig....... 


W.Weber in Leipzig .... 


Wöhler in Göttingen ....... 


1832 Jan. 19. 
1827 Dec. 13. 


. 1834 Febr. 13. 


1833 Juni 20. 


Für die philosophisch-historische Klasse. 


. . 1812 


1845 Febr. 27. 


. . 1847 Juni 10. 


. 1845 Febr. 27. 
. 1846 März 19. 


1845 Febr. 27. 
1836 Juni 23, 


. 1832 April 12. 


Avellino in Neapel ........ 
Baneroft in London ......... 
Bartholmes in Paris ....... 
Bergk in Marburg... ..... 2 
Bernhardy in Halle........ 
Böhmer in Frankfurt a..M. ..... 
Graf Borghesi in St. Marino..... 
Brandis in'Bonn '. ..% yretench 
Braun in Rom... ereskr 


1843 Aug. 3 


Herr Burnouf in Paris ....:..... 


Cavedoni in Modena ......»».» 
de Chambray in Paris .. 2...» 
Chmel in Wien ......... 00%. 
Charl. Purton Cooper in London .. 
Dahlmann in Bonn......... 
Delbrück in Bonn........-- 
Diezsın"Bonne 2 2 ec ao Rn e 
W. Dindorf in Leipzig ..... + - 
Dureau de la Malle in Paris..... 
w. Frähn in St. Petersburg... .. - 


Freytag in Bom ....... +. 
Del Furia m Florenz... ......- 
Geel in Leyden .... cr... 


Gervinus in Heidelberg ..... . - . 
Göttling in Jna...... +... - 2 
G. F. Grotefend in Hamover .... 
Guerard ın Paris... 0 . Eu er er 


Freih. v. Hammer-Purgstall in Wien 
Hasetin. Paris. = 2. c „ein. ren 


Sir Graves Chamney Hauglhıton in London 
Herr Haupt in Leipzig... cr .. 


C. F. Hermann in Göttingen. .... 
Hildebrand in Stockholm... ... - 
o. Hormayr in München ......- 
Kormnard ın. Paris eek nen eat 
Stanisl. Julien in Paris ...:.-- Bi: 
Kemble in London ......... E 
Kopp in BKuzernr. 2 Reese 
Kosegarten in Greifswald... .... 
Labus in Mailand ..........- 
Lajard in Paris ... ee rr 00. 
Lappenberg in Hamburg .. . . - = 
Tassen. ın Boun . » 0.00 002 Alehak 
Leemans in Leyden......- lb aER 
Lehrs in Königsberg... . . ER: 
Lenormant in Paris .......-..» 
Lepsius in Berlin, .. . 2 0. ewdh.i- 
Töbell mn Bonn... ..... mas: 


Dautm der Wahl. 


— 
1837 Febr. 16. 


1845 Febr. 27. 
1333 Juni 20. 


1846 März 19. 


1836 Febr. 18. 
1845 Febr. 27. 
1812 

1845 Febr. 27. 
1846 Dec. 17. 
1847 April 15. 
1834 Dec. 4. 
1829 Dec. 10. 
1819 Febr. 4. 
1836 Juni 23. 
1845 Febr. 27. 
1844 Mai 9. 
1847 April 15. 


1845 Febr. 27. 


1814 März 17. 
1812 


1837 Febr. 16. 


1846 März 19. 
1840 Nov.5. 


1845 Febr. 27. 
1829 Febr. 12. 


1821 Aug. 16. 
1842 April 14. 


1845 Febr. 27. 
1846 März 19. 


1829 Dec. 10. 
1843 März 2. 
1846 Dec. 17. 


1845 Febr. 27. 


1846 Dee. 17. 
1844 Mai 9. 


.. 1845 Febr. 27. 
1845 Febr. 27. 


1844 Mai 9. 
1846 Dec. 17. 


xVu 


XVII 


Datum der Wahl. 


Herr J. J. da Costa de Macedo in Lissabon . . 1838 
- Madvig in Kopenhagen .......... 1836 
- NMachnı Rom... ee ee el. are n1822 
- Graf della Marmora in Genua ...... 1844 


4 Merer un’ Halle nu.und.. Asa. Kraus 1824 
- Molbech in Kopenhagen .......... 1845 
- Münch an Christiania oe 22 SEE. u 1847 
AeMusto scıdes, na Vorfu.. u 1815 
- C. F. Neumann in München ..... . . 1829 
- Constantin Oekonomos in Athen... ... 1832 
- ta N Orelluhn, Zürich. EUR ee 1836 
=NOrt > Manara an Verona 22 Rene 1842 
-,t Balackyin Prag... ERENTO 1845 
Sir Francis Palgrave in London ........ 1836 
Hertz Ama Reyzor un lurin. We. ee 1836 
Sir Thomas Phillipps in Middlehill....... 1845 
Herr! Prescottän Boston EmD.erl. Dr Daten 1845 
ZRH N OuntmerneneiinBarise.n one Ve he 1812 
- Rafn in Kopenhagen... .......... 1845 
— Raoul=Rochette.in Paris... .. 0: 1832 
=/I Rayarsson, inYBarısı m Mnleke - ELBA 
- w. Reiffenberg in Brüssel ......... 1837 
- ‚ohatschläini Bonn% . ass. ME var: 1845 
A Hojskanalklallei. 230.0. em lt 1836 
= de WSantarem in Paris, all. en 1847 
At Sant, a0 MRoOmın ee ee 1847 
-H1 Schaffariksin. Drag, » .... #160. Are 1840 
8 Schmelleriin München‘... . .I.k..d.o.. 1836 
- Schömann in Greifswald... ....... 1824 
-MiSeechräin IRomı.......:. HEULEN 1846 
- Sparks in Cambridge bei Boston... ... 1845 
- \Spengel‘iin Heidelberg ... ... . ..u.. si: 1842 
t Stäln sn lStutigartı 3. nue.tl. el 1846 
-uSterzeliinsBreslau..... ....... 2 seie Ku: 1845 
= Kiihierschihn: München. . sn 1825 
1% Uhländ\in: Tübingen»... Brauner 1845 
-e Korst anWlRKönissberg 1.) ER. ne. 1846 
= ,Mkaitzuani Göttingen, . ..... Ulla: 1842 
wldeYattehin Paris... u. 20... 6 Me 1845 


> 7 17:2 22250 


Febr. 15. 
Juni 23. 
Febr. 28. 
Mai 9. 
Juni 17. 
Febr. 27. 
Juni 10. 
Juni 22. 
Dec. 10. 
Dec. 13. 
Juni 23. 
Dec. 22. 
Febr. 27. 
Febr. 18. 
Febr. 18. 
Febr. 27. 
Febr. 27. 


Febr. 27. 
April 12. 
Juni 10. 
Dee. 7. 

Febr. 27. 
Febr. 18. 
Juni 10. 
April 15. 
Febr. 13. 
Febr, 18. 
Juni 17. 
März 19. 
Febr. 27. 
Dec. 22. 
Dee. 17. 
Febr. 27. 
Juni 9. 

Febr. 27. 
Dee. 17. 
April 14. 
Febr. 27. 


Physikalische 


Abhandlungen 


der 


Königlichen 


Akademie der Wissenschaften 


zu Berlin. 


a 


Aus dem Jahre 


1827. 


aaa onen 


Berlin. 


Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie 
der Wissenschaften. 


1849. 


In Commission in F. Dümmler’s Buchhandlung. 
D' 


Inhalt. 


NEUMANN über ein allgemeines Princip der mathematischen Theorie inducirter 


elektrischers Strömen men nee ee ER Bee al ne 
HERMANN KARSTEN: Die Vegetationsorgane der Palmen, eine vergleichend - ana- 
tomisch -physiologische Untersuchung... .........2.0. 
MÜLLER über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten... ...... der 


Derselbe: Bemerkung über die Fulsknochen des fossilen Gürtelthiers, Glyptodon 
CIGB DES ONE > en on olakie er ableiten ehe ef ehr 
EHRENBERG: Passatstaub und Blutregen. Ein grofses organisches unsichtbares 


Leben in der Atmosphäre... .. are 


Seite 1 


73 
237 


Be len Be Ba 


f} i 
2 Fed %) 


1 


Über 
ein allgemeines Princip der mathematischen 
Theorie inducirter elektrischer Ströme. 


on 


H” F. NEUMANN. 


mmnnnannnannnmun 


[Vorgelegt in der Akademie der Wissenschaften am 9. August 1847.] 


k meiner Abhandlung über die mathematischen Gesetze der inducirten 
elektrischen Ströme (!) habe ich die Fälle von linearen Induktionen behan- 
delt, in welchen die gegenseitige Lage der Elemente der bewegten Stücke 
unverändert bleibt, diese also nicht ihre Form, nur ihre Lage verändern, 
die Stücke mochten übrigens dem inducirten Leiter-System oder dem indu- 
eirenden Strom-System angehören. In der vorliegenden Abhandlung findet 
in Beziehung auf die Bewegung der Elemente eines jeden der beiden Systeme 
keine andere Beschränkung statt, als die, welche für das Zustandekommen 
von indueirten Strömen überhaupt nothwendig ist, nemlich dafs die Ele- 
mente eines jeden der beiden Systeme während ihrer Bewegung unter einan- 
der in leitender Verbindung bleiben. Diese weitere Entwickelung des in der 
frühern Abhandlung zum Grunde gelegten Induktions - Gesetzes hat zu einem 
so einfachen und allgemeinen Theorem geführt, dafs dieses jetzt als ein Prin- 
eip der mathematischen Theorie der inducirten elektrischen Ströme angesehn 
werden kann. 
Dies Theorem läfst sich so aussprechen: 

Wird ein geschlossenes, unverzweigtes, leitendes Bo- 

gensystem A, durch eine beliebige Verrückung seiner 

Elemente, aber ohne Aufhebung der leitenden Verbin- 


(') Die mathematischen Gesetze der inducirten elektrischen Ströme von F. E. Neumann. 
Aus den Schriften der Berlin. Akad. d. W. von 1845 besonders abgedruckt. Reimer 1846. 


Phys. Kl. 1847. A 


[80] 


NEUMANN über ein allgemeines Princip 


dung derselben, in ein anderes A, von neuer Form und 
Lage übergeführt, und geschieht diese Veränderung von 
A,in A, unter dem Einflufs eines elektrischen Strom- 
Systems B, welches gleichzeitig durch eine beliebige 
Verrückung seiner Elemente eine Veränderung in Lage, 
Form und Intensität von B, in B, erfährt, so ist die Summe 
der elektromotorischen Kräfte, welchein dem leitenden 
Bogensystem durch diese Veränderungen indueirt wor- 
den sind, gleich dem mit der Induktions-Oonstante e 
multiplieirten Unterschied der Potentialwerthe des Stro- 
mes B,in Bezug auf A, und des Stroms B, in Bezug auf A,, 
wenn A, und A,von der Strom-Einheit durchströmt ge- 
dacht werden. 

Der vorstehende Ausdruck des Theorems setzt voraus, dafs das indu- 
eirte Leiter-System ohne Verzweigungen ist, und dem indueirten Strome 
also nur eine ungetheilte Bahn bietet. Hat das Leiter-System Verzweigun- 
gen, so mufs man dasselbe sich in geschlossene unverzweigte Umgänge zer- 
legt denken, und auf jeden dieser Umgänge, als wäre er nur allein vorhan- 
den, das Theorem anwenden. Dadurch erhält man die Summe der in jedem 
dieser einfachen Umgänge inducirten elecktromotorischen Kräfte, und dies 
ist diejenige Gröfse, deren Kenntnifs nöthig und hinreichend ist um, wenn 
die Leitungswiderstände gegeben sind, die Stärke des inducirten Stromes 
in jedem Theile des Leiter-Systems zu bestimmen. In dieser Erweiterung 
giebt das vorstehende Theorem unmittelbar den Ausdruck der eleetromoto- 
rischen Kräfte in allen Fällen von linearen Induktionen, welche durch Ver- 
änderungen der Stromstärke und der relativen Lage der Strom-Elemente in 
Bezug auf die Elemente eines beliebig verzweigten Leiter-Systems in diesem 
erregt werden, die Fälle nicht ausgeschlossen, in welchen durch Verrückung 
von Stromstücken oder Stücken des Leiter-Systems Elemente aus der Bahn 
des inducirenden oder des inducirten Stromes heraustreten, oder eintreten. 
Die Gesetze der Magneto -Induktion sind als ein besonderer Fall in dem 
Theorem enthalten. Nicht unter diesem Theorem begriffen sind die Fälle, 
wo ein so rascher Wechsel der inducirenden Ursache stattfindet, dafs in dem 
indueirten Strom keine gleichförmige Strömung angenommen werden darf, 
wie z. B. bei den elektrischen Entladungen. 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 3 


Der Potentialwerth eines geschlossenen elektrischen Stromsystems in 
Bezug auf ein anderes geschlossenes Stromsystem ist die negative halbe Summe 
der Produkte der Bahnelemente des einen Systems mit den Bahnelementen 
des andern, jedes Produkt zweier Elemente mit ihren Intensitäten und dem 
Cosinus ihrer Neigung gegeneinander multiplieirt, und durch ihre gegensei- 
tige Entfernung dividirt. (1) 

Es sei Dr, ein Element der inducirenden Strombahn B, in der An- 
fangsposition ihrer Elemente, i, die Stromstärke in Dr,; es sei ferner Ds, ein 
Element des inducirten Leiter- Umgangs A, in seiner Anfangsposition und 
(Dr,. Ds,) bezeichne die Neigung von Dr, gegen Ds,,, so wie r, die gegen- 
seitige Entfernung dieser Elemente. Durch Q(s,. s,) werde der Potential- 
werth des Stromes B, in Bezug auf den von der Strom -Einheit durchström- 


ten Umgang A, bezeichnet. Für die Endpositionen B, und A, sollen i 


02) 


Dr,, Ds,, r, die entsprechende Bedeutung haben. Dann ist 


Ole ee en 


T, 


os, e; $,) — Tr z $37, er - 20 Dr, Ds, 


Tu 


worin die mit S und 3 bezeichneten Integrationen auf alle Elemente Ds des 
indueirten Leiterumganges und alle Elemente Dr des inducirenden Strom- 
systems auszudehnen sind. 

Die Summe der elektromotorischen Kräfte, welche während die Strom- 
und Leiter-Elemente aus ihren Anfangszuständen in ihre Endzustände über- 
gegangen sind, inducirt worden sind, ist nach dem vorstehenden Theorem 


e 100, 8,) — 92. 5)} (4) 


wofür ich auch schreibe 


rurgs [= ADE: 2 TDr Ds (2) 


r 


worin die Klammer [ ]’ die Differenz der Werthe bezeichnen soll, welche 
die von ihr eingeschlossene Gröfse in den Endpositionen der Strom- und 
Leiter-Elemente und in den Anfangspositionen besitzt. Diese Grenz-Po- 
sitionen werden durch die der Klammer oben und unten zugefügten Indices 
angedeutet. 


(') Siehe hinten die der Abhandlung beigefügte Note. 


4 Neumann über ein allgemeines Princip 


Aus dem vorstehenden Ausdruck für die inducirte elektromotorische 
Kraft kann man leicht einen eben so allgemeinen Ausdruck für den in dem 
Leiter- Umgang A inducirten Strom ableiten. Zu diesem Ende betrachten 
wir als Anfangs- und Endposition der Strom- und Leiter- Elemente zwei 
sehr wenig von einander-verschiedene Positionen derselben, welche zur Zeit 
tz und Z+09: stattfinden, wo 92 das Zeitelement bezeichnet. Die während 
dieses Zeitelements inducirte elektromotorische Kraft ist nach (2) 


2 +0: 
1 icos (Ds. Ds) 
— 4.53 | —| Ds Dr 
und dafür kann man schreiben 
(3) es pn, 


Das Produkt dieser elektromotorischen Kraft mit dem reciproken Lei- 
tungswiderstand € des inducirten Leiters giebt den zur Zeit £ vorhandenen 
inducirten Differentialstrrom D. Wird dieses Produkt zwischen ? =, 
und ?=1, integrirt, so erhält man’ den in dem Zeitraum Z, — t, inducirten 
Integralstrom J. Man hat also: 


(4) D=—4e Sy ee) Di DE 
Fer f ; a. i cos (Ds..Dr) Ds Ds 
(5) I=—zefüte 262 a2 


Wenn die Verrückungen der Elemente des Leiters keine merkliche Verän- 
derung des Leitungwiderstandes des inducirten Stroms herbeiführen, also €’ 
konstant ist, oder so angesehn werden kann, so hat der inducirte Integral- 
strom den Ausdruck: 


7 
(6) J=—7zeS3 ga |2> Ps 
7 


und dieser verwandelt sich, wenn der inducirende Strom unverzweigt ist in 


F L,, 
(7) J,= —+2182 [9°] Ds De 
t 


’ 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. b} 


Die Ausdrücke der Stromstärken (4), (5), (6) und (7) setzen einen ein- 
fachen d. h. unverzweigten indueirten Leiter- Umgang voraus. Ist der indu- 
eirte Leiter verzweigt so müssen die Stromstärken in den einzelnen Zweigen 
nach den Sätzen von Kirchhoff mittelst des Ausdrucks (3) bestimmt wer- 
den, welcher dann auf die einzelnen einfachen Umgänge, die aus den Zwei- 
gen gebildet werden können, angewandt werden mufs, und die in ihnen 
während des Zeit-Elements entwickelte elektromotorische Kraft giebt. 

Die Absicht der vorliegenden Abhandlung ist die Ableitung des eben 
ausgesprochenen Theorems über die inducirte elektromotorische Kraft aus 
dem in meiner frühern Abhandlung zum Grunde gelegten Induktions- Gesetz. 
Ich habe dieselbe in fünf $$ getheilt. 

$. 1. behandelt die Induktionsfälle, in welchen die Leiter -Elemente unter 
dem Einflufs eines ruhenden konstanten Stroms bewegt werden. 

$. 2. behandlt die Fälle in welchen in einem ruhenden Leiter durch die 
Bewegung von Strom -Elementen Ströme indueirt werden. 

$. 3. behandelt die durch gleichzeitige Bewegung der Strom- und Leiter- 
Elemente erregten Induktionen. 

$. 4. handelt von den durch Veränderungen der Stromstärken und gleich- 
zeitige Bewegungen der Strom- und Leiter - Elemente inducirten Strö- 
men. 

$. 5. untersucht in wieweit Übereinstimmung stattfindet zwischen dem oben 
ausgesprochenen Theorem und den neuen Grundsätzen über die Wir- 
kung bewegter Elektrieität in der Ferne, welche W. Weber in sei- 
nen elektrodynamischen Maafsbestimmungen (!) gegeben hat. 


1. 


In diesem $ soll der Ausdruck für die Intensität der Ströme entwik - 
kelt werden, welche in einem linearen geschlossenen Leiter inducirt werden, 
wenn die Elemente desselben unter dem Einflufs eines ruhenden konstanten 
Stroms auf eine beliebige Weise aus einer Lage in eine andere geführt wer- 
den. Auf diesen Induktionsfall läfst sich unmittelbar derjenige zurückfüh- 


(‘) Electrodynamische Maasbestimmungen von W. Weber. Leipzig 1846. Besonders 
abgedruckt a. d. Schriften der Königl. Sächsischen Academie. 


6 Neumann über ein allgemeines Princip 


ren, in welchem aufser den Leiter-Elementen auch die Strom - Elemente 
eine Bewegung besitzen, wenn diese von der Beschaffenheit ist, dafs die ge- 
genseitige Lage der Strom-Elemente dadurch nicht geändert wird. Man 
kann in diesem Falle dem Strom- und Leiter-System eine solche gemein- 
schaftliche Bewegung geben, dafs der Strom ruht. Diese, beiden Systemen 
gemeinschaftliche Bewegung erregt keine Induktion. 

Es seien Do und Ds Elemente der inducirenden Stromcurve und in- 
ducirten Leitercurve; die Coordinaten dieser Elemente seien £, n, & und x, 


Y, 2, ihre gegenseitige Entfernung r, wo also 
a ar I an Sa 

Die Winkel welche # mit Ds und Dr macht sollen mit $ und $ bezeichnet 
werden, und der Winkel unter welchen diese Elemente gegeneinander ge- 
neigt sind, sei n. Die Geschwindigkeit, mit welcher Ds fortgeführt wird, 
sei v, sein Weg o, dessen Element do, so dafs v = = wo of das Element 
der Zeit bezeichnet. Die Geschwindigkeit v ist eine Funktion von s und £. 

Nach dem in meiner frühern Abhandlung aufgestellten Induktions- 
Princip ist die während 02 in dem Element Ds durch den Strom, unter des- 
sen Einflufs es bewegt wird, inducirte elektromotorische Kraft EDs ausge- 
drückt durch 

(1) EDs = — evC Ds dt 


worin CDs die nach do zerlegte Wirkung bezeichnet, welche der Strom auf 
das Element Ds ausübt, dieses von der Strom -Einheit durchströmt gedacht, 
und e die Induktions - Konstante ist. 

Nach Ampere’s Gesetz hat die Wirkung welche das Strom - Element 
Dr auf Ds ausübt, die Richtung von 7, und ihr Werth ist, wenn j die Strom- 
stärke von Dr bezeichnet: 


Ds Ds 


r? 


—j fcosy— — c0s 4 cos It 

Das negative Vorzeichen ist dieser Wirkung gegeben, weil sie die Entfer- 
nung der Elemente zu verkleinern strebt. Der vorstehende Ausdruck läfst 
sich, wie Ampere gezeigt hat, durch partielle Differentialquotienten von r 
nach s und r ausdrücken, und verwandelt sich dadurch in: 


. Ds Dr A d’r ı dr dr 
J TE ds ds as Nde 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 1 


Diese Gröfse ist nun, um die Componente der Wirkung von Dr auf Ds 
nach do zu erhalten, mit dem Cosinus des Winkels zu multiplieiren, unter 
welchem do gegen r geneigt ist, d.i. (?) mit u Die Summe dieser Com- 
ponenten in Beziehung auf alle Dr giebt die in (1) mit CDs bezeichnete 
Gröfse. Ich setze zunächst voraus, dafs sowohl der inducirende Strom als 
der inducirte unverzweigt ist. Die Fälle in welchen dieselben verzweigt 
sind, werde ich am Schlusse dieses $ berücksichtigen. In dem vorausge- 
setzten Falle hat j in jedem Dr denselben Werth, und man hat also: 


CDs=jDs2%lr en +2 214 (2) 


Substituirt man diesen Werth von C in (1) und nimmt hierauf die 
Summe von EDs in Beziehung auf alle Ds, so erhält man die zur Zeit £ 
während des Elements di in dem ganzen Leiter s inducirte elektromotorische 
Kraft. Diese Summe mit dem reciproken Leitungswiderstand € des Leiters 
multiplieirt giebt, da der Leiter unverzweigt ist, den in ihm indueirten Dif- 
ferentialstrom D, und dieser, in Beziehung auf £ von Z, bis £, integrirt, 
giebt den in dem Zeitintervall Z, — , indueirten Integralstrom J. Dem- 
nach ist also 


Ds Ds d?r dr dr dr 
BEISTUER Y >23 Pa Tine mierı k 
Hr efwejsz r? ! FETTE = do 3) 
oder 
ach 
wenn 
n, Ds Ds d?r dr dr dr = 
u = See a ed f 
E= ef 82 a r® [, ds ds as =} do L (2) 


gesetzt wird. Ich bemerke dafs der Ausdruck von J in (3) oder (4) nur den 
durch die Verrückung der Leiter -Elemente inducirten Strom giebt, von wel- 
chem in diesem $ überall nur die Rede ist. Es wird nemlich, wenn j eine 
Funktion der Zeit ist, aufser diesem noch ein Strom durch die Veränderung 
von j inducirt, von welchem später in 9.4. die Rede sein wird. Wenn € 
und j unabhängig von der Zeit sind, so ist J=eejE; es ist E also die 


Summe der elektromotorischen Kraft, welche in dem Zeitraum von Z, bis 


(') Die partiellen Differentiationen werden in dieser Abhandlung immer durch die 
Charakteristik @ bezeichnet werden. 


b) Neumann über ein allgemeines Princip 


i,, wenn der inducirende Strom innerhalb desselben konstant und der Ein- 
heit gleich ist, in dem ganzen Leiter inducirt wird. Die durch den kon- 
stanten Strom von der Intensität j inducirte elektromotorische Kraft jE 
werde ich in der Folge durch F bezeichnen. Ich bemerke noch, dafs, da 
in dem Zeit-Element 0 durch die Verrückung der Leiter-Elemente die 
elektromotorische Kraft j = 0 inducirt wird, j mag variabel oder konstant 


sein, die in dem Zeitintervall von Z, bis Z, inducirte elektromotorische Kraft 
£ 


4 SAT PENE Mc . 
allgemein ausgedrückt ist durch u dtj—,. Die nähere Ermittelung der 
h 
Gröfse E, welche ich, so lange kein Mifsverständnifs zu fürchten ist, schlecht- 


weg die indueirte elektromotorische Kraft nennen werde, aus welcher, wie 
man sieht, durch einfache Differentiation und Integration sowohl die Summe 
der jedesmal wirklich indueirten elektromotorischen Kraft als der Differen- 
tial- und Integralstrom abgeleitet werden können, ist die vorzüglichste Ab- 
sicht des Folgenden. 

Die durch $ in (5) bezeichnete Integration ist auf alle Dr der ge- 
schlossenen Bahn des inducirenden Stroms auszudehnen. Dasselbe gilt zwar 
von der durch ‚$ bezeichneten Integration in Beziehung auf die geschlossene 
Bahn des inducirten Stroms, aber diese zerfällt, wegen der Diskontinuität 
der bewegten Stücke, in mehrere kontinuirliche Leiterstücke, deren Gren- 
zen von der Zeit abhängen können. Die durch $ bezeichnete Integration ist 
demnach ein Aggregat von Integralen, deren jedes sich auf ein kontinuirliches 
Leiterstück bezieht. Um diese Bemerkung deutlicher durchführen zu können, 
werde ich der allgemeinen Betrachtung die eines speciellen Falls vorangehn 
lassen. Ich werde zuerst den Fall betrachten, in welchem ein Theil der Bahn 
des inducirten Stroms ruht, und der andere, ein kontinuirliches Leiterstück 
bildend, bewegt wird. Die Grenzen dieses bewegten Stücks sollen zunächst 
unabhängig von der Zeit sein d.h. sie sollen durch dieselben Elemente wäh- 
rend der ganzen Dauer der Bewegung gebildet werden. Um die Vorstellung 
zu fixiren, stelle Fig. 1 einen solchen Fall vor, wo adcd die Bahn des indu- 
cirten Stroms zur Zeit 2 bezeichnet. Die Induktion ist dadurch hervorge- 
bracht dafs das Leiterstück 5 ce d aus seiner anfänglichen Lage d, c, d, in die 
Lage 5, c, d, fortgeführt ist, und zwar so dafs dieselben Elemente 5 und d 
mit den Unterlagen 5, 5, und d, d, in leitender Verbindung geblieben sind, 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 9 


wobei die Form des bewegten Stücks eine beliebige Veränderung erlitten ha- 
ben kann. Die durch $ bezeichnete Integration bezieht sich in diesem Falle 
allein auf das bewegte Stück 5 c d, weil für die übrigen Theile der Bahn des 
inducirten Stroms v = o ist. 

Ich setze in (5) statt v seinen Werth . wodurch 


do Ds Ds d’r dr dr\| dr 
ee Si ee San en 
f S2 r? Ir ds ds 2 ds ds| © (6) 
wird, und integrire das erste Glied rechts partiell nach s. Dadurch verwan- 
delt sich dieser Ausdruck in 


Sr 


al dr dr 
—ef3 go Ds r "do "ds (N 
Ey 

do Dr Ds dr ı dr dr dr 

Sy Ka re ee TI uni a ee, 

+ej/23S r? a eg as lie: 
Sr 

dr 
worin I- = — =] die Differenz der Werthe bezeichnet, welche die einge- 


schlossene Größse in den Endpunkten des bewegten Leiterstücks welche 
durch s, und s, bezeichnet sind, d.i. nach der Figur in d und 5 besitzt. 
Durch partielle Integration des Gliedes 


2 
E Su ODER ar dr 
r dods ds 


in der vorstehenden Gleichung nach o verwandelt sich dieselbe in 


Sn 


—: [200.Ds nn — (8) 


’ 
On 


+28 Ds Ds | —- — 


do Ds Ds d’?r dr dr | dr 
ae —— Ir — + ee 
r do ds do ds| ds 


ara 
wo |-£ en ae Differenz der Werthe bezeichnet, welche die einge- 


schlossene Größe in der End- und Anfangs -Position des bewegten Leiter- 
Phys. Kl. 1847. B 


10 Neumann über ein allgemeines Princip 


stücks besitzt d.i. in der Lage 5, c,d,und d,c,d,.. Es sind o, und o, die 
Grenzen des Weges, welchen Ds beschrieben hat. 

In diesem Ausdruck für E integrire ich endlich partiell nach & das 
erste Glied unter dem dreifachen Integralzeichen 


:fz g9 Dr Ds DsDs d?r dr 


7 do ds ds 


Ich lasse, behufs spätern Gebrauchs, die Grenzen dieser Integration 
zunächst unbestimmt, und bezeichne sie mit «, und o,. Die Gleichung (8) 
verwandelt sich dadurch in 


1; dr d x 
0) ef 00 Dr 7 "do. 3 


Oy 
Amdared; 
+.2SDeDs are 
r ds ds 
0, 


dr dr 
— Si00:Ds.h — 
ef do ds 
a, 
do Ds Dr d?r ı dr dr | ar 
€ Ser ia an Ts Een re 
> DER 1 ds ds 2 ds def & 


worin die Bedeutung der Klammer mit den Indices , und ro, schon aus dem 
Vorhergehenden klar ist. 

Addirt man diesen Ausdruck für E zu demjenigen in (5) so verschwin- 
den die Glieder welche von dreifachen Integrationen abhängen, und man er- 
hält den Werth von E durch sechs Doppelintegrale ausgedrückt: 


07] 


” B=—-+efz0oDr [5] 


Ss, 


Oy 


1NHarr dr; 
++:.2$5 DrDs | - — — 
> r ds ds 

0, 


— 4: ef S%o Ds Es) 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 11 


In dem vorliegenden Falle, wo die Integration nach r auf die ganze, 
geschlossene Bahn des inducirenden Stroms ausgedehnt werden mufs, wo 
also 7, und r, zusammen fallen, verschwinden die beiden letzten Integrale, 


und man hat hier also 
Oy 


E= +:82DsDr |- (11) 
—4e/300D | 7 7 


67 


Dieser Ausdruck für die elektromotorische Kraft E, welche durch die 
Fortführung des Leiterstücks aus der Lage 5, c, d, in die Lage 5, c,, d,, erregt 
ist, zeigt dafs dieselbe von den Wegen, welche seine Theile beschrieben ha- 
ben, unabhängig ist, und also unabhängig von den Formen, welche seine 
Curve während der Bewegung gehabt hat. Die elektromotorische Kraft E 
hängt allein von der Lage und Form des bewegten Leiterstücks in seiner An- 
fangs- und End-Position ab und von den zwei Curven auf welchen seine 
Endpunkte fortgeführt sind. Nennen wir p die Peripherie des Cnrven -Vier- 
ecks 5,5, c,d,d,c,, welches von dem bewegten Leiterstück in seiner Anfangs- 
und Endposition und den zwei Curven, welche seine Endpunkte beschrieben 
haben, gebildet wird, und Dp ein Element dieser Peripherie, so kann man 
statt (11) schreiben 


Beim un (12) 


wo die Integrationen nach Dr und Dp respektive auf die ganze Bahn des in- 
ducirenden Stroms r und die ganze Peripherie p des bezeichneten Ourven- 


vierecks ausgedehnt werden müssen. Die Richtung, in welcher man bei der 


» 
Integration nach Dp, als der positiven fortzuschreiten hat, ist die positive 


des bewegten Leiterstücks in seiner Endposition. Integrirt man das Integral 


in (12) Bau nach «, nachdem man unter dem Integralzeichen statt -_ 

dr? hr 
gesetzt hat — 58° erhält man 

Ip 
27] 
1 dr? aan 
ag! EB: Sr 
a es Dp | +4283- 57, Dr Dp 


12 Neumann über ein allgemeines Princip 


und dieser Ausdruck reduzirt sich, weil «, und 7, in der geschlossenen indu- 
cirenden Stromcurve zusammenfallen, auf 


Dr} 


ee ei) 
R Ip 


r drd 


Aus r’= (x — &)’ + (y— 9)’ + (2 —{)” erhält man 


d?r? = u d.xdE + dydy + dza? 
dsdp ds dp 


= — 2cos (Dr, Dp) 


wo (Dr, Dp) den Winkel bezeichnet, unter welchen die Elemente Dr und 
Dp gegeneinander geneigt sind. 6: 
FR f d?r?. h i 
Substituirt man diesen Werth von Er in E so wird sein Ausdruck: 


Ds Dp 


r 


(13) E=—-4t:S3 cos (Dr, Dp) 


Hieraus geht hervor dafs die durch die Fortführung des Leiterstücks 
inducirte elektromotorische Kraft E gleich ist dem mit e multiplieirten Poten- 
tial der inducirenden Stromcurve in Bezug auf das Curven-Viereck, welches 
die von dem Leiter beschriebene Fläche begränzt, die Stromcurve sowohl als 
dies Viereck von der Strom-Einheit durchströmt gedacht, nnd zwar letzteres 
in der positiven Richtung des bewegten Leiterstücks in seiner Endposition. 

Bei der Ableitung der Gleichungen (12) und (13) aus (11) ist das be- 
wegte Leiterstück als ein unverzweigtes vorausgesetzt d.h. von der Beschaf- 
fenheit dafs man von seinem einem Ende zu seinem andern nur auf einem 
Wege gelangen kann. Ohne diese Voraussetzung kann man nicht von einem 
Curvenviereck sprechen. Unter dieser Voraussetzung aber ist das Potential 
des inducirenden Stroms in Bezug auf das bezeichnete Curvenviereck die Dif- 
ferenz der Werthe welche das Potential der Stromeurve in Bezug auf die 
ganze Bahncurve des inducirten Stroms in ihrer End- und Anfangs -Position 
besitzt, diese Curven von der Strom -Einheit durchströmt gedacht. Nennen 
wir s, die Bahn des inducirten Stroms in ihrer Anfangsposition, s, in ihrer 
Endposition, und s die Bahn des inducirenden Stroms, und bezeichnen wir 
durch P(s, s,) und P(s, s,) die Potentialwerthe von s in Bezug auf s, und s,, 
so ist 


(14) E =: {$P(s, s,) —P (5, s,)} 


der mathematischen Theorie indueirter elektrischer Ströme. 13 


Die Formel (11) ist, wenn die Bedeutung der Grenzen s,, s,, 0,, 0, ge- 
hörig berücksichtigt wird, der allgemeine Ausdruck für die elektromotori- 
sche Kraft, welche durch einen ruhenden Strom in einem bewegten Leiter- 
stück indueirt wird. Aus ihr ergaben sich die Sätze, welche durch die Glei- 
chungen (12), (13) und (14) ausgedrückt sind, unter der Annahme, dafs das 
bewegte Stück in denselben End -Elementen während seiner Bewegung mit 
dem ruhenden Theile der Bahn des inducirten Stroms in leitender Verbin- 
dung bleibe. Ich werde jetzt nachweisen dafs diese Sätze auch gelten wenn 
nach und nach andere Elemente des bewegten Stücks mit dem ruhenden 
Theile des Leiters in leitende Verbindung treten. 

Es sei in Fig.2, welche einen solchen Fall andeuten soll, a d, d, der 
inducirte Leiter in seiner Anfangs-Position, und a B, d, in seiner End-Posi- 
tion. Die Induction ist durch die Fortführung der Elemente des Leiterstücks 
bd aus der Lage 5, d, in die Lage 5, d, erregt; bei dieser Fortführung des 
Stücks dd wobei seine Form sich auf eine beliebige Weise verändern kann, 
sind nach und nach andere Elemente desselben mit den ruhenden Unterlagen 
b, b, und d, d, in leitende Berührung gebracht, so dafs z.B. die Elemente in 
R und d, welche im Anfang der Bewegung aufserhalb der Bahn des indueirten 
Stroms sich befanden, erst am Schlusse derselben eingetreten sind. 

Bei der Anwendung des allgemeinen Ausdrucks für E in (5) oder in 
(6) auf diesen Fall, ist zu bemerken dafs die Integration S, welche sich auf 
die bewegten Elemente Ds bezieht, zwischen den Grenzen 5 und d zu neh- 
men ist, welche jetzt Funktionen der Zeit # sind, oder, wenn o wiederum 
den Weg bezeichnet, auf welchem Ds fortgeführt wird, Funktionen von o. 
Man kann die hieraus sich ergebende Reihenfolge der Integrationen nach 
Ds und do vermeiden. Zu dem Ende ist für alle Elemente des bewegten 
Leiterstücks, welche sich von Anfang bis zum Ende ihrer Bewegung inner- 
halb der Schliefsung des indueirten Stroms befinden, die Integration nach 
02 in (5) von £, bis Z, oder die Integration nach do in (6) von o, bis 0, auszu- 
dehnen, wenn Z,, Z, und o, und o, die Grenzen respektive der Zeit und der 
Bahn ihrer ganzen Bewegung sind, für die Elemente Ds aber, welche sich 
nur auf einem Theile ihrer Bahn innerhalb der Schliefsung des inducirten 
Stroms befinden ist die Integration nach oo auf diesen Theil zu beschränken, 
und die Integration nach 0% in (5) auf die Zeit, während welcher sie diesen 
Theil ihrer ganzen Bahn beschrieben haben. 


44 Neumann über ein allgemeines Princip 


Der einfachern Darstellung wegen will ich annehmen ein solches Ele- 
ment Ds trete, nachdem es den Weg von o, bis g durchlaufen hat, in die 
Schliefsung des inducirten Stroms ein, und bleibe nun bis zum Schlusse der 
Bewegung innerhalb derselben, beschreibe also innerhalb der Schliefsung 
den Weg von g bis o,. Die Betrachtung eines solchen speciellen Falles ist 
hinreichend um die zusammengesetztern Fälle zu beurtheilen, wo dasElement, 
ehe es das Ende seiner Bahn erreicht, aus der Schliefsuug wieder heraustritt, 
oder wo dieser Eintritt und Austritt sich wiederholt. 

Mit Berücksichtigung der vorstehenden Bemerkung verwandelt sich 
der Ausdruck von E in (11) im vorliegenden Falle in 


Oy 
dr dr 


(15) E= 4:82 DD | 


ds dr 


+4.SYDsDs I-=&] 


ds ds 


—+ef300Ds [2] 

S, 
Das erste Glied dieses Ausdrucks für E bezieht sich auf alle Elemente Ds, 
welche sich während der ganzen Dauer ihrer Bewegung innerhalb der Schlie- 
{sung des inducirten Stroms befinden, das zweite umfafst diejenigen Ele- 
mente Ds welche erst nachdem sie den Weg von o, bis q durchlaufen haben, 
in diese Schliefsung eintreten, und nun darin bleiben. In dem dritten Gliede 
bezeichnen s, und s, die Stellen der Grenzelemente des bewegten Leiter- 
stücks, welche, nachdem sie den Weg von o, bis g durchlaufen haben, in 
die Schliefsung des inducirten Stroms eingetreten sind. 


Nach der Bedeutung der Klammern [ ] st das zweite Glied in (15) 
q 


gleichbedeutend mit 


r ds do ds ds 
0, q 


(16) 4283 DsDs (ZZ) 4:83 Ds Ds (-— 


wo die den Parenthesen als Indices zugefügten Gröfsen o, und q die Stellen 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 15 


der Bahn von Ds bezeichnen, an welchen sich dieses Element bei den nach 
Ds auszuführenden Integrationen befinden soll. Der erste Theil dieses Aus- 
drucks kann mit dem ersten Gliede rechts in (15) zusammengefafst werden, 
so dafs dann in diesem die Integration nach Ds ebenso auf alle Elemente 
des bewegten Leiterstücks, welche sich am Schlusse der Bewegung in der 
Schliefsung befinden, auszudehnen ist, wie auf diejenigen, bei welchen dies 
im Anfang der Bewegung der Fall ist. 

Der zweite Theil des vorstehenden Ausdrucks (16) bezieht sich auf 
die End-Elemente von s welche, nachdem sie den Weg g bis o, durchlaufen 
haben, in die Schliefsung eintreten; auf dieselben Elemente beziehen sich die 
Integrationen S in dem dritten Gliede in (15). Zieht man das zweite Glied 
aus (16) mit dem dritten Gliede in (15) zusammen, so erhält man sowohl 
für die Elemente Ds in s, als für die in s, einen Ausdruck von der Form 


1 Ds dr dr do dr dr 
—+ ex DofS rd ds + [= do z 
worin man statt S das Zeichen f setzen kann. Dadurch verwandelt sich die 
Summe des dritten Gliedes in (15) und des zweiten in (16) in 


—-ze2 Do (| “Ds + 7.00) © 


Die Entfernung r des Strom-Elements Dr von den Elementen Ds, auf welche 


in diesem Ausdruck sich die Integration f bezieht ist eine Funktion von s und 
o;, sie kann aber auch als eine Funktion des Curven-Bogens angesehn wer- 
den, welchen die Enden des bewegten Leiterstücks beschreiben. In Fig. 2 
sind dies die Bogen 5,55, und d,dd,. Bezeichnen wir diese Curven, welche 
ich die Leit-Curven nenne, durch Z, und ihre Elemente durch 9, so ist 


dr dr dr 
zt=—,Ps+z90 


Dies in den vorstehenden Ausdruck gesetzt verwandelt ihn in 


x f'Ds 2-2 25 


und man erhält durch diese Betrachtung aus (15) für E den Ausdruck: 


S, 


16 Neumann über ein allgemeines Princip 


On 


Tr ds ds 


(7) E= +:8SzsDD | =] 


— 41:2 /Dr 2[-% 
677 
Derselbe wird identisch mit demjenigen in (11) wenn von den Elementen des 
bewegten Leiterstücks keines während der Bewegung aus der Schliefsung des 
inducirten Stroms heraustritt, und keines hinein, denn alsdann fallen die 
Leitcurven Z mit den Bahnen o der Endelemente Ds des bewegten Stücks 
zusammen. 

Bezeichnet man mit p wiederum die Peripherie des Curvenvierecks wel- 
ches von dem bewegten Leiterstück in seiner End- und Anfangs-Position 
und den zwei Curven welche seine variabeln End - Elemente beschrieben ha- 
ben d.i. von seinen Leit-Curven, begrenzt wird, und durch Dp ein Element 
dieser Peripherie, so ergiebt sich, wie oben der Ausdruck (12) aus (11), 
hier aus (17) der Ausdruck 


(18) a dr dr 


r do dp’ 


die Integrationen & und S ausgedehnt auf den ganzen inducirenden Strom 
und das ganze Curvenviereck. Die positive Richtung von Dp wird durch die 
positive Richtung des bewegten Stücks in seiner Endposition bestimmt. 

Aus (18) ergiebt sich auf demselben Wege, auf welchem (13) aus (12) 
abgeleitet wurde 


(19) I ee I 


Ta 


cos (De, Dp) 


die Integrationen gleichfalls auf die ganze Stromcurve und das ganze Viereck 
ausgedehnt. Das Glied dieser Gleichung rechts ist das mit e multiplieirte Po- 
tential der Stromeurve in Bezug auf das Curvenviereck welches von dem be- 
wegten Leiterstück in seinen Grenzpositionen und seinen Leit-Curven gebil- 
det wird. Dies Potential ist, da das bewegte Stück als unverzweigt voraus- 
gesetzt wird, der Unterschied der Potentialwerthe des inducirenden Stroms 
in Bezug auf die ganze Bahn des inducirten Stroms in ihrer End- und An- 
fangs-Position. Bezeichnen wir diese wiederum hurch s, und s, so erhalten 
wir, wie in (14), auch hier 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 17 


E=efP(s, s,)) — Ps, s,)} (20) 


wo P(s, s,) und P(e, s,) die Potentiale von s in Bezug auf s, und s, sind. Den 
Beweis für die Richtigkeit dieser Gleichung auch in den Fällen, wo ein wie- 
derholter Ein- und Austritt eines Theiles der bewegten Elemente aus der 
Bahn des inducirten Stroms stattfindet, hier noch besonders zu führen scheint, 
da dieselben Betrachtungen nur ein wenig zu verallgemeinern sind, über- 
flüßsig. 

Nach Behandlung dieses speciellen Falles, wo die Elemente eines zu- 
sammenhängenden Leiterstücks unter dem Einflufs eines inducirenden Stroms 
bewegt werden, während der übrige Theil der Bahn des inducirten Stroms 
ruht, wende ich mich zur allgemeinen Betrachtnng des Werthes von E in 
(6). Aus (6) ist durch partielle Integration der Ausdruck für E in (11) ab- 
geleitet; bei gehöriger Berücksichtigung der Grenzen, auf welche diese par- 
tiellen Integrationen zu beschränken sind, ist dieser Ausdruck für E in (11) 
ebenso allgemein als der in (6). Diese Grenzen werden auf eine doppelte 
Weise bestimmt, einmal durch die Stellen, wo die in (11) unter den Inte- 
gralzeichen stehenden Gröfsen in Beziehung auf das Argument, nach welchem 
integrirt ist, sprungweise eine endliche Veränderung erleiden, und dann durch 
die Stellen, in welchen ein Element des Leiters in die Schliefsung des indu- 
eirten Stroms eintritt und austritt. 

Betrachten wir zuerst das zweite Glied des Ausdrucks für E in (11). 
Dasselbe ergab sich aus dem, wegen einer hinzuzufügenden Willkührlichen 
unbestimmten, durch partielle Integration nach Ds entstandenen Integral 


Dsdo dr dr . R % 
>> J Le a indem dies auf das Intervall zwischen s, und s, ausgedehnt 
7 3” [72 


wurde. Die nach Ds auszuführende Integration in (6) ist auf die ganze 


Bahn des inducirten Stroms auszudehnen, das Intervall von s, bis s, mufs 


aber auf die Theile derselben beschränkt werden, innerhalb deren die Gröfse 


Asar! dr n ö . er & 5 
— 7 7. De do keine sprungweise Veränderung erleidet. Hieraus geht her- 
r ds do 


Dsodo dr dr E B : 
vor, dafs das Integral Ef. 72 x uf die ganze Bahn des indueirten 
7° Or oO 


o S 1 dr dr n . o 
Stroms auszudehnen ist, wenn — TE Dr do an keiner, oder nur an einer 
r 3, o 


Stelle derselben einen Sprung erfährt, in welcher Stelle dann Anfang und 


Ende des Integrals liegen mufs, dafs aber, wenn die partielle Integration 
von (6b) ein auf alle Fälle anwendbares Resultat geben soll, statt dieses In- 


Phys. Kl. 1847. E 


18 Neumann über ein allgemeines Princip 


tegrals ein Aggregat solcher Integrale in dem Ausdrucke von E in (11) statt . 
seines zweiten Gliedes zu setzen ist, von denen jedes sich auf ein Intervall 
von s bezieht, welches von zwei aufeinander folgenden Stellen, in welchen 
2 dr dr 


73 dr "do 
sichtlich, dafs — — De an keiner Stelle von s einen Sprung in seinem Werthe 


Droo gs wlörliehe Veränderung erleidet, begrenzt ist. Nun ist er- 


erfahren kann, u s die geschlossene Peripherie eines Vielecks ist, dafs dies 
aber bei - do, wofür man var setzen kann, der Fall ist. Diese Gröfse 
erfährt einen solchen Sprung an den Stellen von s, in welchen zwei aufein- 
anderfolgende Elemente Ds einen endlichen Unterschied in der Richtung 
oder Gröfse ihrer Geschwindigkeiten besitzen. Diese Stellen, in welchen 
die Elemente eines Drathstücks über den Elementen eines andern Drath- 
stücks, der leitenden Verbindung wegen unter einen gewissen Druck, fort- 
gleiten, oder in welchen die Drathenden in einer Quecksilberrinne fortge- 
führt werden, nenne ich, der Kürze wegen, die Gleitstellen des Leiters, 
und die Abschnitte desselben zwischen zwei aufeinander folgende Gleitstel- 
len Leiterstücke. 


In dem ersten Gliede des Ausdrucks von E in (11), welches durch 
partielle Integration nach do aus (6) abgeleitet Ve ist die Ausdehnung 
dieser Integration nicht durch Sprünge der Gröfse ak — Ds Dr, da solche 
für keinen Werth von o stattfinden, beschränkt, en durch die Stellen 
des von Ds beschriebenen ganzen Weges, in welchen dies Element in die 
Bahn des indueirten Stroms eintritt und austritt. Dieser Eintritt und Aus- 
tritt aus der indueirten Strombahn kann nur in den Gleitstellen stattfinden. 
ganzen Bewe- 


5 
gung innerhalb der Schliefsung des indueirten Stroms befinden unterschei- 


Man mufs also, die Elemente Ds, welche sich während ihrer 
5 

den von den Elementen der Gleitstellen, bei welchen im Allgemeinen dies 

nur während eines Theils ihres beschriebenen Weges der Fall sein wird. 

Für die erstern bleibt, wenn, wie oben, durch o, und o, der Anfang und 

das Ende des von Ds HESCHIBCHEREN Weges bezeichnet wird, das Glied 


Ararmdı ir . E 
4:2$S3DsDr |- es “ unverändert, in Bezug auf die Elemente Ds der 
r ds 7 
[2] 


’ 
Gleitstellen aber hat man statt dessen, wenn g,, 9,, 9,» 9, etc. die auf ein- 
ander folgenden Stellen des von diesen Elementen beschriebenen Weges 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 19 


bezeichnen, in welchen sie in die inducirte Strombahn ein- und austreten, 
zu Setzen: 


In Inn 
& dr dr 1 dr d 
42$3DsDr n ++:853DsDr Fe SE. 
r ds ds ds 
9 


Im 


Aus diesen Bemerkungen ergiebt sich nun, dafs man auf dem Wege 
der partiellen Integration, auf welchem (11) aus (6) abgeleitet worden ist, 
zu einem allgemein gültigen Ausdruck von E gelangt, wenn man diese par- 
tiellen Integrationen in Beziehung auf die einzelnen Leiterstücke und in Be- 
ziehung auf die Theile der von ihren Elementen beschriebenen Wege, in 
welchen diese Elemente innerhalb der Schliefsung des inducirten Stroms 
sich befanden, ausführt, und dann die Summe dieser Integrale in Bezie- 
hung auf alle Leiterstücke, welche die inducirte Strombahn enthält, bildet. 
Es sei E, der Theil von E, welcher sich auf das n“ Leiterstück bezieht, 
so ist 


On 
1 dr dr 
E,=4:3$5DoDs I-£= 


r ds ds 
+ +:3S$5DrDs a + etc. (21) 
— 4: = /Dsoo 2] ’ 
und 
E=E,+E,+...E, (22) 


wenn z die Anzahl der Leiterstücke der Bahn des inducirten Stroms ist. 
Diese Gleichungen enthalten den allgemeinsten Ausdruck für die elektro- 
motorische Kraft, welche von einem ruhenden Strom, dessen Stärke der 
Einheit gleich ist, in einem unverzweigten linearen Leiter, dessen Elemente 
beliebig verrückt werden, inducirt wird. 

In Beziehung auf die Gleitstellen müssen die Fälle, in welchen die 
Unterlagen, auf welchen die Gleitung stattfindet, ruhen, unterschieden wer- 
den von den Fällen, wo diese Unterlagen selbst bewegt werden. Von den 
Leiterstücken, deren Enden auf ruhenden Unterlagen fortgleiten, befindet 
sich jedes unter solchen Umständen, die wir oben als specielle Fälle behan- 
delt haben. Besteht also die inducirte Strombahn aus einer beliebigen An- 

C2 


20 Neumann über ein allgemeines Princip 


zahl von Leiterstücken, jedes derselben mit ruhenden Unterlagen, so folgt 
aus den vorstehenden Untersuchungen, dafs die durch eine beliebige Ver- 
änderung der Lage und Form dieser Bahn inducirte elektromotorische Kraft, 
wenn diese Veränderung unter dem Einflufs eines konstanten, inducirenden 
Stroms stattgefunden hat, gleich ist dem mit e multiplieirten Unterschied 
des Potentials des inducirenden Stroms in Bezug auf die von der Einheit 
durchströmte indueirte Strombahn in ihrer End- und Anfangs - Position. 

Die Beurtheilung der Fälle, wo die Unterlagen in den Gleitstellen eine 
Bewegung haben, erfordert eine etwas weitläufige Darstellung, wenn sie 
aus (21) und (22) abgeleitet werden soll. Ich werde deshalb diese Fälle 
durch eine indirekte Betrachtung auf die erstern, in welchen die Unterlagen 
ruhen, zurückführen. Es wird genügen diese Betrachtung in dem speciel- 
len Falle, wo nur eine Gleitstelle mit bewegter Unterlage vorhanden ist, 
durchzuführen, da sich dieselbe leicht auf die Fälle, wo eine beliebige An- 
zahl solcher vorhanden ist, ausdehnen läfst. Es sei in Fig. 3 die inducirte 
Strombahn abed; sie zerfällt in drei Leiterstücke ad, bc, cda, von denen 
das letztere ein ruhendes ist; durch die gleichzeitige Fortführung der bei- 
den andern ab und dc, welche ich der Kürze wegen mit « und ® bezeich- 
nen will, aus ihren anfänglichen Lagen « und ß, in ihre Endlagen «, und IE), 
wird die Induktion erregt. Die Gleitstellen dieser Bahn sind in a, 5, c, von 
denen die in 5 eine Gleitstelle mit bewegter Unterlage ist. Nach (5) erhält 
man die inducirte elektromotorische Kraft, wenn man das Integral 


92 > a Be en, 
“ 3) 3 z= [ ds ds 2 ds ds 


mit ed£ multiplicirt, und nach ot integrirt. Ich werde den Werth, welchen 


das vorstehende Doppelintegral zur Zeit Z, in Bezug auf « besitzt durch 4, 
und in Bezug auf ® durch B, bezeichnen; in Bezug auf das dritte Leiter- 
stück ist, weil hier v= o ist, sein Werth gleich Null. Die Veränderungen, 
welche A, und B, erleiden, wenn Z, um den Zeitraum Z wächst, rühren von 
zwei von einander unabhängigen Ursachen her, einmal von den Ortsverän- 
derungen, welche die Elemente von « erfahren, und dann von den Orts- 
veränderungen der Elemente von @. Bezeichnet man durch A und B die 
Werthe des vorstehenden Doppelintegrals zur Zeit z,-+ 2 in Bezug auf « und 
ß, so ist, wenn £ sehr klein ist 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 2 


A=A+At+ A;t 
B=B-+ B,t+ B;t 


wo A,t den Theil des Zuwachses von A,, welcher von der Ortsveränderung 
der Elemente von « herrührt, bezeichnet, und A;? den andern Theil, den 
die Verrückungen der Elemente von ß hervorbringen. Die entsprechende 


Bedeutung besitzen B, und B,. Bildet man hieraus e f 8 A+e ft B, 


so erhält man die elektromotorische Kraft E, welche durch die gleichzeitige 
Verrückung von « und $, welche während des kleinen Zeitraums r stattge- 
funden hat, inducirt worden ist d. i. 


E=er$A,+B++(4.+4;+B,+B;) r}. (24) 


Es ist nun leicht nachzuweisen, dafs eine gleiche elektromotorische Kraft 
inducirt wird, wenn dieselben kleinen Verschiebungen von « und ß nicht 
gleichzeitig, sondern nach einander stattfinden. Es möge « auf dieselbe 
Weise wie vorher verschoben werden, während ® ruht. Das Doppelinte- 
gral in (24) hat nur in Bezug auf « einen Werth, und dieser ist zur Zeit 
1,+1:4A,+ A,t; die durch die Verschiebung von «, wenn sie dieselbe 


Weite wie vorher erreicht hat, inducirte elektromotorische Kraft ist also 
er $A,+-A,r}. 


Jetzt werde ß verschoben. Das Integral in (23) hat nun nur in Bezug auf ® 
einen Werth, und dieser ist zur Zeit +7, wo seine Verschiebung beginnt: 
B,+B,r, und zur Zeit, -#r+t2:B,+B,r-+DB;t. Hieraus erhält man 


€ S Bat als die durch die Verschiebung von ® inducirte elektromotorische 


Kraft, wenn diese Verschiebung so grofs als sie vorher in der gleichzeitigen 
Verschiebung mit « war: 


er $B+-; (2B,+B,) r}. 


Die Summe der durch die beiden auf einander folgenden Verschiebungen 
von « und $ inducirten elektromotorischen Kräfte ist also 


er$A,+B+- (A, +2B,+ B,) rt} 


Wäre die Reihenfolge der Verschiebungen umgekehrt gewesen, und zuerst 


92 Neumann über ein allgemeines Princip 


ß@ und dann « um dieselben Stücke verschoben worden, so hätte als Summe 
der inducirten elektromotorischen Kräfte sich ergeben 


er$A,+B+5 (A.+24;, + B;) r}. 


Nun ist es aber gleichgültig, welche von den beiden Verschiebungen zuerst 
stattfindet, es wird dieselbe elektromotorische Kraft erregt, weil diese in 
dem einen und dem andern Falle gleich ist der mit e multiplieirten Verän- 
derung, welche das Potential des indueirenden Stroms in Bezug auf die in- 
ducirte von der Strom-Einheit durchströmte Strombahn durch beide Ver- 
schiebungen erfährt. Hieraus folgt: 
A,=B:: 

Dies in (24) gesetzt, zeigt, dafs dieselbe elektromotorische Kraft indueirt 
wird, die kleinen Verschiebungen der beiden Leiterstücke mögen gleichzeitig 
oder auf einander folgend stattfinden, und dafs also dieselbe der Veränderung 
proportional ist, welche das Potential der inducirenden Strombahn in Be- 
zug auf die inducirte dadurch erfährt. Da dies Resultat für alle kleine Ver- 
schiebungen gilt, zu welcher Zeit sie stattfinden, so gilt es auch für beliebig 
grofse Verschiebungen. Dafs dies Resultat auch richtig ist, wenn die indu- 
cirte Strombahn eine beliebige Anzahl Gleitstellen mit bewegten Unterlagen 
besitzt, ergiebt sich auf demselben Wege der Betrachtung, weshalb ich die 
weitere Ausführung unterlasse. 

Aus der bisher geführten Untersuchung ergiebt sich, dafs die Glei- 
chung für E in (20) allgemeine Gültigkeit hat, wie grofs auch die Anzahl 
der Gleitstellen in der indueirten Strombahn ist, die Unterlagen derselben 
mögen ruhen oder bewegt werden, sie setzt nur noch voraus, dafs sowohl 
die inducirende als die inducirte Strombahn ohne Verzweigung sei. Aus 
dieser Gleichung folgt, wenn j die Intensität des inducirenden Stroms ist, 
und F=jE die durch ihn inducirte elektromotorische Kraft, wenn ferner 
sein Potential in Bezug auf die von der Strom -Einheit durchströmte indu- 


cirte Bahn durch Q (ss) =7jFP (s, s) bezeichnet wird, dafs 
(25) F=:10(«s)—- 2 s)}- 


Diese Gleichung enthält folgenden Satz: 
Wenn ein geschlossener unverzweigter linearer Leiter 
unter dem Einflufs eines ruhenden, konstanten unverzweigten 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 23 


elektrischen Stroms die Veränderung erlitten hat, dafs ein 
Theil seiner Elemente oder sämmtliche aus ihrer ursprüngli- 
ch'en Lage in eine zweite auf beliebigen Wegen fortgeführt sind, 
wobei es gleichgültigist, ob ein Theil dieser Elemente aus dem 
geschlossenen Umgang des Leiters herausgetreten ist, oder an- 
dere eingetreten sind, so ist die durch diese Veränderung indu- 
eirte elektromotorische Kraft gleich dem mit e multiplieirten 
Unterschied der Potentialwerthe des inducirenden Stroms in 
Bezug auf den geschlossenen Umgang desLeiters in seinem End- 
und Anfangs-Zustand, diesen Umgang von der Strom -Einheit 
durchströmt gedacht. 

Die bisher gemachte Voraussetzung, dafs der Leiter dem inducirten 
Strome nur einen Weg seines Umgangs biete, ist gleichgültig in Beziehung 
auf die Theile der Strombahn, welche keine Veränderung in Lage und Form 
erfahren; diese können auf eine beliebige Weise verzweigt sein, ohne dafs 
der Ausdruck des vorstehenden Theorems dadurch eine Änderung erfährt. 
Anders verhält es sich, wenn die Theile der inducirten Strombahn ver- 
zweigt sind, durch deren Verrückungen die elektromotorische Kraft erregt 
wird. Zunächst ist zu bemerken, dafs es in diesem Falle nicht hinreichend 
ist, um die Stärke der inducirten Ströme zu bestimmen, die Summe der 
elektromotorischen Kräfte, welche in dem ganzen inducirten Leiter in einem 
bestimmten Zeitmoment erregt sind, zu kennen, sondern dafs man diese 
Summe für jeden der geschlossenen Umgänge, welche die Zweige der 
Strombahn bilden, kennen mufs. Nun erhält man aber die in jedem ein- 
zelnen Umgang indueirte elektromotorische Kraft, wenn man die Integra- 
tionen in (6) dieses $. auf ihn beschränkt, oder, was dasselbe ist, die Glei- 
chungen in (21) und (22) auf diesen Umgang, als wäre er nur allein vorhan- 
den, anwendet. Hieraus geht hervor, dafs das vorstehende Theorem, 
dessen Ausdruck eine unverzweigte inducirte Strombahn vor- 
aussetzt, wenn diese verzweigt ist, für jeden ihrer geschlosse- 
nen Umgänge gilt. 

Gehn wir jetzt zu dem Falle über, wo der inducirende konstante 
Strom auf eine beliebige Weise verzweigt ist. Ein solcher verzweigter 
Strom kann als ein Aggregat von über einander gelagerten einfachen Strom- 
Umgängen angesehen werden. Ich bezeichne diese einfachen Strom - Um- 


24 Neumann über ein allgemeines Princip 


gänge durch «, @, ete., ihre Strom-Stärken durch j., ja, ete. Diese Strom- 
Stärken werden mittelst der Ohmschen Gesetze aus den Leitungswiderstän- 
den des Stromsystems und der elektromotorischen Kraft der Erreger be- 
stimmt. Nennt man die Gröfse, welche oben in (1) und (2) mit C bezeich- 
net wurde, in Bezug auf die einfachen Umgänge «, ß, etc., d.h. wenn die 
Integration 3 in (2) auf diese bezogen wird: C,, C,, ete. und behält für C 
die ursprüngliche Bedeutung, die nämlich, welche dieser Buchstabe in (1) 
hat, bei, so ist 
C=C,+0;+... 


Substituirt man diesen Werth in (1) und verfährt auf dieselbe Weise, wie 
man (3) erhalten hat, so wird 


(26) I= fa: (i.-E. +2; Es+--) 


wo E,, E,, etc. durch dasselbe Integral als E in (5) ausgedrückt sind, in 
welchem aber jetzt sich die Integration 3 respektive auf die Umgänge «, ß, 
etc. bezieht. Es sind also einerseits j,E,, j,E;, etc. die durch die einzel- 
nen Umgänge inducirten elektromotorischen Kräfte, wofür wir setzen re- 


spektive F 


«I 


F;, etc., anderseits ist ihre Summe, wie aus (26) erhellt, die 
von dem ganzen Strome inducirte elektromotorische Kraft, welche mit 7 
bezeichnet wird, so dafs 

F=F,+R,-+... 
Seizt man hierin für F, F;, etc. ihre Werthe, so erhält man 


(27) F=ej,{$P (a. s,) — P («. s,)} 
+:j; $P (R. s,)— P (R. s)} + etc. 


worin P (a. s) das Potential der Strom - Einheit in dem Umgange « in 
Bezug auf die Strom-Einheit in dem Umgange s bezeichnet. Die mit dem 
gemeinschaftlichen Faktor e multiplicirte Gröfse ist die Differenz des Poten- 
tials des ganzen inducirenden, beliebig verzweigten Stroms in Bezug auf die 
Strom-Einheit in dem indueirten Leiterumgang s in der End- und Anfangs- 
position seiner Elemente. Nennen wir den ganzen inducirenden Strom wie 
oben s, und bezeichnen das Potential von s in Bezug auf die Strom-Einheit 


ins durch Q (s. s), so kann die Gleichung (27) so geschrieben werden: 


(28) F=e{Q («s,)— 0 (e s)}. 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 35 


Diese Gleichung zeigt, dafs das oben aus (25) abgeleitete Theorem 
eben so gut gilt, der inducirende Strom mag einfach sein, oder 
auf eine beliebige Weise verzweigt. 

Mit Rücksicht auf die vorstehende Gleichung verwandelt sich (26) in 


ge Sts50« s) (29) 


wenn man bei der Bildung des Differentialquotienten - Q (s.s) allein s als 
Funktion der Zeit betrachtet, und j,, ja, etc. als konstant. 


2. 


Es sollen in diesem $. die Ausdrücke für die elektromotorische Kraft 
entwickelt werden, welche in einem ruhenden linearen Leiter, der dem in- 
ducirten Strom einen geschlossenen Umgang darbietet, dadurch erregt 
wird, dafs die Elemente eines indueirenden Stroms aus ihren ursprüngli- 
chen Lagen auf beliebigen Wegen in andere fortgeführt werden. Im Allge- 
meinen wirken in dieser Klasse von Induktionen zwei an sich von einander 
unabhängige Ursachen gleichzeitig Strom erregend, einmal die Ortsverände- 
rung der Strom-Elemente, und dann die durch diese Ortsveränderung her- 
vorgebrachte Intensitäts - Veränderung des Inducenten. Es soll hier, wenn 
eine solche Intensitäts- Veränderung gleichzeitig stattfindet, nur der Theil 
der elektromotorischen Kraft bestimmt werden, welcher von der Orts-Ver- 
änderung der Strom-Elemente herrührt; der durch die Intensitäts- Verände- 
rung indueirte Antheil wird in $. 4 in Betracht gezogen werden. Wenn 
aufser den Strom -Elementen auch der inducirte Leiter eine Bewegung hat, 
aber eine solche, wobei die relative Lage seiner Elemente unverändert bleibt, 
so kann beiden Systemen, dem Strom- und Leiter- System eine gemein- 
schaftliche Bewegung ertheilt werden, welche keine Induktion erregt und 
den Erfolg hat, dafs der Leiter an seinem Orte bleibt, wodurch dieser Fall 
auf den in diesem $. zu behandelnden zurückgeführt wird. 

Ich bezeichne wieder die Strom- und Leiter-Elemente respektive 
durch Dr und Ds, das Element des Weges aber, auf welchen Dr fortge- 


führt wird, durch dw, so dafs die Geschwindigkeit v= — ist. Ich setze zu- 


nächst die Bahn sowohl des inducirenden als inducirten Stroms ohne Ver- 


Phys. Kl. 1847. D 


96 NEUMANN über ein allgemeines Princip 


zweigung voraus. Das aus dieser Voraussetzung hervorgehende Resultat 
wird später auf die Fälle ausgedehnt werden, wo diese Bahnen ver- 
zweigt sind. 

Die durch die Bewegung von Dr während des Zeitelements df in dem 
Leiter s inducirte elektromotorische Kraft EDr ist nach meiner frühern 
Abhandlung bestimmt durch die Gleichung: 


(1) EDs=— evTDrot 


wo T De die nach der Richtung von dw zerlegte Wirkung ist, welche die in- 
ducirte Strombahn, von der Strom-Einheit durchströmt gedacht, auf Ds 
ausübt. 

Die Wirkung, welche Ds auf Dr ausübt, ist dieselbe, welche Dr 
auf Ds ausübt, nur der Richtung nach entgegengesetzt, und also, wenn 7 
die Stromstärke in Dr bezeichnet: 


. Ds Ds 
= fcosy —z c08.9 cos 9} 
oder 
. Ds Ds 5: d?r ı dr dr 
Ir ds ds 2 ds ds 


wo 9, 9, 9 und r dieselbe Bedeutung haben, welche ihnen im Anfange des 
vorigen $. gegeben ist. Der vorstehende Ausdruck mit dem Cosinus der 
Neigung von r gegen dw d. i. mit — multiplieirt, und nach Ds in Bezug 
auf die ganze inducirte Strombahn integrirt, giebt den Werth von T Dr, 
also 


(2) TDsr=jDr Ss = [ 2 ii ah =} & 


ds ds 2 ds ds da“ 


Nimmt man von (1) das Integral nach Dr, und dehnt dieses auf die ganze 
inducirende Strombahn aus, so erhält man die durch den Strom in dem 
Leiter zur Zeit 2 während 02 inducirte elektromotorische Kraft. Dieses In- 
tegral giebt den inducirten Differentialstrom, wenn es mit dessen recipro- 
ken Leitungswiderstand € multiplieirt wird; der Differentialstrom, nach 9£ 
zwischen Z, und Z, integrirt, giebt den in diesem Zeitintervall inducirten Inte- 
gralstrom J. Man hat also, da e' unabhängig von { ist, und j, weil der 
Strom unverzweigt angenommen wird unabhängig von ec: 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 97 


I= [ti (3) 


Ds Dr d’r ı dr dr ar 
EB=-ef380: 77 a 4) 


Die Gröfse E ist die Summe der in dem ganzen Leiterumgang wäh- 


worin 


rend des Zeitraums von Z, bis £, inducirten elektromotorischen Kraft, wenn 
die inducirende Stromstärke innerhalb dieses Zeitraums konstant und gleich 
der Einheit ist; diese Summe ist /E wenn j die konstante Stromstärke ist, 


£, 
und wird S tz 2 wenn die Stromstärke j variabel ist. Die Gröfsen E 


z 


und S 017 — werde ich im Folgenden durch F bezeichnen. Statt (4) kann 


; ; du . 
man schreiben, weilv= — ist: 
dw Ds Dr d? dr dr di 
B=-efss Fr +2 (5) 


Dies dreifache Integral, wodurch E bestimmt wird, unterscheidet sich von 
demjenigen in (6) des vorigen $. nur darin, dafs hier dw eine Funktion von 
s ist, während dort do eine Funktion von s war. Da aber zwischen dem 


bewegten c hier und dem in $. 1 bewegten s kein weiterer Unterschied vor- 
handen ist, so kann man die Diskussion des Integrals (6) $. 1 unmittelbar 
auf das vorliegende anwenden, und erhält, mut. mut. dies Theorem: 

Wenn ein konstanter, unverzweigter elektrischer Strom 
die Veränderung erlitten hat, dafs ein Theil seiner Elemente, 
oder sämmtliche aus ihrer ursprünglichen Lage in eine zweite 
auf beliebigen Wegen fortgeführt sind, gleichgültig, ob ein 
Theil dieser Elemente aus der Strombahn ausgetreten ist, oder 
andere eingetreten, soist die durch diese Ortsveränderung der 
Elemente in einem in der Nähe des Stroms ruhenden einfachen 
Leiter- Umgang inducirte elektromotorische Kraft gleich dem 
mite multiplicirten Unterschied der Potentialwerthe des indu- 
eirten Leiterumgangs, ihn von der Strom-Einheit durchströmt 
gedacht, in Bezug auf den konstanten inducirenden Strom in 
der End- und Anfangs-Position seiner Elemente. 

D2 


28 Neumann über ein allgemeines Princip 


Bezeichnen wir durch s, und s, die inducirende Strombahn in der 
End- und Anfangs-Position ihrer Elemente, durch s die indueirte, und 
durch P (s,. s) und P (s,.s) die Potentiale der Strom -Einheiten in s, und s, 
in Bezug auf die Strom-Einheit in s, nennen endlich j die konstante Inten- 
sität des inducirenden Stroms, und F die durch ihn inducirte elektromoto- 
rische Kraft, so ist 


(6) F=:j $P (s.s) —P (s. s)}. 


Wenn der inducirte Leiter Verzweigungen besitzt, so gilt dieses Theo- 
rem für jeden einfachen Umgang, welcher aus seinen Zweigen gebildet wer- 
den kann, und giebt also die in den einzelnen Umgängen erregten elektro- 
motorischen Kräfte, deren Kenntnifs erforderlich und hinreichend ist um 
die Stromstärke in jedem Zweige des inducirten Leiters zu bestimmen. 

Das vorstehende Theorem gilt auch für beliebig verzweigte induci- 
rende Ströme, unter der Bedingung, dafs die Stromstärke in jedem der ge- 
schlossenen Umgänge, welche aus den Stromzweigen gebildet werden kön- 
nen, durch die Verrückung der Strom-Elemente keine Veränderung erlei- 
det. Der verzweigte Strom ist nemlich als ein Aggregat von einfachen 
Strom - Umgängen anzusehn; einer derselben werde durch v bezeichnet, 
und zwar durch v, und v, in der Anfangs- und End-Position seiner Ele- 
mente; j, sei seine konstante Stromstärke, und F, die durch ihn in dem 
ruhenden Leiter- Umgang s indueirte elektromotorische Kraft. Bezeichnen 
wir wieder durch P (v. s) das Potential der Strom -Einheit in v in Bezug auf 
die Strom -Einheit in s, so ist 


F,=e7,.$P Ws), RS 


Die elektromotorische Kraft, welche durch den ganzen inducirenden Strom 
erregt wird, ist die Summe der Kräfte, welche durch seine einzelnen com- 
ponirenden Umgänge inducirt werden, bezeichnen wir sie mit F, so ist 


(7) #-—-€©.7, r (v„s) —P (,.s)t, 


wo durch & eine Summe bezeichnet wird, die auf alle einfache Umgänge, 
welche den gegebenen Strom zusammensetzen, auszudehnen ist. Diese 
Summe ist aber die Potential-Differenz der Strom-Einheit in dem Leiter- 
Umgang s in Bezug auf den ganzen indueirenden Strom in der End- und 


Anfangs-Position seiner Elemente. Nennen wir s den indueirenden, belie- 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 29 


big verzweigten Strom und Q (s. s) sein Potential in Bezug auf die Strom- 
Einheit in s, so kann die vorstehende Gleichung so geschrieben werden: 


F=:{Q(.)-QC- 9. (8) 

Die Bedingung der Unveränderlichkeit der Stromstärke in jedem der 
einfachen Umgänge der verzweigten inducirenden Strombahn erfüllt sich 
bei konstanten Strom-Erregern von selbst, wenn die Bahn keine Gleitstel- 
len besitzt, weil dann der Strom-Widerstand und seine Vertheilung in den 
Zweigen unverändert bleibt. Diese Bedingung kann aber auch bei beson- 
dern Anordnungen, wenn Gleitstellen vorhanden sind, erreicht werden. In 
Fig. 4 tritt der inducirende Strom in a ein, theilt sich in « in zwei Zweige 
«aß und ayß, die sich in ® wieder vereinigen, und tritt bei 5 aus. Die Strom- 
Theilungsstellen « und ß sind zugleich Gleitstellen. Die Fortführung des 
Zweiges aß aus seiner Anfangs -Lage a,ß, in die Endlage «, ß, erregt nem- 
lich in einem in der Nähe befindlichen Leiter- Umgang die Induktion. Der 
verzweigte Strom läfst sich auf verschiedene Weise in zwei einfache Umgänge 
zerlegen, ich zerlege ihn in die Umgänge aaßd und a«yß, welche ich durch 
« und y der Kürze wegen bezeichne; die Stromstärken in ihnen seien j, und 
j,. Nennt man ws den Leitungswiderstand in dem Zweige aß und w in dem 


Zweige ayß und setzt u=Aw, so ist, — Nun kann man leicht 


a8. 
ir ade 
Anordnungen treffen, dafs, an welcher Stelle seines Weges sich auch der 
bewegte Zweig «aß befinde, sowohl j, als A denselben Werth behält. Diese 
Anordnungen vorausgesetzt, erhält man für die durch die Verschiebung von 
aß in einem Leiter-Umgange s inducirte elektromotorische Kraft F den 
Ausdruck: 
F=ej, $P (ae,.s)—P (ea, s)} (9) 
+:,,$P@&.)—-P@. 9}. 

Dieser Ausdruck reduzirt sich übrigens, wie man leicht sieht, wenn durch 


” die Peripherie «, a,ß@,ß, der vom bewegten Zweige beschriebenen Fläche 
bezeichnet wird, auf folgenden: 


F=e(j,—],)P (es), 
dessen Richtigkeit aus der Bemerkung erhellt, dafs nach unserer Zerlegung 


des Inducenten in einfache Umgänge j, — j, die konstante Stromstärke des 
bewegten Zweiges «3 bezeichnet. 


30 Neumann über ein allgemeines Princip 


Im Allgemeinen treten bei inducirenden Strömen mit Gleitstellen, 
gleichzeitig mit der Verrückung ihrer Elemente, Intensitäts- Veränderungen 
ein, diese treten nur dann nicht ein, wenn die Veränderungen der Leitungs- 
Widerstände und ihrer Vertheilung, welche durch die Verschiebungen der 
Bahnstücke hervorgebracht werden, sich gegenseitig compensiren. Bahn- 
stück nenne ich jeden zwischen zwei auf einander folgenden Gleitstellen 
liegenden Theil der Strombahn. Es sei der inducirende Strom unverzweigt 
und seine Intensität j, welche er zur Zeit / besitzt, verändere sich, in Folge 
der Fortführung seiner Bahnstücke, in dem Zeitintervall von Z, bis £, aus 7, 
inj,. Wäre die Intensität / während der Zeit von Z, bis £ konstant gewesen, 
so würde in diesem Zeitraum eine elektromotorische Kraft inducirt sein, 
deren Werth ist 


ej$P (&.s)—P6.s)}. 
Die Intensität j ist aber nur zur Zeit £ vorhanden gewesen, da ihr Werth 
zur Zeit 2+0£ schon j+ zı 0 war. Man kann aber j während 0 als kon- 


stant ansehn, da der Zuwachs unendlich klein ist, und erhält dann für die 
während 0% inducirte elektromotorische Kraft 


ejat _P (es). 


Nimmt man hiervon das Integral nach 0% zwischen , und Z,, so erhält man 
die durch die Verschiebung der Strom-Elemente in dem Zeitraum von £, 
bis Z, inducirte elektromotorische Kraft 7, nemlich: 


[77 


(10) F=: [aj Ps). 
£, 


Diese Gleichung erhellet übrigens unmittelbar aus (3), wenn berücksichtigt 

s dE d.P(s.s) . 
wird, dafs m 
det, wenn der inducirende Strom verzweigt ist, auf jeden seiner einfachen 


st. Die hier eben angestellte Betrachtung fin- 


Umgänge Anwendung. Daher verwandelt sich für den in Fig. 4 dargestell- 
ten Fall die Formel (9), wenn j, und j, während der Verschiebung der Ele- 
mente von « variabel sind, in 


(11) F=e/ a. Pas) ref ji, & Ps) 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 31 


und der allgemeine Ausdruck in (7) für die durch die Verschiebung der Ele- 
mente eines beliebig verzweigten Stroms in einem Leiter-Umgang inducirte 
elektromotorische Kraft, wird bei variabeler Stromstärke: 


F=:& f%j, —Pe.s), (12) 


wo die Summe © alle einfachen Umgänge, welche den gegebenen Strom 
zusammensetzen, umfafst. 

Die Gleichungen (10) (11) (12) zeigen, dafs bei variabeler Strom- 
stärke die durch die Verschiebung der Strom-Elemente inducirte elektro- 
motorische Kraft nicht ihr Maafs in dem dadurch hervorgebrachten Zuwachs 
des Potentialwerthes des inducirenden Stroms in Bezug auf den von der 
Strom-Einheit durchströmten Leiterumgang hat, wir werden aber im Fol- 
genden sehen, dafs dies wieder der Fall ist, wenn der durch die gleichzei- 
tige Intensitäts - Veränderung inducirte Antheil der elektromotorischen Kraft 
berücksichtigt wird. 


|. 3. 


In meiner frühern Abhandlung über die inducirten Ströme wurden 
drei Klassen von Induktions-Fällen unterschieden, nemlich zuerst Induktio- 
nen durch geschlossene Ströme in geschlossenen Leitern, und dann Induk- 
tionen durch geschlossene Ströme in ungeschlossenen Leitern oder durch 
ungeschlossene Ströme in geschlossenen Leitern, und endlich Induktionen 
durch ungeschlossene Ströme in ungeschlossenen Leitern. Ich bemerke, 
dafs bei dieser Eintheilung immer die Bahnen, sowohl der inducirenden als 
indueirten Ströme, oder deren bewegten Theile als feste Systeme voraus- 
gesetzt wurden. Die Vorstellung, welche mit der zweiten und dritten Klasse 
verbunden wurde, bedarf noch einer kurzen Erklärung. Man denke sich 
einen Theil der inducirten Strombahn, den ich a nennen will, während der 
andere durch 5 bezeichnet werden möge, durch Isolatoren mit einem Theile 
« der indueirenden Strombahn verbunden, der andere Theil dieser Bahn 
soll ® heifsen. Die verbundenen Theile a und « werden bewegt, während 
die Theile 6 und @ ruhen. Hier findet eine Induktion durch die Bewegung 
des ungeschlossenen Stromstücks « in dem ungeschlossenen Leiterstück 5 
statt. Diese Induktion ist ein Fall der dritten Klasse. Eben so gehört die 


32 NEUMANN über ein allgemeines Prineip 


Induktion, welche in dem ungeschlossenen Leiterstück a, das sich unter dem 
Einflufs des ungeschlossenen Stromstücks ß bewegt, erregt wird in die dritte 
Klasse. Umfafste a die ganze inducirte Strombahn, und wäre also 5= 0, 
so würde in dem geschlossenen Leiter a die Induktion durch das unge- 
schlossene Stromstück 8 erregt; dieser Fall gehörte in die zweite Klasse; 
dasselbe würde der Fall sein, wenn « den ganzen inducirenden Strom um- 
fafste und = 0 wäre. 

Diese Eintheilung ist nach dem Standpunkt der vorliegenden Betrach- 
tung nicht erschöpfend, sie ist aber auch an sich unzweckmäfsig. Die Tren- 
nung, um in der eben gebrauchten Bezeichnung weiter mich auszudrücken, 
der Induktion, welche in & durch « erregt wird von derjenigen, die in « 
durch ß hervorgebracht wird, statt die Untersuchung zu erleichtern, er- 
schwert dieselbe; beide Induktionen, wie sie gleichzeitig in der Wirklichkeit 
vorhanden sind, müssen auch gleichzeitig in Betracht gezogen werden. In 
der gegenwärtigen Abhandlung mufs mit der Voraussetzung, dafs die Strom- 
bahnen oder ihre bewegten Theile wie starre feste Curven bewegt werden, 
zugleich die Eintheilung in geschlossene und ungeschlossene Bahnen aufge- 
geben werden. Wir können hier nur so theilen: entweder findet die In- 
duktion durch einen ruhenden Strom in einem geschlossenen Leiter statt, 
dessen Elemente eine Ortsveränderung erfahren, oder in einem ruhenden 
Leiter durch einen Strom, dessen Elemente beliebig verschoben werden, 
oder endlich die Induktion wird durch eine gleichzeitige Verschiebung der 
Leiter- und Strom-Elemente erregt. Die Bewegung der Elemente ist in 
allen drei Fällen so weit unbeschränkt, dafs durch dieselbe die leitende Ver- 
bindung in den Strombahnen nicht aufgehoben wird. Die beiden ersten 
Fälle sind in den beiden vorhergehen 8S. behandelt, der dritte soll der Ge- 
genstand des gegenwärtigen sein. Zu ihm gehört, als ein ganz specieller 
Fall, der, welcher eben als eine Induktion eines ungeschlossenen Leiter- 
stücks durch ein ungeschlossenes Stromstück bezeichnet wurde. Das Spe- 
cielle dieses Falles besteht darin, dafs die Bewegung der Elemente in « und 
a von der Art ist, als gehörten diese Elemente einem festen Körper an. 

Ich werde, um der Vorstellung ein bestimmteres Bild zu geben, die 
Untersuchuug mit der Betrachtung eines besondern, hieher gehörigen Falls 
beginnen, und dann zeigen, wie sich diese verallgemeinern läfst. Der in- 
ducirende Strom sei unverzweigt, und bestehe aus zwei Bahnstücken, welche 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 33 


in Fig.5 durch « und @ bezeichnet sind, « soll ruhen, die Elemente von ß 
aber werden auf beliebigen Wegen aus der Position ß, in die Position ß, fort- 
geführt. Gleichzeitig mit dieser Fortführung geschieht in dem inducirten 
Leiter-Umgang, der gleichfalls aus zwei Leiterstücken, mit a und 5 in der 
Figur bezeichnet, besteht, die Verschiebung der Elemente von 2, so dafs sie 
in derselben Zeit aus der Position in 5, in die von d, gelangen. Es soll die 
durch diese gleichzeitigen im Übrigen von einander unabhängigen Verrückun- 
gen der Elemente in ß@ und in d, in dem Leiterumgang a+5 inducirte elek- 
tromotorische Kraft bestimmt werden. 

Ich bezeichne ein Element des ruhenden Bahnstücks @ durch Da, des 
ruhenden Leiterstücks a durch Da, und die Elemente der beweglichen Stücke 
ß und 5 durch D® und Dd. Den ganzen Strom-Umgang «+ werde ich 
durch v, und ein Element desselben, wenn nicht unterschieden werden soll 
ob es zu «a oder ß gehöre durch Dr bezeichnen. Ebenso nenne ich den gan- 
zen Leiter-Umgang a-+Ö5, und ein Element desselben ohne Unterschied ob 
es zu a oder 5 gehört, Ds. Der Strom in « habe die konstante Intensität j. 
Die Wege, auf welchen Da und Da fortgeführt werden, seien dw und do, 
die Geschwindigkeiten dieser Elemente also =. und —. Das Zeitintervall, 
während dessen die gleichzeitigen Verrückungen stattfinden liege zwischen 
t, und Z,. 

Die während 92 in dem Leiterumgang s inducirte elektromotorische 
Kraft ist, wenn C und T in dem Sinne genommen werden, welcher für diese 
Buchstaben im Anfange des $1 und $ 2 festgesetzt wurde 


do du 
— ed SC Ds — dt ST De. 


Nimmt man hiervon das Integral nach d£ zwischen Z, und /, um die in diesem 
Zeitintervall inducirte elektromotorische Kraft zu erhalten, bezeichnet diese 
mit F, macht F=jE, und setzt für C und T ihre Werthe aus (2) $1 und 
(2) $2, so wird 


DD d? dr d dr d 
E=-: due Tr 4 u Ei Or 
r db ds db ds| do dt (4) 
2 2 
Bug LE e dr h.. 1 dr dr | dr dw 
r dßds aß ds| au at 


Von den beiden durch 3 und $ bezeichneten Integrationen, die im Allgemei- 
Phys. Kl. 1847. E 


34 Neumann über ein allgemeines Princip 


nen auf die ganzen Umgänge respektive r und s auszudehnen sind, beschränkt 
sich & in dem zweiten Gliede auf die Elemente von £, weil für die Elemente 
des Theils @« der Faktor a = oist, und Sim ersten Gliede auf die Elemente 
von d, da für die Elemente von a hier 22 = oist; aus diesem Grunde ist in 
diesen Gliedern respektive statt Dr und Ds geschrieben worden D£ß und Db. 

Ich werde das in dem ersten Gliede des vorstehenden Ausdrucks von 
E unter dem Integralzeichen S stehende Doppel-Integral durch B bezeich- 


nen, und in dem zweiten Gliede durch B, so dafs 


Ds Db d’r ı dr dr| dr do 

: Be WE +22 
2) DRDs(_ a®r ı dr dr) dr dw 
B = 38 ——- Ir —— — 4 — —ı — — 

daß ds aß ds| dw at 


(3) E=-efütB-efütB 


Die Integration in dem Ausdruck von B nach Dr erstreckt sich auf alle Ele- 
mente welche zur Zeit {in dem Umgange r enthalten sind, die nach Dd ist 
von5=b, bis 5b = b, auszudehnen, wo 5, und 5, die zur Zeit zZ in den Gleit- 
Stellen liegenden Enden des bewegten Stücks 5 sind. Die Integration in B 
nach Ds ist auf alle zur Zeit Z in s vorhandene Elemente auszudehnen, die 
nach DR bezieht sich nur auf die zwischen ß, und £, liegenden Elemente, 
wo ß, und £, die Gleitstellen des bewegten Stücks ß zur Zeit £ bezeichnen. 
Es sind also sowohl die Anzahl der Elemente nach welchen in Bund B zu 
integriren ist, als die Lage derselben und defshalb auch und dessen Diffe- 
rentialquotienten Funktionen der Zeit, und somit auch B und B. Diese 
Funktionen B und B sind in (3) nach 0£ zwischen £, und Z, zu integriren. 
Ich werde annehmen das Zeitintervall /, — 2,=r, sei sehr klein, so 
dafs, wenn man f, +7 = setzt, wo r zwischen o und 7, liegen soll, man die 
Funktionen B und B nach den Potenzen von r entwickeln kann, und nur 
die ersten Glieder dieser Entwickelung zu berücksichtigen braucht. Ich setze 


B= B, + Br 
B=B-+B; 


Hierin ist B, der Werth welchen B zur Zeit z, besitzt. Der Zuwachs wel- 
chen B zur Zeit {,+r erfahren hat, rührt von zwei von einander unabhän- 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 33 


gigen Ursachen her, einmal weil die Lage und Anzahl der Elemente des 
Leiterstücks 5 sich geändert hat, und dann weil dasselbe in Beziehung auf 
die Elemente der Strombahn r stattgefunden hat. Ich werde um die Wir- 
kung dieser beiden Ursachen zu unterscheiden, setzen 


BiEHBLNB: 


wo B, den Theil von B, bezeichnen soll, welcher von der Veränderung der 
Zahl und Lage der Elemente in 5 herrührt, und B, von der Veränderung 
der Elemente in re. 

Ebenso besteht B, aus zwei von einander unabhängigen Theilen, der 
eine rührt von der Verschiebung der Elemente des Bahnstücks £ her, und 
dieser soll mit B, bezeichnet werden, der andere von der Veränderung 
welche der Leiterumgang s erlitten hat, und dieser soll B, genant werden, 
so dafs 

B,=B, +B; 
Setzt man diese Werthe in (3) und integrirt, nachdem man dr statt d£ ge- 
schrieben hat, nach dr zwischen o und 7, so erhält man für die in dem klei- 
nen Zeitintervall 7, inducirte elektromotorische Kraft E den Ausdruck 


E=-—er,$B+B+7z(B,+B,+B,-+B;) r} (4) 


Ich werde jetzt nachweisen, dafs dieselbe elektromotorische Kraft in- 
ducirt wird, wenn man dieselben Verrückungen der Elemente der induci- 
renden und inducirten Strombahn nicht gleichzeitig sondern nach einander 
erfolgen läfst. 

Es sollen die Elemente von ß in Ruhe bleiben, und die von 5 ver- 


&s . du 
rückt werden; dann ist wegen _ —=oauchB=o und 
B= B, + B, T 


Die jetzt inducirte elektromotorische Kraft, welche ich E, nenne, hat den 
Ausdruck 

E,=-—er$B+75zB,r} 
worin, da die Verrückung der Elemente von 5 eben so grofs sein soll wie 
vorher, r, denselben Werth als in (4) besitzt. Jetzt, nachdem die Ver- 
schiebung von 5 vollendet ist, sollen die Elemente von $ fortgeführt wer- 


den. Diese Fortführung geschieht in dem Zeitraum von Z, + 7, bis t,+ 27,. 
E2 


36 NEUMANN über ein allgemeines Princip 


Zur Zeit +7, hat B den Werth B,+B, r, und zur Zeit ,-+7,+ 7 ist also 
B=B +B,r,+B;r 


RE a f a i 
während in dieser Periode B = o ist weil in ihr — = 0. Nennt man die 
in dieser Periode inducirte elektromotorische Kraft E,, so ist 


E, = — er, fB, + (eB, +B,) 7} 


und demnach die Summe der in beiden Perioden inducirten elektromotori- 


schen Kraft 
(5) E, +E, = ET, {B+B +5 (B,+:2B,+B;) 7} 


Wäre die Ordnung in welcher die Elemente der Stücke 5 und ß 
fortgeführt sind, die umgekehrte gewesen, und wäre also zuerst @ und dann 
d verschoben worden, so hätte man, wenn die in der ersten Periode indu- 
eirte elektromotorische Kraft durch E,;, die der zweiten Periode durch E, 
bezeichnet wird, erhalten: 


E; = — er, $B, + B,) ri} 
E,=—er,$B+4(2B,++B,) r} 


und also die Summe der in beiden Perioden inducirten elektromotorischen 


Kraft 
E;+E,= — er $B+B++(B;+:2B,+B,) r} 


Nun mufs aber E,+E,=E, +E, sein, weil jede dieser Gröfsen 
dem Unterschied der Werthe gleich ist, welche das Potential von « in Be- 
zug auf s in den End- und Anfangs-Positionen der Elemente dieser zwei von 
der Strom-Einheit durchströmten Curven hat, und es in Beziehung auf die- 
sen Unterschied gleichgültig ist, ob die Elemente von 5 zuerst und dann die 
von ß, oder ob umgekehrt zuerst die Elemente von ß und hierauf die von 5 
fortgeführt worden sind. Hieraus folgt aber B=B, oder 


2B, = B,+ B, 


Setzt man diesen Werth von B, in (5) und vergleicht diese Gleichungen mit 


(4) so sieht man dafs 
E= E, + E, 


und dafs es also bei kleinen Verschiebungen der Strom- und Leiter-Elemente 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 37 


gleichgültig ist in Beziehung auf die inducirte elektromotorische Kraft, ob 
diese Verschiebungen gleichzeitig oder aufeinander folgend stattfinden. Be- 
zeichnet man die Curven s und r zur Zeit £, durch s, und s, zur Zeit 4, +7, 
durch s, und s, und durch P(s.s) wieder das Potential von s in Bezug auf's, 
beide Curven von der Strom-Einheit durchströmt gedacht, so kann man 


statt (4) schreiben 
E=: {P (5, . s,,) ; P«6s, ® s)} 


Wenn die Verschiebung, und also auch 7, unendlich klein — dt ist, so ist 
P(s,.s,)—P(s,.s,) der mit d2 multiplieirte nach { genommene Differentialquo- 
tient von P(s,.s). Mit Weglassung der Accente ar s und s hat man also für 
die während 97 inducirte elektromotorische Kraft den Ausdruck 


eu P(s.s) 


Hierbei ist die Stromstärke des Inducenten der Einheit gleich gesetzt, ist diese 
7 so ist die inducirte Kraft 


edtj— =P@: s) (6) 


woraus folgt, dafs wenn j konstant ist, auch die in jedem endlichen Zeitin- 
tervall von £, bis £, inducirte elektromotorische Kraft F ausgedrückt ist durch 


= ej $P(@,.s,) —P(:s)} (N 


wo s,, 5, und s,, s, die Curven s und s in der Lage ihrer Elemente bezeichnen, 
die sie zur Zeit Z, und Z, besitzen. 

Durch die vorstehende Betrachtung ist die Summe der beiden drei- 
fachen Integrale in (1) auf die Differenz zweier Doppel-Integrale zurück- 
geführt, nemlich, indem für P(r.s) sein Werth gesetzt wird 


Ds, Ds, 


F=Ej= 7.35 —— cos (Dr,.Ds,) 


Ds, Dr 


(8) 


— 47285 —2 cos (De,. Ds,) 


worin durch die den Elementen und dem r aa Strichelchen die Lage 
und Entfernung derselben im Anfang und am Ende ihrer Verrückungen be- 
zeichnet sind. Die Integrationen sind auf die ganzen geschlossenen Umgänge 
auszudehnen. 


38 Neumann über ein allgemeines Princip 


Wir haben bis jetzt einen speciellen Fall, wie er in Fig. 5. vorgestellt 
ist, vorausgesetzt, nemlich dafs die inducirende Strombahn aus einem ru- 
henden und einem bewegten Bahnstücke bestehe, und ebenso der indueirte 
Leiter nur ein ruhendes und ein bewegtes Leiterstück besitze. Die vorste- 
hende Betrachtung erleidet aber dadurch keine Veränderung, dafs wir sowohl 
der inducirenden als inducirten Strombahn, wenn nur beide unverzweigt blei- 
ben, eine beliebige Anzahl Bahn- und Leiterstücke ertheilen. Wir brau- 
chen nur unter « alle ruhenden Stromelemente, wenn solche vorhanden sind, 
verstehen, und unter @ alle bewegten, und ebenso unter a alle ruhenden Ele- 
mente der inducirten Bahn und unter d alle bewegten. Die Gleichungen (7) 
und (8) gelten also allgemein für alle unverzweigten Strom- und Leiterum- 
gänge. Ist die indueirte Strombahn verzweigt, so gelten sie für jeden ge- 
schlossenen Umgang, der aus ihren Zweigen gebildet werden kann. Ist der 
indueirende Strom verzweigt, und bleibt die Stromstärke in jedem Zweige 
ungeachtet der Verrückung der Strom-Elemente, ungeändert, so gelten die 
Gleichungen (7) und (8) für jeden der einfachen Strom-Umgänge, aus wel- 
chen der Inducent zusammengesetzt gedacht werden kann. Es sei v einer 
dieser Umgänge, die in ihm fliefsende Stromstärke sei j, und der Antheil 
der inducirten elektromotorischen Kraft, welcher ihm zukömmt werde durch 
F', bezeichnet, so ist nach (7) 


F,=:j, {P(@,.s,)— P(,.s)} 


und die ganze indueirte elektromotorische Kraft also 
(9) F=:&j, {Po,.s)—P@,.s)} 


wo © dieselbe Bedeutung wie in (7) des vorigen $ hat, wofür man, wenn 
Q(s.s) das Potential des inducirenden, beliebig verzweigten Stroms s in Be- 


zug auf die Strom-Einheit in s bezeichnet man schreiben kann 


(10) MEILE, 3, QLs,.5)% 


Durch diese Gleichung ist das neue, im Eingang dieser Abhandlung aufge- 
stellte Induktions-Prineip so weit bewiesen, als in dem Inducenten keine 
Veränderungen in der Stromstärke vor sich gehn. 

Ist die Stromstärke 7 variabel, und der Inducent unverzweigt, so er- 
hält man aus (6) für die in dem Zeitintervall von Z, bis Z, inducirte elektro- 


motorische Kraft den Ausdruck 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 39 


F=efajz Pr .s) (11) 


Ist der Inducent verzweigt, und seine Stromstärke veränderlich, so erhält 
man hieraus statt der Gleichung (9) die folgende 


F=:6./3j, 0.9) (12) 


4. 


Es bleibt noch übrig diejenige elektromotorische Kraft auszudrücken, 
welche, ohne dafs eine Orts-Veränderung der Elemente eines inducirenden 
Stroms eintritt, durch die Veränderung seiner Stromstärke erregt wird, oder, 
wenn eine solche Ortsveränderung vorhanden ist, den Antheil der inducirten 
elektromotorischen Kraft zu bestimmen, welcher von der gleichzeitig einge- 
tretenen Intensitäts-Veränderung herrührt. Dies ist der Gegenstand dieses $. 

Der Ausdruck für die in Rede stehende elektromotorische Kraft kann 
nicht aus den Principien, welche den vorigen $$ zum Grunde liegen, abge- 
leitet werden, da diese sich nur auf die Orts-Veränderungen der Strom- und 
Leiter-Elemente beziehen. In meiner frühern Abhandlung aber wurde ich 
durch Analogie auf ein anderes Princip geführt, durch welches die vorlie- 
gende Frage beantwortet werden kann, und das sich durch die Beobachtung 
als richtig bewährt hat. Dieses Princip habe ich an dem angeführten Orte so 
ausgesprochen: wenn in einem ruhenden geschlossenen Strom « die Intensi- 
tät 7, sich in j, verändert, so ist die in einem in seiner Nähe befindlichen ein- 
fachen Leiter- Umgang s dadurch inducirte elektromotorische Kraft 


e(„—)J)P(e.9) (1) 
d.i. proportional mit der Potential-Differenz des Inducenten r in seinen 
zweierlei Intensitäts- Zuständen 7, und j,in Bezug auf die Strom-Einheit in 
dem Leiter- Umgang s. 

Der Grundsatz auf welchem dies Prineip beruht ist der, dafs die Induk- 
tion in einem ruhenden geschlossenen Leiter allein durch die Veränderung 
der Wirkung des Inducenten nach Aufsen hervorgebracht wird, und dafs die 
in einer bestimmten Zeit inducirte elektromotorische Kraft allein von dem 
Anfangs- und Endzustand dieser Wirkung abhängt, nicht von der Art und 


40 Neumann über ein allgemeines Princip 


Weise, wie der letztere aus dem erstern hervorgegangen ist. Ist z.B. der 
Endzustand dieser Wirkung gleich dem Anfangszustand, so ist die Summe 
der inducirten elektromotorischen Kraft immer gleich Null. Wenn dieselbe 
Veränderung in der Wirkung eines Stromes nach Aufsen, welche durch eine 
Veränderung seiner Intensität eingetreten ist, durch eine Verschiebung seiner 
Elemente hervorgebracht werden kann, so hat man in dem Ausdruck der 
durch diese Verschiebung inducirten elektromotorischen Kraft zugleich den 
für die durch die Intensitäts- Veränderung erregte. Die Veränderung der 
Stromstärke von 7, in 7, eines ruhenden Inducenten bringt dieselbe Variation 
in seiner Wirkung nach Aufsen hervor, als wäre zu dem ursprünglichen 
Strom j, ein anderer von derselben Configuration mit der Intensität 7, — J, 
aus unendlicher Ferne hinzugeführt und über ihn gelegt worden. Die durch 
den hinzugeführten Strom inducirte elektromotorische Kraft it = 
&(j„— J,) P(e.s), und dies ist der in (1) gegebene Ausdruck für die durch 
die Intensitäts-Veränderung 7, — j inducirte elektromotorische Kraft. — Ich 
werde diesen Grundsatz noch durch ein zweitesBeispiel erläutern, und dazu den 
in G 2 behandelten Induktionsfall, auf welchen sich Fig. 4. bezieht, wählen. 
Ich behalte die a. O. gebrauchte Bezeichnung bei, und füge der dort gemach- 
ten Bestimmung dals j, und A konstant sein sollen noch die hinzu, dafs A ver- 
schwindend klein sei. Alsdann fliefst der ganze inducirende Strom in dem 
Umgang aaßd, da jetzt die Intensität j, in dem Zweige «yß unendlich klein 
ist. Führt man nun das bewegliche Bahnstück «aß aus seiner Anfangs-Lage 
«,ß, in der Richtungnach «,ß, so weit, bis es bei y ganz aus der leitenden Ver- 
bindung mit der Strombahn heraustritt, so ist die inducirte elektromotorische 
Kraft ej, P(r.s), wo r die Curve «,a, yß,ß, bezeichnet, auf welcher die 
Enden des bewegten Bahnstücks fortgleiteten. Die Veränderung die in dem 
inducirenden Strom hervorgebracht ist, ist aber keine andere als die, welche 
durch das Eintreten des Stroms 7, in die mit r bezeichnete Curve, inwelcher im 
Anfange kein Strom flofs, hervorgebracht wird. Das Eintreten eines Stromes 
von der Intensität 7, in die Bahn ? inducirt also in dem Leiterumgang s eine 
elektromotorische Kraft, deren Ausdruck ej,P(*.s) oder wenn für P(r.s) 
sein Werth gesetzt wird, und statt j, der Buchstabe j gebraucht wird 

(2) EN NE Bu, cor (Ds. Dr) 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 41 


wo die Integrationen auf die geschlossene Curven = und s auszudehnen sind. 
Da dieser Ausdruck gilt, welche Formen auch = und s haben, so schliefst 
man hieraus dafs jedes Strom-Element Dr in jedem Leiter-Element Ds, 
so fern diese Elemente geschlossenen Umgängen angehören, dadurch dafs die 
Stromintensität des Umganges zu welchem Dr gehört, von o bis j wächst, 
eine elektromotorische Kraft inducirt, welche den Ausdruck: 


1 
—igie] 


.Ds Dr 
r 


cos (Ds. Dr) (3) 
hat. Statt des Ausdrucks in (2) kann man, zufolge der Nachweisung welche 
in $ 1 bei Ableitung der Gleichung (13) aus (12) gegeben ist, schreiben 


Ds Dr dr dr 
alas Fa = (4) 


4+:j 83 


und also auch als elementare Wirkung der Induktion durch Intensitätsverän- 


derung setzen 
4 erg dr dr 


2 a (5) 


Die Absicht der Ausdrücke in (3) und (5) für die elementare Induktion durch 
Intensitäts- Veränderung ist durch sie den Antheil zu bestimmen, welchen 
ein gegebener Theil der Strombahn z an der durch die ganze Bahn inducir- 
ten elektromotorische Kraft hat, oder den Theil derselben, welcher in einem 
gegebenen Stück des geschlossenen Leiterumganges erregt ist. Man erhält 
diese Theile der elektromotorischen Kraft, wenn man die Integrationen in 
(2) und (4) auf die in Rede stehenden Stücke der Curven r= und s be- 
schränkt. 

Aus dem Vorstehenden folgt, dafs, wenn in einem Strom-Element 
Dr die Stromstärke j während 07 einen Zuwachs I u erhält, dadurch in 
dem Element Ds eines geschlossenen Leiterumgangs s eine elektromotori- 


sche Kraft erregt wird, welche den Werth 


Ds Ds 


— Zelt = 


cos (Ds. Dr). . (6) 


hat, und dafs die durch den ganzen Strom-Umgang in dem ganzen Leiter- 
umgang während 0% inducirte elektromotorische Kraft 
eu P(e.) (7) 
Phys. Kl. 1847. F 


42 Neumann über ein allgemeines Princip 


ist; die Summe derselben welche in dem Zeitraum von t, bis Z,, erregt ist, 
erhält man durch Integration dieses Ausdrucks nach 0/ zwischen £, und Z,, 
und ist also 


(8) fuPe.9 


Hierin kann P(r.s) eine Funktion der Zeit sein, entweder weil die Lage 
der Elemente von s oder die Lage der Elemente von r von dieser Gröfse 
abhängen oder weil beide Curven zugleich mit der Zeit sich verändern. 

Die vorstehenden Ausdrücke in (7) und (8) gelten wenn der Leiter 
verzweigt ist für jeden einfachen Umgang desselben, und wenn der induci- 
rende Strom verzweigt ist, für jeden seiner einfachen Umgänge, aus welchen 
er zusammengesetzt gedacht werden kann. 

Ich werde jetzt nachweisen dafs wenn eine Intensitäts-Veränderung in 
Folge der Verrückung der Strom-Elemente eintritt, die ganze inducirte elek- 
iromotorische Kraft, von der ein Theil durch die Verrückung der Elemente 
der andere durch die Variation ihrer Strom-Intens itäterregt ist, gleich ist dem 
mit e multiplieirten Unterschied der Werthe welche das Potential des indu- 
cirenden Stroms in dem End- und Anfangszustand seiner Elemente in Bezug 
auf den von der Strom -Einheit durchströmten Leiter-Umgang hat. Ich 
werde dies zuerst in einigen einfachen speciellen Fällen thun, von welchen 
aus sich das Resultat leicht verallgemeinern lassen wird. 

Es sei der indueirende Strom ohne Verzweigung, und er bestehe aus 
einem ruhenden Bahnstück @ und einem bewegten ß. Die Fortführung die- 
ses Stücks geschehe in dem Zeitraum von Z, bis 2, und wirke inducirend auf 
einen ruhenden Leiter-Umgang s. Das Verhältnifs der Leitungswiderstände in 
« und ® sei so, dafs die Stromstärke j durch die Fortführung des Bahnstücks 
ß sich von j, in j, verändert. Die von « und ß gebildete geschlossene Bahn 
nenne ich s und bezeichne sie durch s, und s, in der Anfangs- und Endposi- 
tion von . 

Der Antheil der elektromotorischen Kraft, welcher durch die Fort- 
führung der Elemente von £ inducirt wird, hat nach (10) $2 den Ausdruck 


(9) fi P@:s) 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 43 


und der durch die Veränderung der Stromstärke inducirte Antheil ist nach 
(8) dieses $: 


fuPre.)% (10) 


wo die Integrationen in beiden Ausdrücken auf das Intervall von z, bis Z, aus- 
zudehnen sind. Die Summe 7’ dieser beiden Antheile, d.i. die ganze indu- 
eirte elektromotorische Kraft ist also 


F= ft -jP(e.s) 


= e77,P(%-3)- 1,6.s% (11) 


dei. 


Dies ist für den speciellen vorliegenden Fall der Satz, welcher bewiesen wer- 
den sollte. Mann sieht aber sogleich dafs man zu demselben Resultat gelangt, 
wenn man den Strom aus einer beliebigen Anzahl Bahnstücken bestehend 
voraussetzt, dafs man ihren Gleitstellen ruhende oder bewegte Unterlagen 
geben kann, dafs man endlich die Elemente des Leiterumgangs gleichzeitig 
mit den Strom-Elementen beliebig verschieben kann, ohne dafs der Aus- 
druck für Fin (11) dadurch eine Veränderung erleidet, wenn nur Strom- und 
Leiterumgang unverzweigt ist. Denn da in allen diesen Fällen der durch die 
Verschiebung der Elemente erregte Theil der elektromotorischen Kraft durch 
(9), der durch die Intensitäts-Veränderung erregte Antheil durch (10) ausge- 
drückt ist, und F die Summe dieser beiden Theile ist, so gilt die Gleichung 
(11) überhaupt für einfache Strom- und Leiterumgänge, mufs nun aber, in 
dieser Verallgemeinerung, so geschrieben werden: 


P= 847, °(6,.3,) u BC.%- (12) 


Es ergiebt sich ferner, dafs, wenn der inducirte Leiter verzweigt ist, da in 
diesem Falle (9) und (10) die eben bezeichneten Theile der elektromotori- 
schen Kraft, welche in jedem einzelnen Umgang der aus seinen Zweigen ge- 
bildet werden kann, erregt wird, ausdrücken, die Gleichung (11) für jeden 
solchen Umgang gilt, und durch sie die in ihm inducirte elektromotorische 
Kraft bestimmt wird. 

Behufs der Beurtheilung der Induction durch beliebig verzweigte In- 
ducenten, werde ich zuerst wieder ein einfaches hieher gehöriges Beispiel 
behandeln. Fig. 6 stelle den inducirenden Strom dar, er besteht aus den 

F2 


44 NEUMANN über ein allgemeines Princip 


drei Zweigen «, ß@, y, von denen, während « und y ruhen, ß aus der Lage 
ß, in die Lage £, fortgeführt wird, wodurch in einem in der Nähe befindli- 
chen Leiterumgang s die elektromotorische Kraft F inducirt wird. Diesen 
verzweigten Strom sehe ich als aus zwei einfachen Strömen zusammengesetzt 
an, von denen der eine seine Bahn in dem aus « und @ gebildeten Umgang 
hat, der andere in dem aus « und y gebildeten. Die Stromstärke in dem er- 
stern Umgang werde ich durch j; in dem andern durch j, bezeichnen. Die 
Anfangs-und Endwerthe dieser Gröfsen sollen Jar; und Ja, )y, sein. Ebenso 
sollen «, 8, y in ihren Anfangs- und Endzuständen bezeichnet werden. Das 


Integral- 53 ——- 
zen Leiterumgang s und beschränkt in Bezug auf Dr respektive auf die Bahn- 
stücke «, ß, y will ich durch P («.s), P(®.s), P(y. s) bezeichnen. Das Poten- 


tial des ganzen inducirenden Stroms, den ich durch s bezeichne, in Bezug auf 
die Strom-Einheit in s soll Q(s.s) sein, so dafs 


(13) 06.)=j, $Pa.s + PB.st + 7j,{P(e.s) + P(y.s)}. 


Die durch die Verschiebung der Strom - Elemente in s inducirte elek- 
tromotorische Kraft F’ ist die Summe derjenigen, welche von jedem der ein- 


cos (Dr. Ds), ausgedehnt in Bezug auf Ds auf den gan- 


fachen Umgänge, in welche der Inducent zerlegt ist, erregt wird. Also hat 
man mit Rücksicht auf das in (11) in Beziehung auf einfache Umgänge erhal- 
tene Resultat: 


e$j,,(Pa,.s) + P(®,.s)) — js,(P @,.s) + P(®,.s))} 


F= 
(14) +:1j,,P@,.s) + PR9,3)) — 7], P@.s) + P&.9)} 


worin in dem vorliegenden Falle wo der aus « und y gebildete Umgang un- 
verändert bleibt 


P(a,.s) + P%,.s) =P(«e,.s) + P(ß,.s). 
Statt (14) kann man mit Rücksicht auf (13) schreiten 


(15) F= :$0cs,.5) — 06.9} 


wodurch der Satz, welcher nachgewiesen werden sollte, erreicht ist. 

Jede andere Zerlegung des gegebenen Stromes z. B. in die zwei Um- 
gänge, welche durch aß und yß gebildet werden, führt zu demselben Re- 
sultat. Ich werde, obwohl gar keine Schwierigkeit dabei ist, die Betrachtung 
für diese Zerlegung noch durchführen. Ich werde die Stromstärke in dem 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Siröme. 45 


Umgang aß jetzt durch j, und in dem Umgang 8y durch j, bezeichnen. Die 
Gröfse j, ist dieselbe wie vorher; dies ergiebt sich daraus, dafs in jedem 
Zweige, also auch in y dieselbe Stromstärke vorhanden sein mufs, auf wel- 
che Art die Zerlegung auch vorgenommen wird; aus demselben Grunde ist 
auch j,, die jetzige Stromstärke in «@ gleich j, +7, , welches nach der ersten 
Art der Zerlegung die Stromstärke in diesem Zweige war. Die Summe der 
von den beiden einfachen Strömen j, und j, inducirten elektromotorischen 


Kraft ist 


F= e$j.,(Pca,.s) + P(ß,.9) — je, (P@,.s) + P(&,.9))} 6 
+ :{y,(P@&..9) — P(®,.9) - u, P&-9) — P(£,.))}. ) 


Es ist in dem Gliede, welches sich auf den Strom j, bezieht, dem 
P(@.s) das negative Vorzeichen gegeben, weil die Richtung, nach welcher 
das durch diese Gröfse bezeichnete Integral zu nehmen ist, entgegengesetzt 
ist derjenigen, nach welcher dasselbe Integral in dem Gliede genommen ist, 
welches sich auf den Strom j, bezieht. 

Der vorstehende Ausdruck reducirt sich, wie man sogleich sieht, auf 


F=2{06..) — 06.9} 
er verwandelt sich übrigens in den Ausdruck (14), wenn man die Relationen 
Te» = Jen + In» Je, = JB, + Jv, berücksichtigt. 

Man übersieht leicht, dafs wenn wir bei dem in Fig. 6. dargestellten 
Induktionsfall bleiben, aber während der Fortführung des Bahnstücks £, dem 
aus «, y gebildeten Umgange eine beliebige Formveränderung erfahren lassen, 
an der Gleichung für F (15) dadurch nichts verändert wird, dafs aber, weun 
der inducirte Leiterumgang nicht ruht, vielmehr seine Elemente eine belie- 
bige Verschiebung erfahren, die Gleichung (15) sich verwandelt in 


F= :{06,.) — 06. s)}- (16) 

Nach dieser Diskussion eines Beispiels eines verzweigten Inducenten 
variabeler Intensität, wird es leicht sein die Betrachtung allgewein anzustel- 
len. Es sei ein beliebig verzweigter Strom gegeben, dessen Elemente belie- 
big verschoben werden, diese Verschiebung und die dadurch hervorgebrachte 
Intensitäts-Veränderung inducirt in einem in der Nähe befindlichen einfachen 
Leiterumgang, dessen Elemente gleichfalls eine beliebige gleichzeitige Ver- 
schiebung erfahren, einen Strom, es soll die Summe der inducirten elektro- 


46 NEUMANN über ein allgemeines Princip 


motorischen Kraft bestimmt werden. Es werde der inducirende Strom in 
die einfachen Ströme zerlegt, aus deren Uebereinander - Lagerung er entstan- 
den gedacht werden kann, ihre Umgänge seien «a, ß, .. v ..., und ihre Strom- 
stärken j,, ja --J, --- Die Anfangs- und Endzustände sollen wieder durch 
beigefügte Strichelchen bezeichnet werden. Den ganzen inducirenden Strom 
nenne ich s und in seinem Anfangszustand und Endzustand: s, und s,. Die 
entsprechende Bedeutung haben s, s, s, für den indueirten Leiterumgang. 
Das Potential von s in Bezug s, diesen Umgang von der Strom-Einheit durch- 
strömt gedacht, ist Q(s.s), so dafs 


(17) 06.)=j.PAe.s) + j;P(®ß.s)+..=6j,P#.s) 


wo das Summenzeichen © auf alle einfachen Umgänge, in welche der Indu- 
cent zerlegt ist, sich bezieht. 
Die von dem Umgange v indueirte elektromotorische Kraft ist nach (12) 


€ $j,P@, . s,,) DR J»,P.@, 2 s,)} 
Die von dem ganzen Inducenten erregte Kraft F ist die Summe der von sei- 
nen einfachen Umgängen inducirten elektromotorischen Kräfte, also 


(15) F=eE@.$7,,P(w.s)— j.,B0,.s)% 
oder nach (17) 
(19) F= e$0(s,.s,) — 0(s,.5)}. 


Durch diese Gleichung ist der Satz, welcher im Eingange dieser Abhandlung 
als ein neues Princip der mathematischen Theorie der Induktion aufgestellt 
ist, in seiner ganzen Allgemeinheit bewiesen. 

Ich will hier nur noch einem Bedenken begegnen, welches bei der 
Herleitung, die ich eben für diese Gleichung gegeben habe, entstehen könnte. 
Dies Bedenken bezieht sich auf den Fall, wo die Anzahl der einfachen Strom- 
Umgänge, in welche der Inducent zu zerlegen ist, vor und nach der Verrük- 
kung seiner Elemente verschieden ist. Die Diskussion eines einzelnen sol- 
chen Falls wird hinreichen zu zeigen, dafs dieser Umstand, wenn er eintritt, 
ohne Kinflufs auf die Gleichung (19) ist. Unter Anzahl von Umgängen, in 
welche der Strom zu zerlegen ist, ist die kleinste, durch welche dies gesche- 
hen kann, verstanden; dies ist eine durch die Verzweigung des Stromsystems 
vollkommen bestimmte, und gleich der Anzahl von Wegen, welche das 


der mathematischen Theorie indueirter elektrischer Ströme. 47 


Stromsystem gestattet, um von einem Punkte desselben aus zu ihm zurück- 
zukehren, ohne einen Theil des Weges doppelt zu gehn. Anschaulicher 
wird die kleinste Anzahl von Strom-Umgängen, in welche ein verzweigter 
Strom zerlegt werden kann, wenn man sich die Strombahn mit ihren Ver- 
zweigungen in eine Ebene, oder eine andere Fläche so gelegt denken kann, 
dafs die Zweige sich in keinen andern Punkten als in den Stromtheilungs- 
stellen schneiden. Dadurch wird in dieser Fläche ein Stück begrenzt, das 
Stromgebiet, innerhalb dessen alle Stromzweige liegen, und dasselbe in 
Stromfelder theilen. Die Anzahl dieser Stromfelder ist dann das Mini- 
mum der Anzahl von einfachen Umgängen in welche das Stromsystem zerlegt 
werden kann. Jeder dieser Strom-Umgänge kann wieder auf verschiedene 
Weise zerlegt werden z. B. kann jeder als ein Aggregat von Strömen in der- 
selben Bahn angesehen werden. Nach dieser allgemeinen Bemerkung wende 
ich mich zu dem speciellen Fall. 

Es sei Fig. 7. der indueirende Strom dargestellt, er besteht aus dem 
Stamm aßy und den Zweigen @dey und Buy. Die Induktion wird durch 
die Fortführung des Bahnstücks By in die Lage By, erregt. Vor der Fort- 
führung des Bahnstücks besteht das Stromgebiet aus drei Feldern, nach der 
Fortführung aus vier, vor der Fortführung mufs der Strom also wenigstens 
in drei, nach derselben in vier einfache Umgänge getheilt werden. Es hin- 
dert aber Nichts den Inducenten auch schon vor der Fortführung des Stücks 
Ay in vier Stromumgänge zu zerlegen, und diese so zu wählen, dafs sie den- 
jenigen nach der Fortführung entsprechen. Ich zerlege nach der Fortführung 
in die Umgänge «aß,y,a, adxy,a, ade« und aua, nenne diese respektive ß, x, 
ö und a, und die Stromstärken in ihnen j,, j,, etc. Vor der Verrückung 
fallen die beiden Umgänge ß und x zusammen, und bilden den einen Umgang 
a@y, den ich « nennen will, in welchem also ein Strom von der Intensität 
Ja + J. =). flielst. Die Anwendung der Formel (15) auf den vorliegenden 
Fall giebt 


Be 7 2178, PX.) 7, B (x, -3,) 493, P48,.8,) Tyan P(u,..s,)% 
= $j3,P (8, .5,) + J», P(#,. 5) + 75, P (8,.5,) + J», P (u, .s,)$ 
worin man, da P(ß,.s,) = P@es) = Blazs)rund joy, je ist, statt 


je» P (B,-5)) + j»,P (x,.s,) setzen kann J«, P(a,.s,). Hieraus ergiebt sich, dafs 
für die Anwendung die vermittelnde Betrachtung, nach welcher j, vor der 


48 Neumann über ein allgemeines Princip 


Verrückung des Bahnstücks in j, und j, zerlegt wurde, unnöthig ist, welches 
auch schon daraus erhellt, dafs der vorstehende Ausdruck für F von dem in 
(19) nicht verschieden ist. 


g.5. 


W. Weber hat in seiner Abhandlung: elektrodynamische Maafs- 
bestimmungen u.s.w. den Weg gebahnt, welcher über die Kluft in unse- 
rer Kenntnifs der elektrostatischen und elektrodynamischen Wirkung der 
Elektrieität führen wird. Er zeigt wie die Ampere’schen Gesetze für die 
Wirkung zweier Strom -Elemente aus der Wirkung der positiven und nega- 
tiven Elektrieität des einen Elements auf die beiden Elektrieitäten des andern 
abgeleitet werden können. Diese Analyse der Ampere’schen Gesetze führte 
zu dem Grundgesetz für die Wirkung zweier elektrischen Mas- 
sen, nach welchen diese nicht allein von ihrer relativen Entfernung, sondern 
auch relativen Geschwindigkeit und deren Veränderung abhängig ist. Dieses 
Grundgesetz erklärt zugleich, wie Weber gezeigt hat, die Induktions-Er- 
scheinungen und giebt ihre Gesetze. Der Gegenstand dieses $ ist nachzu- 
weisen, wie weit die im Vorhergehenden erhaltenen Resultate mit den aus 
Weber’s Grundgesetz der elektrischen Wirkuns abgeleiteten Induktionsge- 
setzen übereinstimmen. 

Bezeichnet man mit n, und e, zwei elektrische Massen, jede in einem 
Punkt concentrirt gedacht durch r ihre Entfernung zur Zeit /, so hat die 
Wirkung von n, auf e, nach Weber’s Grundgesetz die Richtung von r und 
ihre Gröfse ist ausgedrückt durch 


A) a ag Dr >): 


worin f und a Zu en sind, “- die relative Geschindigkeit der Mas- 


sen 9, und & und © 9 das ee dieser Geschwindigkeit. Diese Wir- 
kung ist BT wenn 7, und e, gleiche Vorzeichen besitzen, und anzie- 
hend bei entgegengesetzten Vorzeichen. 

Um hieraus die Wirkung, welche zwei Strom-Elemente auf einander 
ausüben, abzuleiten, denkt man sich jedes von gleicher Menge positiver und 
negativer Elektrieität in entgegengesetzter Richtung durchströmt, und sum- 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 49 


mirt die vier Wirkungen, welche die zwei Elektricitäten des einen Elements 
auf die zwei des andern ausüben. Ich nenne Dr und Ds die Strom -Ele- 
mente und bezeichne durch #7Ds und + eDs ihre Elektricitätsmengen, wo 
+ und te die Produkte aus den Dichtigkeiten in die Querschnitte der 
Strom -Bahn sind. Die Geschwindigkeiten mit welchen +4Ds und — yDe 
in der Strombahn o sich bewegen sind + — und |, und ebenso sind 
die Geschwindigkeiten mit welcher #eDs sich in der Strombahn s bewegen 
+7. Die Stromstärken sind mit den durch jeden Querschnitt der Strom- 
bahn durchströmenden Elektrieitätsmengen proportional, so dafs wenn öi und 
j die Stromstärken in Dr und Ds bezeichnen, und # und u die Stromge- 
schwindigkeiten bis auf einen konstanten Faktor, den man = 1 setzen kann, 


en jzet = (2) 

ist. 

Die Entfernung der Strom-Elemente Ds und Ds werde ich durch 
(n.e) bezeichnen, wenn sie sich auf die in ihnen fliefsenden + und + e be- 
ziehn soll, durch (— n.e) wenn sie sich auf —n und + e beziehn soll u. s. w. 
Diese Unterscheidungen von r in (&n.#e) ist erforderlich, weil diese Grös- 
sen, obwohl alle vier gleich z sind, doch ungleiche Differentialquotienten in 
Bezug auf die Zeit besitzen. Sie soll auch nur für die Bezeichnung dieser 
Differentialquotienten angewandt werden. 

Die Wirkung der beiden Strom-Elemente Dr und Ds ist die Summe 
von folgenden vier Ausdrücken 


fine Pepe ze an Ze, 
ann =. hf 3 (( d(e. =) ye e Ace) N 
TEE ng 
Aue ef ld N 


Die Summe der beiden ersten Ausdrücke giebt die Wirkung des Elements 

Dr d.i. seiner beiden Elektricitäten auf die positive Elektrieität des Ele- 

ments Ds, die Summe der beiden andern Ausdrücke die Wirkung von Dr 
Phys. Kl. 1847. ® 


mn 
. 


[80] 


50 Neumann über ein allgemeines Princip 


auf die negative Elektrieität in Ds. Mit der Differenz dieser beiden Sum- 
men ist die Kraft proportional, welche die beiden Elektricitäten in dem Ele- 
mente Ds in der Richtung von r zu trennen strebt. Multiplieirt man diese 
Differenz mit dem Cosinus des Winkels, unter welchem r gegen das Element 
Ds geneigt ist, 'so erhält man den Theil dieser Kraft, welcher die Trennung 
der beiden Elektricitäten in Ds in der Richtung von Ds zu bewirken strebt 
d.i. die elektromotorische Kraft, welche das Element Ds auf das 
Element Ds ausübt. 

Die Summe der beiden ersten Ausdrücke in (3) ist, wenn der Kürze 
wegen statt af gesetzt wird g: 


„PrDs len d(e.r) ED Yin ee Di u a? (8: ") _ le. a} 


und die der beiden letzten: 


ne en (> — .E de 2 a ei —n) _ eu „) — 


Die Summe beider vorstehenden Ausdrücke giebt die elektrodynamische 


Wirkung von Dr auf Ds, und führt in ihrer weitern Entwickelung zu den 
Ampereschen Gesetzen. Die Differenz derselben mit einer Konstanten A 
multiplieirt und mit dem Cosinus der Neigung von r gegen Ds d. i. mit Z, 
giebt die elektromotorische Kraft, welche Dr auf Ds ausübt. Ich bezeichne 
diese mit E, Dr Ds, und setze gh=a?, so wird: 


IN 2) + > I (er =») (=: .—1) 


= —_—— 
(4 ) 167° *) a1“ (er) ‘6 d?(—e.r) d?(e.—r) Be ds 


dt? dı* dt? dt? 

Um diese Formel sogleich auf den allgemeinsten Induktionsfall anzuwenden, 
nenne ich » und o die Wege auf welchen die Elemente der Strombahnen 
Ds und Ds fortgeführt werden, dw und do bezeichnen die Elemente dieser 
Wege, so wie = und — die Fortführungs- Geschwindigkeiten. 

Die Entfernung r der Electrieitäten in den beiden Bahn-Elementen Dr 
und Ds ist eine Funktion der vier von einander unahhängigen Gröfsen r, s, 
w, o, die ihrerseits Funktionen der Zeit Z sind, so dafs 


dr dr ds dr ds dr dw dr do 
du dr da ds dt da dt do dt 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 51 
und 
a ds (d?r Ga d?r ds d’r dw d?r do 
Data zart dods dt 
d?r a ds d’r dw d?r do 
+ dsds dt + dt duds dt r do ds dt 
d’r BE 2 d’r ds d’r dw + d’r do 
+ Ara? deu dw? dt dodu dt 
+ do d’r ds d’r ds d’r dw et do 
dt \drdo dt + dsdo dt dudo dt do? dt 
dr d’r dr d?s dr d?w dr d?o 
TI ge ds dt? du dt do dt? 


Man erhält hieraus die ersten und zweiten DT PER RENEn von (e.r) 
wenn man beide omeingeschwentdigkeiten und — undihre Differentialquo- 


d’s ds 
tienten “und ® BE - positiv nimmt, diejenigen von e. 7) ve dem —, und 


d?s 
€ das negative Vorzeichen gegeben wird, während © — und 7 , positiv bleibt. 
Allgemein erhält man diese beiden Ditterentilquoticuen, von (de. +n) wenn 
dr ds d?s ds ds 
man in ve Ausdrücken von “ und 7 = sta N ne 
2 nn op, u dt ’ at?’ ar?’ dr? 
spektive setzt 4 — ee ee und & + Zr. ‚Dies giebt 
(2er 2: (2 a goyz (===9) 
dr do dr du dr ds 
ET Da ana ara 
und 
d?(e.r) d?’(—e.r) d?(e.—+) d’(—e.—r) 
di? dt? dı? dt? 
5 d?r do d?r du) dr dr d?s 
aaa arte 2 ds dı? 
Diese Werthe in (4) substituirt geben: 
(r d?r ı dr dr dr dw 
E aten ds ds du 2 ds d ds di , 
me r? lat dr _ , dr dr\ dr do 0) 
+(r — — +7 27)7 2 
ds do ds doJ ds dt 
Kr 1 a?en dr dr d’s 
2 r ds dsd: 


d ; 
oder, wenn nach (2) 1 =i gesetzt wird und 


52 . Neumann über ein allgemeines Princip 


?r i 
(6) A: 


dt? dt 


und zugleich statt a’e der Buchstabe e eingeführt wird, 


(7 d’r ı dr =) du 
ds du 2 do du “| dr 


7a E = ei 
de 2 +(r d?r ı dr & “| ds 
dsdo *°dsr ad) ad 
in Ar ler dı man da 
2 r dtdod” 


Man ersieht aus diesem Ausdruck für E,, dafs die elektromotorische Kraft, 
welche das Strom-Element Dr auf Ds ausübt, unabhängig ist von der Strom- 
geschwindigkeit in Ds oder von der Stromstärke dieses Elements, defshalb 
denken wir uns diese = o und nennen Ds das Leiter-Element, im Gegen- 
satz von Dr, welches das Strom-Element genannt wird. 

Die von dem Stromstück r in dem Leiterstück s in dem Zeitraum von 
t, bis £, indueirte elektromotorische Kraft, welche ich mit F bezeichne, er- 
hält man durch die Integration von E, Ds Dsot nach De, Ds und 91 zwischen 
den Grenzen der Stücke o, s und des Zeitintervalls 7,-z,. Es ist also- 


(7) — 3S/B,DrDs dt. 


Der einfachste Fall ist ersichtlich der, wo weder die Strom- noch die Leiter- 
Elemente eine Orts-Veränderung erleiden, also = —=0 und = = ep ist,, die 
Induktion demnach allein durch eine Intensitäts-Veränderung des Stroms in 
5 hervorgebracht wird. In diesem Falle wird 


== r ds ds d 


(8) F=4:2S/[ 220 DrDsar 


Es sei o ein einfach geschlossener Strom-Umgang, so dafs ö innerhalb 
desselben konstant, allein von z abhängt; die nach 04 ausgeführte Integration 
giebt dann, wenn ;, und i, die Stromstärken von o zur Zeit Z, und Z, bezeich- 
nen 


(9) F=+e(,—i)2S1@@ DrDs, 


wofür man nach der Auseinandersetzung, welche in $ 1 bei Ableitung der 
Gleichung (13) aus (12) gemacht ist, setzen kann 


der mathemalischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 53 
F=—+e(,—i) 38 -—cos(Dr.Ds) Dr Ds. (10) 


Ist der Inducent ein verzweigter Strom, so zerlegen wir ihn in einfache 
Umgänge; einer dieser Umgänge sei v, der in ihm fliefsende Strom habe die 
Stärke z,, und zur Zeit Z, und Z, sei diese z,, und ö,,. Die durch v in s indu- 
cirte elektromotorische Kraft ist: 


F=--eW- i,)2S—cos(Dv..Ds) DvDs 
und die durch den ganzen Iuducenten inducirte: 
F=—-+:6. (,—i,)3S—cos (Dv. Ds) Dv Ds (11) 


wo die durch ©. bezeichnete Summe über alle einfachen Umgänge, welche 
den Inducenten zusammensetzen, auszudehnen ist. 

Da s, sofern ein inducirter Strom zu Stande kommen soll, ein ge- 
schlossener Umgang ist, irgend einer derjenigen, welche, wenn der indueirte 
Leiter verzweigt ist, aus seinen Zweigen gebildet werden könneu, so kann 
man statt (10) schreiben 

F=e(i,—i)P(s.s) (12) 
und statt (11) 


F=:&.(i,,—i,) P(.s) = 2$Q(,.s) — 0&..)} (13) 


wo P(s.s) das Potential von s in Bezug auf s bezeichnet, beide Umgänge von 
der Strom-Einheit durchströmt gedacht, und Q(s,.s) und Q(s,.s) das Po- 
tential des Inducenten im Anfangs- und Endzustand in Bezug auf den von 
der Strom-Einheit durchströmten Leiterumgang s. 

Betrachten wir jetzt den Fall, wo die Induktion allein durch Ortsver- 


änderung der Leiter-Elemente Ds erregt wird, die unter dem Einflufs eines 


a s di 
ruhenden und konstanten Stroms stattfindet. Da in diesem Falle — —=0 und 
du 
v2 
die nach do eingeführt wird: 


a DsDs d’r dr dr| ar: 
F = >; sfü ®. a . 44 
: co Tr 1 ds do 2 ds dof| ds “ . 
Durch das entsprechende Verfahren, mittelst dessen in $ 1 aus der 
Gleichung (6) die Gleichung (10) abgeleitet wurde, erhält man hieraus, wenn 


=0, so erhält man aus (7a) und (75), wenn statt der Integration nach df 


54 Neumann über ein allgemeines Princip 


die Grenzen der Integration nach do, Ds und Dr respektive mit o,, o,, s,, $,, 
und o,, o,, bezeichnet werden 


= zeis/ |- = az 


Oy 


(15) + +e28| 27 ]DsDr 


dr,d. 
0, 


1 1 dr dr 
Zus en 
eis | 2]P° 20 


wo die Klammern [ ] dieselbe Bedeutung haben als in (7) $1. 

Da der ruhende Inducent keine Gleitstellen besitzt, so ist die Inte- 
gration nach Der über den ganzen Strom - Umgang auszudehnen, sei es, dafs 
dieser für sich den Inducenten bildet, oder, dafs er einer der ihn zusammen- 
setzenden Strom-Umgänge ist. Es fällt also hier immer c, mit o, zusammen, 


und daher 


F= zei38[- ä = ]DrDs 


ds d 


(16) 0, 


Sur 
Aanadn, 
1.2.9 
— Z:iN = Der elek 
e Ef‘ r ds N 0 


77 


Erinnert man sich, dafs die inducirte elektromotorische Kraft F unter der 
Voraussetzung, dafs z= 1 ist, durch E in $ 1 bezeichnet wurde, so sieht man 
dafs die vorsichöidl Gleichung mit der in (11) $1 völlig übereinstimmt, und 
sie also auch identisch mit der in (27) daselbst ist d.i. mit 


(17) F=eSQ(s.s,) — Q(s.5)}. 
Gehen wir jetzt zur Betrachtung eines dritten Falls, in welchem der 
indueirte Leiter ruht, und die Induktion durch die sierung. der Ele- 
do 
mente eines konstanten Stroms erregt wird. Da hier 7m und =, so 


erhält man aus (7a) und (75), wenn, wie ich zunächst annehme, der häuser 
unverzweigt ist, 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme 95 


ds dw 2 ds duf| ds 


u ei28füu DsDelr ul Seen (18) 


Dies dreifache Integral läfst sich wie das entsprechende in (14) auf ein Ag- 
gregat von Doppel-Integralen zurückführen, welches man aus (15) erhält, 
wenn darin statt 0, 0, o, gesetzt wird w, w, w,; aus diesem Aggregat ver- 


r ds dw 


schwindet das Glied — zei Ef [- N =, Dedu, weil die Integration nach 


s) 


Ds in (18) auf den geschlossenen Umgang s auszudehnen ist, da in ihm als 
einem ruhenden Umgang keine Gleitstellen vorhanden sind. Demnach er- 


giebt sich aus (18) 


W, 
F= Hei! == DsDs 
y r ds d. 
w, 


(19) 
n +1as/[-52]P sow. 


Dieser Ausdruck verwandelt sich, wenn in « De Gleitstellen vorhanden 
sind, weil dann c, mit r, zusammenfällt, in 


mei ı=s[- = “]DzDs (20) 


ds ds 
W, 


was gleichbedeutend ist mit 


F=e{Q(s,.5) — Q(s,.s)}. (21) 
Zu demselben Resultat gelangt man, wenn der Inducent auf beliebige Weise 
verzweigt ist, unter der Voraussetzung, dafs er keine Intensitätsveränderung 
erleidet und keine Gleitstellen besitzt. Man hat ihn in diesem Falle in ein- 
fache Umgänge zu zerlegen, für jeden derselben gilt die Gleichung (20) und 
die Summe dieser Gleichungen giebt den Ausdruck (21). 

Die Übereinstimmung der Formeln (13), (17) und (21) mit denen in 
den früheren $$ ist vollständig. Anders verhält es sich mit der Gleichung 
(19), welche die von einem einfachen Strom - Umgang inducirte elektromo- 
torischen Kraft unter der Annahme ausdrückt, dafs derselbe aus einem be- 
wegten Leiterstück mit den Grenzen co, und r, und einem ruhenden besteht. 
Die dieser Gleichung entsprechende, wie sie aus meinem Induktions - Gesetz 


56 Neumann über ein allgemeines Princip 


sich ergiebt, wird aus der Gleichuug (5) in $2 abgeleitet, indem diese auf 
Doppel -Integrale zurückgeführt wird. Man erhält aus derselben: 


Bu 2s[: # #]p- oDs 


u, 


+ /Lz= De 


Die Vergleichung dieses Ausdrucks für E mit dem von F=iFE in (19) zeigt 
den wesentlichen Unterschied, dafs die beiden letzten Doppel-Integrale das 


(22) 


entgegengesetzte Vorzeichen haben. Dieser Unterschied tritt am reinsten 
hervor, wenn man die beiden Formeln auf solche Induktionsfälle anwendet, 
in welchen die von den Strom-Elementen durchlaufene Wege geschlossene 
Bahnen sind, d.h. wo jedes Strom-Element zur Zeit Z, sich an demselben 
Ort befindet, von welchem es zur Zeit Z, ausging; dann fallen w, und w, zu- 
sammen und man hat nach (19) 


(3) F=zS/],z jo 


dagegen nach (22) 
(24) H=iE = tusfE 5 2]pei= 


Es ist also die Summe der elektromotorischen Kraft, welche während 
des Umlaufs der Elemente des Inducenten erregt wird, nach beiden Formeln 
dieselbe, die Richtung des inducirten Stroms aber die entgegengesetzte. Die 
Beobachtung entscheidet für die Formel (24). Es mufs also untersucht wer- 
den, worin bei Ableitung der Formel (23) aus Weber’s Grundgesetz gefehlt 
worden ist. Der Umstand, dafs der in Rede stehende Widerspruch nur bei 
Inducenten mit Gleitstellen eintritt, führt die Betrachtung sogleich auf diese. 
Hier treten neue Elemente in die Strombahn ein, oder heraus, in welchen 
also die Stromstärke sich innerhalb einer sehr kurzen Zeit von o bis z oder 
von i bis o verändert, und die durch diese ihre Intensitäts-Veränderung einen 
indueirenden Effekt ausüben, welcher in meinen Formeln schon enthalten 


der mathemalischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 57 


ist, der aber bei der Anwendung des Weber’schen Grundgesetzes noch be- 
rücksichtigt werden mufs. 

Um den Erfolg dieser Berücksichtigung in einem einfachen Beispiel 
kennen zu lernen, werde ich die elektromotorische Kraft bestimmen, welche 
hiernach zu dem durch (19) gegebenen Werth von Fin dem in Fig. 8. dar- 
gestellten Induktionsfall noch hinzuzufügen ist. Hier stellt «@y den induci- 
renden Strom vor, die Induktion wird durch Fortführung des Bahnstücks 
Qy aus der Anfangsposition By, in die Endposition B,y, erregt, wobei die 
Intensität des Stroms z unverändert bleiben soll. Die End-Elemente dieses 
bewegten Stücks bei ® und y sollen dieselben bleiben, sie gleiten auf den 
ruhenden Unterlagen ß,ß, und y,y, und bringen deren Elemente nach und 
nach in die Strombahn. In jedem dieser Elemente wird in dem Augenblick 
seines Eintritts in diese Bahn ein Strom erregt, der in einer äufserst kurzen 
Zeit die Intensität 2 erreicht. Ich werde die Elemente von ß,ß8, durch Iß 
und die von y,y, durch dy bezeichnen. Die elektromotorische Kraft, welche 
durch die Srom-Veränderung des Elements 08 von o bis iin dem Leiter s 
indueirt wird, ist oBfs E,02.Ds, worin der Werth von E, aus (7a) zu setzen 


SEE rn. le d d 3 Laub: 
ist mit Rücksicht darauf, dafs — =0 und z =oist. Dies giebt 


0BfSE, Ds = +0 fS- EZ UDs 


rasaß a 
oder, indem die Integration nach di ausgeführt wird 


= 4e00S- Ds. 

Vertauscht man hierin 8 mit y, so erhält man den Ausdruck für die elektro- 
motorische Kraft, welche in s durch die Strom-Veränderung des Elements dy 
von o bis i erregt wird. Von diesen Ausdrücken sind die Summen nach 98 
zwischen ®, und ß, und nach dy zwischen y, und y, zu nehmen, um die durch 
die Unterlagen 8,ß, und y,y, inducirte elektromotorische Kraft zu erhalten; 
hiebei ist angenommen, dafs der inducirende Strom in dem bewegten Bahn- 
stück von ß nach y fliefse, und er also die erste Unterlage nach der Richtung 
von ß, nach ß,, die zweite in der Richtung von y, nach y, durchströme. Diese 
Summen müssen zu dem in (19) für F’ gegebenen Werthe noch hinzuaddirt 
werden. Dies giebt 


Phys. Kl. 4847. H 


58 NEumAnn über ein allgemeines Princip 


De +ezS|- = a «Ds 


ds ds 


Sy 


(25) ++es/f = = [Du 


5, 


Yın 
1 dr dr 1.dr ar 
Ar if) ui 0@Ds — 4ei Se PEN —0y.Ds 
Yı 
und hieraus erhält man 
Wr 
1 dr dr 


w, 


da die übrigen Glieder Sen zerstören. Denn indem man das Zeichen [] auf- 


löst, ist s/[-z 2] dw 
=5fl* a =) D> Ss =) Dr 0 


und hierin ist dw in dem ersten a: das Element PR Weges, welchen das 
Ende o,, durchläuft, in dem zweiten Gliede ist dw das Element des Weges, 
auf welchem das untere Ende o, des bewegten Bahnstücks Ey bewegt wird. 
Diese Wege-Elemente sind aber respektive identisch mit dy und 0$, so dafs 


Ty 


man auch schreiben kann s/|- ei =] Dsow 


ds d 
ao, 


ES Dedys she ER 


r ds dy r ds dß 


Setzt man diesen Werth in (25), so ergiebt sich die Gleichung (26). Wen- 
den wir diese Gleichung auf den oben behandelten Fall an, in welchem die 
Elemente des bewegten Bahnstücks geschlossene Bahnen durchlaufen, so fin- 
den wir für die elektromotorische Kraft, welche während eines ganzen Um- 
laufs des Bahnstücks in s erregt wird, statt des Ausdrucks in (23) diesen: 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 59 


da jetzt für alle Elemente Dr gleichzeitig w, mit w, zusammenfallen. 

Zwischen den dreierlei Ausdrücken für die in einem bestimmten Falle 
inducirte elektromotorische Kraft in (23), (24) und (27) mufste durch die 
Erfahrung entschieden werden. Ich sagte bereits, dafs diese zu Gunsten 
meiner Formel in (24) entschieden habe. Ich werde, obgleich ich die Be- 
schreibung von Experimenten aus dieser Abhandlung ausgeschlossen habe, 
in diesem Falle, wegen seiner Wichtigkeit, die Vorrichtung, deren ich mich 
zur Prüfung der in Rede stehenden Formeln bedient habe, in kurzen Umris- 
sen angeben. 

In Fig. 9 ist ein Theil des Schliefsungsdraths einer galvanischen Kette 
« ringförmig Qyd gebogen; das Ende & dieses Ringes reicht sehr nahe an 
seinen Anfang £, ohne mit ihm in leitender Verbindung zu stehen. Eine im 
Mittelpunkt des Ringes senkrecht auf seiner Ebene stehende rotirende Axe 
en führt das bewegliche Bahnstück ey mit sich im Kreise herum und zwar 
so, dafs sein Ende in y auf dem Ringe schleifend fortgeführt wird. Der in- 
ducirende Strom tritt, von « kommend, bei ® in den Ring und bei y aus ihm 
heraus in das bewegliche Bahnstück, aus diesem in die leitende Axe e7, bei 
9 kehrt er durch die ruhende Drathleitung nZ nach @ zurück. Diese Rich- 
tung des Stroms ist durch die Pfeile in der Figur angedeutet. Concentrisch 
um den Ring liegt ein kreisförmiger Leiter cd, in welchem durch die Be- 
wegung des Bahnstücks ey ein Strom indueirt wird. Wenn das bewegliche 
Bahnstück von 8 über y bis d fortgeführt ist, kann die Bahn desselben, we- 
gen der geringen Entfernung von d bis £, als geschlossen angesehn werden, 
und defshalb können die in (23), (24), (27) gegebenen Formeln zur Bestim- 
mung der während eines Umlaufs entwickelten elektromotorischen Kraft an- 
gewandt werden. In Beziehung auf die Formeln in (23) und (24) mufs man 
bemerken, dafs das mit «, bezeichnete Ende des beweglichen Bahnstücks ye 
das Ende e, welches in der rotirenden Axe en liegt, ist, in Beziehung auf wel- 
ches also d(u=oist. Demnach verwandelt sich (23) in 


Ale 1 dr dr 
en eisf = Dsdu (28) 
und meine Formel in (24) in 
ARE: dr dr c 
F= ei — uam Ps dw (29) 


60 NEUMANN über ein allgemeines Princip 


während die Formel (27) F=0 giebt. In den vorstehenden Integralen ist 
dw das Element des Ringes @yd, und die Integration nach diesem Element 
ist auf den ganzen Ring auszudehnen. Aus der Formel (29), welche für 
F das mit e multiplieirte Potential des vom Strome ö durchströmten Ringes 
ß@yd in Bezug auf den von der Strom-Einheit durchströmten Leiter giebt, 
folgt eine negative Richtung des indueirten Stroms dcd, dessen positive Rich- 
tung in demselben Sinne wie bei dem inducirenden Strome, nemlich von 6 
nach c gerechnet, dagegen (28) zwar dieselbe elektromotorische Kraft, aber 
die entgegengesetzte Stromrichtung giebt. Um Richtung und Gröfse des in- 
dueirten Stroms zu beobachten, war folgende Einrichtung getroffen. Der 
inducirte kreisförmige Leiter war bei 5 unterbrochen, und hier mit zwei Fort- 
sätzen e und f versehen, von denen einer unmittelbar mit dem einem Ende 
des Multiplikatordraths in Verbindung stand, der andere aber zu einer Me- 
tallfeder ging, welche in schleifender Berührung mit einer Metall-Hülse stand, 
die isolirt auf die rotirende Axe ey gesteckt war. Der inducirte Strom ging 
also durch diese Feder in die Hülse, trat aus dieser durch eine zweite gegen 
sie drückende Metallfeder wieder heraus, und ging aus dieser zu dem andern 
Ende des Multiplikatordraths. Die Hülse hatte einen Ausschnitt, der mit 
Holz ausgefüllt war, auf welche die eine Feder in dem Augenblick lag, als 
das bewegliche Bahnstück ys bei d den Ring 8yd verliefs, um bei & von 
Neuem mit ihm in leitender Verbindung zu treten. In diesem Augenblick 
nemlich wird die Schliefsung des Inducenten unterbrochen, und wieder her- 
gestellt, es verschwindet sein Strom, und er tritt wieder auf, dadurch wird 
aber in dem Leiter keine Induktion erregt, weil er ihr, nach der eben ange- 
gebenen Vorrichtung, keine geschlossene leitende Bahn darbietet. Zum 
Multiplikator gelangt also nur der durch die Bewegung des Bahnstücks ye 
inducirte Strom, und läfst, da er bei fortgesetzter Drehung der Axe ey im- 
mer in derselben Richtung fliefst, Richtung und Intensität beobachten. Die 
Beobachtung zeigte gegen die Formel (27) einen indueirten Strom, und, was 
die Richtung desselben betrifft, gab sie dieselbe, so wie meine Formel in (29) 
es fordert. Um zu beweisen, dafs durch diese Formel nicht blofs die Rich- 
tung, sondern auch die Stärke des inducirten Stromes richtig ausgedrückt 
wird, wurde auf folgende Weise verfahren. Die Feder, welche die leitende 
Verbindung in der inducirten Strombahn unterbrach, wurde soviel höher 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 61 


gestellt, dafs sie den mit Holz ausgefüllten Ausschnitt der Hülse, durch den 
eben die Unterbrechung bewirkt wurde, nicht mehr traf. Den inducirten 
Strömen wird jetzt immer eine geschlossene Bahn geboten. Zum Multipli- 
kator gelangen, bei fortgesetzter rascher Drehung der Axe en drei Ströme 
innerhalb sehr kurzer Zeit, nemlich der durch die Bewegung des Bahnstücks 
yeinducirte, dann der durch das Verschwinden des indueirenden Stroms in- 
dueirte, in dem Moment wo das bewegliche Bahnstück den Ring bei ö ver- 
läfst, und endlich der durch sein Wiederauftreten inducirte, sobald das Stück 
den Ring in £ wieder erreicht. Die Kraft, welche von diesen drei Strömen 
während der kurzen Dauer eines Umlaufs des Bahnstücks ye auf die Magnet- 
nadel des Multiplikators ausgeübt wird, ist mit der Summe ihrer elektromo- 
torischen Kräfte proportional; je nachdem das Vorzeichen dieser Summe 
positiv oder negativ ist, wird die Nadel auf der einen Seite oder der anderen 
des Meridians ihre beinahe feste Stellung nehmen, oder sie wird, wenn jene 
Summe = 0 ist, in ihrer Stellung im Meridian verharren. 

Den Ausdruck für die durch das Verschwinden des Stroms inducirte 
elektromotorische Kraft erhält man aus (9) wenn darin z,—=0 i,=i gesetzt, dies 


giebt 


1 dr dr 
Bein Se D 
eye 
z Eıs IE „Dr Ss 


Dieselbe Gleichung (9) wenn darin i,—i und = 0 gesetzt wird, giebt die 
durch das Wiederauftreten des inducirenden Stroms erregte elektromotori- 


sche Kraft 


In dem ersten Ausdruck ist die Integration nach Dr über die ganze induci- 
rende Strombahn, einschliefslich ihres ringförmigen Theils auszudehnen, in 
dem zweiten ist dieser ringförmige Theil auszuschliefsen. Daher giebt die 
Summe dieser beiden Ausdrücke ein entsprechendes Doppelintegral, in wel- 
chem die Integration nach Dr auf die Elemente des Ringes @yd zu beschrän- 
ken ist. Setzt man, um dies zn bezeichnen, in dieser Summe statt Dr und 
3 respektive dw und S so ist dieselbe 


175 1 dr di 
— zei sSy-Z.Dsdu. (30) 


62 Neumann über ein allgemeines Princip 


Addirt man diese elektromotorische Kraft zu derjenigen, welche durch die 
Bewegung eines Umlaufes des Bahnstücks ye erregt ist, so geben die For- 
meln (23), (24) und (27), als Summe der elektromotorischen Kräfte der drei 
aufgeführten Ströme, wenn diese Summe durch , bezeichnet wird, respek- 


tive 
ISsarrar 
VW 
! ds d Ds2 
a 
i dr dr 
„= — 4eiS[ = — — Dsow 
r ds da 


Die Beobachtung zeigt dafs, wenn die Drehung rasch geschieht, die Nadel 
im Meridian bleibt, also F,—= 0, wodurch die Richtigkeit meiner Formel in 
(24) sowohl in Beziehung auf die Richtung als die Stärke des inducirten 
Stroms erwiesen ist, da aus Beobachtnngen anderer Art die Richtigkeit des 
Ausdrucks (30) fesigestellt ist. 

Webers Grundgesetz der elektrischen Wirkung hat sich in so vielen 
und verschiedenartigen Fällen bewährt, dafs dasselbe durch die vorstehenden 
Bemerkungen nicht zweifelhaft gemacht werden kann, vielmehr mufs die Art, 
wie es auf den vorliegenden Fall zur Anwendung gebracht ist, in Zweifel ge- 
zogen werden. Bei weiterer Reflexion über diese Anwendung, erregt der 
Gebrauch, welcher von der Gleichung (2) in (6) gemacht worden ist, Ver- 
dacht. 

Folgende Betrachtung, die aber weniger durch ihre Evidenz, als durch 
ihren Erfolg gerechtfertigt wird, führt dahin, den Theil dieser Gleichung rech- 
ter Hand zu verdoppeln, wenn sie auf die Elemente in den Gleitstellen ange- 
wandtwird. Während des Zeit-Elements 02, in welchem ein Element der Gleit- 
stelle in die Bahn des inducirenden Stroms eintritt, erlangt seine Elektrieität 
den endlichen Zuwachs an Geschwindigkeit von o bis #. Dieser Zuwachs 
mus angesehen werden als wäre er der Elektrieität des Elements stetig er- 
theilt, so dafs derselbe 2 nach Verlauf von -.d/ ist, weil nach 0% erst der 
nte Theil des Elements der Gleitstelle in die Strombahn eingetreten ist. Die 
Elektrieität dieses Elements kann also angesehen werden, als durchliefe sie 
während 02 den Weg 4304. Die Stromstärke desselben Elements erfährt 
während 0 den endlichen Zuwachs von o bis i. Dieser Zuwachs ist propor- 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 63 


tional mit der während 0% durch das Element durchgeströmten Elektrieitäts- 
menge, dividirt durch 9%, oder proportional mit dem durch 04 dividirten 
Wege, welchen die Elektrieität des Elements während 04 durchlaufen hat. 
Diesen Weg fanden wir Z 302, also iti= ns =4n Ei Demnach ist in 
der Gleichung (5), so fern sie auf Elemente in den Gleitstellen angewandt 


wird, statt der Gleichung (6) zu setzen: — en 

Bringt man diese Bemerkung zur Anwendung auf den oben behandel- 
ten in Fig. 8 dargestellten Induktions-Fall, so ist in (25) der Theil der elek- 
tromotorischen Kraft, welcher von der Intensitäts-Veränderung der Elemente 
der Unterlage herrührt, zu verdoppeln. Dies trifft die Glieder dieser Glei- 
chung, welche unter den Integralzeichen die partiellen Differentiale von r 
nach £ und y haben. Dadurch entsteht aus (25) statt der Gleichung (26) 


die folgende 


N +eizS|- = © Den 
” \ y (31) 
+48 Sn Z0eDs— ei Ds 
B, Yı 
welche, da 

B, Yur 

ufst tan fl %ordn 

yY 


= — +:s/ [- & joa 


ist, mit meiner Formel in (22) identisch ist, und also als durch die Erfah- 
rung bestätigt augesehn werden kann. 

Macht man bei der Bildung des allgemeinen Ausdrucks für die indu- 
eirte elektromotorische Kraft von der Bemerkung Gebrauch, welche der Glei- 
chung (31) zum Grunde liegt, so kömmt dies darauf hinaus, dafs in (7«) 


statt des letzten Gliedes, welches den Faktor — enthält, in allen den Fällen, 


64 Neumann über ein allgemeines Prineip 


wo dasselbe sich auf die Elemente bezieht, welche in den Gleitstellen nach 
und nach in die indueirende Strombahn eintreten oder heraustreten, dessen 
doppelter Werth gesetzt werden mufs. Geschieht dies, so wird eine voll- 
ständige Übereinstimmung zwischen den Iuduktions-Formeln, die sich aus 
dem cher Grundgesetz der elektrischen Wirkungen ableiten, und 
meinem allgemeinen Induktions-Theorem herbeigeführt. Diese Behauptung 
soll noch gerechtfertigt werden. 

Betrachten wir den in Fig. 8 vorgestellten Induktions-Fall mit der Er- 
weiterung, dafs bei der Eortführung des Bahnstücks @y nach und nach mehr 
Elemente dieses Stücks in die Strombahn eintreten, und hierauf, wie ich der 
Einfachheit annehme, darin bleiben. Dann ist in (25), wenn das Glied 


Wr 


ei [7 = =] DsDs alle die Elemente des bewegten Bahnstücks um- 


fafst, welche vom Anfange bis zum Ende ihrer Bewegung innerhalb der Strom- 
bahn sich befinden, zu diesem Gliede noch in Beziehung auf die Elemente 
dieses Stücks @y, welche erst, nachdem sie den Weg w beschrieben haben, 
in die Strombahn eintreten, zu addiren die Gröfse: 


12777 


++ei2S| ar — Pr Ps 


ds ds 
(0) 


und, wegen der Strom-Erregung in ihnen, 


te 


ds ds 


Die Summe dieser beiden Gröfsen ist: 


+ui3s(- I DsDs + —ei2 Ss a mn 


ds ds 
w),, 
Die Parenthesen () mit ihren Indices w, und w bezeichnen, dafs die Elemente 
Dr, auf welche die eingeschlossene Gröfse sich bezieht, respektive in ihren 
Endpositionen sich befinden, oder eben die Gleitstellen erreicht haben. Ad- 
dirt man zu dem vorstehenden Ausdruck das zweite Glied in (25), nemlich 


der mathematischen Theorie indueirter elektrischer Ströme. 65 


4 zeisf” -= er =] Dodu und nennt = und dr die Unterlage der Gleitstelle 


und ihr Element, so erhält man 


+ei2S(- —)PrDs + +&s/ | Ep 


ds r ds dr 
[27 


Wird hierzu endlich. der doppelte Werth der beiden letzten Glieder in (25), 


nemlich 


Bu 


Ir 08 Ds — iin Ds 


= — “sf[-22]per 


Wr 
a { 
und das erste Glied daselbst —ei3 >s[--] Ds Ds in der vorher ange- 
w, 
gebenen Beschränkung addirt, so erhält man 
w)r 
Fz zei2S[- 7] DsDs 
ds d. 


w, 


eek al 2 


1277 
1 dr dr 


worin nun in zs|- | Dr Ds alle Elemente Dr begriffen sind, welche 


bei der Anfangsposition des Bahnstücks @y und bei seiner Endposition sich 
innerhalb der inducirenden Strombahn befinden. Diese Gleichung ist iden- 
tisch mit 

F=7j$P(e,.s)—£(0,.5)}- 

Zu derselben Formel gelangt man, wenn die End-Elemente des be- 
wegten Bahnstücks wiederholt in die Strombahn eintreten und heraustreten. 
Sie giebt überhaupt den Werth der elektromotorischen Kraft welche durch 

Phys. Kl. 1847. I 


66 Neumann über ein allgemeines Princip 


einen Strom, dessen Bahn aus einem ruhenden und einem bewegten Bahn- 
stück besteht, inducirt wird, ist aber, wie leicht ersichtlich, unmittelbar 
auf einen Inducenten anwendbar, der aus einer beliebigen Anzahl Bahn- 
stücken zusammengesetzt ist, wenn die Unterlagen in den Gleitstellen ruhen. 
Durch dieselben indirekten Betrachtungen, welche in $2 und $ 3 angestellt 
sind, läfst sich aus der vorstehenden Formel der Werth von F in allen übri- 
gen Fällen, nemlich in den Fällen wo die Unterlagen in den Gleitstellen be- 
wegt werden, und in denen wo eine gleichzeitige Bewegung der Strom- und 
Leiter-Elemente stattfindet, ableiten, und diese führt natürlich zu den dort 
erhaltenen Resultaten. 


Anmerkung. 


Über den Werth des Potentials zweier geschlossenen 
elektrischen Ströme in Bezug auf einander. 


Das Potential eines Systems von Kräften in Bezug auf einen Punkt 
definire ich als diejenige Funktion der Coordinaten dieses Punktes, welche 
in ihren negativen nach diesen Coordinaten genommenen partiellen Diffe- 
rentialquotienten die mit ihnen parallelen Componenten der Wirkung der 
Kräfte auf diesen Punkt darstellt. Diese Componenten sind positiv gerech- 
net wenn sie die Richtung der positiven Coordinaten haben. Wenn die 
Kräfte als Wirkungen von Massentheilen auf Massentheilen gedacht werden, 
wie z.B. die magnetischen und elektrostatischen, so wird angenommen, dafs 
diese, je nachdem sie gleichartig oder ungleichartig sind, d.h. mit gleichen 
oder entgegengesetzten Vorzeichen behaftet sind, sich abstofsen oder anziehen. 

Das Potential eines Systems von Kräften in Bezug auf ein festes Sy- 
stem von Punkten ist eine Funktion der sechs Gröfsen, durch welche der 
Ort und die Lage dieses festen Systems bestimmt wird. Um diese Funktion 
zu definiren nehme ich an, dafs der Ort des festen Systems durch drei recht- 
winkliche Coordinaten a, db, c irgend eines zu dem Systeme gehörigen Punk- 
tes A bestimmt sei, und seine Lage durch die Richtung einer durch den 
Punkt 4 gehenden geraden Linie B welche mit dem System fest verbunden 
ist, und durch den Winkel ®, welche eine durch B gelegte mit dem System 
fest verbundene Ebene mit einer unveränderlichen mit B parallelen Ebene 
bildet. Die Richtung der Linie B sei durch « und Q bestimmt. Das Poten- 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 67 


tial eines Kräfte-Systems in Bezug auf das in Rede stehende feste System 
ist diejenige Funktion der sechs Elemente a, 5, c, «, 9, $, deren negative 
partielle Differentialgnotienten nach den Coordinaten a, 5, ce die Summe 
der mit diesen parallelen Componenten der Wirkung geben, welche die 
Kräfte auf das System ausüben, und deren negativer partieller Differential- 
quotient nach $ das Drehungs-Moment der Kräfte um die Axe B darstellt. 

Bezeichnet man durch o und s die geschlossenen Bahnen zweier elek- 
irischen Ströme, durch Dr, Ds ihre Elemente und durch (Dr. Ds) den Win- 
kel unter welchem diese Elemente gegeneinander geneigt sind, so hat, wenn 
iund 7 die Intensitäten der Ströme r und s sind das Potential P des einen 
Stroms in Bezug auf den andern diesen Ausdruck: 


P=r4152y DM) n,Dr A) 

worin 

= (22 + (4 - N +@— 8) (2) 
und x, y, zund £, n, 2 die Coordinaten von Ds und Dr sind. Die Integra- 
tionen in (1) beziehen sich auf alle Elemente der geschlossenen Umgänge s 
und r. Bei unverzweigten Strömen treten ö und j aus den Integralzeichen 
heraus, weil sie hier unabhängig von s und s sind, während sie bei verzweig- 
ten Strömen Funktionen der Zweige sind. Die letztern können aber immer 
in einfache Umgänge von konstanter Intensität zerlegt, und die Integrationen 
auf diese ausgedehnt gedacht werden. Dies ist bei den partiellen Integratio- 
nen im Folgenden geschehen. Ich werde zunächst beweisen, dafs, wenn X, 
Y, Z die Summe der mit den Coordinatenaxen parallelen Componenten der 
Wirkung von o auf s sind, und der Ort und die Lage von s durch a, b, c, a, 
ß, & bestimmt sind, man hat 


Nach den Ampere’schen Formeln hat man, wenn durch jX,Ds, jY, 
Ds, jZ,Ds die Componenten der Wirkung von 7 auf das Element Ds be- 
zeichnet werden 


4 Ih Kr —mM)DE— (x«— DDr} Dy 
XEDs— ol 0 2 I 
. S@—-2)DE—- («— E)DA D: 

Paz; « 5 < z) D°s 


r 


68 NEUMANN über ein allgemeines Prineip 


wofür, wie leicht zu ersehen ist, man schreiben kann 


aa at De 


x.D=—+2il „De +,Dy+ = D=} DE 


+ ı cos(Ds.Dr) Ds Dr 
oder 
za ae 
X=— en us) _ — cos (Ds.De) De} 
Ebenso erhält man 


N Y=-—- lee Dy — eos (Ds.Dr) Dz} 


De a 
RETTET r r 
1,=- en 25 P& — — eos (Ds. De) De} 
Bildet man jetzt den Werth von X=SjX, Ds, das Integral nach den einfa- 
chen geschlossenen Umgängen von s genommen, und berücksichtigt, dafs in- 
nerhalb dieser Grenzen 


d 


S32-DsDf=> [:]»: =L 


wo die Klammer [] die Differenz der Werthe bezeichnet, welche die von 
ihr eingeschlossene Gröfse in den durch die beigefügten Indices angedeute- 
ten Grenzen, zwischen welchen integirt ist, besitzt, so ergiebt sich 


Rn SZij cos (Ds.Dr) Ds Dr 


wofür man schreiben kann, wnına=a+x, y=b+y, 3=c+3z, ge- 
setzt wird: 


X=1283 MO n,De 
oder in Rücksicht auf (1) 
x aP 
=. 
Auf dieselbe Weise ergiebt sich Y= — = Indiz 2. 


o ap 
Um zu beweisen, dafs — 5 das Drehungs-Moment der Wirkung von 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme. 69 


co auf s in Bezug auf die Axe B ist, welche Lage diese auch hat, ist es hin- 

reichend dies für die Fälle nachzuweisen, wo B mit einer der Coordinaten- 

axen parallelist. Ich werde, je nachdem B mit der x, y oder z Axe paral- 

lel ist den Buchstaben $ mit A, x oder v vertauschen, und $ nur für den all- 

gemeinen Fall beibehalten. Die Drehungs-Momente in Bezug auf die durch 

den Punkt A gehenden mit x, y oder z parallelen Axen seien Z, M, N. 
Es sei B parallel mit der zAxe, so ist 


N=Sj$(®—a)Y,— (y—b)X,t Ds 
und hierin die Werthe für Y, und X, aus (3) gesetzt: 


N=— +s27l@- — DENE DeDr 


a 
dy 


+1 83ijeos(Ds.Dr)[(@— a) - (79%; }DsDr 


Man erhält aber, wenn man partiell nach Ds innerhalb eines einfachen ge- 


schlossenen Umgangs integrirt 


sz{@- a) = —(y— DENE DeDr 


worin, weil s, und s, zusammenfallen, der von S freie Theil verschwindet. 


Demnach wird 


N= +82j1{E& — 2 #1 DsDr (4) 


r ds ds ds ds 


+-S%ij cos (Ds. Dr) C _ Se — (y—b) “.}DsDr. 
JE X 


Diese Gleichung ist identisch mit 


N=+#82j“ =D) DDr. 


2 


Dies ergiebt sich aus folgender Betrachtung. 


0 Neumann über ein allgemeines Princip 


Man hat 
a da“ dty data 
vw dadaav ydb“ dd 


und, weil 
dE dx dy dy dd di 
os(Ds.D —_ 7 —— —— 
8 s( ® °) ds ds ds ds ds ds’ 
so ist: 


d. dE d. dx dr d.dy de d. dz 
@ eos (Ds.Dr) ren RE 
dv cos ( . °) ds ds dv ds ds dv ds ds dv 


und hieraus, da 


ergiebt sich: 


so dafs also 


d. ..cos (Ds. 
EIS: rer rd 
dv 53 7 r 


DI) De 2 E1DsDr 


las das ds bs 

1 
dz 
dx 


+ SYij cos (Ds. Dr) [e- — (y—b) \DsDr 


wodurch die Gleichung (5) erwiesen ist, für welche man auch schreiben kann 


ap 
N=--,- 


Giebt man der Axe B die Richtung von y oder x so erhält man auf 
dem entsprechenden Wege 


Bildet die Axe B mit x, y, z die Winkel Z, m, n so ist, wenn das 
Drehungs-Moment in Bezug auf dieselbe jetzt mit AR bezeichnet wird, nach 
einem bekannten Satze 


R= Lcos!+ Mcosm-+N cosn. 


der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Siröme. 71 


Nennt man 0X, du, do die drei Drehungen um die durch den Punkt 
A gelegten x, y, z Axen welche die Drehung 0 um die Axe B ersetzen, 


so dafs 
gaA=dbcosl du=ddcosm Ww=dhcosn 


und setzt hieraus die Werthe von cos/, cosm, cosn, so wie die vorher gefun- 
denen Werthe für Z, M, N in den vorstehenden Ausdruck für A, so erhält 


man 


nn _ fra, au apa 
ar ap " dudp " dv dp 
des 
aP 
R=——. 
dp 


Ich benutze diese Gelegenheit um einige Sinn entstellende Druckfeh- 
ler in meiner früheren Abhandlung: die mathematischen Gesetze der inducir- 
ten Ströme etc. 1845 anzugeben. 

Die Formel (4) pag. 65 mufs heifsen: 


Ss Wr 
et Leej (== +D,y-+ ==] ar 38[ > + DD, + = 
r r 
S, w, 


wo die Klammer [ ] immer die Differenz der Werthe bezeichnet, welche die 
eingeschlossene Gröfse an den Stellen besitzt, welche durch die der Klam- 
mer beigefügten Indices bezeichnet sind. 


Die Formel (5) pag. 65 mufs heifsen: 


ww 
5 DED.: D,D D2Dz 
J=— _ ej2s[ == IF] 
w, 
und (6) p. 67: 
Sr 
. DEdx + Dydy + D£d: 
Pk | Sc UV e) 
1 1.uj3 [pers nun mal 


$, 


n 
ner 
W 
x 
au 
: 
m 


£ 


3b aulalarr. , 


u 


- W 


as 


t 


ar ar so = BER SEN aim: RR gan 


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oa Ant oc 


N ii tar 
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‚Bar fand 
aaa allten OU 
£ 
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ur Sr 
BP 


NS ir 1 


2 ” 
Ne TI 


| en Sl 


Zur Abhandlung des Hrn. Neumann 


uber ein allg: Frincip der math: Theorie inducırt: elektr.Ströme. Phys. 


Abhdl:von 1817. 


“ 
“ 
tn u 


Die Vegetationsorgane der Palmen, 


eine vergleichend - anatomisch- physiologische Untersuchung 


g 


von 


H”- HERMANN KARSTEN. 


annannnnnaN vn 


[Gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 1. März 1847.] 


Die Keimung. 


D as unbefruchtete Eichen aller Palmen, die ich zu untersuchen Gelegen- 
heit hatte (verschiedene Arten der Gattungen Chamaedorea, Oenocarpus, 
Iriariea, Geonoma, Bactris, Guilielma, Cocos, Klopstockia und Martinezia) 
enthält, in dem von einer einfachen Hülle umgebenen Kern, einen Keimsack, 
der zur Zeit der Befruchtung den gröfsten Theil des Kernes einnimmt und 
mit einer Flüssigkeit angefüllt ist. An den Wandungen dieses Keimsackes 
beginnt die Bildung von Zellen, wodurch die Höhlung mit einem Gewebe 
ausgekleidet wird, das durch fortdauernde Vermehrung diese immer mehr 
einengt, bei den meisten Arten sie endlich ganz ausfüllt. Zu der Zeit des 
Eintretens des Pollenschlauches in dies Gewebe ist die Haut des Keimsackes 
nicht mehr deutlich zu erkennen, sie liegt zwischen dem Gewebe des Kernes 
und dem jetzt neu entstandenen Gewebe des sich bildenden Eiweifses. Die 
Vermehrung dieses letztern geschieht durch das wiederholte Entstehen von 
Zwillingszellen im Innern der Zellenhöhle. Sehr deutlich sah ich dies bei 
einer Frucht der Iriartea praemorsa Kl. in der das Wachsthum der Gewebe 
verlangsamt zu sein schien. Auf der ersten Tafel habe ich dies Gewebe (1.d') 
gezeichnet, es hält hier mit der fortdauernden Bildung von Zellen das Wachs- 
thum der schon gebildeten nicht gleichen Schritt, man sieht aus diesem 
Grunde, und weil die in den Zellen abgesonderte Flüssigkeit durchsichtiger 
ist wie gewöhnlich bei den sogenannten Zellkernen, mehrere Generationen 


5 
von Zellen zu zweien in einander eingeschachtelt. 


Phys. Kl. 1847. K 


74 H. Karsten: 


Der Pollenschlauch, der bei den Palmen die an beiden Seiten mit 
Zellgewebe belegte Haut des Keimsackes durchwachsen mufs, um in das In- 
nere desselben zu gelangen, vergröfsert sich sehr langsam durch Vermehrung 
der in seiner Spitze gebildeten Zellen, umgeben von dem mit einer hellen 
Flüssigkeit angefüllten Gewebe des Eiweilses(!). Man erkennt noch lange 
das hintere in dem Gewebe des Kernes liegende Ende des Pollenschlauches, 
das allem Anscheine nach sich unmittelbar in das keulenförmig angeschwol- 
lene Ende, die Anlage des Keimlings, verlängert. Bei der Taf.I. Fig.1. ge- 
zeichneten Frucht vermehrt sich das Gewebe des Keimlings nicht so gleich- 
förmig wie das mehr lockere, der Keimsackflüssigkeit zugänglichere, von die- 
ser vielleicht gleichförmiger durchtränkte Gewebe des Eiweifses; es enthal- 


(') Schon bevor ich diese Untersuchung begann, glaubte ich mich durch Beobachtun- 
gen der Veränderungen des Pollenschlauches von Pflanzen aus den verschiedensten Fami- 
lien, z. B. an der Monoclea Forsteri Hook., Langsdorffia Moritziana Kl. et Kart., An- 
thurium tovarense Kl. et Kart., Mangifera indica L., Zamia muricata W illd. etc. über- 
zeugt zu haben, dals der Keimling, wie Schleiden es zuerst angab, unmittelbar aus dem 
in demselben entstehenden Zellgewebe sich hervorbilde. Vergebens verwendete ich viele 
Zeit darauf, auch von den Palmen die noihwendige Reihe der Entwickelungsstufen der 
ersten Anlage des Keimlings zu erhalten, da die Verhältnisse für diese Beobachtung hier 
besonders ungünstig sind; es kam mir indels bei diesen Untersuchungen nichts vor, das 
eine andere Auffassungsweise dieser Erscheinungen nothwendig gemacht hätte. 

Erst nach Beendigung dieser Arbeit zeigte mir mein Freund Klotsch seine 
Zeichnungen über die Befruchtung der Orchideen, die allerdings zu Gunsten der von 
Brongniart, Amici, Robert Brown u.A.m. vor Schleiden ausgesprochenen An- 
sicht entscheiden, wie es auch bald darauf von Amici und Mohl in der botanischen Zei- 
tung gleichfalls dargelegt wurde. Die Beobachtungen dieser verschiedenen Forscher würden 
mich für die Palmen über die Entstehung des Keimlings zweifelhaft machen können, wenn 
ich nicht bei Pflanzen anderer Familien mich von der Richtigkeit der Schleiden’schen 
Beobachtungen überzeugt hätte. ä 

Soviel ist durch alle diese Beobachtungen gewils, dafs nur in Folge der Wechsel- 
wirkung der Pollen- und Keimsack-Zelle sich die Anlage des Keimlings bilden kann. Auf 
meine eigenen Beobachtungen und auf die Gründlichkeit der genannten Anatomen vertrau- 
end, scheint es mir, dals Meyen den richtigen Punkt getroffen hat, indem er an die Ähn- 
lichkeit der Copulation der Gonferven mit dem Vorgange der Befruchtung der vollkomm- 
neren Gewächse erinnert und dafs seine Beobachtungen von wirklicher Verwachsung der Pol- 
len- und Keimsack-Zelle und Vereinigung ihrer Höhlungen den Mittelpunkt aller verschie- 
denen Erscheinungen bilden, von dem abweichend, bei nicht erfolgender so vollständiger 
Vereinigung, einerseits in der Pollenzelle, anderseits in dem Keimsacke, je nach der che- 
mischen Beschaffenheit ihres Inhaltes, die Anlage der jungen Pflanze erzeugt wird; was denn 
für jede einzelne Art oder Gattung oder Familie durch die Beobachtung festzustellen wäre. — 


die V egetationsorgane der Palmen. 75 


ten hier einzelne Zellen eine einfache Tochterzelle, Zellkern, in der ein oder 
mehrere Bläschen sich befinden, während andere danebenliegende zwei, vier 
und wie es scheint auch drei Tochterzellen bergen, die mit einer körnigen, 
Bläschen enthaltenden Flüssigkeit gefüllt sind. Fig. 1 /’ stellt dies Zellge- 
webe der Anlage des Keimlings der Iriartea praemorsa in 250 facher Ver- 
gröfserung dar. 

Die stärkste Zellenvermehrung dauert an der Spitze dieses Körpers 
fort, wobei es dort, wo ein grundständiger Keimling vorkommt, wie bei 
Oenocarpus, Iriartea, Klopstockia, Cocos etc. Regel zu sein scheint, dafs die- 
jenige Seite der Spitze, die der Blumenaxe zugewendet ist, vor der nach 
aufsen gewendeten bevorzugt ist, durch welche einseitige Bildung ein allmäh- 
liges Überwachsen derselben über die nach dem Umkreise Eertiete Seite 
hervorgebracht wird; der auf diese Weise überwachsene, dann sehr in der 
Entwickelung zurückbleibende Theil der Anlage des Keimlings besteht aus 
einem kleinzelligen Gewebe, dessen sehr zarte und durchsichtige Häute eine 
gelblich gefärbte trübe Flüssigkeit einschliefsen, während der stärker sich 
ausdehnende Theil sich in ein Parenchym mit festeren Häuten umändert und 
nur an der Oberfläche, besonders an der Spitze in der Zellenvermehrung 
verharrt. Es stellt dieser so durch stärkere Entwickelung der Axenseite der 
Keimenlage gebildete Theil das erste blattartige Organ der jungen Pflanze 
dar, dessen Entstehen und dessen Ausbildung jedoch nicht immer so deut- 
lich zu erkennen ist, wie ich es zuweilen sahe und Taf. 4. Fig. 2 f’ gezeich- 
net habe. Zu dieser Zeit enthielt der halbausgewachsene Keimling durchaus 
keine Spiralfasern oder sonstige Andeutungen des Holzgewebes, doch war 
die Grundlage desselben, eine cambiale Schicht, die von der Gegend des 
ersten Erscheinens des Saamenlappens d. h. von seiner jetzigen Basis, bis in 
die Spitze desselben, ein mittleres Parenchym von einer geringen Rinden- 
schicht trennte, vorhanden. (In Taf. I. Fig.3f’. y. dieselbe Schicht, doch 
schon mit Spiralfasern). In diesem Zustande ist der Keimling rings von Ei- 
weils umgeben, von dem Rest des Pollenschlauches ist nichts mehr zu ent- 
decken. Die Eihaut, aus verdickten gestreckten Zellen bestehend, ist über 
ihm zusammengewachsen, an der Stelle des Eimundes, nur eine sehr kleine 
Öffnung in der Gegend des künftigen Würzelchen lassend, wie bei der Cha- 
maedorea: oder hier in dem Umkreise derselben abgesondert von den übri- 
gen Zellen verholzend und so eine kleine Scheibe bildend, die von dem spä- 


K2 


76 H. Kansten: 


ter beim Keimen hervordringenden Würzelchen als Deckelchen abgestofsen 
wird, wie bei der Bactris, ähnlich dem bei einigen Aroideen und Seitamineen 
schon von Gärtner beschriebenen Vorgange. Die Höhlung des Keimsackes 
ist zu dieser Zeit bei der Iriartea, wie bei allen übrigen untersuchten Gat- 
tungen mit Ausnahme von Cocos, gänzlich durch Gewebe ausgefüllt, das dem 
Keimling zunächst angrenzende besteht aus Zellen mit durchsichtigen Häuten, 
die einen klaren, flüssigen Inhalt mit kleinen, sehr scharf begrenzten, undurch- 
sichtigen Kernen einschliefsen Taf. I. Fig.2. d‘. Durch wässerige Jodlösung 
wie durch Eisenchloridlösung wird die Flüssigkeit feinkörnig und dunkler 
gefärbt. Etwas weiter von dieser Stelle entfernt finden sich sehr durchsich- 
tige Bläschen innerhalb sehr zarter Tochterzellen, in der etwas vergröfserten 
Mutterzelle, welche Bläschen fast nur nach Hinzufügung von Jod- und Eisen- 
chloridlösung deutlich hervortreten, indem sie durch ersteres gelb, durch 
letzteres grünlich-schwarz gefärbt worden, ihr Inhalt also wahrscheinlich eine 
gerbsäurehaltige Flüssigkeit ist. An diese Zellen grenzen andere von drei- 
bis vierfacher Gröfse deren Wandungen punctirt verdickt sind; zum Theil 
sind die sogenannten Porenkanäle durch dieselben Mittel noch dunkel zu fär- 
ben, durch die jene, in der Tochterzelle enthaltenen Bläschen gefärbt wer- 
den; es sind darnach auch hier wahrscheinlieh diese Bläschen die Ursache 
einer theilweisen Verdickung der Zellhaut, der sie ankleben. Diese Häute, 
die im reifen, trocknen Saamen sehr hart werden und dem Gewebe des Ei- 
weifes die Eigenschaften des „hornigen” ertheilen, werden weder durch Jod- 
noeh durch Eisen-Lösungen, noch durch verdünnte Schwefelsäure gefärbt, 
noch ruft Jod nach Einwirkung der Schwefelsäure die blaue Farbe hervor. — 

Auf der dem Saamenlappen entgegengesetzten Seite des Keimlings in 
seinem unteren dem Eimunde zugewendeten Ende, findet gleichfalls eine 
Sonderung der Gewebe statt; doch hier nicht bei gleichzeitig vorherrschendem 
Wachsthum einer Stelle der Oberfläche unterhalb der Spitze, sondern allein 
durch Umbildung des mittleren Cambium’s und der oberflächlichen Schicht 
desselben in Parenchym, wodurch in diesem Gewebe von dem Cambium nur 
ein diese beiden Schichten trennender Kegelmantel übrig bleibt. Auf diese 
Weise ist die Anlage zur ersten Wurzel gegeben, die durch Neubildung von 
Zellen in der Spitze des cambialen Kegelmantels vergröfsert wird. Vor die- 
ser Spitze findet sich in dem reifen Saamen eine Zellengruppe, die durch 
Form und Inhalt an ein Gewebe erinnert, das sich an der Rindenseite des 


die Vegetationsorgane der Palmen. 77 


Holzeylinders in dem Stamme der Monoecotylen dort bildet, wo die Anlage 
einer Wurzel entsteht. Diese Schicht überdeckt wie ein Schirm die Spitze 
des Cambium Kegels der noch in dem Eiweifs (Chamaedorea) oder wenig- 
stens innerhalb der Saamenschale enthaltenen Wurzelanlage, sie besteht aus 
weiten Zellen, die in einer hellen Flüssigkeit, die durch Jod gelb gefärbt 
wird, einen scharf begrenzten Zellkern enthalten; fast immer ist sie noch 
von einer geringen Zellenschicht, die als Fortsetzung des Saamenlappen be- 
trachtet werden kann, bedeckt und dadurch don dem Eiweifs und der Saa- 
menschale getrennt, welche Zellenschicht bei dem Keimen des Saamens 
durchbrochen wird, sich gleichzeitig mehr oder weniger ausdehnt und dann 
die Wurzel als Scheide (coleorhiza) umgiebt. Nur drei Palmen sind mir 
bisher bekannt geworden, bei denen sich dies Verhältnifs nicht findet, wo 
diese zur Wurzel gehörende Zellengruppe unmittelbar die Oberfläche des 
Keimlings bildet und sich seitwärts in das Gewebe des Saamenlappens fort- 
setzt, so dafs bei der Keimung dies nicht durchwachsen wird und keine Wur- 
zelscheide entsteht, es sind dies die Gattungen Sabal, Phoenix und Hyphaene, 
ausgezeichnet durch die bedeutende, Verlängerung des Saamenlappenstieles 
während der Keimung; doch werden sich bei einer genaueren Beachtung 
dieses Gegenstandes gewifs noch mehrere hierin diesen dreien ähnliche Pal- 
men finden (!). Wir werden später, bei der Betrachtung der ausgewachse- 
nen Wurzel, Thatsachen kennen lernen, die es wahrscheinlich machen, dafs 
dasjenige Gewebe derselben, dem ich diese äufserste Zellengruppe des Wür- 
zelchen vergleiche, dazu diene, die Aufnahme der Nahrungsstoffe aus der 
unorganischen Natur zu vermitteln; bei der Keimung des Saamens hat wohl 
diese eben betrachtete Zellengruppe eine ähnliche Bedeutung für die Ernä- 
herung des Keimlings, höchst wahrscheinlich wird durch die eigenthümliche 
Thätigkeit dieser Zellen die Verflüssigung und Aufsaugung der vor dem 
Würzelchen befindlichen Gewebe möglich gemacht, so wie die innerhalb der 
Rinde entstehenden Wurzeln ähnlich auf das Gewebe dieser wirken. (siehe 
Taf. IV. Fig. 6.7.8.). 

In dem reiferen Saamen der S. 73 genannten Palmen finden wir also 
einen Keimling, dessen Spitze überwachsen ist von einer seitlich sich von 


(‘) Kunth macht in seinem Lehrbuch der Botanik p.109 schon darauf aufmerksam, 
dals nicht allen Monocotylen die coleorrkiza zukommt. 


78 H. Karsten: 


seiner Oberfläche erhabenden Wulst, dem Saamenlappen, während das ent- 
gegengesetzte Ende sich in das Würzelchen verlängert; sowohl’in diesem 
Würzelchen, wie in dem Saamenlappen ist das parenchymatische Gewebe 
durch eine cambiale Zellenschicht in Mark und Rinde gesondert. In der 
Wurzel endet die Spitze dieser, einen Kegelmantel bildenden Cambiumschicht 
in ein grolszelliges Gewebe, das nur zum Theil zur Zellenvermehrung bei- 
trägt; in dem Saamenlappen fällt die Spitze dieses Cambium-Kegels mit der 
Spitze des Saamenlappens selbst zusammen. Von der ursprünglichen Spitze 
des Keimlings aus, an der sich inzwischen noch einigemal ähnliche Vorgänge 
wie die Bildung des Saamenlappens wiederholten, nehmen Spiralfasern ihren 
Anfang, die aus den Zellen der Cambium-Kegel sich bildend, in dem Um- 
kreise dieser zerstreut, sowohl in dem Würzelchen, wie in dem Saamenlap- 
pen einzeln stehen und die Grundlage von Holzbündeln geben, die sich spä- 
ter in diesen Organen finden. In dem Saamenlappen laufen diese Holzbün- 
del nicht immer parallel, sondern verzweigen sich häufig dort, wo der Um- 
fang desselben gröfser wird. Während der Keimung vergröfsert sich der 
Saamenlappen nun immer mehr durch Bildung neuer Zellen in seiner cam- 
bialen Spitze und durch Umformung derjenigen Zellen des Cambium -Ke- 
gels, die nicht den Holzbündeln sich anreihen, in grofszelliges Parenchym. 
Dies letztere enthält in einiger Entfernung von dem Orte seiner Bildung, in 
der Mitte des ganzen Organs, einen flüssigen klaren Inhalt, dessen Farbe 
durch Jod nicht verändert wird und einen deutlich sichtbaren Zellkern mit 
Kernkörperchen und die Zwischenzellräume sind mit Luft angefüllt, während 
in der Nähe des Cambiums die Parenchymzellen, sowohl Stärke enthalten, 
wie eine körnige Flüssigkeit, die sich durch Jod gelb färbt. Während die- 
ser bei der Keimung erfolgenden Vergröfserung des Saamenlappens werden 
die Zellen des Eiweilses gänzlich verändert. Statt der früher stark verdickten 
punctirten Wandungen, sieht man jetzt hier sehr helle, zarte Zellhäute die, 
während der Ausdehnung des Saamenlappens, der endlich ganz die Stelle des 
Eiweifses einnimmt, gleich den Epidermial- und Epithelial-Zellen des thieri- 
schen Organismus plattenartig zusammengeprefst und auch wohl zum Theil 
aufgelöst werden, wofür die geringe Anzahl dieser Zellenreste im Vergleich 
mit den früher im Eiweifs vorhandenen spricht. Der Zwischenraum zwischen 
den, noch in der eigenthümlichen Form bestehenden Eiweifszellen und dem 
immer mehr sich vergröfsernden Saamenlappen ist mit einer Schicht solcher 


die V egetationsorgane der Palmen. 79 


zusammengeprefsten, ihres Inhaltes und ihrer verdickten Membranen beraub- 
ten Zellen ausgekleidet. Die zunächst diese Schicht begrenzenden Zellen 
des Eiweiflses besitzen noch fast die frühere Form; doch sind sie weniger 
scharf eckig, wefshalb sie nicht mehr so eng aneinander liegen, sondern sich 
Zwischenzellräume gebildet haben, die mit Saft angefüllt sind. Die Zell- 
wand selbst hat an Dicke sehr abgenommen, je nach der Entfernung von dem 
Saamenlappen mehr oder weniger. Die Haut der Tochterzelle isı von der 
äufseren Zelle getrennt und hat sich zusammengezogen (Taf.I. Fig. 4. d'), 
hier ist diese letztere noch etwas verdickt, doch es sind keine Porenkanäle 
mehr zu erkennen; dieser Zustand, wie der der benachbarten Zellen, spricht 
dafür, dafs hier nicht nur die zweite (innere), sondern auch die erste (äufsere) 
Zellhaut verdickt ist, was auch mit den durch chemisch wirkenden Stoffe 
hervorgerufenen Erscheinungen übereinstimmt. Auch der sogenannte Zell- 
kern scheint während dieser Verflüssigung des Zelleninhaltes und der Wan- 
dung thätig zu sein, vielleicht zu dieser Stoffumwandlung durch sein Wachs- 
thum mit beizutragen, es vergröfsert sich diese dritte Zelle jetzt etwas und 
füllt sich überdies mit einer trüben, feinkörnigen Flüssigkeit, die durch Jod 
eine ähnliche dunkelgelbe Farbe annimmt, wie es bei fetten Ölen und Har- 
zen der Fall ist. 

In dem Saamenlappen der Alopstockia sind die Zellen zu dem „lungen- 
förmig” genannten Gewebe geordnet, nur die Oberhaut bildet eine zusam- 
menhängende Schicht und grenzt an die entleerten, plattenförmig -zusammen- 
gedrückten Zellen des Eiweiflses, auf welche die noch unveränderten, strah- 
lich nach dem Mittelpunkte des Saamens gerichteten Eiweifszellen senkrecht 
stehen. Aus dem Verflüssigungsprodukte dieses hornigen Gewebes bildet sich 
also das lungenförmige Parenchym des Saamenlappens durch Vermittlung der 
Epidermialschicht desselben, in deren Zellen eine schleimig-gummiartige 
Flüssigkeit enthalten zu sein scheint, sie wird durch Jod gelb, durch Ammo- 
niak grün gefärbt, ähnlich wie die später zu beschreibenden Zellen der Wur- 
zelmütze; sie enthalten ferner Öl- und Stärke-Bläschen. Der flüssige Inhalt 
der Zellen des lungenförmigen Parenchyms wird durch die angegebenen Re- 
agentien nicht gefärbt. In dem Saamenlappen der Phoenix finden sich gleich- 
falls grolse Zwischenzellräume, doch hier in Form von Kanälen; später, nach- 
dem die Zellen selbst von Flüssigkeit entleert sind und Kohlensäure enthal- 


so H. Karsten: 


ten, findet sich in diesen Zwischzellräumen eine Luftart, die durch Ammo- 
niak- und Baryt-Lösung nicht aufgesogen wird. — 

Bei der Keimung des Saamens verlängert sich nun das untere dem 
Saamenmunde zugewandte Ende des Keimlings, in welchem das Keimknösp- 
chen und die Anlage zum Würzelchen sich beflndet, wodurch beide aus der 
Saamenschale hervorgedrängt werden, und ein längerer oder kürzerer Stiel 
gebildet wird (der z.B. bei der Hyphaene Petersiana Kl. eine Länge von 
einem Fufs und darüber erreicht), aus dessen Spitze die erste Wurzel 
(Pfahlwurzel der Dicotylen) hervorbricht bei der Iriartea, Oenocarpus, Ge- 
onoma, Bactris, Chamaedorea, Cocos, Martinezia oder sich unmittelbar in 
diese verlängert, wie es bei der Sabal, Hyphaene und Phoenix(!) beobachtet 
wurde: während aus der seitlichen Öffnung dieses Stieles, dem eigentlichen 
Grunde des Saamenlappens, das sich entfaltende Keimknöspchen hervorwächt. 

Schon vor der Keimung zeichnet sich in dem Grunde der Keimknospe, 
ähnlich wie nach den beiden Enden des Keimlings hin, in der Mitte des Wür- 
zelchens und des Saamenlappens ein parenchymatisches Zellgewebe aus, das 
von dem Cambium-Kegel beginnend, die Mitte desselben einnimmt. In die- 
sem Gewebe verharren nun einzelne Reihen des Cambium in diesem Zustande, 
wodurch die cambiale Schicht der Keimknospe und die unterdefs entstande- 
nen jungen Blattenlage mit jenem Cambium-Kegel in Verbindung gesetzt 
werden. Während der Keimung beginnt nun gleichfalls in diesen Cambium- 
Bündeln, ebenso wie früher in den Cambium-Kegeln des Würzelchens und 
Saamenlappens, von dem Knospengrunde aus, die Bildung von Spiralfasern, 
die sich nach der Spitze der Keimknospe hin in die Blattanlagen hineinver- 
längern mit denen die Cambiumbündel in Verbindung stehen. Nach dem, 
durch die Verlängerung des Saamenlappenstiels bewirkten Austritt des Keim- 
knöspchen aus der Saamenschaale wird die Bildung dieser Spiralfasern be- 
deutend beschleunigt. Auch der Rand des Saamenlappens, der die hervor- 
tretende Keimknospe umgiebt, verlängert sich nach dem Hervorbrechen aus 
der Saamenschaale; in ihm enden zum Theil die Spiralfasern, die in dem 


(') Das Wachsthum des durch eine kleine Gruppe von Cambium-Zellen angelegten 
Würzelchens beginnt hier erst, nachdem der Saamenlappen sich schon um mehrere Zolle 
verlängert hat und die Ausbildung des von dem Saamenlappen umhüllten Keimknöspchens 
bedeutend vorgeschritten ist. — 


die Vegetationsorgane der Palmen. 51 


stets sich vergröfsernden Saamenlappen, wie früher beschrieben, sich ver- 
breiten. 

Alle Holzbündel der ersten Blätter nehmen von diesem Knospengrunde 
ihren Anfang, während aus der Spitze des von ihm sich erhebenden Kegel- 
mantels von Cambium-Gewebe die Anlagen neuer Blätter gebildet werden. 
Bei den verschiedenen Arten ist es verschieden, wie lange die Blattbildung 
der jungen Pflanze in der Nähe des Knospengrundes ohne Verlängerung der 
Zwischenknoten fortbesteht, bei der Iriartea tritt diese bald ein, wodurch 
die Blätter von einander entfernt werden und die Stammbildung eingeleitet 
ist: bei allen übrigen Palmen, die ich in der Entwickelung beobachtete, dau- 
ert die Bildung neuer Blätter ohne Ausdehnung der Zwischenknoten sehr 
lange fort, die Stammbildung ist natürlich auch hier eingeleitet, doch durch 
die Kürze der Zwischenknoten derselbe von so unbedeutender Länge, dafs 
er sich nicht über die Erdoberfläche erhebt. Es nimmt indessen mit jedem 
neuen Blatte sein Durchmesser zu, wodurch er bei diesen Pflanzen anfangs 
die Form eines umgekehrten Kegels annimmt, die erst dann in die Cylinder- 
form übergeht, wenn er den dem Stamme eigenthümlichen Durchmesser er- 
halten hat, während bei der Iriartea jeder Zwischenknoten einen fast eylin- 
drischen sehr langen umgekehrten Kegel bildet, wodurch schon die jungen 
Pflänzchen einen Stamm erhalten, der natürlich auch hier mit jedem spätern 
Knoten an Dicke zunimmt. Dieser Zunahme des Durchmessers des jungen 
Stammes der Iriartea entspricht eine aus den Knoten stattfindende Wur- 
zelbildung. Mit jedem Auftreten einer neuen Wurzel nimmt auch der ober- 
halb derselben befindliche Stammtheil zu, so erscheint der untere Theil des- 
selben bei der Iriartea fast als Cylinder, während er bei den übrigen genann- 
ten Palmen fast scheibenartig oder als schr stumpfer Kegel auftritt. Bei letz- 
tern entstehen die meistens nicht sehr dicken Wurzeln (1”” bis 3” Durchmes- 
ser haltend) unterhalb der Bodenoberfläche, bei der Iriartea dagegen nehmen 
schon die ersten, aus dem Stamme entstehenden Wurzeln in einiger Höhe 
oberhalb der Erde ihren Anfang und wachsen in schräger Richtung in den 
Boden, wodurch die von den verschiedenen Seiten gebildeten, wie die Stüt- 
zen des senkrechten Stammes erscheinen. Bei den verschiedenen Arten der 
Iriartea ist in der Stammhöhe eine Grenze, oberhalb welcher nur ausnahnıs- 
weise noch Wurzeln gebildet werden; aus dieser Gegend entstehen dann in 


der Regel alle nach den verschiedenen Seiten gerichteten Wurzeln des er- 


Phys. Kl. 1847. P 


52 H. Karsıer: 


wachsenen Stammes. Bei der Iriartea praemorsa Kl., deren Stamm einen 
Durchmesser von 3 Zollen besitzt, befindet sich diese Ursprungsstelle der 
0.5 bis 1/0 dicken Wurzeln gegen 3 Fufs von dem Boden; bei der Jriartea 
excelsa dagegen, die ich auf den Bergen, die das Thal von Valenzia von der 
Küste trennen, fand, deren Stamm bei einer Höhe von 80’ fast einen Fufs im 
Durchmesser besitzt: nehmen die 2-3” dicken Wurzeln in einer Höhe von 
6-10 Fufs von dem Boden ihren Anfang und tragen so auf ihrer Spitze, den 
die übrigen Bäume des Gebirgskammes oft weit überragenden, der Gewalt 
der stärksten Winde trozenden Stamm (!). 

Eine sehr merkwürdige Erscheinung in dem Wachsthume der jungen 
Palmen bietet die Klopstockia dar, indem hier, durch einseitige stärkere Ver- 
mehrung des Gewebes der Zwischenknoten und Blattstiele, die Gipfelknospe 
des Stammes nicht aufwärts, sondern abwärts gerichtet ist; sie steht immer 
an einer Seite des Endes des nach unten wachsenden Stammes, an dessen 
entgegengesetzter Oberfläche die Wurzeln hervorkommen. Da die Blätter 
nun, trotz dieser Wendung des Stammes nach unten, aufwärts gerichtet sind, 
so krümmen sich alle, bald nach ihrer Trennung vom Stamme, in dieser Rich- 
tung und die abwäts sich ausdehnende Knospe durchbricht die eine Seite al- 
ler Blattstielbasen. Vergebens bemühte ich mich bisher irgend ein abweichen- 
des Verhältnifs in dem Baue der Gewebe aufzufinden, das als Fingerzeig für 
den Grund dieser merkwürdigen Erscheinung hätte dienen können; es wird 
wohl der Zeit aufbehalten sein hierüber Vermuthungen aufzustellen, der eine 
gründlichere Bekanntschaft mit den chemisch verschiedenen Stoffen des Pflan- 
zenkörpers zu Gebote steht, wie sie uns überliefert ist und diese wird erst 
dann zu hoffen sein, wenn eine richtigere Ansicht über die Assimilations - 
und Wachsthumserscheinungen der einzelnen Zellen und der einfachen Ge- 
webe verbreitet ist wie sie jetzt noch sich geltend macht. — Ganz denselben 
Vorgang wie bei der Klopstockia beobachtete ich bei der Sabal minor und 


5 
von der Sabal mexicana hat Martius schon in seinem schönem Werke 


(') Man erkennt hieraus das Irrthümliche der Ansicht derjenigen, die da glaubten, 
diese Ursprungsstelle der Wurzeln der erwachsenen Palmen sei anfangs die auf dem Bo- 
den ruhende Stammbasis und durch später erfolgte Ausdehnung dieser Wurzeln in die 
Höhe gehoben. Diese Beobachter übersahen die von dem dicken Stamme nach unten ge- 
hende dünnere Verlängerung desselben, die mit ihren kleineren Wurzeln meistens auch 
bei ausgewachsenen Palmen noch sich vorfindet. 


die V egetationsorgane der Palmen. 83 


über die Palmen diese auffallende Bildung beschrieben und durch ausgezeich- 
nete Abbildungen Taf. 5 Fig. 1-7 veranschaulicht. — 


Bau des Palmenstammes. 


Die ersten Untersuchungen über den Bau des Palmenstammes von 
Daubenton 1791 waren es, die lange Zeit sowohl über die Wachsthums- 
weise dieser Pflanzenfamilie eine irrige Ansicht verbreiteten, wie auch die 
späteren Beobachter der verwandten Familien verleiteten dort ähnliches zu 
sehen. Desfontaines wie Decandolle wurden durch diesen Irrthum und 
die darauf gestützte entsprechende Theorie über das Wachsthum der Mono- 
cotylen Pflanzen zu einer Eintheiluug des Gewächsreiches veranlafst, die erst 
durch Mohls berühmtes Werk: „de palmarum structura 1830” als unhalt- 
bar nachgewiesen wurde. Mohl zeigte in diesem zuerst, durch umfassende 
und genaue Untersuchungen des Palmenstammes, dafs die von Doubenton 
und Desfontaines geltend gemachte Ansicht, die Holzbündel des Stammes 
der Palmen und derübrigen Monoecotylen entständen im Mittelpunkt des Mar- 
kesund verliefen von dort nach oben und aufsen in die Blätter, in der Natur 
nicht begründet sei; er zeigte, dafs vielmehr die Holzbündel, wenn man sie 
von den Blättern aus in das Mark verfolgt habe, von dort wiederum abwärts 
verlaufend sich nach dem Umkreise des Blattes wendeten und unterhalb der 
Rinde sich ihr Ende befinde. Da ihm nur trockene Abschnitte von älteren 
Stämmen und ganz junge lebende Exemplare zur Untersuchung zu Gebote 
standen, gerieth er in den Irrthum, dafs das untere Ende der Holzbündel 
bei den erwachsenen Pflanzen ebenso abwärts bis in die Basis des Stammes 
sich verlängere, wie er es bei den jungen Pflänzchen gefunden hatte. Den 
beiden fleifsigen Forschern Meneghini und Mirbel war es vorbehalten das 
richtige Verhältnifs zu erkennen. Meneghini, der gründlichste Untersu- 
cher des Stammes der Monocotylen, gab zuerst in seiner gehaltvollen Schrift 
(Ricerche sulla structtura del caule nelle piante monocotiledoni. Padova 1836) 
ein klares und richtiges Bild über den Verlauf der im Mark befindlichen Holz- 
bündel, die auch er zur Oberfläche des Stammes verfolgte und unter der 
Rinde enden sieht, wo sie oft bei den Monocotylen netzartig anastomosiren, 
was er auch bei den Palmen zu finden glaubte. 

Wenn auch seine Angaben über die Entwickelung des Blattes und seine 
Theorie über die Bildung der Holzbündel nicht mit der Natur übereinstim- 

L2 


84 H. Karsten: 


men, so ist doch das, was er in dieser Arbeit, wie in einer neueren: „intorno 
alla struttura del tronco delle Monocotiledoni” über den scheinbar unregel- 
mäfsigen Verlauf der Holzbündel sagt das Beste, was wir über diesen Ge- 
genstand jetzt besitzen. 

Mirbel in seiner Untersuchung über die Dattelpalme (comptes rendus 
1843) stellte Betrachtungen über die eylindrische Form des Palmenstammes 
an, die wohl nicht dafür spräche, dafs alle in den oberen Blättern und in dem 
benachbarten Stammtheile befindlichen Holzbündel in die Basis des Stam- 
mes sich verlängerten, da dieser dadurch eine Kegelform annehmen müsse, 
was nicht der Fall sei. Durch Zählung und Berechnung der Menge von 
Holzbündeln in allen Blättern einer Palme, wie in dem unteren Stammende, 
suchte er seine Meinung zu bekräftigen. Wenn nun auch Mohl (Vermischte 
Schriften 1846) gegen diese Gründe Mirbels einwendet, dafs, wie er schon 
früher gefunden, das untere Ende der Holzbündel sich bedeutend verdünne, 
daher nicht eine so grofse Verdickung des Stammes veranlassen könne: so 
giebt er doch die Richtigkeit der von Mirbel aufgestellten Behauptung zu, 
indem er zugleich das anatomische Verhältnifs, das uns abhalten mufs, an 
eine Verlängerung des Holzbündels aus den oberen Theilen des Stammes in 
die Basis desselben zu glauben, aufdeckt. Es ist dies der Umstand, dafs man 
bei der Untersuchung alter Stämme unterhalb der Rinde nur alte verholzte 
Gewebe, keine cambiale Holzbündel findet, wie es doch stattfinden mülste, 
wenn hier die Bildung neuer Theile fortdaure. 

Bevor ich näher angebe, wie ich die Entwickelung und den Bau des 
Stammes gefunden habe, sei es mir erlaubt, noch einmal das Ergebnifs der 
wmitgetheilten Beobachtungen des Keimens mit wenigen Worten zu wieder- 
holen. Den ersten Anfang eines Gegensatzes von Stamm und Blatt finden 
wir zu der Zeit, wenn von dem cambialen Gewebe des noch ungetheilten 
Keimlings an dem vorderen Ende sich seitlich, etwas unterhalb der Spitze, 
eine Schicht wulstig erhebt, indem die Spitze weniger rasch sich vergröfsert 
und zwischen jenem Wulst und dem Körper des Keimlings das Cambium in 
Parenchym umgeändert wird. Die so getrennte äufsere Schicht vergröfsert 
sich durch innere Zellenbildung an seinem Umfange zum Cambium-Kegel, 
überwächst die ursprüngliche Spitze der Keimknospe, während sich in sei- 
nem Kern jenes Parenchym bildet, das sich aus den innern Schichten des 
Cambiums vermehrt. Diese seitliche Erhebung und deren Überwachsung 


die V egetationsorgane der Palmen. 85 


über die Spitze des Keimlings ist das erste Blatt, der Saamenlappen. Ein 
ähnlicher Vorgang hat inzwischen an einer andern Stelle des Umfangs eben 
dieser gleichfalls durch innere Zellenbildung sich vergröfsernden Schicht des 
Keimlings begonnen, wodurch die Anlage zum zweiten Blatte gegeben ist, 
dem bald das dritte und vierte folgt. An der dieser Spitze entgegengesetz- 
ten Seite des Keimlings in seinem untern dem Eimunde zugewendeten Ende 
findet gleichfalls eine Sonderung der Gewebe statt; doch hier nicht bei gleich- 
zeitig vorherrschendem Wachsthume einer Stelle der Oberfläche unterhalb der 
Spitze des Keimlings, sondern allein durch Umbildung des mittleren und der 
oberflächlichen Schicht des Cambiums in Parenchym, wodurch in diesem Ge- 
webe von dem Cambium nur ein diese beiden Schichten trennender Kegel- 
mantel übrig bleibt. Auf diese Weise ist die Anlage zur ersten Wurzel ge- 
geben, die durch Neubildung von Zellen in der Spitze des cambialen Kegel- 
mantels innerhalb einer Parenchymschicht vergröfsert wird. 

In dem eigentlichen, mittleren Körper des Keimlings, dessen Oberfläche 
mit Blattanlagen bedeckt ist, tritt ebenso eine Umbildung des Cambiums, in Pa- 
renchymzellen ein, wodurch die Basis von der weiter fortwachsenden Spitze 
getrennt wird. Hierdurch wird auch in der Keimknospe ein cambialer Ke- 
gelmantel gebildet der ein Parenchym umgiebt in welchem einzelne Cambium 
Bündel von dem Knospengrunde nach den an der Spitze desselben befindlichen 
Blattanlagen verlaufen, die Anfänge der später vorhandenen Holzbündel: wäh- 
rend auch an der Oberfläche des Cylindermantels die fernere Ausbildung der 
Blätter und die Umbildung des Cambiums in Parenchym eintritt. Das Letz- 
tere giebt, dem Cambiumeylinder zunächst, die Rinde, durch ihn, der sich 
später in einen Holzeylinder umändert, von dem mittleren Markparenchym 
getrennt. Mitder vorschreitenden Entwickelung des Blatteshältauch die Bildung 
von Parenchym an der innern Seite des Cambium-Kegels gleichen Schritt, wo- 
durch sowohl die eigenthümliche Spitze der Keimknospe wie die jungen Blatt- 
anlagen von dem Knospengrunde getrennt werden. Bald schreitet dann auch 
diese Sonderung des Cambiums in Gewebe bis zur Basis des Blattes vor, wo- 
bei das Blatt von der Mittellinie der Knospe immer mehr entfernt wird, und 
die in seiner Basis endenden cambialen Holzbündel gleichfalls von der Mitte 
der Knospe seitwärts sich verlängern. Gleichzeitig mit diesem seitlichen Wachs- 
thume und als die erste Ursache desselben findet das Hervorwachsen eines fol- 
genden Blattes seitwärts von der Spitze der Knospe statt, von dem Orte des 


s6 H. Kazster: 


ersten Erscheinens des vorhergehenden Blattes ungefähr 120° entfernt; zu 
ihm wenden sich gleichfalls als Anlagen späterer Holzbündel Reihen von Cam- 
bium-Zellen von dem Knospengrunde und dessen Seiten aus nach der Mitie 
der Knospenspitze hin, daher die von hier gleichzeitig seitwärts sich wenden- 
den des nächst vorhergehenden Blattes, die sich in derselben Höhe befinden, 
kreuzend. Ebenso geht es mit der Entwickelung des dritten Blattes, das von 
den beiden ersten fast 120° entfernt ist. Alle diese Holzbündelanlagen neh- 
men wie gesagt vom Knospengrunde ihren Anfang, verlaufen eine Strecke 
in der, die Grenze von Mark und Rinde bildenden, Camhium - Schicht oder 
ihr nahe auf der inneren Seite, und wenden sich dann nach den, an der Spitze 
der Knospe befindlichen Blattanlagen, mit deren vorschreitenden Entwicke- 
lung und Entfernung von der Mittellinie der Knospe nach deren Oberfläche 
sie gleichfalls nach dem Umkreise sich wiederum wenden, und die Richtung 
der zu jüngeren Blattanlagen gehörenden, neben ihnen verlaufenden Bündel 
durhekreuzen, in der Spizte der Knospe scheinbar ein vorworrenes Flecht- 
werk bildend. 

Fassen wir zuförderst die Basis der jungen Pflanze ins Auge, als den 
Ort, von dem die Bildung der Spiralen dieser Cambium-Bündel ihren An- 
fang nimmt, es ist dieselbe Gegend, aus der auch die in den Saamenlappen 
und das Würzelchen verlaufenden Holzbündel beginnen. Diese Cambium- 
Schicht ist der Mittelpunkt der Lebensthätigkeit der jungen Keimpflanzen, 
hier vereinigen sich die, durch die Wurzel und den Saamenlappen herzuge- 
führten Flüssigkeiten und von hier nimmt die bildende Thätigkeit, einerseits 
in das Keimknöspchen zur jungen Pflanze, anderseits in die neu sich bilden- 
den Wurzelfasern ihren Anfang. Die Schicht cambialer Zellen wird, nach- 
dem die Bildung der Spiralfasern begonnen hat, von einem bunten Flecht- 
werk von Spiralzellen und Spiralfasern durchzogen und später, wenn die 
bildende 'Thätigkeit dieses Gewebes erloschen ist, werden die Wandungen 
seiner Zellen punctirt verdickt. Es nehmen dann die Holzbündel des jun- 
gen Stammes in dem cambialen Gewebe des vom Knospengrunde aus sich 
erhebenden und verlängernden Kegelmantels ihren Anfang, dem spätern 
Holzeylinder, von dem früher die Verlängerungen der in dem Knospengrunde 
beginnenden Holzbündelanlagen sich trennten. In diesem Kegelmantel, der 
durch Verlängerung die Gylinderform annimmt, dauert nun die Vermehrung 


8 
des Cambiums noch einige Zeit fort, bei gleichzeitiger Umänderung der 


die V egetalionsorgane der Palmen. 87 


äufsern und besonders der innern Oberfläche in Parenchym, während ein- 
zelne verdickte Reihen cambialer Zellen sich 'gleichfalls mit diesem Paren- 
chym von der Zellen bildenden Schicht trennen und so die in der äufsern 
Parenchymschicht, der Rinde und dem innern Parenchym-Kegel, dem Marke, 
verlaufenden Holzbündelanlagen geben (!). In diesen Zellenreihen dauert 
je nach dem Orte ihrer Entstehung gleichfalls die bildende Thätigkeit fort, 
wodurch sowohl eine Vermehrung des Parenchyms, als auch des künftigen 
Holzgewebes hervorgebracht wird. Von dem Alter und der Kraft des Wuch- 
ses der Pflanze ist sowohl die Anzahl der in der Bildung begriffenen Blätter, 
wie das damit zusammenhängende Vorhandensein von Holzbündelanlagen in 
der Stammspitze abhängig. Bei einer Saamenpflanze folgt die Anlage der 
Blätter nicht so rasch aufeinander und es stehen dieselben in einem gröfseren 
Winkel von einander entfernt, wie bei einer kräftig wachsenden alten Pflanze: 
während bei einer keimenden Wachspalme 2-3 faserlose Blattanlagen, in 
fast 4 Spirale stehend, in der Knospe zu finden sind, besitzt ein 40’ hoher 
Stamm, deren gegen 20 die die Kuppe des Gipfeltriebes, in fast 5 oder ;; 
Spirale geordnet, bedecken. In der Endknospe einer Saamenpflanze werden 
daher in einer Höhe der Axe die Anlagen der Holzbündel von nur zwei bis 
drei Blättern sich durchkreuzen und gleichzeitig sich umbilden, während bei 
einer ausgewachsenen Pflanze eine grofse Anzahl derselben von dem Um- 
kreise nach den der Mitte nahe stehenden Blattanlagen und von der Mitte 
des Marks nach den etwas älteren, dem Umfange näher stehenden Blättchen 
verlaufend, in derselben Höhe des Stammes gleichzeitig angelegt, sich durch- 
kreuzen, und jedes seiner ferneren Umbildung entgegengeht. 


(') Da die Anfänge der Holzbündel immer in diesem Cylinder sich befinden, der in 
dem erwachsenen Stamme das Mark und die Rinde trennt: so kann man weder wit Des- 
fontaines annehmen, dafs die für die oberen Blätter bestimmten Bündel innerhalb die- 
ses Cylinders, im Marke, entstehen, noch mit Schleiden (Grundzüge ete. Il. p. 144) 
behaupten, dafs sie aulserhalb desselben sich bilden. Die Wahrheit liegt meines Erach- 
tens in der Mitte. Die Anfänge aller Holzbündel liegen neben oder ühereinander zu 
einem mehr oder minder vollständigen Cylinder vereinigt, in dessen Gewebe die Wech- 
selwirkung der die Rinde und das Mark tränkenden Nahrungsflüssigkeit stattfindet, deren 
Folge eine dauernde Zellenbildung und Gewebevermehrung sein würde, wenn die chemi- 
schen Mischungsverhältnisse dieser verschiedenartigen Säfte eine ähnliche wäre, wie bei 
den Dicotylen, wo ohne Zweifel das Zusammentreffen der im Mark und Holze betindli- 
chen Flüssigkeit mit den von dem Rindergewebe aus der Atmosphäre aufgenommenen 
Stoffen zum Fortwachsen des Holzeylinders nach Aufsen Veranlassung giebt. — 


s8 H. Karsten: 


Aufser von der Kräftigkeit des Wachsthums des Individuums hängt es 
auch von der gröfseren oder geringeren Verlängerung der Zwischenknoten 
der Art ab, wie grofs die Anzahl der gleichzeitig in derselben Höhe des Stam- 
mes in der Entwickelung begriffenen Holzbündel ist. In den rasch sich ver- 
längernden Zwischenknoten der rohrartigen Palmen werden in derselben 
Höhe nicht so viele Holzbündel sich durchkreuzen wie bei den Stämmen der 
Dattel- und Cocos-Palmen, die dicht mit Blättern besetzt sind. Auf einem 
Querschnitt des dünnen Stammes jener, an deren Spitze nur wenige Blätter 
gleichzeitig sich entwickeln, werden daher nicht so viele zu verschiedenen 
Blättern gehende Holzbündel angetroffen werden, wie auf einem Querschnitte 
des Stammes einer erwachsenen Dattelpalme. 

Macht man diesen Querschnitt in der Gipfelknospe unterhalb der Kuppe 
des Cambiumkegels, dort wo das Gewebe desselben gerade im Begriff ist, sich 
in Parenchym und Holzbündelanlagen zu sondern, so trifft man von innen 
nach aussen gehend diese neu entstandenen Bündel, von Blättern sehr ver- 
schiedenen Alters. Während die im Mittelpunkte des Stammes sichtbaren, sich 
nach aussen wendenden, für das sich aus dem Cambium hervorbildende Blatt 
von mittlerem Alter bestimmt sind, ihr unteres Ende schon mehrere Zwischen- 
knoten durchzieht bis es die Gegend ihres Entstehens im Cambium-Cylinder 
erreicht, wo es zuerst sich von diesem sonderte: so schreitet die Sonde- 
rung der nächst äusseren aus der Spitze des Cambiumkegels, theils noch nach 
der Mittellinie des Stammes hin vor, wo die jüngste Blattanlage sich befin- 
det um erst nachdem jene erreicht ist nach der, dann mehr seitwärts befind- 
lichen zugehörigen Blattanlage sich zur Oberfläche zu wenden: theils sind es 
die schon aus den unteren Gegenden des Stammes gekommenen, von dem Mit- 
telpunkte des Markes zurückkehrenden Holzbündel, die hier sich aus dem Cam- 
bium weiter verlängern in die ältere Blattanlage. Die am Umfange der Cambi- 
umspitze endlich befindlichen, von demneugebildeten Parenchym gesonderten 
Holzbündel sind theils die nach dem Mittelpunkt sich wendenden ersten Anfänge 
für die jüngsten oder vielleicht noch nicht im Werden begriffenen Blattanla- 
gen, theils sind es die das Markparenchym verlassenden, aufserhalb des Cam- 
bium-Cylinders durch die Rinde sich verlängernden, cambialen Holzbündel 
des zunächst aus dem Cambium sich hervorbildenden Blattes. — 


Dafür das stengelum fassende Palmenblatt sich Holzbündel aus dem gan- 


8 
zen Umkreise des Cambiumkegels absondern, so finden die Durchkreuzungen 


die V egetationsorgane der Palmen. 89 


der zu den älteren und nächst jüngeren Blättern verlaufenden Bündel auch in 
den verschiedensten Gegenden des Umfanges eines Querschnittes des Stam- 
mes statt. Diese Durchkreuzungslinien werden dadurch noch verschlunge- 
ner, dafs nicht jedes Holzbündel senkrecht von seinem Ursprungsorte wie- 
der zum Umkreise des Stammes zurückkehrt, sondern die nicht in der Schei- 
tellinie des Blattstielgrundes gebildeten, aufser der vertikalstehenden Krüm- 
mung noch einen wagerechten Bogen nach der Basis des Blattstiels hin zu 
machen haben. Denn in die Blattscheiden verlängern sich nur einzelne die- 
ser grofsen Holzbündel des Markes, meistens erhalten sie, wie auch die 
äufseren Rindenschichten des Blattstiels nur die kleineren, von der äufseren 
Oberfläche des Cambium - Cylinders gesonderten, in der Rinde befindlichen 
Bast- und Holz -Bündel. 

Entwirft man sich ein Bild aller dieser, in den verschiedensten Rich- 
tungen sich durchkreuzenden Holzbündel, so hält es schwer mit Meneghini 
anzunehmen, es seien Saftströmungen, durch das Auftreten der jungen Blät- 
ter hervorgebracht, die Ursache der Richtung dieser Holzbündel. Es beruht 
vielmehr in dem Zusammenwirken der fortdauernden Zellenbildung jedes 
einzelnen von dem ursprünglichen Bildungsorte, dem Cambium-Kegel, ge- 
trennten Zellenbündels und in der längere Zeit fortgesetzten Sonderung von 
Parenchym von denselben, durch Umänderung der Cambiumzellen ihrer 
Oberfläche, so wie einer ähnlichen Thätigkeit der cambialen Stammspitze 
selbst, sowohl die Verlängerung der Holzbündel- Anlagen, wie der Verlauf 
derselben durch das Gewebe des Markes. Es ist nicht etwa das Markparen- 
chym früher vorhanden und in ihm entstehen dann später, als Folge bestimmt 
geordneter Saftströmungen die Anlagen der Holzbündel, sondern beides ent- 
steht gleichzeitig oder vielmehr: durch das Aufhören der Neubildung im In- 
nern gewisser Cambiumzellen tritt die Form der Parenchymzellen innerhalb 
der Cambiumschicht auf, wodurch die Cambiumoberfläche als Holzbündel- 
anlage von derselben getrennt wird. 

Wollen wir ein einzelnes Holzbündel in seiner Entwickelung betrach- 
ten und durchschneiden zu diesem Zwecke die Gipfelknospe in senkrechter 
und wagerechter Richtung, so finden wir in dem ersten Querschnitte unter- 
halb der Kuppe des Cambiums-Kegels die Andeutungen der Holzbündel in 
dem eben gebildeten Parenchym als kleine Zellengruppen, die sich auf dem 
Längenschnitte als die obern Enden von Bogen zu erkennen geben, deren 


Phys. Kl. 1847. M 


90 H. Karsten: 


untere Enden mit dem Umkreise eben jener Cambium -Spitze des Stammes 
in Verbindung stehen. Andere Bündel in ihrer Nähe trennen sich etwas un- 
terhalb derselben von dem Cambium -Cylinder, oberhalb dieser Trennungs- 
stelle durch eine diekere Schicht parenchymatöser Zellen von diesem Cam- 
bium-Gewebe entfernt, daher der Mitte des Stammes genährt und dieser 
Mittellinie nahe mit der Cambium-Kuppe zusammenhängend und zwar in 
der Gegend, wo an der äufsern Oberfläche derselben die Anlage eines Blat- 
tes sichtbar ist. Noch andere dieser Bündel, deren unteres Ende noch wei- 
ter abwärts mit dem Cambium-Cylinder in Verbindung steht, ist durch ein 
noch bedeutenderes Parenchymgewebe von demselben in den höheren Thei- 
len getrennt, daher der Mittellinie des Stammes noch näher gebracht und 
sein oberes Ende nähert sich einer älteren Blattanlage. Alles deutet darauf 
hin, dafs seit der ersten Trennung dieses Cambium-Bündels eine Vermeh- 
rung des Parenchyms in seiner Umgebung stattgefunden und die Übergänge 
der Zellenformen, die sich zwischen dem ausgebildeten Parenchym und so- 
wohl diesen Bündeln wie dem Cambium-Oylinder finden, machen es höchst 
wahrscheinlich, dafs die Zellen des Cambiumgewebes die kugeligen, locker 
nebeneinander liegenden Parenchymzellen hervorbildeten, während die Neu- 
bildung in deren Höhle aufhörte. Bei den noch tiefer abwärts in dem Cam- 
biumeylinder des Stammes beginnenden Bündeln, die zu schon weiter aus- 
gebildeten, mehr von der Mitte der Knospe entfernten Blattanlagen sich wen- 
den, verändert sich die Richtung ihres Verlaufes in dem oberen Theile, da 
sie gleichfalls von der Mitte sich nach Aufsen wenden, nach der Gegend der 
Blattanlage. Diese Blattanlage umfafst bei ihrem ersten Auftreten den ganzen 
Umkreis des innersten Kernes der Knospe gleichförmig; doch sehr bald dehnt 
sich die eine Seite bedeutend mehr wie die übrigen Theile dieses ringförmigen 
Wulstes aus, sie bildet eine kegelförmige Erhebung, die fortwährend an Höhe 
zunimmt, während die übrigen Theile des ursprünglichen Ringes um so we- 
niger sich vergröfsern, je weiter sie von diesem Kegel entfernt sind. — 

In dieser kegelförmigen Erhebung nun, der künftigen Blattstielbasis, 
wo die kräftigste Zellenbildung stattfindet, sondern sich die später im Blatt- 
stiele befindlichen Holzbündel ab, und zwar in der Weise, dafs zuerst der ein 
mittleres Parenchym umgebende Holzbündel-Kreis (oder -Cylinder) von dem 
noch in der Zellenbildung verharrenden äufseren Cambium sich trennt. Dies 
sind die Verlängerungen derjenigen Bündel des Stammes, die mit der noch 


die Vegetaiionsorgane der Palmen. 91 


ziemlich der Mittellinie desselben nahe stehenden Blattanlage zusammentref- 
fen, die daher an dem ausgewachsenen Blatte den gröfsten senkrechten Bo- 
gen beschreiben d. h. diejenigen, die die Mitte des Markgewebes durchziehen. 
Während dieser Absonderung der mittleren Holzbündel des Blattstiels und der 
nothwendiger Weise gleichzeitig stattfindenden Parenchymbildung in dieser 
Blattanlage ist dieselbe durch die in dem inneren und oberen Theile des Stam- 
mes fortdauernde Gewebe-Bildung und -Vergröfserung von der Mittellinie des 
Stammes mehr entfernt; die jetzt wiederum von der inneren Seite des Cam- 
bium-Gewebes desBlatitstieles an dessen unteren Oberfläche als Halbkreis sich 
absondernden Bündel, beschreiben daher nicht mehr einen so grofsen senk- 
rechten Bogen wie die zuerst auftretenden, und es hängt von dem Alter der 
Pflanze ab, ob sie noch das Markparenchym durchziehen, oder nur in der 
Rinde verlaufen. Bei den Blättern eines ausgewachsenen Palmen-Stammes 
ist das erstere der Fall, ja es folgt noch ein dritter Halbkreis von Holzbündeln 
ehe diejenigen, die, von der Rindenseite des Holzeylinders sich trennend, nur 
das Rindengewebe durchziehen, als die der Oberfläche nächsten in den Blatt- 
stiel eintreten. 

Schon oben bemerkte ich, dafs aufser der auf diese Weise hervorge- 
rufenen Krümmung der Holzbündel in senkrechter Richtung auch noch ein wa- 
gerechter Bogen von ihnen während ihres Verlaufes im Marke gebildet würde. 
Dieser Bogen wird dadurch hervorgerufen, dafs die jüngste Blattanlage, eine 
wulstige Erhebung des Gewebes unterhalb der eigentlichen Stammspitze, an- 
fangs den ganzen Umfang dieser Spitze gleichmäfsig umgiebt. Daher sind die, 
von der innern Seite des cambialen Gewebes der Kegelspitze sich trennenden 
Cambiumbündel von dem Umfange des Stammes, dem künftigen Holzeylinder, 
alle nach der Mitte hin gerichtet, wo sie dort mit der Kuppe des Cambium- 
kegels zusammenhängen, wo an der Oberfläche desselben der gleichmäfsig 
hervorwachsende Ring der jüngsten Blattanlage sich befindet. Sobald 
nun an einem Punkte dieses ringförmigen Wulstes die bildende Thätigkeit 
vermehrt wird, ändert sich gleichfalls die Richtung der aus der innern, in 
Parenchym und Cambiumbündel sich sondernden Cambium -Schicht her- 
vorgebildeten Holzbündel-Anlagen: diejenigen die in der Hälfte des Stammes 
sich befinden, an der die Vermehrung des Blattgewebes eintritt verlassen den 
Radius in welchem ihr zuerst gebildetes Ende liegt, und wenden sich seitwärts 
nach dem Punkt der stärksten bildenden Thätigkeit, natürlich weil von die- 


M2 


92 H. Karsten: 


sem Orte, wo die meisten Zellen gebildet wurden, auch die Sonderung der- 
selben in die verschiedenen Gewebe ausgehen mufs. Diese seitliche Biegung, 
die in die Zeit fällt, wann die Blattanlage anfängt dem Umkreise sich zu nä- 
heren ist der wagerechte, bei den von dem Blattstielgrunde zu dem sie sich 
wenden am weitesten entfernten Bündeln, über 90° betragende Bogen, des- 
sen gröfste Krümmung der Mittellinie des Markes zunächst liegt('). Es sind 
dies die zuerst im Blattstiele sich sondernden in der Mitte desselben in einen 
Cylinder geordneten Bündel die auch wie oben gezeigt wurde, den gröfsten 
senkrechten Bogen während ihres Verlaufes im Marke zu beschreiben haben. 
Das seitliche Fortrücken der Blattanlage von dem Mittelpunkte der 
Stammspitze nach dem Umkreise derselben wird hervorgebracht durch eine 
fortdauernde Zellenbildung in dem cambialen Gewebe dieser Spitze. Es 
wird jetzt von den meisten Anatomen zugegeben, dafs die Vermehrung des 
Zellgewebes dadurch hervorgebracht wird, dafs in einer vorhandenen Zelle 
die Bildung von mehreren neuen stattfindet. Lassen wir hier jetzt die Frage 
unberührt, ob diese Erzeugung neuer Zellen in einer Bildung von Bläschen 


o° 


in dem flüssigen Inhalte oder in einer Bildung von Häuten um einen festen 


5 
Inhalt oder in einer Theilung der vorhandenen Zellen mittelst hineinwach- 
sender Scheidewände entsteht: so ist doch gewifs, dafs in allen diesen Fällen 
die Form des neuen Gewebes und des dadurch gebildeten Organes von der 
gegenseitigen Lage der jungen Zellen und ihrer Wachsthumsrichtung abhängt. 
Vor dem Auftreten von Spiralfasern ist nur die Lagerung der Zellen die Ur- 


sache der Ausdehnung des Gewebes in die Länge und Breite, es werden, wie 


(') In dem Stamme der Chamaedorea gracilis Willd. verfolgte ich ein, in ein Blatt 
tretendes Holzbündel durch 7 Zwischenknoten, wo es aus der Mitte des Stammes zur 
Rinde+ zurückkehrend, in dem Holzeylinder sich befand; vielleicht jedoch noch nicht en- 
dete. Es lagen hier der beobachtete Anfang und Endpunkt in einem Winkel von 95°. — 
Martius (Über die Struktur des Palmenstammes. Gelehrte Anzeigen. München 1845) 
hat sich bei der Euzerpe oleracea entschieden davon überzeugt, dafs gewisse Fasern nicht 
auf der Seite, wo sie in das Blatt treten, sondern auf der diametral entgegenliegenden 
ihr unteres Ende haben, ebenso wie Mirbel bei Phoenix es fand. Ich kann diese Anga- 
ben dieser beiden Beobachter durchaus nicht bestätigen, da ich immer fand, dafs die dem 
Blattstiel diametral gegenüber entstehenden Bündel sich nur sehr wenig seitwärts biegend, 
in den dort befindlichen "Theil der Blattstielbasis, in die Blattscheide, eintreten; nie fand 
ich, dafs dieselben, wie Mirbel und Martius angeben, in den gegenüberstehenden Blatt- 
stiel sich verlängern. 


die V egetationsorgane der Palmen. 93 


dies meistens im jüngsten Cambium stattzufinden scheint die im Innern der 
alten zu vieren entstehenden jungen Zellen tetraedrisch geordnet, wodurch eine 
allseitige Ausdehnung des Gewebes hervorgebracht wird. Erst später nach 
dem Auftreten der ersten Spiralfasern im Stamme findet man in einer Mut- 
terzelle, die dann gleichzeitig mehr oder weniger in die Länge gestreckt ist, 
die jungen Zellen in ihr in senkrechter Lage übereinandergereiht. Die er- 
ste Sonderung im Innern des gleichförmigen Cambium-Gewebes der Holz- 
bündel- Anlage ist nach meinen Beobachtungen immer durch das Erscheinen 
einer abrollbaren Spiralfaser bezeichnet, die zuerst in dem unteren Theile 
des Bündels sichtbar wird und sich von hier nach oben durch die Länge des- 
selben in die Blattanlage hinein verlängert. Erst nach dem Erscheinen dieser 
Spiralfaser bemerkt man die Ausdehnung einer oder einiger vertikalen Zellen- 
reihen, die Anfänge der weiten Kanäle, in der Nähe der Spiralen und eine ver- 
mehrte Längenausdehnung der äufseren Zellen des Cambium-Bündels, beson- 
ders an der der Stammoberfläche zngewendeten Seite. Der Inhalt dieser 
engen langgestreckten Zellen des Umkreises wie jener bald sehr weiten Cy- 
linderzellen der Mitte des Bündels, in deren Nähe bald noch andere, doch we- 
niger weite Zellenreihen sich von dem übrigen Gewebe absondern wird durch- 
sichtig und klar, ebenso der Inhalt der einfachen, endogenen Zelle, des soge- 
nannten Zellkerns, der bald ganz unsichtbar wird (!), während die in der Mitte 
des Bündels befindlichen Zellen noch längere Zeit eine trübe Flüssigkeit ent- 
halten. Die langgestreckten Zellen des Umkreises der cambialen Holzbün- 
del nehmen bald eine spindelförmige Gestalt an, es sind diejenigen, die spä- 
ter verdickte Wandungen bekommen, und von Moldenhawer, Link, Mohl 
und anderen Bast genannt werden. Die Höhlung der äufsersten an das Pa- 
renchym grenzenden findet man noch sehr häufig mit senkrecht an einander 
gereiheten, runden Zellen (sogenannten Zellkernen) angefüllt, deren Wan- 
dungen verdickt sind; es sind dies Hemmungsbildungen von Parenchymzellen 
die auch jetzt noch, unter geeigneten Verhältnissen, in diese Zellenform über- 
zugehen vermögen. Die, durch Vereinigung der weitesten Zellenreihen ge- 


(') Ohne jedoch gänzlich zu verschwinden. Es treten unter Umständen nicht nur 
die der Mutterzelle anliegenden Ränder des zusammengefallenen Bläschens deutlicher her- 
vor, sondern es kann durch geeignete Verhältnisse das Wachsthum desselben von neuem 
angeregt werden und nimmt dann gewils den gröfsten Antheil an der Bildung der in der 
Mutterzelle entstehenden Absonderungsstoffe. 


94 H. Karsten: 


bildeten Fasern besitzen gleichfalls in alten Holzbündeln verdickte Häute. Mohl 
nannte sie, wegen der netzförmigen Verdickung der letzteren „netzförmige Ge- 
fäfse”. In den unteren Theilen des Holzbündels findet sich immer nur eins 
dieser netzförmigen Gefäfse; der Mitte des Stammes näher treten zwei der- 
gleichen auf, sie bilden auf Querschnitten des Bündels, dann mit der einen 
oder den wenigen Spiralfasern ein Dreieck, dessen nach der Mitte des Stam- 
mes hin gewendeten Winkel die Spiralfasern einnehmen, während in den 
beiden nach dem Umkreise gerichteten die netzförmigen Gefäfse stehen. In 
den Zellen der Mitte des Bündels endet mit diesen Umformungen gleichfalls 
die Zellenbildung, es ist das Gewebe das Mohl „eigene Gefäfse” nennt wegen 
des trüben flüssigen Inhaltes, der an die gewöhnlich mit ähnlichen Flüssigkei- 
ten erfüllten Milchsaftgefäfse erinnert. Diejenigen dieser Zellen, die den 
Spiralfasern und den sehr erweiterten künftigen netzförmigen Gefäfsen zu- 
nächst liegen, erhalten indessen gleichfalls einen klaren Inhalt, während sie 
sich erweitern und ihre Häute später gleichfalls sich verdicken, wodurch sie 
zu Holzzellen werden. Es verharrt dann nur das, vor den weiten Netzge- 
fäfsen befindliche, von den Holz und Bastzellen umgebene Gewebe in dem 
ursprünglichen Zustande der eigenen Gefäfse Mohls. 

Ich habe hier die Folge der Entwicklung der verschiedenen Elementar- 
bestandtheile des Palmen-Holzbündels gegeben, das jedoch nicht überall in 
seiner ganzen Länge alle diese Theile beisammen enthält. Mohl machte schon 
in seiner vortrefllichen Schrift: „de palmarum structura pag vı” auf das rich- 
tige Verhältnifs aufmerksam, er wies nach, dafs während des Verlaufes des 
Holzbündels durch die äufseren Theile des Stammes bis in das Mark und 
von hier bis zum Eintritte in das Blatt die Menge des Bastgewebes immer mehr 
abnimmt, die Anzahl der Holzfasern und der eignen Gefäfse sich dagegen ver- 
mehrt. 

Mirbel stellte sich bei seiner Untersuchung der Dattelpalme die Frage, 
ob die Holzbündel von den Blättern aus abwärts wachsen, oder von den un- 
tern Theilen des Stammes sich nach oben hin verlängern, angeregt durch die 
abweichenden Ansichten früherer Anatomen über diesen Gegenstand. Er 
untersuchte zur Entscheidung dieser Frage die Gipfelknospe des Stammes ei- 
ner Palme und fand hier, dafs die zahllosen, durchsichtigen, sehr zarten Fa- 
sern (Cambium-Bündel), die das Gewebe der Knospe durchziehen, an dem 
obern Ende nicht früher verhärteten wie an dem unteren, woraus er schlofs, 


die Vegetationsorgane der Palmen. 95 


dafs sie nicht die älteren, zuerst entstandenen Theile sein könnten. Mohl 
wendet gegen diesen Schlufs mit Recht ein, dafs die Verholzung mit dem Alter 
eines Gewebes nicht gleichen Schritt halte, und macht darauf aufmerksam, 
wie bei den allmählig aus den Blattscheiden hervorwachsenden Zwischenkno- 
ten der Gräser, Nelken, Ephedra etc. sogar die obern Enden zuerst erhärten, 
ja wie bei den Palmen selbst die oberen Theile des Blattstieles grün und ver- 
holzt seien, während die unteren noch weich und ungefärbt gefunden würden. 
Mohl führt indessen dies nur gegen die Ansicht an, dafs die Verholzung ein 
Erkennungszeichen des Alters eines Gewebes sei, ohne der Annahme Mirbels, 
dafs die Entwickelung des oberen Theiles der Holzbündel von unten nach oben 
vorschreite, der Ursprung desselben im Stamme nicht im Blatte zu suchen sei, 
was auch andere Anatomen gleichfalls bestätigen, zu widersprechen. 

Das was hier Mohl von dem oberen Theile eines Holzbündels zugiebt, 
dessen Entwickelung von unten nach oben, behauptet Mirbel von der Ent- 
wickelung des ganzen Bündels, indem er versichert, dafs er in den Palmen 
Holzbündel gefunden habe, deren unteres in der Peripherie des Stammes ent- 
springendes Ende bereits verholzt, in der Mitte halb erhärtet, dem Splinte 
ähnlich und zu gleicher Zeit an der Spitze noch in der Entstehung begriffen 
gewesen sei. Mohl (Vermischte Schriften p. 181.) zweifelt an der Richtig- 
keit dieser Angaben (!), indem erstens zufolge seiner Beobachtungen das 
Holzbündel einer Palme, dessen unterer Theil verholzt ist, nicht zu einem 
Blattrudimente, wie er sich ausdrückt, sondern zu einem in der Entwicke- 
lung schon vorgeschrittenen Blatte sich erstrecke: zweitens die Bildung der 
Gefäfse neuer Wurzeln und der sich entwickelnden Knospen deutlich zeige 
dafs dieselbe in beiden Fällen in den neuen Organen beginne und sich dann 
über die Holzmasse des Stammes verbreite. Nach diesen Thatsachen und in 


(') Ich vermuthe, dafs diese Angaben Mirbel’s zum Theil darin ihren Grund ha- 
ben, dafs er nicht die Gipfelknospe des Stammes frisch untersuchte, sondern erst nach- 
dem die Palme längere Zeit umgehauen und vielleicht der ausgewachsenen Blätter be- 
raubt, gelegen hatte. Mirbel sagt nämlich, er habe die Stammspitze, die er Phyllophor 
nennt, abgeplattet und in der Mitte concav vertieft gefunden; es palst diese Beschreibung 
nicht auf die Gipfelknospe einer gesunden, regelmälsig ernährten, im kräftigen Wachs- 
thume begriffenen Palme, wo dieselbe nicht concav, sondern eonvex geformt ist, wohl aber 
auf solche Stämme die längere Zeit wuchsen, nachdem ihnen die Blätter abgeschnitten 


waren oder bei denen der Zuflufs des Nahrungssaftes durch die Wurzeln gehemmt war. — 


96 H. Karsten: 


Folge einer Erscheinung die sich an Überwallungen eines verwundeten Stam- 
mes der Yucca zeigte „ist es wohl gerechtfertigt”, sagt Mohl Vermischte 
Schriften p.183, „wenn ich die Angabe Mirbels, dafs die Gefäfsbündel der 
Palmen von unten nach oben wachsen, für eine mit den Erscheinungen des 
Wachsthums der Monocotylen im Widerspruch stehende Meinung erkläre 
und es im Gegentheil für wahrscheinlich erachte, dafs der untere Theil die- 
ser Gefäfsbündel sich in der Richtung von oben nach unten entwickele”. — 

Ich gestehe, dafs ich über Mohls eigentliche Meinung, trotz dieser Er- 
klärung, nicht zur Gewifsheit gekommen bin, da er hier offenbar gegen Mir- 
bel ein Abwärtswachsen der Faserbündel vertheidigt, obgleich er einige Sei- 
ten früher (p. 176) gegen Moldenhawers Beobachtung behauptet man finde 
nie eben in der Bildung begriffene Fasern unter der Rinde, wodurch er die 
Ansicht des Abwärtswachsens der Holzbündel der obern Blätter bis in die 
Wurzeln beseitigen will. Diese letztere Angabe kann ich durchaus nur be- 
stätigen, wodurch ich denn zugleich die erstere verneine, auch ich fand nie 
ein Abwärtswachsen der in dem Stamme befindlichen Holzbündel des Blat- 
tes; ich kann Mirbel nur beistimmen wenn er angiebt dafs die Entwickelung 
der Gewebe in dem cambialen Holzbündel von unten nach oben fortschreite, 
doch mufs auch ich mich gegen die Beobachtung erklären dafs die Verhol- 
zung der Gewebe, dieser ersten Bildung derselben von unten nach oben 
gleichmäfsig folge; ich werde im Gegentheil weiter unten bei der Darstellung 
der Entwickelung der Gewebe zeigen, dafs dieselbe in grade entgegengesetz- 
ter Richtung stattfindet. 

Man hat in dem Entwickelungsgange des Palmenholzbündels mehrere 
Abschnitte zu unterscheiden die mehr oder weniger unabhängig von einander 
vor sich gehen. Zuerst die Sonderung des Cambiums der Gipfelknospe in 
Parenchym und in cambiale Holzbündel, diese findet an der untern Seite der 
Kuppe des cambialen Kegelmantels statt und sobald sie eingetreten ist findet 
man die zarten gallertartigen Streifen des Cambiums in fast wagerechter Lage 
von dem Umkreise nach der Mitte der Knospe hin sich erstreckend. Hier 
endet es in der Cambium-Spitze unterhalb einer nach Aufsen auswachsenden 
Blattanlage, dort hängt es mit der Verlängerung des senkrechten, Mark und 
Rinde trennenden Holzeylinders zusammen. Da diese cambiale Verlänge- 
rung des Holzeylinders bei den Palmen nicht gänzlich verholzt, sondern zum 
Theil in Parenchymzellen umgeändert wird, so kann man später, nach die- 


die V egetationsorgane der Palmen. 97 


sertheilweisen Umbildungdes Cambium in Parenchym dieursprüngliche Anlage 
des Holzbündels sich fortsetzen sehen und zwar der Parenchymbildung ent- 
sprechend entweder einzeln oder andere benachbarte Bündel unmittelbar 
berührend. Die auf diese Weise hervorgebrachte Isolirung der unteren En- 
den der Holzbündel kann man wohl nicht als Abwärtswachsen bezeichnen 
und dadurch dem wirklichen Fortwachsen des obern Endes in eine andere 
Gegend des Stammes durch Zellenanlagerung aus dem Cambium der Stamm- 
spitze gleichstellen: da dieselbe nur die Folge einer Parenchymbildung ist, 
die in denjenigen Holzeylindern nicht vorkommt, von denen, für die gedräng- 
ter stehenden Blätter, 'zahlreichere Holzbündel abgehen. — 

Nach dieser Sonderung des Cambium-Bündels und des Parenchyms 
tritt erst in demselben die Sonderung in die einzelnen Gewebe ein, die ich 
die Bildung derselben nennen möchte, im Gegensatz zu dem folgenden Pro- 
zefs, der, wegen der gleichzeitig stattfindenden Vergröfserung, vielleicht 
Wachsthum zu nennen wäre, wenn man nicht, wegen der Unbestimmtheit 
dieses Begriffes, vorzieht diesen Vorgang als Entfaltung der Gewebe zu be- 
zeichnen, denn auch die zuletzt eintretende Erscheinung der Verholzung 
der Gewebe ist meiner Überzeugung nach eine fortgesetzte Assimilations - 
oder Wachsthums-Erscheinung der Zellmembran. — 

Eine andere Meinungsverschiedenheit findet sich bei den Schriftstel- 
lern über den Bau der Palmen wegen der sogenannten Verästelungen der 
Holzbündel. | 

Nach Lestiboudois (Etüdes sur Tanatomie et la physiologie des ve- 
gelaux 1840) bildet sich nur ein Theil der in die Blätter eintretenden Bün- 
del im Umkreise des Stammes, ein anderer Theil nimmt von den in dem 
Mark und der harten holzigen Schicht verlaufenden gröfsern Bündeln seinen 
Anfang; so wie auch die dünnen Bündel der äufseren Schicht, theils aus der 
zelligen Rinde, theils als Verästelungen der grofsen Fasern entstehen, welche 
Verästelungen und Anastomosen zugleich ein zusammenhängendes Fasernetz 
bilden sollen. Aus allen diesen Erscheinungen zieht Lestiboudois den 
Schlufs, dafs alle Holzbündel dazu bestimmt seien neue Bündel zu erzeugen. 

Mirbel sah ähnliche Verästelungen von grofsen Gefäfsbündeln auch im 
Mittelpunkte des Markes der Dattelpalme, sie sollen aus dem unteren Stamm- 
theile von dem Umfange desselben sich zur Mitte begeben, hier eine Strecke 
mit einander verlaufen, ein centrales Bündel bildend, und dann nach der 


Phys. Kl. 1847. N 


98 H. Karster: 


entgegengesetzten Seite der Oberfläche in das Blatt eintreten indem gleich- 
zeitig ein Ast oder selten zwei bis drei Aste abgeschickt werden. 

Mohl spricht sich gegen beide Angaben aus, er hält die Angabe des 
Lestiboudois über die Verästelung der Holzbündel bei den Palmen mehr für 
eine Annahme, aus der Analogie des Palmenstammes mit den anderen Mo- 
nocotylen abgeleitet, und zweifelt an der Allgemeinheit und Häufigkeit dieser 
Verästelungeu, wenn er sie auch ausnahmsweise zugiebt. Mohl selbst fand 
an einzelnen Stämmen aus der Abtheilung der cocosartigen Palmen im Marke 
kleine Bastbündel, deren unteres Ende er nicht verfolgen konnte, von denen 
er es für möglich hält, dafs sie sich von den gröfseren Bündeln getrennt ha- 
ben; doch sei das Vorkommen dieser Bündel als ein ungewöhnliches, als eine 
Anomalie im Palmenstamme zu betrachten. Ebenso liegen die untern dün- 
nen Enden der Holzbündel in der Peripherie des Stammes entweder verein- 
zelt im Zellgewebe oder, was seltener stattfindet, sie sind mit einigen benach- 
barten zu einer Faser verschmolzen. Die im Mittelpunkte des Markes statt- 
findende Vereinigung verschiedener Holzbündel zu einem einzigen grofsen 
leugnet Mohl gänzlich. — 

Diese Ansichten Mohls theile ich im Allgemeinen, auch ich glaube, 
dafs die Verästelungen der Holzbündel von einer seltener eintretenden Bedin- 
gung in der’Ernährung der Gewebe des Palmenstammes abhängt, obgleich 
ich bei verschiedenen Palmen dieselbe im Mark und in der Nähe des Holz- 
eylinders beobachtete. In dem Stamme der Iriartea praemorsa Kl. und der 
Oenocarpus utilis Kl. sah ich zuweilen, dafs sich von einem in ein Blatt ver- 
laufenden Holzbündel von der centralen Seite ein Theil trennte und als ein 
mit den verschiedenen Geweben ausgerüstetes Bündel zu einem höher am 
Stamme stehenden Blatte sich wendete. Bei der Martinezia aculeata K1. 
schien es mir häufiger vorzukommen, auch fand ich hier sehr zahlreich die 
kleinen Bastbündel im Marke die Mohl von dem Lepidocaryum beschreibt 
von denen ich gleichfalls glaubte Verbindungen mit vollständigen Holzbün- 
deln gesehen zu haben, ohne mich indessen in anderen Fällen mit Bestimmt- 
heit von deren Vorhandensein überzeugen zu können. Am zahlreichsten 
fand ich diese Verhältnifse in der kleinen stacheligen Palme, die in den war- 
men, zuweilen überschwemmten Thälern des Tuy- und Aragua-Flusses vor- 
kommt, dem Fruchtbaue zufolge eine Bactris, von den Einwohnern Piritu ge- 
nannt, im Wuchse der Bactris fissifrons ähnlich. — 


die V egetationsorgane der Palmen. 99 


Über das Verhältnifs der untern Enden der Holzbündel habe ich mich 
schon ausgesprochen, ich halte es für einfacher, von dem cambialen Zustande 
des Holzcylinders auszugehen und finde, dafs im ganzen Umkreise dessel- 
ben sich einzelne Bündel für ein Blatt trennen, oberhalb dieser Trennungs- 
stellen, und häufig auch seitwärts, bildetsich das Cambium in Parenchymzellen 
um, (nur in einem trocknen Stammabschnitte, der sich in der Sammlung 
meines Freundes Münter als Dattelpalme befindet, sah ich auch diese Theile 
des Holzeylinders in Bastzellen umgeändert) oder was nicht selten, es erhält 
sich das seitlich angrenzende Cambium in dieser und der zunächst aus ihm 
hervorgehenden Form des Bastes, in welchem erst in den höheren Theilen des 
Stammes sich wieder Spiralen anfinden und dadurch erkennen lassen, dafs 
jetzt auch dieser Abschnitt des Holzeylinders bestimmt ist, sich aus dem Zu- 
sammenhange zu trennen, 

Von der Kräftigkeit der Blattentwickelung hängt es ab, wie viel Bündel- 
kreise sich von dem Cylinder trennen und von Ernährungsverhältnissen, die 
noch näher zu erforschen sind, halte ich es abhängig ob eine stärkere oder ge- 
ringere Parenchymbildung zu Stande kommt, die sowobl in dem das Mark und 
die Rinde trennenden Oylinder eine Verbindung dieser beiden Gewebe, in Art 
der Markstrahlen, veranlafst, wie auch in der Mittellinie der cambialen Spitze 
eine Trennung des als einfach von dem Umkreise des Stammes kommenden 
Bündels, wodurch dieses in zwei gespalten sich weiter aus dem Cambium ver- 
längert, zu einem oder auch zwei verschiedenen Blättern verlaufend. — 

So finden wir, dafs sich alle im Stamme befindlichen Holzbündel in 
die Blätter begeben. Dem Erscheinen neuer Spiralen in dem Holzeylinder, 
und der Trennung, der um sie gebildeten Holzbündel, von diesem Oylinder- 
mantel entsprechend, verlassen andere in unteren Abschnitten des Stammes 
gebildete Bündel das Mark, das sie durchkreuzten, um mit dem von der Ober- 
fläche des Stammes sich entfernenden Blatte in einem der Wechselwirkung 
mit der Atmosphäre zugänglicheren Gewebe sich ausbreiten. 

Unbegrenzt in dem Urbilde der Gattung erhebt sich so der aufwärts- 
strebende Stamm, in immerdauernder Wiederholung desselben Vorganges, 
von der ihn ernährenden Erde; den blättertragenden Wipfel, oft über die 
Wolken hinaus, den ungetrübten Strahlen der alles belebenden Sonne nä- 
hernd: auf das Gemüth seines empfindenden Mitgeschöpfes, durch die edle 
Einfachheit seiner grofsartigen Formenverhältnifse den Eindruck des Er- 


N2 


100 H. Karsten: 


habenen hervorrufend, während der neben und unter ihm blühende Laub- 
wald durch die Anmuth und Lieblichkeit seiner mannigfaltigen Gestalten die 
Sinne des denkend Sehenden erfreut und ihn zum Genufse des Dargereichten 
auffordert. 

Doch auch an dem vollendeten Baue der Palme äufsert sich endlich 
die Abhängigkeit von dem Boden dem sie entwuchs, die durch die zahlreich 
gebildeten Wurzeln aufgenommenen Nahrungsstoffe erreichen nicht mehr die 
von reineren Lüften umspielte Krone, immer kleiner werden die Blätter, im- 
mer spärlicher deren Bildung, bis endlich, bei gehemmtem Saftzufluls, ein 
Übermaafs der durch sie aufgenommenen luftförmigen Stoffe das Gleichge- 
wicht der Bildung und des Wachsthums stört und erstere gänzlich unter- 
drückt. — 

Eine Ausnahme macht vielleicht Elais melanococcus (Martius palmae 
brasilienses) deren niederliegender Stamm aus der die Erdoberfläche berüh- 
renden Seite zahllose Wurzeln hervortreibt, doch beobachtete Martius nur 
kleinere 12 Fuls lange Stämme: es bleibt noch zu ermitteln ob der Stamm 
dieser Palme durch ein noch nicht bekanntes Verhältnifs seines Baues an fer- 
neres Wachsthum verhindert wird oder ob ältere Stämme eine gröfsere Länge 
erhalten. — 


Entwickelung der Gewebe des Palmenstammes. 


Alle Gewebe der ausgewachsenen Pflanze sind durch die Umbildung 
eines gleichförmigen, trüben, schwierig in seinen einzelnen Theilen zu erken- 


nenden Zellenkörpers hervorgegang 


gang 
stufen des Keimlings und die durch fortgesetzte, gleichartige Zellenbildung 


en, wie ihn uns die ersten Entwickelungs- 


in einzelnen Theilen desselben fortbestehenden, sogenannten cambialen Ge- 
webe zeigen. Die älteren Anatomen sahen in diesem Cambium einen gallert- 
artigen oder schleimigen oder flüssigen Körper mit eingebetteten Zellen oder 
Blasenräume oder schaumartigen Höhlungen. Die Häute der später sich aus 
diesem Gewebe hervorbildenden Zellen dachte man sich durch Verdichtung 
des Schleimes an der Oberfläche jener hohlen Räume, über deren Entstehen 
keine bestimmte Ansicht aufgestellt wurde, da man dasselbe von Zufälligkei- 
ten abhängig hielt. Nachdem Robert Brown auf ein in den Zellen vieler 
Gewebe regelmäfsig vorkommendes Körperchen, das er den Kern der Zelle 
nannte, aufmerksam gemacht hatte, benutzte Schleiden diesen Zellkern für 


die V egelationsorgane der Palmen. 101 


eine Theorie der Zellenbildung, die er in „Müller’s Archiv 1838” veröffent- 
lichte. Er stellte dort die Ansicht auf, dafs der Pflanzenschleim, der sich an 
einem Orte befinde, wo die Bildung von Zellen vor sich gehe, auf diesen 
Zellkern, der vorher durch Verdichtung des Schleimes entstanden sei, nie- 
dergeschlagen, verhärtet und darauf durch Diffusion des dichten schleimig- 
körnigen Zellkernes und der von Aufsen hinzutretenden dünneren Flüssig- 
keit ausgedehnt werde. 

Im Jahre 1843 zeigte ich durch vielfältige Entwickelungsgeschichten 
der, die thierischen und pflanzlichen Gewebe zusammensetzenden Zellen, in 
einer kleinen Schrift: „de cella vitali”, dafs diese Ansicht Schleiden’s nicht 
in der Natur begründet sei, da der vonRobert Brown entdeckte „ nucleus 
of the cell” nicht früher wie die Zelle, in der er sich befindet, auftrete, son- 
dern erst später in derselben entstehe, dafs er selbst eine Zelle sei, die oft 
noch jüngere Generationen, die Kernkörperchen, enthalte, die entweder in 
einer Flüssigkeit schwimmend oder in einem festen Stoffe eingebettet sich 
befänden. In Folge aller meiner Beobachtungen, die ich zum Theil dort 
durch Zeichnungen veranschaulicht mittheilte, stellte ich als allgemeines Ge- 
setz für die Bildung organischer Gewebe hin, dafs dieselben durch die Ver- 
einigung von anfangs freien, unmittelbar aus dem flüssigen Inhalte einer vor- 
handenen Mutterzelle entstandenen, uns in ihrem jüngsten Zustande als Körn- 
chen erscheinenden Bläschen oder Zellen entständen, dafs jede dieser Gewe- 
bezellen aus einer Reihe in einander befindlicher Zellen von denen die äu- 
[serste die älteste, die. innerste die jüngte sei, beständen, die jede in ihrer 
Weise zum Bestehen und zur Ernährung des Ganzen thätig seien. Die äu- 
fserste Haut, die Mutterzelle des ganzen Systemes, war bisher von den Ana- 
tomen für die einzig dasselbe darstellende gehalten worden, die während des 
Austrocknens des flüssigen Inhaltes sich durch das Ankleben des Rückstandes 
dieses Inhaltes verdicke. Man hatte hiebei übersehen, dafs jene Mutterzelle, 
von der anfangs dünnen Haut einer zweiten Zelle ausgekleidet wird, die im 
Innern desselben entstand und mehr oder weniger bald die Gröfse der Mut- 
terzellen erreichte. Erst in der Höhlung dieser Zelle befindet sich der so- 
genannte Zellkern als drittes Glied des endogenen Zellensystemes, eine Zelle, 
die in einigen Geweben nicht die vollkommene Entwickelung der sie umhül- 
lenden erreicht und dann nicht selten und in den in der Vermehrung begrif- 
fenen Geweben immer ein viertes Glied, die sogenannten Kernkörperchen, 


102 H. Kansten: 


gleichfalls Bläschen einschliefsend, die oft von einem undurchsichtigen kör- 
nigen Stoffe umgeben sind. Jenem zweiten Gliede dieses Zellensystemes, der 
Tochterzelle, sprach ich damals die gröfste Wichtigkeit für die Ernährung 
des ganzen Organismus zu; in ihm bilden sich entweder als Inhalt beson- 
derer Bläschen, die Absonderungsstoffe, die während späterer Entwickelungs- 
zustände wieder verbraucht werden, oder die Zellhaut selbst vermehrt ihre 
Masse, sie nimmt an Ausdehnung und Dicke zu, während jene Bläschen, 
scheinbar selbst unthätig, ihr anhängen, an den Berührungsstellen deren Ver- 
dickung verhindern und dadurch das durchlöcherte Ansehen derselben her- 
vorrufen. 

In dem folgenden Jahre erschienen drei Arbeiten über diesen Gegen- 
stand. Unger (Über merismatische Zellenbildung bei der Entwickelung 
des Pollens 1844) gab eine durch Einfachheit ansprechende, doch mit meinen 
Beobachtungen nicht übereinstimmende Lehre, von der Entstehung der Zel- 
len. Nach ihm bilden sich nur die Sporen- und Pollen-Zellen frei im In- 
nern einer Mutterzelle, wie Schleiden es angab, aus der in dieser enthal- 
tenen Gallerte und schleimigen Flüssigkeit, durch Niederschlag auf einen 
Kern; die verschiedenen Gewebe des ganzen, aus dieser Zelle sich hervor- 
bildende Organismus entstehen, wie Mohl es früher (1) (Tübingen 1835, 

(') Auch in den vermischten Schriften botanischen Inhaltes 1846 trägt Mohl noch 
diese Ansicht der Zellenvermehrung des Gewebes der Conferoa glomerata vor, der zu fol- 


gen ich jedoch auch jetzt noch anstehe, nachdem ich mich seit der ersten Bekanntschaft 
mit diesem Gegenstande vielfältig mit demselben beschäftigte. Durch die anhaltendste 
Beobachtung der verschiedensten Entwickelungszustände dieser Pflanze überzeugte ich mich, 
dafs das in der Tochterzelle enthaltene Chlorophyll nicht unmittelbar von dieser, sondern 
von einer Anzahl von Zellen dritten Grades umhüllt wird. In gewissen, wie es scheint 
krankhaften, Zuständen der Conferva glomerata schwindet das Chlorophyll bis auf eine ge- 
ringe Menge, während jene Zellen dritten Grades so verdickte Häute erhalten, dafs man 
sie ohne Schwierigkeit erkennt: ein solcher Faden hat dann das bekannte Ansehen eines 
Gummi- oder Saft-Gefälses einer höheren Pflanze, der durch eine später in ihm entstan- 
dene Zellenvegetation angefüllt wurde. Oft sind diese in der Tochterzelle enthaltenen 
Zellen so zartwandig, dals sie nach dem Zerreilsen des Fadens bei der Berührung mit dem 
Wasser zerstört werden. Ist es nun nicht sehr wahrscheinlich, dafs diese dünnen Zell- 
häute durch das Chlorophyll und den übrigen undurchsichtigen Inhalt verdeckt wurden und 
erst dann zur Erscheinung traten, wenn sie nach beendeter Ausdehnung sich zu verdicken 
anfangen? Auch Kützing, der Neifsigste Beobachter dieser Klasse von Pflanzen ist meiner 
Meinung, indem er (phycologia germanica 1845 p. 25) sich dafür erklärt, dals die Theilung 
der Zellen durch Bildung von Scheidewänden wahrscheinlich durch das Auftreten neuer 


die V egetationsorgane der Palmen. 103 


Über die Vermehrung der Pflanzenzellen durch Theilung) von der Conferva 
glomerata behauptete, durch fortgesetzte Theilung dieser Urzelle, vermit- 
telst hineinwachsender Scheidewände, von dem äufseren Umkreise. Die so 
entstandenen Zellen bestehen aus einer einfachen Haut und den darauf aus 
dem flüssigen Inhalte abgelagerten Schichten. 

Zu derselben Zeit theilte auch Hartig (das Leben der Pflanzenzelle 
1844) seine Beobachtungen über die Entstehung, die Vermehrung, Ausbil- 
dung und Auflösuug der Pflanzenzellen mit, wodurch er seine, im Jahre 1843 
ausgesprochene Ansicht über diesen Gegenstand erweitert. Nach ihm ent- 
stehen alle Zellen innerhalb eines Zwischenraumes der äufseren und inneren 
Oberfläche einer Zellhaut, Ptychode, die durch Spaltung getrennt ist, als 
kleine, vollkommene, wasserklare Bläschen. Einige dieser Bläschen, Epi- 
gonzellen, wachsen aus und treten zu einem Gewebe zusammen, nachdem 
um sie sich eine zweite Haut der Flüssigkeit, worin sie entstanden, nieder- 
schlug, die Asthate. Zwischen diesen Asthaten der benachbarten Zellen bil- 
den sich endlich eine sie verbindende Substanz, die Eustathe. 

Hartig hat sich durch diese Darstellung das Verdienst erworben dem 
Naturforscher ein warnendes Beispiel zu geben, wie sehr er sich verirren 
mufs, wenn er ohne Entwickelungsgeschichte und vergleichende Beobach- 
tungen auf eine oder wenige Erscheinungen Theorien und ganze Systeme 
aufbaut. — So weit ich ihm folgen kann ist Hartigs Ptychode die später sich 
spalten soll, die Tochterzelle, die Astathe die Mutterzelle des ganzen Sy- 
stems und die Eustathe ist verdichtete Zwischenzellsubstanz. 

Dieser von Hartig gegebenen Entwickelungsgeschichte der Zelle folgte 
Mohl zum Theil (Botanische Zeitung 1844 im 15‘ Stück) insofern er an- 
nahm, dafs die Ptychode (nach seiner Beschreibung unverkennbar die von 
mir nachgewiesene Tochterzelle) die zuerst entstandene des ganzen Systemes 


Zellen bewirkt werde. — Bei anderen Gattungen, wo in der Tochterzelle nicht Quer- 
scheidewände, sondern Längenscheidewände durch die Entwickelung dieser Zellen dritten 
Grades entstehen, ist es noch deutlicher zu sehen, dafs nicht etwa eine Einschnürung 
oder eine Ablagerung von Zellstoff? auf Schleimmassen etc. die Bildung derselben ver- 
anlasse; sehr bald wird man sich davon bei der Polysiphonia z. B. überzeugen, von wel- 
cher Gattung ich die P. szrieta in der Entwickelung, gemeinschaftlich mit meinem Freunde 
C. Jessen untersuchte, der mit einer gründlichen Bearbeitung dieser Familie sich beschäf- 


tigt. — 


104 H. Karsten: 


sei, weshalb er sie Primordialschlauch nennt. Mit Schleiden nimmt Mohl 
an, dafs sich dieser Primordialschlauch um einen Zellkern niederschlage; in 
dem in der Vermehrung begriffenen Gewebe sollen sich mehrere derselben 
bilden und dadurch eine äufsere sie einhüllende Zellhaut bekommen, dafs 
sich die Mutterzelle ringförmig einschnürt oder von ihr ausgehend eine ein- 
fache Scheidewand in den Zellraum hineinwächst, die sich später spaltet, für 
jeden der Primordialschläuche auf diese Weise eine eigne Hülle gebend. 
Der Primordialschlauch soll später aufgesogen werden und dann sich die 
Niederschläge auf die durch Abschnürung entstandenen Zellen sammeln. 

Nach Mohl und Unger besteht also der ausgewachsene Organismus 
aus der vergröfserten und durch vielfach wiederholte Abschnürung und Schei- 
dewandbildung in viele Höhlungen getheilten Mutterzelle (Pollenzelle Un- 
ger — Embryonalsack Mohl) in welchen Höhlungen sich Niederschläge aus 
dem flüssigen Inhalte auf die Zellhaut bilden. 

So abweichend nun auch diese Angaben der verschiedenen Beobach- 
ter über die Bildungweise der Zelle sind, so kommen alle doch darin überein, 
dafs in jenem mit trüber, körniger Flüssigkeit erfüllten Gewebe besonders 
die Vermehrung der Zellen stattfindet. Schleiden läfst sie um Schleimku- 
geln im Innern von Mutterzellen sich niederschlagen, Mohl und Unger 
durch Abschnürungen und Scheidewandbildungen eine vorhandene Zelle sich 
theilen, Hartig in dem durch Spaltung einer Zellhaut entstandenen Zwi- 
schenraum frei als Bläschen entstehen, während ich früher behauptet hatte, 
die Entstehung dieser kleinen Bläschen, die uns mit den jetzigen Hülfsmitteln 
anfangs als kleine Körnchen erscheinen, finde in der Höhlung einer der Zel- 
len selbst, des in einandergeschachtelten Systemes statt(!). Ob esimmer die 
dritte Zelle, Robert Brown’s Zellkern, sei, in der die vermehrte Zellenbil- 
dung vor sich gehe, liefs ich damals unentschieden und bin auch jetzt für 
das Cambium noch nicht zu einer Überzeugung gekommen, da der Beobach- 
tung dieses von äufserst zarten, durchsichtigen Häuten gebildeten Gewebes, 
das mit einer trüben, undurchsichtigen Flüssigkeit angefüllt ist, sich so gro- 
fse Schwierigkeiten entgegenstellen. Die Erscheinungen, die das, den Zu- 


(') Naegeli giebt zu viele verschiedenartige Entstehungsweisen der Zelle an, als dafs 
es sich in Kürze hier wiedergeben liefse, delshalb verweise ich auf seine Zeitschrift für 
wissenschaftliche Botanik 1844 - 1847. 


die V egetationsorgane der Palmen. 105 


‘stand des zellenvermehrenden Gewebes, des Cambium, verlassende Paren- 
chym zeigt, lassen vermuthen, dafs es auch hier die dritte Zelle ist, in der 
die folgende Generation in vermehrter Anzahl gebildet wird. Von der che- 
mischen Zusammensetzung, der dem Gewebe zugeführten Nahrungsflüssig- 
keit scheint es abhängig, ob die Häute der Zellen oder deren Inhalt an Masse 
zunehmen: eine Ammoniak enthaltende Flüssigkeit vermehrt die Dichtigkeit 
und Undurchsichtigkeit des Zellsaftes, so wie die Anzahl der in ihm schwim- 
menden Körnchen und Bläschen, während in einem Cambium, das in einer 
an Kohlensäure reichen Luft wuchs, sich die Zellenhäute verdickten und 
vergröfserten und der flüssige Inhalt klar und durchsichtig wurde; es schien 
aus dem Zustande des Cambiums in den eines parenchymatischen Gewebes 
übergegangen zu sein. | 

In der Gipfelknospe des Stammes, so wie in dem Cambium, das zwi- 
schen dem Ende des eigentlichen Gewebes der Wurzel und der Wurzel- 
mütze sich befindet, sondern sich die äufseren Schichten desselben theilweise 
als Parenchym ab, d.h. als ein Gewebe, dessen Zellen aufgehört haben ei- 
nen Saft zu enthalten, der geeignet ist zur Bildung neuer Generationen von 
Zellensystemen Veranlassung zu geben; dessen dritte (innere) Zellen viel- 
mehr in ihrer ferneren Entwickelung gehemmt sind, während neben diesen 
aus dem Zellsafte sich andere Bläschen bilden, deren Inhalt Stoffe sind, die 
später zur Ernährung der Pflanze verbraucht werden. 

Es ist nun die Frage zu beantworten: sind es die Zellen, die unmittel- 
bar das Cambium zusammensetzten, die bei dieser veränderten Ernährung das 
Parenchym des Markes und der Rinde bilden, die unter anderen Verhältnissen 
fortgefahren haben würden durch endogene Zellenbildung zur Vermehrung 
des Gewebes beizutragen: oder sind es die in den Cambiumzellen enthaltenen 
Anfänge einer jüngeren Generation, die zu dem in anderer Weise thätigen 
Gewebe des Markes auswuchsen, denen schon bei ihrer ersten Bildung durch 
den Ort und die Verhältnisse ihres Entstehens es versagt war zu einer ferneren 
Zellenvermehrung Veranlassung zu geben. Ich entscheide mich aus folgen- 
den Gründen für den zweiten Fall: In dem eigentlichen Cambium finden wir 
immer mehrere sogenannte Kernkörperchen d.h. Anfänge neuer Generatio- 
nen von Zellensystemen, die zur Vermehrung der Zellen, zur Vergröfserung 
des Gewebes bestimmt sind; in denjenigen Zellen, die an der Grenze des 
Cambiums in der Umbildung zu Parenchym begriffen sind, so wie in diesem 


Phys. Kl. 1847. ) 


106 H. Karsten: 


Gewebe selbst, finden wir regelmäfsig nur ein Kernkörperchen in den unent- 
wickelten dritten Zellen, es ist in diesem Zustande nicht zur Vergröfserung 
des Gewebes durch Zellenvermehrung fähig, woraus folgt, dafs in der regelmä- 
fsig ernährten, gesunden Pflanze die in der Mitte des Cambiums befindlichen 
Zellen nicht den Parenchymzellen gleichwerthig sind, nicht unmittelbar diese 
geben können, da jene durch ihren Inhalt zur Zellenvermehrung bestimmt 
sind, während die Parenchymzellen vielmehr regelmäfsig nur fähig sind Ab- 
sonderungsstoffe hervorzubringen. — Ferner sieht man an krankhaft ernähr- 
ten Pflanzen und zwar zuerst an solchen, denen stickstoffhaltige Nahrung 
mangelte, während Kohlensäure im Überschusse vorhanden war, dafs nicht 
die Mutterzellen des eigentlichen Cambiums selbst Stärke und die übrigen 
Absonderungsstoffe in sich entstehen lassen, sondern die in ihnen gebildeten 
Zellengenerationen sich auf diese Weise entwickeln, während der flüssige, 
schleimige Inhalt verbraucht und eine fernere Bildung von Cambiumzellen 
unterdrückt wird, ja selbst gänzlich verhindert werden kann, wenn diese wi- 
dernatürliche Ernährung lange genug fortgesetzt wird, wodurch dem Wachs- 
thume und Leben der Pflanze ein Ziel gesetzt ist(!). Dann zweitens an sol- 
chen Pflanzen, denen ein Überschufs von Stickstoff enthaltender Nahrungs- 
flüssigkeit zugeführt wurde, während Kohlensäure mangelte, dafs auch hier 
die Zellen der Oberfläche des Cambiums aufhören zur Zellenvermehrung 
beizutragen zu Stärke enthaltenden Markzellen werden, während im Mittel- 
punkte des Cambium-Gewebes eine lebhafte Zellenbildung stattfindet. — 
Aus allen diesen Erscheinungen scheint mir hervorzugehen, dafs die 
Haut einer Cambiumzelle und der damit in Wechselwirkung stehende Inhalt 
derselben hinsichts der physikalischen und chemischen Beschaffenheit verschie- 
den ist, von einer jungen Parenchymzelle, dafs eine eigentliche Cambiumzelle 
nicht zur Parenchymzelle werden kann: wohl aber, dals die Erzeugung von 
Parenchymzellen in den Cambiumzellen beschleunigt, die Bildung neuer 


5 
Cambiumzellen unterdrückt werden kann durch eine Veränderung der che- 


(') Ich stellte mehrere Gipfelknospen verschiedener Palmenstämme, von denen die 
ausgewachsenen Blätter entfernt waren, in Kohlensäure, die rasch in Menge aufgesogen 
wurde; nach mehreren Tagen war das Markgewebe gröfser und mehr in die Länge ge- 
streckt und enthielt bedeutend weniger Stärke in demselben, wie eine gesunde Knospe. 
Die Menge der Cambium-Bündel entsprach der Menge der Stärke, es schienen bei jenen 
keine neuen Cambium-Bündel sich abgesondert zu haben. 


die Vegetalionsorgane der Palmen. 107 


mischen Beschaffenheit des zugeführten Nahrungsstoffes (1), da es nur wahr- 
scheinlich ist, dafs der verschiedene Inhalt beider mit einer verschiedenen 
chemischen Mischung ihrer Häute im innigen Zusammenhange steht. 

Das erste Gewebe also, das sich im Stamme von dem Cambium son- 
dert, ist das Parenchym; es sind bei den Palmen einzelne Zellenschichten 
an der inneren und äufseren Seite derkegelförmigen Cambium-Spitze desStam- 
mes, in deren Tochterzellen Stärke entsteht, während die dritte, innere Zelle 
in ihrem Wachsthume zurückgehalten wird, keine gröfsere Anzahl neuer Zel- 
len in ihr sich bilden, und sie selbst oft später wieder zu verschwinden scheint. 
Durch diese Bildung von Parenchym, das als Mark nach innen, als Rinde 
nach aussen mit den Blattanlagen sich absondert, werden einzelne Bündel 
von Cambium - Zellen von dem übrigen Cambium getrennt, es sind dies die 
Anlagen der künftigen Holzbündel. — 

In den Parenchymzellen des Markes treten nun Stärkebläschen auf, und 
zwar entstehen sie meistens zu vieren in einem zartwandigen Bläschen, das in 
dem natürlich ernährten Gewebe kaum zu erkennen ist, da es hier der Stärke 
eng anliegt, in den jüngsten Markzellen solcher Pflanzen, die einige Tage 
in Kohlensäure wuchsen, jedoch nicht leicht übersehen werden kann, da hier 
nicht nur jene Hülle weit dicker geworden ist, sondern auch so sich vergrö- 
fsert hat, dafs sie von den klein gebliebenen, noch zu vieren zusammenhän- 
genden Stärkebläschen weit entfernt ist. Diese Bläschen oder Mutterzellen 
der Stärke sind später nicht mehr aufzufinden, die Stärkebläschen hängen dann 
meistens der Haut der Tochterzelle, (der zweiten Zelle des Zellensystemes) 
an, und in dem ausgewachsenen, älteren Gewebe ist auch die Stärke ver- 
schwunden, während die Tochterzelle punktirt verdickt ist(?). Obzu derEnt- 


(') Der Umstand, dafs die jüngste Anlage neuer Zellensysteme des Cambiums, die 
sogenannten Kernkörperchen, je nach der Mischung der Nahrungsflüssigkeit zur Entstehung 
von Cambium- oder Parenchymzellen Veranlassung geben können, den etwas weiter aus- 
gebildeten, schon eine folgende Zelle (die Absonderungsstoffe bildende, zweite) enthaltenden, 
dagegen eine bestimmte Thätigkeit vorgeschrieben ist, macht es wahrscheinlich, dafs die 
chemische Zusammensetzung der äufsersten, ersten Zelle jedes Systems der verschieden- 
artigen Gewebe anfangs eine gleiche, dagegen die Mischung der zweiten, die Absonde- 
rungsstoffe enthaltenden Tochterzelle der verschiedenen Gewebe eine verschiedene ist. 

(*) Mettenius beobachtete eine ähnliche Entstehung des Chlorophylls in kleinen 
Bläschen, die im Zellsafte der Haare der Salwinia schwimmen und beschreibt diesen Vor- 
gang in seinem „Beitrag zur Kenntnils der Rhizocarpeen 1846” p.51. — Auch Naegeli 


02 


108 H. Kasnsten: 


stehung dieser nicht verdickten Stellen das Anhängen der Stärkebläschen Ver- 
anlassung giebt, so wie es bei den punktirten Holzzellen durch andere Bläschen 
geschieht, lasse ich unentschieden, wenn mir auch viele Erscheinungen da- 
für zu sprechen scheinen. Die Form der Zellen ist in allen Palmenstämmen 
die ich untersuchte eine vieleckige, wie sie dem Markparenchyme meistens zu- 
kommt, die zn einem zusammenhängenden Gewebe eng vereinigt sind, nur 
bei der Klopstockia werden die Zwischenzellräume so bedeutend erweitert, 
dafs dasMark die Form des sogenannten lungenförmigen Parenchym’s annimmt. 
Diese Zwischenzellgänge enthalten immer eine Luft die durch Ammoniak 
nicht aufgesogen wird, während der in den Zellen enthaltene Saft, Kohlen- 
säure aufgenommen hat, die durch stärkere Säuren ausgetrieben wird, oder 
auch in älteren Geweben saftleer, mit reiner Kohlensäure gefüllt sind. Grofse 
Zwischenzellräume von der Form regelmäfsiger Kanäle fand Mohl iin dem 
Markgewebe beiCalamus, Astrocaryum gynacanthum und vulgare, Mauritia 
vinifera und armala. 

In allen Palmen ferner finden sich in dem Markparenchyme zwischen 
den Holzbündeln einzelne, senkrecht übereinander stehende Zellenreihen, die 
meistens mehr erweitert und länger gestreckt sind wie die benachbarten und 
Bündel von Raphiden oxalsaurer Bittererde enthalten, der Saft röthet über- 
dies das blaue Lackmuspapier. Mohl sagt ausdrücklich, er habe nie Raphi- 
den im Palmenstamme gefunden, ich kann mir dies nur dadurch erklären 
dafs dieselben in älteren, getrockneten Stämmen die er untersuchte, zerstört 
werden. In dem Gewebe lebender Pflanzen findet man sie noch lange nach- 
dem die Stärke des Parenchyms schon verschwunden ist. Die Höhlungen 
der Zellen in denen sie enthalten sind, sind nicht durch Zerstörung der sich 
berührenden Wände mit einander vereinigt, wie es in ähnlichen Organen der 
Wurzeln der Fall ist, doch besitzen die benachbarten Zellen oft dünnere 
Wandungen sind mit Gummi gefüllt und ragen dann zum Theil in die Höh- 
lung dieser weiten Zellen hinein, wodurch letztere das Ansehen von Gum- 
migefäfsen erhalten. 

In der Rinde enthalten die der Oberhaut näheren Zellen Chlorophyll, 
die das Mark begrenzenden Stärke. Die Häute dieser Zellen werden gleich- 


sah diese Bildungsweise des Chlorophylls und der Stärke in dem Zellgewebe der Caulerpa 
prolifera (Zeitschrift für wissenschaftliche Botanik 1844. I. p. 149). 


die V egetationsorgane der Palmen. 109 


falls punctirt verdickt nach dem Schwinden ihrer, in Bläschen enthaltenen, 
Absonderungsstoffe (!), diejenigen der äufseren, früher Chlorophyll, enthal- 
tenden werden dann oft braun gefärbt. Ebenso wird das zum Theil in Holz- 
und Bast-Zellen umgeänderte Gewebe des Cambium-Oylinders nach der Ver- 
holzung meistens braun gefärbt und diejenige Zellen desselben, die die Form 
des Parenchyms annehmen, bekommen früher wie das übrige Zellgewebe 
verdickte, punktirte Wandungen. 

Die Zellen der Oberhaut, die sich sehr früh aus dem Cambium aus- 
sondern, sind meistens mit einer hellen, durchsichtigen Flüssigkeit angefüllt. 
Bald nach der Sonderung aus dem Cambium enthalten sie in der Tochter- 
zelle Stärke, die zu der Zeit des Erscheinens des Chlorophylls verschwindet. 
In der Oberhaut des Stammes, der Blattscheide, des Blattstieles und der un- 
teren Blattoberfläche bilden sich zu dieser Zeit Spaltöffnungen. Bei der 
Klopstockia sah ich, dafs in einer Tochterzelle der Epiderims aufser den 
Stärkebläschen, zwei andere mit einer schleimigen Flüssigkeit angefüllte 
Bläschen erschienen, die sich beide so ausdehnten, dafs sie bald fast die 
Mutterzelle ausfüllten, während die Stärkebläschen jetzt deren Membran an- 
hingen. Auf Zusatz von Ammoniak färbte sich der Inhalt dieser beiden Bläs- 
chen schön grün, (ebenso wie später diejenigen Zellen der Rinde und des 
Blattes in denen Chlorophyll gebildet wird) während der Saft der übrigen, 
nur Stärke enthaltenden, etwas kleineren Oberhautzellen nicht gefärbt wurde. 
Zwischen diesen beiden endogenen Zellen dritter Ordnung sammelt sich dar- 
auf ein Gas, das durch Ammoniak nicht absorbirt wird, bevor die Häute 
der Mutterzellen (erster und zweiter Ordnung) an dieser Stelle zerreifsen und 
der Atmosphäre dann Zutritt in die Spaltöffnung gestatten. Man sieht deut- 


(') Denjenigen, die sich noch immer nicht von dem Vorhandensein einer das Chloro- 
phyll und die Stärke umhüllenden Zellhaut überzeugen konnten, rathe ich eine Con- 
ferve in destillirtes Wasser, dem eine schwache Lösung von kohlensaurem Ammoniak zu- 
gesetzt worden, zu bringen und diese so längere Zeit in ihrem Wachsthume zu beobach- 
ten. Man sieht hier das Chlorophylibläschen sich um das 3-4 fache ausdehnen, während 
die Farbe lichter wird und in dem Mittelpunkte ein dunkles Kernchen auftritt, das sich 
nach und nach zum Bläschen ausdehnt, welches eine Flüssigkeit einschliefst, die durch Jod 
gelb odes braun gefärbt wird. Nimmt man statt des destillirten Wassers Brunnenwasser 
und leitet Kohlensäure hinein, so findet sich in dem endogenen Bläschen, statt des sich 
mit Jod braun färbenden, ein sich blau färbender Stoff. Dasselbe findet man häufig, ohne 
diese Vorbereitung, in der natürlich ernährten Pflanze. 


110 H. Karsten: 


lich, dafs sich die Luft von diesem Orte aus in die Zwischenzellräume des 
benachbarten Gewebes verbreitet, wodurch es wahrscheinlich wird, dafs 
auch an der der Oberfläche entgegengesetzten Seite die Epidermialzelle an 
der Berührungsstelle der zuerst in ihrer Höhlung sich zwischen den beiden 
Schleimzellen ansammelnden Luft, eine Öffnung bekam. — Auf ähnliche 
Weise hat Naegeli (Linnaea Bd.16 p.237) die Entstehung der Spaltöffnun- 
gen beobachtet. 

Oft wachsen einzelne Zellen der Oberhaut zu Borsten aus, während 
die ihnen zunächst stehenden, sich etwas vergröfsern und dem Grunde der 
Borste gleichsam als Stütze dienen, die nach der Entfaltung der Gewebe ab- 
fällt; ich beobachtete dieselben an der Iriartea und Oenocarpus. In anderen 
Fällen verlängern sich einzelne Bündel von Zellen über die Oberhaut hinaus 
zu langen, harten, sehr stechenden Stacheln, wodurch sich besonders meh- 
rere Gattungen der Cocoineen auszeichnen. Bei der Martinezia aculeata Kl. 
wo mehrere Kreise von Stacheln unterhalb jeder Blattstielbasis hervorkom- 
men, untersuchte ich die anatomischen Verhältnisse genauer. Sie bestehen 
hier aus langgestrecktem Zellgewebe und sind auf der unteren Seite von einem 
Bastbündel durchzogen, dafs die Fortsetzung eines in der Rinde befindlichen 
bildet. Oberhalb der Abgangsstelle der Stacheln wächst das epidermiale 
Zellgewebe zu einem Kissen aus, das sich bei der Entfaltung des Blattes aus- 
dehnt und die, während der Knospenlage nach oben gerichteten, dem Stamme 
dicht anliegenden Stacheln zurückbiegt, so dafs dieselben später abwärts ge- 
richtet sind. Eben solche Stacheln bedecken auch die Blattscheiden, die un- 
tere Blattstielfläche und zuweilen auch die untere Seite der Mittelrippe der 
Blätter. 

Bei einigen Gattungen bedeckt ein dichter Filz von eylinderförmigen, 
langen, gegliederten Haaren die Oberfläche der Pflanze. Anfangs bilden diese 
Haare eine zusammenhängende Schicht, ein Gewebe, in dessen Zwischenzell- 
räumen sich ein Gas ansammelt, das durch Ammoniak nicht aufgesogen wird, 
während in den Zellen selbst, eine helle, klare Flüssigkeit sich befindet, die 
durch Jod gelb gefärbt wird. In älteren Haaren wird dieser Zellsaft durch 
Kohlensäure ersetzt. Gründlichere Untersuchungen der chemischen Vor- 
gänge während des Wachsthums der Haare werden vielleicht ergeben, dafs 
sie den jungen Organen des Stammes ebenso als Sammler und Überträger 
der durch die Atmosphäre dargebotenen Nahrungsstoffe dienen, wie ich es 


die Vegetationsorgane der Palmen. 111 


weiter unten für die Zellen der Wurzelmütze, in Bezug auf das Gewebe der 
Wurzel, in Anspruch nehmen werde. 

Eine sehr bemerkenswerthe Veränderung erleiden die Häute der Epi- 
dermialzellen des Stammes der Klopstockia insofern dieselben während des 
späteren Wachsthumes so verändert werden, das der Zellstoff vollkommen in 
einen wachsartigen Stoff umgeändert wird. Es ist diese Thatsache beson- 
ders defshalb wichtig, weil sie einen schönen Beweis von der Nichtigkeit der 
Theorie der Niederschläge aus dem Zellsaft als Verdickungsmittel der Zell- 
wände liefert. Hier ist es nicht möglich, dafs Wachs als eine Ablagerung 
aus dem Zellsaft auf die Zellhaut oder gar als eine Ausschwitzung auf die 
Oberfläche derselben anzusehen, da die ganze Schicht der Oberhautzellen 
in heifsem Alkohol löslich ist(!). Diese Bildung desselben ist allein durch das 


(') Die Analyse dieser in siedendem Alkohol löslichen Zellen führte mich zu einem 
ähnlichen Ergebnifse, wie Boussingault es bei der Untersuchung des von Ceroxylon 
andicola Humb. et Bonpl. gesammelten Wachses erhielt. Boussingault fand diese Palme 
im Quindiu-Gebirge in einer Höhe von 6800’, wo die mittlere Luftwärme 14°4 R. be- 
trug (Annales de Chimie et de Physique Tom. LIX und Erdmanns Journal Bd. V. 1835). 
Die Klopstockia, die mir das Wachs zur Analyse lieferte, wuchs in der Provinz Caracas 
in einer Höhe von 6000’, in einer mittleren Luftwärme von 14°4 R. — Das Wachs von 
Ceroxylon fand Boussingault zusammengesetzt aus einem in kaltem Alkohol sehr schwer 
löslichen, in siedendem Wasser schmelzenden Wachse und einem in kalten Alkohol leich- 
ter löslichen Harze, dessen Schmelzpunkt höher liegt wie die Siedehitze des Wassers. 
Ganz gleich verhält sich das Wachs der Klopstockia. Das Harz scheidet sich aus dem et- 
was verdunsteten Alkohol in Krystallen von blendender Weilse ab, die zum 2 und 1 glie- 
drigen Systeme gehören. In dem Alkohole bleibt ein sehr bitterer Stoff gelöst, der sich 
erst bei dem völligen Verdunsten abscheidet. Boussingault spricht die Vermuthung aus, 
es möchte vielleicht ein Alkaloid sein. Es ist ein brauner, stickstoffhaltiger, den Chinoidin 
ähnlicher Körper, der wohl nicht aus den farblosen Wachszellen, sondern aus dem, unter 
denselben befindlichen, punktirt verdickten, Chorophyll enthaltenden Rindengewebe der 
Palme stammt, das man bei dem Abschaben der ersteren schwierig unversehrt lassen kann. 
Die Verbrennung des krystallinischen Stoffes in der von Hess und Marchand zu diesem 
Zwecke angegebenen Vorrichtung ergab folgende Zusammensetzung desselben: 


1. Il. 
C. 81.37 81.66 


daraus berechnet ?*H. 11.32 11.01 
ONen.31 7.33 


I Substanz = 0.2985 Gramm gab CO, = 0.2424 H,O = 0.338 


II » = 0.3063 » » » =0.2499 » = 0.337 
Boussingault fand folgendes Verhältnis: 

I Substanz = 0.320 Gramm gab CO, = 0.960 H,O = 0.333 C. 0.831 .0.837 

daraus berechnet In 0.115 0.115 


u » =0334 » >” 9 SO Es 0. 0.054 0.048 


112 H. Karsten: 


der Zellmembran inwohnende Vermögen zu erklären aus dem Nahrungssafte, 
mit dem sie getränkt ist, dasjenige zu assimiliren, mit demjenigen Theile des- 
selben sich chemisch zu verbinden, der geeignet ist mit ihrer Substanz ein 
ihrer Natur und ihrer Bedeutung für den Pflanzenkörper entsprechendes Pro- 
duckt hervorzubringen. Eine einigermafsen genaue chemische Prüfung der 
Zellmembranen der verschiedenen Gewebe mit Berücksichtigung der Entwik- 
kelungsgeschichte derselben wird überall in dem organischen Körper eine sol- 
che chemische Veränderung seiner Elementarbestandtheile nachweisen. Als 
auffallendste Beispiele erinnere ich hier nur an die Veränderung der Häute 
des Bastgewebes der Farne, Palmen u. a. m. wo zugleich mit der chemischen 
Umsetzung eine Farbenänderung eintritt, oder an die Verbindungen gewisser 
Zellhäute mit bestimmten erdigen Bestandtheilen, wie der Kieselerde in den 
Oberhautzellen und den Bastfasern der Gräser, der Kalkerde in der Zellmem- 
bran vieler Wasserpflanzen z. B. der Converven, Charen, Potamogotenen ete.; 
es bietet dieser Gegenstand noch ein weites, bisher fast gänzlich unbekanntes 
Feld der organischen Chemie, dessen Bearbeitung dem Physiologen eine der 
nächsten Aufgaben sein mufs. — 

Wir sahen oben, dafs durch das Entstehen der Parenchymzellen an 
bestimmten Stellen des Cambiums einzelne Bündel dieses ietzteren von der 


Diese durch die Rechnung gefundenen, scheinbar von den meinigen abweichenden Zahlen 
nähern sich denselben jedoch mehr, wenn man für ein Äquivalent des Kohlenstoffs, die 
von Dumas angegebene Zahl 75 der Rechnung zum Grunde legt, wie ich es that. 

Die Verbrennung des Wachses gab folgende Resultate: 


I; AT; 
I Substanz = 0.288 Gramm gab CO, = 0.2275 H,O = 0.0369 C. 73.99 78.81 
daraus berechnet ?H. 12.74 12.10 
II » = 0.285 » » » =02246 » = 0.0345 ©. 8.27 9.09 
Boussingault fand für den von ihm abgeschiedenen Körper: 
I Substanz = 0.297 Gramm gab CO, = 0.372 H,O = 0.350 C. 0.8312 0.816 
daraus berechnet ?H. 0.113 0.133 
II >» = 0.308 » » » =09%9 » = 0.369 0. 0.057 0.051 


Diese etwas grölsere Kohlenstoffmenge der Boussingault’schen Analyse rührt vielleicht da- 
her, dafs das Wachs nicht gänzlich von dem an Kohlenstoff reicheren Harze [rei war. Dem 
Ergebnisse meiner Analyse zu vertrauen bin ich um so mehr berechtigt, da ich die grölsere 
Sicherheit des von mir benutzten Apparates noch dadurch erhöhte, dafs ich, auf den Rath 
meines Freundes W. Heintz, Kupferoxyd hinter der zu verbrennenden Substanz anbrachte 
und vor der Verbrennung zum Glühen erhitzte, um eine Verpuffung der Zersetzungspro- 
dukte zu verhindern. — 


die V egetaiionsorgane der Palmen. 1483 


Hauptmasse getrennt und durch die nach oben hin fortschreitende Umbildung 
des Cambiums in Parenchym in bestimmter Richtung verlängert wurden, bis 
sie endlich, mit der sich von der cambialen Spitze des Stammes entfernenden 
Blattanlage zusammentreffend, in das Gewebe dieser sich hineinverlängerten. 
In dieser cambialen Holzbündel-Anlage, deren unteres Ende in dem Cam- 
bium-Oylinder liegt der Rinde und Mark trennt, dauert nun gleichfalls noch 
die Zellenvermehrung und eine gleichzeitige Umbildung in Parenchymzellen 
eine kurze Zeit fort, wodurch das diese Holzbündel umgebende Parenchym, 
wie dieses cambiale Holzbündel selbst, noch nach der Trennung von dem 
Cambium der Gipfelknospe an Umfang gewinnen. 

Die erste Sonderung in den Zellen dieser Holzbündelanlage besteht 
in der Bildung von Spiralfasern, durch Verwachsen einer senkrechten Zel- 
lenreihe, der Mitte dieses Bündels nahe. Es nimmt diese echte, abrollbare 
Spirale ihren Anfang von dem ersten Trennungspunkte der Holzbündelanlage, 
von dem Cambium-Gylinder und schreitet von hier nach den höheren, später 
von dem Cambium der Spitze getrennten Theilen desselben fort, sich in das 
Blatt, gleichzeitig mit der in diesem stattfindenden Umbildung des Cambium, 
von unten nach oben verlängernd. Da mit der ersten Trennung der Holz- 
bündel-Anlage von dem Cambium-Cylinder in diesem noch nicht die bildende 
Thätigkeit erlischt, sondern sowohl die Vermehrung der Cambium-Zellen 
wie die Umbildung in Parenchym eine Zeit lang fortbesteht und zwar letzteres 
nicht nur in tangentialer, sondern auch in radialer Richtung so bleibt die 
ursprüngliche Trennungsstelle des Holzbündels von dem Holzeylinder nicht 
das untere Ende desselben, sondern wird durch diese in dem cambialen Holz- 
cylinder selbst fortdauernde Parenchymbildungnoch etwas nach unten verlän- 
gert. Diese Verlängerung ist nicht als ein Abwärtswachsen des Holzbündels 
anzusehen, sondern ein rein passives, allein durch die fortdauernde, theilweise 
Umbildung der Zellen des Cambiumeylinders im Parenchym veranlafst, und 
zwar besonders dadurch, dafs diese Umbildung auch in radialer Richtung 
erfolgt, wodurch der Cambium-Cylinder in senkrechte Bündel von Paren- 
chym und Cambium getrennt wird von denen Letztere die Verlängerungen 
der Holzbündelanlagen bilden. Dies Parenchym, das die Rinde mit dem 
Marke verbindet, und daher mit den Markstrahlen der Dieotylen verglichen 
werden kann, verholzt etwas früher zu punctirt verdickten Zellen, wie diese 


Phys. Kl. 1847. P 


414 H. Karsten: 


besitzt es häufig eine von dem Parenchym abweichende Form, den tafel- 
förmigen Zellen ähnlich. 

Über die Bildungsweise der ersten, sehr engen, abrollbaren Spiralen, 
die aus den Cambiumzellen entstehen, kann ich keine Beobachtungen ange- 
ben; sie entzieht sich bei den jetzt anwendbaren Hülfsmitteln gänzlich allen, 
auch den aufmerksamsten Nachforschungen, uns bleiben nur Vermuthungen 
auf die sehr ähnliche Form der Spiralzellen gestützt, die oft den Anfang der 
Bildung der Spiralfasern machen, ohne wie diese vereinigt zu sein. In diesen 
langsamer vor sich gehenden Bildungen hat man Gelegenheit zu sehen, dafs 
sie aus einer ähnlichen Grundlage hervorgehen, wie die punctirten Zellen die 
ich schon früher (de cella vitali p. 33. T. I. Fig. 2.) beschrieb und abbildete, 
und die ich seitdem oft beobachtete. (Vergl. T.vıı Fig.1.). 

Diesem ersten Erscheinen der Spiralen folgt nun das Entstehen ande- 
rer Holzfasern in ihrer Nähe, indem zugleich’ die Bildung neuer Zellen im 
Umkreise des Cambium-Bündels aufhört, wodurch der Vermehrung der 
Parenchymzellen ein Ziel gesetzt ist. Diese äufseren Zellen des cambialen 
Holzbündels besitzen eine spindelförmige oder eylinderische Gestalt; in den- 
jenigen, die dem Parenchym zunächststehen, befinden sich häufig noch die 
Anfänge einer neuen Generation, die sogenannten Zellkerne, die dann in 
ihnen senkrecht übereinander liegen, und auch an älteren Holzbündeln noch 
deutlich erkennen lassen, dafs an dem ganzen Umkreise desselben die Pa- 
renchymbildung stattfand. 

Mit der Sonderung jener spindelförmigen Zellen zugleich erscheinen 
in der Mitte des Cambiumbündels eine oder zwei sehr erweiterte, verticale 
Zellenreihen, die, umgeben von den trüben, undurchsichtigen, doch gleich- 
falls etwas erweiterten Cambium-Zellen, sich durch ihren klaren Inhalt aus- 
zeichnen: sie durchziehen das ganze Bündel, auch den unteren Theil, der keine 
Spiralen besitzt; hier sind sie dann von einer geringen Schicht Cambium-Zel- 
len umgeben, indem der gröfste übrige Theil des Holzbündels aus jenen spin- 
delförmigen Zellen besteht. In diesem untersten den Holzeylinder bildenden 
Theil des Holzbündels ist nur eine, dieser weiten Zellenreihen vorhanden, 
während sich in den oberen umfangreicheren Theilen meistens zwei derselben 
befinden, die dann durch eine einfache oder mehrfache Schicht von Cam- 
bium-Zellen getrennt sind. 


die F egelationsorgane der Palmen. 115 


Zwischen diesen sehr weiten, mit einem klaren Safte erfüllten, Zellenrei- 
hen und den zuerst in dem Cambium entstandenen abrollbaren Spiralen ent- 
stehen nun, durch Ausdehnung der Cambiumzellen, eine gröfsere Menge von 
Holzfaseranlagen, den Spiralen zunächst die zuerst auftretenden engeren, 
weiter von ihnen entfernt ähnliche von gröfserem Durchmesser. Alle ent- 
halten eine klare durchsichtige Flüssigkeit, in der meistens nur nach Anwen- 
dung von Jod zartwandige kleine Bläschen sichtbar werden. Zuweilen findet 
man indessen auch in diesen neuen Fasern des Stammes einen ähnlichen fe- 
sten gallertartigen Stoff, wie er sich in den Zellen und Fasern der durch stick- 
stoffreiche Flüssigkeit ernährten Wurzel fand (man vergl. w.u.), der sich im 
Wasser löste und dann die Bläschen erkennen liefs die er umhüllte. 

Durch diese Umänderung des Cambiums in spindelförmige Zellen an 
der Oberfläche des Bündels, besonders an der der Stammoberfläche zugewen- 
deten Seite desselben, so wie in Holz-Zellen und-Fasern in der Nähe der Spi- 
ralfasern, ist in dem etwas weiter ausgebildeten Holzbündel das Cambium 
auf eine kleine Stelle in der Mitte desselben beschränkt: es besteht hier aus 
engen, dünnwandigen, cylinderförmigen Zellen, die mit einer trüben, Körn- 
chen und Bläschen enthaltenden Flüssigkeit erfüllt sind die durch Jod, mit 
ihrem Inhalte an festen Bestandtheilen, gelb gefärbt werden; Stärke ist weder 
in diesen Zellen noch in den übrigen des Holzbündels zu irgend einer Zeit 
enthalten. 

In etwas älteren Holzbündeln, deren Spiralfasern mit dem oberen Ende 
schon in eine Blattanlage verlängert sind, enthalten die früher spindelförmi- 
gen abgerundeten, jetzt zugespitzten oder prismatischen Zellen des Umkrei- 


8 
ses sowohl wie die die Spiralfasern umgebenden Holzzellen eine gummiartige 
Flüssigkeit die durch Ammoniak grün gefärbt wird, es sind dann die Häute 
dieser Zellen meistens schon etwas stärker geworden, als Anfang einer jetzt 
schon beginnenden Verdickung. Das Prosenchym erhält zuerst an der Grenze 
des Parenchyms die verdickten Wandungen, und zwar vorzüglich die senk- 
rechten Wände, während die wagerechten nicht verdickt werden, ja selbst häu- 
fig später verschwinden wodurch eine Vereinigung der Zellen zu Fasern her- 
vorgebracht wird; dann folgen die dem Mittelpunkte des Bündels näheren 
Zellen, die Verdickung dieser Haut ist meistens gleichförmig, selten durch 
einzelne Poren-Canäle unterbrochen. Die Verdickung der den Spiralen nahe- 


stehenden Zellen zu punktirten oder treppenförmigen und ihre Vereinigung 


5 
P2 


116 H. Karsten: 


zu Holzfasern, beginnt jedoch mit den sie unmittelbar berührenden und er- 
streckt sich später auch auf die der Mitte des Bündels näheren; auch hier 
werden nur die senkrechten Wände, nicht die wagerecht sich berührenden 
verdickt, welche letzteren später mit der vorschreitenden Zunahme der er- 
steren immer undeutlicher werden und endlich ganz verschwinden, wodurch 
die Höhlungen der Zellen dieser senkrechten Reihen miteinander vereinigt 
werden. Die Verdickung der Häute dieser Fasern ist immer ungleichförmig, 
was ich mir durch das Vorhandensein jener endogenen Bläschen (!) erkläre, 
die dort wo sie der Tochterzelle anliegen die Verdickung dieser verhindern. 
Die zuerstssich verdickenden, den Spiralen zunächst stehenden, erhalten dadurch 
das Ansehen punktirter Fasern, (vasa porosa s. d.) die weiteren das der trep- 
pen-oder leiter-förmigen. Bei den sich berührenden senkrechten Wänden 
zweier benachbarten Fasern nehmen diese Bläschen immer eine einander ent- 
sprechende Lage ein, so dafs an den engeren die scheinbaren Poren, bei 
den weiteren die abwechselnd verdünnten und verdickten wagerechten Li- 
nien zweier Fasern neben einander liegen. Dort wo die engen cylinder- oder 
spindel-förmigen Zellen des Cambium die Wandungen der sehr weiten, ka- 
nalartigen Fasern berühren, findet sich aufser diesen verdünnten Stellen, die 
durch die im Innern der Gefäfse enthaltenen Bläschen hervorgebracht wur- 
den, noch ein Netzwerk verdickter Streifen, erzeugt durch die gleichförmig 
stark verdickten Winkel der verschiedenen sich hier berührenden Wände 
dieser Gewebe-Zellen mit den Faserwandungen. Durch diese senkrecht oder 
schräg der äufseren Wand anliegenden Streifen werden dann die langen, wa- 
gerechten Verdickungslinien der Haut der Tochterzelle in zwei oder mehrere 
Stücke abgetheilt. 

Alle diese Erscheinungen während der Umbildung der weiten, aus 
senkrechten Zellenreihen entstandenen Kanäle deuten auf eine innere Ver- 
bindung und Wechselwirkung derselben mit den zunächst sie umgebenden 
Zellen hin, wofür auch einige, im krankhaften Zustande des Pflanzengewebes 
eintretende, Vorgänge, die ich weiter unten berühren werde, sprechen: ich 


(') Meyen scheint schon denselben Vorgang beobachtet zu haben (siehe dessen Phy- 
siologie III. p. 20) nur irrte er darin, dals er diese Bläschen für Kügelchen hielt, durch 
deren Aneinanderfügung und Verwachsung nach bestimmten spiraligen Richtungen die Ver- 
dickung der Spiralen wie die getüpfelten Fasern gebildet würden. 


die V egetationsorgane der Palmen. 117 


zähle dieselben daher in die Reihe von Elementarorganen, die als Gummi-und 
Harz -Kanäle bekannt sind, wo gleichfalls die, eine Faser zunächst umgeben- 
den Zellen von der Absonderung des in diesen enthaltenen Stoffes Theil neh- 
men, zum Theil in die Höhlung derselben hinein sich ausdehnen, während 
die Haut der Faser zerstört wird, oder vielleicht zerstört wird, wenigstens ist 
es so schwierig, eine solche dann zu entdecken, dafs diejenigen Beobachter, 
die die Entwickelungsgeschichte vernachlässigten, diese mit Gummi, Harz 
oder ähnlichen Stoffen angefüllten Kanäle für Zwischenzellräume hielten. 
Auch die vergleichende Anatomie spricht für die ähnliche Bedeutung dieser 


in dem Palmenholzbündel vorhandenen Kanäle mit den gummiführenden, 


5 
worauf schon Moldenhauer hingeführt sein würde, wenn er sie nicht in 
seinen sonst vortrefllichen „Beiträgen zur Anatomie der Pflanzen 1812 p-129 
bis 134” irrthümlich mit den vasibus proprüs zusammengebracht hätte. 

Auf jene Gummi- und Harz-Kanäle an denen die ursprüngliche Haut 
der Faser durchaus nicht mehr zu erkennen ist, die in dem ausgebildeten 
Zustande aus einem von Zellgewebe umschlossenen und dadurch gebildeten 
Rohre zu bestehen scheinen, ist der Ausdruck Gefäfs zu beschränken, wenn 
man nicht anatomisch gleichbedeutende, gleichartig gebaute Organe durch 
verschiedene Bezeichnungsweisen von einander trennen will; eswird die Pflan- 
zenfaser auf die gleiche Weise zu einem Gefäfse wie sich die einfache, aus einer 
einfachen Zellenreihe entstandene Capillarfaser, das Capillargefäfs, des thie- 
rischen Gewebes durch die spätere Entwickelung zu dem von einem Gewebe 
gebildeten Gefäfse verändert. 

Wenn nun auch diese weiten Kanäle des Palmenholz-Bündels physio- 
logisch in die Reihe der Gummigefäfse gehören, so wäre es doch wohl sehr 
unpassend aus dieser Ursache sie Gefälse zu nennen. Die Gewebelehre darf 
sich nur von anatomischen Thatsachen bei der Eintheilung und Bezeichnung 
ihrer Gegenstände leiten lassen; ich halte es für richtig, so lange die Haut 
der ursprünglichen Faser zu erkennen ist, diese Benennung beizubehalten, 
wenn wir auch finden, dafs an einem andern Orte das gleichgebildete Organ 
zu einem Gefäfse wird (siehe T. VII Fig.3. 4.5.) daher diese Kanäle der Pal- 
men mit netzförmig verdickten Wandungen netzförmige Fasern oder, in ihrem 
jüngeren Zustande wo sie Gummi enthalten, Gummi -Fasern zu nennen. — 

Während der Verholzung der Tochterzelle dieser Fasern und Zellen 
des Holzbündels wird die Höhlung derselben allmählich ihres flüssigen In- 


118 H. Kunstıes: 


haltes entleert, der sich gegen chemische Reagentien wie ein Gummi ver- 
hält, und statt dessen mit Kohlensäure angefüllt. Ähnlich wird der Bildungs- 
vorgang bei der ersten eigentlichen Spirale sein; auch hier sieht man, dafs 
die in der Höhlung sich befindende Flüssigkeit durch luftförmige Kohlensäure 
ersetzt wird. Die Entstehung der Spiralfasern nimmt, wie gesagt, von ihrem 
untern Ende ihren Anfang und setzt sich ununterbrochen durch den oberen 
Theil des Stammes in das Blatt hinein fort, auch hier der fortschreitenden 
Entwickelung desselben von unten nach oben folgend. 

Die Umformungen der übrigen Cambium-Zellen des Holzbündels neh- 
men gleichfalls bei dem untern Ende desselben ihren Anfang, sie beginnen 
schon in dem Cambium-Cylinder der aus diesen unteren Enden der Holz- 
bündel zusammengesetzt zu sein scheint. Sowohl die Gestaltung der spin- 
delförmigen Bastzellen, wie die senkrechte Anordnung der erweiterten Zellen 
zu Holzfasern beginnt hier, und setzt sich in die höheren Theile des Stammes 
und Blattes fort. Man findet im Stamme und in den unteren Theilen des 
Blattes die vollständig angelegten Holzbündel mit den schon fertigen Spiral- 
fasern, während die oberen Theile des Blattes noch cambiales Gewebe sind. 
Die Anzahl der Holzzellen nimmt beständig zu je weiter sich das Holzbündel 
von dem Orte des ersten Auftretens entfernt, während die Menge der Bast- 
zellen sich verringert. Die Verholzung jedoch aller dieser Gewebe in der 
oben beschriebenen Weise folgt nicht gleichmäfsig der Anlage derselben; sie 
beginnt erst mit der vollendeten Anlage der Gewebe des Blattes mit der be- 
ginnenden Entfaltung desselben, sich von den oberen zuerst sich entfaltenden 
Theilen dieses, in die unteren und in den Stamm hinein fortsetzend, so dafs 
die Spitze des Blattes schon vollkommen verholzte Bündel besitzt, wenn in 
der Basis desselben noch dünnwandige Fasern vorhanden sind, die sich auch 
als solche in den Stamm fortsetzen. Hier im Stamme schreitet die fernere 
Verdiekung der dünnwandigen Zellen nicht so ununterbrochen von dem obe- 
ren mit dem Blatte zusammenhängenden Theile nach dem Holzeylinder durch 
das Mark hindurch fort, sondern die der Oberfläche näheren Theile bekom- 
men früher verdicktes Holz-und Bast-Gewebe wie diejenigen im Marke, es 
scheint der zu dieser Umänderung nöthige Stoff ebenso durch das Rinden- 
gewebe zugeführt zu werden, wie es offenbar durch die oberen mit der At- 


5 
mosphäre in Berührung tretenden Blatttheile geschieht. 


v 


die Vegetalionsorgane der Palmen. 119 


Der Rest nun endlich des Cambiums, der die Mitte des Holzbündels 
einnimmt, — da die Zellen desUmkreises und besonders an der nach der Rinde 
gewendeten Seite in Bastzellen die der Markseite in Holz-Zellen und-Fasern 
verändert wurden, — hört mit dieser veränderten Thätigkeit.des das Parenchym 
begrenzenden Theiles gleichfalls auf zur Entwickelung neuer Zellen zu die- 
nen. Man findet in dem zu Cylinder- oder Spindel-Zellen von verschiede- 
ner Weite umgeformten Gewebe eine mit Körnchen und Bläschen angefüllte 
Flüssigkeit die durch Jod gelb gefärbt wird. Die Haut der äufseren Zellen 
(Mutterzellen des Systemes) ist sehr wenig verdickt, die der nächst inneren, 
die Absonderungsstoffe enthaltenden Tochterzelle, ist unverändert wie es 
gewöhnlich stattzufinden pflegt so lange in dem Inhalte einer Zelle der Bil- 
dungsprozefs fortbesteht. 

Gehen wir bei der Betrachtung der das fertige Holzbündel zusammen- 
seizenden Gewebe von dem unteren, in dem Holzeylinder liegenden Ende aus, 
so finden wir zuerst ein gänzlich in verdickte Prosenchymzellen umgeänder- 
tes Bündel, entweder einzeln oder mit anderen, ähnlichen, einfachen Holzbün- 
deln seitlich verbunden. Etwas höher hinauf findet sich in ihrer Mitte eine 
Reihe erweiterter Zellen die zu einer Faser vereinigt ist; es hat diese Anord- 
nung der verschiedenen Gewebe ganz das Ansehen der einzeln in dem Marke 
und der Rinde der Wurzeln vorkommenden Gummigefäfse oder gefäfsartigen 
Gummifasern die auch oft durch eine Schicht verdickter Bastzellen von dem 
Parenchym getrennt sind und es ist gewils nicht unwahrscheinlich, dafs durch 
eine ähnliche Thätigkeit in dem Gewebe beider die ähnliche oder gleiche 
Form hervorgerufen werde. — 

Diese in dem unteren dem Holzeylinder nahen Ende des Holzbündels 
befindliche enge Gummifaser wird in dem höheren von einer gröfseren Menge 
von Parenchym umgebenen Theile des Bündels weiter und fast regelmäfsig 
in seiner Anzahl vermehrt; gewönlich finden sich in dem Theile des Holz- 
bündels der im Marke verläuft zwei dieser weiten Fasern, die dann in die 
Blattanlage sich hineinverlängern, mit deren Verholzung, die Verdickung ihrer 
Wände, in dem zuerst entfalteten Theile des Blattes beginnt und mit dieser 
gleichzeitig vorschreitet. Nicht selten finden sich die nebeneinander liegen- 
den Enden der diese Gummifaser zusammensetzenden Zellen erhalten, be- 
sonders dort wo eine einzelne Faser durch zwei fortgesetzt wird, diese Enden 


1230 H. Karsten: 


3 


sind dann abgerundet und punktirt oder durch benachbarte Cambiumzellen 
netzförmig verdickt. 

In diesen verholzten netzförmigen Fasern findet sich häufig, wie dies 
auch bei den nicht vorholzten Gummi-Gefäfsen oft während des regelmäfsigen 
Verlaufes ihres Wachsthums sich zeigt, (in Folge einer Veränderung des Saft- 
flusses), eine Vergröfserung der benachbarten Zellen, wodurch nicht selten 
die ganze Höhlung desselben ausgefüllt wird. In der botanischen Zeitung 
1845 p. 225 findet sich von einem Ungenannten diese schon seit Malpighi 
beobachtete aber verschieden gedeutete Thatsache sehr schön erörtert. Der 
Verfasser macht darauf aufmerksam, dafs die Entstehung der Bläschen be- 
ständig von den Poren oder Spalten des Gefälses seinen Anfang nimmt; es 
stimmt dies durchaus mit meinen Beobachtungen überein und ich zweifle 
nicht, dafs die zellige Ausfüllung der Gefäfse und Fasern durch Vergröfse- 
rung der benachbarten Zellen entstehe. Überdies kann aber ein zweiter Fall 
eintreten und auch diesen glaube ich beobachtet zu haben, nämlich dafs 
nicht nur die benachbarten Zellen sich erweitern sondern, dafs auch die in 
der Faser selbst vorhandenen Bläschen, durch deren Ankleben an der Haut 
der Tochterzelle die nicht verdickten Stellen entstanden, bei der in diesem 
Falle krankhaft veränderten Nahrungsflüssigkeit, sich ausdehnen und zur Fül- 
lung des Gefäfses beitragen. Welche chemischen Verhältnisse nothwendig 
sind um das Wachsthum dieser oder jener Zellen von Neuem anzuregen kann 
ich bis jetzt nicht entscheiden, es scheint mir jedoch die Vergröfserung jener 
Porenbläschen auf eine noch gröfsere Selbstständigkeit und Unabhängigkeit 
der Gewebe von dem Gesammtleben des Organismus hinzudeuten. Ich fand 
diese Erscheinung nur dort wo durch Verletzung eines Theiles des Pflanzen- 
körpers das Gewebe dem unmittelbaren Einflusse der Feuchtigkeit und Luft 
ausgesetzt war, WO dann gewöhnlich nicht nur in den Fasern sondern auch in 
dem Zellgewebe die Porenbläschen sich fadenartig ausgedehnt hatten und zu 
den Bildungen Veranlassung gaben die Nägeli in der Linnaea 1842 p. 278 als 
neue Pilzarten beschrieb und t.xı abbildete. Sowohl in dem oberirdischen 
wie in dem unterirdischen Stamme der Palmen kommt diese Erscheinung 
vor, die ich überdies in vielen Rhizomen der Monocotylen und dem Ge- 
webe der Farne beobachtete, und die sicher in jedem Pflanzengewebe ein- 
treten kann, wo sie in gewissen Fällen als Trockenfäule lange bekannt ist. 


die V egetationsorgane der Palmen. 121 


Betrachten wir nun die übrigen zwischen diesen beiden Faserformen 
(der Spirale und Netzfaser) sich bildenden Fasern, die Übergangsformen zwi- 
schen beiden zu sein scheinen, da die engeren in der Nähe der Spiralen ste- 
hen, und sich in gröfserer Entfernung von diesen mehr erweitern: so finden 
wir dafs diese Ähnlichkeit mit den netzförmigen Fasern wohl nur durch die 
gröfsere Weite hervorgebracht ist, denn sie stehen nicht in so inniger Wechsel- 
wirkung mit dem benachbarten Gewebe, wie die in ihrer Thätigkeit von die- 
sem abhängigen Netzfasern, sie bilden sich aus dem Cambium durch eine in 
sich abgeschlossene Thätigkeit: sowohl der Inhalt wie die Wandung durchläuft 
die oben beschriebenen Veränderungen ohne unmittelbare Einwirkung der 
benachbarten Zellen, daher stehen sie auch zu ganzen Bündeln und Geweben 
vereinigt unmittelbar nebeneinander. In dem Holzbündel der Palmen er- 
scheinen sie dort wo der Anfang der Spirale sich findet und ihre Anzahl ver- 
mehrt sich während des Verlaufes des Bündels durch das Mark bedeutend, so 
dafs dort, wo dasselbe aus dem Marke nach der Rinde sich wendet, der gröfste 
Theil des ganzen Holzbündels aus solchen Treppen- und Poren-Fasern (die 
wohl mit den Spiralfasern passend als Holzfasern kurz zu bezeichnen sind) 
besteht. Nicht selten findet man zu diesen später sich bildenden Fasern 
Übergangsformen aus dem gleichfalls verholzenden Cambium, indem die in 
senkrechte Reihen geordneten Zellen noch nicht zu Fasern vereinigt sind. 

Auch die Wandungen der cylinderischen oder spindelförmigen Cam- 
biumzellen verdicken sich später etwas, doch behält der Inhalt beständig das 
Vermögen zur Entstehung neuer Zellen Veranlassung geben zu können. Für 
die Cambium-Zellen des Holzcylinders wird es durch die an allen Theilen 
des Stammes unter Umständen später entstehenden Wurzeln bewiesen, deren 
Fasern sich dann auch in die, schon von dem Holzeylinder getrennten Bündel 
hineinverlängern, zur Verdickung der Faserschichte derselben beitragend. In 
noch gröfserem Maafsstabe findet dies letztere während der Entwickelung der 
Knospen in den oberen Theilen der Holzbündel statt, indem die in dem Ge- 
webe der Knospe entstehenden Holz-Bündel sich an diese anlegen, und ihre 
Fasern sich durch Umformung des Cambiums im Holzbündel des Stammes in 
diese hinein fortsetzen, wodurch Schleidens Meinung (Grundzüge 1845 
p-243) widerlegt wird, dafs mit der einmal erfolgten Ausbildung des Holz- 
bündels jede Neubildung in dem Cambium derselben aufhöre. 


Phys. Kl. 1847. Q 


123 H. Kassten: 


Die Zellen dieses Cambiums werden meistens jetzt „eigene Gefäfse, vasa 
propria”, genannt, selbst von Schriftstellern die zugeben, dafs dies Gewebe nicht 
aus Gefäfsen, sondern aus Zellen besteht. Es ist dies ein Fehler der nur 
Verwirrung in die Kenntnifs des Baues der Pflanzengewebe gebracht hat. 

Malpighi der Gründer der Pflanzenanatomie beschrieb in seinem un- 
sterblichen Werke: „Anatomes plantarum.” Pars prima. 1671. pag43 die 
vasa propria seu peculiaria, jetzt Milchsaftgefäfse und Gummi- oder Harz-Ka- 
näle genannt, indem er sagt: „—— —in herbarum arborumque compage ultra 
tracheas et fislulas peculiare vasculum interdum deprehendi diximus, terebin- 
thina, gummi, quandoque concreto et proprio refertum succo et humore.” Er 
erkannte sehr wohl den Bau dieser Gefälse die er Taf. VII Fig. 30. von Sam- 
bucus Ebulus zeichnete und trennt sie, wie die Spiralfasern, von dem Zell- 
gewebe. 

Ein Irrthum in den dieser grofse Mann bei der Untersuchung des Holz- 
bündels des Mays verfiel, indem er dort wo aus dem Cambium-Gewebe des- 
selben der trübe Inhalt hervorquoll ein vas proprium vermuthete (pag. 24 
Tab.IV Fig.15) scheint die Veranlassung der seither fortdauernden Verwech- 
selung gegeben zu haben. — 

Nach ihm machte Mirbel (Jour. de phys. Tom. LIII) bei der Be- 
schreibung des Mays denselben Fehler und leider gelang es Moldenhauer 
nicht, durch seine trefllichen „Beiträge zur Anatomie der Pflanzen 1812”, in 
denen er die Ursache des von Malpighi und Mirbel begangenen Irrthums 
nachwies, denselben aus der Wissenschaft zu verbannen. 

Eine ähnliche Unsicherheit wie in der Kenntnifs dieses Cambiums bis- 
her herrschte, waltet auch über die Bestimmung des vierten Gewebes der 
Holzbündel der Palmen, über denjenigen Theil der die übrigen Gewebe des 
Bündels umhüllend, dieselben gegen das Parenchym absondert, der in den un- 
teren, von wenig Parenchym umgebenen Theilen des Bündels in gröfster Menge 
vorhanden ist, während er dort wo die Bündel im Markgewebe verlaufen 
immer mehr abnimmt, von den meisten Schriftstellern Bast genannt. 

Malpighi beschreibt den Bast ( Anatomes plantarum idea p.2): „liber 
‚Jibris ligneis reticulariter se invicem amplexantibus constat.— — qualibet fibra 
insignis fistulis invicem hiantibus constat, humoremque Jundit” etc. 

Ahnliche Ansichten hatten Leeuwenhoeck und Hedwig. Mirbel 
hielt den Bast für Zellen die durch Klappen sich in einander öffneten. Link 


die Vegetationsorgane der Palmen. 123 


beschreibt den Bast in seinen Grundlehren der Anatomie und Physiologie 
der Pflanzen 1807 p. 17 als Zellen mit schiefen Endflächen, er sagt p. 19 von 
dem braunen Zellgewebe das das Farnholz umgiebt: „Da diese Zellen keine 
abgesonderte Grundfläche zeigen, sondern die Seitenwände sich nur schief an 
einander legen, so rechne ich dieses Zellgewebe zu dem Bast.— Er bemerkt 
dies gegen Bernhardi der dies Gewebe dem Parenchym anreiht. Mol- 
denhawer erklärte, wie Link, den Bast für langgestreckte Zellen mit zuge- 
spitzten Enden, und zeichnete sie Taf.2 Fig. 16, nennt sie aber dessenunge- 
achtet wegen des langen röhrigen Baues: „Gefäfse” oder „Bastgefäfse”. Es 
scheint fast, als sei ihm der Unterschied zwischen Gefäfs und Zelle hier nicht 
recht klar gewesen. Ihm folgen Kieser „Phytotomie pag. 209” und Meyen 
„Phytotomie p. 134”. — 

In seinen Vorlesungen über die Kräuterkunde 1843 giebt Link eine 
andere Ansicht über die Natur des Bastgewebes, er beschreibt es pag. 86, 
von dem Baste des Flachses und Hanfes ausgehend, allgemein als „Baströhren, 
tubuli fibrosi” d.h. dicke Röhren in der Regel ohne Querscheidewände „wo 
diese sich finden durchziehen sie nur die Höhlung ohne die dieken Wände 
zu durchschneiden, da man hingegen an einer Reihe von Parenchymzellen 
deutlieh sieht, wie die Wände der Zellen selbst an der Scheidewand Theil 
nehmen. Denn die Querwände der Zellen im Parenchym entstehen dadurch, 
dafs die Zellen aufeinander stehen: diese Wände sind also eigentlich keine 
wahren Querwände, in den Baströhren sind sie es aber allerdings. Die Bast- 
röhren endigen sich mit verschlossenen, stumpfen Enden, bald hier bald da, 
sind also von verschiedener Länge, und gleichen in dieser Rücksicht dem Pros- 
enchym”. Nach dieser neuesten Beschreibung des Bastes von Link ist der- 
selbe also einer verdickten Prosenchymzelle ähnlich, in der hin und wieder 
Querscheidewände auftreten. 

Mohl bestätigt bei der Beschreibung des Baues des Palmengefäfsbün- 
dels (Vermischte Schriften 1836 p. 137) in Bezug auf die äufserste Schicht 
desselben die das Holz und das Cambium umgiebt und sie von dem Paren- 
chym trennt Moldenhawers Angaben über den Bast indem er sagt: „der 
Bast besteht aus diekwandigen prosenchymatösen Zellen”, wodurch er zu- 
gleich Kiesers Behauptung, dafs die Bastzellen der Monokotylen horizon- 
tale Scheidewände hätten, widerlegen will und also auch der Ansicht Links 
nicht beitritt, so wie auch diese beiden ausgezeichneten Anatomen über die 


Q2 


194 H. Kussrtenx: 


Bedeutung des braungefärbten Gewebes das den Holzeylinder der Farne um- 
giebt verschiedener Meinung sind, indem Link dasselbe dem Baste, Mohl es 
aber dem Parenchyme zuzählt. Es ist dies ein Beweis wie sehr schwierig es ist 
über die Natur eines organischen Körpers, ohne die Entwickelungsgeschichte 
desselben zu berücksichtigen, zu einer Einsicht zu gelangen. 

Wir sahen, dafs der Rest des Cambiumeylinders nach beendigter Par- 
enchymbildung zu spindelförmigen Zellen auswuchs, welche Form auch die 
äufseren Schichten der von dem künftigen Holzeylinder getrennten Holzbün- 
del annahmen, nachdem keine Parenchymzellen mehr aus ihnen hervorgin- 
gen, während in der Höhlung dieser spindelförmigen Zellen sich ein gummi- 
artiger Stoff absonderte, in dem oft der jetzt einfache Zellkern schwamm, ohne 
dafs eine Bildung von Bläschen zu erkennen wäre. Später verschwindet die- 
ser flüssige Inhalt, während die Haut der Tochterzelle verdickt, oft braun 
oder schwarz gefärbt wird und Kohlensäure die Stelle der Flüssigkeit ersetzt. 
Diese Zellen, eine höhere Entwickelungsstufe des Cambiums, bestimmt zur 
Hervorbringung von Parenchym, was durch günstige Verhältnisse wieder ein- 
geleitet werden kann, also eine Hemmungsbildung von Mutterzellen für Pa- 
renchym, sind das Bastgewebe des Palmenstammes und diesen Charakter sehe 
ich als den des Bastgewebes überhaupt an, weshalb sowohl Zellen als die spä- 
teren Umformungen derselben die Fasern hieher gehören können. 

Die Holzzelle dagegen ist unmittelbar hervorgegangen aus einer Cam- 
biumzelle deren Haut eine Änderung ihrer Bildungsthätigkeit erfuhr, sie ent- 
hielt nie die Anfänge von Parenchymzellen wie sie auch nie unmittelbar in 
diese umgeformt wird. Durch die Vereinigung ihrer Höhlungen entsteht die 
Holzfaser, indem, wie bei den Bastfasern, die (in dem aufrechten Stamme) 
senkrechten Wandungen der übereinander gereihten Zellen verdickt werden, 
während die wagerechten sich nicht verdicken im Gegentheil später ver- 
schwinden. — 

Auf Querschnitten des verholzten Bastgewebes sieht man, dafs die 
Wandungen aus Schichten bestehen die nicht immer die gleiche Dicke und 
Färbung besitzen: es ist die Tochterzelle deren Haut einen intermittirenden 
oder periodisch veränderten Zuflufs des Nahrungsaftes, durch diese schich- 
tenweise Zunahme seiner Dicke zu erkennen giebt. Der Umstand, dafs nur 
die senkrechten, nicht die wagerecht sich berührenden Wandungen verdickt 
sind, entspringt vielleicht aus einer bestimmten Richtung in dem Zuflusse des 


die Vegetationsorgane der Palmen. 135 


Nahrungssaftes. Dafs diese Verdickungsschichten mechanische Niederschläge 
des Zellsaftes nach dem Austrocknen desselben auf die innere Oberfläche der 
Zellwand seien, wie es wohl geglaubt wird, ist nicht richtig und für diejenigen 
Fälle mit Leichtigkeit als falsch zu beweisen, wo diese sich verdickende, zweite 
Zelle noch von einer dritten, gleichfalls verdickten Zelle, ausgekleidet wird. 
Meistens ist letztere, so wie die erste, äufserste des ganzen Systems nicht ver- 
dickt und dann schwierig zu erkennen. Diese beiden verhalten sich in der 
Regel sehr ähnlich, sowohl in Hinsicht ihrer physikalischen Eigenschaften, wie 
gegen Reagentien und meistens beide abweichend von der zwischen ihnen 
befindlichen Haut der zweiten Zelle. (Vergl. Taf. vır. Fig. 2). 

Diese Letztere, die Tochterzelle, scheint in der That besonders der 
Ernährung des pflanzlichen Organismus vorzustehen, da sie, wie ich schon 
früher bemerkte, entweder in ihrer Höhlung zur Erzeugung von Absonde- 
rungsstoffen Veranlassung giebt, die später wieder zur Ernährung anderer 
Theile verbraucht werden oder indem durch Assimilation des von Aussen 
zugeführten unorganisirten Stoffes ihre Haut selbst sich verdickt und dadurch 
einen Körper anhäuft, der vorzugsweise die Fähigkeit zu besitzen scheint bei 
gewissen chemischen Zuständen der allgemeinen Nahrungsflüssigkeit aufge- 
löst zu werden und zur Erhaltung des Stoffwechsels und des Wachsthumes 
anderer Gewebe beizutragen. 

Ich werde später noch Gelegenheit haben von einer solchen regelmä- 
fsig stattfindenden Umwandlung in gewissen Dicotylen Pflanzen ein Beispiel 
anzuführen, (vergl. Taf.vı. Fig.8.9.) hier sei es mir erlaubt eine Beobachtung 
an einer Palme mitzutheilen, die gewifs an vielen anderen Pflanzen sich wie- 
derholen lassen wird. Ich stellte einige 12-15 Fufs lange, über den Wurzeln 
abgehauene Stämme der Geonoma undata Kl. mit ihrer vorsichtig geschonten 
Blätterkrone in einen kleinen Bach fliefsenden Wassers, nach 3 Monaten ent- 
hielt das Parenchym des Markes durchaus keine Stärke mehr und die gewöhn- 
lich etwas verdickten Membranen waren so dünne, dafs die Porenkanäle fast 
nicht mehr zu bemerken waren, ebenso waren die dasMark zunächst begren- 
zenden Bastfasern des Holzbündels (besonders an der den Holzfasern entgegen- 
gesetzten Seite) bis zu sehr feinen Membranen verdünnt, die Holzsubstanz der 
verdickten Tochterzelle gänzlich resorbirt. — Die Blattanlagen hatten fortge- 
fahren sich auszudehnen entfalteten sich jedoch nicht, der Zellsaft des Gipfel- 
triebes war klar und wasserhell nicht so trübe, schleimig und sich an der Luft 


1236 H. Karsten: 


färbend wie in der gesunden Pflanze; auch absorbirte dieser in Kohlensäure 
gesetzt weit weniger von diesem Gase und wurde daraufin Ammoniakgas nicht 
so grün gefärbt, wie es bei dem Gewebe einer gesunden Knospe der Fall ist. 


Die Wurzel. 


Die erste Wurzel der Palmen sondert sich, wie wir oben sahen, aus der 
dem Eimunde zugewendeten Spitze des bis dahin gleichförmigen Gewebes des 
Keimlinges, gleichzeitig mit dem Erscheinen der Gefäfse für die Saamenlap- 
pen und der Bildung der ersten Blattanlagen in dem cambialen Gewebe des 
vorderen Endes des Keimlinges ab. Von dem Grunde der Knospe aus er- 
scheinen die ersten Spiralfasern in dem Cambium-Kegel der Wurzelanlage, 
die sich innerhalb des parenchymatischen Gewebes befindet, das als Theil 
des Saamenlappens oder als Rinde des Keimlinges betrachtet werden kann, 
Entweder von diesem Gewebe bedeckt oder in der äufseren Schicht desselben 
findet sich die cambiale Spitze der Wurzel, durch deren zellenbildende Thä- 
tigkeit ihr Gewebe vermehrt wird. In dem ersteren Falle durchbricht die sich 
verlängernde Wurzel das sie umhüllende Zellgewebe der Rinde des Keim- 
linges, welches gleichzeitig sich durch Vergröfserung seiner Zellen ausdehnt, 
und als Scheibe (coleorrhiza) die Wurzel umgiebt: in den zweiten, den ich 
bisher nur bei der Hyphaene, Coryha und Phoenix beobachtete, bildet die 
Rinde der Wurzel mit dem Gewebe des Saamenlappens eine ununterbrochene 
Schicht, daher keine Wurzelscheide entsteht. So findet es sich bei den glei- 
chen Organen der dicotylen Pflanzen, während die andere Bildungsweise der 
Entstehung der Stammwurzeln (Luftwurzeln) der Monocotylen ähnlich ist. 

Dies Durchwachsen wird wahrscheinlich vermöglicht durch eine Gruppe 
von Zellen, die sich vor der eigentlichen Spitze der Wurzelgewebe nach aus- 
sen aus dem Cambium hervorbildete, und sowohl durch die Form ihrer 
Zellen wie durch deren Inhalt sich von dem übrigen Wurzelgewebe unter- 
scheidet. Bei der Dattelpalme bildet sich dies die Spitze des Würzelchens 
einhüllende Gewebe erst aufserhalb des Saamens, nachdem der Saamenlap- 
pen sich um 2’— 3” verlängerte und das Keimknöspchen, in dem scheidigen 
Ende desselben, sich bedeutend vergröfserte. — 

Nur selten ist diese erste Wurzel, die, als die untere Verlängerung der 
Keimknospe, als Pfahlwurzel zu bezeichnen ist, von etwas längerer Dauer 


die Vegetationsorgane der Palmen. 427 


indem sie sich verästelt, wie bei der Älopstockia, Hyphaene und einigen an- 
deren; meistens stirbt sie sehr bald ab, während andere aus dem Stamme 
des jetzt mit einem oder einigen Blättchen versehenen Pflänzchen hervorwach- 
sen. Wir lernten in dem Gewebe dieser jungen Pflanze einen Ort kennen, 
von dem die Holzbündel der Blätter ihren Anfang nehmen; derselbe war ur- 
sprünglich in der cambialen Anlage des Keimlings von der Spitze dieses nicht 
getrennt. Diese Trennung trat ein, indem sich in der Mitte der cambialen 
Keimknospe Parenchym bildete, das den Cambium -Kegel in einen Kegel- 
mantel umänderte, wodurch dann der cambiale Knospengrund, von dem die 
Holzbündel ihren Anfang nehmen, mit der cambialen Knospenspitze, aus der 
die Blätter sich hervorbilden, nur noch durch einen Cylinder cambialen Ge- 
webes zusammenhängt. 

Von dem Knospengrunde und diesem Cambiumcylinder, dem späteren 
Holzeylinder des Stammes, trennen sich sowohl nach innen wie nach aufsen 
Holzbündel- Anlagen für die Blätter, in beiden dauert längere oder kürzere 
Zeit eine Zellenvermehrung fort, wodurch das Gewebe des jungen Pflänz- 
chen vermehrt wird. Von dem Knospengrunde beginnt nun auch die Ent- 
wickelung der ersten Stamm -oder Luft- Wurzeln, bei den Palmen meistens 
nur allmählich zu den älteren Theilen des Stammes in die Höhe steigend, 
und nur ausnahmsweise in gröfserer Entfernung von der Stammbasis eintre- 
tend, man erkennt dieselbe in ihrem ersten Auftreten durch eine Vermehrung 
der Cambiumzellen des Holzeylinders. Es entsteht an der äufseren Ober- 
fläche ein kleiner Kegel Cambium-Gewebes, dessen äufserste, die Rinde be- 
grenzende Schicht aufhört zur Zellenvermehrung beizutragen, und sich durch 
Ausdehnung vergröfsert, während das Parenchym der Rinde so wie die Fa- 
sern der in ihr befindlichen Bastbündel die verdickten Wandungen verlieren 
und die von ihrem Inhalte entleerten Zellen nach Aufsen zurückgedrängt und 
später gänzlich verflüssigt werden. Durch die Ausdehnung dieser Zellen 
der äufseren Schichten des Cambiumkegels wird ein Parenchym ähnliches 
Gewebe gebildet, das die junge Wurzelanlage bedeckt, und nach innen in 
die Spitze des Cambiumkegels übergeht. Hier nun dauert die Zellenver- 
mehrung beständig fort, während in den älteren Theilen, in dem mit dem 
Holz-Cylinder des Stammes zusammenhängenden Grunde eine Änderung 
in der Thätigkeit der Zellen eintritt. Die äufseren Schichten des Cambium- 
kegels werden hier in Parenchym umgeändert, das sich anfangs an das Rin- 


128 H. Kuasxsrsen: 


dengewebe des Stammes anschliefst, später in einiger Entfernung von dem 
Holzceylinder von einer Oberhaut bedeckt ist. In dem Umkreise des dann 
centralen Cambium-Cylinders der jungen Wurzelanlage, deren Zellen länger 
bildungsfähig bleiben, treten darauf enge, abrollbare Spiralfasern auf, während 
gleichzeitig das Gewebe der Mitte in cylinderförmige Zellen umgeändert wird 
und später verdickte Wandungen erhält. Diese Umänderung des Cambium- 
Kegels in die verschiedenen Gewebe schreitet von dem Grunde nach der 
Spitze hin fort, wo unterhalb der Wurzelmütze die Bildung neuer Zellen 
fortdauert, und zu der Vermehrung dieser Gewebe Veranlassung giebt. Von 
den Zellen der Spitze dieser Wurzelmütze mufs die verändernde Einwir- 
kung dieser neuen Bildung auf das Rindengewebe des Stammes ausgehen, wo- 
rin dieselbe indessen bestehen mag, darüber wage ich keine Vermuthung zu 
äufsern, und erlaube mir nur auf die Ähnlichkeit dieses Vorganges mit den 
das Eindringen der Wurzeln parasitischer Gewächse in die lebenden Gewebe 
fremder Pflanzen begleitenden Erscheinungen aufmerksam zu machen. 

Die äufserste Zellschicht der Wurzelmütze dieser noch in der Stamm- 
rinde befindlichen Wurzelanlage enthält Zellkerne und eine durch Jod gelb 
werdende Flüssigkeit: etwas weiter nach innen, dem Orte der Zellenbildung 
näher, auch kleine Stärkebläschen: ebenso finden sich in dem jüngsten noch 
parenchymähnlichen Gewebe der Wurzelspitze selbst, neben dem Cambium, 
meistens kleine Stärkebläschen. Das in der Mittellinie der Wurzel sich bil- 
dende, langgestreckte Gewebe geht im Grunde derselben, dort wo sie sich 
anfangs von dem Holzeylinder des Stammes erhob, allmählig in die Form 
des Parenchyms über, wodurch das Mark der Wurzel mit dem des Stammes in 
Verbindung steht. Dafs diese eylinderischen, später dickwandigen Zellen 
die in der Mitte der Wurzeln sich finden, nur eine andere Form von Paren- 
chym sei, ist jedoch nicht wahrscheinlich, sie sind vielmehr als verholzte Cam- 
biumzellen oder deren Übergangsbildungen zum Parenchym, den Holz- oder 
Bast-Zellen der Bündel des Stammes gleichbedeutend. 

Die in ihrem Umkreise zuerst entstandenen Spiralen, so wie die später 
aus ihnen gebildeten punktirten Holzfasern, verlängeren sich nicht nur nach 
der Spitze der Wurzel hin, sondern auch nach der entgegengesetzten Seite, 
indem sie sich zum Theil an die Holzbündel des Stammes anlegen, in deren 
Gewebe eine Neubildung von Zellen stattfand und mit ihnen nach den obe- 
ren wie nach den unteren Theilen des Stammes verlaufen: zum Theil nach 


die V egetationsorgane der Palmen. 129 


der Mitte des Stammes hin sich erstrecken, mit diesen Holzbündeln ein Flecht- 
werk bildend. Es sind hier, in den schon vollkommen verholzten Bündeln, 
die äufsersten Schichten des Bastes die an die Parenchymzellen grenzen und 
die, wie schon oben angegeben wurde, häufig mit senkrechten Reihen runder 
Zellen gefüllt sind, in denen eine Neubildung beginnt, höchst wahrscheinlich 
in Folge erneueter Thätigkeit dieser in ihrem Wachsthume gehemmten Bil- 
dungen, wodurch jetzt für die Verlängerung und Vermehrung der Fasern um- 
bildungsfähige Zellen hervorgebracht werden. Diese erneuete Zellenbildung 
erfahren nicht nur die den Holzeylinder bildenden Bastbündel, sondern auch 
mehrere der mehr nach innen liegenden Holzbündel, so dafs die Holzfasern 
der jungen Wurzeln eine Strecke in den Stamm hineinreichen; doch durch- 
dringen sie nicht die gedrängt stehende Holzbündelschicht der Oberfläche, 
auch ist ihre Erstreckung nach oben nicht bedeutend, so dafs eine unmittel- 
bare Verlängerung dieser Holzfasern der Wurzeln in die Blätter, wie Petit 
Thouars und Gaudichaud es sich dachten, nicht stattfindet. 

Auch Mohl spricht sich gegen eine solche Verbindung aus (de palm. 
struct. p.xıx) und zeichnet das richtige Verhältnifs t. Q. 3. von der Cocos nu- 
cifera indem er die Wurzel der Palmen (p. xvırı und Vermischte Schriften p. 
156) beschreibt. Es bestehen nach ihm dieselben aus zwei deutlich gesonder- 
ten Schichten: aus einer äufseren, lockeren und schwammigen Rindensubstanz 
und einem zähen, holzartigen Centralkörper. In ersterer, die von einer per- 
gamentartigen Haut überzogen ist, liegen bei einigen bastartige Fasern die 
bei anderen vollkommen fehlen. Das Gentralbündel ist aus einer compacten, 
holzartigen Substanz gebildet, welche sich nicht wie das Holz des Stammes 
in einzelne getrennte Bündel theilen läfst. Das Centralbündel der Seitenwur- 
zel ist mit dem der Hauptwurzel unmittelbar verbunden. Das Centralbündel 
durchdringt die Faserlage des Stammes und breitet sich auf der äufseren 
Schichte der Holzbündel desselben in Form einer Scheibe aus, sich hier in 
eine grofse Menge feiner, fadenförmiger Bündel theilend, welche sternförmig 
nach allen Seiten auseinanderlaufen und, sich zwischen den Holzbündeln des 
Stammes durchschlingend, in das Innere desselben bis etwa auf einen halben 
Zoll Tiefe eintreten. Auch die Fasern der Rinde des Stammes verlängern 
sich eine Strecke in das Rindengewebe der Wurzel, verlieren sich aber bei 
den verschiedenen Arten mehr oder weniger bald gänzlich. 


Phys. Kl. 1847. R 


130 H. Karsten: 


Mohl untersuchte fast nur die dünnen Wurzeln, wie die meisten Pal- 
men sie besitzen, im Zusammenhange mit dem Stamme; von denen der Iri- 
artea exorhiza standen ihm nur getrocknete Abschnitte zu Gebote. Hätte 
Mohl die Entwickelung der Wurzel an der lebenden Pflanze studiren kön- 
nen, so würde er sicher über die Bedeutung der Gewebe, die er in ihren 
einzelnen Theilen so genau kannte, anders geurtheilt haben. 

Verfolgt man nämlich, wie wir es oben gethan, die Entwickelung der 
Palmenwurzeln von ihrem ersten Beginn, so erkennt man, wie sich der Holz- 
eylinder des Stammes, nachdem er durch eine erhöhete oder wieder angeregte 
Zellenbildung einen Cambiumkegel in das Rindengewebe hinein gebildet hatte 
sich in die äufseren Schichten dieses letzteren fortsetzt, indem der Kern des- 
selben sich in Parenchym umändert, und in der ausgewachsenen Wurzel 
als ununterbrochene Fortsetzung des Markeylinders des Stammes erscheint. 
In dem Umkreise dieses neuen Cambium-Kegels entstehen gleichzeitig, im 
Grunde desselben, einzelne Spiralfasern die sich sowohl nach der Stammseite 
wie besonders nach der Wurzelspitze zu verlängern; sie sind die Grundlage 
von Holzbündeln die dadurch entstehen, dafs neben ihnen, an ihrer der Mit- 
tellinie der Wurzel zugewendeten Seite, aus dem Cambium sich Holz-Fasern 
und -Zellen bilden. 

Mohl selbst nennt diesen Zellgewebekegel, den ersten Anfang der 
Wurzel, „eine wahre Knospe”; wenn dies nun auch, wegen der verschiedenen 
Wachsthumsweisen der Wurzel und Blattknospe nicht auf diese letztere zu 
beziehen ist, so trifft doch der Vergleich auch mit dieser hinsichts der Anord- 
nung der Gewebe in einen Cylinder von Holzbündeln die in dem Cambium- 
Cylinder vertheilt sind, der das Parenchym in Rinde und Mark sondert. Hier 
in der Wurzelanlage treten ebenso wie in der jüngsten Blattknospe in einem 
vollständigen Cambium-Cylinder zuerst in bestimmten Abständen einzelne 
Spiralfasern auf, an die sich die später entstehenden Holzfasern zu einem 
Bündel anlegen und zwar in der Blattknospe an die ihrer Oberfläche zuge- 
wendeten Seite, in der Wurzelknospe an die ihrer Mittellinie zugewendeten 
Seite der Spiralfaser. — Bei der Blattknospe wenden sich diese Spiralen mit 
dem in ihrer Nähe entstandenen Holzgewebe nach aufsen in die Blattanlagen, 
bei der Wurzelknospe durchziehen sie ununterbrochen deren ganze Länge; 
doch in beiden Fällen bilden sie alle zusammengenommen nicht ein einzel- 
nes Bündel, sondern einen Cylinder von Anfängen solcher Holzbündel die 


« 


die Vegetationsorgane der Palmen. 131 


später durch Umwandlung des sie umgebenden Cambiums ihre bestimmte Zu- 
sammensetzung erhalten. Der Rest des Cambium-Oylinders besteht aus einer 
Schicht von wenigen Zellen von denen die äufsersten, an das Rindengewebe 
grenzenden verholzen, indem ihre Wandungen punktirt verdickt werden; und 
zwar beginnt diese Verholzung an der nach innen gewendeten Zellwand. In- 
dessen beendet auch hier eine Verdickung der Membran keinesweges die Le- 
bensfähigkeit der Zelle, unter den geeigneten Bedingungen beginnt auch hier 
in ihnen eine neue Tätigkeit, es tritt von neuem eine Zellenvermehrung ein, 
die durch das Rindengewebe hindurchsetzend zur Bildung einer seitlichen 
Wurzelfaser Veranlassung giebt. 

Die oft armdicken Wurzeln der Iriarteen lassen durchaus keinen Zwei- 
fel, dafs die in ihnen befindlichen Holzbündel, die auf dem Querschnitte der 
Wurzel eine sternförmige Anordnung zeigen, einen Cylindermantel bilden, 
wie diejenigen die in den dünnen Wurzeln derselben Pflanzen oder der mei- 
sten übrigen Palmen vorhanden sind. Die Entwickelungsgeschichte wie die 
vergleichende Anatomie beweisen, dafs auch diese dünnen Wurzeln einen 
vollständigen Holzeylinder nicht ein centrales Holzbündel besitzen. 

Betrachten wir zuerst die Entwickelung und den Bau der häufiger vor- 
kommenden Form, der dünnen Faserwurzeln, wie sie bei Cocos, Phoenix, 
Geonoma, Chamaedorea, Oenocarpus, Klopstockia und den meisten übrigen 
Palmen an den unteren Stammtheilen in gröster Anzahl aus der Rinde von 
dem Holzeylinder aus hervorbrechen, um dann die etwas abweichenden Wur- 
zeln der Iriartea mit denselben zu vergleichen. 

Das von dem Cambium nach Aufsen als Rinde entwickelte Parenchym 
ist sowohl in der Nähe dieses wie zunächst unterhalb der Oberhaut gedrängt 
stehend, ohne Zwischenzellgänge: letzteres ist in der Richtung der Axe ver- 
längert und besitzt stark verdickte Wandungen. Die Mittelschicht der Rinde 
ist in der Regel lockerer zusammengefügt, so dafs kleine Zwischenzellgänge 
bleiben, die in manchen Gattungen z.B. Oenocarpus, Phoenix sich zu grös- 
seren Luftlücken und Kanälen erweitern. Einzelne senkrechte Zellenreihen 
sind in die Länge gezogen mit wagerechten Enden aufeinanderstehend, in 
ihnen sind anfangs, nachdem sie aus dem Cambium sich gesondert haben, Ra- 
phidenbündel enthalten, später findet sich eine gummiartige Flüssigkeit (die 
in Wasser löslich, durch Äther und Alkohol aus der Lösung gefüllt wird, wel- 
cher Niederschlag im Wasser wiederum sich löst. Bleizucker, Borax, Alaun, 


R2 


132 H. Kuassten: 


schwefelsaures Eisenoxydul und Eisenchlorid fällen es nicht, wohl aber Blei- 
essig) und in älteren Theilen der Wurzel, wo die horizontalen Scheidewände 
verschwunden sind, bekommen sie gleichförmig (nicht punktirt) verdickte 
Wandungen und sind dann häufig mit Kohlensäure gefüllt. 

Diese einzeln im Rindengewebe zerstreut stehenden Fasern kann man, 
vor der Verdickung ihrer Wandungen, wenn sie mit der gummiartigen Flüs- 
sigkeit angefüllt sind, nicht von den Milchsaftfasern (-gefäfsen) unterscheiden: 
später, nach der Verholzung, hält man sie für einzeln stehende Bastfasern und 
man wird in dieser Ansicht bestärkt wenn man findet, dafs in den unteren, 
älteren Theilen der Wurzelrinde gröfsere Bündel dieser Fasern vorkommen 
die sich meistens z. B. bei Cocos und Phoenix in die Rinde des Stammes als 
Bastbündel verlängern. Ich halte dies nur für ein Zeichen der nahen Ver- 
wandtschaft dieser beiden Elementarorgane, der ähnlichen Bedeutung beider 
in Bezug auf die Ernährung des pflanzlichen Organismus; beide Formen gin- 


ö 
gen unmittelbar aus dem Cambium hervor, während gleichzeitig das ihnen 


5 
benachbarte Gewebe zu Parenchym sich ausbildete, beide sind als Hem- 
mungsbildungen von parenchymbildendem Gewebe zu betrachten, was sich 
durch eine vorherrschende Neigung zur Zellenbildung kund giebt (!), in bei- 
den findet die Absonderung von Stoffen statt die später zur Ernährung des 
Pflanzengewebes verbraucht werden können, theils auch wirklich verbraucht 
werden; die Milchsaftfasern können als eine verlangsamte Bastfaserbildung 
angesehen werden. — 

Das Rindengewebe, in welchem die eben beschriebenen Bastfasern 
vorkommen, wird von einer Oberhaut bedeckt, die in den unteren Theilen 
der Wurzel, welche noch in der Rinde des Stammes eingeschlossen ist, so 
wie an der Spitze, die schon in den feuchten Erdboden eingedrungen, aus 
cylinderförmigen Zellen besteht, deren lange Axe mit der Wurzellänge pa- 


rallel liegt, während an den der Luft ausgesetzten Theilen der Wurzel diese 


(') Die meisten Milchsäfte so wie die Schleim, Eiweils, Faserstoff oder Gummi ent- 
haltenden Flüssigkeiten der Milchsaftfasern führen zellige Bildungen, als Bläschen oder 
Zellkerne bekannt; einen ähnlichen Inhalt besitzen fast regelmäfsig die einzelnen oder in 
kleineren Bündeln im Parenchyme vorkommenden Bastfasern vor der Verdickung ihrer Wan- 
dungen und auch in den schon verholzten und zu grölseren Bündeln vereinigten Fasern 
beginnt häufig, bei veränderter Mischung der hinzutretenden Nahrungsflüssigkeit, von Neuem 


eine Zellenbildung, wovon ich weiter unten einige Beispiele anführen werde. — 


die V egetationsorgane der Palmen. 133 


Zellen fast würfelförmig gestaltet sind, und ihre freie Oberfläche warzen- 
förmige Hervorragungen bildet. (siehe T. III Fig. 4 d.e.) Unter Umständen, 
die ich weiter unten angeben werde, wachsen selbst diese Zellen der Ober- 
haut zu Haaren aus, wodurch die Ahhängigkeit der Form von der chemischen 
Mischung der Zellhaut recht deutlich hervortritt. — 

In dem Umkreise des von diesem Rindengewebe eingeschlossenen 
Cambium-Cylinders entstehen inzwischen in der Nähe der zuerst in gewissen 
Abständen gebildeten Spiralfasern neue Holzfasern mit treppenförmig oder 
punktirt verdickten Wandungen in der schon oben bei den Gefäfsen des Stam- 
mes beschriebenen Weise und zwar so, dafs die zuerst entstehenden engeren, 
punktirten Fasern neben den Spiralen, die weiteren, treppenartig verdickten, 
der Mittellinie der Wurzel näher stehen. Sie Alle bilden Bündel, die auf 
Querschnitten der Wurzel (Taf. III Fig. 2.) in einen Kreis geordnet sind, 
der nach Aussen die Rinde begrenzt: zwischen diesen Bündeln findet sich auch 
noch in alten Wurzeln der Rest des Cambiums von dem die Neubildung von 
Geweben für Wurzeläste ausgeht und dessen äufserste, das Rindengewebe 
berührende Schicht verdickte Wandungen erhält. Auch eine Vermehrung 
der Holzbündel scheint die Folge des Fortbestehens dieser Cambiumgrup- 
pen zu sein, denn in den älteren Theilen der Wurzel findet sich eine grö- 
fsere Anzahl derselben wie in den jüngeren und zwar sind dort zwischen den 
gröfseren Holzbündeln, im äufseren Umkreise des Cambiums, kleinere vor- 
handen, für deren spätere Entstehung auch der gröfsere Umfang dieses Thei- 
les der Wurzel spricht. 

Das in der Mittellinie der dünnsten dieser Wurzeln befindliche Cam- 
bium wird meistens nicht durch wirkliches Parenchym ersetzt, sondern erhält 
nur eine spindelförmige Gestalt und verdickte Wandungen nach Art der Bast- 
zellen. In den etwas diekeren Wurzeln findet sich sowohl Stärke enthalten- 
des Parenchym, einen wirklichen Markeylinder darstellend, als auch, in die- 
sem Markparenchym zerstreut, einzelne Bastfasern wie sie in der Rinde vor- 
kommen und oben beschrieben sind. Von der gröfseren Thätigkeit eines 
ausgedehnteren Parenchyms scheint es abhängig, ob neben diesen einfachen, 
engen, Gummi führenden Fasern, die später zu Bastfasern sich verdicken, noch 
senkrechte Reihen von weiteren Zellen sich entwickeln, (Taf. III Fig. 4 a.b.) 
die mit den zunächst sie umgebenden Zellen ein System bilden, anfangs die, 


vielleicht durch die Zersetzung aus der Stärke des Markes gebildeten, gum- 


o° 


134 H. Karsten: 


miartigen Stoffe in ihren Höhlungen absondernd und später gleichfalls ver- 
diekte Wandungen erhaltend, wodurch die weiten, zu Fasern vereinigten Zel- 
lenreihen das Ansehen der schon oben beim Stamme beschriebenen, netz- 
förmig verdickten Fasern bekommen, denen sie auch wohl hinsichts ihrer Le- 
bensthätigkeit gleichbedeutend sind. 

Alle diese Übergangsformen beweisen, wie mir es scheint, unzweifel- 
haft, dafs das Vorkommen eines parenchymatösen Markgewebes zwar das 
Erkennen eines Holzeylinders erleichtert, doch kein nothwendiger Bestand- 
theil desselben ist, dafs auch der in den dünnen Palmenwurzeln vorkom- 
mende centrale Cylinder als Holzeylinder nicht als einfaches Holzbündel zu 
betrachten ist, dafs wohl nur wegen der geringeren Ausdehnung der später 
verholzenden Cambiumschicht die Entstehung von Parenchym verhindert wird. 
Die vergleichende Betrachtung der stärkeren Wurzeln der Iriartea mag als 
Bestätigung hiezu dienen. Im unentwickelten Zustande besitzen auch diese 
einen Oylinder cambialen Gewebes, der das Zellgewebe in Rinde und Mark 
sondert, und dort wo er das Rindengewebe begränzt verholzt und braun ge- 
färbt wird. Er bildet hier, wie in den dünneren Wurzeln, im (Juerschnitte 
einen Kreis doch mit wellig gebogenem oder ausgezacktem Rande, welche 
Zacken sich so weit in das Rindenparenchym verlängern, dafs der Kreis in 
einen Stern übergeht, bei dem, in noch umfangreicheren Wurzeln, die ab- 
gerundeten Strahlen zwei-oder drei-zackig sind. (Taf. II Fig.3.) Im Um- 
kreise dieses Cambium-Cylinders treten zuerst Spiralfasern auf, denen nach 
Innen engere und weitere Holzfasern folgen von der Beschaffenheit der oben 
von derG@eonoma, Chamaedorea, Klopstockia etc. beschriebenen; in der Regel 
sind hier indessen nicht so viele Fasern in einer Reihe in der Richtung des 
Radius neben einander stehend wie bei jenen Wurzeln. Es sind dieselben 
auch hier von später verholzenden Bastzellen umgeben, die an der der Mittel- 
linie zugewendeten Seite in besonders grofser Menge vorkommen. Zwischen 
gewachsenen Wurzel 


3 
noch die Reste des Cambiumeylinders, dessen Gewebe in der Zellenvermeh- 


diesen Holzbündeln befinden sich auch hier in der aus 


rung fortfährt, und zur Bildung von neuen Holzbündeln Veranlassung giebt 
die eine Verdickung der Wurzel herbeiführen kann. Bei denacht Fufsüber dem 
Stamme entstehenden Wurzeln der Jriariea excelsa ist besonders die dadurch 
hervorgebrachte Kegelform auffallend, da sie oben bei dem Abgange aus dem 
Stamme einen Durchmesser von 3” besitzen der an der Spitze sich bis auf 1” 


die V egetationsorgane der Palmen. 135 


verringert. In den Strahlen des Sternes der dicken Wurzeln richtet sich 
die Lage der Holzbündel, ebenso wie in deren einfachem Kreise, (des Quer- 
schnittes) immer nach der Richtung der Cambiumschicht, so dafs die Holz- 
faser-Reihen und-Bündel hier nicht nach dem Mittelpunkte der Wurzeln, 
sondern nach der Mittellinie dieses Sternstrahles gerichtet sind. Ein centra- 
ler Strang den Mohl in der Mitte dieses Holzeylinders vermifste kommt nicht 
vor und kann auch, wenn wir den eben beschriebenen Bau mit den Wurzeln 
der übrigen Monocotylen Pflanzen vergleichen, nicht vermuthet werden. 

Bei der Iriartea exorhiza fand Mohl auch im Marke der Wurzeln 
einzeln stehende Holzbündel, ich konnte bei der Iriartea praemorsa hier wie 
in dem Rindengewebe nur die weiten Gummifasern (Netzfasern), von ver- 
dickten Bastzellen umgeben, auffinden, und bezweifele durchaus das Vorhan- 
densein wirklicher Holzbündel in dem Marke einer Monocotylenwurzel. Die 
Entwickelungsgeschichte dieser Gummifasern ist dieselbe wie ich sie schon 
früher von den im Holzbündel des Stammes vorkommenden gegeben habe. 
(Vergleiche auch Taf. III. 4. a. b.). Aufser diesen weiten Gummifasern kom- 
men auch noch im Marke und besonders häufig in der Rinde die oben be- 
schriebenen, milchsaftfaser-ähnlichen Elementarorganen vor, die anfangs Ra- 
phidenbündel mit Gummi enthalten, später verdickte Wandungen bekommen, 
den Bastfasern ähnlich. (Diese Fasern vertreten in den dünneren Wurzeln 
ganz die Stelle der weiten, später netzförmig verdickten Gummifasern, wo- 
durch sie ihre physiologisch ähnliche Bedeutung mit dieser bekunden.) Das 
Parenchym des Markes besteht aus etwas verlängerten, punktirt verdickten 
Zellen ebenso das der Rinde. Die Oberhaut besteht wie oben von den übri- 
gen Palmenwurzeln beschrieben, aus Zellen die entweder cylinderisch ge- 
formt sind, parallel der Wurzellänge oder mehr würfelförmig mit warzig her- 
vorragender Oberfläche. — 

In die Fasern des Stammes gehen alle diese Fasern der Wurzel nicht 
unmittelbar über, sie verlängern sich nur zum Theil bis zu den, an der Grenze 
des Markes und der Rinde, den Holzeylinder bildenden Bündeln, theils etwas 
weiter nach innen und verlaufen eine kurze Strecke mit ihnen gemeinschaft- 
lich. Die weiten Gummifasern des Markes und der Rinde enden innerhalb 
des Wurzelgewebes im Stamme. 

Der Bau der Pfahlwurzeln der Palmen ist nicht verschieden von dem 
der dünnen Stammwurzeln, auch in ihnen findet sich ein Cylinder von Holz- 


136 H. Karsten: 


bündeln die durch Cambium von einander getrennt sind und die Rinde von 
dem mittleren Bast-und Holz-Gewebe scheiden. Taf.IH Fig.2 stellt einen 
Theil eines Querschnittes der Pfahlwurzel der Iriartea praemorsa dar, um 
dies Verhältnifs deutlich zu machen. In den verdickten Bastzellen 4 und 
dem übrigen Cambiumgewebe ce beginnt unter Umständen, die noch näher 
zu erforschen sind, in allen Palmenwurzeln eine Zellenbildung die zur Ent- 
stehung von Wurzelästen Veranlassung giebt. Die anatomischen Erscheinun- 
gen dieser Entwickelungen sind dieselben wie sie oben von der Wurzelbildung 
aus dem Holzeylinder des Stammes beschrieben wurden. Häufig ereignet es 
sich, dafs die Spitze einer aus dem Stamme hervorgewachsenen Wurzel nicht 
während der Wachsthumsperiode in der sie gebildet wurde den Erdboden er- 
reicht und dann in der regenlosen Jahreszeit zusammentrocknet und abstirbt; 
in solchen Fällen sind es besonders die dieser Spitze zunächst benachbarten 
Theile an denen Wurzeläste hervorsprossen, wodurch dann ein Kreis dünner 
Wurzeln von dem Umkreise der Hauptwurzel sich in den Boden verlängert. 

Zuweilen tritt auch durch unmittelbare Bildung aus dem Cambium 
der Wurzelspitze, vielleicht in Folge eines zu grofsen Zuflusses von bildungs- 
fähigem Nahrungssaft, eine Verästelung der Wurzel ein. Untersucht man eine 
solche eben in der Theilung begriffene Wurzel so findet man die Vermeh- 
rung der Zellen im Cambium auf zwei Seiten der Wurzelspitze vertheilt. Die 
Wurzelmütze bedeckt sowohl diese beiden jetzt etwas erhöhten Stellen, wie 
auch noch die Mitte der Wurzelspitze die jetzt eine Vertiefung bildet. Als 
Verlängerung des in der Mittellinie der Wurzel befindlichen prosenchymati- 
schen Gewebes bildet sich hier ein dem Rindenparenchym gleiches Ge- 
webe weiter, cylinderförmiger Zellen, nach Aufsen von einer Oberhaut be- 
deckt, aus dem die Zellenvermehrung hier beschliefsenden Cambium hervor. 
Der Holzeylinder spaltet sich in zwei Theile deren Enden sich nach den Cam- 
biumgruppen hinrichten. 

Wenden wir uns nun, nachdem wir uns von der übereinstimmenden 
Entwiekelungsweise und dem ähnlichen Baue der verschieden gestalteten Pal- 
menwurzeln überzeugt haben noch einmal zurück zur näheren Betrachtung 
der Art und Weise ihres Wachsthumes aufserhalb des Rindengewebes des 
Stammes. Wir sahen wie sich beim ersten Entstehen der Anlagen der Wur- 
zel durch eine vermehrte Zellenbildung innerhalb des Holzeylinders, an der 
Spitze des noch cambialen Würzelchens ein Zellgewebe absonderte, das die 


die Vegetationsorgane der Palmen. 137 


übrigen Gewebesysteme die sich aus dem ihm zunächst befindlichen Cam- 
bium hervorbildeten, schirmartig überdeckte. Es gehört dieses Zellgewebe 
nicht zu den die ausgewachsene Wurzel zusammensetzenden Systemen und 
hängt auch nur mittelst des in der Mitte der Wurzelspitze befindlichen Cam- 
biums mit derselben inniger zusammen, indem das Gewebe derselben sich 
ebenso wie das der eigentlichen Wurzel aus diesem Cambium vermehrt. 

Von der Gröfse der Lebensthätigkeit der ganzen Pflanze, die wieder- 
um durch die atmosphärischen Verhältnisse bedingt ist, hängt es ab einen 
wie grolsen Raum dies Cambium in der Wurzelspitze einnimmt: bald ist es 
eine geringe Schicht an deren inneren (Stamm-) Seite die verschiedenen Ge- 
webe der Wurzel grenzen, während nach Aussen das grofszellige parenchy- 
matische Gewebe der Wurzelmütze unmittelbar dasselbe bedeckt: bald nimmt 
das, durch den trüben Inhalt dunkel gefärbte Cambium einen grofsen Theil 
der Wurzelspitze ein, während das aus ihm sich hervorbildende Wurzelge- 
webe, mit einer trüben, schleimigen Flüssigkeit erfüllt, in dem kleine Stär- 
kekörperchen schwimmen, nach und nach in die langgestreckten Zellen des 
Markes und der Rinde mit ihren Saftbehältern, durch Raphidenbündel von 
oxalsaurer Magnesia ausgezeichnet, so wie in die gewöhnlich sehr früh durch 
ihren klaren durchsichtigen Inhalt zu erkennenden Epidermialzellen übergeht, 
und ebenso nach Aussen in die mit Stärke, jungen Zellen und einer schleimi- 
gen, durch das Vermischen mit Wasser sich trübenden Flüssigkeit erfüllten 
Zellen der Wurzelmütze sich umändert, denen andere etwas mehr ausge- 
dehnte, mit einem klareren Inhalte und verschieden gefärbten Bläschen ge- 
füllt, benachbart sind, die weniger Stärke in kleineren Körnern enthalten. 
Weiter nach Aussen verschwindet dann diese Stärke immer mehr und der 
flüssige Zelleninhalt wird klarer, bis endlich auch dieser durch eine Luftart 
ersetzt wird, die auf Zusatz von Baryt- und Ammoniak-Lösung verschwindet, 
also Kohlensäure ist. Diese äufsersten Zellen trennen sich endlich von den 
darunterliegenden, während vom Cambium aus, wie beschrieben, neue Zellen 
an die Wurzelmütze hinzutreten. Es beruht daher auf einen Irrthum wenn 
man glaubte die Zellen der Wurzelmütze seien die ältesten der ganzen Wur- 
zel oder gar nur abgerissene Theile der Rinde des Stammes (Endlicher’s 
und Unger’s Grundzüge 1843. $. 169. Fig. 60 u. 61 und Schleiden’s 
Grundzüge 1846 p. 118 und 119). 

Phys. Kl. 1847. S 


138 H. Karsten: 


Als die wesentlichsten Vorgänge bei diesen Veränderungen des Inhal- 
tes der Zellen der Wurzelmütze ist das Auftreten der Stärke in den aus dem 
Cambium gebildeten parenchymatösen Zellen, so wie das Verschwinden der- 
selben in den etwas weiter ausgedehnten, dann mit einer schleimig-gummiar- 
tigen Flüssigkeit erfüllten, und endlich, mehr nach Aussen der Oberfläche 
zunächst, die Sättigung dieser Flüssigkeit mit Kohlensäure hervorzuheben. 
Diese Veränderung fand ich bei allen Wurzeln die ich untersuchte. Die Form 
der Zellen geht aus dem rundlichen Parenchym, das zunächst an das Cam- 
bium grenzt in vieleckiges und nach Aussen endlich meistens in Cylinderpar- 
enchym über, dessen Längendurchmesser der Oberfläche der Wurzelspitze 
parallel liegt. Von den Ernährungsverhältnissen hängt es ab, ob diese cylin- 
derischein die Würfel-Form übergeht, die dann nach Aussen warzig hervorragt 
(Taf. ıı Fig. 4. c.), ähnlich wie die an der Luft gewachsenen Oberhautzellen der 
Wurzelrinde. 

Ebenso werden durch die Ernährungsverhältnifse mannigfache Verän- 
derungen in der Form und dem Inhalte der übrigen Gewebe der Wurzel 
hervorgerufen durch deren Kenntnifs es mir möglich erscheint, über die 
Wurzelthätigkeit überhaupt, wie besonders über die Bestimmung des Gewe- 
bes der Wurzelmütze, Andeutungen zu erhalten, die vielleicht über die Er- 
nährungsweise der Wurzel und deren Bedeutung für die Ernährung der ober- 
irdischen Theile der Pflanze bei fortgesetztem Studium Aufklärung geben 
können. 

Zu diesem Zwecke beobachtete ich, nachdem ich mir eine genaue 
Kenntnifs des Baues der gesunden, ungestört ausgebildeten Wurzel und des 
Inhaltes ihrer Gewebezellen zu verschaffen gesucht, verschiedene krankhafte 
Zustände derselben, die ich in der Natur vorfand oder selbst veranlafste. Ich 
werde dieselben hier zur Prüfung vorlegen, damit jeder sich selbst überzeu- 
gen kann, wie weit dieselben zu allgemeinen Schlüssen berechtigen, indem 
ich nochmals bevorworte, dafs ich zwar durch die zahlreichsten Untersu- 
chungen mich bemühte die regelmäfsige Beschaffenheit des Wurzelgewebes 
kennen zu lernen um darnach auf etwa vorgegangene, oft krankhafte Verän- 
derungen bei der künstlichen Ernährung schliefsen zu können, dafs ich hier- 
über dennoch nicht immer eine unbedingte Gewifsheit erreichen konnte da 
es natürlich nicht möglich ist dieselbe Wurzel vor und nach dem Versuche zu 
untersuchen, ich vielmehr mich darauf beschränken mufste, andere, anschei- 


die V egetationsorgane der Palmen. 139 


nend unter gleichen Bedingungen gewachsene Wurzeln, wo möglich von der- 
selben Pflanze, zu untersuchen, um über die Veränderungen ihrer Bildungs- 
vorgänge, während der krankaften Ernährungsweise urtheilen zu könnnen. 

Alle diese Versuche und Beobachtungen beziehen sich auf die Wurzeln 
der Iriartea praemorsa, von der ich die 4”-6” dieken, dienoch nicht die Erde 
erreicht hatten, nahm, da diese leichter unbeschädigt abgeschnitten werden 
konnten. 

Einige Wurzeln die von dem Stamme getrennt zwei Tage mit der Spitze 
in Wasser gestanden hatten enthielten in dem Gewebe der Wurzelmütze gar 
keine Stärke, alle Zellen waren sehr vergröfsert die Häute derjenigen der 
äufsersten Spitze stark verdickt, alle enthielten einen klaren flüssigen Inhalt 
mit einem scharf begrenzten Zellkerne, dessen trüber Inhalt durch Eisenchlo- 
ridlösunggrünlich-dunkel gefärbt wurde. In dem jüngsten Rindengewebe ent- 
hielten viele senkrechte Zellenreihen Raphidenbündel von oxalsaurer Magne- 
sia.(!) Der Zellsaft enthielt eine Säure, die die Kohlensäure des kohlen- 
sauren Ammoniakes unter Aufbrausen abschied. (Oxalsäure?) 

Nachdem eine andere Wurzel 24 Stunden mit der Spitze in Wasser 
gestanden hatte war noch nicht alle Stärke verschwunden. Zu Anfang des 
Versuches hatte ich mehrere Wurzeln untersucht, und fand immer in dem 
Gewebe der Wurzelmütze grofse Stärkebläschen. — 

Mehrere von dem Stamme getrennte Wurzeln die zu gleicher Zeit in 
Wasser, in Kohlensäure, in kohlensaures Ammoniak, in humussaures Ammo- 
niak und in huminsaueres Ammoniak gestellt wurden zeigten darauf folgende 
Beschaffenheit: Die Zellen der Wurzelmütze die zwei Tage in Quellwasser 
gestanden hatte enthielten noch Stärke, doch nur als sehr kleine Körner: der 
Zellkern, dessen nach der Spitze gewendeten Oberfläche sie anlagen war in 
vielen Zellen sehr stark vergröfsert, oft lagen dann die Stärkekörnchen und 
der übrige körnige Inhalt der Mutterzelle so zwischen ihren äufseren, nach 
der Spitze gerichteten Wandungen und dem grofsen zu einer Zelle ausgedehn- 


(') Es waren diese Krystalle in Wasser, Essigsäure, Alkohol, Äther und Ammoniak 
schwerlöslich, dagegen wurden sie durch Salpetersäure, Chlorwasserstoffsäure und Schwe- 
felsäure sehr leicht aufgelöst. Sowohl wegen dieser sehr raschen Lösung in Schwefel- 
säure, wie auch wegen der Armuth des Bodens an Kalksalzen bei vorherrschendem Bitter- 
erde-Gehalte, glaubte ich diese Krystalle nicht für Kalk halten zu dürfen, doch fehlt noch 
eine genauere Untersuchung. — 


52 


140 H. Kasstes: 


ten Kerne, dafs man den Anblick des von Hartig „gespaltene Ptychodenhaut” 
genannten Zellensystemes hatte. Ammoniaklösung färbte den gummiartigen, 
dünnflüssigen Inhalt der Zellen nicht. Die Anzahl der mit Raphidenbündeln 
gefüllten Zellen war auffallend vermehrt. 

Auf der Schnittfläche einer 5” dieken Wurzel war ein mit Quecksilber 
gefülltes, doppelt heberförmig gebogenes Glasrohr befestigt worden, um den 
etwa während der Wasseraufnahme eintretenden Saftdruck zu erkennen: das 
Quecksilber des langen, aufwärts gekrümmten Rohres fing sogleich an zu fallen 
erreichte 6”, und erhielt diesen Stand 48 Stunden. Bei einem zweiten Ver- 
suche fiel es ebenfalls 6”, und bei einem dritten um 12”. Das Mikroskop 
zeigte bei allen ähnliche Verhältnisse wie oben angegeben. — 

Obgleich also, wie die Beschaffenheit des Gummi in den Zellen deut- 
lich zeigte, Wasser aufgenommen war, (die Zellen und Fasern der ganzen 
Wurzel waren mit Flüssigkeit erfüllt) eine Vermehrung der Flüssigkeits- 
Menge im Wurzelgewebe stattgefunden: hatte dieselbe keinen Druck auf die 
Quecksilbersäule ausgeübt, vielmehr deutete der veränderte Stand der letz- 
teren, auf eine Verringerung des Gasvolumens, das sich zwischen der Flüssig- 
keit des Wurzelgewebes und dem Quecksilber befand. 

Ich schrieb es der in dieser Luft enthaltenen Kohlensäure zu, die von 
der gummiartigen Flüssigkeit stark aufgesogen wird, wiederholte daher den 
Versuch noch einmal in der Weise, dafs ich ein heberförmig gebogenes mit 
Kohlensäure angefülltes Glasrohr auf die Schnittfläche der Wurzel befestigte 
und darauf den zweiten Schenkel in Quecksilber tauchte; sogleich wurde dies 
in dem Rohre in die Höhe gezogen und stieg rasch um mehrere Zolle, was 
ich als Bestätigung meiner Voraussetzung ansah. — 

Eine andere Wurzel befestigte ich mit der befeuchteten Spitze luftdicht 
in ein mit Kohlensäure gefülltes, unten offenes Glasrohr die durch Queck- 
silber abgesperrt wurde, auf die Schnittfläche wurde gleichzeitig das mit Queck- 
silber gefüllte Steigerohr gesetzt. Nach zwei Tagen war von der Wurzel 15 
C. C. Kohlensäure aufgesogen, während das Quecksilber im Steigerohre 170 
stieg. Bei einem zweiten Versuche, bei dem eine ähnliche Menge Kohlensäure 
aufgesogen wurde, veränderte sich der Quecksilberstand fast gar nicht, bei 
einem dritten um 1”’2. Das Mikroskop zeigte folgende Verhältnisse in dem 
Gewebe der Wurzelmütze: der Zellkern war etwas vergröfsert, sehr scharf 
begrenzt, enthielt eine körnige Flüssigkeit die durch Jod gelb gefärbt wurde, 


die Vegetationsorgane der Palmen. 141 


Stärke war sehr wenig als kleine Körner zu erkennen, die dem Zellkerne an- 
klebten. Die in den Mutterzellen enthaltene Flüssigkeit war dunkler wie 
bei dem ersten Versuche, (s. 0.) wurde durch Eisenchloridlösung getrübt 
durch Ammoniak grün gefärbt, sie war weniger leichtflüssig. Die Häute 
derselben selbst waren punktirt-verdickt. 

In den oberen Theilen der Wurzel wurden die dünnwandigen, gum- 
mihaltigen Zellen, die die weiteren Gummifasern des Markes und der Rinde 
zunächst umgeben, durch Eisen- und Ammoniak-Lösung gleichfalls grün ge- 
färbt. Die Verdickung der Bastfasern schien nicht befördert zu sein, doch 
wurden dieselben durch verdünnte Schwefelsäure schneller roth gefärbt. 
Eine Bildung von rothem Farbestoffe in dem Gewebe der Wurzelrinde und 
der Wurzelmütze, die ich sonst sehr selten antraf, schien durch die Kohlen- 
säure hervorgerufen (!). 

In diesem Falle also übte der durch die Aufnahme von Kohlensäure 
vermehrte und veränderte Zellsaft einen Druck auf die in dem oberen Theile 
der Wurzel enthaltenen gasförmigen oder tropfbaren Flüssigkeiten, der sich 
hier durch das Steigen des Quecksilbers bemerkbar machte, den die Trän- 
kung der Zellenwände, die Füllung der Zwischenzellgänge und die vielleicht 
stattfindende Vermischung des Inhaltes derselben mit Wasser nicht hervor- 
zubringen vermochte. Man kann wohl annehmen, dafs diese Spannung sich 
bei der noch mit dem Stamme verbundenen Wurzel auf diesen fortgesetzt 
und in ihm ein Steigen der Nahrungsflüssigkeit bewirkt haben würde. (Man 
vergleiche meine Untersuchung über „das Bluten des Rebstockes unter den 
Tropen” in dem nächsten Hefte von Poggendorff’s Annalen). 


(') Bei einer Geonoma sah ich sehr deutlich, dafs der rothe Farbestoff, der durch 
Ammoniak blau gefärbt wird, und der trübe, gelbliche oder weilse Zelleninhalt der auf 
Zusatz von Ammoniak eine grüne Farbe annimmt, in zwei Tochterzellen enthalten waren, 
die sich gemeinschaftlich in einer Mutterzelle der Wurzelmütze befanden. In den dem 
Cambium näheren Zellen war der Zellkern röthlich gefärbt und nahm auf Zusatz von Am- 
moniak die blaue Farbe an. Alles deutete darauf hin, dafs dieser rothe Farbstoff sich in 
der Tochterzelle während ihres Wachsthums bilde also nicht in einer besonderen Secretions- 
zelle; es ist eine Nahrungsflüssigkeit, gleichbedeutend mit dem gummiarligen Schleime 
der durch Ammoniak grün gefärbt wird und der wie es scheint in Folge der Auflösung 
der Stärke entsteht. Vielleicht bewirkt die Kohlensäure die Veränderung dieses farblosen 
oder gelblichen Schleimes in die rothgefärbte Flüssigkeit, die mitwirkenden Einflüsse sind 
mir indessen nicht bekannt geworden. — 


149 H. Karsten: 


Wurde die noch mit der Pflanze verbundene Wurzel in ein Behält- 
nifs voll Kohlensäure luftdicht eingesetzt, so absorbirte dieselbe in 24 Stun- 
den 1000 CC dieses Gases, wovon 750 CC auf die ersten 12 Stunden, 250 CC 
auf die übrige Zeit kamen. Der Versuch wurde zweimal wiederholt, doch 
nicht weiter fortgesetzt, weil die Verringerung des kohlensauren Gases gegen 
das Ende fast gänzlich nachliefs und die Blätter der Pflanze welk wurden. 
Das Mikroskop zeigte dieselben anatomischen Verhältnisse wie die abge- 
schnittene, in Kohlensäure gesetzte Wurzel: Vergröfserung der Mutterzellen 
der Wurzelmütze mit oft gleichzeitig eintretender punktirter Verdickung 
ihrer Häute, eine grofse im Innern derselben schwimmende Tochterzelle 
(Zellkern mit Kernkörperchen), ein flüssiger, klarer, durch Jod und Ammoniak 
wenig sich färbender Saft in den Zellen, zuweilen derselbe in einzelnen Zel- 
len der Wurzelmütze und der Rindenzellen roth gefärbt, Stärke nur in den 
jüngsten, dem Cambium nahen Zellen vorhanden, die Zellen der Oberhaut 
warzig nach Aussen verlängert. — Bei einer 2 Tage in Kohlensäure gewach- 
senen Wurzel der Chamaedorea gracilis waren die Oberhautzellen zum Theil 
in Haare ausgewachsen, zum Theil eben so warzig geformt. Diese, wie die 
ältesten Zellen der Wurzelmütze, die weiten Gummigefäfse und die Bastfa- 
sern waren häufig mit Kohlensäure gefüllt. 

Derselbe Versuch wurde mit Wurzeln der Geonoma undata angestellt. 
Auch hier hatten darauf die Zellen der Oberhaut sich stark nach Aussen ver- 
längert. Stärke war in den Zellen der Wurzelmütze fast gar nicht vorhan- 
den, während sie in der gesunden Wurzelspitze nie fehlte, dagegen waren 
hier eine gröfsere Menge von Raphidenbündeln in den Rinden- und Mark- 
Zellen. 

Die Versuche über die krankhaften Veränderungen der Palmenwur- 
zeln während ihrer Ernährung und ihres Wachsthumes in Kohlensäure wieder- 
holte ich nun mit kohlensaurem Ammoniak. Ich stellte ein Glasröhrcehen mit 
einer geringen Menge dieses Salzes in den leeren Schenkel des Steigrohres, 
den ich an die Schnittfläche der Wurzel befestigte, während die freie Spitze 
der Wurzel feucht erhalten wurde. Der Stand des Quecksilbers im Steig- 
rohre wurde indessen in 2 Tagen nicht verändert. Die Schnittfläche der 
Wurzel war hierauf dunkel grünlich gefärbt, das Mikroskop zeigte in den 
Zellen der Wurzelrinde Chlorophyllbläschen die sonst nicht in den Wurzeln 
der Iriartea sich finden. Ferner waren die Tochterzellen (Zellkerne) bedeu- 


die Vegetationsorgane der Palmen. 143 


tend vergröfsert, sie besafsen fast die Gröfse der Mutterzellen und enthielten 
meistens zwei Kernkörperchen die sich zu kleinen, sehr scharf -begrenzten 
Bläschen ausgedehnt hatten; diese inneren Zellenvegetationen fanden sich in 
allen Formen der Wurzelzellen. 

Die Zellen der Wurzelmütze enthielten viele grofse Stärkebläschen, 
Raphiden schienen nicht vermehrt zu sein. Die Prosenchymzellen in der 
Nähe des Cambium -Cylinders, die später wie Bastzellen verholzen, enthiel- 
ten einen gallertartig aussehenden Stoff der sich in Wasser löste und Körn- 
chen und Bläschen hinterliefs. 

Bei Wiederholung des Versuches zeigte sich derselbe Erfolg. Eine 
andere Wurzel setzte ich in eine wässrige Lösung von kohlensaurem Ammo- 
niak, auch hier veränderte sich der Stand des Quecksilbers in dem Steige- 
rohre nicht. Nach zwei Tagen befanden sich in den Zellen der Wurzelmütze 
viele kleine, gelblich aussehende Stärkebläschen in einer schleimigen, durch 
Jod sich gelb färbenden Flüssigkeit und Zellkerne, die gleichfalls das un- 
durchsichtige Ansehn besafsen, das die mit dem gallertartig-festen Stoffe ge- 
füllten Prosenchymzellen des Markes zeigten. Das cambiale Gewebe der 
Wurzelspitze war bedeutend vergröfsert und mit einer gelben, trüben Flüssig- 
keit angefüllt, die durch Salpetersäure noch tiefer gefärbt wurde. — 

Um mich zu überzeugen, dafs wirklich Ammoniak von dem Wurzel- 
gewebe aufgenommen werde, brachte ich die unbeschädigte Wurzel einer Iri- 
artca, die noch mit dem Stamme zusammenhing, in eine sehr verdünnte Lö- 
sung von 3 Gran kohlensaurem Ammoniak und vermischte die noch ungefärbte 
Flüssigkeit, nachdem die Wurzel drei Tage darin gestanden mit Chlorwasser- 
stoffsäure, nahm den nach Verdampfung der gröfsten Menge des Wassers ge- 
bliebenen Rückstand mit Spiritus auf und schlug nun das Ammoniak mit 
Platinchlorid nieder. Nach dem Glühen dieses Niederschlages erhielt ich 
0,167 grm Platin; es hatte sich also das kohlensaure Ammoniak fast um 2 
verringert. — 

Endlich machte ich sehr zahlreiche Versuche mit ähnlichen Wurzeln 
der /riartea die ich vom Stamme abgeschnitten in Lösungen von humus- und 
humin-saurem Ammoniak setzte. Es zeigte sich kein Unterschied in der Wir- 
kung der beiden Körper. Nachdem die Wurzeln zwei Tage mit der Spitze in 
diesen Flüssigkeiten gestanden, war das ganze Gewebe der Wurzelmütze und 
das des Wurzelmarkes und der Rinde in der Nähe des Cambiums mit Stärke 


444 H. Karsten: 


angefüllt. Die Zellkerne enthielten eine körnige Flüssigkeit, die durch Jod gelb, 
durch Ammoniak grünlich gefärbt wurde. Auch das Cambium und die Zel- 
len der Wurzelmütze färbten sich durch Ammoniak grün, der Oberfläche nä- 
her verlor sich diese, auf Zusatz von Ammoniak erscheinende grüne Farbe 
und die ältesten Zellen der Wurzelmütze, wie die der Epidermis enthielten 
Kohlensäure. Durch Eisenchloridlösung wird der Inhalt der Zellen grünlich 
gefärbt und gerinnt auf den Zusatz von Alkohol. Im letzteren Falle trenn- 
ten sich die verschiedenen Häute der ineinanderbefindlichen Zellen, wodurch 
es deutlich wurde, dafs die Stärke innerhalb der zweiten (innern) Zelle und 
der schleimige durch Ammoniak sich grün färbende Stoff in einer dritten (in- 
nern) Zelle, dem vergröfserten Zellkerne, befindlich war. — Raphiden waren 
sehr wenig in den prosenchymatischen Zellenreihen der Rinde und des Mar- 
kes enthalten, die in älteren Theilen der Wurzel verdickte Wandungen besi- 
tzen. Die Form der Zellen der Wurzelmütze war eine cylinderische, parallel 
der Axe der Wurzel, während dieselben, wenn die Wurzel in Kohlensäure 
gestanden hatte, würfelförmig, nach aufsen warzig erweitert waren; die Jünge- 
ren Epidermialzellen lagen eng nebeneinander, die jüngsten, die in der natür- 
lich ernährten Wurzel immer zuerst von dem Cambium gesondert werden, waren 
von dem benachbarten Gewebe noch nicht zu unterscheiden. Alles deu- 
tete auf eine vermehrte Zellenbildung bei vermindertem Zellenwachsthume. 

Das Quecksilber in dem Steigerohre, das ich auf die Schnittfläche meh- 
rerer Wurzeln setzte, veränderte nicht seinen Stand. Zuweilen fand sich in 
den weiten Gummifasern nach dem Versuche noch Kohlensäure. — 

Bei anderen Wurzeln, die vier Tage in den organischen Ammoniak- 
verbindungen gestanden hatten, war weniger Stärke vorhanden, dagegen schien 
sich die Menge der Raphiden und des schleimigen Inhaltes der dritten (inneren) 
Zelle (des vergröfserten Zellkernes) vermehrt zuhaben. Die Häute der äufse- 
ren Zellen der Wurzelmütze waren verdickt, einige derselben, so wie viele der 
Prosenchymzellen der Holzbündel, enthielten den gallertartigen Stoff der 
sich, wie oben beschrieben, im Wasser löst; er wurde hier durch Jod gelb 
oder bräunlich gefärbt, gewöhnlich bleibt er sonst bei natürlich ernährten 
Pflanzen farblos. — 

Bei Wurzeln die acht Tage mit der Spitze in einer gleichen Flüssigkeit 
gestanden hatten, war keine Stärke aufzufinden, nur die jüngeren dem Cam- 
bium zunächst befindlichen Zellen der Wurzelmütze enthielten den durch 


die V egetationsorgane der Palmen. 145 


Ammoniak grün gefärbt werdenden Schleim, der sich überdies in den pros- 
enchymatischen, später verholzenden Bastzellen vorfand; die den Gummifasern 
zunächst befindlichen Zellen waren mit dem festen, gallertartigen, in Was- 
ser lösbaren Stoffe angefüllt. Die Spiralfasern waren bis nahe in die Spitze 
der Wurzel bis zum Cambium verlängert, die Zusammensetzung derselben aus 
Spiralzellen war hier besonders deutlich zu erkennen. Die jüngeren Epi- 
dermialzellen standen sehr gedrängt nebeneinander und waren wenig ausge- 
bildet, die äufseren Zellen der Wurzelmütze waren meist cylinderförmig. 
Alle Zellen waren voll deutlicher, grofser Kerne die durch Eisenchloridlö- 
sung dunkelgrünlich gefärbt wurden. In den Gefäfsen war kein kohlensau- 
res Gas zu erkennen, sie waren mit Flüssigkeit angefüllt. — 

Fassen wir nun alle diese, in Folge der krankhaften Ernährung einge- 
tretenen Erscheinungen zusammen, so lassen sie den allgemeinen Schlufs zu, 
dafs die Einwirkung der Kohlensäure die Entfaltung, die Ausdehnung, der 
Zellmembran befördert, die stickstoffhaltigen Stoffe dagegen der Zellen- 
vermehrung & 


OS 


haltiger Nahrungsmittel gebildet zu werden, und auch die dann anfangs er- 


zeugte, bei längerer Einwirkung desselben Stoffes, später wieder für die Berei- 


ünstig sind. Stärke scheint nur bei der Gegenwart stickstoff- 


tung anderer Nahrungssäfte verbraucht zu werden. 

Die in dem Zellgewebe enthaltene Stärke, so wie die in Folge des Zu- 
flusses stickstoffiger Verbindungen anfangs gebildete, wird bei einer aus- 
schliefslichen Ernährung durch reines Wasser, durch Kohlensäure und die- 
selben Stickstoff-Verbindungen verflüssigt: während sich, besonders ausge- 
zeichnet im letzteren Falle, in der auswachsenden dritten (inneren) Zelle ein 
schleimiges Gummi ansammelt. Längere Einwirkung von Kohlensäure auf 
das Wurzelgewebe der Palmen scheint die Bildung von Oxalsäure zu beför- 
dern, die bei Gegenwart von erdigen Basen mit diesen sich verbindet und in 
den später zu Bast sich verändernden Zellen auskrystallisirt. Nach der län- 
ger fortgesetzten Ernährung vermittelst humussaurer- oder huminsaurer-Ver- 
bindungen fand ich öfter auch in den weiten Zellen des Markes und der Rinde, 
die später zu Netzfasern sich vereinigen, Krystallbündel dieser oxalsauren 
Magnesia, während die zunächst umgebenden, später verholzenden Zellen mit 
dem durch Ammoniak sich grün färbenden Schleime erfüllt waren. Vielleicht 
wird auch die Bildung der Spiralfasern durch das stickstoffreiche Nahrungs- 
mittel befördert. Die Gestalt der äufseren Zellen der Wurzelmütze und der 

Phys. Kl. 1847. T 


146 H. Karsten: 


Epidermis nähert sich nach der Ernährung durch Kohlensäure mehr der wür- 
felförmigen, nach der Ernährung durch Stickstoffverbindungen mehr der cy- 
linderischen; in dem letzteren Falle wird die gleichförmige Verdickung der 
Haut der Mutterzelle, (ähnlich wie bei dem hornigen Eiweilse) so wie die punk- 
tirte Verdickung der nächst inneren Zelle (zweiter Ordnung) und die Ausdeh- 
nung der folgenden (Zelle dritter Ordnung, Zellkern) befördert. 

Die Wurzel einer Chamaedorea gracilis, deren Stamm schon seit einem 
halben Jahre einige Fufs über der Erde abgeschnitten war, enthielt in der 
noch frischen, lebenden Spitze fast gar keine Stärke, ganz kleine Körnchen 
ausgenommen die sich in den, dem Cambium zunächst befindlichen Zellen 
fanden. Die Zellen aller Gewebe der Wurzel waren sehr regelmäfsig ausge- 
bildet, jede mit einem scharf begrenzten, grolsen Zellkerne der in einer kör- 
nigen Flüssigkeit ein deutlich als Bläschen erkennbares Kernkörperchen ent- 
hielt. Die Spiralfasern erreichten lange nicht die Spitze des Cambiumeylin- 
ders nnd endeten hier nicht als solche, sondern. als punktirt-verdickte Fasern. 

Die Holz-und Bast-Zellen des Markes und der Rinde die in der ge- 
sunden Pflanze eine durch Jod sich gelbfärbende, gummiartige, schleimige Flüs- 
sigkeitenthalten, waren hier mit einem hellen, klaren Safte angefüllt, der durch 
Jod nicht gefärbt wurde. Die Querscheidewände waren noch nicht resorbirt. 
In dem Marke besafsen dieselben noch die dünnen Wandungen, wo in glei- 
cher Höhe die Bastfasern der Rinde schon verholzt waren. (In der gesun- 
den Wurzel sind die weiten Gummifasern und die Bastzellen der Rinde und 
des Markes bis zu gleicher Höhe verdickt.) Diese schon verholzten Fasern 
der Rinde enthielten noch Raphiden, die sich auch in der nicht verholzten 
Verlängerung bis in die Nähe des Cambiums in grofser Menge vorfanden. 

Bei einer zweiten Wurzel die gleichfalls an einem Stammende gewach- 
sen, dessen Krone abgeschnitten war verhielten sich alle diese Zustände sehr 
ähnlich. — Es scheinen diese Beobachtungen für die aus den oben mitge- 
theilten Versuchen geschlossenen Folgerungen zu sprechen, dafs die Gewebe 
der Wurzeln sich beim Vorhandensein von Kohlensäure auszudehnen vermö- 
gen durch Vergröfserung der angelegten Zellen, dafs jedoch beim Mangel 
der nothwendigen Stickstoffverbindungen (diese' konnten weder von den 
Blättern durch den Stamm, noch von dem Boden gegeben werden da die 
Beobachtungen in die regenlose Zeit fielen) die Bildung von Zellen und ge- 
wisse Wachsthumserscheinungen derselben unterdrückt werden. — Diese 


die Vegetationsorgane der Palmen. 147 


Thatsachen zeigen ferner, dafs die Wurzeln, in einem gewissen Grade, unab- 
hängig von der Einwirkung der Blätter fortbestehen können, dafs ihre ganze 
Thätigkeit wahrscheinlich nur bezweckt Stoffe hervorzubringen durch deren 
Hülfe den oberen Theilen der Pflanze die nöthige Feuchtigkeit und die zu 
ihrem Bestehen erforderlichen mineralischen Stoffe zugeführt werden, so 
wie die Blätter die Gase aus der Atmosphäre ansammeln und dem Stamme 
zuführen, die sowohl für die Ernährung der Gewebe bestimmt sind, wie auch 
das Aufsteigen jener Flüssigkeiten erleichtern. — 

Wenn ich in Folge der mitgetheilten Beobachtungen der Bildungs- 
und Wachsthums-Erscheinungen der Wurzel wagen darf eine Vermuthung 
über die Thätigkeit des, allen wirklichen Wurzeln eigenthümlichen, als Wur- 
zelmütze bezeichneten Theiles auszusprechen, so ist es die, dafs mir dies Ge- 
webe dazu bestimmt scheint die unorganischen Stoffe aus der Umgebung zu 
sammeln und in die Wirkungsweite der assimilirenden Thätigkeit des Pflan- 
zengewebes zu führen. 

Die äufserste Zellenschichte fanden wir mit Kohlensäure, die daran 
grenzende mit einer Flüssigkeit erfüllt die nach Berührung von verdünnter 
Schwefelsäure gleichfalls eine Luftart (Kohlensäure) entliefs. Weiter nach 
Innen sahen wir die dritte, innere Zelleim Wachsthume begriffen, während sich 
ein schleimig-gummiartiger Stoff in ihr absonderte und gleichzeitig die Stärke 
sich verminderte, die in den, dem Cambium noch näher liegenden Zellen in 
gröfserer Menge vorhanden war. Durch Versuche mit Wurzelspitzen wie an- 
deren Pflanzentheilen die einen diesem Schleime, wie es schien, gleichen Stoff 
enthielten, überzeugte ich mich von dem bedeutenden Absorbtionsvermögen 
desselben für Kohlensäure. Die mit diesem Stoffe erfüllten Zellen der Wur- 
zelmütze, die äufserste der mit Flüssigkeit erfüllten Schichten derselben, darf 
man darnach wohl als die, besonders die Kohlensäure absorbirenden Organe 
ansehen, die dem Cambium näheren sind noch in der Entwickelung begrif- 
fen, in ihnen ist jedoch sowohl das Wachsthum wie die Neubildung beendet, 
sie liegen entweder der Oberfläche zunächst oder sind nur von einer wenig 
zusammenhängenden Schicht, mit gasförmiger Kohlensäure erfüllter Zellen 
bedeckt. Kommt nun dies Gewebe mit Feuchtigkeit in Berührung, so wird 
nicht nur die für dieselbe durchdringliche Zellhaut mit ihr getränkt, sondern 
sie wird auch, bei überwiegender Masse von Flüssigkeit, die Mischung beider 


w2 


148 H. Karstenr: 


Stoffe, (des Ein- und Aus-geschlossenen) nach den Gesetzen der Anziehung 
beider, gestatten müssen. Sie wird getödtet. — 

Durch diese Diffusion ist das noch assimilirende Gewebe der Wurzel- 
mütze zunächst umgeben von einer Lösung von Kohlensäure in Wasser oder 
von demselben Stoffe gemischt mit einer organischen Flüssigkeit; jedenfalls 
das beste Lösungsmittel nicht nur für Ammoniak und die übrigen Alkalien 
sondern auch für die in reinem Wasser schwerlöslichen mineralischen Stoffe, 
die später einen Bestandtheil des Pflanzengewebes ausmachen. 

Dieses Gemisch unorganischer und organischer Lösungen tränkt nun 
die trockneren Zellhäute, füllt die engen Zwischenzellräume, löst die in die- 
sem durch Austrocknen verdichteten Stoffe (die Zwischenzellsubstanz) und 
gelangt so zu den verschiedenen Geweben des Pflanzenkörpers von denen 
jedes sich auf eine seiner Natur und Stellung im Organismus entsprechenden 
Weise, in Folge der Annäherung dieser Flüssigkeit, verändert und auf die- 
selbe verändernd einwirkt: das Cambium anders wie die benachbarten Stärke 
enthaltenden Zellen und diese wieder in anderer Weise wie die Sammler der 
oxalsauren Salze oder die mit Gummi angefüllten Zellen und Fasern. — 

Fast überall sehen wir die Vergröfserung der Zellen von einer Abson- 
derung eigenthümlicher Stoffe in ihrem Innern begleitet: dafs die veränderte 
Form der Zelle auf eine veränderte chemische Zusammensetzung der Zell- 
haut deute, dafür sprechen die oben mitgetheilten Versuche und Beo- 
bachtungen über die Formveränderungen der Oberhaut der Palmen, dafs 
meistens die verschieden geformten Zellen einen verschiedenartigen Stoff als 
Inhalt umschliefsen, dies zeigt jedes aus verschiedenen Geweben zusammen- 
gesetzte Pflanzenorgan. Aller dieser Andeutungen der Assimilationsthätig- 
keit der Zellmembran und der stattfindenden Wechselwirkung derselben mit 
ihrem Inhalte ungeachtet, kann man sich, seit Dutrochet 1826 auf die Eigen- 
schaft der Zellmembran eine Diffusion zuzulassen aufmerksam machte, nicht 
von dem Gedanken frei machen, die Diffusion bewirke die Vertheilung der 
Säfte in dem lebenden Organismus. In der That ein merkwürdiges Beispiel 
wie leicht sich der menschliche Geist verleiten läfst, in der Freude über die 
Aufklärung einer dunkelen Erscheinung, über die Erkennungeines verborge- 
nen Gesetzes sich nicht nur der Hoffnung hinzugeben, durch dasselbe an- 


dere ähnlich scheinende Vorgänge verstehen zu lernen, sondern, der vorge- 


die V egetationsorgane der Palmen. 149 


fafsten Meinung vertrauend, selbst diese Übertragung auszuführen ohne ein- 
mal die nothwendige, strenge Prüfung unternommen zu haben, die allein vor 
Irrthümern bewahren kann. Und so schwierig wäre es in dem vorliegenden 
Falle nicht gewesen die Täuschung zu erkennen, denn die gröfste Mannigfal- 
tigkeit des Inhaltes der verschiedenen, nebeneinanderliegenden Zellen zeigt 
auf einen Blick, dafs dieser Inhalt nicht dem Bestreben der verschiedenarti- 
gen Stoffe sich zu einem gleichartigen Produckte zu vereinigen, seine Entste- 


hung verdanken könne. — 


Das Blatt. 


Die Entwickelung des ersten blattartigen Organes, des Saamenlappens, 
haben wie schon oben bei der Betrachtung der Keimung der Palmen verfolgt 
und zugleich gesehen, dafs die folgenden seitlichen Ausbreitungen auf gleiche 
Weise sich von dem ursprünglich einfachen elliptischen Zellenkörper abson- 
dern, indem sie unterhalb der gleichzeitig fortwachsenden Spitze des embryo- 
nalen Stammkörpers sich an dessen Oberfläche als ringförmiger Wulst erhe- 
ben,(!) durch Zellenvermehrung des cambialen Randes dieses Wulstes sich 
scheidig verlängernd, während die in dem Cambium des ursprünglichen Keim- 
lings entstandenen Spiralfasern sich mit der gleichzeitigen, theilweisen Umbil- 
dung des Grundes dieser Scheide in dieselbe hinein verlängern. — 

Die eine Seite dieser Scheide, und zwar diejenige die dem Saamenlappen 
gegenübersteht, nimmt etwas mehr an Dicke zu, wie die in seiner Achsel be- 
findliche, es ist die Andeutung derjenigen Stelle die an den mehr entwickelten 
Blättern die Blattfläche trägt. In diese Seite hinein verlängert sich auch die 
erste der in dem Umkreise des Stammkörpers des Keimlings entstandenen 


(') Man hat die Frage aufgeworfen, ob das Blatt aus einer Zelle der Stammspitze 
entstehe oder aus einer Zellengruppe; bei den Palmen ist die erstere Bildungsweise nicht 
zu beobachten, es findet sich die erste Anlage des Blattes stets als ringförmiger Wulst 
die ganze Stammspitze umfassend, so wie die Eihüllen an dem Eikerne entstehen. In 
beiden Fällen ist wohl kaum daran zu denken den Anfang der Wachsthumsthätigkeit in 
einer Zelle zu entdecken; es ist ein bestimmter Abschnitt des Cambiumgewebes des Gip- 
feltriebes in welchem eine Vermehrung der Zellenbildung eintritt. Dafs die Entwickelung 
der Eihüllen nicht ungegründet mit der Entwickelung der Blätter verglichen werde, da- 
für spricht die Ausbildung derselben zu wirklichen, blattartigen Organen an den Eichen 
der plantae viviparae z.B. bei Poa und Feszuca. 


4150 H. Kansrten: 


Spiralen, als die erste Grundlage eines Holzbündels, das als die Mittelrippe 
diese Scheide durchzieht und sich durch die gröfsere Anzahl von Holzfasern 
und Bastzellen, die sich aus dem sie umgebenden Cambium bilden, von den 
übrigen in bestimmten Abständen im Scheidengewebe vertheilten Holzbün- 
deln auszeichnet. Dieser Kreis oder Ring von Holzbündeln nimmt, wie oben 
angegeben, von dem cambialen Knospengrunde seinen Anfang, ihm folgt ein 
anderer mit jeder neuen Blattanlage, die nach der Verlängerung des Stamm- 
körpers des Keimlings nicht mehr in dem Knospengrunde selbst, sondern 
später in dem nach oben verlängerten, die Spitze desKnöspengewebes mit dem 
Grunde verbindenden cambialen Umkreise desselben beginnen, an dessen in- 
neren und äufseren Oberfläche sich überdies Parenchymgewebe als Mark 
und Rinde absondert. Es ist dies derselbe Vorgang den wir später bei allen 
übrigen sogenannten Gefäfspflanzen wieder finden werden, nur dafs hier bei 
den Palmen der seltnere Fall eintritt, dafs ein ganzer Kreis von Holzbündeln 
sich von dem Umkreise des Holzeylinders fast gleichzeitig für das Blatt trennt, 
während gewöhnlich nur ein Bündel den Holzeylinder unterhalb der Blatt- 
anlage verläfst, dem später jederseits wohl noch einige folgen. — 

Auch das folgende Blatt erhält noch meistens keine Blattfläche es ist 
wie das vorhergehende ein einfaches, zusammenhängendes Rohr, das die 
nächsten, jüngeren Blattanlagen und die auswachsende Gipfelknospe selbst 
scheidenartig umgiebt; der obere Rand ist meistens schräg zugespitzt, wobei 
die Spitze der verdickten Seite der Scheide aufgesetzt ist und in ihr das gröfste 
Holzbündel endet. 

Es ist bei den verschiedenen Arten verschieden, wie rasch die zuneh- 
mende Entwickelung der auf einander folgenden Blätter vor sich geht, mei- 
stens besitzt schon das dritte Blatt eine freie Fläche, die verlängerte platten- 
artige Ausbreitung des zugespitzten Randes der stärker entwickelten Seite der 
Scheide; es tritt dann auch, mit dieser Formveränderung zugleich, eine verän- 
derte Richtung des Verlaufes der Holzbündel ein, indem alle, die das Ge- 
webe der Scheide der Länge nach durchziehen von ihrem senkrecht aufstei- 
genden Wege abweichen und sich nach der Seite hin wenden die die Blatt- 
fläche trägt, wo sie dann, gedrängter nebeneinanderstehend, einen Halbkreis 
bilden. — 

Die erste Blattfläche ist meistens, sowohl bei den Palmen mit fächel- 
förmigen, wie bei denjenigen mit fiederförmigen Blättern einfach, ungetheilt 


die V egetationsorgane der Palmen. 151 


und längsfaltig, selten an der Spitze eingekerbt wie z.B. bei den Arten der Gat- 
tung Geonoma. In diesem Falle hängen die beiden Lappen des Blattran- 
des noch während der Knospenlage bis in ihre Spitze innig zusammen und 
das sie verbindende Gewebe wird erst während der Entfaltung des Blattes 
zerrissen. Diesen einfacheren Blattformen folgen nach und nach zusammen- 
gesetztere, die den völlig ausgebildeten Blättern der erwachsenen Pflanze ähn- 
licher werden. 

Der Bildungsvorgang dieser ist dem des einfachen Blattes ähnlich, doch 
etwas verwickelter durch die zusammengesetztere Form; in der Gipfelknospe 
eines erwachsenen, kräftigen Stammes sieht man alle Entwickelungsstufen ne- 
beneinander. Entfernt man hier alle schon entfalteten Blätter und die älte- 
ren Blattanlagen behutsam nach einander, so kommt man endlich auf die un- 
getheilte halbkugliche Verlängerung der Stammspitze, die von einem wul- 
stigen Ringe umgeben ist. Dieser Wulst, die erste Anlage eines Blattes, ist 
an einer Seite mehr verdickt, wie in dem übrigen Umkreise und zugleich in 
etwas älterem Zustande, ringsum so weit verlängert, dafs die cambiale Stamm- 
spitze mit der, etwainzwischen gebildeten, folgenden, jüngeren Blattanlage über- 
wachsen ist. 

Einige Zustände dieser jüngsten Blattanlage habe ich von der Chamae- 
dorea gracilis Willd. und Iriartea praemorsa Kl. auf der zweiten Tafel gezeich- 
net. (Dafs die Gipfelknospe des Stammes nicht in der Mittellinie desselben liegt 
bemerkt schon Casp. Fried. Wollf in seiner Zheoria generationis 1774 8.44.) 
In Fig. 3. ist die Blattanlage der /riartea so weit verlängert und das Gewebe 
zugleich so sehr vermehrt, dafs die ursprünglich die Stammspitze umgebende 
eylinderische Öffnung so weit verwachsen ist, dafs nur noch die Spitze des 
nächst jüngeren Blattes aus derselben hervorragt. Es ist dies der Ort wo die 
scheidenartige Blattstielbasis in den einfachen, verlängerten Blattstiel übergeht. 
Dieser besteht Jetzt aus einem zugespitzten, etwas breitgedrückten Zellenkegel, 
dessen Kanten rechts und links von der Axe des Stammes liegen. In dem 
cambialen Gewebe dieser Kanten entstehen querliegende, wulstartige Erhe- 
bungen, wodurch dieselben von unten bis in die Spitze eingekerbt erscheinen; 
doch ist diese Einkerbung nur scheinbar, hervorgebracht durch die starken 
seitlich en Hervorragungen des Randes, indem die eigentliche, äufserste Kante 
desselben nicht in die wulstartigen Erhebungen mit inbegriffen ist, sondern 
gradlinig über alle fortläuft. 


152 H. Kunstek: 


Das Gewebe der Scheide und des Blattstieles ist zu dieser Zeit schon 
in Parenchym und Holzbündelanlagen gesondert, ersteres enthält kleine Stär- 
kekörperchen. In dem Grunde des Blattstieles zeigen sich in den cambialen 
Holzbündeln schon einzelne Spiralfasern, während in den oberen Theilen 
desselben eine solche nur in dem mittleren Holzbündel vorhanden ist. 

Mit dem fortschreitenden Wachsthume und der Ausdehnung der Zel- 
len des Blattstieles dauert gleichzeitig die Zellenbildung in dem inneren Ge- 
webe des scheinbar eingekerbten, cambialen Randes desselben fort und zwar 
auf die Weise, dafs diese Kerben, die ersten Andeutungen der Blattfiedern 
nicht blos rechts und links sich ausdehnen und dadurch die früher etwas breit- 
gedrückte Form des Blüthenstieles abrunden, sondern auch fast parallel mit 
dem Blattstiele in senkrechter Richtung emporwachsen, so dafs die oberen 
durch die nächst unteren gedeckt werden. In Fig. 4 habe ich den Zustand 
des Blattes gezeichnet wo diese Anlagen der Blattfiedern — die an jeder Seite 
desselben alie, von der untersten bis zur obersten, durch die nicht ungleich- 
förmig ausgewachsene Kante zusammen vereiniget sind, — die Ausdehnung 
erhalten haben, wo der Blattstiel, aus dessen Oberfläche sie herangebildet 
wurden, ganz durch sie verdeckt ist. Das Gewebe derselben ist zu dieser 
Zeit noch durchaus cambial, nicht in Parenchym gesondert. Die Ober- 
haut besitzt keine Spaltöffnungen, während auch in den Holzbündeln des 
oberen Theiles des Blattstieles schon einzelne Spiralfasern gefunden werden. 
Diese Spiralfasern erscheinen zuerst in denjenigen cambialen Holzbündeln 
der Blattanlagen, die das innerste Parenchym des Blattstieles begrenzen und 
zwar erhält sie als erstes das mittlere, dem Umkreise zugewendete Bündel, 
(Fig. 6 a) welches den ganzen Blattstiel, bis in die bei der Entfaltung des Blat- 
tes sich abtrennende Spitze, durchzieht; dann treten sie in den beiden zunächst 
stehenden Bündeln auf, die das erste begleiten, und nach und nach auch in 
den entfernteren dieses Kreises, die sich in die Blattfiedern abzweigen, de- 
ren Mittelrippe sie bilden. Später erscheinen erst die Spiralfasern in den 
mehr nach Aussen befindlichen Cambium-Bündeln (b) der Blattbasis, die 
gleichfalls sich in die Blattfiedern wenden und zwar von diesen wiederum 
in denjenigen zuerst, die dem Holzbündel (a) zunächst stehen. Derjenige Theil 
des zuerst entstandenen cambialen Wulstes (Fig. 1. und 2.), der nicht zum 
Blattstiele auswächst, hat sich inzwischen zu der Blattscheide ausgebildet und 
an der dem Blattstiele entgegengesetzten Seite ein wenig die Öffnung der 


die V egetationsorgane der Palmen. 153 


Scheide überwachsen Fig. 4. c. und Fig. 5. wodurch dieser Theil an eine ähn- 
liche Bildung des Saamenlappens mancher Gräser erinnert, den Richard „epi- 
blastus” nennt z.B. bei Triticum, Avena, Lolium, Olyra ete. und den Mir- 
bel, Bischoff, Lindley, Decandolle für einen zweiten Saamenlappen 
halten, (Vergl. Bischoff’s Handbuch der bot. Term. p.531) während Schlei- 
den ihn gar für die ligula erklärt (Grundzüge p. 185 Fig. 153. b.) 

In noch älteren Blattanlagen bekommen auch die einzelnen Blattfie- 
dern ebenfalls wellige Hervorragungen oder Einkerbungen, den Falten des 
vollständig angelegten Blattes entsprechend; doch auch in ihnen erstreckt sich 
diese Faltung des Gewebes nicht auf den oberen Rand desselben, so dafs alle 
Blattfiedern sowohl untereinander zusammenhängen, als auch die Falten je- 
der einzelnen durch einen nicht gefalteten Saum zusammengehalten werden. 
In Fig. 5 habe ich eine solche Entwickelungsstufe der Blattanlage der Iriartea 
gezeichnet, wo man deutlich sieht wie jede einzelne gefaltete Blattfieder, de- 
ren obere durch die unteren bedeckt werden, von einem nicht gefalteten Rande 
eingefafst wird. In diesen Blattfiedern ist jetzt gleichfalls die Umbildung 
des Cambiums in Parenchym eingetreten, es enthält kleine Stärkekörperchen: 
das Gewebe der Oberhaut ist mit einer schleimigen Flüssigkeit in der die ter- 
tiäre Zelle, der Zellkern, schwimmt angefüllt: die Spaltöffnungszellen zeich- 
nen sich jetzt vor den übrigen Zellen der Oberhaut durch ihren Stärkegehalt 
aus, die Haut der Mutterzelle, die die beiden den Absonderungsstoff enthal- 
tenden Zellen umhüllt, ist durchlöchert, und dadurch der Atmosphäre der 
Zutritt zu dem Parenchyme des Blattes gestattet; man sieht, dafs von diesen 
Stellen aus sich die Zwischenzellräume mit Luft füllen: die cambialen Holz- 
bündel derselben enthalten einzelne Spiralfasern, es sind Verlängerungen der 
Faserbündel des Blattstieles, die dort, wie oben beschrieben das mittlere Par- 
enchym einfassen; aus einem solchen Bündel entspringen die Fasern meh- 
rerer Blattfiedern in verschiedener Höhe des Blattstieles. — 

Das Gewebe des Blattstieles ist zu dieser Zeit mit grofsen Stärkebläs- 
chen angefüllt, die Entwickelung der Holzbündel ist sehr viel weiter vorge- 
schritten, vor den zuerst gebildeten Spiralfasern stehen andere, gleichfalls ab- 
rollbare, weitere Fasern zu einem Bündel vereinigt. Die weiten Gummi- 
fasern des Bündels sind noch nicht angelegt. In der, auf das erste Erschei- 
nen der Spiralfasern folgenden Verholzung der cambialen Bündel tritt später 
eine veränderte Folge ein, da dann die äufseren der Oberfläche (und zwar 


Phys. Kl. 1847. U 


154 H. Kaxstenr: 


der unteren) zunächst stehenden Bündel zuerst verholzte Fasern und Bastzel- 
len erhalten. Die scheidige Basis des Blattstieles verhält sich ähnlich wie die- 
ser, doch sind die Höhlen aller Zellen mehr erweitert. 

Das Gewebe des nicht gefalteten Blattrandes ist in seiner Entwicke- 
lung demjenigen der Blattfiedern immer etwas voraus. Es verhält sich, hin- 
sichts dieser frühzeitigen Entwickelung, wie ein Epidermialgewebe, doch ist es, 
wegen derin ihm ununterbrochen sich verlängernden Holzbündel, durchaus 
nicht dazu zu rechnen. Es besitzt schon Spaltöffnungen, wenn in der Ober- 
haut der Blattfiedern diese noch nicht aufzufinden sind. Es ist grofszellig, 
enthält einen klaren, schleimigen Zellsaft und einen sehr deutlichen Zellkern. 
Die Zwischenzellräume sind hier schon mit Luft erfüllt, wenn das kleinzellige 
Gewebe der Blattfiedern noch mit einer trüben, schleimigen Flüssigkeit ge- 
tränkt ist und viele endogene Zellen enthält. Die Holzbündel verlängern 
sich aus den Blattfiedern in diesen Rand, in welchem sie bis zur Spitze ver- 
laufen. — 

Nach der vollständigen Ausbildung des Blattes, mufs sich nun, bei der 
von oben beginnenden Entfaltung desselben, die zusammengefaltete Blatifläche 
von dem, diese Falten zusammenheftenden Blattrande trennen. Dieser, der 
sowohl mit dem unteren Theile des Blattstieles, wie mit der Spitze zusam- 
menhängt, bleibt bei gewissen Pflanzen noch einige Zeit im Umkreise der 
sich ausbreitenden Blattfiedern ausgespannt; es ist dies besonders bei den 
Gattungen der Fall, wo der sich abtrennende Blattrand eine bedeutendere 
Dicke und dadurch eine gröfsere Festigkeit und zugleich gröfseren Zusam- 
menhang besitzt wie z.B. bei der Iriartea, während bei anderen nur die Ver- 
bindungsstellen von einer Blattfiederspitze mit dem Rande der nächst höheren 
durchreissen, in welchem die von jenem sich in diesen verlängernden Holzbün- 
del befinden, und das die nebeneinanderliegenden Blattränder der verschiede- 
nen Fiedern vereinigende Parenchym gleichfalls zerrissen wird. Durch diese 
Zerreilsung der Holzbündel der Blattspitzen, die sowohl die Mittelrippen der 
Blattfiedern, wie auch den ganzen gemeinschaftlichen Blattstiel durchziehen, 
und durch die zuerst eintretende Trennung einer kurzen stachelartige Verlän- 
gerung des Blattstieles selbst, in welcher die Holzbündel dieses letzteren en- 
den, werden fast alle in den gröfseren (wie wir bei der Betrachtung des 
Stammes sahen, die Mitte seines Markgewebes durchziehenden) Bündeln 
des Holzeylinders enthaltenen Fasern und Gefäfse dem unmittelbaren Zu- 


die Vegetalionsorgane der Palmen. 155 


tritte der Atmosphäre geöffnet: es können jetzt dieselben mit denjenigen 
luftförmigen Stoffen sich unmittelbar füllen, die früher nur durch Hülfe 
der Spaltöffnungen und Zwischenzellgänge in ihre Nähe gebracht, und durch 
Vermittelung ihrer Häute von ihnen aufgenommen werden konnten. Taf. II 
Fig. 7 habe ich das Ende des Blattstieles des Oenocarpus utilis Kl. nachdem 
die Spitze desselben sich abgetrennt hatte, von oben gesehen, gezeichnet. Es 
ist eine Vereinigung mehrerer Holzbündel zu einem einzigen, das aus Bastzel- 
len und Holzfasern nebst verholzten Netzfasern besteht. 

Die durch diese eigenthümliche Einrichtung herbeigeführte Verände- 
rung in dem Zutritte der Atmosphäre zu dem inneren Gewebe der Pflanze, ist 
ohne Zweifel auf die Ernährnng desselben von einigem Einflufse. Vielfach 
angestellte sorgfältige, vergleichende Untersuchungen und Messungen des 
Blattes und seiner Gewebe haben mir bis jetzt das Ergebnifs geliefert, dafs für 
das Palmenblatt dieser Bau, in Bezug auf die Bildung und Umbildung der fe- 
sten Absonderungsstoffe des Zelleninhaltes, von keinem bemerkbaren Einflufse 
ist: auf das Wachsthum und die Ausdehnung der Zellen selbst, besonders 
in den unteren Theilen des Blattstieles, indessen fördernd einwirkt. Auf- 
fallender noch tritt dies letztere Verhältnifs bei der Entwickelung des Stam- 
mes ein, wo nach der Entfaltung des Blattes die ihr Breitenwachsthum been- 
deten Stengelglieder sich in beschleunigtem Maafsstabe in die Länge aus- 
dehnen. Bei den zu den jüngeren Blattanlagen gehörenden, ihren Durchmesser 
noch vergröfsernden Stammtheilen, bis zu dem entwickelten, jedoch noch 
nicht entfalteten Blatte nahm die Länge desselben wie 1: 2: 4 zu; dann aber 
war die Länge des, unter dem kürzlich entfalteten Blatte stehenden Stammthei- 
les nicht 8 sondern 20 und die der folgenden, zu den schon älteren Blättern 
gehörenden, im Durchschnitte 50. 

In dem Grunde aller Blattanlagen der Gipfelknospe in dem alle in das 
Blatt eintretenden Holzbündel-Anlagen nahe beisammen liegen, befindet sich 
in dem hier nur geringen Parenchymgewebe, die gröfste Menge von Stärke, ob- 
schon die Zellen an Weite hinter denjenigen desBlattstieles zurückstehen, viel- 
mehr denen des Stammgewebes sehr ähnlich sind. Es scheint, dafs die Nah- 
rungsflüssigkeit zerlegt wird in einen stickstoffreichen Antheil für die Neu- 
bildung von Zellen und in einen kohlenstoffreichen aus dem sich hier die Stärke 
bildet, die daher in gröfserer Menge sich anhäuft, wo die sie absondernden 
Zellen in geringerer Anzahl vorhanden sind, welche ihn nicht zur Vergröfse- 


U2 


x 


156 H. Karsten: 


rung ihrer Häute verwenden können. — Oberhalb der Trennungsstelle des 
Blattes von dem Stamme vermehrt sich das Parenchym sehr und die einzel- 
nen Zellen besitzen eine bedeutend gröfsere Weite. 

Einzelne Zellenreihen dieses Parenchyms, zwischen den gröfseren Holz- 
bündeln befindlich, sind in der Richtung der Blattstiellänge, sehr viel länger 
wie die übrigen benachbarten, stärkehaltigen Parenchymzellen deren Weite 
sie besitzen; sie enthalten, bald nach ihrer Sonderung aus dem Cambium, 
Bündel von Krystallnadeln, oxalsaure Bittererde, wie es scheint innerhalb 
einer Zellhaut eingeschlossen; doch habe ich diese nicht mit Gewifsheit erken- 
nen können. Diese Krystallnadeln vergröfsern sich fortwährend, indessen die 
Stärke aus dem übrigen Parenchyme verschwindet; ähnlich wie in dem Gewebe 
des Stammes, in das sich diese Zellenreihen hineinverlängern, sind sie noch 
in den ganz alten, völlig ausgewachsenen und verholzten Theilen vorhanden. 
Die sich berührenden wagerechten Wände scheinen beständig unverändert zu 
bleiben, so dafs nicht die Faserform aus diesen Zellenreihen hervorgeht, wie 
man es an anderen Orten z.B. in der Wurzel findet, wo dann dieser Vorgang 
mit einer Auflösung der Krystalle meistens zusammentrifft oder derselben bald 
folgt und später in der Regel ein Verholzen der Zellen d.h. ein Wachsthum der 
Tochterzelle in die Dicke, eintritt. Die Weite ihrer Höhlung vergröfsert sich 
mit dem Wachsthume des ganzen Gewebes, so dafs sie, in dem ausgebildeten 
Zustande desselben, die der Parenchymzellen bedeutend übertrifft. Häufig 
besitzen sie wegen der Zartheit der Häute der benachbarten Zellen auf Quer- 
schnitten das Ansehen von Gummigefäfsen zu denen sie sich jedoch, bei den 
Palmen die ich untersuchte, nicht umformen. — 

Schon oben sahen wir bei der Entwickelung des Blattes und des Stam- 
mes, dafs die zuerst in den cambialen Holzbündeln erscheinenden Spiralfa- 
sern sich aus den unteren, in dem Holzeylinder des Stammes befindlichen 
Theilen hinauf verlängern, in die inzwischen sich erst aus dem Cambium son- 
dernden Gewebe des entstehenden Blattes, und dafs diesen Spiralfasern fast 
gleichmäfsig die Bildung der übrigen Gewebe des Holzbündels folge. In 
den oberen Theilen des Blattes tritt indessen nach seiner Berührung mit der 
Atmosphäre, eine Abweichung von dieser suecessiven Bildung ein, indem 
hier sowohl die Entstehung der Elementargewebe des Holzbündels wie deren 
spätere Umformung, derjenigen der Gewebe des dem Knospenkern näheren 


Theiles etwas vorauseilt. Die Bildung der Spiralfasern wird hier bedeutend 


die V egetalionsorgane der Palmen. 157 


beschleunigt und neben der zuerst entstandenen zeigen sich sehr bald mehrere 
andere Fasern punktirt oder treppenförmig verdickt('). Zunächst darauf bil- 
den sich in diesen oberen Theilen des Blattstieles die beiden weiten Gummi- 
fasern in dem cambialen Holzbündel, sie treten hier schon sehr deutlich her- 
vor, wenn sie in den unteren Theilen sich noch nicht von den übrigen Zellen 
unterscheiden lassen. Auch hierdurch wird es deutlich, dafs nicht etwa 
durch Saftströmungen oder andere mechanische Mittel die Form der Gewebe 
hervorgerufen wird und dadurch zu erklären ist, dafsvielmehr in derGestaltung 
des Pflanzenkörpers wie eines jeden organischen Wesens, die Durchführung 
eines dem werdenden Geschöpfe inwohnenden, mit dem zu formenden Stoffe 
im innigsten Zusammenhange stehenden Vorbildes erstrebt und, — bedingt 
durch die stattfindenden chemischen und physikalischen Verhältnisse dieses 
Stoffes, welche, in einer für jede Art bestimmten Grenze, Anderungen er- 
leiden können — mehr oder weniger vollkommen, erreicht wird (?). So fin- 
den wir auch in dem ausgebildeten Palmenblatte ununterbrochen das Gewebe 


(') Die Verholzung dieser Fasern findet in einer Reihefolge statt, sie beginnt in der- 
jenigen, welche die erste Spirale unmittelbar berührt. Da während dieser Verholzung der 
gummiartige Inhalt verschwindet und durch Kohlensäure ersetzt wird, so könnte man viel- 
leicht verleitet werden anzunehmen die Verdickungsschichten seien ein Produckt der Ver- 
einigung jener Flüssigkeit mit der Kohlensäure, ein durch diese chemische Verbindung 
bewirkter Niederschlag auf die Zellwand. Gegen eine solche Ansicht sprechen mehrere 
Thatsachen: erstens würde ein solcher Niederschlag nicht so gleichmälsig die Wandung 
der Faser bedecken, sonderen an der Seite sich anhäufen, die dem Zuflulse der Kohlen- 
säure zunächst liegt: hier wäre es die, nach der mit Kohlensäure gefüllten Spirale ge- 
wendete, im Allgemeinen die nach der Oberfläche des Organes gekehrte Seite, — zweitens 
würde ein solcher Niederschlag die der Tochterzelle anhängenden Bläschen bedecken, die 
sogenannten Treppen- und Poren -Kanäle würden nicht entstehen können, — drittens se- 
hen wir in den Zellen der Wurzelmütze eine ganz ähnliche Verdrängung des Zellsaftes 
durch Kohlensäure, doch hier ohne eine Verdickung der Zellhaut. — 


(*) Die Ausführung dieser „Idee der Art” ist in der unorganischen Schöpfung mit 
der Entstehung der bestimmten Mischungsverhältnisse des Stoffes gegeben an die sie ge- 
bunden ist, sie ist hier allein abhängig von der Eigenthümlichkeit des Zustandes einer 
Flüssigkeit: in der organischen Schöpfung ist sie zunächst durchaus abhängig von etwas 
vorhandenem Festen, welchem sie inwohnt, dann erst kommt der Zustand des flüssigen 
Stoffes, der auf das Erzeugnils des ursprünglich Geschaffenen einwirkt, in Betracht und 
äulsert seine hemmende, fördernde oder ändernde Wirkung, um den im mütterlichen Kör- 
per entstandenen Keim zu tödten, oder ihn zu der Form seiner Art oder irgend einer 


möglichen Abänderung derselben sich entwickeln zu lassen. 


158 H. Kuarstenx: 


durchziehende Fasern und Gefäfse zu einem Bündel vereinigt, wenn nicht 
durch äufsere störende Einflüsse deren Ausbildung unterdrückt war: obgleich 
ursprünglich kein Zusammenhang durch ein etwa stattfindendes Wachsthum 
eines Theiles nach einer Richtung hin gegeben war, wie man sich dies früher 
z.B. von der Spirale dachte oder im thierischen Körper die Drüsen als Aus- 
stülpungen umfangreicherer Organe ansah, bevor Reichert durch die Ent- 
wickelungsgeschichte nachwies, dafs gleichzeitig sowohl das eine wie das andere 
Organ durch die Vereinigung der zu dieser Bildung befähigten Elementar- 
bestandtheile des embryonalen Organismus entsteht. 

In dem Umkreise des Holzbündels finden sich auch hier im Blatte Über- 
gangsformen und Hemmungsbildungen des Parenchymes, letztere in senkrechte 
Reihen geordnet, die das Parenchym begrenzenden Bastzellen ausfüllend ; 
man kann daher von dem Wachsthume des Palmenblattstieles nicht sagen, dafs 
es nach einer Seite hin geschah, sondern das Parenchym vermehrte sich von 
dem Umkreise aller cambialen Holzbündel aus, und die Umbildung des Cam- 
biums in Holzzellen findet in den verschiedenen Bündeln von der Mittellinie 
des Blattstieles nach der Oberfläche desselben hin statt. Die vollkommene 
Ausbildung der Holz-Fasern und -Zellen, in der Art wie es oben von denen 
des Stammes beschrieben wurde, ist in dem Blattstiele noch vor der Ent- 
faltung der Blattfiedern beendet, dann verschwindet die Stärke aus den Zellen 
des Parenchyms und eine gummiartige Flüssigkeit (1) erfüllt nicht nur das 


(') Dieses Gummi, das sich gegen Reagentien ebenso verhielt, wie das in dem Ge- 
webe der Wurzel vorkommende, dort beschriebene, wird durch Ammoniak gleichfalls 
grün gefärbt; da es der Entstehung des Chlorophylles vorhergeht, könnte es scheinen 
als sei es die Grundlage dieses Stoffes der durch die Verbindung mit dem, vielleicht aus 
der Atmosphäre entnommenen Ammoniakgase, unmittelbar daraus hervorgehe. Dies ist 
aber ganz gewils für das Chlorophyll der Palmen nicht richtig. Bei der Betrachtung der 
Wurzel lernten wir in der Wurzelmütze Zellen kennen, in denen, während der Aufsau- 
gung des Stärkemehls, eine Zelle entsteht und wächst, die ebenfalls eine durch Ammo- 
niak sich grün färbende Flüssigkeit enthält; ferner sahen wir oben p. 109 in den Spaltöf- 
nungszellen neben den Stärkebläschen eine grölsere Zelle sich bilden die denselben Stoff 
enthielt, es liegt daher wohl die Vermuthung nahe, dafs auch in dem Parenchyme des 
Blattes dieses Gummi das Erzeugnils einer endogenen Zelle sei, deren Auffindung nur 
die Beschaffenheit des Zellsaftes, der bei der Vermischung mit Wasser auf dem Object- 
tische des Mikroskopes gerinnt, verhindere. Dazu kommt, dafs auch die Holzzellen eine 
kurze Zeit diesen Stoff enthalten, in denen sich doch nie Chlorophyll bildet, und dafs 
das Chlorophyll des Palmenblattes ein sogenanntes körniges ist, d. h. dafs es den Inhalt 


die V egetationsorgane der Palmen. 159 


Zellgewebe, sondern auch wiederum die früher Kohlensäure enthaltenden 
Fasern und Gefäfse, in letzteren ist es mit den Raphiden gemischt, die Saft- 
fülle des ganzen Blatt-Gewebes scheint die Entfaltung desselben zu unter- 
stützen; diese letztere beginnt von den oberen Theilen desselben zu den un- 
teren fortschreitend, der Blattrand wird abgeworfen und die dem Zutritte 
der Atmosphäre geöffneten Fasern füllen sich von Neuem mit Kohlensäure, 
während das Wachsthum des Stammtheiles den diese Holzbündel durchziehen 
aufserordentlich beschleunigt wird. 

Die Bildung und Umbildung der Holzbündel der Blattfläche entspricht 
dem von diesen Geweben bei dem Blattstiele gegebenen Vorgange: die An- 
lage derselben erfolgt von den unteren dem Blattstiele näheren Theilen nach 
den oberen hin; die späteren Wachsthumsveränderungen dagegen nehmen 
in den oberen dem Einflusse der Atmosphäre zunächst ausgesetzten ihren An- 
fang. Einige Zeichnungen die ich von den Blattfiedern der Älopstockia ce- 
rifera auf der zweiten Tafel gegeben habe, werden dies Verhältnifs einem Blicke 
darlegen. Eigenthümlich und bemerkenswerth ist hierbei noch die Bildungs- 
weise der die Unterseite dieser Blätter bedeckenden Behaarung, diese ist 
nicht das Erzeugnifs eines später eingetretenen Wachsthumes der Oberhaut- 
zellen, sondern die äufserste Schicht des in die Gewebe des Blattes sich umfor- 
menden Cambiums nimmt unmittelbar die Gestalt dieser eylinderischen, einfach 
gegliederten Haare an, die gleichlaufend mit der Längenrichtung des Blattes die 
Oberhautschicht desselben bedecken. Det flüssige Inhalt dieser Haarzellen ist 
hell und ohne feste Bestandtheile, gegen chemisch wirkende Stoffe scheint er 
wenig empfindlich, es ist mir daher nicht gelungen über die Natur desselben 
Aufschlufs zu erlangen, was um so mehr mir erwünscht gewesen wäre, da die- 
ses haarartige Gewebe in besonderer Beziehung zu der Thätigkeit der Holz- 
bündel zu stehen scheint. In der Gegend der cambialenHolzbündel, die bis an 


von Bläschen ausmacht, deren Haut, während seiner Absonderung nach Innen, auswächst. 
Die Bildung des Chlorophylis ist daher keine unorganische sondern eine organische d.h. 
abhängig von dem Wachsthume einer Zelle, und der eigentliche Vorgang zur Zeit für 
die Palmen noch unbekannt. Die von Mettenius und Naegeli mitgetheilten Beobach- 
tungen, so wie die Untersuchung der Neischigen Früchte der Grossularia, Fitis ete. die 
mir schon früher ein ähnliches Ergebnils brachte, können als Bestätigung meiner Ansicht 
über die Natur des Chlorophylles und als Anhaltspunkte für weitere Untersuchungen 
dienen. 


160 H. Kassren: 


die Oberfläche des Blattes sich ausdehnen, sind diese Haare am innigsten mit 
dem Blattgewebe verwachsen und hängen hier am längsten mit demselben zu- 
sammen: nach der Trennung dieser Schicht von der Oberhaut beginnt die 
Verdickung derselben und die Bildung von Spaltöffnungen in der Gegend 
der Anheftung der Haare (Taf.II Fig.11.a.). Bei dieser Klopstockia finden 
sich auf der Oberseite der Blatifläche keine Spaltöffnungen, wohl aber auf 
der Oberfläche des etwas behaarten Blattstieles. Ganz gleiche Verhältnisse in 
dem Vorkommen der Spaltöffnungen finden sich bei den Gattungen Geonoma 
und Oenocarpus bei der Chamaedorea gracilis dagegen kommen Spaltöffnun- 
gen auf allen Seiten der Blattfläche und des Blattstieles vor. 

Diese so eben mitgetheilte Entwickelungsgeschichte desBlattes der Pal- 
men läfst wohl keinen Zweifel übrig, dafs Schleidens Theorie einer Ent- 
wickelung des Blattes von dessen Spitze zur Basis auf dasselbe keine Anwen- 
dung findet, so wie auch meine übrigen Beobachtungen an Blättern der ver- 
schiedensten Pflanzengruppen ein solches Gesetz, als in der Natur nicht be- 
gründet, zurückweisen. Im Gegentheile entwickelt sich das Palmenblatt von 
seinem Grunde zur Spitze hin d. h. die dem Stamme näheren Theile hören 
zuerst auf durch Zellenvermehrung sich zu vergröfseren, während die ent- 
fernteren noch darin verharren. Der Blattstiel hat schon eine bedeutende 
Gröfse erreicht bevor die Theile der Blattfläche deutlicher hervortreten und 
diese wachsen am Umkreise d.h. dort wo ihr Gewebe mit der Atmosphäre 
in Berüherung kommt am längsten. Nach der vollendeten Anlage des Blattes 
durch Zellenbildung, nimmt dann die Ausdehnung und besonders die Ver- 
holzung der Zellen und Fasern, wie schon erwähnt, von der Blattspitze, als 
dem bei den Palmen zuerst mit der Atmosphäre in ungehinderte Berührung 
tretenden Theile, seinen Anfang und setzt sich von hier in die unteren, dann 
auch aus den sie umhüllenden Scheiden der älteren Blätter hervorwachsen- 
den Abschnitte der Blattfläche und des Blattstieles fort. 

Obgleich ich durch die Darlegung meiner Beobachtungen der Entwicke- 
lungs- und Wachsthums-Weise der Gewebe der Palmen und meiner in Folge 
dieser entstandenen Ansichten über die Ernährungsweise derselben den Ver- 
dacht von mir fern gehalten zu haben glaube an einen Kreisflufs des Saftes 
in den Pflanzen zu denken: so ist es doch vielleicht nicht überflüssig manche 
anders gesinnte Leser dieses Aufsatzes, die durch meine Bemerkungen über 
die Eigenthümlichkeit des Palmenblattes, der Atmosphäre den Zutritt zu dem 


die Vegetationsorgane der Palmen. 161 


Gewebe des Stammes zu erleichtern, an jene Lehre erinnert wurden — noch 
besonders darauf aufmerksam zu machen, dafs in dem ganzen Körper der Pal- 
men durchaus keine Gefäfs-oder Faser- Verbindungen vorkommen, die den 
Gedanken an einen Kreisflufs des Saftes rechtfertigen könnten. Alle Fasern 
verlaufen, ohne Zweige an benachbarte abzugeben, von ihrem unteren in 
dem Holzeylinder des Stammes liegenden Ende, ununterbrochen in die Spit- 
zen des Blattstieles und der Blattfiedern: ja man kann nicht einmal behaupten, 
dafs ein und dieselbe Faser in ihrer ganzen Länge ein ununterbrochenes Rohr 
bilde, da, wie wir oben sahen, nicht selten die wagerecht sich berührenden 
Wände der Zellen aus denen diese Fasern entstanden nicht zerstört werden, 
daher als Querscheidewände selbst der in ihnen etwa aufsteigenden Flüssig- 
keit keinen freien Durchgang gestatten. Es können also diese durch Schei- 
dewände unterbrochenen Fasern, da sie nicht einmal mit den unteren Stamm- 
theilen in Berüherung kommen, schwerlich als die alleinigen Vermittler der 
Verbreitung der von den Wurzeln aufgenommenen Flüssigkeit dienen; an eine 
Umkehrung des in dem Blatte angelangten Stromes und eine Rückleitung 
durch andere Gefäfse kann gar nicht gedacht werden. Das Einzige was diese 
Gefäfse und Fasern vermögen ist eine beschleunigte Leitung der in ihnen ent- 
haltenen Stoffe zu anderen Geweben und zwar in einer, durch ihre Verthei- 
lung im Pflanzenkörper, bestimmten Richtung. Sie werden sich mit der durch 
die Wurzel aufgenommen uud durch die Zwischenzellräume ihnen zugeführ- 
ten Flüssigkeit, wenn es die Beschaffenheit ihrer Häute und ihres Inhaltes 
gestattet oder vermittelt, füllen und so eine raschere Wechselwirkung der in 
ihren verschiedenen Abschnitten befindlichen Stoffe möglich machen. Da 
die in ihnen hin und wieder noch vorhandenen Querscheidewände nicht an 
der Verholzung, der senkrechten Wandungen Theil nehmen, sondern mit 
dem vorschreitenden Alter der Pflanze immer mehr sich verlieren, so sind sie 
wahrscheinlich nur mechanische, dem Drucke und der chemischen Wechselwir- 
kung leichter weichende Hindernisse. Wird die Vermehrung der Flüssigkeit 
durch die Wurzeln unterbrochen, so wird auch das Aufsteigen des Saftes ge- 
hemmt sein: das Pflanzengewebe wird dort zuerst von Flüssigkeit entleert wer- 
den, wo die Verdunstung am leichtesten vor sich geht d.h. in den Blättern; 
doch von einem Herabsteigen des Saftes von hier aus kann desshalb nicht die 
Rede sein, nur von einem Nicht - Aufsteigen. 


Phys. Kl. 1847. X 


1623 H. Karsten: 


Die Knospen. 


Bisher betrachteten wir diejenigen verschiedenen Organe der Palmen, 
durch deren Bestehen und wiederholte Entwickelung die individuelle Erhal- 
tung der Pflanze vermittelt wird. Aufser diesen dem Einzelwesen eigenthüm- 
lichen, dasselbe zusammensetzenden Theilen besitzen nun die Palmen, wie 
alle übrigen organischen Wesen noch andere zur Erhaltung und Fortpflanzung 
der Art bestimmte Organe, die wir von der uns vorgesetzten Untersuchung 
nicht ganz auschliefsen können, theils weil ihre Entstehung und Ausbildung 
mit dem Baue des Einzelwesens in so enger Beziehung steht, theils weil die- 
selben als unmittelbare Anfänge neuer Organismen ebensowohl in den Kreis 
unserer Betrachtung gehört wie die Entwickelung dieser aus dem Saamen. 

Es sind dies die Knospen, die Anlagen neuer dem Mutterstamme glei- 
cher oder ähnlicher Wesen, deren Entstehung in so innigem Zusammenhange 
mit der Bildung des Blattes steht, dafs selbst C. Fr. Wollf die Ansicht he- 
gen konnte die Knospe sei das wesentliche, ursprüngliche Erzeugnifs der 
Mutterpflanze und das Blatt aus deren Achsel diese Knospe sich hervorbildet 
sei nur der frühzeitig ausgebildete Theil dieses jungen Spröfslinges. 

Untersucht man die Blattanlagen des Gipfeltriebes eines Palmenstam- 
mes, so findet man hier Verhältnisse die demjenigen der Wollf’s Ansicht 
zu widerlegen sich bemüht, kaum hinreichenden Stoff zu dem Gelingen die- 
ses Unternehmens bieten möchten. 

Zwar finden sich in den Achseln der allerjüngsten Blattanlagen keine 
Andeutungen von Knospen, man sieht nur den einfachen ringförmigen Wulst 
die ungetheilte Spitze des Stammes umfassen, doch sobald sich die eine Seite 
dieses wulstigen Auswuchses als Andeutung des Blattstieles auszudehnen be- 
ginnt nimmt auch eine vermehrte Zellenbildung im Grunde dieser Blattanlagen 
seinen Anfang, die Trennungslinie des Stamm- und Blatt-Gewebes durch 
einen zweiten, kleineren Ring von cambialem Zellgewebe bezeichnend. — 

Freilich ist hier die Anlage einer Knospe erst nach dem Erscheinen 
der Blattanlagen zu erkennen, wer möchte indessen diesen Umstand als ei- 
nen gültigen Beweis gegen des scharfblickenden W ollf beachtenswerthen 
Ausspruch geltend machen, wenn man sich vorher an der keimenden Pflanze 
überzeugte wie schwierig es ist die ursprünglich vorhandene Spitze des Keim- 
linges, bei der überwiegenden Ausbildung des ersten Blattes, nicht aus den 


die V egelationsorgane der Palmen. 163 


Augen zu verlieren: oder wenn man die Axe eines jungen Farnes oder des 
Stammes einer Piperacee während des überwiegenden Wachsthumes eines Blat- 
tes bis auf eine Andeutung verschwinden sieht. 

Es sind aber noch andere Gründe die gleichfalls gegen die Annahme 
eines ursprünglichen Vorhandenseins eines Astes in der Achsel eines jeden 
Blattes sprechen, nämlich das regelmäfsige Fehlen einer solchen Bildung in 
den Blattachseln der Blumenhülle und der jungen Keimpflanze: denn wenn 
auch hier eine Bildnng von Knospen nicht unerhört ist, so tritt doch dieselbe 
unter Verhältnissen ein, die einer solchen Ansicht nicht günstig sind. 

Ich bin daher der Meinung, dafs das fast regelmäfsige Auftreten von 
Knospen in der Blattachsel in den Entwickelungsverhältnissen des Blattes be- 
gründet und als eine Folge dieser zu betrachten ist: eine genauere Kenntnifs 
der Ernährungs-und Wachsthums-Erscheinungen des Stammes und Blattes 
der Mutterpflanze und der Wechselwirkung beider wird erst über die Bildung 
der Knospen ein klares Licht verbreiten können. 

Verfolgen wir zuerst die Entwickelung der regelmäfsig mit den Blät- 
tern der älteren Palmen fast gleichzeitig entstehenden Knospen. Oben schon 
bemerkte ich, dafs sehr früh, bald nach dem Erscheinen der Blattanlagen, 
die Anfänge von Knospen in deren Achsel d. h. an der Grenzlinie der Blatt- 
oberfläche und des nächst höheren Stammtheiles als kleine schuppige Aus- 
wüchse zu erkennen seien. — Dort wo in dem wulstigen Ringe der Blattan- 
lage die Zellenbildung vermehrt und das Auswachsen zn der seitlichen 
Ausbreitung des Blattstieles mit der Fläche vorbereitet wird, beginnt auch 
die Erhebung des cambialen Gewebes, dessen Zellenvermehrung sich von 
hier nach beiden Seiten der Achsel des stengelumfassenden Blattes auf eine 
beträchtliche Strecke ausdehnt, wodurch hier eine dreiseitige Zellgewebs- 
platte entsteht, deren Basis die Grenze des Blattes und des Stammes bezeich- 
net, und über den halben Umfang des Stammes umfafst, deren freier sehr 
stumpfer Winkel die zuerst hervorgebildete Spitze der Knospe in der Achsel 
des Blattstieles ist. Dieselbe Ursache die es bewirkt, dafs die Entfaltung 
des Blattgewebes derjenigen des nächst angrenzenden Stammtheiles etwas vor- 
auseilt giebt wahrscheinlich die Veranlassung, dafs auch die das Blatt berüh- 
rende Knospe sich früher in die Richtung ausdehnt, die das Blatt angenommen 
hat bevor das Gewebe des Stammes die wagerechte und die darauf folgende 
senkrechte Entfaltung beendete: dadurch wird auch die das Blatt begren- 

x 


164 H. Karsten: 


zende Knospe mit diesem gleichzeitig etwas vom Stamme entfernt, sie scheint 
dann fast aus dem Blattgewebe hervorgewachsen zu sein. Versucht man das 
junge Blatt vom Stamme abzulösen so trennt sich beim Zurückbiegen des- 
selben auch die Anlage zur Knospe von jenem. Mit dem vorschreitenden 
senkrechten Wachsthume des Stammes indessen, dehnt sich auch das Gewebe 
des Blattstiel-und Knospen-Grundes in dieser Richtung aus, wodurch dann 
jede der beiden, an der Stammoberfläche aus dieser hervorgewachsen zu sein 
scheinen. Das abfallende Blatt hinterläfst die sich dann regelmäfsig zur Blüthe 
entwickelnde Knospe unversehrt an dem nächst oberen Stammtheile, wenn 
nicht dieselbe schon bald nach der Entfaltung des Blattes in deren Achsel 
sich ausbildet wie es auch bei Desmoncus, Mauritia, Corypha, Cocos, Astro- 
caryum, mehreren Arten von Geonomen und Bactris u.a.m. vorkommt. Der 
Theil der Knospe den wir bisher als ein fast stengelumfassendes Organ sich 
entwickeln sahen, bildet sich nun, entsprechend der früheren oder späteren 
Entfaltung der Knospe, zu dem ersten Blatte derselben um. Wolff’s Theorie 
entsprechend, nimmt es die, dem Stammblatte gegenüberliegende Seite der 
Knospe ein: ihm folgen rechts und links dann, die sich später von dem in 
der Achsel dieses ersten Blattes befindlichen Knospenkerne erhebenden Blät- 
ter. Alle diese Blätter, der bei fast allen Palmen sich zur Blüthe ausbilden- 
den Knospe, überschreiten nicht die ersten unvollkommensten Entwicke- 
lungszustände des Blattes, sie bleiben stets ohne Blattfläche. Die eigenthüm- 
liche Umbildung des Randgewebes, und die, durch das Abwerfen desselben 
bewirkte Öffnung der Fasern, für den unmittelbaren Zutritt der Atmosphäre, 
findet nicht statt: die die Axe dieser Knospe (die Spindel) durchziehenden 
Holzbündel sind von beträchtlichem Bastgewebe umgeben und durch gerin- 
ges Parenchym von einander getrennt. Ein anderes Verhältnifs in der Bil- 
dung der Gewebe findet hier statt, wie in dem mit vollkommeneren Blättern 
bedeckten Stamme, vielleicht weil der, aus dem Stamme zugeführte Saft 
nicht auf die Weise verändert werden konnte, wie es bei der erleichterten 
Berührung der atmosphärischen Gase, mit dem Stammgewebe, der Fall ist. 
Es ist ähnlich wie in dem, weniger vollkommene Blätter tragenden, Grunde des 
Stammes, wo gleichfalls bei vorwiegender Anzahl von Holzbündeln, diese von 
einer stärkeren Bastschicht umgeben sind. Auch an der Entwickelung des 
Blattgewebes macht sich dieser Einflufs der Atmosphäre bemerklich; bei der 
Chamaedorea z.B. wo vier Blattscheiden, den zur Blüthe sich entwickelnden 


die Vegetationsorgane der Palmen. 165 


Knospenkern einhüllen, ist die unterste und oberste, der enganeinanderlie- 
genden, in der gröfsten Ausdehnung mit der Atmosphäre in Berührung: dem 
entsprechend, ist auch das Wachsthum der Gewebe, sowohl die Entfaltung 
wie die Verholzung, in dieser ältesten und jüngsten Scheide, dem der beiden 
mittleren, von ihnen eingeschlossenen, bedeutend voraus. Das Holz- und 
Bast-Gewebe jener war verholzt, das Chlorophyll enthaltende Parenchym, 
schien vollkommen ausgebildet, während es in diesen noch keinen Farbestoff 
enthielt und die Verholzung der Faserbündel noch nicht eingetreten war. 

Über den Ort des ersten Erscheinens der Holzbündel der Knospe und 
deren spätere Entwickelung sind ebenso, wie über das Wachsthum der Holz- 
bündel der Blätter die entgegengesetzten Ansichten vertheidigt. Bei der Be- 
trachtung dieses letzteren Gegenstandes kamen wir zu dem Schlusse, dafs sie 
von ihrem unteren, im Holzeylinder liegenden Ende, mit der fortschreiten- 
den Sonderung des Cambiums in die verschiedenen Gewebe, sich in die obe- 
ren Stammtheile und Blätter hineinverlängern. Die Anlage der Knospe er- 
scheint schon lange, vor der Sonderung von Parenchym aus dem cambia- 
len Blattgewebe, doch tritt in ihr stets diese Umänderung erst dann ein, 
wenn sie in dem angrenzenden Blatttheile beendet ist: und zwar beginnt die- 
selbe dann, in dem der Mittellinie des Blattes zunächst befindlichen Theile, 
der später die eigentliche Axe der Knospe giebt, daher zugleich oberhalb des 
ältesten, umfangreichsten, den ganzen Blattstiel durchziehenden Bündels: in- 
dem die Holzbündelanlagen der Knospe zum Theil an dieses, und die be- 
nachbarten Bündel der innersten Reihe sich anlegen, theils auch bis an die 
entfernteren, des zweiten und dritten unteren Halbkreises von Holzbündeln 
des Blattstielgrundes sich verfolgen lassen. Eine Verlängerung von hier aus, 
in die inneren oder unteren Theile des Stammes, findet zu dieser Zeit nicht 
statt, wohl aber eine mit der fortschreitenden Blattbildung der Knospe, 
gleichzeitig verbundene Hervorbildung der Holzbündelverlängerungen nach 
oben, ebenso wie es bei der Gipfelknospe des Stammes stattfindet. Auch 
später nach der Entfaltung der Organe der Blüthenknospe, ist eine Vermeh- 
rung oder Verdickung der Holzbündel des Stammes, durch diejenigen der 
Knospe nicht zu bemerken. 

Zuweilen tritt auch an dem erwachsenen Palmenstamme, der sonst nur 
Blüthenknospen hervorbringt, der Fall ein, dafs Blattknospen statt jener sich 
entwickeln, dafs also der regelmäfsig einfache Stamm ästig wird. Ich hatte 


166 H. Karsten: 


einigemal Gelegenheit dies an der Geonoma undata Kl. zu sehen, wo in ei- 
nem Falle, statt der einfachen Gipfelknospe, 13 aus den jüngsten Blattwinkeln 
hervorsprossende, mit kleinen Blättern, wie sie sich an der Saamenpflanze 
finden, versehene Knospen sich entwickelt hatten. In einem ähnlichen Falle 
schien auch die Anzahl der im Stamme enthaltenen Holzbündel sich vermehrt 
zn haben, doch sind meine Untersuchungen in dieser Beziehung zu lücken- 
haft, als dafs ich etwas Genaueres mittheilen könnte, ich glaube nur, dafs die 
vermehrte Anzahl von Holzbündeln dadurch hervorgebracht wird, dafs von 
dem noch cambialen Holzeylinder des Stammes, in die verschiedenen Äste 
Holzbündel sich trennen. Leider stand mir nicht hinreichender Stoff zn Ge- 
bote um diese Frage erledigen zu können, es wird dies wohl dem Beobachter 
verbleiben, der Gelegenheit hat, den regelmäfsig sich verästelnden Stamm 
der Hyphaene zu untersuchen. — 

Eine andere Art von Knospenbildung findet sich bei den meisten Pal- 
men in dem Stammgrunde. Waren die bis jetzt betrachteten Knospen, der 
höheren Stammtheile regelmäfsig Blüthenknospen, so sind diese gesetzmäfsig 
Blattknospen; mir ist wenigstens kein Fall bekannt geworden, dafs sich die- 
selben jemals in Blüthenknospen veränderten. Durch diese, meistens aus 
dem unterirdischen Stammtheile sich hervorbildenden Knospen, erhält die- 
ser auch bei den Palmen die Form des Wurzelstockes, eines freilich bisher 
nicht genau zu beschreibenden Pflanzentheiles, von dem man indessen in der 
Regel forderte, dafs er wurzelähnlich unter der Erde, am liebsten wagerecht, 
fortwachsen sollte. 

Diejenigen Palmen, bei denen diese Knospenbildung gesetzmäfsig (Bac- 
tris Piritu z.B.) oder regelmäfsig, wie bei den meisten Arten, entweder nach 
Verletzung des Mutterstammes und Unterdrückung seines Wachsthumes oder 
ohne eine solche äufsere Veranlassung, eintritt bilden dann Gruppen die sich 
von dem Mutterstamme aus immer mehr ausbreiten. 

Die ersten Andeutungen zu diesen Knospen finden sich in dem Holz- 
eylinder in ähnlicher Weise wie es beim Entstehen der Stammwurzeln statt- 
findet und oben beschrieben wurde. Es erneuet sich in dem Gewebe des- 
selben eine Zellenbildung, wodurch eine kegelförmige Cambium - Gruppe 
hervorgebracht wird, deren Spitze nach der Stammoberfläche gewendet im 
Rindengewebe liegt, während die Grundfläche sich in dem Holzeylinder be- 
findet. Nur in dieser ersten Anlage sind sich die Blattknospe und Wurzel 


die V egetationsorgane der Palmen. 167 


ähnlich und dann nicht zu unterscheiden; sobald jedoch die Umbildung des 
Cambiums und die Sonderung in Parenchym und Holzgewebe beginnt treten 
Unterschiede hervor die eine Verwechselung nicht zulassen. Während sich 
für die Wurzelbildung an der Spitze des Cambiumkegels eine Zellenschicht 
als Wurzelmütze absonderte unter der die Zellenvermehrung fortdauerte, so 
erheben sich hier unterhalb der Kegelspitze, deren zellenbildende Thätigkeit 
nicht unterbrochen wird, im Umkreise derselben, Zellgewebewülste als 
Anfänge von blattartigen Organen, ganz in der Weise wie wir es bei der Be- 
trachtung der Gipfelknospe des Stammes sahen. Gleichzeitig mit der Er- 
hebung solcher wulstigen Ringe über die Oberfläche des Zellenkegels sondert 
sich auch hier nach dem Mittelpunkte hin das Cambium in Parenchym mit 
dazwischen liegenden Cambium-Bündeln. Dieser Vorgang beginnt in der 
Grundfläche der Knospenanlage, so dafs das neugebildete Parenchym eine 
Verlängerung des Markgewebes des Stammes bildet und die cambialen Holz- 
bündel in dem Holzeylinder des Stammes und dem sich von diesem in die 
Knospen hinein verlängernden Holzeylinder liegen. 

Hiedurch ist der Anfang 
Bau und die Wachsthumsweise des mütterlichen in allen seinen Theilen nach- 
ahmt. Es befindet sich die Knospe innerhalb der Rinde der Mutterpflanze, 
die während der Vergröfserung derselben durchwachsen wird, indem ihr Ge- 


eines neuen Organismus gemacht, der den 


webe vor der Knospe, ähnlich wie bei dem Durchwachsen der Wurzel, sich 
auflöst. 

Dafs diese Knospen in Folge der Anregung einer so lange im Wachs- 
thume unterdrückten, jedoch schon mit dem Erscheinen des Blattes gleich- 
zeitig gebildeten Anlage zur Entwickelung komme, wage ich nicht mit Be- 
stimmtheit zu verneinen; es war mir jedoch nicht möglich mich zu überzeugen, 
dafs sie eine bestimmte Stellung in Rücksicht auf das früher mit diesem Stamm- 
theile verbundene Blatt einnähmen, sie schienen aus jedem Theile des Holz- 
eylinders ebenso wie die Wurzeln sich hervorbilden zu können. 

Da die Verästelung aller übrigen Monocotylen - Wurzelstöcke auf die 
Bildung solcher Knospen beruht halte ich es für richtig, sie zum Unterschiede 
von jenen zuerst beschriebenen Stammknospen Wurzelstockknospen zu 
nennen. — 


168 H. Karsten: 


Vergleichung des Baues der Palmen mit dem der übrigen 
Monoecotylen. 


Beginnen wir diese Betrachtung mit der Untersuchung der verschie- 
denen Gewebe die den Stamm zusammensetzen, so ist der natürlichste Aus- 
gangspunkt diejenige Schicht, die sich überall an dem sich entwickelnden 
Stamme als die durch ihre Wirksamkeit bedeutungsvollste für den Orga- 
nismus zu erkennen giebt, indem sie sowohl zur Bildung des Mark - und Rin- 
den-Gewebes, die sie von einander abgrenzt, beiträgt: als auch der Entstehung 
von Fasern durch Vereinigung bestimmter Zellenreihen zur Grundlage dient. 
Da diese Schicht — in der bei den Palmen immer die ersten Anfänge, die un- 
tersten Enden, der Spiralfasern liegen, die sich in das gleichzeitig an der äufse- 
ren Oberfläche entstehende Blatt fortsetzen — häufig einem Holzgewebe als 
Anfangspunkt dient das sich aus den sie umgebenden Cambium-Zellen bildet, 
einen mehr oder weniger geschlossenen Cylindermantel herstellend, der mit 
dem Umfange des Stammes und der Thätigkeit der übrigen Gewebe desselben 
in engster Beziehung steht: so bezeichnete ich dieselbe bei der Beschreibung 
des Palmenstammes als Holzeylinder. Im cambialen Zustande findet sich die- 
ser Holzeylinder in allen Stämmen und ist angedeutet durch seine Stellung 
zu den übrigen Geweben und durch die als erste Umbildungsform in ihm er- 
scheinenden engen, abrollbaren Spiralfasern: ob sich derselbe auch in dem 
entfalteten Stamme durch eigenthümliche Entwickelungsformen zu erkennen 
giebt, hängt von der Lebensthätigkeit der Art und zum Theil auch des Ein- 
zelwesens ab. 

Bei den Palmen ist es Regel, dafs der Rest des cambialen Holzeylin- 
ders, nachdem die Holzbündel daraus hervorgingen zur Parenchymbildung 
beiträgt es entsteht ein Gewebe das den Übergang der Säfte des Markes zur 
Rinde, und umgekehrt, erleichtert, von diesen in der Form seiner Zellen 
wenig abweichend, den sogenannten Markstrahlen des ausgebildeten Holz- 
eylinders zu vergleichen. Ähnlich verhält sich diese Schicht in den Stämmen 
der Pandaneen, Aroideen, Orchideen, Gräser, und in einzelnen Arten oder 
bestimmten Stammtheilen anderer Familien. — 

Sehr häufig tritt auch der Fall ein, dafs eine Schicht von einer oder 
von wenigen Zellen nicht in diese Parenchymbildung eingeht sondern in ihrer 


die V egetationsorgane der Palmen. 169 


Lebensthätigkeit als zellenbildende Holz-oder Bast-Zelle gehemmt, die in- 
dividuellen Veränderungen und Umformungen dieser Gewebe erfährt. Man 
findet dann an der Stelle des cambialen Cylinders in dem völlig entfalteten 
Stamme die Anfänge der Holzbündel, durch diese verholzte Zellenschicht, 
in die sie eingebettet sind oder der sie zur Seite liegen, zu einem zusammen- 
hängenden Holzeylinder vereiniget, der das Mark und die Rinde vollkommen 
trennt und nur dort, wo er von den in ein Blatt übergehenden Holzbündeln 
durchbrochen wird eine unmittelbare Berührung dieser beiden Gewebe zu- 
läfst. Von der Lagerung der unteren Enden der Holzbündel hängt es ab, 
welche Form die Zellen dieses Holzeylinders annehmen. In den Wurzel- 
stöcken der Seilamineen, der Dioscorea, in dem Stamme vieler Bromelia- 
ceen (!) den unterirdischen Stammtheilen der Aroideen und der meisten übri- 
gen Monocotylen liegen jene Anfänge wagerecht in dem noch cambialen Ge- 
webe und sind durch später entstandene, zahlreiche, unregelmäfsig verlaufende 
Bündel zu einem bunten Geflechte verbunden, in dessen Maschen die Zellen 
der verholzten Schicht des Cambiumeylinders eine vieleckige Gestalt ange- 
nommen haben. Auf der Taf.IV. Fig.3 und 4 habe ich dies Gewebe aus dem 
knolligen Stamme der Colocasia esculenta Schott. gezeichnet; es besteht hier 
aus zwei punktirt-verdickten Zellenschichten, die sowohl an der Rinden - wie 
Mark-Seite von einer nicht verholzten Cambiumschicht zunächst umgeben 
sind. Auf der Taf. V. zeichnete ich das sehr ähnliche Verhältnifs, aus dem 
Wurzelstocke der Maranta bicolor Arrab. wo die äusserste, zunächst die 
Rinde begrenzende Schicht des Cambiumeylinders verholzte, die nicht so 
vielfach durch die Holzbündel unterbrochen wird. Die Zellen besitzen hier 
eine regelmäfsigere, rechtwinklige Form, sie nähern sich schon derjenigen, die 
in den Holzeylindern die gewöhnliche ist, in denen die Holzbündelanfänge 
senkrecht nebeneinander liegen. Es sind dies fast alle oberirdischen Stamm- 


(') Die Stämme vieler Arten dieser Familie, deren stengelumfassende Blattscheiden 
fast beständig mit Wasser gefüllt sind, das mit fremdartigen, durch den Wind herzuge- 
führten, Theilen gemischt ist, scheinen nach Art der Wurzelstöcke ernährt zu werden 
und haben vielleicht diesem Umstande die Ähnlichkeit ihres Baues mit diesen Stammthei- 
len zu verdanken. In den Blattwinkeln einer Ananassa fand ich die, an dem Grunde des 
nächst oberen Blattes aus dem Stamme hervorgebildeten Wurzeln mehreremal denselben 
umkreisend: so bedeutend hatten sie sich verlängert, indem sie die Nahrung aufnahmen, 
die ihnen hier geboten wurde. — 


Phys. Kl. 1847. Y 


170 H. Karsten: 


theile in denen nicht, wie bei den Palmen, Aroideen, Pandaneen etc., der 
zwischen den Holzbündeln befindliche Rest des Cambiumeylinders vollstän- 
dig zur Parenchymbildung verwendet wird. Die Anfänge und häufig auch die 
oberen Enden der Holzbündel, bevor sie in die Blätter eintreten, liegen in 
diesen Fällen in einer Schicht langgestreckten, verholzten Prosenchymgewe- 
bes mit diesem zu einem vollständig geschlossenen Cylindermantel vereinigt. 

In den Blüthenstielen, sowohl den meistens gipfelständigen der Wur- 
zelstöcke, wie den meistens blattachselständigen der Zwiebeln findet sich an- 
fangs nie die Andeutung eines geschlossenen Holzeylinders: alle in diesem 
Organe zuerst auftretenden und sich bis in die Blumen verlängernden Holz- 
bündel nehmen ihren Anfang von dem Holzeylinder des Wurzelstockes oder 
des Mutterstammes. Erst nach der völligen Entwickelung der Gewebe findet 
an der Grenze des Markes und der Rinde, die hier nebeneinanderstehenden 
Holzbündel zu einem geschlossenen Cylindermantel verbindend, eine Cam- 
biumbildung statt, die zuweilen zu einer bedeutenden Gewebevermehrung 
und Bastbildung Veranlassung giebt. Die hohen, baumartigen Blüthenstiele 
der Scitamineen und Liliaceen erhalten hierdurch während ihres Bestehens 
oft einen sehr derben, festen Cylinder von Bastbündeln innerhalb des sehr 
geringen Rindengewebes. 

Den früheren Anatomen entging dieses sehr ausgezeichnete Gewebe 
nicht, nur über die Bedeutung desselben war man nicht einig. Mohl be- 
zeichnete es als verdicktes Zellgewebe, während Link und Kieser es mit 
dem Bast der Dicotylen verglichen. Sehr leicht überzeugt man sich durch 
genauere Untersuchungen dieser Zellschicht, dafs dieselbe mit dem parenchy- 
matischen Zellgewebe der Rinde und des Markes durchaus nicht zusammen- 
gebracht werden kann; ob es zu dem Bast- oder Holz-Gewebe nach den oben 
angegebenen Merkmalen zu rechnen sei, mufs die Entwickelungsgeschichte 
jedes einzelnen Pflanzentheiles in dem es sich befindet nachweisen. 

In den, Taf. IV und V gezeichneten Pflanzentheilen, findetsich entweder 
auf der einen oder auf beiden Seiten des verholzten Cylindermantels eine 
Schicht cambialen Gewebes, diese ist es von der der erste Anfang zur Bil- 
. dung von Knospen oder Wurzeln ausgeht, indem in ihr eine beschleunigte 
Zellenvermehrung an einzelnen Orten beginnt, der später eine Faserbildung 
für die sich entwickelnden Organe folgt. In anderen Fällen wird eine solche 
Zellenbildung noch längere Zeit in der ganzen Ausdehnung des Cambium- 


die V egetationsorgane der Palmen. 174 


eylinders unterhalten und dadurch entweder eine Parenchymvermehrung, wie 
in dem jungen Stamme der Furcroya, in den knollig verdickten Wurzelenden 
der Alsirömeria, in den fleischigen Stammtheilen der Dioscoreen und Aroi- 
deen etc. hervorgebracht: oder zur Entstehung eines zusammenhängenden 
Holzeylinders Veranlassung gegeben, indem später die ganze Schicht dieses 
Cambiums in punktirt-verdickte Prosenchymzellen sich verändert. Dauert nun 
während der Verholzung der älteren Schichten des Cambiumcylinders die Neu- 
bildung von Zellen an der Rindenseite desselben fort, so wird dadurch, ebenso 
wie bei den Dicotylen, das Rindengewebe durch eine immer dicker werdende 
Holzschicht von dem Marke entfernt. Bei einer Art der Gattung Crinum fand 
ich den ganzen, nach Aussen von einer Cambiumschicht umgebenen Holzey- 
linder aus Spiralzellen bestehend; häufiger geschieht es dagegen, dafs nicht 
das ganze Cambiumgewebe gleichmäfsig die späteren Entwickelungsstufen 
durchläuft, sondern es entstehen, gleichlaufend mit den schon vorhandenen 
Holzbündeln, in der Cambiumschicht neue Bündel, von jenen durch eine ge- 
ringe Parenchymschicht getrennt, und auch von den später nachfolgenden, 
mehr nach Aufsen liegenden Bündeln, durch eine solche geschieden. Zwi- 
schen je zwei dieser, im Umkreise nebeneinanderstehenden Bündel, setzt 
sich ferner eine Schicht parenchymatischer Zellen ununterbrochen fort, die 
gleich den Markstrahlen der Dicotylen die Rinde mit dem Marke verbindet. 
Diese, aus dem sich fortentwickelnden Cambium gebildeten Bündel, die 
den festen Holzeylinder des Monocotylenstammes zusammensetzen, besit- 
zen jedoch nicht den Bau der in die Blätter gehenden Faserbündel, es feh- 
len in ihnen vielmehr die eigentlichen Spiral- und Treppen-Fasern, so wie 
die weiten Netz- oder Gummi -Fasern gänzlich, sie bestehen nur aus punk- 
ürt-verholzten Prosenchym- (Bast?-) Zellen, und den daraus entstandenen 
Fasern, in deren Mitte ein kleines Bündel von Cambium-Zellen verbleibt. 
Es findet sich dies Verhältnifs bei der Gattung Dracaena, wo Du Petit- 
Thouars es zuerst genauer untersuchte, bei Aletris, Cordyline, nach Mol- 
denhawer bei Phönix, nach Meneghini auch bei Chamaerops (die ich 
nicht Gelegenheit hatte zu untersuchen) und vielen anderen, nach Unger’s, 
jedoch sehr übereiltem Ausspruche, bei allen Monocotylen. — 

Mohl giebt an, diese später entstandenen Prosenchymbündel seien 
die unteren Verlängerungen der Faserbündel des Stammes, denen er, wie schon 
oben beim Palmenstamme erwähnt, ein Abwärtswachsen zuschreibt. Für 


Y2 


1723 H. Kassten: 


diese Annahme spricht zwar der vereinzelte Verlauf beider in dem sie umge- 
benden Parenchyme, dennoch zweifle ich an einen solchen ununterbrochenen 
Zusammenhang derselben: nicht allein weil ich denselben nicht auffinden 
konnte, ich würde dies nicht für genügend halten, die Richtigkeit der Beobach- 
tungen Mohl’s in Zweifel zu ziehen: noch indem ich mich auf die Analogie 
mit den bisher betrachteten Wachsthumserscheinungen des Holzeylinders be- 
rufe, wo an ein solches Abwärtswachsen von Holzbündeln zum Theil nicht 
gedacht werden kann, wenn z.B. wie in denBlüthenstielen auch die oberen En- 
den der Bastbündel keine Spiral- und Treppen-Fasern besitzen: sondern weil 
die Verhältnisse in der Anordnung dieser Gewebe selbst gegen eine solche un- 
unterbrochene Verlängerung sprechen. Bei der Untersuchung eines älteren 
Stammes der Dracaena congesta Sweet., fallen sogleich zwei abgesonderte Sy- 
steme in die Augen. In dem ceylinderischen Markparenchyme stehen einzeln 
zerstreut, runde Holzbündel die aus einem geschlossenen oder fast geschlossenen 
Kreise von Spiral- und Treppen-Fasern bestehen in deren Mitte und an deren 
Umkreise sich wenige Cambiumzellen befinden; Bastgewebe ist kaum vorhan- 
den, hin und wieder finden sich einzelne verdickte Zellen. Dieses Markgewebe 
mit seinen Holzbündeln, wird von einer Schicht dicht gedrängt stehender, 
grofser Bastbündel umgeben, die in radiale Reihen gestellt sind, welche durch 
Cylinderparenchym, das die halbe Länge des Markparenchymes besitzt und 
nach Art der Markstrahlen die Rinde mit dem Marke verbindet, getrennt wer- 
den. Die grofsen Holzbündel des Markes werden nach der Grenze dieser 
Markstrahlen hin immer dünner, so dafs unmittelbar ihnen zunächst die dünn- 
sten Bündel sich befinden, die fast nur aus punktirt- und treppenartig-ver- 
dickten Fasern bestehen: an diese grenzen dann die strahlig-geordneten, dicken 
Bastbündel, die gleichfalls ein geringes Cambiumbündeleinschliefsen. Auf Län- 
genschnitten tritt die Verschiedenheit aller dieser Gewebe noch deutlicher 
hervor. Die Holzbündel des Markes liegen in grader senkrechter Linie zwi- 
schen den langen Oylinderzellen; die Bastbündel der Holzschicht(!) verlaufen 
dagegen alle wellig hin und her gebogen, so dafs es schwer hält eine einzelne 


(') Es scheint ein Widerspruch in den Worten „die Bastbündel der Holzschicht” zu 
liegen. Ich will jedoch mit Holzschicht bier wie überall, nur den durch Verholzung des 
Cambiumcylinders entstandenen Holzeylinder bezeichnen, in welchem hier die unteren En- 
den der Holzbündel der Blätter sich befinden, ohne damit über die Bedeutung des verholz- 
ten Gewebes, ob Holz- oder- Bast-Zellen, geurtheilt zu haben. — 


die V egetationsorgane der Palmen. 173 


Faser auf eine längere Strecke zu verfolgen: sie sind, wie die Zellen die die 
einzelnen Bündel trennen, punktirt verdickt, ebenso die zunächst angrenzen- 
den Markzellen, das weiter entfernte Markgewebe dagegen besitzt keine ver- 
dickten Häute. Hin und wieder sieht man wohl eine Annährung der geschlän- 
gelten Bastbündel oder ein Anlegen derselben an die Holzbündel des Stammes, 
nie kommt jedoch ein Übergang der einen Form in die andere vor. Zuwei- 
len trafich Stellen wo die dünnen Holzbündel zu enden schienen, hier fingen 
jedoch nicht neue Bastbündel an, sondern die schon neben jenen liegenden 
wendeten sich nur etwas seitwärts, unterhalb des Endes derselben weiter ver- 
laufend. Hiernach besteht der Stamm der Dracaena congesta, verglichen 
mit dem Stamme der Palmen, aus einem Systeme von Holzbündeln ähnlich 
wie es sich in dem Stamme dieser findet, die in dem Holzeylinder beginnen, 
das Mark des Stammes durchziehen und dann in den Blättern enden: ausser- 
dem aber noch aus einer Schicht von Bastbündeln, die durch die fortgesetzte 
Thätigkeit des Cambium-Cylinders hervorgerufen, zur Verdickung des Holz- 
eylinders beitragen. 

Ganz ähnliche Verhältnisse finden sich bei der Aletris fragrans L., nur 
dafs die in die Blätter gehenden Holzbündel des Markes hier etwas anders 
zusammengesetzt sind. Es befindet sich in ihnen nicht ein Kreis von Trep- 
penfasern, sondern nur ein Bündel oder höchstens ein Halbkreis, an dessen 
nach der Oberfläche des Stammes gerichteten Seite Cambiumgewebe steht; 
das ganze Bündel wird im Mark von einer Bastschicht umgeben. Die unteren 
Enden dieser Bündel die im Umkreise des Markes unter der später entste- 
henden Schicht von Bastbündeln liegen sind hier gleichfalls viel dünner und 
zwar, ganz abweichend von dem Baue des Palmenholzbündels, meistens ganz 
ohne Bast nur aus wenigen Treppen-und Spiral-Fasern und Cambium beste- 
hend. Auch hier ist eine Verlängerung dieser dünnen Holzbündelenden in 
die sehr bedeutenden Bastbündel der Holzschicht weder wahrscheinlich, noch 
zu beobachten gewesen. 

Etwas abweichend von den auf diese Weise verholzenden Stämmen der 
Dracaena, Aletris und Cordyline australis Endl. fand ich den gleichfalls sich 
verdickenden Stamm der Aloe plicatilis Mill. (Ahipidodendron) gebaut. Herr- 
schte bei jenen Stämmen die Bastbildung vor, so ist hier die Entstehung von 
Parenchymzellen überwiegend, daher in Folge der fortdauernden Zellenbil- 
dung in dem Cambiumeylinder hier nicht ein fester, zusammenhängender 


174 H. Kasstenx: 


Holzeylinder, sondern einlockeres Gewebe, von Bastbündeln durchzogen, ent- 
steht. Auf Querschnitten unterscheidet man auch hier sehr leicht die Grenze 
des Markgewebes, von dem durch die anhaltende Bildungsthätigkeit des Cam- 
biumcylinders später entstandenen Parenchyme des Holzeylinders, durch die 
strahlige Anordnung und die rechtwinklige Form des Durchschnittes dieser 
Zellen; auf Längenschnitten findet jedoch dieser Unterschied des Parenchyms 
nicht statt, alle Zellen besitzen eine ähnliche, länglich ovale oder spindelför- 
mige Gestalt. Mohl hatsich wohl durch den Querschnitttäuschen lassen, wenn 
er glaubt, dafs die Zellen des Holzeylinders in der Richtung von Innen nach 
Aussen gestreckt seien, da im Gegentheil ihre Längenaxe immer senkrecht (pa- 
rallel derStammlänge) steht. Ferner ist auch der Verlauf der Holzbündel durch 
die sehr bäufigen Verästelungen und Anastomosen, die sowohl die ursprüngli- 
chen wie diespäternachgebildeten Bündel zeigen, in dieser Aloe verschlungener. 
Man kann jedoch auch hier nicht behaupten, dafs das untere Ende der mit Spi- 
ralen versehenen Bündel, in dem Holzeylinder als ein oder mehrere Bastbün- 
del abwärts wachse, ohne zugleich zuzugeben, dafs auch einzelne Theile 
desselben als Bastbündel sich nach Oben hin abzweigen. Da nun alle diese 
Bastbündel später aus dem Cambiumeylinder hervorgehen wie jene in die Blät- 
ter sich verlängernden Bündel und viele derselben gar nicht mit diesen in un- 
mittelbarer Verbindung stehen: so ist es nur naturgemäfs beide als von ein- 
ander unabhängig, und jedes in seiner Entwickelung zu betrachten. Verfolgt 
man ein in dem Marke befindliches Holzbündel bis an sein unteres Ende, so 
sieht man hier meistens, dafs sich dieses an ein dickes Bastbündel anlegt, 
welches sich entweder einfach oder ästig nach Unten und Oben verlängert: 
ebenso legen sich an den oberen Bogen des in das Blatt gehenden Bündels, 
dort wo es den Cambiumeylinder durchschneidet nicht selten Bastbündel an; 
diese nun als aufwärts-oder abwärts-wachsende Verlängerungen des ursprüng- 
lichen Holzbündels anzusehen halte ich für durchaus unrichtig. — 

Noch eine andere Meinung hat Meneghini, in seinem oft erwähnten 
Werke, über den Verlauf dieser nicht in das Mark eintretenden Bündel, aus- 
gesprochen indem er angiebt, sie endeten wie jene mit Spiralfasern versehe- 
nen in den Blättern. Ich vermuthe Menegini hat sich durch die oben bei 
den Palmen beschriebenen, von dem innersten Theile des Holzeylinders (Mark- 
scheide der Dieotylen) entspringenden Bastbündel täuschen lassen, die aller- 
dings in die Blätter gehen, wo Spiral- und Treppen-Fasern in ihnen auftreten, 


die V egetationsorgane der Palmen. 175 


denn diese Bündel des nachgewachsenen Holzeylinders sind in der beblätter- 
ten Knospe noch nicht vorhanden. Bei den baumartigen Liliaceen, die ich 
untersuchte, fehlen übrigens diese von der Markscheide entspringenden Bast- 
bündel gänzlich: die in den ausgewachsenen Blättern befindlichen, deren 
Oberfläche nahestehenden Bastbündel sind ein Ergebnifs der Entwickelung 
des Blattgewebes, sie verlängern sich nur bis in die Nähe des Blattgrundes, 
wo die Verholzung ihrer Häute nachläfst und sie endlich ganz verschwinden, 
ohne in die Rinde des Stammes einzutreten. — 

Diese Verhältnisse bestimmen mich zugleich diese Schicht von verholz- 
ten Zellen- und Faser-Bündeln, die nach der Entfaltung aller zum einjährigen 
Stamme nothwendig gehörenden Gewebe entstehen, der Holzschicht (den 
sogenannten Jahresringen) der Dicotylen für gleichbedeutend zu halten. Die 
sie zusammensetzenden Fasern stehen nicht in unmittelbarem Zusammenhange 
mit den Fasern der in die Blätter gehenden Holzbündel; sie bedecken nur 
diese, ebenso wie das Holz der Dicotylen die Markscheide umgiebt. Mit 
der Ausbildung dieses Holzeylinders scheint die in der Rinde stattfindende 
Lebensthätigkeit zusammenzuhängen (!) die bei denjenigen Gewächsen sich 
nicht findet, wo die Thätigkeit des Cambium-Cylinders unterdrückt ist. 

Es ist nun noch die Frage zn beantworten, ob man diese später ent- 
stehende Bündel mit dem Baste der Dicotylen vergleichen kann, wie es frü- 
here Anatomen gethan haben. — Durch das Wachsthum des Cambiums 
nach Aussen während die inneren Schichten verholzen ist er leicht einzusehen, 
dafs nicht an die in der Rinde der Dicotylen vorkommenden, dort an der äu- 
fseren Seite des Cambiums entstehenden Bastbündel gedacht werden kann; ob 
aber dies Gewebe in seiner Bedeutung für den Organismus und die übrigen 
Gewebe, dem Baste oder dem Holze der ursprünglich aus dem Cambium- 
cylinder entstehenden Fasern gleichwerthig ist, kann nur durch die genaue 
Kenntnifs der Entwickelungsgeschichte dieses Gewebes so wie durch das 
Studium der regelmäfsigen oder krankhaften Umbildungen desselben ent- 
schieden werden. Beides habe ich bisher nicht unternommen. Wenn ich 
es in dem Vorhergehenden Bast nannte, so geschah dies aus Rücksicht auf 


(') In den Blüthenstielen, die ihre Nahrung vielleicht sämmtlich aus den Vegeta- 
tionstheilen erhalten, findet auch dort eine solche Thätigkeit der Rinde nicht statt, wo 
später ein Cylinder von Bastbündeln an der Grenze ihres Gewebes und Markes entsteht. — 


176 H. Karstenx: 


die Ähnlichkeit desselben mit dem die Holzbündel der Blätter umgebenden 
Baste: hinsichts seiner Stellung zu dem in der Mitte des Bündels befindlichen 
Cambium ist es mehr den Treppenfasern jener zu vergleichen. — 

Was die Zusammensetzung der Holzbündel der übrigen Mono- 
cotylen betrifft, so sind fast alle, ähnlich denjenigen der Palmen aus engen 
Spiralfasern, etwas weiteren punktirten- und Treppen-Fasern aus Netzfasern, 
Cambium -, Holz- und Bast-Zellen bestehend, doch ist die Ausdehnung die- 
ser einzelnen Gewebe, so wie die Anordnung der verschiedenen zu einem 
Bündel nicht nur in den Pflanzen verschiedener Familien, sondern selbst 
in den verschiedenen Theilen einer Pflanze sehr verschieden z.B. in der Eleo- 
charis, Typha und Alstroemeria findet sich in den Holzbündeln des Wurzel- 
stockes ein ganzer Kreis von Treppenfasern die ein Cambiumbündel einschlie- 
fsen, und keinen Bast oder bei T'ypha, an der nach der Mittellinie des Stammes 
gewendeten Seite, nur eine geringe Bastschicht besitzen. In den oberirdi- 
schen, beblätterten Theilen des Stammes finden sich bei der Alströmeria und 
Typha mehrere weite Netzfasern mit wenigen Spiral- und Treppen-Fasern, 
nach der innern Seite von Bast umgeben: bei der Eleocharis in der Mitte ei- 
nes Bastbündels eine Reihe von Treppenfasern, die an jeder Seite mit einer 
weiten Netzfaser endigt. In den, die Blüthen tragenden Theilen des Stammes 
endlich, sind nur wenige Spiralfasern, an der der Mitte des Stammes zugewen- 
deten Seite eines geringen Bastbündels. Regel scheint es indessen zu sein, 
dafs der Bast an der der Rinde zugewendeten Seite des Holzbündels sich be- 
findet, wie es bei den Palmen der Fall ist und die oben angeführten Fälle, wo 
derselbe, wie bei der Maranta Taf.V. fig. 3, die entgegengesetzte Seite ein- 
nimmt, sind wohl nur Ausnahmen. Das genaue Studium der räumlichen 
und zeitlichen Veränderungen dieser Gewebe, verspricht viel für die Kennt- 
nifs ihrer Bedeutung für den Organismus und der Wechselwirkung während 
der Ernährung derselben mit den übrigen Geweben. 

In Betreff des Verlaufes der von dem Holzeylinder sich für die Blät- 
ter trennenden Bündel ist es Regel, dafs dieselben bei den übrigen Monoco- 
tylen eben so wie es bei den Palmen stattfindet, nach dieser Trennung nicht 
unmittelbar nach Aussen in das Blatt sich wenden, sondern vorher in einem 
gröfseren oder kleineren Bogen das Mark durchkreuzen. Die Gröfse und 
Lage dieses, von den Holzbündeln beschriebenen Bogens ist ebenso wie dort 
je nach der Entfernung des Anfangs- und Ausgangs-Punktes derseben am 


die Vegetationsorgane der Palmen. 477 


Umkreise des Holzeylinders und von dem Wendepunkte im Marke verschie- 
den, bald nur senkrecht bald schief aufsteigend; die Gröfse der wagerechten 
Krümmung des Letzteren beträgt nicht selten über 90%. — Es ist dies Durch- 
kreuzen des Markes ein wichtiger, gewifs im innigsten Zusammenhange mit 
den eigenthümlichen Ernährungsverhältnissen einer jeden dieser beiden Pflan- 
zengruppen stehender Unterschied; jedoch ebensowenig wie alle übrigen, zur 
Trennung derselben benutzten Merkmale durchgreifend, da es eine gröfsere 
Anzahl von Monocotylen giebt deren Holzbündel scheinbar ähnlich denjeni- 
gen der Dicotylen, ohne sich von dem Holzcylinder nach der Mittellinie des 
Stammes zu trennen, sogleich nach der Oberfläche desselben sich wenden, 
z.B. die dünnen Stämme von Smilax, Dioscorea, und denjenigen denen man 
ein centrales Holzbündel zuschreibt, wie den Najaden der Tillandsia u.a.m. 
Es verhält sich jedoch mit diesem centralen Holzbündel ebenso wie mit dem 
Holzgewebe der Palmenwurzeln, es ist nicht ein wirklich einfaches Bündel, 
sondern ein Cylinder von mehreren, zu verschiedenen Blättern gehenden 
Holzbündeln, in dessen Mittellinie sich, bei dem geringen Umfange des Stam- 
mes, kein parenchymatisches Mark bildete. Zuweilen trennen sich auch in 
diesen Pflanzen, bei einer Vermehrung des Gewebes des Stammes, die zu 
einem marklosen Cylinder vereinigten Bündel wie z.B. in den Blüthenzwei- 
gen der Potamogetonen, wo sich in der Mittellinie, der dann einzeln im Zell- 
gewebe stehenden Bündel, wirkliches Markparenchym bildet. 

Auch in dem Falle des regelmäfsigen Verlaufes der Holzbündel durch 
das Mark ereignet es sich, dafs ein mittlerer Theil des Markes frei von Holz- 
bündeln bleibt, wie ich es bei Crinum und Pancratium fand und Meneg- 
hini es auch bei Yucca sah, wo dann durch das nahe Aneinanderrücken der 
inneren Krümmung, der Schein von zwei, in einander steckenden Cylindern, 
hervorgebracht wird. Es kommt diese Bildung wohl daher, dafs alle Blätter 
erst in einer gewissen Entfernung, von der Mittellinie mit dem cambialen 
Holzeylinder durch Cambiumbündel verbunden werden. Überhaupt ändert 
die Richtung des Holzbündelverlaufes in ein und derselben Familie, bei den 
verschiedenen Gattungen z.B. bei den Gräsern von denen einige überall Holz- 
bündel im Marke besitzen, andere nur an den Abgangsstellen der Blätter. 

Hingen die bisher betrachteten Verhältnifse von den Bildungsvorgän- 
gen des Gewebes in senkrechter Richtung des Stammes ab, bei gleichzeitig 


fast ununterbrochen vorschreitender Entfaltung: so findet sich noch eine an- 


Phys. Kl. 1847. /2 


478 H. Karsten: 


dere Erscheinung in dem Holzbündelverlaufe, die in der, mit jener Bildung 
zugleich stattfindenden, abwechselnd beschleunigten Entfaltung dieses Ge- 
webes, in den verschiedenen wagerechten Schichten begründet ist. (!) 

Durchschneidet man die Gipfelknospe einer im kräftigen Wuchse be- 
begriffenen Tradescantia und bringt einen Längenschnitt unter das Mikros- 
kop, so findet man in den jüngsten Theilen des Stammes das Gewebe in wa- 
gerechte, abwechselnd dunklere und hellere Schichten gesondert. In den 
höchsten Enden der kegelförmigen Stammspitze, sind beide Schichten fast 
von gleicher Dicke, je weiter abwärts desto länger wird die hellere. Die 
dunklere Färbung wird durch Luft hervorgebracht, die die Zwischenräume 
der hier scheinbar gröfseren Zellen ausfüllt, es entspricht diese Schicht der 
Oberfläche einer, sich vom Stamme trennenden Blattanlage. Die darunter 
liegende hellere Schicht, die sich nach Aussen in das Gewebe des jungen 
Blattes fortsetzt, besteht augenscheinlich aus weniger entfaltetem, noch in der 
Zellenbildung begriffenem Gewebe, die gröfseren Zellen sind mit kleineren 
(Zellkernen und Kernkörperchen) angefüllt, und sowohl die Zellen selbst, wie 
die Zwischenräume mit Flüssigkeit durchtränkt; es befindet sich in dem Zu- 
stande des Cambiums. Die später eintretende Entfaltung dieses Gewebes be- 
ginnt in jedem dieser Glieder, von der zuerst entfalteten dunkleren Schicht 
nach der Stammspitze hin vorschreitend, wodurch zugleich der Anheftungs- 
punkt des stengelumfassenden Blattes, da der Grund desselben gleichfalls in 
dieses Längenwachsthum eingeht, immer weiter hinaufgerückt zu werden 
scheint, bis endlich an dem völlig entfalteten Stamme, das Blatt an dem 
Theile desselben angeheftet ist, der zuerst als dunkle Schicht mit seiner 
oberen Fläche in einer Höhe lag. 

Verfolgt man nun die in dieser Gipfelknospe zuerst sichtbaren Spiral- 
fasern von ihrem unteren Ende das in dem Cambiumcylinder liegt, der das 


(') Bei der Hydrocleis und Zimnocharis eilen alle Wachsthumserscheinungen in den 
beblätterten Knoten des Stammes, so sehr denjenigen der blattlosen Zwischenknoten vor- 
aus, dafs in jenen schon längst die Holzfasern vorhanden sind, wenn diese noch aus 
Cambium bestehen, in dem man noch keine Spiralfasern findet. Das Erscheinen dieser, 
tritt dann, gleichzeitig mit der Sonderung der übrigen Gewebe, sowohl von dem unteren 
wie oberen Knoten in den Zwischenknoten ein, indem sie sich dann mit Luft füllen. 
Über ihre erste Bildung ist auch hier weiter nichts zu erkennen, als dals sie aus Zellen- 
reihen entstehen, die in den Knoten zum Theil immer Spiralzellen bleiben ohne sich zu 
Fasern zu vereinigen. 


die Vegetationsorgane der Palmen. 179 


Mark von der Rinde sondert, in ihrem bogenförmigen Verlaufe durch das 
Mark zu der höher am Stamme stehenden Blattanlage, so sieht man wie die- 
selben in den dunkleren Zellenschichten plötzlich von dem aufsteigenden Bo- 
gen abgelenkt, eine mehr wagerechte Richtung annehmen: in ihrer unteren 
Hälfte bis zur Mittellinie des Stammes werden sie dadurch jedesmal der Mitte 
zugelenkt, in der oberen Hälfte abgelenkt, bis sie das Stengelglied erreichen 
von dem das Blatt für welches sie bestimmt sind, eine seitliche Ausbreitung 
zu sein scheint. Hier laufen dann diejenigen die in dem Grunde dieses Sten- 
gelgliedes den Cambiumeylinder erreichten, von dem sie weiter unten aus- 
gingen, an der äulseren Seite desselben (wie es in der Knospe scheint, in 
dem Blattgrunde, der später an dem ausgewachsenen Stamme sich als Rinde 
darstellt,) während diejenigen die etwas weiter nach Innen sich befinden erst 
an der oberen Grenze dieses Stengelgliedes ihre letzte seitliche Biegung ma- 
chen, und sogleich in das hier auch später noch angeheftete Blatt eintreten. 
Diese letzteren mehr aus dem Marke des Stammes kommenden Holzbündel, 
sind mit den grofsen zuerst auftretenden Bündeln des Palmenblattes zu ver- 
gleichen, sie scheinen auch hier ebenso wie bei den Palmen früher mit Spi- 
ralfasern versehen zu werden wie die der Oberfläche des Stammes (der unteren 
Blattfläche) näheren. 

Die Holzbündel der hier später in der Blattachsel sich entwickelnden 
Knospe legen sich dann, sowohl an jene senkrecht in das Blatt eintretenden 
Bündel, wie an diese wagerecht aus dem Stamme kommenden: hier dann mit 
den übrigen für dies Blatt und für andere noch jüngere Blätter bestimmten, 
vielfach sich verflechtend und zur Knotenbildung beitragend. 

Dies ist nun die auf den ersten Blick so gänzlich von der bei den Pal- 
men beschriebenen abweichende Vertheilung der Holzbündel des Monoco- 
tylenstammes, die Knotenbildung im engeren Sinne, deren erster Grund in 
der eigenthümlichen Entfaltungsweise des Stammgewebes, und die dadurch 
hervorgebrachte wagerechte Ablenkung der Holzbündel von ihrem aufstei- 
genden Verlaufe, liegt: welche überdies noch befördert wird durch eine stär- 
kere Verholzung der Zellen dieser Schichte und Bildung von Poren-und 
Spiral-Zellen, die die verschiedenen nebeneinanderliegenden Bündel verei- 
nigen, so dafs man an dem ausgebildeten Stamme in Folge dieser Anasto- 
mosen schwierig noch den Verlauf der in die Blätter gehenden Holzbündel 
erkennt, besonders wenn nach der Entfaltung der Knospen dieses Netz noch 

Z2 


180 H. Karstenr: 


dichter verschlungen wurde. Hiedurch entsteht die sogenannte Verästelung 
der Holzbündel. 

So verschieden nun auch die Entwickelungsweisen und die dadurch 
hervorgerufenen anatomischen Verhältnisse dieser beiden Stammformen sind, 
so liefern sie doch für die Erkennung der Verwandtschaft der Gewächse kein 
Merkmal, da bei schr nahe stehenden Pflanzen sich beide Formen finden, ja 
selbst nicht selten ein Theil des Stammes nach Art der Palmen gebaut ist, 
während eine Verlängerung desselben den grasartig - knotigen Bau besitzt. 
Hiefür liefert besonders die Familie der Scitamineen Belege, deren unter- 
irdische Stammtheile ununterbrochen gleichförmig sich entwickeln, wogegen 
die oberen bald periodisch, wie bei Costus, (Cana amarga) bald gleichför- 
mig wie bei Musa, Heliconia, Canna etc. auswachsen. — 

Was die Blattbildung der übrigen Monocotylen betrifft, so ist die 
erste Anlage derselben wie bei allen stengelumfassenden Blättern ganz ebenso, 
wie sie bei den Palmen beobachtet wurde. Ein vollständiger Ring umfafst 
die kegelförmige Gipfelknospe des Stammes, dessen eine, zuerst hervortre- 
tende Seite immer etwas in der Entwickelung voraus ist. Von der Dauer 
des Wachsthumes der einzelnen Theile dieser Blattanlage hängt es ab, ob eine 
geschlossene oder offene Blattscheide, Nebenblätter in ihrer mannigfachen 
Form und Stellung (vagina stip.), Blattzüngelchen ete. entstehen, so wie natür- 
lich der Umfang des Blattstieles und der Blattfläche selbst daraus hervorgehen. 
Eine Ansicht wie Schleiden sie (Grdz. II p. 187) über die Entstehung der 
geschlossenen Scheide ausspricht, dafs sich die frisch entstandenen, noch 
weichen, fast gallertartigen Zellen der beiden Ränder des Blattgrundes an- 
einanderlegen und durch ihre Vereinigung eine solche hervorbringen ist durch- 
aus falsch: eine anfangs offene Blattscheide könnte nur dadurch zu einer ge- 
schlossenen werden, dafs in ihrem Grunde die Zellenbildung sich über den 
ganzen Umkreis des Stammes ausdehnte, während anfangs ein Theil desselben 
ausgeschlossen war, geschieht dies nicht und dauert nur in den benachbarten 
Rändern der offenen Blattscheide noch einige Zeit die Zellen-Bildung und 
-Ausdehnung fort, so decken sich die, sich übereinanderlegenden Ränder; 
jedoch ohne zusammen zu kleben, denn die Zellen der Oberhaut sind weder 
„frisch entstanden” noch „fast gallertartig”. 

Das bei den Palmen ausführlich beschriebene Verhalten der Holzbün- 
del in den Blättern findet sich auch bei allen übrigen Monocotylen, indem 


die V egelalionsorgane der Palmen. 181 


nur die Vertheilung derselben in der Blattfläche mit der veränderten Form 
dieser sich ändert; in allen erscheint bald nach der Sonderung der cambia- 
len Bündel eine enge abrollbare Spiralfaser als Grundlage des Holzbündels, 
das sich aus dem Holzeylinder des Stammes (durch das Mark desselben) bis 
in die Spitze des Blattstieles oder einer Blattrippe verlängert, so dafs die un- 
teren Enden aller dieser Bündel sich in dem Stamme befinden und das Ge- 
webe desselben in den Fällen wo ihr oberes Ende mit dem Blattrande abge- 
worfen wird, ebenso wie bei den Palmen, der Atmosphäre zugängig macht. 
Doch tritt dies keinesweges bei allen Monocotylen ein, die Zwiebeln und 
überhaupt diejenigen Stämme deren Glieder verkürzt sind zeigen nicht diese 
Einrichtung, bei ihnen bleiben die Spiralen und die übrigen Fasern der Holz- 
bündel beständig innerhalb der Blattsubstanz eingeschlossen in der sie endi- 
gen, ebenso wie es in den Blüthen- und Blumen-Theilen der Pflanzen der 
Fall ist.— Indessen ist meine Untersuchung dieses Gegenstandes noch nicht 
beendet und ich will keinesweges schon jetzt es bestimmt aussprechen, dafs 
die Verlängerung der Stammtheile der Monocotylen von diesem Verhalten 
der Holzbündel abhängt, worauf die Wachsthumserscheinungen des Palmen- 
stammes allerdings hinzudeuten scheinen; überhaupt wird wohl die Entwicke- 
lung der Blüthentheile mehr durch die Zustände der Mutterpflanze, wie 
durch ihr Verhältnifs zur Atmosphäre bedingt. 

Eine sehr auffallende Bestätigung des durch die Beobachtung der Pal- 
men gewonnenen Ergebnisses liefert uns die Familie der Aroideen. Unter- 
sucht man die Blattspitzen einer Calla, Colocasia, Caladium, kurz einer 
Aroidee mit kurzen Stengelgliedern, so findet man dieselben ganzrandig und 
wenn nicht durch äufsere Entwickelungen verändert, unversehrt. Taf. IV 
Fig. 5 stellt den Längenschnitt einer jungen Blattspitze der Colocasia esculenta 
vor, die noch in dem Grunde des nächst älteren Blattes eingeschlossen war. 
Das Gewebe dieser Spitze ist von dem der Blattfläche nicht wesentlich ver- 
schieden, es enthielt zu dieser Zeit noch in allen Zellen Stärke, selbst in der 
ÖOberhaut die überdies an der ganzen Oberfläche Spaltöffnungen besafs. In 
der Mitte des Parenchymes befindet sich ein Holz-Bündel, das der Blatt-Spitze 
nahe endigt. — Vergleicht man nun hiermit die Spitze des Blattes eines 
Anthurium, eines Philodendron oder einer andern kletternden Aroidee, so fin- 
det man an den entfalteten Blättern immer die äufserste Spitze abgebrochen: 
untersucht man die jüngsten, noch in der Knospe eingeschlossenen Blattan- 


182 H. Karsten: 


lagen, so bemerkt man schon im Äufseren eine Verschiedenheit der Spitze von 
der Fläche; die sehr lange, dünne, fadenförmige Spitze ist weisgefärbt und 
bricht bei der leisesten Berührung von dem grüngefärbten, biegsamen Blatt- 
gewebe: die weilsgefärbte Spitze ist an etwas älteren Blattanlagen immer be- 
trächtlich dünner wie das Ende des grünen Theiles dem sie aufsitzt. Auf 
der fünften Tafel habe ich (Fig. 5) das untere Ende der weifsgefärbten Spitze 
in Verbindung mit dem grünen Ende des Blattes gezeichnet, die Grenze bei- 
der giebt sich durch eine plötzliche Verengerung (e) zu erkennen. Fig. 6 
stellt den Längenschnitt dieses Theiles (e) vor. Die Mitte des Chlorophyll 
enthaltenden Gewebes des unteren Abschnittes wird von einem Holzbündel 
durchzogen, dessen Spiral-und Treppen-Fasern sich wenig in die leicht zer- 
brechliche Spitze hineinverlängern. Die Epidermis des Blattgewebes besafs 
zu dieser Zeit schon Spaltöffnungen, deren Zellen Stärke enthielten, woge- 
gen die Epidermis des weilsen, fadenartigen Endes gänzlich ohne Spaltöff- 
nungen war, und die Zellen seines Gewebes in der Entfaltung zurückblieben, 
während die Bildung neuer Zellen noch fortbesteht, in denen sich Bläschen 
zeigen, die sich mit einem fettartigen Stoffe füllen, der durch Jod braun ge- 
färbt wird. Diese abweichend gebaute Spitze bricht nun während der Ent- 
faltung des Blattes regelmäfsig ab, so dafs das Faserbündel dem Zutritte der 
Luft unmittelbar geöffnet ist. 

Die Abhängigkeit dieser verschiedenen Entwickelungsweisen der Spitze 
des Blattes von der Art seiner Ernährung, die Begründung derselben in dem 
Baue der Organismen sind uns bis jetzt verborgen; wir überzeugen uns aber 
durch die Gesetzmäfsigkeit dieser Verhältnisse in ihrem Vorkommen bei be- 
stimmten Pflanzenformen, dafs sie nicht etwa unregelmäfsige, krankhafte Bil- 
dungen sind, sondern dafs sie, eng verbunden mit dem Vorbilde der Art, 
welches der sich entwickelnde Organismus nachzuformen erstrebt, mit dem 
eigenthümlichen Baue desselben nothwendig ein unzertrennliches Ganze bil- 
den. Durch die Art der Entwickelung des Palmenblattes wird ein ähnliches 
Ergebnifs auf eine andere, von der Form und Ernährung desselben vielleicht 
abhängige, gleichfalls einfache Weise hervorgerufen: dort glaubten wir schon 
einen Einflufs dieser Verhältnisse auf die Entfaltung des Gewebes zu erkennen, 
der uns durch die verschiedenen Formen in der Familie der Aroideen bestä- 
tigt zu sein scheint. Wohl nicht ungegründet erwacht in uns die Hoffnung 
den Faden gefunden zu haben, der uns zu dem Eingange verborgener Werk- 


die V egetationsorgane der Palmen. 183 


stätten organischer Gestaltung zu führen vermag, der uns gestatten wird ei- 
nen Blick in die Gesetze zu werfen, die der Palme es vorschreiben, durch 
die riesige Blätterkrone den Zug der Wolken zu unterbrechen, während die 
Lilie ihre Düfte und die Iris den Farbenschmelz ihrer Blumen dem Bewohner 
der Erde darbringt: den Faden der uns bei vorsichtiger, aufmerksamer Verfol- 
gung des betretenen Pfadesvielleichtauch in den andern Gruppen des Gewächs- 
reiches gleichwerthige Verhältnisse kennen lehren wird, welche über die be- 
deutungsvollsten Bedingungen für die Physiognomie des Pflanzenwuchses Auf- 
schlufs zu geben vermögen. — 

In Rücksicht auf das Verhalten der Knospen stehen die Pandaneen, 
Aroideen, Amaryllideen ein Theil der Orchideen, Liliaceen u.a.m. in so fern 
den Palmen nahe, als die Gipfelknospe unbegrenzt fortwächst, während die 
Seitenknospen sich aus den Blattachseln hervorbilden, doch sind diese Seiten- 
knospennicht soregelmäfsig Blüthenknospen wie bei den Palmen, sondern nach 
Gesetzen die bisher nicht bekannt sind bald Blüthen- bald Blatt-Knospen ('). 
Mit den Scitamineen, Typhaceen, Cyperaceen, Butomeen, einigen Liliaceen 
und Irideen haben die Palmen das gemein, dafs aus den unterirdischen Stamm- 
theilen sich Blattknospen entwickeln die, in der Weise wie es von den Knospen 
des Wurzelstockes der Palmen ausführlich beschrieben ist, durch eine Zel- 
lenvermehrung in dem cambialen Holzeylinder hervorgerufen werden, in deren 
Organe sich Holzbündel hinein verlängern, die gleichzeitig an der innern Seite 
dieses Cylinders entstanden(?). Allen Amaryllideen so wie den mit einer 
Zwiebel versehenen Liliaceen und Irideen mangelt diese Art der Knospen- 
bildung gänzlich, es eignen sich daher vielleicht diese Verhältnisse ein ana- 


(') Bei denjenigen Aroideen deren Blätter abwechselnd keine ausgebildete Blattfläche 
besitzen, entwickelt sich aus der Achsel des vollständigen Blattes eine Blüthenknospe, 
während das blattflächenlose Organ eine Blattknospe in seiner Achsel birgt, deren Ent- 
wiekelung oft lange unterdrückt bleibt. An der Blüthenknospe ist noch die Eigenthüm- 
lichkeit bemerkenswerth, dafs sie sich innerhalb des Blattgrundes bildet und sich innerhalb 
seines Scheidentheiles, nicht in der Achsel seiner Nebenblattscheide, entwickelt, die doch 
urspünglich mit dem Blatte ein zusammenhängendes Ganze, einen ringförmigen Wulst, 
bildeten. 

(?) Will man aufser dieser eigenthümlichen Entwickelungsweise der Holzbündel noch 
die Zeit und den Ort der Blattbildung dieser Knospe berücksichtigen, so wird man bei 
den Wurzelstockknospen denselben Unterschied von Haupt- und Bei-Knospen machen kön- 
nen, wie es hei den Zwiebelknospen geschehen kann. 


184 H. Kasnstmen: 


tomisches Merkmal einer Zwiebel und eines Wurzelstockes als monoeotylische 
Stammformen abzugeben. Freilich würden durch eine solche Begrenzung 
des Begriffes Wurzelstock, rhizoma, manche Formen die man bisher dazu 
rechnete anders bezeichnet werden müssen: diefleischigen, verdickten Stämme 
der Aroideen oder die unterirdisch-kriechenden Äste der Gräser z.B., denen 
die Entstehungsweise einer Zwiebelknospe eigen ist, dürften wohl nur wur- 
zelstockähnliche Stämme zu nennen sein: während auf der andern Seite die 
knotigen Anschwellungen des Stammes der milchenden Butomeen und die 
wurzelähnlichen der Dioscorea hieher zu rechnen wären (!). 

Aufser diesen Wurzelstock-Knospen die bisher vielleicht zum Theil 
als „Nebenknospen, gemmae adventitiae” bekannt waren, kommen auch 
bei gewissen Monocotylenstämmen z.B. den Aroideen, Liliaceen neben der 
Hauptknospe der Blattachsel oft jederseits eine Reihe von Beiknospen vor, 
die sich aus der Kreuzungsstelle des Holzeylinders und der in das Blatt ge- 
henden seitlichen Holzbündel ähnlich hervorbilden wie die Hauptknospe 
oberhalb des mittleren, gröfsten Holzbündels entsteht. 

Was nun die Entwickelung und den Bau der Wurzeln der übrigen 
Monocotylen betrifft, so ist derselbe im Allgemeinen so einförmig, dafs ich 
kaum zu dem schon bei den Palmen darüber Mitgetheilten etwas hinzuzufügen 
habe (?): in allen findet sich ein Cylinder von Holzbündeln der zuweilen 


(') Bei der Zimnocharis und Hydrocleis zerfällt der Stamm in längere, blattlose Sten- 


gelglieder, deren lockeres, eigentlich nur aus Scheidewänden von Luftlücken bestehendes 
Gewebe von mehreren einzeln stehenden Holzbündeln durchzogen wird und in kurze be- 
blätterte Knoten, von denen Blatt- und Blüthen-Knospen, wie unter Umständen auch 
Wurzeln ausgehen: hier findet sich ein geschlossener Holzeylinder, von dem sowohl die 
Bildung der Wurzeln wie die der Knospen beginnt. Bei der Dioscorea sah ich die dem 
Marke zunächst stehenden Holzbündel des oberirdischen Stammes von seinem ganzen Um- 
kreise sich in dem Knoten vereinigen und in die Knospe eintreten, die in der Blattachsel 
aus dem Holzeylinder sich hervorbildet, oft, ohne Blätter zu erhalten, fleischig wird, ab- 
fällt und einen neuen Wurzelstock darstellt. Ebenso entstehen in den alten Wurzelstöcken 
neben dem Stengel aus dem Holzeylinder neue Knospen, die schon Mohl: „Über den 
Mittelstock von Tamus Elephantipes L. 1836” beobachtete, der auch das von Dutrochet 
entdeckte Abwärtswachsen des Wurzelstockes von ZTamus bestätigte das bei Dioscorea 
gleichfalls stattfindet, wo es, nach der wagerecht-schichtigen Ausbildung des Gewebes 
zu urtheilen, periodisch erfolgt. 

(2) Die auf der vierten Tafel Fig.6.7. und 8 gegebenen Zeichnungen der Entwicke- 
lung der Colocasia esewlenta Schott, deren Beschreibung ich mit dem bei den Palmen 
Gesagten zu vergleichen bitte, werden dies bestätigen. 


die Vegetaiionsorgane der Palmen. 185 


wirkliches Parenchym in den meistens dünnen Wurzeln, jedoch nur Prosenchym 
an der Stelle des Markes einschliefst. Die Wurzelmütze fehlt keiner echten 
Wurzel. Die Pfahlwurzel ist von den Stammwurzeln (Luft- oder Neben- 
Wurzeln) nur morphologisch zu unterscheiden, in der Entwickelung und 
den anatomischen Verhältnissen sind keine Verschiedenheiten vorhanden. 
Schleiden der dies (Grundzüge p. 118-122) behauptet, scheint gleichfalls, 
indem er über die sorglose Nachlässigkeit früherer Beobachter klagt, das 
Studium der Entwickelungsgeschichte dieser Organe versäumt zu haben. Die 
Angabe, dafs bei denjenigen Saamen die mit einem Deckelchen versehen 
sind, so wie bei vielen anderen Monocotylen, das Würzelchen des Keim- 
linges sich nicht entwickele ist unrichtig, wie wir bei den Palmen sahen, die 
meistens ein Deckelchenbesitzen und was auch schon Kunth in seinem „Lehr- 
buch der Botanik 1847” p. 103 berichtigt hat. — 

Eine Eigenthümlichkeit findet sich bei der Alstroemeria (Bomarea mul- 
tiflora Mirb.) zuweilen auch bei der Zannichellia, Ruppia, Dioscorea und ge- 
wifs noch anderen Monocotylen, in der Entwickelung der Wurzeln, indem 
hier ein Zeitpunkt eintritt, wo das Gewebe der Mütze nicht mehr erneut wird 
und sich das Wachsthum der Wurzelspitze in die Länge abschliefst, während 
dieselbe dadurch knollig verdickt wird, dafs in dem Cambiumeylinder noch 
längere Zeit die Zellenbildung fortdauert in deren Folge Rinden-und Mark- 
Parenchym entsteht. Besonders merkwürdig ist es, dafs an dem unteren 
Ende dieser Knollen, dort wo früher die Wurzelmütze sich befand, bei der 
Dioscorea sich später Knospen bilden die einen beblätterten Stamm entwi- 
ckeln, während das mit dem Stamme zusammenhängende, obere, dünne Wur- 
zelende abstirbt. Bei der Alstroemeria und den übrigen konnte ich Ähnliches 
nicht finden. — 

Überblicken wir nun die den Monocotylen eigenthümlichen Entwicke- 
lungsverhältnisse und den daraus hervorgehenden Bau ihrer Organe, so stellen 
sich uns die Palmen, als das reinste Vorbild des monocotylen Stammbaues 
dar. Die bedeutende Markbildung, der gänzlich in Holzbündel umgeänderte, 
in seiner zellenbildenden Thätigkeit gehemmte Cambiumeylinder, die von dem 
ganzen Umkreise des Holzeylinders sich trennenden Bündel, welche sämmt- 
lich in das Gewebe des stengelumfassenden Blattes eintreten, nachdem sie 
in Marke mehr oder weniger der Mittellinie sich genähert, die abgeschlossene 
Entwickelung dieser Holzbündel, das gesetzmäfsige Verkümmern der Pfahl- 


Phys. Kl. 1847. Aa 


186 H. Karsten: 


wurzel bei einer Bildung von zahlreichen Stammwurzeln: — alles dies fin- 
det sich bei der Mehrzahl der Monocotylen wieder, während das fieder- 
schnittige Blatt der Palmen an die vollkommenste Blattform der Dicotylen 
erinnert. — 

Die allgemein jetzt herrschende Ansicht, es entständen die Holzbündel 
der jüngeren Blätter in dem Stamme der Monocotylen aufserbalb der älteren, 
ist, wie aus dem Vorhergehenden sich ergiebt, nicht richtig. Die unteren 
Enden aller Holzbündel der Blätter liegen in einer einfachen Schicht, die 
in dem eylinderischen Stamme einen Cylindermantel(') bildet, also alle von 
der Mittellinie gleichweit entfernt: die später entstandene Spiralfaser nicht 
aufserhalb, sondern neben und oberhalb der älteren. Eine „vegetatio periphe- 
rica” ein „umsprossendes Wachsthum” findet in dem Sinne wie Unger, Mohl, 
und andere es annehmen nicht statt: die Monocotylen sind in dieser Bedeu- 
tung ebensowenig Endlicher’s und Unger’s „ Amphibrya” wie sie Des- 
fontaines’s und Decandolle’s „Endogenae” sind. — 


Vergleichung des Baues der Palmen mit dem der Farne. 


Bevor wir eine Vergleichung des Farnstammes mit dem Stamme der 
Palmen und der übrigen Monocotylen anstellen können, ist es nothwendig, 
die verschiedenen bisher wenig bekannten anatomischen Verhältnisse des Er- 
steren, so weit ich dieselben kennen lernte, zu betrachten. Mag auch hier die 
Entwickelungsgeschichte uns leiten. — Die erste Anlage zu dem Stamme 
eines sich entwickelnden Farnes, finden wir in dem kugligen, zelligen Körper 
der sich aus einer Stelle im Innern des flächenartig sich ausbreitenden Gewe- 
bes hervorbildet, das durch die Zellenvermehrung der Spore entstand. Von 
der Oberfläche dieses cambialen Zellenkörperchens erhebt sich nun, wie wir 
es an dem Keimlinge der Monocotylen sahen, die Anlage eines Blattes, der 
entspechend, in den mittleren Schichten jenes Cambiums, eine Spiralfaser 
entsteht, die sich mit der Sonderung der Gewebe, in das sich entwickelnde 
Blatt fortsetzt. Andere Spiralen der folgenden, an dem Umkreise des Keim- 


(') Ich hoffe es wird überflüssig sein mich vor dem Vorwurfe zu bewahren, dafs 
ich hier an mathematische Formen denke. Der Organismus schafft nicht nach den Ge- 
setzen des Mechanikers! — 


die V. egelationsorgane der Palmen. 187 


linges entstandenen Blätter, bilden sich neben der ersten, mit dieser einen Cy- 
linder darstellend, der die Grenze von Mark und Rinde andeutet. — 

Bei den Monocotylen verharrten besonders zwei gegenüberlie- 
gende Punkte des Cambiums, in der Vermehrung desselben und in der 
Umwandlung, derdem Parenchyme angrenzenden Schichten in die Form dieses 
Letzteren. In dem einen dieser Enden setzte sich ununterbrochen gleichmä- 
fsig der begonnene Vorgang fort, während in dem anderen periodische Erhe- 
bungen des in der Vermehrung begriffenen Cambiums, über die Oberfläche des 
eylindrischen Zellenkörpers eintraten, die mit den, in der innern Cambium- 
schicht erscheinenden Spiralfasern in Wechselwirkung zu stehen schienen, 
indem mit der Absonderung jener Oberflächenausbreitung von dem Stamm- 
körper des Keimlinges auch die Spiralfasern den zur Spitze des Stammes ge- 
richteten Weg verliefsen, mit jener zum Blatte sich umformenden Ausbreitung 
seitlich fortwachsend und in ihr endend. Diesem ersten Blatte folgte das 
zweite und dritte und die übrigen in ähnlicher Weise an dem Umkreise jenes 
Zellenkegels. So wurde diesem blätterbildenden Ende des Stammes das Ver- 
mögen gegeben sich beständig zu verlängern, während dem entgegengesetzten 
Wurzelende eine kürzere Thätigkeit vorgeschrieben, und ihm bestimmt war 
bald anderen, ihm ähnlich gebildeten, das Geschäft des Sammelns der nah- 
rungsfähigen Stoffe aus der Umgebung, zu überlassen. — 

Hier bei den Farnen ist auch diese kurze Frist der Thätigkeit und des 
Wachsens dem zweiten Ende des dem Keimlinge zu vergleichenden Zellen- 
kegels nicht beschieden: nur die freie, obere Spitze desselben verlängert 
sich, Blätter bildend und die im Wasser gelösten Nahrungsstoffe durch Wur- 
zeln erhaltend die gleichzeitig mit jedem Blatte, scheinbar von derem Grunde 
ausgehend, über die Oberfläche des Stammkörpers sich verlängern. Es fehlt 
also in dieser Pflanzengruppe ganz die, als Verlängerung des oberirdischen 
Stammes erscheinende Pfahlwurzel. 

Die äufsere Form des erwachsenen Farnstammes ist sehr verschie- 
den und bedingt durch die Richtung seines Wachsthumes und die Länge der 
Abstände seiner Blätter, zum Theil auch durch die Häufigkeit seiner Ver- 
zweigung. 

Hinsichts der Richtung haben wir den wagerecht unterhalb der Erdo- 
berfläche oder auf derselben fortkriechenden von dem scheitelrecht aufstei- 
genden Stamme, zu unterscheiden. Bei dem ersteren finden wir am häufig- 


Aa? 


188 H.- Karsten: 


sten die gabelig verzweigten Formen mit langen Zwischenknoten, wie sie den 
Gattungen Pteris, Lithobrochia, Cheilanthes, Gleichenia ete. eigen ist, ver- 
bunden mit einem inneren Baue, dessen Einfachheit wohl nur übertroffen 
wird durch einige Stämme, der äufserlich ähnlich gestalteten doch senkrecht 
aufsteigenden, anderen Körpern anhaftenden, in der Atmosphäre lebenden 
Formen die uns die Gattungen Hymenophyllum, Trichomanes, Polybotrya, 
Campyloneurum vorführen. Am häufigsten ist die aufsteigende, auf der Ober- 
fläche des Bodens kriechende, durch die dicht gedrängtstehenden Blätter 
buschige Form, die Link die strauchartigen Stämme (caudices frutescentes) 
nennt, die die Farne der nördlichen Breiten meistens besitzen, während sie 
auch in den tropischen Gegenden durch die Häufigkeit der artenreichen Gat- 
tungen Asplenium, Lomaria, Aspidium, Adiantum, Polypodium, Acrosti- 
chum, Blechnum, Salpiglaena ete. am meisten gefunden wird, und nur sel- 
ten durch eine fleischige Verdiekung des Stammes und der unteren Theile 
der Blattstiele, wie besonders die Marattia ihn zeigt, eine knollenartige Form 
bekommt, die durch die gestreckten Stämme der Danaea zu den gewöhn- 
lichen, holzigen zurückkehrt, denen die Übergangsformen des länger fleischig 
bleibenden Diplazium celtidifolium sie verbindet. 

Einen gleichen Standort mit diesen saftreichen, knolligen Formen ha- 
ben die durch den palmenartigen, frei aufwärts strebenden Stamm einen voll- 
kommneren Bau verrathenden, baumartig gestalteten Formen, die, beschränkt 
auf die immerfeuchten, kühleren Berggipfel der tropischen Zone oder die 
warmen Küsten des diese begrenzenden, gemäfsigten Himmelsstriches, als ver- 
einzelte Nachkömmlinge eines üppigen Pflanzenwuchses vorkommen und 

"unserer Phantasie ein reizendes, anmuthiges Bild von dem Pflanzenleben aut 
der Oberfläche unseres Erdkörpers vorspiegeln, bevor er den Menschen zu 
tragen bestimmt war. 

Doch besser werden wir ihn verstehen und vielleicht einsehen lernen 
wefshalb er anderen, von seinem Baue verschiedenen Pflanzen in dem trockne- 
ren Lufikreise der jetzt die Oberfläche unseres Planeten umgiebt, weichen 
mufste, wenn wir uns der Mühe unterziehen, den inneren Bau der mannigfach 
abweichenden Bildungen des Farnstammes zu untersuchen. 

Wir haben schon gesehen, wie sich aus dem gleichförmig cambialen 
Gewebe des dem Keimlinge zu vergleichenden Körperchens das Rindengewebe 
hervorbildet. Diese Sonderung geht bei der Keimpflanze der verlangsamten 


die V egetationsorgane der Palmen. 189 


Entwickelung der Anlage neuer Blätter einige Zeit voraus; in der Gipfelknospe 
des älteren Stammes indessen, deren gedrängter stehenden Blätter in rascherer 
Folge sich entwickeln folgt die Sonderung des Rindengewebes, wie wir es auch 
bei den Monocotylen sahen, der Anlage des Blattes; jedoch der Sonderung 
der Gewebe dieses vorhergehend, in welche dasselbe ununterbrochen übergeht, 
wodurch es unmöglich wird, die Grenze von Blatt und Rinde anzugeben. 

Zugleich mit dem Erscheinen der kegelförmig sich erhebenden Blatt- 
anlage treten im Grunde desselben die ersten, punktirt-verdickten Zellen, die 
Anfänge der Spiralfasern auf, welche sich bei dem beschleunigten Wachsthume 
des Blattes in dasselbe als abrollbare Fasern hineinverlängern. Von dem- 
selben Ursprungspunkte des ersten Blattes erhebt sich gleichzeitig ein Zellen- 
kegel von dem Körper des Keimlinges in entgegengesetzter Richtung des 
Blattes sich verlängernd, es ist die erste Wurzel der jungen Pflanze, in die 
hinein, von demselben Punkte von dem die Spiralfaser des Blattes ausging, 
sich einige gleichgebaute Spiralen begeben. 

Auch der aus der Spore durch innere Zellenvermehrung entstandene 
blattartige, oft zweilappige Vorkeim besitzt Organe, die zur Ernährung sei- 
nes Gewebes, die nöthigen Stoffe aus der umgebenden Natur herzuführen. 
Es unterscheiden sich diese die Wurzelthätigkeit ausübenden Organe von den 
eigentlichen Wurzeln durch ihren Bau, jene sind gleich den Wurzelhaaren, 
einfache Verlängerungen der Öberhautzellen, sie vertreten die Stelle der Wur- 
zeln bei dem Vorkeime der Farne und bei den ausgewachsenen Pflanzen der 
Familie der Laub-und Leber-Moose und der noch einfacher gebauten Ge- 
wächse. Jene Wurzel dagegen, die mit dem Erscheinen des ersten Blattes 
auftritt ist ein aus verschiedenen Geweben ähnlich gebautes Organ wie wir 
es bei den Palmen kennen lernten. Es besteht dieselbe aus Faserbündeln, 
die die Anordnung zu einem Holzeylinder, wie ihn die Wurzel der Mono- 
cotylen besitzt, erkennen lassen. Diese Holzbündel nehmen ihren Anfang von 
dem Holzeylinder des Stammes, dessen äufserer Oberfläche sie anliegen. 
Bei denjenigen Arten, deren Holzeylinder von einem Bastgewebe umgeben 
ist, verlängert sich dies gleichfalls in die Wurzel den Holzeylinder derselben 
umkleidend, während das Markgewebe des Stammes sich nicht in die Wur- 
zel fortsetzt. Das Rindenparenchym ist häufig, besonders bei den oberirdi- 
schen Stämmen, auf eine Oberhautschicht beschränkt, deren Zellen häufig 
zu Haaren auswachsen. Die oft fleischigen Wurzeln vieler unterirdischen 


190 H. Karsten: 


Stämme besitzen indessen nicht selten ein vollständiges Rindengewebe, in dem 
bei den Marattien selbst Gummigefäfse vorkommen, denen gleich, die im 
Stamme vorhanden sind. Auch die Mütze, dies Erkennungszeichen der ei- 
gentlichen Wurzel, ist hier stets vorhanden. Kaulfufs bildete sie schon 1827 
„das Wesen der Farrenkräuter Fig. 44” ab. — 

In Rücksicht auf Zeit und Ort der Entstehung der Farnwurzel findet 
gleichfalls Ähnlichkeit mit derjenigen der Monocotylen, indessen doch keine 
vollkommene Gleichheit statt. Der monocotyle Stamm ist fähig bald nach 
der Bildung des Blattes, vielleicht mit dessen Entfaltung, an der äufseren Seite 
des Holzeylinders des dem Blatte nächst unteren Zwischenknotens eine Wur- 
zel hervorzubringen und in sehr vielen Fällen findet wirklich diese rasche 
Wurzelbildung statt. Bei den Farnen dagegen ist nicht nur dies möglich, son- 
dern es ist selbst Gesetz beidem Wachsthume des Stammes schon gleichzeitig 
mit der Anlage des Blattes, vor dessen Entfaltung, eine Anzahl von Wurzel- 
anlagen aus der Oberfläche des Cambium-Cylinders hervorzubilden, während 
der ihnen benachbarte Theil seiner Zellen sich in das parenchymatische Rin- 
dengewebe umformt. Es sind daher diese Wurzelanlagen in ihrem jüngsten 
Zustande einfache Cambium -Bündel die wagerecht oder hinabgewendet in 
dem eben abgesonderten Rindenparenchyme sich befinden, nur durch ihre Stel- 
lung und durch Vergleichung mit älteren, schon vollständig mit Geweben ver- 
sehenen Wurzeln als solche zu erkennen, und von Blattknospen zu unter- 
scheiden. Von der Art der Ernährung des Stammes und der durch diese 
bedingten Weise des Wachsthumes und der Gestaltung hängt es ab, ob das 
Cambium dieser Wurzelanlagen früher oder später wie die zunächst dann 
aus der cambialen Stammspitze sich hervorbildenden Blätter in Gewebe sich 
umformt. Bei dem baumartigen Stamme, wo eine grofse Anzahl dieser Wur- 
zelanlagen unter jedem Blatte sich befinden, wird ihr stärkeres Wachsthum 
verlangsamt und bis zu dem Eintritte äufserer günstiger Verhältnisse unter- 
drückt, daher auch die Gewebebildung in ihnen weniger rasch vor sich geht. 
Es ruhen dann diese Würzelchen in dem Rindengewebe, dessen Oberhaut 
sie erhoben oder durchbrochen haben, wodurch die Oberfläche des Stammes 
ein höckeriges, warziges Ansehen bekommt. Bei anderen Stämmen, besonders 
bei denen mit sehr verkürzten Zwischenknoten, dieLink zu den strauchartigen 
rechnet, (a.a.O.) erhält schon vor den Blättern die Wurzel Spiralen und 
Holzfasern aus dem cambialen Holzcylinder des Stammes. Unterhalb eines 


die V egetationsorgane der Palmen. 191 


jeden Blattes entstehen eine bestimmte Anzahl von Wurzeln, indem einzelne 
Theile des Cambium-Cylinders sich für die Bildung dieser nach Aussen wen- 
den, worauf zugleich eine Lücke in dem früher zusammenhängenden Cy- 
linder entsteht, in welcher Mark - und Rinden-Gewebe einander berühren. 
Nachdem später auch die in das Blatt verlaufenden Theile des cambialen Holz- 
eylinders von dem dieser Lücke zunächst angrenzenden Gewebe aus dem 
Zusammenhange mit dem Stamme getreten und sich nach Aussen in das Blatt 
gewendet, schliefst sich diese Lücke des Cylinders wieder. Später werden 
wir sehen, wie sich bei den unterirdisch-kriechenden Stämmen von Pteris, 
Lithobrochia, Cheilantes ete. für das Blatt ein zusammenhängender Abschnitt 
des Holzeylinders trennt. Im Allgemeinen findet hier derselbe Vorgang statt, 
nur dafs bei diesen aufsteigenden meist oberirdischen Stämmen, der sich vom 
Cambiumeylinder trennende Abschnitt nicht zusammenhängend verholzt, 
sondern in einzelne, durch Zellgewebe getrennte Bündel aufgelöst wird. Diese 
Wurzein des verkürzten Stammes erlangen nun sehr früh den ihnen als solche 
eigenthümlichen Bau, den Holzeylinder und die Wurzelmütze, worauf sie 
sich über die Oberfläche des Stammes hinaus verlängern. — 

Wie ich schon oben erwähnte ist an der jüngsten, in der cambialen 
Gipfelknospe sich als Cambiumbündel aussondernden Wurzelanlage nicht 
zu unterscheiden, welches ihre spätere Bestimmung sein wird, da die eigen- 
thümliche Umformung der Zellen an der Spitze in das Gewebe einer Wurzel- 
mütze noch nicht eingetreten ist. Bei dem Diplazium celtidifolium Kunze 
beobachtete ich nun auch wirklich, dafs die Cambiumbündel, die die Stelle 
der Wurzel einnehmen bei sehr vermehrtem Zuflufse von Nahrungssaft, nicht 
die eigenthümliche Wurzelmütze erhielten, sondern sich ohne diese über die 
Oberfläche des Stammes hinaus verlängert hatten, dafs sie mit den, den ober- 
irdischen Theilen der Pflanze eigenthümlichen Epidermialschuppen statt je- 
ner versehen, und ihr Gewebe mit Chlorophyll gefüllt war, ihre Blattknos- 
pennatur war besonders der Schuppen wegen nicht zu verkennen; auch besafsen 
andere, ältere, die an ähnlicher Stelle standen, schon Blattanlagen. — 

Aufser diesen bei den Farnen gesetzmäfsig mit der Blattanlage zugleich 
erscheinenden Wurzeln, findet sich auch noch eine ähnliche Wurzelbildung 
durch Zellenvermehrung des cambialen Gewebes aus dem schon völlig aus- 
gebildeten Holzeylinder wie sie bei den Monocotylen vorkommt. Das Er- 
scheinen dieser, scheint mehr eine Folge unregelmäfsiger Ernährung des 


192 H. Karsten: 


Stammes zu sein, doch sind die Bedingungen derselben noch genauer zu 
erforschen, ich kann für jetzt nur auf ihr Vorkommen aufmerksam machen, 
ohne jene angeben zu können. — (!) 

Kehren wir zur Betrachtung des Stammes der Farne zurück, so finden 
wir den einfachsten Bau desselben in den fadenförmigen, dünnen Stämmen 
des Hymenophyllum die aus cylinderischem Zellgewebe bestehen, dessen 
Häute verdickt und gelb gefärbt sind: in der Mitte dieser befindet sich ein 
Cylinder cambialen Gewebes in dem einzelne Spiral - und Treppen - Fasern 
zerstreut stehen die fast die Mittellinie des Stammes einnehmen, so dafs hier 
ein centrales Holzbündel vorhanden zu sein scheint, von dem sich einzelne 


(') Auch bei den Lycopodien, deren Wurzeln einen gleichen Bau besitzen, tritt 
diese Bildung unter günstigen Verhältnissen ein. Die Erscheinungen sind dann dieselben 
wie sie bei den Monocotylen ausführlich beschrieben wurden. Überdies verlängert sich 
auch bei passender Behandlung (vergl. Reinecke Gartenzeitung Aug. 1847.) ein Holz- 
bündel des durchschnittenen Stammes unmittelbar in eine Wurzel. Taf. IX. 14. habe ich 
einen solchen Fall von dem Zycopodium Springü Kl. et Karst. gezeichnet. Der Stamm 
dieser Pflanze wird von einem zusammenhängenden, marklosen Holzeylinder der die Mit- 
tellinie einnimmt und von einem in einzelne Bündel getrennten, diesen inneren umge- 
benden Cylinder durchzogen. Ähnlich wie uns die Farne es noch zeigen werden, verlau- 
fen die von dem mittleren Cylinder kommenden Bündel eine Strecke in dem äulseren nach 
Oben, und trennen sich dann erst von diesem in ein Blatt. Ein Abschnitt dieses äufse- 
ren Cylinders, der aus mehreren in verschiedene Blätter gehenden Fasern besteht, hat 
sich nun Fig. 14. in eine Wurzel verlängert. —In dem der Schnittfläche nahen Cambium 
des Holzbündels, beginnt in diesem Falle eine Zellenvermehrung, wodurch ein cambiales 
Gewebe, das die Schnittfläche der Fasern überdeckt, gebildet wird aus dem die Verlän- 
gerungen der verschiedenen Gewebe des Holzbündels des Stammes enstehen, die dann in 
die so gebildete Wurzel sich fortsetzen (F. 15), deren äufserste Zellenschicht den Bau und 
die Thätigkeit der Wurzelmütze angenommen hat (F. 16). — 

Kürzlich hat auch Naegeli (Zeitsch. f. w. Bot.) über den Bau der Lycopodien 
sich ausgesprochen, er ist meiner Ansicht über die Bedeutung des sogenannten centralen 
Holzbündels, nur in etwas weichen meine Beobachtungen von den dort witgetheilten ab. 
Pag. 133. sagt Naegeli: „‚Das unterste Ende des Gefälsbündels trifft auf die Biegungs- 
stelle eines anderen Gefälsbündels —— ——. Das nächste Gefälsbündel welches entste- 
hen wird, wird sich an dem innern oberen Winkel der Biegungsstelle des obersten Gefäls- 
bündels festsetzen” ete. — Ein solches ununterbrochenes, senkrechtes Aneinanderreihen 
habe ich nicht gefunden, vielmehr gesehen, dals in dem Cambiumeylinder des jüngsten 
Lycopodienstammes, ebenso wie in dem ähnlich gebauten Monocotylen- und Farn- Stamme 
mit sogenannten centralen Holzbündel, die unteren Enden der ersten Holzfasern der Blät- 
ter zwischen zwei älteren liegen, ebenso wie die Blätter des Lycopodienstammes meistens 
nur scheinbar senkrecht übereinander stehen — 


die V egetationsorgane der Palmen. 193 


Fasern für die Blätter trennen. Vergleicht man hiemit die Stämme der zu- 
nächst verwandten Gattung Trichomanes, so findet man schon einen deutlichen 
Übergang zu denjenigen mit wirklichem, Stärke enthaltendem Markgewebe an- 
derer Farne. Zwar ist noch hier dies eigentliche Markparenchym nicht vor- 
handen, es nimmt noch das Cambium von dem die Gefäfse umgeben sind die 
Stelle desselben ein, doch deutet schon die Sonderung der Gewebe auf eine 
Trennung von Rinde und Mark hin, es findet hier ein ähnliches Verhältnifs 
statt, wie bei den mit einem sogenannten centralen Gefäfsbündel versehenen 
Phanerogamen. Noch deutlicher tritt dies Verhältnifs hervor bei den Ösmunda- 
ceen und Schizaeaceen, wo die gröfseren Bündel von Holzfasern von einander 
abgesondert in dem Cambium zu einem Cylinder geordnet sind der ein, be- 
sonders bei den Arten der Osmunda, bedeutendes, grofszelliges, parenchyma- 
tisches Gewebe einschliefst. Dies dem Marke ähnliche Zellgewebe enthält 
jedoch nie Stärke, sondern ist immer mit den Stoffen gefüllt, die sich in 
dem, das Holz zunächst umgebenden, eylinderförmigen Cambium finden: es 
ist wie dies ein Zellgewebe, dafs in der Bildung neuer, endogener Zellen ge- 
hemmt wurde.— Die unterirdisch kriechenden Gleichenien von denen ich 
die Mertensia furcata Willd. untersuchte, bilden einen Übergang zuder andern 
Gruppe von Farnstämmen. Die einfachsten Formen finden sich bei den Gattun- 
gen Pteris, Lithobrochia, Cheilanthes, Hyypolepis und ähnlichen unter der Ober- 
fläche kriechenden Stämmen, die einen geschlossenen Holzcylinder besitzen, 
der das Gewebe des Stammes in Mark und Rinde trennt, und sich nur dort 
öffnet, wo Theile desselben in Zweige und Blätter abgegeben werden. In 


ie) 

der cambialen Spitze dieser Stämme treten gleichzeitig mit der Umformung 
der Cambium-Zellen in Mark und Rindengewebe Spiralfasern in dem Theile 
auf, der sich in die gleichzeitig erscheinende Blattanlage verlängert; neben 
diesen Spiralen bilden sich darauf die Zellen des das Mark umgebenden Cam- 
bium-Oylinders in Holzgewebe um. Auf diese Weise sind die Gewebe in 
den Stämmen jüngerer Pflanzen, oder in solchen die durch den Standort auf 
eine spärliche Nahrung beschränkt sind, vertheilt. In älteren und recht kräfti- 
gen Stämmen findet sich in dem, von diesem zuerst gebildeten Holzeylinder 
umgebenen Markgewebe ein zweiter Holzeylinder an, der entweder wie mir es 
bei der Dicksonia rubiginosa Kaulf. schien, aus einem kleineren Aste entsteht, 
der sich von dem Holzeylinder nach Innen abzweigt, oder der, wie es bei der 
Pteris Orizabae Mart. Lithobrochia gigantea Prsl. und einigen ähnlichen 


° 
Phys. Kl. 1847. Bb 


194 H. Karsten: 


der Fall ist unmittelbar im Marke als kleines Bündel auftritt, das sich wäh- 
rend seines Verlaufes im Stamme in einen Cylinder umformt. Ein gleiches i 
Verhältnifs findet sich auch in dem Baue des aufrechten Stammes der Dick- 
sonia Lindeni Hook. und den fleischigen Marattiaceen (Taf. IX.5.6. u. 10.) 
Diesem zweiten, inneren Cylinder folgt häufig noch ein dritter, der sich auf 
gleiche Weise in dem umfangreicher gewordenen Marke des zweiten bildet. 

Den unteren, frei im Markgewebe endenden Anfang dieser inneren Holz- 
cylinder fand ich aus verdickten Bastzellen bestehend, etwas höher hinauf 
treten in diesem einzelne Holzfasern, so wie Holz- und Cambium-Zellen auf; 
später findet sich in der Mitte des zu einem Cylinder geordneten Holzgewebes 
Stärke enthaltendes Parenchym an. 

Die erste Absonderung dieser mittleren, frei im Marke auftretenden 
Holzeylinder in der Gipfelknospe habe ich nicht beobachtet, es liegt jedoch 
nicht fern, aus dem was wir bisher über die Umformung des Cambiums in die 
Gewebe des Stammes gesehen, den Grund desselben zu erschliefsen. Alle diese 
Erscheinungen deuten nämlich darauf hin, dafs die Umänderung des Cambium- 
kegels der Gipfelknospe in stärkehaltiges Parenchym und in Holzzellen in 
bestimmtem Verhältnisse geschieht und abhängig ist von der Ernährung der 
Pflanze. Es scheint mit dem gröfseren Umfange eines Pflanzenkörpers seine 
Sonderung in mehrere Gewebe in nothwendigem Zusammenhange zu stehen, 
hat die Nahrungsflüssigkeit einer gewissen Menge eines Gewebes zur Assimi- 
lation gedient, so istsie zu seinem Wachsthume und zur Erzeugung des in ihm 
enthaltenen Absonderungsstoffes nicht mehr brauchbar, es wird eine andere Bil- 
dung auftreten. Von der Richtung des Nahrungszuflusses wird die Anordnung 
der Gewebe abhängen, daher wird auch die Kenntnifs des im Stamme der Farne 
und der Palmen obwaltenden Verhältnisses dieser Wege des Nahrungsstoffes es 
erklären, wefshalb bei letzteren die in dem Markgewebe abgesondert verlau- 
fenden Holzbündel anfangs mit dem Cambium - Oylinder zusammenhängen, 
während bei den Farnen meistens in der Mittellinie der cambialen Spitze des 
Stammes sich die ersten Anfänge, der durch das Markgewebe von dem Holz- 
eylinder getrennten Bündel zeigen. Später werden wir noch einige baumartige 
Farnstämme kennen lernen, bei denen ebenso wie bei den Palmen sich einzelne 
Bündel von der inneren Seite des Holzeylinders trennen, das Mark bis zur 
Mitte durchlaufen, und dann wieder nach dem Umfange des Stammes sich 
wenden, wo sie in ein Blatt sich verlängern. 


die V egetationsorgane der Palmen. 195 


Bei diesen unter der Erdoberfläche kriechenden Stämmen der Gattun- 
gen Pteris, Lithobrochia, Cheilanthes etc. so wie bei dem aufrechten Stamme 
der Dicksonia Lindeni, sondert sich von dem Holzeylinder des Stammes für 
das Blatt ein einziger, zusammenhängender Abschnitt, es findet an der Ab- 
gangsstelle der Wurzel keine Trennung desselben durch Parenchymbildung 
statt. Die Alsophila pruinata Kaulf., die ich in aufrechten Stämmen von drei 
Fufs Höhe fand, bildet auch in Rücksicht auf dies Verhalten des Holzeylin- 
ders (Taf.IX.1.-4.) zu dieser Gruppe einen Übergang von den baumartigen 
Formen, wo es Regel ist, dafs die für die Blätter bestimmten Holztheile i in 
mehreren Bündeln sich von dem Stamme trennen; indessen ist dies auch nicht 
ohne Ausnahmen, ja es kommt bei Stämmen derselben Art vor (ich fand es 
so bei der Cyathea aurea Kl. und Alsophila microphylla Kl.), dafs an dem 
einen ein zusammenhängender Abschnitt des Holzeylinders in das Blatt ein- 
tritt, an dem anderen einzelne Holzbündel, ähnlich geordnet wie jener Ab- 
schnitt, die Stelle desselben einnehmen; es scheint gänzlich von der Ernährung 
der Pflanze abhängig, wie viel des cambialen Gewebes das in der Knospe 
von dem Cylinder des Stammes sich trennt in Holzzellen, wieviel in Paren- 
chymzellen umgebildet wird. So fand ich in eben diesen Stämmen der Cya- 
thea und Alsophila, entsprechend der Menge des Holzgewebes in den Blatt- 
stielen, eine gröfsere oder geringere Anzahl von Bast-und Holz-Bündeln in 
dem Markgewebe. Diese Holzbündel des Markes verhalten sich hinsichts 
des Ortes ihrer Entstehung oder ihres ersten Erscheinens verschieden; einige 
entstehen in der Mitte des Markgewebes ähnlich dem oben beschriebenen zwei- 
ten oder dritten, inneren Holzeylinder, andere sondern sich dort, wo sich 
die Gewebe des Blattes vom Stamme trennen, von dem Holzeylinder, ver- 
laufen nach Oben und durch die Mittellinie des Markparenchymes, worauf sie 
sich wieder nach dem Umfange des Stammes wenden und senkrecht über 
ihrer Ursprungsstelle in ein Blatt eintreten, in dessem Stiele sie die Mitte ein- 
nehmen und ihn der ganzen Länge nach durchziehen, während die seitwärts 
befindlichen in die Blattfiedern gehen. 

Am wenigsten zu einem zusammenhängenden Cylinder vereinigt ist 
das Holz-Gewebe des aufrecht kletternden Stammes z.B. bei Polybotrya, 
Campyloneurum, Pleopeltis ete., hier schliefst sich der Holzeylinder erst sehr 
spät nach der Trennung der, für die, durch lange Stengelglieder von einan- 
der entfernten, Blätter bestimmten Theile, so dafs man leicht verführt wird 


Bb2 


196 H. Karsten: 


zu glauben, es seien einzeln stehende Holzbündel in dem Stamme, zu einem Cy- 
linder geordnet, vertheilt. Doch auch hier z. B. bei der Polybotrya serra- 
tifolia Kl. fand ich zuweilen bei den jungen Asten recht kräftig gewachsener 
Pflanzen einen vollständigen, zusammenhängenden Holzeylinder. 

Übersehen wir nun noch einmal die angegebenen Verhältnisse der An- 
ordnung des Holzgewebes in den verschieden gestalteten Stämmen, so können 
wir nach dem Mangel oder dem Vorhandensein von wirklichem, Stärke ent- 
haltendem, Markparenchyme zwei Gruppen unterscheiden, die eine durch die 
marklosen Stämme der Hymenophylleen, Gleicheniaceen, Schizaeaceen und 
Osmundaceen gebildet, die zweite aus den Ophioglosseen, Polypodiaceen 
und Marattiaceen bestehend, deren mehr oder minder geschlossener Holz- 
eylinder ein Markgewebe einschliefst. Wir finden innerhalb dieser Gruppen 
eine Reihe von Formen nebeneinander die uns die Entwickelungsgeschichte 
wiederholen, die eine der vollkommener gebauten Arten während ihrer ju- 
gendlichen Zustände zu durchlaufen hat. In dem jüngsten Pflänzchen ist nur 
eine Spiralfaser die des ersten Blattes, in dem noch cambialen Gewebe vor- 
handen, bald entsteht das zweite Blatt und mit ihm gleichzeitig in dem Cam- 
bium eine andere Spiralfaser, die Grundlage des Holzbündels dieses Blattes. 
An anderen Stellen des Umkreises treten die folgenden Blattanlagen auf, denen 
wiederum Spiralfasern im Gewebe jenes Zellenkegels entsprechen, die mit den 
früher entstandenen in den Umkreis eines Cambium - Cylinders gestellt sind, 
der die Mitte des Stammes einnimmt; noch besitzt das Pflänzchen kein Mark, 
es sind die Zellen des Cambiums, welche sich später zu Bast-und Holz-Zellen 
umformen, die die Stelle desselben einnehmen. Tritt dies auf, so haben wir 
den zusammenhängenden Cylindermantel als das die Rinde von dem Marke 
trennende Holzgewebe, den der unterirdisch kriechende Stamm uns so deut- 
lich zeigte, und erst während der späteren Entwickelung folgen die Blätter 
rascher auf einander, so dafs auf einem Querschnitte des Stammes viele ver- 
einzelte Bündel von Holzgewebe in dem Parenchyme ringförmig vertheilt er- 
scheinen, so wie es bei den aufrechten Stämmen der Fall ist. 

Zu einem ähnlichen Ergebnifse gelangen wir, wenn wir die Entwicke- 
lung der Knospe mit den Entwickelungsstufen des Stammes, die wir in der 
Familie der Farne kennen lernten vergleichen. Blattknospen, Äste, bilden 
sich bei den Farnen an sehr verschiedenen Stellen seiner Organe, entweder 
gleichzeitig mit den Wurzeln und Blättern aus dem Cambium der Stamm- 


die Vegetalionsorgane der Palmen. 197 


knospe oder nach der Entfaltung jener Organe aus dem sich vermehrenden 
Cambium, das das Holzgewebe des Stammes oder der Blätter umgiebt. Die 
am häufigsten vorkommenden und bei Individuen derselben Art am regel- 
mälsigsten erscheinenden sind diejenigen Äste, die bei den unterirdisch krie- 
chenden Stämmen mit mehreren concentrischen Holzeylindern, an die sich 
noch die aufsteigenden Stämme der Dicksonia Lindeni und Alsophila pruinata 
anreihen, mit der Anlage des Blattes zugleich an der äufseren Seite seines 
Grundes durch eine kegelförmige oder cylinderische Ausbiegung des Holz- 
cylinders entstehen: hinsichts des Verhältnisses ihres Gewebes zum Stamme, 
den Knospen der Monocotylen-Rhizome zu vergleichen. In der jüngsten 
Blattanlage hat es zuweilen das Aussehen als besäfse die rinnige Blattstielbasis 
nach Aufsen einen sackartigen Anhang z.B. bei der Alsophila pruinata: (ähn- 
lich dem Sporne des Blumenblattes) in anderen Fällen, wo das Knospenwachs- 
thum vorherrscht, verlängert sich der zusammenhängende Holzceylinder der 
Knospe mit der an seiner Spitze befindlichen Anlage des zum Stamme ge- 
hörenden Blattes so, dafs später das Blatt aus dem Zweige erst zu entstehen 
scheint; so fand ich es besonders bei den Arten der Gattung Cheilanthes und 
der Dicksonia rubiginosa, während an einem aufrecht wachsenden, 3 Fufs ho- 
hen Stamme der Alsophila pruinata, die auf dieselbe Weise mit dem Blatte 
zugleich an seinem Grunde entstehenden Knospen, dieser Art ganz eigenthüm- 
lich, ohne Blätter abzugeben abwärts wuchsen, bis sie die Erdoberfläche er- 
reichten, wo dann die Blätter erschienen. (Taf.IX.2.3.4.) Bei den aufrecht 
klimmenden Stämmen des Campyloneurum, Pleopeltis, Polybotrya etc. bei 
denen sowohl im Stamme wie in den Blättern der Holzeylinder nicht geschlos- 
sen ist, besitzen dennoch die in der Nähe der Blätter mit diesem zugleich an- 
gelegten Knospen anfangs einen geschlossenen Holzeylinder, besonders wenn 
die Pflanzen im kräftigen Wachsthume begriffen sind, wie es bei denen, deren 
Knospen zur Entwickelung kommen, immer der Fall zu sein pflegt. Es bilden 
diese Knospen eine Übergangsform zu den oben beschriebenen des Dipla- 
zium celtidifolium die in der unteren Blattstielbasis, an der äufseren Oberfläche 
derselben, an der Stelle der Wurzeln sich fanden. 

Die zweite Art der Knospenbildung, aus dem das Holzgewebe umge- 
benden Cambium der schon entwickelten Organe, ist am leichtesten an den 
Blattstielen und Blattflächen zu beobachten. Wiebei den vollkommneren Pflan- 
zen an den unteren Theilen des Stammes Knospen erscheinen, wenn der Saft- 


198 H. Karsten: 


flufs nach derSpitze desselben unterbrochen wird: so bildet sich regelmäfsigan 
jeder Seite des Blattstieles aus dem verdickten, fleischigen Grunde desselben 
bei den Marattien eine Knospe, wenn man die Endknospe des Stammes zer- 
stört. Bei der Danaca Augusti Karst. wie bei dem Eupodium Kaulfussü 
Prsl. trennt sich von dem äufsersten cambialen Holzeylinder des Stammes ein 
Abschnitt der als Cylinder in den Blattstiel eintritt, wo sich mehrere Holz- 
bündel aus ihm hervorbilden, die sich gabelartig spalten, einen, oder mehrere 
in einander befindliche, Cylinder darstellend. (Taf. IX.11.12.13.) An dieser 
Spaltungsstelle der Holzbündel beginnt nun in dem knollig verdickten, flei- 
schigen Blattstielgrunde eine Zellenvermehrung des Cambiums aus der die 
Knospenanlage hervorgeht. Martius giebt (plantae eryptogamicae brasi- 
lienses T.69) eine sehr gelungene Abbildung einer solchen Knospenentwicke- 
lung aus dem Blattstielgrunde der Marattia cicutaefolia. — (') 

Sehr häufig entstehen Knospen aus den verschiedensten Theilen der zu 
den Blattflächen gehörenden Rippen, Nerven und Adern, sie erscheinen, im 
Gegensatz der auf der unteren Blattfläche gleichfalls in der Nähe der Nerven 
gebildeten Sporenbehälter, auf der oberen Blattfläche. Bei dem Diplazium 
plantagineum Sw. entsteht eine Knospe an der Grenze der Blattfläche und 
des Blattstieles, bei dem Diplazium celtidifolium Kunze. an der Trennungs- 
stelle der oberen Blattfiederstiele von dem Hauptblattstiele. Aus der Spitze 
des Blatistieles bei dem Asplenium Karstenianum Kl., Adiantum rhizophytum 
Schrad., Adiantum rhizophorum Sw. Aus den Nerven der Blattfläche bei 
der Caenopteris viviyara, Woodwardia radicans und vielen anderen. Eine 


(‘) Auch von den baumartigen Stämmen der Polypodiaceen und Cyatheaceen, ist es 
lange bekannt, das sie zuweilen ästig werden, ich selbst habe öfter Stämme der Also- 
phila senilis mit 2 oder 3 aus einem Punkte entspringenden Asten gefunden; bei den Stäm- 
men der Alsophila aculeata Kl. beohachtete ich, dals sehr kräftige, stark treibende, voll- 
saftige Exemplare, deren schon entfaltete und auch die schon ziemlich weit angelegten 
Blätter abgeschnitten waren, aus den Schnittflächen der letzteren an der Stelle der Holz- 
bündel mehrere Blättchen hervortrieben, wodurch die Bildung eines Astes eingeleitet war. 
Das was hier zum Theil durch künstliche Behandlung herbeigeführt wurde; kann im 
Walde durch das Zusammentreffen natürlicher Vorgänge veranlalst werden, wenn beim 
Beginn der Regenzeit, als der Zeit des üppigsten Wachsthumes, durch die Äste und 
Zweige umstürzender Bäume alle Blätter eines Farnstammes abgebrochen werden, ohne 
den Stamm und dessen Gipfelknospe zu verletzen; es würden dadurch die Bedingungen 
gegeben sein, mehrere Äste hervorzurufen, die der Versuch uns als nothwendig kennen 
lehrte. 


die V egetationsorgane der Palmen. 199 


geeignete Behandlung, eine feuchte Atmosphäre, so wie überhaupt ein Zu- 
sammentreffen günstiger Wachsthumsbedingungen machen fast an jedem Farn- 
blatte die Entstehung von Knospen möglich, selbst nach der Trennung von 
der Mutterpflanze. In allen diesen Fällen bildet sich dann aus dem die Holz- 
bündel begleitenden Cambium, durch Vermehrung seiner Zellen, ein kleiner 
kegelförmiger Körper, an dessen Oberfläche Blattanlagen erscheinen, mit 
denen gleichzeitig im Innern des Gewebes Spiralfasern auftreten, die, bei ver- 
mehrter Blattbildung an allen Seiten der Knospe, einen Cylinder bilden, in 
dessen Mitte sich Cambium befindet, das an einer etwas höheren Stelle des 
jungen Stammes in Mark umgeändert wird. 

So treffen wir hier in der Entwickelung der Pflanze aus der Knospe, 
dieselben Vorgänge wie die bei der Entwickelung aus dem Vorkeime beobach- 
teten, eine Aufeinanderfolge ähnlicher Zustände, wie sie uns die Entwicke- 
lungsstufen des Farnstammes gleichfalls nebeneinander darlegen. — 

Wenden wir uns nun noch zu dem Blatte der Farne, um es in seiner 
Entwickelung mit dem Blatte der Monocotylen vergleichend, zu betrachten. 
Gleichmäfsig mit der Hervorbildung der Blattanlage an der Oberfläche der 
Stammspitze, verlängert sich bei fortdauernder Sonderung des Markgewebes 
an der innern Seite des Cambiums, der dem Blattgrunde gegenüberstehende 
Theil desselben, als eine Ausbiegung des cambialen Holzeylinders in jene 
Blattanlage hinein. Da auch in dieser schlauchartigen Ausbiegung, der Grund- 
lage des Holzgewebes des Blattes, die Bildung von Markparenchym an der 
innern Seite fortdauert, so steht hier das des Stammes mit dem in der Mitte 
des Blattstieles befindlichen, im unmittelbaren Zusammenhange. Als erste 
Andeutung eines künftig erscheinenden Holzgewebes, tritt in der Cambium - 
Schicht des Blattes eine Spiralfaser auf, der bei stärkeren Blattstielen bald 
mehrere an jeder Seite der zuerst entstandenen, in kleinen Abständen fol- 
gen. Der von dem Cambium-Cylinder des Farnstammes sich trennende Ab- 
schnitt verlängert sich als eine oben offene Rinne in den Blattstiel hinein, ent- 
weder ganz zu Holzgewebe sich umbildend, oder nur in der Umgebung der 
Spiralfasern sich in solches verändernd. Mag nun der erste Fall (bei Pteris, 
Lithobrochia, Cheilanthes, Dicksonia rubiginosa und Zindeni u.a.m.) oder der 
zweite häufigere eintreten, fast immer besitzt die Cambium-Schicht des Blatt- 
stieles an jeder Seite eine nach innen gebogene Falte, wodurch es kommt, dafs 
zwei Rinnen übereinander zu liegen scheinen. Die der Mitte desBlattstieles zu- 


200 H. Karsten: 


nächst befindlichen Theile dieser Falten durchziehen die gröfste Länge dessel- 
ben, während die seiner Oberfläche näheren in die Blattfiedern sich verzweigen. 
So wie bei den Palmen das zuerst gebildete, stärkste, der Mittellinie des Stam- 
mes am meisten sich nähernde Holzbündel die ganze Länge des Blattstieles 
durchzieht, indem es früher Spiralen und Holzgewebe erhält wie die übrigen 
später erscheinenden, in die Blattfiedern sich wendenden Bündel, so verlau- 
fen auch bei einigen Baumfarnen einzelne Bündel, die sich von der inneren 
Seite des Cambium-Cylinders dort trennen, wo derselbe nach Aufsen in ein 
Blatt sich wendet, durch das Mark des Stammes, erst nachdem sie die Mitte 
desselben erreicht sich wieder nach der Oberfläche wendend, in einer senk- 
recht über dem ersten stehenden Blattanlage eintretend, und hier die ganze 
Länge des Blattstieles in dessen Mitte sie stehen durchziehend, während die- 
jenigen, die unmittelbar aus dem Cambium-Cylinder abgingen, ohne das 
Mark zu durchkreuzen für die Blattfiedern bestimmt sind. Ich beobachtete 
dies bei den Stämmen der Cyathea aurea Kl. der Alsophila mierophylla Kl., 
und Alsophila aculeata Kl., schon Mohl erwähnt dieser aus dem Mark stam- 
menden Holzbündel des Farnblattes, deren unteres Ende er in den trockenen 
Stämmen nicht verfolgen konnte. — 

Gleichmäfsig mit dem Wachsthume des Blattes bilden sich Spiralfa- 
sern und das Holzgewebe von Unten nach Oben aus. Bei einigen Farnen er- 
reicht das lange ununterbrochen an der Spitze weiterwachsende Blatt eine 
bedeutende Länge; bei der Salpiglaena volubilis J. Smith fand ich Blätter 
von zwanzig Fufs Länge, und ich glaube nicht die längsten gemessen zu haben; 
das Lygodium polymorphum Kth. verhält sich ähnlich (!) und die gabelästigen 
Blätter der Gleichenien deuten durch die Knospe an der Spitze des Blattstieles 
auf eine Entwickelungsfähigkeit, die häufig unterdrückt zu bleiben scheint. 
Die Blätter der jüngeren Pflanzen sind bei diesen Farnen einfacher, und hören 
früher auf an der Spitze weiter zu wachsen; die Salpiglaena und das Lygo- 
dium besitzen dann unpaarig-fiedertheilige Blätter. Erst bei älteren, recht 
kräftigen Pflanzen wird die Bildung dieser endständigen Blattfieder verzögert, 
während die gepaartstehenden in immer gröfserer Anzahl sich entwickeln. 


(') Mohl zählt diese Pflanzen zu den Rankengewächsen und widerlegt Palm, der 
sie zu den Schlingpflanzen rechnete, (Über den Bau der Ranken und Schlingpflanzen 
p- 152) durch Unbeständigkeit der Wachsthumsrichtung, obgleich die Art der Entfaltung 
des Blattes nicht mit dem von ihm p. 4 gegebenen Wesen der Ranke übereinstimmt. — 


die Vegetationsorgane der Palmen. 201 


Noch einer Eigenthümlichkeit des Farnblattes ist hier zu erwähnen, die 
sich in dem Baue desselben findet und gewifs auf die Ernährungsweise der 
Pflanzen den gröfsten Einflufs ausübt. An den Blattstielen macht sich näm- 
lich jederseits ein heller Streifen bemerkbar, der entweder ununterbrochen 
der Länge nach verläuft, oder durch einzelne, dunkele, dem übrigen Ober- 
hautgewebe ähnliche Stellen unterbrochen ist. Zuweilen ist die Oberhaut 
bei alten Blattstielen über jenem helleren Gewebe durch kleine, lenticellenähn- 
liche Öffnungen unterbrochen, die durch Zerreifsung derselben entstanden 
sind. Untersucht man das daselbst befindliche Gewebe genauer, so findet 
man an den hellen Stellen ein rundliches Parenchym, während das benach- 
barte langgestreckte Prosenchymzellen sind, die später verdiekte Wandungen 
erhalten. Diese Parenchymzellen enthalten eine gelblich gefärbte, gummi- 
artige Flüssigkeit und meistens sehr grofse Tochterzellen; es steht dies Gewebe 
in Verbindung mit derjenigen Parenchymschicht, die zunächst das Holzgewebe 
umgiebt, und die sich meistens durch die Beschaffenheit des Inhaltes und 
der Häute seiner Zellen, wie durch die in den Zwischenzellgängen enthaltene 
Luft, von dem übrigen Gewebe unterscheidet, das gleichfalls unter sich in en- 
gerer Beziehung zu stehen scheint. Bei den Arten der Gattung Diplazium 
bei der ZLotzea, bei Polystichum caudatum K]., Aspidium macrophyllum S w. 
Dicksonia Lindeni und vielen anderen färbt sich das Markparenchym ebenso 
wie die mit demselben in Verbindung stehende verholzte Prosenchymschicht, 
die unter der Oberhaut sich befindet später braun, während jene das Holz um- 
gebende Schicht, die sich durch das braungefärbte Gewebe an die hellen Strei- 
fen des Blattstieles verfolgen läfst, ungefärbt bleibt. Die Zellen dieser letzteren 
sind immer etwas kleiner, liegen locker nebeneinander wie ein lungenförmiges 
Parenchym und sind bald von Absonderungsstoffen entleert, gleichsam ab- 
gestorben; sie enthalten dann Kohlensäure in den Zellenhöhlen, die bei dem 
lungenförmigen Gewebe mit einander in Verbindung stehen. — (!) 

Bei den Cyatheaceen erstreckt sich diese eigenthümliche Umbildung 
bis auf die untersten Theile des Blattstieles. Sie findet sich hier an der äu- 
fseren Oberfläche des bei der Cyathea abfallenden bei der Alsophila stehen- 


(') Die Betrachtung dieses lungenförmigen Gewebes, dessen Zellenhöhlen später mit 
einander in Verbindung stehen, ist denjenigen zu empfehlen, die die sogenannten veräs- 
telten Milchsaftgefäfse, wegen deren unregelmälsige Form, für Zwischenzellgänge halten, — 


Phys. Kl. 1847. Ce 


2093 H. Karsten: 


bleibenden Blattstielgrundes, schon an jungen Blättern als 1, 3, 5 oder mehrere 
helle Flecke bemerkbar; später nach dem Zerreifsen der Oberhaut haben sie 
Ähnlichkeit mit Lenticellen. Die Entwickelung und Thätigkeit der einzelnen 
Zellen dieses Gewebes scheint sehr grofse Ähnlichkeit mit denen der Wur- 
zelmütze zu haben. Nach allen mir bekannt gewordenen Erscheinungen halte 
ich sie für die Sammler der unorganischen Nahrungsstoffe aus der Atmosphäre 
und für die Überträger derselben an das innere Gewebe, nachdem sie mit den 
in der Zellhöhle enthaltenen Absonderungsstoffen zu organischen Verbin- 
dungen sich vereiniget hatten. 

Auch die haar- uud schuppen-förmigen Anhänge der Oberhaut, ste- 
hen höchst wahrscheinlich in einer ähnlichen Beziehung zu der Ernährung 
des Pflanzengewebes, wie ich dies schon bei dem Palmenblatte erwähnte. 

Betrachten wir noch endlich die verschiedenen Gewebe des Farnstam- 
mes, so finden wir alle diejenigen wieder, die wir schon bei den Monocoty- 
len kennen lernten. Nach der Sonderung des Markparenchymes aus dem 
Cambium des Gipfeltriebes, entstehen zuerst aus dem cambialen Holzeylin- 
der Spiralfasern in bestimmten Abständen seines Umkreises, entsprechend 
einer Blattanlage an der Oberfläche, in die sich dieselben hineinverlängern 
(Taf. VIII. 1.b.). Diesen Spiralfasern zunächst ändert sich das Cambium in 
langgestreckte Zellen, die sich dann in senkrechte Reihen ordnen, wie es bei 
den Monoecotylen gleichfalls stattfindet, es bilden sich bei den Farnen auf 
gleiche Weise aus ihnen die punktirten oder gestreiften Holzfasern, die den 
gröfsten Theil des fertigen Holzeylinders ausmachen; weiter von den Spiral- 
fasern entfernt, befinden sich dann die in ihrer Thätigkeit unterdrückten 
Cambium-Zellen: bei dem geschlossenen Holzeylindermantel die innere und 
äussere Oberfläche desselben bedeckend (Taf. VII. 2. d.), bei dem in ein- 
zelne Holzbündel aufgelösten meistens das Holzgewebe umgebend und gegen 
das Markparenchym abgrenzend. Bei denjenigen Stämmen in deren Mitte 
kein Mark vorkommt nimmt es die Stelle dieses ein, meistens in der Form 
längerer Cylinder-Zellen, selten in der eines eckigen Parenchymes von dem 
es sich dann nur durch den Inhalt unterscheidet. Die Gummi-oder Saft- 
Behälter die in dem Holzbündel der Palmen und der meisten Monocotylen 
fast regelmäfsig vorkommen, finden sich hier bei den Farnen selten. In den 
Geweben des Holzeylinders des Stammes beobachtete ich sie nur bei der Dick- 
sonia rubiginosa, dagegen waren diese zum Holzgewebe gehörenden Abson- 


die V egetationsorgane der Palmen. 203 


derungsorgane in den Holzbündeln der Blattstiele aller Cyatheaceen vorhan- 
den die ich untersuchte; sie stehen hier von der Spiralfasern an der Markseite 
der Holzschicht von Cambium-und Holz-Zellen umgeben, sie entstehen aus 
senkrechten Zellenreihen des Cambiums und verlängern sich auch in solche 
in den höheren Theilen der dünner werdenden Blattstiele, in deren geringem 
Zellgewebe die Umbildung in eigentliche Gefäfse nicht mehr stattfand. Häu- 
fig finden sich in demselben grofse Zellen, die deren ganze Höhlung ausfüllen, 
was auch bei den übrigen Gefäfspflanzen seit Malpighi beobachtet ist; nicht 
selten enthalten diese in den Gefälsen vorkommenden Zellen Stärke, ja ei- 
nigemal fand ich auch Chlorophyll in diesen rings von Holzgewebe umgebenen 
Zellenvegetationen (bei der Cyathea aurea Kl., Alsophila microphylla Kl.). 

Wie bei der Bildung der Holzbündel der Monocotylen die äufsere 
Cambiumschicht nicht vollständig in Parenchym umgeändert wird, sondern 
als ein von dem Cambium verschiedenes Gewebe, (die Mutterzellen des Par- 
enchymes, das in der Entwickelung unterdrückt wurde) das Holzbündel 
umgiebt und nur an der Grenze des Parenchymes die unausgebildeten, endo- 
genen Zellen erkennen läfst: so findet sich auch bei den Stämmen der Farne 
eine das Holz umgebende Gewebeschicht, deren Zellen schon in der cambialen 
Anlage des Holzeylinders sich durch die langgestreckte Form auszeichnen, 
die man erkennt, sobald keine Neubildnng von Parenchymzellen in ihm mehr 
stattfindet; (Taf. VIIL.1.c.) auch hier bildet sich dann regelmäfsig an der 
Grenze des eigentlichen Parenchymes in den Zellen dieses Gewebes, das ich 
mit dem Bast der höheren Pflanzen für gleichbedeutend halte, eine jüngere 
Generation von Zellen die, von der Weite der Prosenchymzellen, in diesen 
senkrecht übereinanderstehen: es ist eine vollständige Schicht von unausgebil- 
deten Parenchymzellen, die wohl nur auf Veranlassung einer veränderten Be- 
schaffenheit des Nahrungssaftes in dem Wachsthume gehemmt wurden, und 
darin unter günstigen Verhältnissen fortzufahren bestimmt sind. Bei den in 
einzelne Bündel aufgelösten Holzeylindern der dünnen Stämme, so wie in den 
Blattstielen, ist diese Bastschicht meistens sehr unbedeutend, nur durch jene 
einfache die cambialen Parenchymzellen enthaltende Schicht angedeutet; bei 
den baumförmigen Stämmen der Farne dagegen, findet sich auch in den aus- 
gewachsenen Theilen dieser Bast, in einer bedeutenden Schicht prosenchyma- 
tischer, verdickter und braungefärbter Zellen bestehend, die an den dunkel 
gefärbten Bast der Palmen erinnern. (Fig.2.c.) Von diesem letzteren unter- 


Cc2 


204 H. Karsten: 


scheidet sich der Bast des Farnstammes dadurch, dafs noch in den verholzten 
und darauf dunkelgefärbten Zellen desselben Stärke gebildet wird, die ich 
nie mit Bestimmtheit in dem Baste der Monocotylen erkennen konnte, wohl 
aber in dem der Dicotylen zuweilen vorfand. Ein anderes Verhältnifs das 
mir bei Monocotylen bisher nicht bekannt geworden ist, das an die in der 
Rinde und zuweilen im Marke der Dicotylen befindlichen Bastbündel erinnert, 
findet sich in dem Farnstamme: nämlich eine Bildung von parenchymatischem 
Gewebe sowohl auf der nach der Oberfläche des Stammes wie auf der nach 
dem Holzgewebe gewendeten Seite der Bastschicht, wodurch der Holzeylinder 
der Baumfarne von dem ihn umgebenden Baste durch eine Schicht von Stärke 
enthaltendem Parenchyme getrennt wird, in welchem, in den Stämmen, deren 
übriges Parenchym von Gummigefäfsen durchzogen wird, gleichfalls solche 
Gefälse vorkommen. — 

Da bei vielen Arten der Gattungen Diplazium, Dicksonia, Cheilan- 
ihes, Didymochlaena und sehr vielen anderen auch die Zellen des Markgewebes 
die braune Farbe annehmen, die die Bastzellen im späteren Zustande besitzen, 
ihm überdies oft in der langgestreckten, prosenchymatischen Form ähnlich 
sind, so rechnete Mohl diesen Bast zum Parenchym, er glaubte hiezu um 
so mehr berechtigt zu sein, als auch in dem später weifsbleibenden Markge- 
webe der Baumfarne oft einzelne Bündel solcher verdickten Bastzellen vor- 
kommen, die dann durch Umbildung der Markzellen entstanden zu sein 
scheinen. 

Bei denjenigen Arten, die sowohl das braungefärbte Markgewebe be- 
sitzen wie den Bast, färbt dieser sich früher braun wie jenes, seine Zellen 
besitzen auch meistens eine andere Form, indem sie eylindrisch, die des Mar- 
kes prosenchymatisch gestaltet sind. Oft beginnt die braune Färbung des 
Markes an der Grenze des Holzgewebes und zwar bei jeder einzelnen Zelle, 
an der Seite der Zellwand die dem Holze zugewendet ist. Dieser Farbenän- 
derung geht immer die Verdiekung der Haut voran. In einigen Gattungen 
kommen gar keine braungefärbten Gewebe vor z.B. bei der Marattia, hier 
fand ich auch in dem Safte der Pflanze, der sonst durch Eisensalze dunkel- 
grün gefärbt wird, nicht diese Andeutung von Gerbsäure; es scheint daher 
dieselbe nicht in dem Bastgewebe erst gebildet zu werden, (etwa durch Ver- 
wesung des absterbenden Gewebes, in dem noch lebenden Körper!) sondern 
nur besonders geeignet zu sein sich mit dem Gewebe desselben zu verbin- 


die Vegetationsorgane der Palmen. 205 


den. Der eigentliche Bildungsort dieser Säure, sind die kleinen Bläschen 
oder Zellen, die in dem gummiartigen Safte der Prosenchymzellen vorkom- 
men. In vielen Arten kommen besondere Zellen in dem Parenchyme vor, 
die schon durch ihre Form sich von den übrigen unterscheiden lassen, sie 
sind meistens grölser und stehen oft in senkrechten Reihen übereinander; 
ihre Höhlungen sind zuweilen durch Verflüssigung der sich berührenden, wa- 
gerechten Scheidewände mit einander verschmolzen, so dafs die Form der 
Milchsaftfasern dadurch hervorgebracht wird, oder die der Gummigefäfse, 
wenn die Parenchymzellen, die diese Faser zunächst umgeben, zugleich an 
der Absonderung des Gummi Theil nehmen. In dieser gummiartigen Flüs- 
sigkeit finden sich kleine Zellen, deren trüber Inhalt durch Eisensalze 
schwarz gefärbt wird, diese Zellen halte ich daher für den Erzeugungsort 
der Gerbsäure. 

Einzelne grofse gummihaltige Zellen fand ich in dem Parenchyme der 
Stämme der C'yathea aurea, (Taf. VII Fig. 1.a.) Alsophila senilis, micro- 
phyllau.a., zu Fasern vereinigt waren diese Zellen in dem Stamme der Alsophila 
pruinata, in deren Blattstiel die Höhlung derselben nicht weiter war wie die 
der übrigen Parenchymzellen, nur durch ihren Inhalt von diesen zu unter- 
scheiden, so dafs sie den eigentlichen Milchsaft führenden Fasern ähnlich 
waren. Eigentliche Gummigefäfse fand ich in dem Gewebe des Stammes, 
der Blätter und der Wurzeln der Marattiaceen, hier nehmen auch die, die 
einfachen Fasern umgebenden Zellen an der Absonderung des Gummi Theil. 
Das Vorkommen der Gummi-Gefäfse und-Fasern ist also nicht an die Form 
des Stammes gebunden, erstere kommen in den verkürzten Stämmen der Ma- 
rattien vor, und sie wie auch die einfachen Fasern fehlen in vielen baumartigen 
z.B. in dem Polypodium subincisum Willd. und Karstenianum Kl., der Didy- 
mochlaena sinuosaDesv., Polybotrya serratifolia Kl. und canaliculata Kl., der 
Hemitelia oblusa Kl. und Balantium Karstenianum, welche letzteren in dem 
weifsen Markparenchyme auch weder Bast- noch Holz-Bündel enthalten. — 

Das Gewebe der Rinde ist dem des Markes an Form und Inhalt im- 
mer sehr ähnlich, die Schichten der Oberhaut sind spindelförmig und er- 
halten später verdickte Wandungen, sie setzen sich über die Basis des Blatt- 
stieles fort, dessen weiter vom Stamme entfernte Theile meistens nur von 
einer einfachen Schicht solcher Oberhautzellen bedeckt sind. Da auch die, 
den Holzeylinder umgebende Bastschicht bei manchen Farnen mit der Ober- 


206 H. Karsten: 


haut des Blattes zusammenhängt (vergl. Taf. IX. Fig. 1.), so kann man eine 
Ähnlichkeit in der physiologischen Bedeutung dieser Gewebe vermuthen. 

' Vergleichen wir nun noch einmal übersichtlich den Bau des Farnstam- 
mes mit dem der Palmen, so finden wir die gröfste Verschiedenheit in dem 
Verhalten der Holzbündel während ihres Verlaufes zu den Blättern. Bei den 
Palmen und Monocotylen überhaupt war es Regel, dafs die Holzbündel sich 
an der Markseite von dem Holzceylinder trennten und vor ihrem Eintritte in 
das Blatt, das Markgewebe durchzogen; bei den Farnen dagegen tritt dies 
Verhältnifs nur ausnahmsweise ein, Regel ist es, dafs die Spiralfaser mit dem 
sie begleitenden Holzgewebe senkrecht in dem Holzeylinder aufsteigt, und 
nur eine Biegung nach Aufsen in das Blatt macht. 

Jeder neuen Blattanlage entsprechend, entstehen in dem cambialen 
Holzeylinder neue Spiralfasern als die Grundlage von Holzbündeln, die, ohne 
unmittelbaren Zusammenhang mit den Spiralfasern anderer Blätter, mit al- 
lem Holzgewebe das aus dem Cambiumeylinder hervorgeht, sich in das ent- 
wickelnde Blatt hineinverlängern. Im weiteren Verlaufe der Entwickelung 
des Stammes kann mehr oder weniger senkrecht, oberhalb der in ein Blatt 
getretenen Spiralfaser, wie wir es bei den Monocotylen sahen, eine andere 
neue Faser entstehen: keinesweges ist jedoch diese Faser, oder das um sie 
sich bildende Holzbündel, als eine Verlängerung des früher vom Stamme in 
ein unteres Blatt gehenden Bündels, zu betrachten. Mohl der dies annimmt 
(de structura caudicis filicum arborearum 1833) und darin eine gänzliche 
Verschiedenheit in der Wachsthumsweise des Stammes der Farne und Mo- 
nocotylen erblickt, hat nicht nur die zuerst auftretenden Holzbündel mit dem 
übrigen Gewebe des Holzeylinders verwechselt, sondern auch unbeachtet ge- 
lassen, dafs zunächst oberhalb des, in ein Blatt sich nach Aussen wendenden 
Holzgewebes eine markstrahlenähnliche Parenchymbildung eintritt, und durch- 
aus kein Cambium verbleibt, das die Entstehung von Holzbündeln oder einer 
Holzschicht veranlassen könnte. 

Mohl’s „vegetatis terminalis” findet ebenso wenig, in der von ihm 
untergelegten Bedeutung statt, wie die Gründung der von Endlicher und 
Unger aufgestellten Abtheilung der „Acrobrya” sich durch sie rechtferti- 
gen läfst. — 

Ob der ganze Cambium-Oylinder zu Holzzellen sich umbilde oder 
nur einzelne, die zuerst gebildeten Spiralen umgebenden Theile desselben: 


die V egetationsorgane der Palmen. 207 


ob, in Folge dieser Umänderung, ein geschlossener- oder ungeschlossener 
Holzeylinder entstehe, ist in der Familie der Farne eben so wechselnd, wie 
bei den übrigen, mit einem Holzeylinder versehenen Pflanzengruppen und 
wie wir oben p.195. sahen, die Bildung dieser Gewebe zum Theil von der 
Ernährung der Pflanze abhängig. Eine geringe Cambium-Schicht umgiebt 
immer das entwickelte Holzgewebe und begrenzt dasselbe gegen die benach- 
barte Parenchym- oder Bast-Schicht; hierin weicht der Bau der Farne von 
dem der Palmen und der übrigen Monocotylen ab, indem bei diesen Pflan- 
zen das Cambium in der Regel nur an der einen, nach der Stammoberfläche 
gewendeten Seite des Holzgewebes sich findet. Ausgezeichnet sind die mei- 
sten Farne, besonders die baumartigen Stämme, durch die bedeutende Bast- 
schicht, die die Holzbündel oder den Holzeylinder allseitig umgiebt. Das 
letztere Verhältnifs, das Vorhandensein von Bastgewebe an der Markseite 
des geschlossenen Holzeylinders findet sich nur bei wenigen Dicotylen ange- 
deutet, die Umhüllung der getrennten Holzbündel dagegen von einer Bast- 
schicht, findet sich bei den meisten Monocotylen wieder und erinnert durch 
die Färbung dieses Gewebes besonders an die Palmen. — 

Die Gewebe der Wurzel sind gleichfalls bei den Farnen und Palmen, 
wie bei allen übrigen Monoeotylen gleichgebildet, und befinden sich in einer 
gleichen Anordnung. Ein Unterschied besteht jedoch darin, dafs den Farnen 
die Pfahlwurzel, die unmittelbare Verlängerung des Stammes, fehlt und die 
später erscheinenden Wurzeln regelmäfsig gleichzeitig mit dem Blatte ange- 
legt werden, während sie bei den Monocotylen erst nach der Entfaltung der 
Blätter aus dem Cambium des Holzeylinders unterhalb derselben entste - 
hen. — 

Auch die Gewebe des Blattes sind im allgemeinen bei diesen beiden 
grofsen Pflanzengruppen gleich gebildet und oft ähnlich geordnet, nur kommt 
bei den Farnen noch die oben beschriebene, eigenthümliche Umbildung ge- 
wisser Stellen der Oberhaut hinzu, die den Zutritt der Atmosphäre an das 
innere Gewebe des Blattes und des Stammes zu erleichtern bestimmt zu sein 
scheint. In der Entfaltung des Blattes und in der gleichzeitig erfolgenden 
Verholzung der Gewebe findet sich darin ein Unterschied, dafs bei den Pal- 
men und den übrigen Monocotylen die Entwickelung der Gewebe aus dem 
Cambium von dem unteren Theile des Blattes nach den oberen hin stattfindet: 
die Entfaltung, das Auswachsen, der gebildeten Zellen jedoch in umgekehrter 


208 H. Kansten: 


Richtung geschieht; bei den Farnen dagegen der ersten Anlage ununterbro- 
chen in derselben Richtung von Unten nach Oben die späteren Umbildungen 
der Zellen folgen. — 


Vergleichung des Baues der Monocotylen mit dem 


der Dicotylen. 


Indem wir uns zu der grofsen Abtheilung der Dicotylen wenden, tre- 
ten uns mehrere Familien entgegen, die man wegen ihres von der Mehrzahl 
der Dicotylen abweichenden Baues als eine Übergangsform zu den Monoco- 
iylen betrachtete. Es sind dies besonders die Cycadeen, die Piperaceen, 
Amaranthaceen, Chenopodien und Nyctagineen, die daher bei der vorgesetz- 
ten Untersuchung vorzugsweise zu berücksichtigen sind. 

Zweckmäfsig wird es sein, bei der Untersuchung dieser als Übergänge 
erscheinenden Pflanzenformen von dem regelmäfsigen Baue der dicotylen 
Stammform auszugehen. Wenden wir uns zuerst zu diesem Zwecke zn den 
Coniferen einer Familie die nicht nur jene Bedingung erfüllt, sondern auch 
zu der Vergleichung der Cycadeen den Weg bahnt: so finden wir bei der 
Betrachtung des Querschnittes einer Blatiknospe von Podocarpus salicifolia 
Kl. et Karst. hier ebenso wie bei den Monoeotylen und Farnen das Parenchym 
des Markes und der Rinde durch eine Schicht cambialen Gewebes geschieden, 
an dessen innerer und äufserer Oberfläche eine Vermehrung des Parenchymes 
stattfindet, während in seiner Mitte einzelne senkrechte Zellenreihen zu Fasern 
sich vereinigen, die bald als echte Spiralfasern kenntlich sind, welche in 
bestimmten Abständen von einander entfernt stehen, den gleichzeitig an der 
Oberfläche der Stammspitze erscheinenden Blattanlagen entsprechend. So 
wie diese Blätter in einer Schraubenlinie sich aus dem Cambium-Kegel nach 
und nach hervorbilden, so beginnen in gleicher Reihenfolge die Anfänge 
der für sie bestimmten Spiralfasern in dem Cambium - Cylinder, eine der 
Blattstellung ähnliche Linie im Innern des Stammes beschreibend. Denkt 
man sich die stiellosen Blätter am Podocarpus mit gleichlangen Stielen ver- 
sehen und ordnet nun die Blattflächen so um eine Mittellinie, wie es die le- 
bende Pflanze zeigt, so hat man durch die gedachten Blatistiele die richtige 
Lage der Holzbündel des Stammes. Alle diese senkrechten Stammenden 
der Blattspiralen stehen in einem bestimmten Abstande vom Mittelpunkte, einen 


die V egetationsorgane der Palmen. 209 


Cylinder um das Mark bildend, sie verlaufen eine Strecke in dem Cambi- 
umcylinder aufwärts und wenden sich dann, ohne die geringste Krümmung 
nach innen zu machen, zur Oberfläche in die Blätter die sie als Mittelrippe 
durchziehen. Die Blätter sind in fast $ Spirale geordnet (1), doch eben 
so wenig wie das neunte Blatt senkrecht über dem ersten steht, befindet sich 
auch die zu jenem gehende Spiralfaser senkrecht über dieser, sondern etwas 
zur Seite gerückt. Man darf sich daher das Verhältnifs der verschiedenen 
Spiralfasern nicht so denken, als sei die obere Spiralfaser, mit den übrigen 
Fasern und Zellen die mit ihr ein Bündel bilden, eine Verlängerung der nächst 
unteren: es ist dies eine ebenso unrichtige Vorstellungsweise wie diejenige, 
dafs die zu den oberen Blättern gehenden Holzbündel aufserhalb der zu den 
unteren verlaufenden lägen und von diesen durchkreuzt würden. 

Nach der völligen Umbildung des Cambiums in die, fast in ihrer ganzen 
Länge gleichartig zusammengesetzten Holzbündel, formen sich die im Stamme 
zwischen ihnen befindlichen, aus dem Cambium gebildeten Prosenchymzellen 
zu Holzfasern um, die zuerst entstandenen Holzbündel zu einem zusammen- 
hängenden Cylinder vereinigend, der das Mark einschliefst und von der Rinde 
durch eine geringe Schicht von Cambiumzellen getrennt ist, die in der näch- 
sten Wachsthumsperiode des Baumes zur Entstehung einer neuen Holzschicht 
Veranlassung geben, welche dann die senkrechten Enden jener in den Blät- 


(') Die ersten Blätter einer Seitenknospe nehmen noch nicht diese Stellung ein, sie 
stehen fast wechselweise, die untersten rechts und links, die folgenden unten und oben. 
Die Entwickelung dieser beiden letzten Blätter, giebt einen schönen Beleg für die Un- 
haltbarkeit der Ansicht, dafs die Lagerungsweise (foliatio) unbedingt abhängig sei, von 
der durch die Stellung ausgesprochenen Bildungsfolge. In dem T. VII. 6. a. gegebenen 
Querschnitt einer Knospe sieht man innerhalb der äufseren Ränder der beiden rechts und 
links stehenden Blätter, der mütterlichen Blattachsel der Knospe zugewendet das dritte 
Blatt schon von dem Gewebe seines Stammes getrennt, wenn noch das Folgende nicht 


gesondert ist. — In dem Querschnitt einer ausgewachsenen Knospe Fig. 6. b. umfalst 


der äussere Rand des rechts stehenden Blattes, der linkswendigen Spirale den entspre- 
chenden Rand des gleichzeitig entstandenen, linksstehenden; dann folgt das unterhalb und 
links von Letzterem stehende der Hauptaxe zugewendete und jetzt est als 4! das als das 
Dritte aus dem Cambium gesonderte, der Achsel des Stammblattes zugewendete Blatt, 
welches innerhalb der beiden übereinandergreifenden Ränder der beiden unteren Blätter 
befindlich sowohl an der Abgabe von Stoffen aus der Atmosphäre wie an einer Aufnahme 
von solchen mehr verhindert ist, wie das später entstandene, doch theilweise freie, ge- 
genüberstehende Blatt. 


Phys. Kl. 1847. Dd 


210 H. Karsten: 


tern endenden Bündel bedecken, und gänzlich von dem Rindengewebe ent- 
fernen. Vor diesen Holzbündeln entstehen in der Rinde wie in dem Blatte 
durch Erweiterung einzelner senkrechter Zellenreihen und Aufsaugung ih- 
rer wagerecht sich berührenden Wände, Fasern (T.VII. 5.g.) die in der 
Rinde und in den parenchymreichen Theilen des Blattes, (VII.4) dadurch 
dafs die benachbarten Zellen an der absondernden Thätigkeit dieser Faser 
Theil nehmen, während ihre Haut dann zu verschwinden scheint, die Ei- 
genschaften eines Gefäfses bekommen, während in der Blattspitze (VII. 3. a.) 
und dem Blattstiele die Faserform sich nicht verändert. An der diesem Harz- 
gefäfse und der mit Spaltöffnungen begabten Oberfläche zugewendeten Seite 
des Holzbündels verbleibt auch in seinem Blattende, ebenso wie in dem 
Stamme eine Cambiumschicht, deren fortdauernde Zellenbildung die Ver- 
mehrung des Holzgewebes vermöglicht: wodurch auch im Blatte bald eine 
bedeutende Holzschicht entsteht, die an einähnliches Verhältnifs, bei gleichzei- 
tiger Verlängerung desBlattstieles und Fiederblattbildung, bei manchen Melia- 
ceenund Cedrelaceen erinnert. (Man vergl. meine Bemerkung über die Gua- 
rea trichilioides L. Bot. Zeit. 1846, 7) (') 

In dem Holze des Stammes machte sich die Anzahl der Wachsthums- 
perioden durch Jahresringe bemerkbar; in dem, Taf. VIL.1. gezeichneten Quer- 
schnitte ist die vorletzte Holzschicht nur halb so dick wie die übrigen, dem 
entsprechend war auch die Länge der Zwischenknoten des vorletzten Trie- 


(') Nicht immer ist das Blatt der Dicotylen so einfach gebaut wie das der Conife- 
ren, meistens treten aus von verschiedenen Stellen des Stammkreises Holzbündel in das 
Blatt, nicht selten in dem Blattstiele, dann einen geschlossenen Cylinder bildend,; der 
dann oft, wie grade bei den oben erwähnten Familien ein bedeutendes Markparenchym 
einschlielst, während die nach Aussen liegende Cambiumschicht zur Verdickung des Holz- 
eylinders beiträgt. Regel ist es bei den Dicotylen, dafs das Cambium der Holzbündel des 
Blattstieles und der Blattfläche nach der mit Spaltöffnungen besetzten (unteren) Oberfläche 
hin gewendet ist, während es bei den Monocotylen in der Mittellinie der Holzbündel ne- 
ben den der Atmosphäre geöffneten Holzfasern eingeschlossen wird und bei den Farnen die 
ganze Oberfläche des Holzgewebes bedeckt, das von dem überall der Atmosphäre durch 
die oben beschriebene Einrichtung leicht zugänglichen und fast gleichförmig entwickelten 
Parenchyme umgeben ist. Die Anordnung der Gewebe scheint der Vertheilung der Nah- 
rungswege zu entsprechen; die Art ihrer Entwickelung ist dagegen von der Beschaf- 
fenheit des Nahrungstoffes abhängig. Erst die genauere Kenntnifs dieser beiden Bedin- 
gungen, wird uns eine etwas tiefere Einsicht in die Lebensverhältnisse des pflanzlichen 


Organismus verstatten. — 


die V egetationsorgane der Palmen. 211 


bes nur halb so grofs wie die der übrigen; die Gröfse der Zellen dieses Holz- 
ceylinders war von den banachbarten nicht verschieden, ebenso die Verholzung 
derselben, die geringere Länge der Stengelglieder wie die entsprechende 
Dicke des Holzeylinders hatte also seinen Grund in einer veränderten Bil- 
dungsthätigkeit, über den ich leider weder Aufschlufs noch Andeutungen 
erhalten konnte, da die Blätter schon abgefallen waren. Das Holz besteht 
aus punktirt verdickten Fasern, die durch wagerechte Zellenreihen von Mark- 
strahlen in radialer Richtung durchzogen werden. Vorzüglich an den diesen 
Markstrahlenzellen anliegenden Wandungen der Holzzellen finden sich ähn- 
liche Porenbläschen, wie bei den übrigen Fichten (VII. 2.b.). Die Bedeu- 
tung dieser Bläschen die bei Pinus sylvestris, wo sie noch häufiger vorkom- 
men, zuweilen zwei bis vier noch kleinere Bläschen einschliefsen, ist hier 
vielleicht eine ähnliche, wie die der früher (p.203 T. VI.2.3.) beschriebenen 
in den Bastzellen eingeschlossenen, d.h. eine in ihrer Entwickelung gehemmte 
Mutterzelle. Untersucht man nämlich die an der Rinde grenzende Cambi- 
umschicht, die hier, wie überall das langsam wachsende Cambium, aus weiten, 
dünnwandigen Zellen besteht die mehrere Zellkerne enthalten, so findet man, 
dafs die Entfaltung dieser endogenen Zellen und ihre Entwickelung zu Holz- 
gewebe in einzelnen radialen Schichten im Umkreise des Stammes beginnt, 
und von hier nach beiden Seiten hin mit verlangsamter Wachsthumsthätigkeit 
vorschreitet; endlich wenn sie an der markstrahlenartigen Zellenreihe zusam- 
mentreffen, scheint nur eine dieser endogenen Zellen sich auszudehnen, wäh- 
rend durch sie die übrigen an die der Markstrahlenzelle zugewendete Zell- 
wand gedrängt, und zwischen beiden Häuten eingeschlossen werden. Dafs 
diese Zellen aufser der oben (p.120.) erwähnten, von dem Gesammtleben 
des Organismus unabhängigen, selbstständigen Entwickelung auch in den 
späteren Lebensstufen desselben in eine regelmäfsige Fortbildung eingehen 
können, ist bei dem Podocarpus oder einer anderen Conifere noch nicht be- 
obachtet: diese für die Kenntnifs des Zellenlebens so aufserordentlich wich- 
tige Erscheinung zeigt sich in den Stämmen vieler Schlingpflanzen, deren 
Holzeylinder durch eine solche Veränderung der Thätigkeit der Zellen nicht 
nur auf die verschiedenste Weise durch Zellgewebe getrennt, sondern selbst 
durch die Entstehung von Rindengewebe aus diesem letzteren, in ein Bündel 
getrennter Stämme zerfällt. Auf der Taf. VI. habe ich Fig. 7. den Querschnitt 
eines älteren Stammes der Banisteria nigrescens Adr. Juss. gezeichnet, 


Dd2 


242 H. Karsten: 


in welchem bei a die Trennung der Öberflächenauswüchse des mittleren Holz- 
körpers vorbereitet wird. — In den jüngsten, noch nicht verholzten Zweigen 
findet sich im Umkreise des Markes eine ähnliche Anordnung von Holzfa- 
serbündeln, die sich in die Blätter verlängern, wie es von dem Podocarpus 
beschrieben ist, durch das später gebildete Holz, dafs diese Bündel dann zu 
einem Cylinder vereinigt, tritt darin ein Unterschied hervor, dafs dasselbe 
hier dann aus Prosenchymzellen besteht, wie es bei den Dicotylen Regel ist, 
und sich durch die dem Stamme aller Schlingpflanzen eigenthümliche grofse 
Menge weiter Netzfasern auszeichnet. Entfernt man die Rinde von einem 
jungen Zweige, so ragen die in den Blättern endenden Holzbündel, eine sehr 
scharfe Kante bildend, über die Oberfläche des Holzeylinders hervor. Ver- 
folgt man diese hervorragenden Holzbündel abwärts in die älteren Theile des 
Stammes, so findet man, dafs sie hier an dem Holzeylinder durch Rillen er- 
setzt werden, indem der zwischen den Faserbündeln befindliche Theil des 
Cambiumceylinders durch eine fortdauernde Bildung von Zellen und Holzge- 
webe hier eine stärkere Vermehrung der Holzschicht bewirkt. An noch älte- 
ren Theilen des jungen Stammes, deren Oberhaut schon abgefallen und durch 
Rindengewebe ersetzt ist, wenden sich die Markstrahlen des Holzes, dafs 
die mit Rindenparenchym ausgefüllten Rillen begrenzt, seitwärts nach diesem 
Gewebe hin: wodurch es kommt, dafs die Markstrahlen in den sehr vergrö- 
fserten Auswüchsen des Holzeylinders, von deren Verbindungsstellen mit dem 
mittleren, ungetrennten Theile aus, fächelförmig vertheilt sind. 

In der Gegend dieser Verbindungsstellen beginnt nun die Neubildung 
von Zellen innerhalb des Holzgewebes, (man vergl. Fig. 8. und 9. und die 
dazu gegebene Beschreibung), deren Ergebnifs, wie schon erwähnt, nicht 
nur die Trennung der seitlichen Auswüchse des Holzeylinders von dem älte- 
sten, mittleren Theile, sondern eine unregelmäfsige Zertheilung des sämmt- 
lichen Holzgewebes ist, in deren Folge eine noch öfter wiederholte Trennung 
in mehrere Bündel eintritt. 

Ähnliche Erscheinungen finden sich noch bei den Sapindaceen, Aris- 
tolochien, Asclapiadeen, Acanthaceen (hier im ausgezeichneten Grade bei 
der Engelia m.) und gewifs noch bei mehreren anderen Familien. 

Wenden wir uns nun zu den Öycadeen, einer Familie die von den Grün- 
dern der botanischen Systeme zu den Farnen, von späteren Forschern zu den 
Monoecotylen und Dicotylen gestellt wurde, zum Theil weil ihnen der Bau des 


die V egetationsorgane der Palmen. 213 


Saamens und des Stammes nicht bekannt war, so finden wir bei der Unter- 
suchung des ersteren eine vollkommen dicotyle Bildung. Aus der einfachen, 
ungetheilten Anlage des Keimlinges der Zamia muricata Willd., die ich in 
ihrer Entwickelung zu betrachten Gelegenheit hatte, wachsen zwei völlig ge- 
trennte Saamenlappen hervor, die während der Saamenreife sich bedeutend 
vergröfsern, und an der Berührungsfläche ihrer oberen Enden mit einander 
verwachsen. Das Keimen dieser Saamen weicht nicht von dem einer dicotylen 
Pflanze ab, was schon Petit Thouars erwähnt, das mit einer Mütze be- 
deckte Würzelchen verlängert sich abwärts und verdickt sich rübenförmig, 
während die Keimknospe aus der nicht verwachsenen Spalte der Saamenlap- 
pen hervorwächst. An der Trennungsstelie des Würzelchens und des ober- 
irdischen Stammtheiles bildet sich ein höchst zierlicher, wagerechter Kreis 
von einer Anzahl Spiralfaserringe, von welchem die Fasern der Blätter und 
der Wurzel ihren Anfang nehmen, in dieser sowohl wie in dem Stamme das 
Gewebe in einem Mark -und Rinden- Theil trennend. Das erste, den Saa- 
menlappen folgende Blatt erhält zwei Fiederblättchen, jedem später folgen- 
den, mit einer immer gröfser werdenden Anzahl von Fiederblättchen verse- 
henen Blatte gehen zwei unvollständige, schuppenartige Blätter voraus, 
die, ohne den verlängerten Blattstiel und die Fiederblättchen zu besitzen, in 
der Anordnung der Holzbündel keine Verschiedenheit von den vollständigen 
Blättern zeigen; nur die Verholzung dieser Gewebeist in den schuppenförmigen 
Blättern geringer. Alle diese blattartigen Organe sind in einer Spirallinie um 
den Stamm geordnet, was wohl nicht der von Link früher (diese Verhand- 
lungen 1843) ausgesprochenen Ansicht günstig ist, dafs die Schuppen die 
Deckblätter der gefiederten Blätter seien, welche daher die Bedeutung von 
Ästen besäfsen. Die Knospen, die sich an jungen Pflanzen zuweilen zu Blatt- 
knospen, an erwachsenen regelmäfsig(?) zu Blüthenknospen ausbilden, entste- 
hen von dem cambialen Holzeylinder auf gleiche Weise wie ich es Taf. VII b. 
von Podocarpus salicifolia gezeichnet habe. 

Der Verlauf der Holzbündel zu den Blattorganen ist vollkommen der 
dicotylen Stammbildung entsprechend. Fast in dem ganzen Umkreise des 
Cambiumeylinders entstehen Spiralfasern, als Grundlagen der für ein Blatt 
bestimmten Holzbündel, alle wenden sich, ohne die geringste Krümmung 
durch das Mark zu machen, sogleich nach Aufsen in die Rinde, wo die von 
dem Blattstiele entfernteren einen wagerechten Bogen beschreiben. Durch 


214 H. Karsten: 


die ununterbrochen fortdauernde Bildungsthätigkeit der Zellen des Cambium- 
eylinders und die Umformung der gebildeten zu Fasern, wird hier eine ähn- 
lich gebaute Holzschicht hervorgebracht wie die Coniferen sie besitzen; nur 
in der Art der Verdickung finden sich Verschiedenheiten, die sich indessen 
nach Mohl’s Ansicht, der genaue, vergleichende Untersuchungen darüber 
anstellte, auf eine Grundform zurückführen lassen. Gleichzeitig mit der 
Holzbildung findet bei der Zamia muricata an der äusseren Seite des Cam- 
biumeylinders eine Vermehrung des Rindengewebes statt, in welchem sich 
bei dieser Pflanze einzeln stehende Bastfasern, die hin und wieder wage- 
rechte Scheidewände besitzen, und, ebenso wie in dem geringen Markgewebe, 
weite Gummigefäfse bilden: letztere sind verzweigt und sowohl die des Mar- 
kes, wie die der Rinde verlängern sich in die Blätter. 

Ganz ähnliche Verhältnisse finden sich in dem Stamme von Dion edule 
Lindl. und Cycas revoluta Thunb. von denen ich einzelne, jüngere, le- 
bende Pflanzen untersuchte, nur besitzen sie ein umfangreicheres Mark und 
die Bastbildung an der Rindenseite des Cambiums ist bei ihnen stärker, so 
dafs eine zusammenhängende Schicht dadurch hervorgebracht wird. Eigene 
Holzbündel, die Mohl in alten Stämmen von Zamia und Cycas fand, die mit 
dem inneren Cylinder in keiner Verbindung stehen und nach seiner Ansicht 
die Bildung des schon von anderen Beobachtern angegebenen zweiten, äufse- 
ren Holzeylinders veranlassen, sah ich in den von mir untersuchten Pflanzen 
so wenig wie den, vielleicht daraus hervorgehenden, Holzeylinder. In einem 
trockenen Stamme eines alten Encephalartus caffer Lehm. fand ich über- 
dies die von Link, Mohl und früheren Beobachtern angegebenen Holzbün- 
del des Markes, die vielleicht zum Theil Veranlassung gaben, dafs Richard 
und Decandolle diese Familie zu den Monocotylen stellten. Auf einem 
Querschnitte des Encephalartus macht allerdings die Vertheilung dieser ein- 
zeln im Marke befindlichen Holzbündel den Eindruck des monocotylen Baues, 
eine nähere Untersuchung ergiebt jedoch, dafs diese Bündel nicht von dem 
Holzeylinder (der Markscheide) ihren Anfang nehmen, dafs sie nicht den 
Bau der ursprünglich aus dem Cambium gebildeten, in die Blätter gehenden 
Bündel zeigen, da sie keine Spiralfasern besitzen, dafs sie ferner nur in die 
älteren Blattreste nicht in die jüngeren Blätter und Stammtheile sich verlän- 
gern: es erlauben daher diese Bündel durchaus keine Annährung der Oyca- 
deen zu den Monocotylen mit deren Holzbündel sie nichts gemeinsam ha- 


die V egetaiionsorgane der Palmen. 215 


ben; nur eine mangelhafte Kenntnifs der Entwickelungsgeschichte konnte es 
möglich machen, dafs man diese Bündel, so wie die von dem cambialen 
Holzeylinder in die Blätter gehenden und die später entstehenden Schichten 
des Holzeylinders, alle mit der unbestimmten Benennung „Gefäfsbündel” 
bezeichnete. Mir drängt sich nach der Betrachtung meines todten, in den 
jüngeren Theilen des Markes leider nicht mehr der Untersuchung zugängigen 
Encephalartus die Vermuthung auf, dafs diese Holzbündel des Markes eine 
Umbildungsstufe der alten Gummigefäfse sei, in Folge einer auch bei ande- 
ren dicotylen Familien häufig eintretenden Zellenbildung in diesen Gefäfsen 
entstanden: hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Ernährung des Organismus, 
würden sie dann wohl mit dem im Marke der Asclepiadeen und Apocyneen 
vorkommenden Bastfasern zu vergleichen sein. 

Der rein dieotyle Bau des Cycadeenstammes, hat hiernach nicht die 
geringste Ähnlichkeit mit dem des Palmenstammes oder der übrigen Mono- 
cotylen, und noch weniger mit dem des Farnstammes, dem er wegen der 
Form seiner Holzzellen und wegen der Knospenlage seiner Blätter vergli- 
chen wurde; die Ähnlichkeit in der letzteren ist überhaupt so geringe, dafs 
sie kaum diesen Vergleich rechtfertigt. — 
gen des ver- 


5 
kannten Saamenbaues lange zu den Monocotylen gerechnet, denen sie auch 


Ebenso wie die Cycadeen wurden auch die Piperaceen we 


noch jetzt hinsichts ihres Stammbaues zugezählt werden und von Unger, 
der sie am genauesten untersuchte (Bau des Dicotyl. 1840. p. 84.), als aus 
einem centralen Theile mit einer vegetatio terminalis und einem peripheri- 
schen mit einer vegetatio peripherico-terminalis zusammengesetzt, beschrieben 
sind. Dafs diese beiden Wachsthumsweisen in der Art wie Unger es dar- 
stellt (a. a. OÖ. und Endlicher und Unger Grundzüge ete. 1845) überhaupt 
nicht vorkommen, habe ich schon in dem Vorhergehenden gezeigt und werde 
es durch die Entwickelungsgeschichte des Piperaceenstammes noch einmal zu 
beweisen haben. 

Die neugebildeten Stengelglieder der holzigen Piperaceen bestehen, 
wie die ganzen, nicht verholzenden Stämme der Peperomien aus mehreren 
Kreisen von Holzbündeln (Taf. VI.2.), zu denen, in den später verholzenden 
Stämmen, noch ein Kreis von Prosenchymbündeln kommt (2.b.) die aus Zel- 
len bestehen, welche, so lange sie nicht verholzen, durch eine grofse Menge 
von Zwischenzellstoff von einander getrennt sind, der später beim Wachsen 


216 H. Karsten: 


derselben verschwindet (3.u.4.). Diese Bündel stehen der Oberhaut zunächst, 
in ihrer Nähe beginnt die Bildung von Lenticellen die der Atmosphäre einen 
freien Zutritt zu dem Rindengewebe des Stammes vermitteln. 

Die übrigen Holzbündel, von denen die äufsersten in dem holzigen 
Stamme zu einem fast zusammenhängenden Cylinder vereinigt sind, der das 
Gewebe des Markes von der Rinde trennt (Fig. 2. a.) bestehen aus Spiralfa- 
sern die durch Holzecambium von einander getrennt sind und aus Bastgewebe 
das an der Grenze des Parenchymes, besonders an der nach der Oberfläche 
und nach der Mittellinie gewendeten Seite, eine dickere Schicht bildet. Fig.5. 
habe ich den Querschnitt einiger dieser Bündel von der Artanthe flagellaris 
Migq. gezeichnet. Das Bast- und Holz-Gewebe besitzt hier schon verdickte 
Wandungen; im Umkreise des letzteren besonders an der nach der Ober- 
fläche gewendeten Seite des Bündels befindet sich zwischen Beiden eine Cam- 
biumschicht die auch zwischen den verschiedenen Bündeln vorhanden ist; 
durch ihre Bildungsthätigkeit wird die Verdickung des Holzeylinders bewirkt. 
Fig. 6. stellte ich die jüngste Holzschicht eines älteren Stammes (Fig. 1.) dar, 
aus dem Cambium b. bildet sich neues Holzgewebe das weite Netzfasern ein- 
schliefst, während das zwischen den Bündeln befindliche Cambium zur Ent- 
stehung des Markstrahlenparenchymes Veranlassung giebt. — Man legt der Na- 
tur eine zu grofse Beschränkung auf, wenn man nur den Holzbündeln die Fä- 
higkeit zugesteht, durch die Thätigkeit ihres Cambiums ihr Gewebe zu ver- 
mehren: auch der zwischen den Holzbündeln befindliche Rest des Cambium- 
C ylinders verharrt in der Zellenbildung, in deren Folge hier die grofsen Mark- 
strahlen entstehen, in anderen Fällen gleichfalls zum Theil oder auch, wie 
wir es z.B. bei der Banisteria sahen, vorzüglich der Holzcylinder ver- 
mehrt wird. 

Das Gewebe des Stammes ist nicht in seiner ganzen Länge gleichförmig 
gebildet, es finden sich vielmehr an den Abgangsstellen der Blätter ähnliche 
Krümmungen und Verzweigungen der Holzbündel, wie wir sie in den Kno- 
ten der Monocotylen kennen lernten. Der äufsere Kreis von Holzbündeln 
mit den in der Rinde befindlichen Bastschichten (2. b.) setzen sich fast voll- 
ständig in das nächst höhere Blatt hinein fort, nur das Bastgewebe, welches 
die nach der Oberfläche gewendete Seite des Holzbündels bedeckt, verläuft 
ununterbrochen aufwärts, in dem nächst höheren Stengelgliede die Stelle der 
Rindenbastbündel einnehmend, und in der oben beschriebenen Weise thätig. 


die V egetationsorgane der Palmen. 97 


Die Zergliederung der jüngsten Knospe läfst uns erkennen, dafs sich 
dies Bastgewebe zuerst von der Oberfläche des Cambiumeylinders sondert, 
nachdem in der Mittellinie schon Markparenchym sich gebildet und die ers- 
ten Spiralfasern in dem jetzt mehr bündelweise getheilten Cylindermantel 
auftraten, und zwar entstehen diese Fasern zuerst in dem Theile des Cam- 
biums der die Stelle des, in das nächst untere Blatt eingetretenen Bündels 
zwischen Rinde und Mark einnimmt, dann erst zeigen sich die in den inne- 
ren Theilen des Cambiums entstehenden Spiralen, das durch gleichzeitige 
Parenchymbildung in einem gewissen Abstande von diesen Spiralen, in die 
Bündel des Markes von dem äufseren, mehr zusammenhängenden Cylinder 
gesondert wird. Es findet daher hier ein umgekehrtes Verhältnifs von dem 
in den Palmen und übrigen Monocotylen Beobachteten, in der Entwicke- 
lungsfolge der Holzbündel statt, denn dort erhielten in der Gipfelknospe 
zuerst, die der Mittellinie des Stammes näheren Bündel Spiralfasern, 
deren untere Enden in den äufseren Theilen des Stammes befindlich 
waren: hier, bei der Artanthe und den übrigen Piperaceen, sind es die äus- 
sersten Bündel des Stammumkreises, in denen zuerst die Spiralfasern 
auftreten und deren unteres Ende, wie man sich durch Längenschnitte 
überzeugt, eben jene indem Marke des nächst unteren Stammgliedes befind- 
lichen Bündel sind. — Durchschneidet man nämlich eine eben sich entwik- 
kelnde Gipfelknospe in der zwei Holzbündelkreise sich befinden, so erkennt 
man alle diese Verhältnisse an einem oder wenigen Abschnitten. Die mittle- 
ren Holzbündel wenden sich an der Trennungsstelle eines Blattes nach Aus- 
sen, nehmen die Stelle der zwischen Mark und Rinde befindlichen, jetzt in 
das Blatt eintretenden Bündel ein, während gleichzeitig neben ihnen andere 
Spiralfasern erscheinen, die in senkrechter Richtung sich verlängernd, den 
inneren Kreis in das nächst höhere Stengelglied fortsetzen. So durchläuft 
hier jedes Holzbündel zwei Stengelglieder, während in den Stammtheilen, 
wo 3 oder 4 Kreise von Bündeln sich befinden, dieselben auch eine entspre- 
chende Anzahl von Stengelgliedern durchziehen werden. Es ist ein ganz ähn- 
liches Verhältnifs wie wir es bei den Farnen p.194. und Lycopodien p.192. 
kennen lernten, und erinnert an den oberen Abschnitt des Holzbündels der 
Tradescantia p.178. und der ähnlich gebauten Monocotylen, nur dafs bei 
letzteren der untere Abschnitt des Holzbündels wieder einen Bogen nach 
Aufsen macht, hier derselbe den inneren Kreis bildet. — Einigermafsen 


Phys. Kl. 1847. Ee 


2318 H. Karsten: 


erinnert noch dieser Verlauf der Holzbündel der Piperaceen an den Bau des 
palmenartig scheinenden Stammes der Papayaceen, insofern auch bei diesen 
die unteren Abschnitte der in der Nähe der Mittellinie desselben beginnenden 
Holzbündel, nicht in einen sondern in mehrere concentrische Kreise geord- 
net (richtiger: nicht einen Cylinder, sondern mehrere ineinandergeschobene, 
umgekehrte Kegel bilden) und in parenchymatischem Zellengewebe vertheilt 
sind, freilich giebt sich dies Gewebe nicht nur durch Zeit und Ort seiner 
Entstehung, 
gehörend zu erkennen: sondern auch die ihm später eigene Form spricht für 


was auch bei den Piperaceen der Fall ist, als zum Holzeylinder 


die, von dem gleichfalls vorhandenen Markparenchyme verschiedene Natur, 
es fehlt nur die Verholzung der Häute um demselben die gewöhnliche Eigen- 
schaft des Holzes zu geben. Auch bei diesen Papayaceen dauert nur in der 
äufsersten Schicht des Cambiumeylinders die Zellenbildung fort, in deren 
Folge, höchst eigenthümlich, nur die Bastschicht der Rinde vermehrt wird, 
welche in alten Stämmen als ein fester verholzter Cylindermantel das paren- 
chymartige Holzgewebe umgiebt, während bei den Piperaceen aus dem pe- 
ripherischen Cambium eine regelmäfsige Holzbildung an der inneren Seite 
desselben erfolgt. Zwar bleibt bei ihnen auch das den inneren Holzbündel- 
kreisen zunächst befindliche Cambium noch einige Zeit in Thätigkeit, doch 
habe ich nicht gesehen, dafs bei einer Piperacee dadurch eine so vollstän- 
dige Vereinigung der verschiedenen Holzbündelkreise zu einem Holzeylinder 
hervorgebracht würde, wie es bei einigen Nyctagineen, die sich hinsichts 
der Vertheilung der Holzbündel wie auch die Amaranthaceen und Chenopo- 
deen den Piperaceen ganz gleich verhalten, z.B. in den verholzenden Stäm- 
men der Boerhavia, Pisonia geschieht. Diese Holzeylinder sind dann in 
mehrere, der Anzahl der Bündelkreise entsprechende Schichten durch ge- 
ringes Cambium gesondert, eine Erscheinung, die einigen Zuständen der 
Schlingpflanzen, die wir oben betrachteten ähnlich, jedoch wie die Entwik- 
kelungsgeschichte zeigt, von gänzlich verschiedener Bedeutung ist. 

Der innerste Holzbündelkreis des Stammes der Piperaceen, Nyecta- 
gineen, Amaranthaceen ete. der in den ersten Stengelgliedern der jüngsten 
Pflanze in dem einzigen Cambiumcylinder liegt, und der sich in die Wur- 
zel(!) verlängert, wo er in Folge der Thätigkeit dieses Cambiums dem Holz- 


') Die einzeln im Rindengewebe des Stammes der verholzenden Piperaceen befind- 
5 P 


die V egetationsorgane der Palmen. 919 


eylinder unmittelbar angrenzt, der denselben Bau zeigt, wie die in dem ober- 
irdischen Stamme die oberen Abschnitte der Holzbündel vereinigende Holz- 
schicht: — ist also der Markscheide (corona Hill) gleichzustellen, die |wir 
oben als die regelmäfsige Grundlage des Holzeylinders auch bei den Mono- 
cotylen und Farnen wiederfanden und daher kurz alsH olzeylinder bezeich- 
neten. Bei mehreren Farnen (p. 194) lernten wir eine Anordnung der Holz- 
bündel in dem Stamme kennen, die nur wegen der Beständigkeit der einmal 
ausgebildeten Gewebe, wegen der Eigenthümlichkeit in der Knospenbildung, 
einfacher blieb und leichter zu übersehen war, sonst die gröfste Ähnlichkeit 
mit der ursprünglichen Anordnung der cambialen Holzeylinder des Pipera- 
ceenstammes etc. zeigte: in diesen dicotylen Stämmen hat man die unteren 
Abschnitte der verschiedenen, mehrere Stengelglieder durchziehenden, in den 
Blättern endigenden Cylinder von Holzbündeln von dem die oberen Ab- 
schnitte aller dieser Holzbündel vereinigenden Cylinder der Holzschicht 
anatomisch und physiologisch zu unterscheiden, die sowohl die Wurzel wie 
die ganze Länge des oberirdischen Stammes ununterbrochen in Mark und 
Rinde trennt. 

Die Verwechselung anatomischer und physiologischer Erscheinungen 
in den Lebensverhältnissen der Pflanze, der Mangel einer genaueren Kennt- 
nifs der Entwickelung und Anordnung der verschiedenen Gewebe und deren 
daraus zu erschliefsende Bedeutung für den Organismus, der Fehlgriff alle 
verholzten Zellen- und Faser-Gruppen, unter der gemeinschaftlichen Benen- 
nung „Gefäfsbündel”, für gleichwerthig zu halten: sind die Ursache, dafs 
man seit Desfontaines’s Arbeiten in so grofse Irrthümerbei der anatomischen 


lichen Bastbündel, bilden in der Wurzel einen zusammenhängenden Cylindermantel als 
Aulsenrinde derselben. An der Wurzelspitze wird die Schicht eylinder- oder spindel - 
förmiger Zellen von einem Gewebe polyedrischer Zellen der Wurzelmütze überzogen ; 
die Zellen der Rindenoberhaut wachsen zu Haaren aus, nachdem die Wurzelmütze sich 
von ihnen gelöst hat. Das Mark besteht in der jungen Spitze aus Cambium, später aus 
polyedrischen Zellen mit Stärke gefüllt und punktirt verdickt. Das Vorkommen des Mark- 
gewebes, das Link überall leugnet, Schleiden überall behauptet, ist häufig bei den 
Dicotylen wie bei den übrigen Abtheilungen nur durch ein geringes Cambiumgewebe an- 
gedeutet, in anderen Fällen als unzweifelhaftes Parenchym vorhanden: oft fand ich an 
derselben Pflanze in verschiedenen Wurzeln beide Formen, deren Erscheinen wohl nur 
von der Gesammtthätigkeit aller Gewebe der Wurzel abhängig ist, wie ich dies schon 
für die Palmen durch die Beschreibung der Iriartea gezeigt habe. — 


Ee?2 


320 H. Karsten: 


Fr 


Betrachtung und Eintheilung der Pflanzenwelt verfiel, die natürlich über die 
Thätigkeit der Organe derselben nur Mifsverständnisse verbreiten konnte, 
besonders da man seit Dutrochei ein dem Gestaltungsprocefse unmittelbar 
entgegengesetztes Verhalten der Materie, die Diffusion, zu ihrer Erklärung 
benutzte. 

Dafs Unger nicht nur eine vegetatio peripherico — terminalis in dem 
Stamme der Piperaceen findet, indem er diese Irrthümer nicht vermied, son- 
dern aufserdem noch, höchst wunderbar, eine vegelatio terminalis einzelnen 
Theilen desselben zuschreibt (a.a.O.p.84.) ist um so merkwürdiger, da er 
noch kurz vorher p.82, indem er den Piperaceen wie allen übrigen Gewächsen 
ein unbegrenztes Wachsthum abspricht, es für eine Täuschung ausgiebt, „dafs 
„hier in Folge des Wachsthumes eine fortwährende Ausbildung neuer Inter- 
„nodien stattfinde; indem das was häufig als unmittelbare Fortsetzung des 
„Stammes erscheint, nichts als ein Ast ist.” — Da diese Ansicht Ungers 
schon von mehreren Schriftstellern angenommen wurde ist es wohl nothwen- 
dig, derselben hier meine Beobachtungen entgegenzustellen. Das Wachsthum 
des Piperaceenstammes geht von einem Blatte zum andern in länger unter- 
brochenen Zeitabschnitten vor sich, indem der Entfaltung eines Blattes die 
langsame Entwickelung des nächst höheren Stengelgliedes und Blattes folgt, 
während sich neben der im Wachsthume sehr gehemmten Gipfelknospe gleich- 
zeitig mehrere Seitenknospen bilden, deren Entwickelung derjenigen der 
Gipfelknospe anfangs bedeutend vorauseilt, die daher während des Entwi- 
ckelungszustandes des Blattes von jenen überragt, und leicht übersehen wird. 
In dem gipfelständigen Blattgrunde des blüthentragenden Stammes der Ar- 
ganz 


5 
unentwickelten Gipfelknospe zwei Seitenknospen in die sich der äufsere Cam- 


tanthe z. B. finden sich aufser der aus einer Blattanlage bestehenden, 


biumeylinder des Stammes und das Markgewebe desselben (ähnlich den Knos- 
pen des Podocarpus T. VII. Fig. 6.) zugleich mit cambialen Holzbündeln 
hineinverlängern, deren eine, in der Blattachsel befindliche, zur Blattknospe 
und deren andere ihr gegenüberstehende zur Blüthenknospe sich ausbildet; 
doch wird jene regelmäfsig in der Entwickelung gehemmt, wenn diese in der- 
selben nicht unterdrückt ist. — Aus dem untersten Blattwinkel der achsel- 
ständigen Blattknospe tritt fast gleichzeitig mit dieser eine 4" Knospe, eine 
Seitenknospe zweiten Grades auf, die gleichfalls regelmäfsig nicht zur Ent- 
wickelung kommt so lange die Gipfelknospe des Stammes fortwächst. 


die V egetationsorgane der Palmen. 221 


Es gehören also die Piperaceen in die Reihe der Gewächse, deren 
Vegetationsorgane in ununterbrochener Folge sich entwickeln, wie wir es bei 
den Palmen und Farnen sahen. Ein Blatt nach dem andern bildet sich aus 
der durch innere Zellenbildung fortwachsenden Gipfelknospe des Stammes 
hervor, und stehtmit diesem in dem innigsten Verbande, in der unmittelbarsten 
Wechselwirkung, durch Elementarorgane die in einer bestimmten, der Blatt- 
anlage entsprechenden Aufeinanderfolge in dem Cambiumeylinder des Stam- 
mes, dem Marke zunächst, entstehen und in der Blattspitze enden. Alle 
Gewebe des sich entwickelnden Stammes scheinen in Bezug auf die Blattbil- 
dung thätig zu sein alle mit denen des Blattes in Verbindung zu stehen, mit 
Ausschlufs des innersten Markcylinders der allein zur Verlängerung der Gip- 
felknospe, einer Vereinigung von unentwickelten Blattanlagen, in der er endet 
zu dienen scheint, welshalb Casp. Fried. Wollf in seiner berühmten theoria 
generationis $. 73. sagen konnte „Truncus est continuatio petiolorum omnium 
junetorum. Oritur elongatione simplici axeos medullaris” etc. Wenn wir 
nun auch in Folge einer genaueren Kenntnifs der Entwickelungsgeschichte 
des Stammes und der Äste aus dem Keimlinge und der Knospe und in 
Rücksicht auf die selbstständige Fortbildung des später verholzenden Stam- 
mes nicht geneigt sein werden, unbedingt die beiden zu sehr vernachlässigten 
Aussprüche dieses grofsen Mannes zu wiederholen: so lehren uns doch die 
Entwickelungserscheinungen des Blattes und Stammes wie befriedigend die 
Vorstellung dieses einfachen Bildes ist, und lassen uns ahnen, wie folgen- 
reich für die Erkennung der Ernährungsvorgänge des pflanzlichen Organismus 
eswerdenkann. Wir können diese, der Anlagenach unbegrenztfortwachsenden 
Stämme als die vollkommneren Bildungen einer Formenreihe des Pflanzen- 
reiches betrachten, deren einfachere Entwickelungsstufen wir in den Gruppen 
der wurzellosen Pflanzen (plantae cellulares) ausgeführt sehen und dieser 
Entwickelungsreihe eine andere zur Seite stellen, die, erst in den später un- 
seren Planeten belebenden Schöpfungen auftretend, an jedem Einzelwesen 
eine Stufenfolge von Blattentwickelungen zeigt die C. F. Wollf in seinem 
unsterblichen Werke (a.a.O. $. 104. 106. 114. ete.) schon als die Wirkung 
veränderter Ernährungsverhältnisse ansieht, welche das Leben jedes Stammes 
gesetzmäfsig abschliefst, indem Organe auftreten, die nicht zu seiner Ernäh- 
rung beitragen, sondern die Erzeugung neuer Keime zur Erhaltung der Art 
bewirken. Den einfachsten Ausdruck einer solchen Blumenpflanze deren 


2223 H. Karsten: 


Vorbild Göthes dichterische Darstellung mehr allgemein anschaulich machte, 
wie es Wollfs gelehrte Untersuchungen vermochten, finden wir in der Ab- 
theilung der Gewächse die eine Pfahlwurzel nicht nur regelmäfsig entwickeln, 
sondern auch meistens während des ganzen Lebens erhalten, diese geben uns 
in ihren vollkommneren Organisationen das reinste Bild eines durch seine in- 
nere Entwickelungin sich abgeschlossenen pflanzlichen Organismus. 

Sicher ist dies Verhälinifs der Wurzel zum oberirdischen Stamme von 
dem gröfsten Einflusse auf die Entwickelung des letzteren. In der Abthei- 
lung der Monocotylen, wo die an dem sich entwickelnden Keimlinge vorhan- 
dene Pfahlwurzel gesetzmäfsig von sehr kurzer Dauer ist, und durch Wurzeln 
ersetzt wird, die aus den jüngeren Stammtheilen sich hervorbilden, ist eine 
Entwickelungsweise des Stammes Regel die bei den eine Pfahlwurzel ent- 
behrenden Pflanzen Gesetz wird, und an die Wachsthumsweise der gänzlich 
wurzellosen Gewächse erinnert. Unter günstigen, äufseren Verhältnissen füh- 
ren uns die Organismen dieser Abtheilung durch die ununterbrochen wieder- 
holte Entwickelung von Vegetationsorganen ein lebendiges Bild der Unsterb- 
lichkeit des Einzelwesens vor. 

Beide Reihen, mit Ausschlufs der einfachsten Formen jener wurzellosen 
Gewächse, kommen darin überein, dafs in einem bestimmten Abstande von 
der Mittellinie der Stammachse, (wohl nie in dieser Linie selbst) gleichzeitig 
entstehenden Erhebungen der Oberfläche der Stammspitzen entsprechend, 
Fasern durch Vereinigung einfacher Zellenreihen gebildet werden die sich 
in diese Oberflächenausbreitungen des Stammes, die Blätter, hinein fortsetzen 
und inihnen enden und zwar wie aus den mitgetheilten Untersuchungen her- 
vorgeht, indem sie bei den Monocotylen sich anfangs der Mittellinie nähern, 
bei den übrigen Faserpflanzen nur nach Oben und Aussen eine Krümmung 
beschreiben. 

Aufser dieser verschiedenen Anordnung des Faser- und Zell- Gewebes 
findet eine Verschiedenheit hinsichts des Ortes der Entstehung der in eine 
Blattanlage sich hinein verlängernden Faserbündel zwischen Dicotylen und 
Monoecotylen so wenig statt, wie sie nach unseren früheren Untersuchungen 
p-206, bei den Farnen eine von diesen beiden Gruppen abweichende, eigen- 
thümliche ist. 

Die Annahme einer vegetatio peripherico-terminalis im Sinne Ungers 
und seiner Nachfolger ist eine Folge der Unbekanntschaft mit dem Entwi- 


die V egetationsorgane der Palmen. 994 


ckelungsgange der verschiedenartigen Gewebe des Pflanzenkörpers und zu- 
nächst begründet in der Verwechselung der verholzten Faserbündel und Zel- 
lenschichten die zu dem Holzeylinder in der Regel vereinigt sind. 

Nicht in Bezug auf den Ort des ersten Auftretens der Faserbündel findet 
ein Unterschied in den von Mohl und Unger aufgestellten Vegetationsgrup- 
pen des Pflanzenreiches statt, sondern in der späteren Ausbildung der Gewebe, 
die mit der abweichenden Bildung und Thätigkeit der Gewebe des Blattes 
und der Wurzel so wie mit der Wechselwirkung dieser Organe wie der des 
Rinden- und Mark -Gewebes zusammenhängt. 

Nur eine gewissenhafte, gründliche Erforschung der Entwickelungs- 
erscheinungen eines jeden Gewebes des pflanzlichen Organismus, gegründet 
auf die genaueste Kenntnifs der Lebensthätigkeit ihres Grundbestandtheiles, 
der Zelle, wird das richtige Verhältnifs der Ernährungs-und Wachsthums - 
Weise der Gewächse aus den verschiedenen Entwickelungsstufen des Pflan- 
zenreiches und die Bedeutung ihrer Organe kennen lehren: sie nur wird 
uns auf die einfachen Gesetze führen, die der Schöpfer dem sich gestaltenden 
Stoffe unterlegte, durch ihre Vermittelung wird sich uns die jetzt unüberseh- 
bare Mannigfaltigkeit der organischen Formen als eine einfache Folge des 
Zusammenwirkens weniger Grundbedingungen zu erkennen geben und uns 
diese zahllosen Gestalten als die nothwendigen, eng verbundenen, einem 
Entwickelungsgesetze entsprechenden Glieder eines harmonischen Ganzen 
übersehen lassen. 


Fig. 1. 


ad’ 


d’” 


, 


Fig. 3. 


H. Karsten: 


Erklärung der Kupfertafeln. 


Tat.T. 


Fig.1 bis 5. die Zriartea praemorsa Klotzsch. 
Eine ausgewachsene, halbreife Frucht in doppelter Gröfse der Länge nach durch- 
schnitten. A. Anheftungspunkt derselben an dem Blumenstiel, 2. Abschnitt des Kel- 
ches, €. der Blumenkrone, D. die Griffel, E. der Saamennabel, a. die Frucht- 
schaale, 4. Saamenschaale, c. Gewebe des Kernes, d. das in dem Keimsacke gebil- 
dete Eiweils in der Vermehrung des Gewebes begriffen, e. der Rest der Höhle des 
Keimsackes, f. die Anlage des Keimlinges dessen oberes, verdicktes Ende schon in- 
nerhalb des Eiweilses befindlich, während das untere auf diesem Längenschnitte 
bis in die Fruchtschaale zu verfolgen ist. 
Das Gewebe des Eiweilses d. 250 mal vergröfsert; die jüngeren Zellen sind in 
den älteren immer zu zweien vorhanden. — 
Ein Theil des Gewebes des Keimlinges 250 mal vergröfsert. 


. Eine fast reife Frucht in natürlicher Grölse. Das Eiweilsgewebe d4. füllt den Keim- 


sack gänzlich aus, die Wandungen der Eiweilszellen sind punktirt verdickt mit Aus- 
nahme derjenigen die den Keimling zunächst umgeben d’; hier besitzen sie feine, 
durchsichtige Häute und enthalten in einer klaren Flüssigkeit einen scharfgeran- 
deten; dunklen Zellkern. 

Das Eiweilsgewebe @’ 250 mal vergrölsert. 

Ein Theil des Eiweilses aus der Grenze von d und d’ nach der Färbung mit Jod 
in 250 facher Vergröfserung gezeichnet. Unmittelbar an die stark punktirt verdick- 
ten Zellen des hornigen Eiweilses, grenzt ein zartwandiges Gewebe das innerhalb 
sehr feiner Tochterzellen, sehr zarte, durchsichtige Bläschen enthält, die zum Theil 
erst nach der Berührung des Jodes deutlich hervortreten. 

Ein Längenschnitt des aus dem Eiweilse herausgenommenen Keimlinges der noch 
nicht ausgewachsen, an der Spitze y des Saamenlappens in bedeutender Zellenver- 
mehrung begriffen ist. Spiralfasern oder Andeutungen davon sind noch nicht vor- 
handen. Die ersten Blattanlagen sind ungewöhnlich stark entwickelt. 

Ein reifer trockner Saame der Länge nach durchschnitten. f. der Keimling. 
Derselbe vergrölsert, man sieht die Anlage der Spiralfasern die in einem cambia- 
len Holzgewebe befindlich, sich von z nach der Spitze y des Saamenlappens und 
in die entgegengesetzte Spitze (das Würzelchen) verlängern. An der innern Seite 
des Cambium-Cylinders an der Grenze des Würzelchens und Saamenlappens (z) 
nehmen die Spiralen die sich in die Blattanlagen verlängern, ihren Anfang. 
Derselbe Keimling genau in der Mittellinie durchschnitten, wodurch ein dünnwan- 
diges, grofszelliges Gewebe v in gröfserer Ausdehnung sichtbar wird, dafs sich 
vor der Wurzelspitze befindet. 


Fig. 4. 


Fig. 


[Se So} 


Fig. 


Fig. 5. 


= 


Fig. 6. 


die V egetationsorgane der Palmen. 2235 


Ein keimender Saame, £. die Pfahlwurzel, aus der Scheide x, der Verlängerung 
des Saamenlappenstieles, hervorbrechend, die das junge Pflänzchen umhüllt. 
Derselbe durchschnitten, «. der Saamenlappen dessen Holzbündel mit denen der 
jungen Pflanze in Verbindung stehen, und sich unmittelbar in das Würzelchen, 
die Pfahlwurzel, £. verlängern. Man sieht wie die, in den Stamm und in die 
Blätter der jungen Pflanze sich vertheilenden Holzbündel aus der Gegend z ihren 
Anfang nehmen. 


' Einige Eiweilszellen aus der Nähe des sich vergrölsernden Saamenlappens. Die 


Tochterzelle ist von der verdickten, jetzt zum Theil resorbirten, Wandung der 
Mutterzelle entfernt. Die in ihr befindliche dritte Zelle (der Zellkern) etwas ver- 
grölsert und mit einer trüben Flüssigkeit angefüllt. 


. Eine junge noch mit dem Saamen zusammenhängende Pflanze, der Länge nach 


durchschnitten. Das Eiweils d. ist fast gänzlich durch den Saamenlappen x. ver- 
drängt. 


. Ein junges Pflänzchen der Klopstockia cerifera Karst. x der hier etwas verlängerte 


Stiel des Saamenlappens. 
Der Querschnitt von x in doppelter Grölse. 


Tabslr; 


. a und 2. Die jüngste Blattanlage der Chamaedorea gracilis Willd. die Spitze des 


Stammes umgebend von verschiedenen Seiten gesehen. Die eine Seite dieser ring- 
förmigen Blattanlage ist mehr wie die übrigen vergröfsert und lälst an der rinnig- 
vertieften Oberfläche die Andeutungen der Blattfiedern erkennen. 


. Eine ähnliche Blattanlage der Zriartea praemorsa Kl. a die Stammspitze. 


. Die folgende, ältere Blattanlage, sowohl die Stammspitze wie das nächst jüngere 


Blatt bedeckend, dessen Spitze (a) dort hervorsieht, wo man an dem jüngeren 
Blatte die Stammspitze erkennen konnte, es ist die Öffnung der Blattscheide die 
durch Verlängerung des ursprünglichen ringförmigen Wulstes entstand. An den 
Rändern des kegelförmigen Blattstieles (6) bemerkt man die ersten Andeutungen der 
Blattfiedern als kleine warzige Erhebungen. 


. Das nächst ältere Blatt, dessen Ränder mit den warzigen Hervorragungen sich so 


weit vergrölsert haben, dafs die obere Fläche des Blattstieles 8 durch sie ganz 
überwachsen und bedeckt ist; in doppelter Gröfse. Die Öffnung der Blattscheide 
erscheint als schmale Querspalte c. 

Das nächst ältere Blatt in natürlicher Gröfse. Noch deutlicher wie in der vorigen 
Figur treten hier die, von gröfseren, stärker verholzten Zellen gebildeten Gewebe 
des später abfallenden, leicht zerbrechlichen Blattrandes und der Blattspitze hervor. 


‚ ein Theil der Blattfiedern, mit den Blatträndern noch zusammenhängend, etwas 


vergrölsert gezeichnet. 

Querschnitt eines Theiles der Anlage einer Blattstielbasis der Älopstockia nahe der 
Trennung von dem Stamme, in natürlicher Gröfse. In dem mittleren cambialen 
Holzbündel (2) des das innere Parenchym des Blattstieles umgebenden Kreises, 


Phys. Kl. 1847. Ff 


[59] 
[89] 
=3) 


Fig. 7. 


Fig. 8. 


Fig. 9. 


H. Karsten: 


welches, aus dem inneren Marke des Stammes kommend, den Blattstiel der Länge nach 
bis in die abfallende Spitze durchzieht, erscheint zuerst eine Spiralfaser, dann 
in den beiden benachbarten Bündeln desselben Kreises und in den, diesen folgenden. 
Erst später treten auch in den übrigen, mehr nach aussen befindlichen Bündeln 2. 
Spiralen auf, ; 

Eine Blattstielspitze der Önocarpus usilis Kl. nachdem der Blattrand abgeworfen 
von oben gesehen. Das Gewebe von 8 Holzbündeln ist zu einem einzigen ver- 
einigt, das ringsum von Parenchym umgeben ist. Das Bastgewebe ist an der ° 
oberen Seite des Bündels zu einer Schicht (a) vereiniget; die Fasern und Gefälse 
sind der eindringenden Luft geöffnet. 

Querschnitt eines Holzeylinders aus dem unteren, in der Knospe eingeschlossenen 
Theile’ des Blattstieles eines noch nicht entfalteten Blattes der Oenocarpus utilis; die 
Spiralfaser (@) und die vor derselben stehenden Treppenfasern besitzen schon ver- 
dicekte Wandungen. Die weiten Gummifasern (5) sind, Gefälsen ähnlich, von einer 
Zellenschicht umgeben, die einen weniger klaren Saft enthalten wie die übrigen Bast- 
und Holz-Zellen, die den grölsten Theil des Bündels ausmachen. Das Cambium 
ist auf zwei Gruppen (c) beschränkt, die, kleine Bündel bildend, in dem äulseren, 
nach der Oberfläche gerichteten 'Theile des Holzbündels sich befinden. Das Zell- 
gewebe des Blattstieles enthält Stärke. 

Ein ähnlicher Querschnitt aus dem oberen Theile desselben Blattstieles. Das Zell- 
gewebe enthält hier keine Stärke mehr; das Holz-und Bast-Gewebe hat verdickte 
Wandungen bekommen. Die beiden Cambium-Bündel (ce) enthalten jetzt einen 
klaren, durchsichtigen Zellsaft. Die Häute der Zellenschicht, die die Gummifasern 2. 
zunächst umgiebt, sind verholzt, und, nach der Ausdehnung der Fasern, zusammen- 
liegend, wodurch jene von einer einfach verdickten Haut gebildet zu sein scheinen. 
Aufser durch die Entwickelungsgeschichte erkennt man indessen an den netzför- 
migen Verdickungsschichten der scheinbar einfachen Scheidewand die Entstehung der- 
selben aus einem Zellgewebe. 


Fig. 10. Querschnitt einer Blattfieder der Klopstockia aus der Knospe. Die äulserste Zel- 


lenschicht der unteren Blattoberfläche bildet Haare, die sich bei der Entfaltung des 
Blattes von der eigentlichen Oberhaut trennen und am längsten dort mit dersel- 
ben zusammenhängt, wo. sie die Holzbündel bedeckt. Spaltöffnungen sind zu die- 
ser Zeit noch nicht vorhanden. Zunächst unterhalb der Oberhaut befindet sich eine 
Schicht cambialer Zellen, denen des Holzbündels ähnlich, das Zellgewebe enthält 
wenig Stärke. Die Gummifasern zeigen sich als erweiterte Zellenreihen. 


Fig. 11. Ein ähnlicher Querschnitt von einem älteren, schon entfalteten Blatte. Das Cam- 


bium unterhalb der Oberhaut ist in Bastzellen verändert, ausgenommen an der 
Stelle, wo die Haare länger mit der Oberhaut zusammenhingen, und wo nach dem 
Abfallen derselben bei @ Spaltöffnungen sich bildeten. Das Zellgewebe enthält Chlo- 
rophyll. Die Holzbündel sind vollkommen ausgebildet. 


Fig. 1. 


Fig. 2. 


die V egetalionsorgane der Palmen. 2237 


or Bat 


Der Längenschnitt einer jüngeren Pflanze der Zriartea praemorsa Kl; bei «. bil- 
den sich in dem Rindengewebe die Blattanlagen einer Knospe, deren Holzeylinder 
von demjenigen des Stammes beginnt und in die hinein, Holzbündel sich verlän- 
gern, die von der innern Seite des letzteren sich trennten und das Mark des 
Stammes durchkreuzten. Bei 5 sieht man eine junge Wurzel noch in der Rinde 
des Stammes, die keine Stärke enthält, befindlich. Das Gewebe der Wurzelmütze 
ist in den äulseren Zellenschichten die zunächst an die Rinde des Stammes grenzen 
mit einem gummiartigen Schleime angefüllt (durch Jod braun durch Eisensalze grün- 
lich braun gefärbt, durch neutrales- und drittelessigsaures Bleioxyd gefällt). Die 
inneren Zellenschichten der Wurzelmütze enthalten Stärke, die der Wandung der 
Tochterzelle anklebt. Ebenso ist das Markgewebe des Stammes mit Stärke angefüllt 
und nach dieser Seite hin liegt auch die Stärke in den Zellen der Wurzelmütze, 
so wie auch die Richtung der parallelen Zellenreihen der Mittellinie, dieser letz- 
teren nach eben dieser Seite hin gewendet, und die Bildung der Gewebe der 
Wurzelfaser hieher etwas vermehrt ist. Es deuten alle Erscheinungen im Bau der 
jungen Wurzel darauf hin, dals von der Seite des Markes her die Ernährung der 
Gewebe stattfand, und vielleicht aus diesem Grunde wächst die Wurzel eine lange 
Strecke im Rindengewebe abwärts, neben dem Holzkörper hin, erst dort hervor- 
tretend, wo die Rinde sehr dünn wird. 

Ein Querschnitt der ersten durch Verlängerung des Keimlinges entstandenen Wur- 
zel, der Pfahlwurzel, der Zriartea praemorsa 180 mal vergrölsert. A. die äulserste, 
das Rindengewebe begrenzende Schicht verholzter Zellen, m. die mittleren: beide 
spindelförmig, mit verdickten Wandungen; c. der Rest des Cambiums von dersel- 
ben Form wie das benachbarte Gewebe doch dünnwandig, es ist durch radiale 
Reihen von Holzfasern, mit punktirten oder leiterartig-verdickten Wandungen, 
in einzelne Bündel getheilt. In der Rinde befinden sich erweiterte, verticale Zel- 
lenreihen g die hier noch nicht zu Fasern vereinigt ist. In den verholzten Faser- 
zellen 6. waren zum Theil Raphiden; die Querscheidewände dieser Zellenreihen 
der künftigen Bastfasern, waren nicht verdiekt, doch auch jetzt noch nicht resor- 
birt. 

Ein Querschnitt eimer sehr dicken Wurzel des Stammes derselben Pflanzenart, nicht 
vergröfsert. Die Holzbündel f. bilden auf diesem Schnitte einen Stern mit zwei- 
theiligen Strahlen. Im Marke befinden sich Gummifasern g. von Bastzellen um- 
geben. 

Längenschnitt der Spitze’einer anderen, ähnlichen Wurzel, die noch nicht die Erd- 
oberlläche erreicht hatte. a. Das Cambium das sich nach Aussen in das Gewebe 
der Wurzelmütze, nach Innen in die verschiedenen Gewebe (der Oberhaut o. der 
Rinde, des Holzes c. und des Markes) verändert. 

a. und Fig.4. 2. Die jüngsten Zustände einer Gummifaser des Markes. 

c. Ein Theil des Längenschnittes Fig. 4. aus der Gegend x. 180 mal vergrölsert. 


Ff2 


19 
80) 
je.) 


Fig. 4. 


Fig. 4. 


Fig. 


Fig. 


au 


H. Kassrten: 


y. die Zellen der Wurzelmütze zum Theil von ihrem Inhalte entleert und sich 
abtrennend, o. die Zellen der Oberhaut, d. die mit Raphiden angefüllten senkrech- 
ten Zellenreihen der Rinde, die sich später in Bastfasern umändern. 

d. Die Oberhautzellen des älteren Theiles einer Wurzel, im Längenschnitte 180 
mal vergröfsert. Die Wandungen derselben, besonders die äulsere, freie Ober- 
fläche ist verdickt. 

e. Dieselben Zellen von oben gesehen. 

Wachsen die Wurzeln in einer Stickstoff (Ammoniakverbindungen) enthaltenden 
Flüssigkeit so besitzen diese Oberhautzellen eine eylindrische Form in der Rich- 
tung der Zellen y. Fig. 4. a. 

Ein Theil des Querschnittes eines beim Keimen ausgewachsenen Saamenlappenstie- 
les der Phoenix dactylifera. Die Holzbündel bilden in demselben einen nicht ge- 
schlossenen Cylinder; in dem Parenchyme befinden sich viele grofse Luftlücken die 
eine Luftart enthalten, die durch Ammoniaklösung nicht absorbirt wird, während 
die Zellenhöhle später Kohlensäure enthält. — 


Taf. IV. 


Colocasia esculenta Schott. 


. Ein Längenschnitt des knollenförmig verdiekten, unterirdischen Stammes. Der Holz- 


cylinder @ trennt das Parenchym in einen bedeutenden Marktheil und einen geringe- 
ren Rindentheil. In dem ersteren durchkreuzen sich mannigfach die von dem Holz- 
cylinder getrennten, für die Blätter bestimmten Holzbündel. 


. Ein Querschnitt desselben Theiles.. An einzelnen Stellen des Holzeylinders a zeigen 


sich Erhebungen desselben nach der Oberfläche zu, die Andeutungen von Knospen 
oder Wurzeln. 


. Ein Theil dieses Querschnittes mit dem Holzcylinder a. 250 mal vergrölsert. Die 


Zellen des Markes und der Rinde enthalten Stärke. Die mittlere Schicht des Holz- 
cylinders besteht aus punktirt-verdickten Zellen, die von dem Mark und der Rinde 
durch Cambium-Zellen getrennt sind; ein Bündel derselben, eine Spiralfaser um- 
gebend, trennt sich von dem Cylinder in das Mark hinein. 

Ein Längenschnitt des Holzeylinders in der Richtung der Secante. Man sieht wie 
die Anfänge der Holzbündel netzartig in demselben vertheilt sind. 


. Ein Längenschnitt der Spitze eines jungen noch in der Basis des älteren einge- 


schlossenen Blattes. Die Fasern des Holzbündels der Mittelrippe, von Cambium umge- 
ben, enden in dem Stärke enthaltenden Blattparenchym. Auch die Zellen der Epi- 
dermis, die bis zur Spitze Spaltöffnungen besitzen, sind zu dieser Zeit mit Stärke 
angefüllt. 

Ein Längenschnitt der Anlage einer Wurzel (Querschnitt eines Stammes) an der 
äulseren Seite des Holzeylinders durch Vermehrung der Cambiumzellen desselben 
entstanden. Die Spitze 5 des Cambiumkegels @ ist in Parenchym verändert, zwi- 
schen beiden befindet sich das, in der Zellenvermehrung begriffene Cambium c aus 


Fig. 7. 


Fig. 8. 


le! 
R 
[80} 


die V egetationsorgane der Palmen. 229 


dem die verschiedenen Gewebe für den Holzeylinder «, die Wurzelmütze 2, die 
Rinde der Wurzel, die eine Fortsetzung der Rinde des Stammes bildet, und deren 
Epidermis d hervorgehen. Das Rindengewebe des Stammes wird vor der Wur- 
zelmütze verflüssigt und von dieser aufgesogen. 

Ein ähnlicher Längenschnitt einer etwas älteren Wurzelanlage. In dem Holzeylinder 
treten schon Spiralfasern auf, die von dem Cambium des Holzcylinders des Stammes 
ihren Anfang nehmen, sich‘ sowohl über diesen ausbreitend, wie besonders in die 
junge Wurzel sich verlängernd. 

Die äufsersten Zellschichten der Wurzelmütze einer noch innerhalb der Rinde des 
Stammes befindlichen Wurzel. Das Gewebe der Wurzelmütze 5 enthält eine trübe, 
durch Jod gelb gefärbt werdende Flüssigkeit in der sich Bläschen und Zellkerne 
befinden. Das Rindengewebe des Stammes enthält etwas Stärke und Chlorophyll; 
einzelne Zellen grofse Krystalldrusen. In der Nähe der Wurzelmütze verlieren sich 
jene Absonderungsstoffe nur eine körnige trübe Flüssigkeit ist in den Zellen enthal- 
ten, welche gleichfalls in der unmittelbaren Nähe der Zellen der Wurzelmütze 
aufgesogen wird, während auch die Häute der Zellen selbst, theilweise zerstört, 
zusammenfallen und allmählich aufgelöst werden. Nur die Krystalle widerstehen 
länger dieser auflösenden Wirkung, man findet meistens eine grölsere Anzahl der- 
selben aulserbalb der hervorwachsenden Wurzelmütze. — 


Tat. V; 


. Ein Längenschnitt des unterirdischen Stammes der Maranta bicolor Arrab. mit 


einem Theile des Schaftes und der diesen umhüllenden Blätter. — Sehr deutlich sieht 
man bei dieser Pflanze, dals der in dem Wurzelstocke befindliche Holzeylinder, von 
dem die Holzbündel ihren Anfang nehmen, sich nicht in den Schaft hinein verlängert, 
sondern an der Grenze desselben endet, nur die Holzbündel setzen sich in jenen 
fort, in dem Marke desselben zerstreut stehend, ohne einen geschlossenen Cylinder 
zu bilden. — 


. Ein Querschnitt desselben Wurzelstockes. Alle Wurzelfasern nehmen von dem 


Holzeylinder @ ihren Anfang. 


3. Ein Theil dieses Querschnittes mit dem Holzeylinder « 250 mal vergröfsert. Die- 


jenigen Zellen dieses letzteren, die an das Rindengewebe grenzen, besitzen punktirt 
verdickte Wandungen. Die von seiner Markseite ausgehenden, anfangs wagerecht 
verlaufenden Holzbündel sind in dem Marke so gestellt, dafs die Spiralen und Trep- 
pen-Fasern der Stammoberfläche, das Bastgewebe dem Mittelpunkte zugewendet 
ist. Beim Austritt der Holzbündel aus dem Marke und ihrem Verlaufe in dem 
Rindengewebe ist ihre Stellung umgekehrt, hier steht das Holzgewebe nach der 
Mitte, der Bast nach der Oberfläche des Stammes gewendet. 


4. Ein Längenschnitt desselben Wurzelstockes in der Richtung seines Durchmessers. 


Die wagerecht im Marke verlaufenden Anfänge der Holzbündel x sind hier quer 
durchschnitten. 


230 


Fig. 5. 


Fig. 4. 


Fig. 6. 


Fig. 7. 


H. Kassmenx: 


Ein. Theil der Spitze einer Blattanlage des Anthurium tovarense, Kl. et Karst. 
bei e wird sie plötzlich schmäler, und endigt in einen fadenartigen Anhang, des- 
sen längstes Ende hier abgebrochen war. 

Die Stelle e derselben Blattspitze im Längenschnitt (Man vergl. S. 181) 250 mal 
vergrölsert. 


Taf. VI. } 


Fig. 1 — 6 Artanthe flagellaris Miquel, 
Querschnitt des Stammes in natürlicher Gröfse. 


. Querschnitt des jüngsten Gliedes eines Astes 10 mal vergröfsert. Der äufserste 


Holzbündelkreis (=) trennt die Rinde mit den Bastbündeln 5 von dem Marke, in dem 
noch mehrere Holzbündelkreise sich befinden. 

Ein Theil des Querschnittes eines Bastbündels der Rinde, (Fig. 2. 2.) 180 mal 
vergrölsert. Es besteht in diesen jungen Theilen aus Cylinderzellen, dessen Zwi- 
schenzellgänge bedeutend erweitert und mit einem gallertartigen Stoffe angefüllt 
sind: sie selbst enthalten eine schleimige Flüssigkeit, in der wenige Bläschen 
schwimmen die durch Jod gelb gefärbt werden. — Diese Zwischenzellsubstanz 
erhält sich sehr lange, später verschwindet sie während die Zellen sich ausdeh- 
nen und deren Inhalt körnig wird, auch sogenannte Zellkerne sich vorfinden, 
endlich verdickt sich die Haut der Tochterzelle fast zum Verschwinden der Höh- 
lung. — 

Querschnitt eines ähnlichen Bastbündels aus dem alten Stamme, wo die Verhol- 
zung der Membran der Tochterzelle in einem Theil des Bündels vor sich gegan- 
gen ist, während in dem darangrenzenden die Zellen noch dünnwandig sind, doch 
die Zwischenzellsubstanz schon fast gänzlich verschwunden ist. 


5. Einige der Fig.2. a. den äulsersten Holzeylinder bildenden Bündel, sie sind von 


verschiedener Grölse, das zwischen ihnen befindliche Cambium giebt den An- 
fang der Markstrahlen. Eine oder wenige Spiralfasern @. befinden sich an der Mark- 
seite des Bündels, vor ihnen viele weite Treppen- und Netz-Fasern durch spin- 
delförmig-verholzte Zellen getrennt. Nach Aussen grenzt dies Gewebe an eine 
Cambiumschicht 2. bestehend aus dünnwandigen Cylinderzellen, die mit einer schlei- 
migen Körnchen, Bläschen und Zellehen enthaltenden Flüssigkeit angefüllt sind. 
An der Rinden- und Mark-Seite des Bündels befindet sich eine Schicht von Bast- 
zellen. 

Querschnitt des jüngsten Theiles des Holzeylinders eines zwei Zoll dicken Stam- 
mes. Das Holz besteht aus spindelförmigen, punktirt-verdickten Zellen %, zwi- 
schen denen weite Neizfasern zerstreut stehen. Dies Holzgewebe wird getrennt 
durch Markstrahlen, deren parallelepipedische Zellen (z2) etwas verdickt sind und 
Stärke enthalten. Das Cambium 2. geht nach Aussen in die Basizellen, nach Innen 
in das Holzgewebe über. 

Fig. 7—9. Banisteria nigrescens Adr. Juss. 

Querschnitt eines älteren Stammes in natürlicher Gröfse. a. Der später entstan- 


Fig. 8. 


Fig. 1. 


Fig. 


die V egetationsorgane der Palmen. 231 


dene Cambium-Cylinder, der die jüngeren Holzschichten von dem innersten Kerne 
trennt. Letztere werden durch eine fortschreitende Umbildung des Holzgewebes, 
später in einzelne Bündel gelöst und von dem Stamme getrennt, worauf sie von 
Rindengewebe umgeben als marklose, Äste und Wurzeln treibende, selbsständige 
Stämme weiter wachsen. 

Ein Längenschnitt aus der Gegend a. des Stammes Fig. 7. wo in den Holzzellen 
eine erneuerte Zellenbildung eingetreten ist. m. Markstrahlenzellen, d. Holzzel- 
len. 3’. ähnliche Holzzellen angefüllt mit senkrechten Reihen von Zellen, deren 
Häute mit denen der Mutterzelle verwachsen, oder durch festen Zwischenzellstoff 


‘verbunden schienen. Diese Zellen enthalten einen einzigen, ihre Höhlung fast aus- 


füllenden, festen Kern, von weilser Farbe und gallertartigem Ansehen, durch Jod 
wird er nicht gefärbt, durch längere Berührung mit Wasser zum Theil aufge- 
löst, mit Hinterlassung mehrerer, ebenso gefärbter Körper von der Form gewöhn- 
licher Zellkerne. — ce. Die neu entstandene Zellenschicht; einzelne dieser Zellen 
sind mit einer trüben, Bläschen enthaltenden Flüssigkeit angefüllt, andere mit 
einem klaren, durchsichtigen Safte, in welchem ein Zellenkern schwimmt. 


. Eine Netzfaser mit dem benachbarten Holzgewebe im Querschnitte aus der Ge- 


gend der erneuerten Zellenbildung 250 mal vergröfsert. Die weite Faser besitzt 
noch die verdickte Haut, ist aber mit endogenen Zellen angefüllt. Die zunächst 
stehenden Holzzellen besitzen gleichfalls noch die innere verdickte Haut, sie enthal- 
ten kleine Zellen (Zellkerne) die mit Krystallen von kohlensaurem Kalke überzogen 
waren und so das Ansehn von Krystalldrusen erhalten hatten. Die etwas weiter 
entfernten Zellen a. sind dünnwandig, enthalten Bläschen und eine körnige Flüs- 
sigkeit. ” 


Taf. VI. 


Podocarpus salicifolia Kl. et Karst. 
Querschnitt eines 2 Linien dicken Astes der aus 5 älteren blattlosen und dem jüng- 
sten, gipfelständigen noch beblätterten Triebe bestand. Der innerste Holzring ist 
nicht zusammenhängend; er besteht aus den ersten in die Blätter gehenden Holz- 
bündeln. Das diese Bündel trennende Parenchym befindet sich-oberhalb der Ab- 
gangsstelle der nächst unteren Blätter. In der Rinde befinden sich Harzgefälse, 
nicht im Marke. 


- Querschnitt des Holzes 250 mal vergröfsert. Es besteht aus verdickten Fasern, 


die durch radiale Reihen (nicht Schichten) von Markstrahlenzellen «a. in radiale 
Schichten unregelmälsig abgetheilt sind. Diese Markstrahlenzellen sind dünnwandig, 
eylinderförmig mit der langen Axe wagerecht, sie enthalten anfangs Stärkebläschen 
dann eine körnige Flüssigkeit, deren Brechungsvermögen das Erkennen der Zell- 
haut sehr schwierig macht. Die Holzzellen lassen drei in einandergeschachtelte 
Zellen erkennen, von denen die zweite, mittlere verdickt ist; dort wo diese Holz- 
zellen an die Markstrahlen grenzen ist die Verdickung durch Porenkanäle unter- 


232 


Fig. 3. 


Fig. 4. 


Fig. 5. 


H. Kanssen: 


brochen, die durch Bläschen hervorgebracht werden, die der Haut der Tochterzellen 
an dieser Stelle anhängen; in der Zelle 8 ist durch den Schnitt die verdickte Haut 
von den beiden andern an dieser Stelle getrennt, ähnlich in ce von der äufseren; 
in der Zelle @ befinden sich, was ich sehr selten fand, zwei tertiäre Zellen neben- 
einander. — Die Zellen der jüngeren Holzringe werden durch verdünnte Schwe- 
felsäure roth gefärbt, es ist hier die verdickte, mittlere Haut die diese Färbung er- 
leidet; die beiden andern Häute werden nicht gefärbt, ebensowenig das ältere Holz. 
Querschnitt einer Blattspitze 180 mal vergröfsert. Die Mittelrippe wird durch ein 
Holzbündel gebildet, dessen Fasern sich-aus dem an der unteren Seite befindlichen 
Cambium vermehren und durch Reihen weiter, dünnwandiger Zellen, ähnlich wie 
das Holz des Stammes, in radiale Schichten gesondert sind. Der Harzbehälter a. 
an der unteren Blattseite, hat an dieser Stelle des Blattes die Form einer Faser 
die von einer Schicht enger Zellen umgeben ist, ähnlich verhält es sich im Blattstiele. 
In der äulsersten Spitze ist kein Unterschied in den Zellen zu bemerken nur ent- 
halten die in der Verlängerung dieser Faser liegenden eine andere Flüssigkeit wie 
die benachbarten Zellen. — 
Ein Querschnitt der Blattmitte wo an der unteren Seite des Holzbündels ein weites 
Harzgefäfs sich befindet, das mit einer wässrigen Flüssigkeit angefüllt ist, in der 
grolse Tropfen eines hellen, gelblichen Balsames und oft sehr schöne, grolse, qua- 
drat-octa@drische Krystalle (Oxalsäure?) schwimmen. Die zunächst dies Gefäls um- 
gebenden, dasselbe bildenden Zellen, sind immer mit einem eigenthümlichen har- 
zig-schleimigen Stoffe angefüllt, oft ragen sie haarförmig in die Gefälshöhle hin- 
ein, die ursprünglich vorhandene Faser ist nicht mehr zu erkennen. 

Im Umkreise des Holzbündels bildet sich das Blattparenchym zu punktirt - ver- 
dickten Zellen um. 
Querschnitt der Gipfelknospe eines Zweiges mehreremal vergrölsert. Das Ge- 
webe derselben wird durch den Cambium - Cylinder in Mark und Rinde gesondert. 
In dem Marke dauert noch längere Zeit eine Zellenbildung fort, man findet die 
Zellen hier von sehr ungleicher Grölse und Färbung. Von dem Cambiumeylinder 
sondern sich die Gewebe des Markes und der Rinde; an seiner inneren Seite erschei- 
nen darauf in unregelmälsigen Abständen des Umkreises und in verschiedener Höhe 
Spiralfasern f. vor denen sich dann in dem Rindengewebe Harzfasern g. bilden, die 
später in Gefälse umgeändert werden. Diese beiden Elementarorgane, mit dem sie 
zunächst umgebenden Gewebe, sondern sich nach und nach, indem die innerste 
Schicht des Cambiumeylinders in der Zellenbildung verharrt und nach Aussen, inner- 
halb der Spiralfasern, Parenchymbildung eintritt, von dem Gewebe des Stammes und 
verlängern sich in ein oberhalb ihres Anfangspunktes angelegtes Blatt. Das Cam- 
bium, in der Nähe der Spiralfasern und an der äufseren Seite derselben befindlich, 
verändert sich in Holzfasern, worauf dann später die zuerst erschienene Spirale sehr 


schwierig zu unterscheiden ist. 


Fig.5. 8’ Eine ebengebildete Harzfaser in dem jüngsten Rindengewebe, noch nicht in ein 


.Gefäls umgeändert. 


die V egetationsorgane der Palmen. 233 


Fig. 6. Längenschnitt einer Gipfelknospe in der aus einem Blattwinkel eine secundäre Axe 


entspringt, bei auffallendem Lichte gezeichnet, wodurch das in der Spitze die äufser- 
ste Schicht bildende Cambium undurchsichtig und dunkler erscheint wie das übrige 
schon weiter ausgebildete Gewebe. — In die Knospe verlängert sich von der einen 
Seite dieses cambialen Kegelmantels eine ähnlich geformte Cambium-Schicht in 
der eine ähnliche Zellgewebebildung vor sich geht, wie in der Gipfelknospe, und 
früh die ersten Spiralen auftreten. Die Stellung der Blätter der secundären Axe 
ist dieselbe wie die der primären, eine linkswendige Spirale bei der letzteren in 
der + Stellung bei der Nebenaxe wenigstens der jüngeren in — Stellung. 


Fig. 6 a Ein Querschnitt der Knospe um die Bildungsfolge die Blätter zu zeigen. p. 209. 
Fig. 6. & Querschnitt einer ausgebildeten Knospe aus dem man die Knospenanlage der Blät- 


ter erkennen kann. 


Taf. VII. 


Gewebe des Stammes der Cyathea aurea Kl. 


Fig. i. Ein Längenschnitt des cambialen Holzeylinders 5 mit den benachbarten Geweben 


Fig. 


Fig: 


Fig. 


aus der Stammspitze. Die zuerst auftretenden abrollbaren Spiralen, die sich in 
die Blätter verlängern sind schon vorhanden, das übrige Holzgewebe noch nicht 
angelegt, es findet sich statt dessen ein Gemisch von langen und runden Zellen 
die wieder grölsere und kleinere Bläschen und Zellen enthalten. Die künftigen 
Bastzellen c besitzen noch runde Enden sie sind dünnwandig und enthalten längliche 
Zellkerne. Am weitesten vorgeschritten ist das aufserhalb der Bastschicht befind- 
liche Parenchym a., es enthält jedoch noch keine Stärke, sondern in einer farblosen 
Flüssigkeit ein sehr deutliches Bläschen ohne festen Inhalt und einige ähnliche mit 
einem körnigen Stoffe gefüllt. Fig. 1. a. Dieselben stärker vergröfsert mit einer 
der grolsen Gummi oder Schleim enthaltenden Zellen, die oft in senkrechten Reihen 
übereinander stehen und mit kleinen Zellen angefüllt sind, deren bräunlich gelbe 
Farbe durch Jod etwas dunkel durch Eisensalze in das grünlich Schwarze verän- 
dert wird. x, die diese Zellen auskleidende Haut der Tochterzelle. — Das zwischen 
der Holz - und Bast - Schicht befindliche Parenchym a’ ist immer etwas weiter in 
dem Wachsthume zurück wie das eben beschriebene. — 


.6 Einige Zellformen aus der Schicht 2. Fig. 1. etwas unterhalb des in dieser Fig. 


dargestellten Gewebes genommen x. x. fertige Treppenfasern y. y. einige darneben 
liegende Zellen, deren Wand fein genetzt ist. 2 andere noch jüngere in der 
Mutterzelle eingeschlossene Zellen, in denen die Tochterzelle mit den Bläschen die 
sie umschliefst von der äufseren Zellhaut getrennt ist, (vielleicht durch Einwirkung 
des Wassers). — 


- Querschnitt desselben Holzcylinders an der Stelle des Stammes, wo eben die Blätter 


abgefallen sind. 


. Derselbe Theil im Längenschnitt. Das Parenchym a und a’ ist mit Stärke ange- 


füllt, ebenso enthalten die verdickten und gelbgefärbten Bastzellen ce Stärke. Die 
das Parenchym begrenzenden Bastzellen, mit senkrechten Reihen kugeliger Zellen 


Phys. Kl. 1847. Gg 


234 


H. Karsten: 


angefüllt, sind besonders dunkel, da die Häute beider verholzt sind. d.d. Cam- 
bium Schichten. 


Fig. 2. d. Ein Querschnitt der Treppenfasern stärker vergröfsert. Die ununterbrochen ver- 


dickten Ecken scheinen heller wie die gestreift verholzten Flächen der sich berüh- 
renden Wandungen. 


Fig. 2. ce. Der Querschnitt einiger Bastfasern. 


Fig. 1. 


Fig. 2. 


Fig. 3. 


Taf. IX. 


Querschnitt des Stammes der Alsophila pruinata Kaulf. unterhalb der Trennungs- 
stelle eines Blattes. Die innere, zusammenhängende Bastschicht steht an dieser Stelle 
x mit der Oberhaut des Stammes und der Blattstieloberseite in Verbindung. 

Ein anderer Querschnitt desselben Stammes; 6. und c. die Reste von Blattstielen, 
deren Blätter schon abgefallen waren. Das Zellgewebe war verwest und so dunkel 
gefärbt, dafs ich die Holzschiehten kaum unterscheiden konnte. — a. Die Gegend 
des Holzeylinders unterhalb des Blattstielgrundes von wo regelmälsig eine Knospe 
abgeht. Diese Knospe wuchs an dem untersuchten 3’ hohen aufrechten Stamme 
wurzelähnlich abwärts ohne Blätter zu treiben, bevor sie den Boden erreichte. 
u. 4. Die, dem in Fig. 2. dargestellten Theile, entsprechenden Abschnitte dessel- 
ben Stammes aus einiger Entfernung unterhalb jenes. Die Knospe a. besitzt einen 
geschlossenen Holzeylinder; an der Berührungsstelle des Stammes ist sie mit die- 
sem verwachsen. In Fig. 4. ist sie ganz frei, viele Wurzeln trennen sich von dem 
Stamme, besonders in der Gegend der sich nicht entwickelnden Blattanlagen. — 


Fig.5. u. 6. Querschnitt des Stammes der Dicksonia Lindeni Hook, in welchem sich drei 


Fig. 7. 
Fig. 8. 


concentriche Holzbündel befinden, von dem äufsersten trennt sich für das Blatt ein 
Absebnitt, während gleichzeitig von dem nächst inneren sich ein Theil nach Aussen 
hin abzweigt, die dadurch entstandene Lücke auszufüllen. Ebenso gehen von dem 
innersten Cylinder Theile an den zweiten. Die geringe Bastschicht die hier den 
Holzeylinder unmittelbar umgiebt ist von dem braungefärbten Parenchyme des Markes 
und der Rinde durch eine weilsgefärbte Schicht desselben Gewebes getrennt. 
Querschnitt des Stammes der Alsophila senilis Kl. 

u. 9. Durchschnittene Stammstücke mit den Überresten der Holzbündel nach dem 
Abfallen der Blätter von unten gesehen. Die Rinde ist bis auf die Bastschicht 
abgeschält, man sieht wie die Bündel a., die in der Mitte des Blattstieles befind- 
lich sind, aus dem Marke stammen. 


Fig. 10. Querschnitt des Stammes der Danaea Augustü Karst. ‘siehe p. 194. 
Fig. 11. Querschnitt des Blattstielgrundes; ein einzelnes Holzbündel steht in der Mitte 


eines Kreises. 

Etwas höher sind zwei koncentrische Kreise vorhanden, Fig. 12. der innere ist 
durch Verästelung der äulseren entstanden. Fig. 13. Aus dem höheren Theile des 
Blattstieles unterhalb der ersten Blattfiedern. 


Fig. 14. Der untere Theil eines Stecklinges des Zycopodium Springü Kl. et Karst. Der 


Stamm dieser Pflanze wird von einem centralen, marklosen Holzeylinder und meh- 


die V: egetationsorgane der Palmen. 235 


reren im Umkreise dieses befindlichen, einzeln stehenden Holzbündeln durchzogen. Man 
sieht in dieser Zeichnung wie sich eines dieser einzelnen Bündel nach dem Durch- 
schneiden des Stammes, unmittelbar in eine Wurzel verlängert hat. 

Fig. 15. Ein Längenschnitt durch diesen Stamm und zwar durch das in die Wurzel aus- 
gewachsene Holzbündel. x. Ein Theil der Schnittfläche. (Fig. 14. x.) Die Ge- 
webe des Holzbündels, die Holzfasern sowohl wie das Cambium- und Bast- Ge- 
webe, setzen sich so ununterbrochen in die Wurzel fort, dafs keine Grenze zu 
entdecken ist, an der Oberfläche des Bastes hat sich Parenchym gebildet das in 
einiger Entfernung von dieser Stelle immer mehr zunimmt und zum Rindengewebe 
der Wurzel wird. Einzelne Zellen der Oberhaut dehnen sich zu Haaren aus. 

Fig. 16. Ein Längenschnitt derselben Wurzelspitze derselben Pflanze, die Entwickelung 
der verschiedenen Gewebe aus dem Cambium innerhalb der Wurzelmütze darle- 
gend. Die Haare der Oberhaut entstehen durch die später eintretende Verlänge- 
gerung abwechselnder Zellen derselben, indem anfangs nur einzelne, der Wur- 
zellänge gleichlaufend, in die Länge wachsen: andere, zwischen diesen befindliche 
im Wachsthume gehemmt werden, das erst später in der, Fig. 17. dargestellten 
Weise, mit der Ausdehnung der Mutterzelle beginnt. — 


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Druckfehler. 


Eläis melanococca statt Elais melanococcus. 

Blattstieles statt Blüthenstieles. 

fehlt hinter „sich wenden” „wie bei den übrigen Faserpflanzen”. 
„» Tangente” statt Secante. 


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Über 
die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 
Von 
H”" MÜLLER. 


mnnannnwwemuns 


[Gelesen in der Akad. der Wiss. am 13. Mai 1841 und 8. Juni 1846.] 


D. gegenwärtige Abhandlung war bestimmt einen zweiten zoologisch- 
systematischen Theil zu der Untersuchung über den Bau der Crinoiden zu 
bilden, welche in den Abhandlungen der Akademie vom Jahr 1841 nieder- 
gelegt ist(!). Eine Uebersicht der bis 1841 mir bekannten Arten der 
Comatulen mit der Beschreibung von 15 neuen Arten ist bereits im Monats- 
bericht der Akademie 1841 Mai mitgetheilt. Noch war mir die Autopsie 
einiger der schon bekannten Species, namentlich der von Lamarck beschrie- 
benen, wünschenswerth geblieben. Hiezu hatte ich bei meinem Aufenthalt 
in Paris im Herbste 1844 Gelegenheit; wobei mir zugleich wieder mehrere 
neue Arten bekannt wurden. Nach der Zeit meiner ersten Mittheilung habe 
ich auch die von Retzius beschriebenen Arten im Museum in Lund und die 
Materialien des Museums der Akademie der Wissenschaften zu Stockholm 
verglichen(?). Hiedurch wurde eine Revision der Abhandlung möglich, 
welcher zugleich die Beschreibung der neu hinzugekommnen Arten beigefügt 
wurde. Ich sage den Herren Lichtenstein, Troschel, v. Schreibers, 
Diesing, Eschricht, Valenciennes, De Haan, Loven, Nilsfon mei- 
nenDank für ihre bereitwillige Unterstützung. Die Beschreibung der mehrsten 
Arten gründet sich auf meine eigene Autopsie, die sich auf die Benutzung der 
Materialien der Museen zu Berlin, Wien, Bamberg, Paris, Leyden, Stock- 


(') Ueber den Bau des Pentacrinus caput medusae. Abhandl. d. Akademie a. d. J. 
1841. Berlin 1843. p. 177. 

(*) Davon ist Kenntnifs gegeben im Archiv für Naturgeschichte IX. 1. Berlin 1843. 
p- 131. 


238 MürLsLer 


holm, Lund erstreckt, ausgenommen sind nur die neuen Comatulen des 
Museums zu Leyden, welche Hr. Trochel (1840) mit meinem Manuscripte 
von den mir zur Zeit bekannten Formen zu vergleichen, und deren Charac- 
tere nach denselben Principien er für mich aufzunehmen die Güte hatte. 


Da die Anatomie der Comatulen schon in der Arbeit über Pentacrinus 
vollständig abgehandelt ist, so gegnügt es für den zoologischen Zweck nur 
dasjenige von dem äufseren Bau zu besprechen, was zum Verständnifs der 
Beschreibung unumgänglich nothwendig, und von welchem die specifischen 
Charactere entnommen sind. 

Die Comatulen unterscheiden sich von andern Crinoiden, dafs sie 
nur im Jugendzustande gestielt und am Boden festgewachsen sind. Ihr 
gegliederter Stiel ist ohne Cirren und diese zeigen sich nur an dem Knopfe, 
welcher den Kelch des Thiers mit dem Stengel verbindet, während der 
Stengel der Pentacrinen an vielen Stellen in bestimmten Abständen mit einem 
Kranz von Cirren umgeben ist. In der Abhandlung über den Pentacrinus 
habe ich bewiesen, dafs die cirrentragenden Glieder oder Knotenglieder des 
Stengels nur dicht unter dem Kelch entstehen, dafs die andren Glieder ohne 
Cirren an jeder Stelle vom obern Theil des Stengels sich bilden und durch 
Interpolation zwischen zwei schon vorhandenen Gliedern sich mehren. 

Die junge Comatula hat nur ein Vertieillarglied, es ist ihr Knopf, 
der an Stelle liegt, wo beim Pentacrinus alle Verticillarglieder entstehen, 
der ganze übrige Stengel ist daher, insofern er cirrenlos ist bis zur Wurzel, 
nur einem Internodium der Pentacrinen zu vergleichen. 

Wie Comatula zu Pentacrinus, so verhalten sich die ungestielten 
fossilen Marsupites und Saccocoma Ag. zu denjenigen gestielten Crinoiden, 
deren Stengel ohne Cirren ist. _ Marsupites und Saccocoma haben weder 
Cirren noch den Knopf der Comatulen. Der Knopf der Gomatulen dient 
den 5 Kelchradien zur Basis, seine obere ebene Fläche ist ein Pentagon mit 
mehr oder weniger abgerundeten Seiten. Nach unten, wo der Knopf frei 
ist und Cirren trägt, ist er meist abgerundet. Bei mehreren Comatulen ist 
er einem Abschnitt von einer Kugel zu vergleichen, dessen Rand pentagonal 
zugeschnitten ist. Der Kugelabschnitt ist meist weniger als die Hälfte einer 
Kugel, zuweilen erreicht er jedoch die Gröfse einer Halbkugel und selten 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 239 


ist er mehr als Halbkugel. Die Cirren besetzen den gröfsten Theil der 
convexen Oberfläche bis auf die Mitte, wo früher die Verbindung mit dem 
Stengel stattfand, zuweilen ist auch diese Stelle mit Cirren besetzt, wie bei 
Comatula Eschrichtü,. 

Zuweilen ist aber auch ein grofser Theil der untern Fläche des Kno- 
pfes von Cirren frei, und es sitzen diese nur am Umfang des Knopfes, in 
diesem Falle ist der Knopf auch an der Unterseite flach und er ist selbst 
zuweilen in der Mitte vertieft. Alle diese Verhältnisse sind für die Characte- 
ristik und Erkennung der Arten von Wichtigkeit. 

Demnächst kommen die Cirren selbst in Betracht, ihre Zahl, ihr 
Sitz, ihre Länge, die Zahl und die Form ihrer Glieder. Die Zahl der 
Cirren ist nicht immer mit Sicherheit anzugeben, da sie zum Theil verloren 
gehen, um durch neue ersetzt zu werden. Der Ausdruck der Zahl der 
Glieder ist daher immer nur in einer gewissen Breite der Abweichungen zu 
nehmen. Die Gröfse der Cirren, welche an den ausgewachsenen Cirren 
zu bestimmen, ist sehr verschieden nach den Arten, man findet sie zuweilen 
klein in grofsen Arten und zuweilen sehr grofs in kleinen Arten, wie letzteres 
z. B. bei der neuen Comatula des mittelländischen Meers Comatula 
phalangium Nob. Die Zahl der Cirrenglieder, welche nur an ausge- 
wachsenen Cirren zu bestimmen, ist ein sehr guter Character, denn es 
giebt hier sehr grofse Unterschiede, es giebt Arten mit 10, mit 20, mit 50 
und mehr Gliedern; es versteht sich von selbst, dafs es hierbei auf Abwei- 
chungen von ein paar Gliedern nicht ankommt; so wenigstens sind die Zah- 
len der Glieder zu verstehen, die wir angeben. Endlich ist die Form der 
Glieder verschieden. Einige Comatulen haben die untern Glieder der 
Cirren anders geformt als die obern, breiter, so dafs die Cirren mit conischer 
Form beginnen, dann aber ceylindrisch werden. Die mehrsten Comatulen 
haben die Cirren in ganzer Länge gleichförmig. In allen Fällen ist das Ver- 
hältnifs der Höhe der Glieder zur Breite derselben zu bestimmen, besonders 
am mittlern Theil des Cirrus, auch ist anzugeben, ob sie mit einem Dörn- 
chen bewaffnet sind oder nicht und wie viele Glieder des Cirrus bewaffnet 
sind. Die Seite des Thieres, wo sich der Knopf befindet, nenne ich die 
Dorsalseite, die andere Seite, wo der Mund und After, die Ventralseite. 
In diesem Sinne wird auch die Dorsal- und Ventralseite der Arme und ihrer 
pinnulae zu verstehen seyn. Die Radien des Kelchs gehören der dorsalen 


240 MüıLLeEr 


Seite des Thieres an. Radien nenne ich die auf dem Knopf aufgesetzten 
Stämme der Arme, welche keine pinnulae tragen, während die auf den 
Radien aufsitzenden 2 Arme mit zwei Reihen alternirender Pinnulae ver- 
sehen sind. Auch sind die Radien durch die Haut des Kelches verbunden, 
die Arme frei. 

Die Kelchradien bestehen aus 3 Gliedern, aber das unterste ist bei 
einigen Arten aufsen nicht sichtbar; so dafs dann die Radien bis zu den 
Armen nur aus 2 Gliedern zu bestehen scheinen. 

Auf jedem der 5 Kelchradien sitzen 2 Arme, die entweder einfach 
bleiben oder sich noch einmal oder mehrmal wieder theilen. Das Radial- 
glied, auf welchem nebeneinander 2 Arme stehen, heifse ich radiale axillare, 
die ähnlichen Glieder unmittelbar unter den weiteren Theilungen der Arme 
brachiale axillare. An den Armgliedern kömmt ihre Gestalt, dann ihre 
Verbindung in Betracht. Bei vielen Comatulen sind die vordern und hintern 
Gelenkflächen der Glieder wenig gegen einander geneigt. Bei einigen Arten 
aber bilden sie einen Winkel mit einander, und die Glieder sind abwechselnd 
von der einen zur andern Seite keilförmig. Bei den mehrsten Arten sind die 
Glieder ohne Bewaffnung, bei einigen ist der aborale Rand an der Rückseite 
vorspringend und gezähnelt. Wichtig ist auch eine doppelte Art der Ver- 
bindung der Glieder. Die Glieder sind nämlich entweder durch ein elasti- 
sches Gelenkband beweglich verbunden, ohngefähr so wie die Wirbelkörper 
des Menschen und der Säugethiere, oder sie sind unbeweglich verbunden 
durch eine Nath. Die bewegliche Verbindung bedingt meist die Beugung 
durch Muskeln und Streckung durch das elastische Zwischenwirbelband. 
Einzelne Glieder können sich jedoch nicht in dieser Richtung, sondern nur 
von rechts nach links bewegen, wenn der Riff auf der Verbindungsfläche 
des Gliedes von der ventralen nach der dorsalen Seite der Glieder gerichtet 
ist. Es kommen in dieser Hinsicht Artenverschiedenheiten vor, die man 
an der Art der Beweglichkeit der Glieder in der Richtung der Beugung und 
Streckung oder von rechts und links erkennen kann. So giebt es ein Bei- 
spiel an der vielarmigen Comatula palmata, wo alle axillaria brachialia von 
der Bifurcation die Arme an, nur von rechts und links bewegt, nicht gebeugt 
und gestreckt werden können. Bei der vielarmigen C. Savignü Nob. sind 
diese axillaria dagegen seitlich unbeweglich und das Gelenk zur seitlichen 
Bewegung liegt zwischen dem ersten und zweiten Armgliede. Bei den zehn- 


über die Gatiung Comatula Lam. und ihre Arten. 241 


armigen Comatulen ist das radiale axillare des Kelchs seitlich beweglich 
auf dem radiale secundum, das zweite Armglied über dem axillare ebenso. 
Zwei durch Nath verbundene Glieder nenne ich ein Syzygium. Das Glied, 
welches unter dieser Nath liegt, heifst Hypozygale, das obere Epizygale. 
Die Syzygien sind sehr regelmäfsig an den Armen vertheilt, wichtig zur 
Unterscheidung der Arten ist ihre Stellung am Anfang der Arme, auch unter- 
scheidensich einige Arten durch die gröfsere oder geringere Anzahl gelenkiger 
Glieder zwischen je zwei Syzygien; doch sind in letzter Hinsicht nur extreme 
Verhältnisse entscheidend, denn die Zahl der Glieder zwischen je zwei 
Syzygien schwankt innerhalb einer gewissen Breite. Bei einigen Arten zählt 
man nur 2-4, bei andern gegen 8-10, bei noch andern gegen 14 Glieder 
zwischen den Syzygien, die Syzygien sind immer leicht an der Nath mittelst 
einer Loupe zu erkennen. 

Selten bildet das erste und zweite Glied über jedem axillare ein 
Syzygium, bei den mehrsten Arten liegen vielmehr zwei einfache gelenkige 
Glieder unter dem Hypozygale des ersten Syzygiums. 

Zuweilen hat das axillare brachiale für die zweite Bifurcation in 20 
Arme ein Syzygium und besteht aus einem hypozygale brachiale und epizy- 
gale axillare. Andere Arten haben bei einer mehrfachen Theilung der 
Arme doch keine Syzygien an den awillaria brachialia. Uebrigens habe ich 
diese Verhältnisse bei Untersuchung verschiedener Exemplare einer Art 
immer constant gefunden. 

Pinnulae sind die gegliederten Nebenarme, die auf der Bauchseite 
der Arme stehen und hier gleichsam eine Federfahne bilden; sie alterniren 
von Glied zu Glied und haben eine sehr gesetzmäfsige Stellung, welche bei 
der Beschreibung der Arten wichtig ist, übrigens mit der Vertheilung der 
Syzygien zusammenhängt. Die Radialglieder des Kelches tragen niemals 
Pinnulae. Die erste äufsere Pinnula steht gewöhnlich am zweiten Glied, 
die erste innere Pinnula am dritten Glied des Armes. Das erste Glied der 
Arme, sowohl der ersten als weitern Theilung, hat gewöhnlich keine Pinnula, 
davon macht der seltene Fall eine Ausnahme, wenn das erste Glied bei 
einer Art ein Syzygium besitzt, dann sitzt die erste äufsere Pinnula am Epi- 
zygale des Syzygiums. Was bei der ersten Theilung der Arme geschieht, 
wiederholt sich gewöhnlich auch bei den weiteren Theilungen. Seltener 
weicht eine Art davon ab, dafs z. B. die erste Pinnula zwar am zweiten Glied 


Phys. Kl. 1847. Hh 


349 MÜLLER 


der 10 Primärarme, nach der nächsten Theilung aber am ersten Glied über 
dem axillare steht. 

Beim Alterniren der Pinnulae zählen die beiden Glieder, die ein Sy- 
zygium bilden, immer nur für ein Glied, so dafs das Hypozygale ohne Pin- 
nula ist und die Pinnula jedesmal am Epizygale steht. 

Auch die Gestalt und relative Gröfse der Pinnulae liefert gute Cha- 
ractere. Am wichtigsten sind jedoch die ersten Pinnulae am Anfang der 
Arme, deren relative Gröfse gegen einander bei der Artenbeschreibung 
genauer anzugeben ist. Zuweilen zeichnet sich eine der ersten, z. B. 
die zweite und dritte oder eine andere durch ihre Gröfse aus, zuweilen nicht, 
zuweilen nehmen sie von der ersten rasch an Gröfse zu, und nehmen dann 
von der vierten oder einer der folgenden eben so rasch wieder ab, um dann 
eine gleichförmige Länge zu behaupten. Von den Gliedern der Pinnulae 
sind meist nur die untersten von Bedeutung, bei einigen Arten haben die 
Pinnulae des Anfanges der Arme die untersten Glieder viel breiter als die 
folgenden. Die Pinnulae des Endtheils der Arme sind bei den mehrsten 
Comatulen noch eigenthümlich, dafs sie am Ende bewaffnet sind, indem 
sich an den letzten Gliedern, an der Rückseite derselben, Dörnchen ent- 
wickeln. Am letzten Gliede erscheinen diese auch an der Bauchseite und 
am Ende des Gliedes und sind auch wohl etwas gebogen, wodurch sie gleich- 
sam Greiforgame werden. 

Die untere Hälfte der Pinnula ist oft an der ventralen Seite, wo sie 
aus Weichtheilen besteht, bauchig angeschwollen. Dieser Umstand kömmt 
nicht bei der Artenbeschreibung in Betracht. Da nämlich hier die Ge- 
schlechtsorgane liegen, so zeigt diese Anschwellung nur die Reife der 
Geschlechtsproducte an. Die ventrale Seite des Mittelstücks oder der 
Scheibe des Thiers ist von derselben weichen Haut bedeckt, welche die 
Lücken zwischen den Kelchradien und der Dorsalseite ausfüllt. Diese 
Membran bedeckt auch die Ventralseite der Arme und Pinnulae. Bei den 
mehrsten Comatulen ist sie weich, gefärbt, seltener trägt sie kalkige Körner 
oder Papillen oder ist gar mit Kalkplättchen getäfelt. Auf der ventralen 
weichen Haut der Pinnulae und der Arme selbst befindet sich in dieser Haut 
eine Rinne. Die Rinnen der Pinnulae führen in die Rinne ihres Armes und 
die Rinnen der Arme setzen sich auf der Ventralseite der Scheibe bis zum 
Munde fort. An den Seitenwänden der Rinne formirt sich die Haut in einen 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 243 


stützenden feinen Kamm von Blättchen, an ihrer äufseren Seite geht bei 
vielen Comatulen ein Zug von dunkeln punktförmigen oft dunkelrothen 
Flecken. In den Rinnen selbst befindet sich ein Zug von kleinen mikro- 
skopischen Tentakeln, welche die Nahrung von den Pinnulae und Armen 
bis zum Munde fortbewegen. 

Die Rinnen der 10 von 5 Kelchradien getragenen Arme setzen ihren 
Weg nach dem meist centralen oder auch excentrischen Munde fort. Ehe 
sie diesen erreichen vereinigen sie sich meist je zwei mit einander, nämlich 
diejenigen die zu demselben Armstamm gehören, so dafs dadurch aus 10 
nunmehr 5 Rinnen am Munde zusammen kommen. Die Felder der Scheibe 
zwischen den 5 Hauptrinnen nenne ich Interpalmarfelder. Die Ecken dieser 
Felder am Munde bilden eben so viele Klappen über dem Eingang in den 
runden Mund. In einem der 5 Interpalmarfelder befindet sich der in eine 
Röhre ausgezogene After, dem Munde bald näher bald ferner. 

Die Beschreibung der Arten der Comatulen kann sich nur auf die 
allseitige Berücksichtigung aller bisher aufgeführten Formverhältnisse grün- 
den, und sind die Charactere, welche bis jetzt z. B. von Lamarck in den 
Diagnosen der Arten benutzt worden sind, völlig unzureichend. Abbildun- 
gen der Arten können nur dann zweckmäfsig sein, wenn sie in alle diese 
feineren Details eingehen; selbst die eines Savigny in der Description de 
l’Egypte, dessen Zeichnungen überall das genaueste Studium verrathen, 
genügen diesen Anforderungen nicht ganz, viel weniger wird man von andern 
nur im Allgemeinen die Natur wiedergebenden Bildern erwarten können. 
Es läfst sich daraus meist nur entnehmen, dafs es sich um eine Comatule 
von 10 oder 20 oder mehr Armen handelt. Ist die Beschreibung aber auf 
die Analyse der Formverhältnisse, auf welche es ankömmt, mit der Loupe 
gegründet, so ist die Abbildung der Species überflüssig und mufs sich viel- 
mehr nach der Beschreibung selbst das Schema einer Art entwerfen lassen. 
Aus diesem Grunde ist bei dieser Abhandlung von Abbildung der Arten 
ganz abgesehen worden. 

Es frägt sich, in wie weit eine Ordnung der Comatulen in Unter- 
gattungen ausführbar ist. Es sind mehrere Versuche dazu gemacht worden. 
Die ungestielten fossilen Crinoiden ohne Knopf und Cirren, die Gattungen 
Saccocoma Agassiz (Comatula tenella, pectinata, filiformis Goldf.) und 
Marsupites Mant. kommen hierbei nicht in Betracht, da sie zu ganz andern 


Hh2 


244 MiüuLıseEr 


Familien von Crinoiden gehören. Dagegen bildet die fossile Gattung Sola- 
nocrinus Goldf. eine besondere Abtheilung der eigentlichen Comatulen. 
Diese Gattung zeichnet sich nämlich von den übrigen Comatulen aus, dafs 
sie über dem mit Cirren besetzten Knopf noch Basalstücke zwischen den 
Insertionen der Kelchradien besitzt, welche die Basalia der Pentacrinus 
wiederholen. Goldfufs hat diese 5 kleinen Basalstücke auch bei einer 
noch lebenden Comatula, seiner indischen Comatula multiradiata beobachtet 
und Agassiz hat hierauf seine Gattung Comaster gegründet, welche in- 
defs durch den Besitz der Basalia von den fossilen Solanocrinus nicht mehr 
verschieden sein würde. Ich habe diese Basalia noch bei keiner lebenden 
Comatula beobachtet, so eifrig ich auch danach suchte. Wo das unterste 
Radialglied des Kelches versteckt ist, sind nur die Ecken desselben sichtbar, 
so zwar, dafs die aneinander stofsenden Ecken zweier radialia einen durch 
eine Nath getheilten Vorsprung über dem Knopf bilden. Daraus geht her- 
vor, dafs die Gegenwart wirklicher Basalia ohne Zerlegung bei einer leben- 
den Comatule, auch dann, wenn sie wirklich solche besitzt, schwer zu er- 
kennen sein mufs. Die Unterscheidung der Comaster und Comatula wird 
daher bei der Ordnung der lebenden Comatulen unpractisch ('). 

Ich habe auf einen Unterschied der Tentakel-Furchen auf der Scheibe 
der lebenden Comatulen aufmerksam gemacht. Bei den mehrsten Arten 
sind die Furchen symmetrisch angebracht und sind 
die 5 Stämme der von den Armen kommenden 
Furchen auf den centralen Mund gerichtet, den sie 
. erreichen. Die Afterröhre exentrisch. S. Fig. Bei 
der Comatula solaris Mus. Vienn. ist dies nicht der 
Fall. Bei dieser, die ich im Jahre 1840 zu Wien 
untersucht, war die Mitte der Scheibe von der 
Afterröhre eingenommen. Die Furchen der 10 


Arme mündeten aber in gleichen Abständen in eine 


(') Kürzlich habe ich die einzige im Museum zu Bonn befindliche Comatula muli- 
radiata, (nicht das von Goldfuls zerlegte Exemplar, wovon ich nichts mehr vorfand) 
untersucht. Ich habe daran nichts von Beckenstücken erkennen können. Die Gattung 
Comaster ist daher wohl zu unterdrücken. Die Cirren hatten gegen 23 Glieder. Die 
2 ersten Pinnulae sind sehr lang, die folgenden etwas kürzer, dann folgen kurze. Maul 
excentrisch, 5 Furchen gehen vom Munde, um sich für die Armstämme zu theilen, wie 
bei den gewöhnlichen Comatulen. Gegen 5 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 245 


die Scheibe am Rande umziehende Cirkelfurche, was 
mich bestimmte diese Form, welche ich später in 
Lund noch an 2 Comatulen, nämlich an Asterias multi- 
@ radiata Retz. und 4sterias pectinata Retz. wieder- 
= sah(!), unter dem Namen Actinometra von den übri- 
gen Comatulen abzusondern. In der Anatomie des 
Pentacrinus versuchte ich diese Anordnung der Furchen durch eine unsym- 
metrische Vergröfserung desjenigen Interpalmarfeldes, worin die After- 
röhre steht, über den ganzen Scheitel und auf Kosten der anderen Inter- 
palmarfelder zu erklären, so dafs der Mund aus der Mitte des Scheitels 
ganz an die Seite zwischen 2 Arme geräth. Es war mir aber an den 
trocknen Comatulen nicht gelungen den Mund zu finden, ich mufste daher 
die Aufklärung dieses Gegenstandes von der Untersuchung frischer oder 
Spiritusexemplare abhängig machen und verschieben. Und dies ist einer 
der Gründe, die mich bewogen, der Anatomie des 
Pentacrinus nicht sogleich den Abschlufs der Coma- 
tulen folgen zu lassen. Ich habe nun in neuerer 
Zeit Gelegenheit habt, mehrere Comatulen von jener 
& Anordnung der Furchen, sowohl zehnarmige als viel- 
armige, in Spiritus zu untersuchen. Siehe die bei- 

stehende Figur von Comatula Wahlbergü. 
Der Mund ist bei der in Frage stehenden Abweichung 
N 7 allerdings vorhanden, er liegt ganz zur 
SE / ’ Seite, doch ist dies nicht die Ursache des 
Unterschiedes, es giebt vielmehr auch Co- 
matulen von der gewöhnlichen Anordnung 
5 der Furchen, bei denen gleichwohl der 
a) Mund seitlich, die Afterröhre central steht. 
h Fig. von C. multiradiata. Die fragliche 
Abweichung beruht vielmehr darauf, dafs 
die 5 Furchen nicht symmetrisch für die 
5 Gruppen der Arme vertheilt werden, 
sondern dafs von den 5 Furchen einzelne 
herrschend werden und Aeste an die meisten 


(') Von mir beschrieben in Wiegmann’s Archiv f. Naturgeschichte 1843. I. p. 133. 


246 Müunzser 


Arme abgeben. Indem diese Hauptfurchen, nachdem sie die Scheibe 
umzogen, sich wieder annähern, so entsteht der Schein eines Cirkels. An 
in Weingeist aufbewahrten Exemplaren sieht man indefs, dafs es kein ge- 
schlossner Cirkel ist. 

Hierdurch verliert der Unterschied, der übrigens in verschiedenen 
Exemplaren derselben Species sich bewährt, sehr viel an systematischem 
Werth und da ein Theil der bekannten Arten der Comatulen überhaupt 
nicht auf die Anordnung der Furchen untersucht ist, so mufs ich es aufge- 
ben, alle Arten hiernach zu ordnen. Ich werde daher bei den Arten, wo 
5 centripetale Furchen beobachtet sind, den Namen (4lecto )(!) in Klammer 
dem Gattungsnamen Comatula beifügen, wo aber weniger Furchenstämme 
den exentrischen Mund erreichen, den Namen (Actinometra) demselben 
Gattungsnamen Comatula folgen lassen(?). Also z. B. Comatula (Alecto) 
europaea, Comatula (* Actinometra) solaris. 

Mehrere von Linck, Seba, Leach, Risso, Say, u. A. 
unkenntlich beschriebene oder abgebildete Comatulen, bei denen keine 
Recognition durch Untersuchung von Originalexemplaren stattfinden konnte, 
gehören zur zweifelhaften Synonymie. 

Der Beschreibung der Arten mag eine Uebersicht eines grofsen Theils 
derselben nach der Lage derSyzygien, bei welchen Arten nämlich diese Lage 
bekannt ist, vorausgehen. 


.. €‘) Der Name Alecto für die Comatulen ist von Leach aufgestellt. Zool. Misc. 2. 1815. 
Später (1816) ist der Lamarcksche Name Comatula gegeben. Alecto ist auch von Lamou- 
roux später (1821) eine Polygengattung genannt. 

(°) Die Furchen der Scheibe sind in allen Fällen, wo nur die Autopsie möglich 
war, nachgesehen, aber selbst die in Weingeist aufbewahrten Exemplare lassen nicht immer 
eine Einsicht der Scheibe zu, wenn die Arme der Comatula enge zusammengezogen sind. 


Comatula 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 247 


Sowohl am ersten als am zwei- |C. solaris. 
ten Armglied ein Syzygium, )C. brachiolata. 
erste Pinnula am Epizygale |C. rosea. 
des ersten Syzygiums. C. purpurea. 


mit 10 Armen. c. echinoptera. 
C. adeonae. 
C. carinata. 
Am dritten Armglied ein Sy- |C. europaca. 


zygium, Erste Pinnula am/C. phalangium. 


C. Eschrichtü. 
: Cumingü. 

C. Milberti. (?) 
C. Jacquinoti. (?) 


zweiten Armglied. 


C. rotalaria. 
C. Wahlbergü. 

C. Savignyi. 

ehr C. fimbriata. 


Arme. ©: Philiberti. 


C. Reynaudiüi. 


C. parvicirra. 


Die Axillaria 


der Arme mit ‚€. japonica. 
Syzygien. 
C. multiradiata. 
R Gegen 40 und Ei mslindas 
mit mehr als 10 mehr Arme. C. timorensis. 
Armen. 


C. novae Guineae. 
C©. Bennetti. 
C. articulata. 


Die Axillaria der Arme ohne 
Syzygium. 


C. palmata. 
Jlagellata. 


C. elongata. 


248 MÜLLER 


_ 


I. Arten mit 10 Armen oder einfacher Theilung der Radien. 


Comatula (Actinometra) solaris Lam. 
PAsterias pectinata Retz. Diss. p. 34. Spec. 47. Wiegm. Arch. 1843. p. 133. 


Comatula solaris Lam. 


Actinometra imperialis. Müll. Monatsbericht d. Acad. d. Wiss. 1841. p. 181. 
Wiegm. 1841. I, p. 141. 
Alecto solaris. Müll. Wiegm. Arch. 1843. I. p. 135.(') 

10 Arme. Centralknopf ganz flach, eine pentagonale Scheibe, in 
der Mitte sogar ausgehöhlt. Ranken blos am äufsersten Rande, nur in einer 
Reihe 14 bis 18 mit 14 bis 20 Gliedern, die so breit als lang sind. Die 
mittleren Glieder an den jüngeren Ranken sind länger als breit. Die Basis 
der Ranken ist dicker; dann verschmälern sie sich und behalten weiterhin 
ihren Durchmesser. 3 sehr niedrige radialia, wovon das dritte radiale 
axillare, es scheint dem zweiten durch Nath verbunden. Das erste Arm- 
glied scheint ein Syzygium zu haben. Die erste Pinnula am Epizygale, das 
folgende Glied ist wieder ein Syzygium. Weiterhin 2 - 5 Glieder zwischen 
den Syzygien der Arme. Die Glieder der 10 Arme sind am Rücken flach, 
sie bilden von einer Seite zur andern abwechselnde Keile und greifen im 
Zickzack in einander, so dafs die dünnern Enden der Keile an den Seiten 
nur als Rand zwischen den dicken zum Vorschein kommen. Die Anfänge 
der Arme sind dünner als der nächstfolgende Theil ihrer Fortsetzung. Die 
erste Pinnula ist die gröfste, die folgende derselben Seite ist auch grofs, 
aber schon kleiner. Die dritte ist sehr klein und nun nehmen die folgenden 
an Länge zu. An der zweiten Pinnula zeichnen sich die untersten Glieder 
durch ihre Erweiterung aus. Die Glieder der Pinnulae sind übrigens seitlich 
comprimirt, meist breiter als hoch und haben einen scharfen hintern Rand. 
Die Enden der ersten Pinnulae haben hier stark hervorstehende Fortsätze 
und bilden dadurch eine Geissel. Die Oberseite der Scheibe ist mit Kalk- 
plättchen besetzt, auf denen zuweilen hin und wieder blumenartige Knöt- 


(') Ich kannte die Comatula solaris Lam. bisher nur nach der Beschreibung, welche 
Hr. Dr. Troschel vor einigen Jahren im Museum zu Paris entwarf und mufste sie danach 
für verschieden von der von mir zu Wien beschriebenen Comatula solaris halten, die von 
Paris gekommen. Kürzlich habe ich die Originalexemplare von Lamarck in Paris unter- 
sucht, wobei ich mich von der Identität derselben mit der von mir beschriebenen Co- 


matula überzeugt. 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 249 


chen aufsitzen mit mehreren blattartigen Fortsätzen. Farbe im trockenen 
Zustande orange, frisch wahrscheinlich purpurroth. Gröfse 2 Fufs. Vater- 
land Indien. 

Im Museum zu Paris trocken durch Peron. In den Museen zu Wien 
und Leyden. 

Die Asterias pectinata Retz., von der ich in Wiegm. Archiv 1843 
p- 133 nach dem Originalexemplar in Lund ausführlichere Kenntnifs gab, 
scheint eine Farbenvarietät dieser Art zu sein, sie stimmt sonst in allen 
Beziehungen, wie aus der dort gelieferten Beschreibung hervorgeht, in den 
Ranken, in den Syzygien, Stellung und relativer Gröfse der Pinnulae, Ge- 
stalt der Arme, Furchen der Scheibe. Die Farbenzeichnung ist aber sehr 
eigenthümlich. Auf der Rückseite der Arme sehr regelmäfsig zwei schwarze 
Längslinien, die in der Mitte durch eine helle Linie getrennt sind. 

Eine von mir ebend. p. 132 als Alecto purpurea bezeichnete und 
beschriebene kleine Comatul (5 Zoll), die von Neuholland durch Preifs an 
das hiesige zoolog. Museum gelangt, hat auch dieselbe Lage der Syzygien 
am ersten und dann wieder am zweiten Armgliede, dieselbe Stellung der 
ersten Pinnula, dieselben Gröfsenverhältnisse der ersten Pinnulae. Sie 
weicht nur in der Zahl der Radialglieder ab, von denen zwei sichtbar sind, 
welche ein Syzygium bilden. Vielleicht Altersverschiedenheit, Jugend- 
zustand. 


Comatula brachiolata Lam. 
Comatula brachiolata Lam. 
Alecto brachiolata. Müll. Wiegm. Arch. 1843. I. p. 135. 

10 Arme. 15 Ranken des Knopfes, in einer Reihe am Umfang, die 
ganze übrige Fläche frei. Rankenglieder 31-36. Jedes der beiden ersten 
Glieder über dem radiale axillare hat ein Syzygium, dann liegen 3-6 Glie- 
der zwischen den Syzygien der Arme. Die Glieder springen abwechselnd 
nach beiden Seiten hin stark vor. Der Rücken der Arme ist glatt. Die 
ersten Pinnulae sind die längsten, an ihnen springen die letzten 8 Glieder 
spitz vor und bilden eine Art Säge, ähnlich wie bei €. echinoptera. Die 
Glieder aller Pinnulae sind stark abgesetzt und rosenkranzförmig. Fundort 
unbekannt. 

Im Museum zu Paris trocken. 


Phys. Kl. 1847. Ti 


350 MÜLLER 


Diese Art ist der vorhergehenden in allen Beziehungen verwandt 
mit Ausnahme der viel gröfseren Zahl der Rankenglieder und der Gestalt 
der Pinnulae. 


Comatula rosea Mus. Vienn. 
Alecto rosea. Müll. Monatsb. Acad. 1841, p. 183. Wiegm. Arch. 1841. p. 143. 


10 Arme. Knopf sehr breit ganz flach, am Rande eine Reihe von 
18 Ranken mit 32 niedrigen Gliedern, die breiter als lang sind, die ersten 
doppelt so breit als lang. Die Basis der Ranken ist conisch und viel breiter 
als weiterhin, wo der Durchmesser gleich bleibt. Die Radien haben nur 
3 sichtbare Glieder und diese bilden ein Syzygium. Die Armglieder haben 
sehr starke abwechselnd vorspringende Ecken. Der Anfang der Arme ist 
dünner als weiterhin, wo sie spindelförmig sind und rasch abnehmen. 4-6 
Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Das erste Armglied hat ein Sy- 
zygium, wie auch mehrentheils das folgende. Die erste Pinnula befindet sich 
am Epizygalglied. Die ersten Pinnulae sind nicht ausgezeichnet. Die 
gröfste ist die fünfte ihrer Seite, wo die Arme am dicksten. Von da an 
nehmen die Pinnulae allmählig ab. Ihre Glieder sind breiter als hoch. 
Farbe röthlich. Gröfse 5 Zoll. Fundort Neuholland. 

Im Museum zu Berlin durch Preisf, im Museum zu Wien. 

Diese Art ist der €. brachiolata Lam. sehr verwandt, wenn nicht 
damit identisch ; sie unterscheidet sich davon durch die abweichende Be- 
schaffenheit der ersten Pinnulae. 


Comatula (Alecto) echinoptera. Nob. 
Alecto echinoptera. Müll. Monatsb. Acad. 1841 p. 183. Wiegm. Arch. 1841 p- 143. 


40 Arme. Centralknopf flach, mit 20 kurzen Ranken von 11 seitlich 
comprimirten Gliedern, der gröfsere mittlere Theil des Knopfes von Ranken 
frei. Armglieder am Anfang der Arme schwach dachziegelförmig. Das 
erste Syzygium am dritten Armglied, weiterhin 2-5 Glieder zwischen 
den Syzygien der Arme. Die erste Pinnula etwas grölser, steht am zweiten 
Armglied. Die 7 letzten Glieder der Pinnulae des Anfangs der Arme mit 
langem hohen Kiel an der Rückseite, eine Geissel oder Säge bildend. Der 


hintere Rand des dritten Gliedes der ersten Pinnula mit starkem Vorsprung. 


über die Gattung Comalula Lam. und ihre Arten. 351 


Die Scheibe ist mit einzelnen zerstreuten, kleinen harten walzenförmigen 
Papillen besetzt. 8 Zoll bis 1 Fufs. Fundort? 
Im zool. Museum zu Berlin in Weingeist durch Cap. Wendt. 


Comatula tessellata Nob. 
Alecto tessellata. Müll. Monatsb. Acad. 1841. p. 184. Wiegm. Arch. 1841. p. 144. 
40 Arme. 20-25 Ranken mit 45 Gliedern, die kaum so lang als 
breit, die letzten 24 mit Dörnchen. Das unterste der 3 Radialia des Kel- 
ches sehr niedrig. Zwischen den Syzygien der Arme 7-10, seltener bis 
14 Glieder, die Glieder sehr niedrig, schüsselförmig, dachziegelförmig, 
ohne Kiel. Die zweite, dritte, auch wohl vierte äufsere Pinnula sind die 
gröfsten. Haut der Scheibe mit kleinen Knochenplättchen bedeckt. Farbe 
überall violett. Gröfse 1-14 Fufs. Indien. 
Im Museum zu Bamberg durch Schönlein. 


Comatula Milleri Nob. 


Comatula fimbriata Mill. Crinoid. mit Abbildung, verschieden von €. fimdriata Lam. 
10 Arme. Cirren mit 21 Gliedern, zwei niedrige Radialia sind sicht- 
bar, das radiale axillare ist dreieckig. Die Scheibe mit Kalkplättchen getäfelt. 
Dies ist das einzige, was man von ihr weils. Wenn sie wirklich von der 
englischen Küste (Hafen von Milford) ist, wie angegeben wird, so ist sie 
jedenfalls von den andern europäischen Arten verschieden. Sie ist seit 
Miller nicht wiedergesehen. 


Comatula adeonae Lam. 


C. adeonae Lam. II. p. 535. 
C. adeonae Blainv. Actin. Tab. XXVI. 
Alecto adeonae. Müll. in Wiegm. Arch. 1843. I. p. 135. 


10 Arme. 20 Ranken am Knopf, aus 20 Gliedern bestehend, deren 
vorletztes nach innen einen kleinen Dorn trägt. 3 Glieder der Radien. Diese 
so wie die nächstfolgenden Glieder sind breit und bilden zwei scharfe Kanten. 
Ueber dem radiale axillare hat das dritte Glied das erste Syzygium. Wei- 
terhin 3-5 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Die Pinnulae sind 
alle lang. Die ersten 3-4 die längsten. Gröfse 4 Zoll. Fundort Neuholland. 

Im Museum zu Paris durch Peron. 

1i2 


2352 MÜLLER 


Comatula (Alecto) carinata Lam. 


Alecto carinata Leach. Zool. Misc. II. p. 693. 

Comatula carinata Lam. Il. p. 539. 

Comatula carinata. Griffith anım. Kingd. Zoophytes Tab. 8. 
Alecto carinata. Müll. Wiegm. Arch. 1843 I. p. 135. 


10 Arme. Gegen 35 Ranken am Knopf, 24 Glieder der Ranken, 
ohne Fortsatz. Die Armglieder sind niedrig, am aboralen Rande breiter 
und daher wie dachziegelförmig. Die Dorsalseite der Armglieder ist gekielt, 
an der Rückseite des aboralen Randes der Armglieder ein Knötchen. Das 
dritte Armglied hat das erste Syzygium. Weiterhin 2-5 Glieder zwi- 
schen den Syzygien der Arme. Die erste Pinnula am zweiten Armglied, 
die 8-9 ersten Pinnulae der Arme auf jeder Seite sind etwas gröfser, so 
zwar, dafs sie von der ersten allmählig zunehmen, gegen die Ste und 9te 
Pinnula hin wieder abnehmen. Die Glieder der Pinnulae, besonders am 
diekern Theil der Arme, sind kurz, breiter als lang, comprimirt und mit 
hinterm in ganzer Länge zugeschärftem Rande versehen. Haut der Scheibe 
nackt. Gegen 8 Zoll grofs. Fundort Isle de France. 

In den Museen zu Berlin und Paris. 


Comatula (Alecto) mediterranea Lam. 


Comatula mediterranea Lam. Il. p. 535. Heusinger Zeitschr. für org. Phys. IM. 
Tab. 10.511. 
Comatula mediterranea Goldf. Petrefact. T. 61. Fig. 1. 

10 Arme. Knopf convex niedrig. 30-40 Ranken, welche den Knopf 
überall mit Ausnahme der Mitte besetzen. Die Ranken von 18-20 Gliedern. 
Die Glieder etwas comprimirt, anderthalb bis doppelt so lang als breit; das 
letzte hat aufser dem Haken ein Dörnchen. 3 Radialia. Die Glieder der Arme 
stehen abwechselnd an den Seiten etwas vor, die Seiten der Arme daher 
leicht wellenförmig. Das erste Syzygium befindet sich am dritten Armglied, 
weiterhin 2-4 Glieder zwischen den Syzygien. Die erste Pinnula am zweiten 
Armglied ist gröfser als die folgenden. Haut der Scheibe nackt. Farbe 
frisch purpurroth zuweilen gelblich, einzelne sind auf der Bauchseite der 
Arme um die Furchen weifsgefleckt. Fundort: Mittelmeer. 

Im anat. Museum zu Berlin durch J. Müller aus Triest und 
Marseille, durch Peters aus Nizza. 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 253 


Comatula (Alecto) phalangium Nob. 
Alecto phalangium. Müll. Monatsbericht Acad. 1841. p. 182. 


40 Arme. Der Centralknopf ist sehr hoch und schmal, fast höher 
als breit, das Ende abgerundet. 25-30 Ranken an den Seiten. Die Ran- 
ken sind zur Gröfse des Thiers ganz aufserordentlich lang mit 45 langen 
dünnen Gliedern. Endglied gestreckt ohne Dörnchen der Innenseite; die 
Glieder, mit Ausnahme der ersten (an der Basis), sind 2-24 mal so lang 
als breit. 3 Radialia, wovon das erste wenig sichtbar, das dritte axillar. 
Armglieder abwechselnd seitlich verschoben, wie bei C. mediterranea. Das 
erste Syzygium am dritten Armglied. Weiterhin 2-5 Glieder zwischen den 
Syzygien der Arme. Die erste Pinnula am zweiten Armglied. Die ersten 
Pinnulae sind sehr lang, dünn, zuletzt fadenförmig. Ihre untersten Glie- 
der sind kurz, nicht breiter als lang, weiterhin und gegen das Ende der 
Pinnulae sind die Glieder sehr lang und dünn, zuletzt 5-6 mal so lang als 
breit. Haut der Scheibe nackt. Gröfse 5-6 Zoll und mehr. 

Vaterland : Mittelmeer. 

Im anatom. und zool. Museum zu Berlin in Weingeist durch Dr. 
Peters von Nizza und aufserdem von Neapel. 


Comatula (Alecto) Petasus v. D. et K. 


Alecto Petasus von Düben et Koren. K. Vetensk. Akad. Handl. för 1844. p. 229. 
abaVL2 BIN T, 

40 Arme. Knopf conisch, überall mit Ranken bedeckt, deren gegen 
50, diese etwas comprimirt mit 11-17 Gliedern, die nicht länger als breit. 
Zwischen den Syzygien der Arme meist 4 Glieder. Die erste Pinnula sehr 
lang, mehr als doppelt so lang als die dritte. Farbe variirt von Braunroth, 
Hochroth zum Gelben. Fundort: Bohuslän. 

Diese Art habe ich wohl in Schweden gesehen, aber damals nicht von 
C. mediterranea unterschieden. Sie wäre noch mit C. Milleri von Milford’s 
haven zu vergleichen. 


954 Müruer 


Comatula (Alecio) Sarsiiv. D. et K. 


Alecto Sarsii von Düben et Koren. K. Vetensk. Acad. Handl. 1844 p. 231. Tab. VI. Fig. 2. 
Comatula mediterranea? Sars Beskriv. og Jagtagels. p. 40. Tab. 8. Fig. 19 a-g. 


10 Arme. Knopf conisch, dieht mit Ranken besetzt, deren gegen 
40 sind. Sie sind sehr dünn, die längsten mit 20 Gliedern, die kürzeren 
mit 13-16 Gliedern, von denen die untersten (wie gewöhnlich) kurz, das 
das dritte bedeutend länger, das vierte bis sechste die längsten, ungefähr 3 
mal so lang als breit sind, worauf die folgenden an Länge abnehmen, so 
dafs die letzten wenig länger als breit sind. Das Endglied mit einem Dorn 
aufser dem Haken. 3-5 meist 4 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. 
Die 4-5 untersten Pinnulae sind fadenförmig und lang, und bestehen aus 
20 Gliedern, die folgenden nur halb so lang aus nur 8-10 Gliedern; dann 
nehmen sie wieder an Länge zu, so dafs die Pinnulae an den Enden der 
Arme gegen 15-16 Glieder haben. Den Durchmesser der Scheibe geben 
v. Düben und Koren zu 6 Millim., die Länge der Arme ungefähr zu 
40-50 Millim., die Länge der Ranken zu 7-8 Millim. an. Das von Sars 
abgebildete Exemplar war etwas gröfser, so wie auch dasjenige, welches 
ich von Hrn. Sars geschickt erhalten. Farbe licht-graubraun. Fundort: 
Norwegen. 

Im Museum zu Berlin durch Sars. 


Comatula (Alecto) Eschrichtü Nob. 


Alecto Eschrichti. Müll. Monatsb. Acad. 1841. p. 183. Wiegm. Arch. 1841. p. 142. 


10 Arme. Centralknopf halbkugelförmig, überall mit Ranken besetzt, 
100 Ranken von 45-50 Gliedern, welche am mittlern Theil der Ranken 
gegen 2 mal so lang als breit, gegen das Ende nicht länger als breit sind. 
Radienglieder des Kelches sehr niedrig, mehrmal breiter als hoch, nur 2 
Glieder sind aufsen sichtbar, wovon das zweite axillar. Das erste Syzygium 
am dritten Armglied, weiterhin 2-3, selten 4 Glieder zwischen den Syzy- 
gien der Arme. Glieder der Arme keilförmig in einander greifend, gegen 
das Ende der Arme sehr niedrig. Die erste Pinnula am zweiten Armgliede. 
Die Pinnulae am dicken Theil der Arme mit breiten comprimirten Gliedern 
und hinterm scharfen Rande. Weiterhin haben die Pinnulae nur ihre 
beiden untersten Glieder so breit, die übrigen rundlich. Die ersten Pin- 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 255 


nulae sind kleiner, sie nehmen allmählig an Länge zu. Haut der Scheibe 
nackt. Farbe hell. Gröfse 2 Fufs und mehr. Vaterland: Grönland, 

Im anatom. und zoolog. Museum zu Berlin in Weingeist durch 
Eschricht, auch im Museum zu Paris. 


Comatula (Alecto) Milberti N alenc. 
Comatula (Alecto) Milberi Müll. Monatsber. d. Acad. 1846. p. 178. 

10 Arme. Knopf convex. 25-30 Cirren mit 35 Gliedern, von der 
Hälfte an mit einem Dorn in der Mitte der Glieder, der quer absteht. Das 
unterste der 3 Radialia ist äufserst niedrig. Die Glieder der Arme sind 
niedrig. 8-9 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Die zweite, dritte 
und vierte Pinnula sind die gröfsten. Bauchseite der Scheibe weich. Farbe 
schwarzbraun. Gröfse gegen 2 Fufs. Fundort: Nordamerika. 

Im Museum zu Paris in Weingeist durch Milbert von New-York. 


Comatula Jacquinoti N al. 
Comatula Jacquinoti Müll. Monatsber. d. Acad. 1846. p. 178. 

10 Arme. Der Knopf ist ziemlich convex und scheint ganz mit Cirren 
besetzt zu sein. Cirren 22. Diese haben 35 Glieder, nach dem Ende der 
Cirren oder viel früher entwickelt sich an den Gliedern ein Dornfortsatz, 
und zwar am vordern Theil des Gliedes, er ist vorwärts gerichtet. Die 
Cirrenglieder sind breiter als lang. 3 Radialia sind sichtbar, das unterste 
sehr niedrig. Die Armglieder niedrig. 3-6 Glieder zwischen den Syzygien 
der Arme. Die 3-4 ersten Pinnulae sind stärker. Farbe schwarzbraun. 
Gröfse ausgebreitet gegen 2 Fufs. Fundort: Ceram. 


Im Museum zu Paris in Weingeist durch Jacquinot, Expedition de 
la Zelee. 


Comatula Cumingü Nob. 


10 Arme. Knopf platt. Cirren nur in einer Reihe am Rande, 12. 
Zahl der Glieder? 3 Radialia. Das erste Syzygium am dritten Gliede über 
der Theilung, 6 Glieder bis zum nächsten Syzygium; dann meist 3 Glieder 
zwischen den Syzygien. Die ersten Pinnulae sind lang. Farbe gelbbraun. 
Gröfse: einige Zoll grofs. Fundort: Malacca. 

Im Museum zu Berlin durch Cuming. 


256 Müurser 


- N. Arten mit mehrfacher Theilung der Radien. 


Comatula (Actinometra) rotalarıa Lam. 


Comatula rotalaria Lam. II, p. 534. 
Alecto rotalaria. Müll. Wiegm. Arch. 1843. p. 136. 


20-22 Arme. Knopf ein Pentagon. Ranken? Die Radien bestehen 
aus 2 durch Syzygie verbundenen Gliedern. Auf diese folgen unmittelbar 
wieder Axillaria, die wieder mit Syzygie versehen sind. Dann folgt nur 
noch selten weitere Verästelung, also 20 Arme die Grundzahl. Nun liegen 
3-5 Glieder zwischen den Syzygien der Arme, meist aber 4. Die Arme 
sind stark und haben ziemlich gerade Seitenlinien. Die ersten Pinnulae sind 
lang, die übrigen nehmen bis ans Ende der Arme nur wenig an Gröfse ab. 
Auf der Bauchseite der Scheibe bei trocknen Individuen rundliche Kalk- 
körner. Gröfse 10 Zoll. Australien. 

Im Museum zu Paris trocken. 


Comatula (Actinometra) VWahlbergü Nob. 
Alecto Wahlbergi. Müll. in Wiegm. Archiv. 1843. I. p. 131. 


20 Arme. Knopf ganz flach, selbst ausgehöhlt, Ranken am Umfang 
24 mit gegen 17 Gliedern. Von der Hälfte der Länge der Ranken an haben 
ihre Glieder innen ein Dörnchen. Die untersten Rankenglieder sind dicker 
und breiter als lang, die weiteren länger als breit, noch weiterhin bis ans 
Ende so lang wie breit. Radialglieder sind nur 2 sichtbar. Nach der Thei- 
lung 3 Glieder bis zur zweiten Theilung, wovon das zweite aufsen eine 
Pinnula, das dritte ein Syzygium hat. 3-5 Glieder zwischen den Syzygien 
der Arme. Die Armglieder sind niedrig. Die erste Pinnula ist gröfser als 
die zweite, diese gröfser als die dritte. Am Anfang der Arme sind die letz- 
ten Glieder der Pinnulae mit einem hohen vorspringenden Kiel versehen. 
Farbe gelbgrün. Gröfse 5-6 Zoll. Fundort: Port Natal. 

Im Museum der Acad. d. Wiss. zu Stockholm durch Wahlberg. 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 257 


Comatula (Alecto) Saeignü Nob. 


Description de l’Egypte. Echinodermes pl. 1. fig. 1. 
Alecto Savignü. Müll. Monatsbericht Acad. 1841. p. 185. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 144. 


20 Arme. Knopf mit 30 Ranken, von 24-29 Gliedern, wovon die 
12-14 letzten einen Fortsatz an der innern Seite besitzen. Drei Radialia 
des Kelchs. Das radiale axillare ohne Syzygium. Von da bis zur nächsten 
Theilung 3 Glieder, wovon das dritte axillar und ein Syzygium besitzt. An 
der nächsten Theilung hat das Axillare kein Syzygium. An den Armen 3-8 
Glieder zwischen den Syzygien. Das zweite Glied über dem radiale 
axillare kann sich auf dem ersten Armglied seitlich d. h. von einer zur an- 
dern Seite wiegen. Die Armglieder sind ohne Rauhigkeiten. Die erste 
Pinnula steht am zweiten Glied aufsen, sowohl nach der ersten als zweiten 
Theilung, die zweite und dritte Pinnula sind die gröfsten, zuweilen ist auch 
noch die vierte grofs. Die erste Pinnula ist anfangs dick, nimmt aber schnell 
ab und ist nicht so lang als die zweite. Die Haut der Scheibe ist weich. 
Farbe in Weingeist gelblich braun. Gröfse bis 1 Fufs. 

Vaterland: rothes Meer. 

Im zoolog. Museum zu Berlin in Weingeist durch Hemprich und 
Ehrenberg. 

Comatula elongata Mus. Leyd. 
Alecto elongata. Müll. Monatsb. Acad. 1841. p. 187. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 146. 

20 Arme. 15-20 Ranken mit 23-25 Gliedern; die letzten 15-17 
Glieder tragen nach innen einen spornartigen spitzen Haken, auch das letzte 
Glied noch aufser der Kralle. Die Axillaria ohne Syzygium. Zwischen 2 
Axillaria liegt immer nur ein Glied. Ueber dem letzten Axillare hat das 
dritte Glied ein Syzygium, weiterhin zwischen den Syzygien 5-11 Glieder. 
Die Pinnulae nehmen zuerst an Länge zu, so dafs die dritte die längste ist. 
Dann nehmen sie allmählig wieder ab. Ihre Glieder sind rund und glatt. 
Farbe dunkel. Gröfse 8 Zoll. Fundort: Neuguinea. 

Im Museum zu Leyden durch Salomon Müller. 


Comatula trichoptera N al. 
Comatula trichoptera. Müll. Monatsber. d. Acad. 1846. p. 178. 
20 Arme. Der Knopf der kleinen Comatul ist verhältnifsmäfsig grols, 
flach und selbst etwas concav. Die 30 Cirren zeichnen sich durch ihre 


Phys. Kl. 1847. Kk 


258 Mürser 


Feinheit aus, und stehen am Rande, sie haben 15 Glieder, diese sind com- 

primirt, nur die äufsersten haben eine Spur von Knötchen. Der Dorn fehlt 

meist am Hackenglied, Die ersten Pinnulae sind grofs. Die Farbe ist gelb. 

Gröfse wenn ausgebreitet 6 Zoll. Fundort: König Georges Hafen. Neuholland. 
Im Museum zu Paris in Weingeist durch Quoy und Gaimard. 


Comatula (Alecto) fimbriata Nob. 


Comatula fimbriata Lam. zum Theil. 

20 Arme. Der Knopf ist in der Mitte frei, flach, aufsen stehen 15 
Cirren mit 22 Gliedern, welche gegen das Ende allmählig ein Knötchen 
entwickeln. 3 Radialia, das rad. axillare ohne Syzygium, darauf bis zur 
nächsten Theilung wieder 3 Glieder, aber das dritte oder axillare hat ein 
Syzygium, also wie bei C. Savignü, aber die Stellung der Pinnulae ist ganz 
verschieden. Die erste Pinnula steht zwar am zweiten Gliede der 10 Arm- 
stämme, nach der nächsten Theilung aber steht die erste Pinnula ganz unge- 
wöhnlich am ersten Glied der 20 Arme, und das zweite Glied hat ein Syzy- 
gium. Weiterhin 5-9 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Die 
Glieder haben einen sehr rauhen aboralen Rand, selbst an den Syzygien. 
Die erste Pinnula ist die gröfste. Die Bauchseite der Scheibe ist weich mit 
seltnen zerstreuten Knötchen. Farbe gelb. Gröfse gegen 8 Zoll. Fundort: 
Trinquemale, Ceylon. 

Im Museum zu Paris in Weingeist durch Reynaud. 1829. Diese 
Comatul von 20 Armen findet sich auch trocken im Museum zu Paris mit 
der Bezeichnung Comatula multiradiata Lam. du voyage de Peron. 


Comatula macronema \al. 
Comatula macronema. Müll. Monatsber. d. Acad. 1846. p. 179. 

Kleine Comatul von 13-15 Armen, rundlichem Knopf mit 30 und 
mehr äufserst langen Cirren von 60-70 Gliedern, die gegen das Ende der 
Cirren ein Knötchen entwickeln. Aus den 5 Armstämmen von 3 Radial- 
gliedern entwickeln sich meist 3 Arme, so dafs sich ein Stamm zuerst in 
einen dicken und dünnen theilt, der dickere aber über dem zweiten Glied 
oder drachiale axillare sich wieder in 2 Arme theilt. Meist 3 Glieder zwi- 
schen den Syzygien der Arme. Die Armglieder sind anfangs rundlich, 
werden aber bald comprimirt und sehr stark gekielt, ihre Gräthe entwickelt 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 259 


sich gegen den aboralen Rand in einen aboral gerichteten Dorn. Die erste 
äufsere Pinnula ist klein, die folgenden sind grofs und nehmen erst allmählig 
ab. Farbe schmutzig röthlich. Gröfse gegen 6 Zoll. Fundort: König 
Georges Hafen. 

Im Museum zu Paris in Weingeist durch Quoy und Gaimard 
(1829). 


Comatula (Alecto) heynaudü Nal. 

Comatula (Alecto) Reynaudi. Müll. Monatsber. d. Acad 1846. p. 178. 

20 Arme. Knopf flach. Cirren gegen 20 am Rande, mit 40 Glie- 
dern, die allmählig nach innen ein Knötchen entwickeln. 3 Radialia, das 
dritte axillare ist ein Doppelglied mit Syzygium. An den Armen meist 7 
Glieder zwischen den Syzygien. Die zweite und dritte Pinnula sind länger. 
Die Bauchseite der Scheibe ist weich. Gröfse gegen 8 Zoll. Fundort: 
Ceylon. 

Im Museum zu Paris in Weingeist durch Reynaud, Expedition der 
Chevrette. 


Comatula Philiberti N al. 
25 Arme. Knopf in der Mitte flach. Cirren im Umkreis, mit 45 


Gliedern, die nicht länger als breit sind und wovon die mehrsten ein Knöt- 
chen haben, mit Ausnahme der unteren. 3 Radialia, die unteren sehr niedrig. 
Das radiale axillare ist ohne Syzygium. Von den Radien bis zur nächsten 
Theilung 3 Glieder, das zweite wiegt seitlich auf dem ersten, das dritte 
oder brachiale axillare hat ein Syzygium. Die 20 Secundärarme haben das 
zweite Glied wieder wiegend. Einige dieser Arme theilen sich nochmal über 
dem dritten Glied, welches dann axillar und wieder ein Syzygium besitzt. 
Auch wiegt das zweite Glied über der Theilung abermals. Die Armglieder 
werden bald sehr niedrig. Die zwei ersten Pinnulae sind noch klein, die 
zwei folgenden grofs, dann kleinere. Farbe scheint röthlich gewesen zu 
sein. Gröfse gegen 8 Zoll. Fundort: Java. 

Im Museum zu Paris in Weingeist durch Philibert. 

Unterscheidet sich von €. Savignü nur durch die grofse Zahl der 
Cirrenglieder und die unregelmäfsige Theilung der Arme. 


Kk2 


360 MÜLLER 


Comatula (Alecto) pareicirra Nob. 
Alecto parvieirra. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841 p. 185. Wiegm. Arch. 1841. p. 145. 


27 Arme, 20 und mehr Ranken, sehr dünn und kurz, mit 12 Glie- 
dern, das dritte Radiale des Kelches ist axillar, ohne Syzygium, dann ist 
jedes dritte Glied ein Syzygium und zugleich axillar, dann wieder jedes 
dritte Glied ein Syzygium und zuweilen axillar. Nun ist das sechste oder 
siebente Glied ein Syzygium. Weiterhin 2-4 Glieder zwischen den Syzy- 
gien der Arme. Pinnulae ziemlich gleichförmig. Gröfse 6 Zoll. Fundort? 

Im Museum zu Paris. 

Bei einer wahrscheinlich hierher gehörenden Comatul mit 35 Armen 
von Vavao durch Jacquinot, die ich kürzlich in Paris beobachtete, ist der 
Knopf sehr klein im Verhältnifs zur Dicke der Armstämme, weil nicht blos 
das erste sondern auch das zweite Radiale sich an das gleiche des nächsten 
Armstammes anlegt. Auch das erste Glied über der Theilung der Arm- 
stämme legt sich an das gleichnamige seines Nachbars an und gewinnt dadurch 
an Breite. Der Knopf ist abgeplattet und die dünnen Cirren nur am Rande, 
wenig zahlreich. 3 Radialien. Das dritte Glied der Arme nach der ersten 
Theilung der Armstämme ist axillar und hat ein Syzygium, nach der zweiten 
Theilung wieder 3 Glieder bis zur nächsten Theilung, das dritte axillar mit 
Syzygium. Die Armglieder sind glatt und ihre aboralen Ränder stehen 
schuppenartig vor. Die erste Pinnula am zweiten Glied der Arme, die 
zweite am zweiten der Secundärarme. Die erste oder ersten Pinnulae lang, 


die zweite oder eine der folgenden sehr klein, dann nehmen sie zu. Scheibe 
glatt. Farbe gelb. Gröfse 8 Zoll. 


Comatula japonica Mus. Leyd. 
Alecto japonica. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841. p. 186. Wiegm. Arch. 1841. p. 145. 


27 Arme. Knopf höchstens 2” breit. 50 Ranken mit 20 Gliedern, 
sie sind gegen das Ende etwas comprimirt und werden dort breiter. Das 
radiale axillare liegt ganz tief unter den Ranken, wie wenn es das einzige 
Glied des Radius wäre. Dann ist, so lange die Theilung dauert, jedes dritte 
Glied ein axillare und hat ein Syzygium. Die ersten Glieder zweier Arme 
sind noch quer verwachsen. An den Armen 8-9 Glieder zwischen den Sy- 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 261 


zygien. Die zwei ersten Pinnulae sind gröfser, dann nehmen sie ab. Farbe 
braun. Fundort: Japan. 


Im Museum zu Leyden durch v. Siebold. 


Comatula (Alecto) palmata. Nob. 

?Caput medusae einereum. Linck Tab. XXII. No. 33. 
Alecto palmata. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841. p. 185. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 144. 

35-45 Arme. Centralknopf flach, 24 mal so breit als hoch, in der 
Mitte flach ausgehöhlt. 25-30 Ranken im Umfang, in mehreren Reihen 
mit 20-24 Gliedern, die wenig länger als breit sind. Die letzten 10 Glieder 
mit einem Dörnchen. Das erste der 3 Radialia ist wenig sichtbar und sehr 
niedrig. Die 10 Primärarme bestehen aus 2 Gliedern, das zweite axillar. 
Nach der Theilung wieder 2 Glieder, das zweite axillar. Entweder bleibt 
es dabei oder die Arme theilen sich wieder. Alle Axillaria ohne Syzygium. 
Alle awillaria brachialia sind so mit dem unter ihnen liegenden Glied ver- 
bunden, dafs sie sich nach rechts und links wiegen können. Glieder der 
Arme cylindrisch, nicht keilförmig. An den letzten Armen 5-11 Glie- 
der zwischen den Syzygien. Die Pinnulae fehlen, so lange zwischen den 
Theilungen nur 2 Glieder liegen. Die ersten Pinnulae sind gröfser, von 
diesen ist die zweite derselben Seite viel gröfser, dieser folgt die dritte, 
dann nehmen sie rasch ab. Die Haut der Scheibe ist ohne Tafeln und im 
nassen Zustande weich, getrocknet fühlt sie sich mit der Nadel rauh an. 
Die Afterröhre ist lang und schmal und steht nahe dem centralen Mund. 
Gröfse gegen 1 Fuls. Die Farbe ist schwarzbraun. Vaterland: Indischer 
Ocean, rothes Meer. 

Im anatomischen Museum zu Berlin in Weingeist durch Eschricht, 
im zoologischen in Weingeist durch Hemprich und Ehrenberg, im 
Museum zu Paris in Weingeist durch Botta, ferner durch Hombron von 
Sambuangam (Astrolabe). 


Comatula (Alecto) multiradiata Nob. 


Asterias multiradiata. Retz. Diss. P- 38. spec. 48. 
Müll. in Wiegm. Arch. 1843. I, p. 133. 


40-50 Arme. Knopf flach, in der Mitte der Fläche desselben eine 
Vertiefung. Ranken am Umfang des Knopfes 24 mit 24-30 Gliedern, diese 


262 MüLLER 


nicht länger als breit, an jüngeren Gliedern einige Glieder länger als breit, 
an älteren Ranken sind die Glieder oft breiter als lang. Mit Ausnahme der 
untern haben die Glieder der Cirren ein Knötchen an der innern Seite, 
welches gegen das Ende der Cirren länger wird. Radialia niedrig, nur 2 
sichtbar, darauf folgen 3 Glieder der Arme bis zur Theilung, das dritte 
axillar, aber dieses hat ein Syzygium, dann 2 Glieder bis zur nächsten Thei- 
lung, das zweite axillar, welches wieder ein Syzygium hat. Zwischen den 
Syzygien der Arme 7-14 Glieder. Die Glieder der Arme sind niedrig und 
am vordern d. h. aboralen Rande wie ciliirt von feinen mit der Loupe zu 
sehenden Spitzen. Die erste Pinnula am zweiten Glied der 10 Primärarme, 
nach der nächsten Theilung steht die erste Pinnula am ersten Glied über 
dem Axillare, nach der nächsten Theilung die erste Pinnula wieder am ersten 
Glied. Die ersten Pinnulae am Anfang der Arme sind grofs. Die Glieder 
der Pinnulae sind kurz. Auf der Scheibe viele stumpfe kurze Knochen- 
tuberkeln, wie der Knopf einer dünnen Stecknadel. Mund excentrisch, 
aber an Weingeistexemplaren ergiebt sich, dafs die 5 zum Munde führenden 
Furchen sich ganz symmetrisch für die 5 Gruppen der Arme vertheilen. 
Fundort: Molukken. 

Im Museum zu Lund trocken, auch im Museum zu Paris trocken 
und in Weingeist durch Peron, Quoy und Gaimard. 


Comatula multifida Nob. 


Comatula multiradiata Lam. 
Alecto multifida. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841. p. 188. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 144. 
40-44 Arme, 20 Ranken und mehr, von 16 Gliedern mit Knötchen 
innen an den 8 letzten Gliedern. 3 Radialia, wovon das dritte axillar, 
ohne Syzygium; dann ist wieder das dritte Glied axillar, es bildet ein 
Syzygium, nun ist jedesmal das zweite Glied, so lange die Theilung 
dauert, axillar, aber ohne Syzygium; weiterhin 3 Glieder zwischen den 
Syzygien. Die Armglieder springen in eine scharfe Kante vor. Die ersten 
Pinnulae sind die gröfsten. Die erste Pinnula am zweiten Armglied. Zwi- 
schen den 5 Kelcharmen liegen viele Plattenstücke, welche die Arme noch 
bis zur zweiten Theilung verbinden. Fundort? 
Im Museum zu Paris durch Peron., 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 263 


Comatula timorensis Mus. Leyd. 
Alecto timorensis. Müll. Monatsb. d. Acad. 1841. p. 186. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 145. 


36-40 Arme. Centralknopf sehr klein, wenig über eine Linie im 
Durchmesser. Ranken 16 mit 14 Gliedern, von diesen sind einige, gegen 
den Grund zu, länger als die übrigen, an ihren beiden Enden dicker. Das 
dritte Radiale des Kelchs ist axillar ohne Syzygium. Ferner ist jedes dritte 
Glied, so lange die Theilung dauert, ein Axillare und hat ein Syzygium. 
Weiterhin liegen meist 3 Glieder zwischen den Syzygien der Arme. Die 
erste Pinnula unter dem ersten awillare brachiale, ist dreimal so lang als die 
zweite derselben Seite, von da sind sie ziemlich gleich. Farbe braun. 


Gröfse 8 Zoll. Von Timor durch Boie und Salomon Müller. 


Comatula flagellata Mus. Leyd. 
Alecto flagellata. M. Monatsber. d. Acad. 1841. p. 186. Wiegm. Arch. 1841. I. p. 145. 
38 Arme, 35 lange dicke Ranken mit 30 niedrigen Gliedern, wovon 

das letzte aufser der Kralle nach innen noch einen krallenartigen Fortsatz 
hat. Die Axillaria sind sehr niedrig, ohne Syzygium. Zwischen den Syzy- 
gien der Arme 10-11 Glieder, abwechselnd von rechts und links keilförmig. 
Die Pinnulae nehmen von der ersten zur dritten derselben Seite an Gröfse 
zu, und diese drei ersten sind sehr lang, die übrigen nehmen allmählig ab. 
Gröfse 1 Fufs. Fundort unbekannt. 

Im Museum zu Leyden aus der Sammlung von Brugmans. 

Diese Art ist der Comatula palmata verwandt und unterscheidet sich 
davon durch die Gestalt der Armglieder. 


Comatula (Alecto) articulata N al. 


Der flagellata und palmata verwandt scheint eine von Quoy und 
Gaimard von den Molukken gebrachte Comatul im Museum zu Paris, die 
ich neulich dort untersuchte. 

40 Arme, sehr regelmäfsig getheilt. 20-30 Cirren mit 36-40 Glie- 
dern, die Scheibe des Knopfes mit Ausnahme der Mitte besetzend. Zwei 
Dritttheile der Glieder der Cirren haben ein Dörnchen. 3 Radialia; dann 
2 Glieder bis zur Theilung, hierauf wieder 2 Glieder bis zur nächsten Thei- 


264 MÜLLER 


lung. Die Axillaria ohne Syzygium, sie wiegen auf den vorhergehenden 
Gliedern von rechts nach links und umgekehrt. Das erste Syzygium liegt 
am dritten Glied nach der letzten Theilung, 12-20 Glieder zwischen den 
Syzygien der Arme. Die erste Pinnula am zweiten Glied nach der letzten 
Theilung, die erste Pinnula ist kleiner, die 2-3 folgenden grofs, dann klei- 
nere, ihre Glieder cylindrisch, nicht erweitert. Farbe graubraun. Gröfse 
8-10 Zoll. 

Im Museum zu Paris in Weingeist durch Quoy und Gaimard 


(Capt. d’Urville). 


Comatula nocae Guineae Mus. Leyd. 
Alecto novae Guineae. Müll. Monatsber. d. Acad. 1841. p. 186. Wiegm. Arch. 1841. 
I. p. 146. 

56 Arme, 15 Ranken und mehr an dem kleinen Centralknopf. Das 
dritte Radiale ist axillar, die ersten 10 Arme haben 3 Glieder bis zum näch- 
sten Axillare. Zwischen den folgenden Axillaria der Arme, die sich 4-5 
mal theilen, immer nur ein Glied. Kein Axillare hat ein Syzygium. An 
den Armen 2 Glieder zwischen den Syzygien. Die ersten beiden Pin- 
nulae sehr lang, die übrigen werden kürzer, an jedem Gliede der Pinnulae 
befinden sich einige Stachelchen. Farbe braun. Gröfse 8 Zoll. 

Im Museum zu Leyden durch Salomon Müller. 


Comatula Bennetti Mus. Leyd. 
Alecto Bennetti. Müll. Monatsber. d. Acad. 1841. p. 187. Wiegm. Arch. 1841. TI. p. 146. 


Ueber 70 Arme, gegen 50 Ranken mit 23 Gliedern, etwas plattge- 
drückt. Die Arme bis zur dritten Theilung durch die Haut der Scheibe 
verbunden. Jedes vierte Glied ist ein Axillare ohne Syzygium. Jedes Glie- 
des äufserer Rand springt vor und ist mit ganz kleinen Stachelchen gewimpert. 
3-4 Glieder zwischen den Syzygien der Arme; die erste Pinnula ist 14 Zoll 
lang, die zweite wenig kürzer, die dritte und die folgenden höchstens 4 Zoll. 
Die Glieder am Ende der Pinnulae springen nach innen kammartig vor und 
tragen kleine Krallen. Farbe braun, oben heller. Gröfse 1 Fufs. Fundort 
unbekannt. 

Im Museum zu Leyden durch Bennett. 


über die Gattung Comatula Lam. und ihre Arten. 265 
Die von Goldfufs Petrefact. I. Tab. 61 Fig. 2 abgebildete Comatula 


multiradiata bin ich nicht im Stande mit Sicherheit zu bestimmen. Wenn 
die Abbildung der Glieder an den Theilungen der Arme richtig ist und Sy- 
zygien nicht übersehen sind, so wäre diese Art mit Comatula Bennetti sowohl 
in der grofsen Zahl der Arme, als in der Beschaffenheit uud Zahl der Glie- 
der an den sich theilenden Armen, auch in der Zahl der Cirrenglieder über- 
einstimmend. Das von Goldfufs zerlegte Exemplar findet sich in der 
Sammlung in Bonn nicht mehr vor; ein anderes vollständiges Exemplar einer 
sogenannten Comatula multiradiata in Weingeist daselbst hat nicht so viel 
Arme und stimmt auch durch den Besitz der Syzygien an den Axillaria der 
Arme mit Comatula multiradiata Betz. An diesem Weingeistexemplar 
haben die Cirren gegen 23 Glieder. Alle Axillaria der Arme haben Syzy- 
gien, weiterhin an den Armen gegen 5 Glieder zwischen den Syzygien. Die 
2 ersten Pinnulae sehr lang, die folgenden etwas kürzer, dann kurze. Maul 
excentrisch, 5 Furchen der Scheibe sammeln die Furchen der respectiven 
Arme und kommen am Mund zusammen. 


Phys. Kl. 1847. 18) 


Bemerkung über die Fufsknochen des fossilen 
Gürtelthiers, Glyptodon clavipes Ow. 


ger 
H" MULLER. 


mn 


[Gelesen in der Sitzung der physik. Klasse der Akademie am 8. Juni 1846.] 


I. Königlichen mineralogischen Museum befinden sich die von Hrn. Sello 
eingesandten Knochen des Panzers und der Extremitäten des gigantischen 
fossilen Gürtelthiers der Banda oriental. Die Panzerknochen sind von 
Hrn. Weifs in den Abhandlungen der Academie a. d. J. 1827, die Kno- 
chenreste der Extremitäten von Hrn. d’Alton in den Abhandlungen der 
Acad.a.d.J. 1833 beschrieben und abgebildet. In der letzten Abhandlung 
ist von Hrn. d’Alton bewiesen, dafs der Panzer nicht dem Megatherium 
angehört, vielmehr die von Sello entdeckten Knochenreste der Extremi- 
täten und der Panzer zu demselben Thiere gehören. Hr. Owen hat in den 
Transact. geol. soc. Vol. VI. p. 1. London 1841 p. 81 bei Beschreibung von 
Knochenresten desselben Thiers die Zähne desselben kennen gelehrt, wo- 
"durch seine Uebereinstimmung mit den Gürtelthieren noch klarer hervor- 
getreten ist. Er hat dasselbe Glyptodon clavipes genannt. Doch hat es 
in Deutschland schon früher einen Gattungsnamen erhalten, indem Hr. 
Bronn in der Lethaea geogn. 2. Auflage II. B. Stuttg. 1838. p. 1258 vor- 
schlug, es, sofern keine Panzerreste dazu gehören, Orycterotherium zu nen- 
nen, sonst aber ihm den Namen C’hlamydotherium zu geben. Die Gattung 
Chlamydotherium Bronn und Glyptodon Owen sind daher identisch. 

Die Zusammensetzung der hier aufbewahrten Fufsknochen war früher 
nicht ausgeführt, das Sprungbein war nämlich unvollständig, seine Reste 
bestanden aus Stücken, wovon das eine, die Hälfte der Rolle zit einem 
Unterschenkelknochen, das zweite mit dem Fersenbein, das dritte mit dem 
Schiffbein zusammenhing. Hr. Beyrich hatte die Herstellung des Sprung- 


MöÜLLer: Bemerkung über die Fu/sknochen u. s. w. 267 


beins durch glückliche Lösung der Fragmente und dadurch die Zusammen- 
setzung des Fufses möglich gemacht. Das Sprungbein wurde nach der 
Abbildung Owen’s ergänzt. Die hiesigen und die englischen Fragmente 
ergänzen einander, die Fulswurzel ist in den hiesigen vollständiger, dagegen 
fehlen die Endglieder der Zehen. Denn was davon vorhanden ist, rührt 
offenbar von einem andern Thiere her, da es theils nicht auf die übrigen 
Zehenglieder past, theils in Betracht der von Owen abgebildeten Endglieder 
der Zehen viel zu klein ist. Der von Hrn. d’Alton als das untere Ende der 
Tibia angesehene Knochen stellt sich als das Ende der Fibula heraus, wie 
Sello richtig angegeben. Auch in Owen’s Abbildung ist das als Tibia ange- 
sehene und auf den äufsern Theil der Rolle des Sprungbeins aufgesetzte 
Knochenstück entweder nicht die Tibia, oder steht nicht auf seiner rechten 
Stelle. Bei diesem Thiere articulirte, ganz wie bei Dasypus gymnurus die 
Tibia auf dem innern, die Fibula auf dem äufsern Theile der Rolle des 
Astragalus. Bei D. gymnurus verwachsen die Epiphysen der Tibia und Fibula 
zu einem einzigen Stück, während sie von ihren respectiven Diaphysen 
getrennt sind. Ganz ebenso war es bei dem fossilen Gürtelthier. Der Rest 
von Epiphyse am unteren Ende der Fibula der Selloschen Fragmente ist die 
ganze Epiphyse der Fibula zugleich mit einem kleinen Theil der Epiphyse 
der Tibia. 


Erklärung der Abbildungen. 
Tafel I. 


Die Fufsknochen von Glyptodon clavipes Ow. von oben angesehen. 
a. Sprungbein. a’ Ergänzter Theil desselben. 
db. Fersenbein. 
c. Schiffbein. 
g. d. e. Keilbeine. 
f. Würfelbein. 
h. i. k. l. Mittelfulsknochen. 
m. n. o. p. Erstes Glied der vier Zehen. 


g. r.s. Zweites Glied. 


Tafel II. 
Dieselben mit dem untersten Theil des Unterschenkels. 
Bezeichnung dieselbe. A. Ende der Fibula. 
A’ Gemeinschaftliche Epiphyse der Fibula und 'Tibia. 


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Zu Herrn Miller's Abh.i. fi 
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Passatstaub und Blutregen. 


Ein grolses organisches unsichtbares Wirken und Leben 
in der Atmosphäre. 


Von 
H”" EHRENBERG. 


unninnurrneVenn 


r 
Ueber einen die ganze Luft längere Zeit trübenden Staubregen 
im hohen atlantischen Ocean in 17° 43 N.B. 26° W.L. und dessen 
Mischung aus zahlreichen Kieselthieren. (!) 


H Darwin, der bekannte verdienstvolle englische Reisende und 
Schriftsteller über die Corallenriffe, erzählt in seinem Reiseberichte, dafs 
auf den Capverdischen Inseln und auch im hohen Meere jener Gegend bei 
seiner Anwesenheit daselbst beständig ein feiner Staub aus der Luft gefallen 
sei und auch die Schiffe, welche 380 Seemeilen vom Lande entfernt waren, 
wurden, seinen brieflichen Mittheilungen zufolge, davon betroffen. Der 
Wind wehte damals von der afrikanischen Küste her. Von dem Staube 
aus der hohen See, welcher in so grofser Entfernung vom Lande auf das 
Schiff niederfiel, hat Herr Darwin eine Probe meiner mikroskopischen Prü- 
fung übergeben. Es wurde bisher dieser dort häufige Staub, seiner gelbrothen 
Farbe halber, allgemein für eine vulkanische Asche gehalten. Die mikro- 
skopische Analyse hat zur Klarheit ergeben, dafs ein namhafter Theil, 
vielleicht — der Masse, aus sehr verschiedenen kieselschaligen Polygastrieis 
und kieselerdigen bekannten terrestrischen Pflanzentheilen besteht, wie folgt: 
A. Kieselschalige Polygastrica: 


1. Campylodiscus Clypeus. 4. Gallionella crenata. 
2. Eunotia amphioxys. D- —— distans. 
3: _ gibberula. 6. — granulata. 


(') Vorgetragen am 23. Mai 1844. S. d. Monatsber. p. 194. 


2370 EHRENBERG: 


7. Gallionella marchica. 13. Navicula lineolata. 

6) — procera. 14. — Semen. 

9. Gomphonema rotundatum. 15. Pinnularia borealis. 
10. Himantidium Arcus. 16. —< gibba. 
11. — Papilio. 17. Surirella (peruana?). 
12. Navicula affinis. 18. Synedra Ulna. 

B. Kieselerdige Phytolitharia. 

19. Amphidiscus Clavus. 29. Lithostylidium Ossiculum. 
20. Lithodontium Bursa. 3. —_ quadratum. 
21. — curvatum. 31. — rude. 
2a — Jurcatum. 32. _ Serra. 
23. _ nasutum. 33. _ spiriferum. 
24. - iruncalum. 34. Spongolithis acicularis. 
25. Lithostylidium amphiodon. 33. = aspera. 
26. _ clavatum. 36. _ mesogongyla. 
27. _ cornutum. 37. — obtusa. 
38. _ laeve. 


Die in diesem Verzeichnifs enthaltenen meist bekannten und meist 
europäischen Formen beweisen: 

1. dafs jeder meteorische Staubregen terrestrischen Ursprungs war; 

2. dafs derselbe kein vulcanischer Aschenregen war; 

3. dafs er nothwendig ein von einer ungewöhnlichen starken Luftströ- 
mung oder einem Wirbelwinde bis in grofse Höhe gehobner Staub aus einer 
ausgetrockneten Sumpfgegend war; 

4. dafs der Staub nicht nothwendig und nicht nachweislich aus Afrika 
gekommen, obschon der Wind von daher, als dem nächsten Lande, wehte, 
als der Staub niederfiel, weil in Afrika ausschliefslich einheimische Formen 
gar nicht darunter sind; 

5. dafs, da Himantidium Papilio, eine sehr ausgezeichnete Form, bisher 
nur in Cayenne vorgekommen ist (s. das mikroskopische Leben in Süd- und 
Nord-Amerika 1842 Tafel II. Fig. 2.), auch die Surirella vielleicht eine 
amerikanische Form ist, nur zwei Schlüsse nahe liegen: entweder der Staub 
wurde in Süd- Amerika nach den oberen Luftschichien gehoben und durch 
veränderte Luftströme in andere Richtungen gebracht, oder Himantidium 


Passatstaub und Blutregen. 2374 


Papilio sammt der Surirella sind auch anderwärts, namentlich in Afrika 
noch zu entdecken. 

Sonach sind die meteorischen Staubregen oder vermeinten Aschen- 
regen jetzt, wo sie in 300 Seemeilen vom Lande als zuweilen organischen 
oder terrestrischen Ursprungs aufser Zweifel gesetzt sind, nun sämmtlich 
auf diesen Charakter zu prüfen und die Windrichtung, mit welcher sie 
niederfallen, wird nie sicher auf den Ursprung führen. 


II. 


Weitere Untersuchungen des atmosphärischen Staubes aus 
dem atlantischen Ocean und den Capverdischen Inseln(!). 


Herr Charles Darwin hat noch 5 verschiedene Proben ähnlichen 
Staubes zur Vergleichung gesandt, die in den Jahren 1834 und 1838 im 15°, 
17°, 19° und 21° nördlicher Breite auf Schiffen, theils in San Jago selbst, 
theils mehrere 100 Meilen vom Lande entfernt im hohen Meere, gesam- 
melt worden sind. 

Dieser früher von Beobachtern für vulkanischen Auswurf oder afrika- 
nischen Wüstenstaub gehaltene Staub der dortigen Atmosphäre, wurde den 
früheren Materialien zufolge als erfüllt mit 37 Arten von kieselschaligen 
Infusorien und Phytolitharien bezeichnet, und somit von kosmischen oder 
vulkanischen Verhältnissen ausgeschlossen, auch wurde bemerkt, dafs dabei 
gar keine der schon mannichfach bekannten Formen vorgekommen sei, 
welche dem westlichen Afrika eigenthümlich sind, dafs dagegen 2 das süd- 
liche Amerika vom Aegator bezeichnende Formen dabei wären: Himantidium 
Papilio und Surirella peruviana. 

Diese neueren Materialien und Untersuchungen haben zu den 37 
schon gefundenen noch 30 andere Körperchen beobachten lassen, so dafs 
jetzt aus dortiger Atmosphäre über dem Ocean 

32 kieselschalige Infusorien 
34 kieselerdige Phytolitharien 
1 Polythalamium mit Kalkschale 
67 organische Formen bekannt sind. 
Früher waren nur Süfswasserformen beobachtet, die aus der Mitte 


(') Vorgetragen den 27. Febr. 1845. S. d. Monatsber. p. 64. u. 85. 


2372 EHrEenwBeErc: 


des Festlandes kommen konnten, nun haben sich auch einige reine Meeres- 
formen erkennen lassen, die zu der Ansicht nöthigen, dafs der Staub aus 
einer Küstengegend stamme: 

Textilaria globulosa? Grammatophora oceanica. 

Unter allen 30 hinzugekommenen Formen ist nur eine neue Art und 
diese auch schon in sehr ähnlicher Form in einem ungarischen fossilen Lager 
vorgekommen : Eunotia longicornis. 

Es ist ferner auch unter diesen 30 Formen keine von den eigenthüm- 
lichen Arten des westlichen Afrikas, überhaupt keine das Festland Afrika 
bezeichnende, doch findet sich dabei Lithostylidium Rajula, ein den Rochen- 
Eiern ähnliches Kieselkörperchen, das von Isle de France her dem Verfasser 
bekannt war. Dagegen haben sich die südamerikanischen Formen noch um 
4 vermehrt: Eunotia qnaternaria, Pileus, trideniula, Amphidiscus obtusus, 
so jedoch, dafs die drei Eunotien nur aus Senegambien und Guiana bisher 
gleichartig bekannt waren. 

Allen 6 Proben des atlantischen atmosphärischen Staubes sind 4 Orga- 
nismen gemein, viele andere, nämlich 37, kommen in mehreren Proben 
gleichartig vor. Ich halte mich für jetzt zu dem Schlusse berechtigt, dafs 
aller atlantischer Staub aus nur einer und derselben Quelle kommen könne, 
ungeachtet seine Ausdehnung und jährliche Masse ungeheuer zu sein scheint. 

Die von Eisengehalt herrührende stets gelbe und röthliche Farbe des 
Staubes, sein Niederfallen mit dem Passatwinde, nicht mit dem Harmattan, 
nach ausdrücklicher Angabe erfahrner Schiffer (Sabine), vermehren das 
Interesse der Erscheinung. 

Sehr auffallend ist Eunotia triodon in 3 der Proben, eine nordische 
Form. 

Formen die als lebend aus der Atmosphäre niederfielen sind bisher 
nicht beobachtet. 

Meyen hat 1836 auf seiner Reise um die Welt mit dem Preufsischen 
Seehandlungsschiffe die Erscheinung der auf der Windseite gerötheten Segel 
bei den Capverden beobachtet und behauptet, es sei eine durch generatio 
spontanea entstehende und schnell vergehende kleine Pflanze, die er Aero- 
phytum tropicum nennt. Gerade so zeigt sich der Staub, nach Herrn Dar- 
wins Mittheilung, auf den Morgens bethauten Segeln und anderem Schiffs- 
geräth und enthält die angezeigten 67 kieselerdigen Organismen. Beim 


Passatstaub und Blutregen. 373 


Trocknen der Segel jagt der Wind den feinen Staub schnell fort. Das 
Aerophytum waren daher wohl die Thauperlen. 


UebersichtderorganischenFormen desatmosphärischen Staubes 
im atlantischen Ocean bis Februar 1845. 
1A. IB. I. II. IV. NUR 
17°, 43117°, 431°, A0l19°, 57 
26° 25°, 541220, 14124°, 5 
APP FEUSer ICH. 
Campylodiscus Clypeus + —E + 


Latit. Bor. 
Longit. Oce. | 


| 1834. 


+ = = 
_ + + 
+ + 


Cocconema Lunula _ Er un 


+ 
+ 


Eunotia amphioxys 
Argus — — + 
gibberula + 
granulata 
longicornis 
Pileus 


quaternaria | —_ — — — + 
tridentula — er me Er 
| 


| 
| 
++ 


Triodon 


Gallionella crenata 


I + 
| ++ 
++ 

| 
+++ 


decussala 
distans 


+ 
++ 


granulata 


marchica 


procera 


| 
| 
++ 


Gomphonema gracile 


++ 4++4++ 
+ 
+ 


rolundalum 


Grammatophora oceanica 
Himantidium Arcus 


a 
+++ 


Papilio 
Navicula affinis 


Bacillum 


lineolata 


+4+ tt 
| 
| 


Semen 


Phys.- Kl. 1847. Mm 


274 


Pinnularia aequalis 
borealis 
gibba 
viridula 

Surirella peruviana? 


Synedra Ulna? 


EHRENBERG: 


IA. 


I +++ 


++ 


B. Phy 


Amphidiscus armatus 
clavatus 
obtusus 

Lithodontium Bursa 

curvatum 
Jurcatum 
nasutum 
Platyodon 
rostratum 


iruncatum 


Lithostylidium Amphiodon 


biconcavum 
clavatum 


cornutum 


Clepsammidium 


crenulatum 
Emblema 
laeve 
obliguum 
Ossiculum 
quadratum 
Rajula 
Rhombus 
rostratum 
rude 


Serra 


IH Ir rt Hr Hr I + 


IBH «-M. 
— e_ 
+ 
tolithari 
-— | + 
—— + 
| 
AR 
+ | + 
| | 
+ | + 
_ + 
-— | + 
+ | + 
_ + 
+ + 
-— | + 
= + 
- + 
— + 


++ 5 


+++ 


+ + 


IV. 


++ 


++ 


Passatstaub und Blutregen. 273 


IA., IB: I. II. W. \ 
Lithostylidium spiriferum + | — aber | 
unidentalum a EEILL MET | 

Spongolithis acicularis + _ + + 

aspera + 

cenocephala _ = ee 

Fustis — — 2 

mesogongyla | r Fe RN | 

obtusa er | | 

C., Kobythalemia. 

Textilaria globulosa ı - | - | + | | | 


Viele dieser Formen finden sich abgebildet und beschrieben in dem 
Vortrage über das kleinste Leben in Amerika 1843. 


IM. 


Ueber einen am 45. Mai 1830 in Malta gefallenen atmosphärischen 

Staub, dessen Gehalt an mikroskopischen Organismen und 

Gleichheit mit dem des atlantischen Meeres bei den Capver- 
dischen Inseln.(!) 


Herr Charles Darwin hat einen neuen atmosphärischen Staub zur 
Untersuchung gesendet, welchen der Purser Herr R. G. Didham auf dem 
Schiffe Revenge am 15. Mai 1830 in Malta gesammelt hat. Herr Didham 
hatte diese Substanz zuerst an Herrn Lyell gegeben, der sie an Herrn Dar- 
win, wie dieser an mich abgegeben hat. Ich erhielt das vorliegende Origi- 
nal-Päckchen in weifsem Schreibpapier mit den Aufschriften der verschiedenen 
Besitzer. Vom Sammler ist darauf bemerkt, dafs die Atmosphäre damals 
orangegelb und dick war und dafs der gesammelte Staub mit einem Platz- 
regen herabgekommen. Der Wind war E.S.E. Ferner bemerkt derselbe, 
dafs er auf demselben Schiffe am 15. Mai 1834 in der Palmas-Bay bei Sar- 
dinien war und dieselbe Erscheinung beobachtet habe. 

Die mikroskopische Analyse dieses (doch wohl Seirocco?) Staubes 
von Malta, welcher von Farbe ebenfalls röthlich ist, hat folgenden Gehalt 
an mikroskopischen erkennbaren Organismen ergeben: 


(') Vorgetragen am 20. Novbr. 1845. S. d. Monatsber. p. 377. 
Mm?2 


2376 ‚EurEenBeEre: 


A. Kieselschalige Polygastrica. 


* Campylodiscus Clypeus. * Gallionella distans. 
Discoplea? y granulata. 
* Eunotia amphioxys. ’ procera. 
h Argus. * Gomphonema gracile. 
: gibberula. * Navicula Bacillum. 
Fragilaria rhabdosoma? Synedra Entomon? 
* Gallionella crenata. , Ulna. 
+ decussata. 
B. Kieselerdige Phytolitharia. 
* Amphidiscus obtusus. .“ Lithostylidium quadratum. 
* Lithodontium Bursa. M Rajula. 
ö curvatum. © rude. 
x Jurcatum. : Serra. 
x nasulum. Taurus. 
; rostraltum. R unidentalium. 
* Lithostylidium Amphiodon. * Spongolithis acicularis. 
ei clavatum. ‚fistulosa. 
5 Clepsammidium. i Fustis. 
“ crenulata. philippensis? 
i Emblema. 
C. Kalkschalige Polythalamia. 
Grammostomum — ? Rotalia senaria. 
— al. sp. Spiroloculina — ? 
Planulina — ? * Textilaria globulosa. 


Rotalia globulosa. ß 

Es sind 15 Polygastrica, 21 Phytolitharia, 7 Polythalamia, zusammen 
43 Arten. 

Von diesen 43 Arten sind sämmtliche mit Sternchen bezeichnete in 
dem Staube der Capverdischen Inseln gleichartig beobachtet worden, wie 
das aus den früheren Mittheilungen erhellt. 

Es sind mithin in den früheren und diesem letzten Verhältnisse 
atmosphärischer Niederschläge 31 Arten gleichartig, 12 sind von Malta beob- 
achtet, welche im Staube des atlantischen Oceans nicht vorkamen. Unter 
diesen 12 Formen ist wieder sehr wahrscheinlich eine, welche bisher nur in 


Passatstaub und Blutregen. 2377 


Chile vorgekommen: Synedra Entomon? Dagegen ist auch ein Pflanzen- 
Kieseltheil Zithostylidium Taurus bisher nur aut Ascension, in Südafrika 
und Indien beobachtet. Die Discoplea ist eine bisher fremde, aber nicht 
vollständig genug erhaltene Form. Am entschiedensten sind die zahlreichen 
Polythalamien und einige Seeschwamm-Nadeln. 

Die Schlüsse, welche man genöthigt ist aus diesen Beobachtungen 
zu machen sind meiner Ansicht nach folgende. 

1. Es ist höchst auffallend, dafs der blendendweifse Sand der Sahara 
in Afrika, welchen der Ost-Süd-Ost- Wind nach Malta führen soll, dort, 
gerade so wie der, welcher vom Senegal nach den Capverden kommen soll, 
orangefarben niederfällt und der ganzen Atmosphäre eine gleiche Färbung 
giebt, auch ganz deutlich ebenso seine Farbe vielem Eisenoxyd (Gallionel- 
len?) verdankt. In der Sahara des östlichen Nord-Afrika’s habe ich selbst 
6 Jahre lang Sand-Oberflächen nur blendendweifs (von Kreidekalk und 
Dünensand) gesehen, und andere Reisende haben nur Aehnliches berichtet. 
Den feinen Staub des Chamsin sah ich nie orangefarben, er war stets grau. 

2. Viele der in dem Staube vorhandenen Organismen sind zwar von mir 
auch in Afrika beobachtet, allein es sind von den characteristischen 
afrikanischen Formen, deren sich dort überall finden, viel zu wenig dabei. 
Lithostylidium Taurus ist Asien und Afrika gemeinsam. 

3. Aufser dem Mangel an ächt afrikanischen Formen und der Ueberein- 
stimmung in vielen überall verbreiteten Formen ist der Meteorstaub von 
Malta auch darin dem des atlantischen Oceans auffallend ähnlich, dafs beide 
vorherrschend Süfswasserbildungen enthalten und dafs diesen entschiedene 
Seeformen beigemischt sind, welche im Binnenlande nicht leicht annehmbar 
sind. Zwar könnten die beigemischten Polythalamien, welche in dem von 
Malta häufiger sind, einem Kreidesande angehören, da 3 davon mit Kreide- 
thieren identisch sind, allein andere sind aus der Kreide nicht bekannt und 
diese Spongolithen gehören alle, sammt jenen Kreidethierchen auch dem 
Leben der jetzigen Zeit an. 

4. Auch die Mischung des Gehaltes an organischen Theilen ist dem 
Volumen nach in beiden Staub-Meteoren so überraschend gleich, dafs man 
auf eine gleiche Quelle schliefsen mufs. Eben so gleich ist die Mischung 
in Beziehung auf das Vorherrschen gewisser Arten von Organismen. Gallio- 


8 
nella granulata und procera sammt den terrestrischen Phytolitharien sind 


378 EHRENBEReE: 


in beiden an Individuen-Zahl überwiegend, ihre Formen fanden sich in 
jedem kleinsten untersuchten Theilchen des Staubes vor. 

5. Durch Synedra Entomon, als characteristische Form für Chile, ist 
man wieder auf Südamerika gewiesen. 

6. Auf vulkanische Beziehungen des Staubes leitet kein Charakter. 
Weder ein. geglühter noch ein gefritteter Zustand ist zu erkennen. Die 
röthliche Oxydation des Eisens ist natürlich ebenfalls nicht bezeichnend dafür. 

7. Die überaus grofse geographische Verbreitung der völlig gleichen 
Erscheinung eines im gröfsten Maafsstabe die Atmosphäre erfüllenden röth- 
lichen, mit ganz gleichartigen solchen Organismen erfüllten Staubes, deren 
mehrere für Südamerika characteristisch sind, erlaubt nicht mehr, sondern 
verlangt eine immer ernstere Berücksichtigung des vielleicht eyclischen Ver- 
hältnisses in der oberen und unteren Atmosphäre, wodurch sehr grofse 
Massen fester, scheinbar heterogener, aber durch gewisse Eigenschaften 
verwandter terrestrischer Stoffe, Erden und Metalle, besonders für jetzt 
nachweislich Kieselerde, Kalk, Eisen und Kohle in der Atmosphäre schwe- 
bend gehalten worden, die, den Dunstwolken gleich, durch Wirbel und 
Electricität bald räumlich verdünnt, bald verdichtet werden und (wie 
Fichtenpollen als Schwefelregen) mit Platzregen u. s. w. aus jeder Richtung, 
selbst (im Wirbel durch electrischen Blitz) verschmolzen, ohne bedeutende 
Fallwirkung niederfallen können. 

8. Der Platzregen mit Ost-Süd-Ost-Wind und die orangefarbene dicke 
Atmosphäre könnte wohl durch zufällige Regenwolken im Scirocco bedingt 
und ohne nothwendige Verbindung sein. 

9. Es erhalten nun, wie es scheint, folgende Fragen Wichtigkeit: Ist 
der südeuropäische Scirocco, welchen man bisher immer für den heifsen 
Wind der Sahara (Fortsetzung des Samum oder Chamsin) gehalten hat, der 
aber in seinem Staube Charactere zeigt, welche der Sahara und Afrika ganz 
fremd zu sein scheinen, immer auch in der gleichen Art Eisen- und Infuso- 
rien-haltig? Läfst sich aus gewissen Gegenden Central-Afrika’s die Erschei- 
nung doch gerade so ableiten’? 

Die wissenschaftliche Antwort, gleichviel ob bejahend oder verneinend, 
kann natürlich nur Product der fortgesetzten Forschung sein. 


Passatstaub und Blutregen. 2379 


IV. 


Ueber den am 16. Mai 1846 in Genua gefallenen Scirocco-Staub, 
ganische Beimischung und grofse Ähnlichkeit mit dem 
atlantischen Meteorstaube.(') 


dessen or 


Die sicilianischen und genuesischen Sciroccostürme im Mai 1846 
haben neben mancherlei Unglück eine eigenthümliche wissenschaftliche 
Frucht gebracht. 

Am 16. Mai ist nach einer von Herrn Prof. Pictet aus Genf bei mir 
eingegangenen Nachricht ein atmosphärischer Staub niedergefallen, welcher 
die Dächer und Strafsen der Stadt in grofser Menge bedeckte(?). Ein 
Freund hatte Hrn. Pictet eine Probe übersandt und schon am 30. Mai 
erhielt ich dieselbe zur Ansicht in Berlin, um sie mit den früher hier bespro- 
chenen Staubarten der Atmosphäre zu vergleichen. 

Die in weilsem Papier sorgfältig verwahrt übersandte Probe dieses 
Meteorstaubes ist von Farbe blafsokergelb und es haben sich darinn bei der 
mikroskopischen Analyse folgende Organismen des kleinsten Lebens erken- 
nen lassen. 

Meteorstaub des Scirocco von Genua 16. Mai 1846. 

A. Polygastrica. 22. 


Campylodiscus Clypeus. Fragilaria. 

Chaetoglena volvocina. Gallionella erenata. 

Cocconeis lineata. distans. 

Diploneis didyma. granulata. 

Discoplea atmosphaerica. procera. 
al. spec.? Navieula. 

Eunotia amphiosys. Pinnularia borealis. 
Diodon. Stauroneis. 
gibberula. Surirella Craticula. 
Monodon. Synedra Entomon. 
trideniula. Ulna. 


(') Vorgetragen am 11. Juni 1846. S. d. Monatsber. p. 202. 
(?) Qui a couvert en abondance les toits et les terrasse. Im Supplement ä la 
Bibliotheque universelle de Geneve No. 5. ist ausführlicher berichtet. 


350 EHuRENBERG: 


B. Phytolitharia. DAR 


Amphidiscus anceps. Lithostylidium clavatum. 
clavatus. Clepsammidium. 
Martü. Formica. 
Lithasteriscus tuberculatus. quadratum. 
Lithodontium Bursa. rude. 
falcatum. Serra. 
Jurcatum. spiriferum. 
nasulum. Spongolithis acicularis. 
platyodon. Clavus. 
rostralum. Fustis. 


Lithostylidium Amphiodon. 
GC. Weiche Pflanzentheile. 3. 
Pollen —? Weiche Holztheilchen und unver- 
—  al.sp. kohltes Zellgewebe. 
Phragmidii (Pucciniae?) sporangia. 

Die gesperrt gedruckten Formen sind dem Meteorstaube von Genua 
eigenthümlich. 

Dies Resultat einer so reichen organischen Mischung ist zwar nicht 
mehr überraschend, aber doch mannigfach von grofsem Interesse. Schon 
in der Mittheilung über den Meteorstaub von Malta wurde auf die weiter 
zu prüfenden Charactere des europäischen Scirocco-Staubes aufmerksam 
gemacht, und jene damals publieirte Bemerkung scheint diese neuere Zu- 
sendung veranlafst zu haben. 

So wurde hiermit die erste directe Erfahrung gewonnen, dafs der 
europäische Scirocco-Staub, den man aus Afrika ableitet, sich dem Meteor- 
Staube der Capverdischen Inseln anschliefst, und durch den Staub von 
Malta ist ein Zwischenglied schon direct erkannt. 

In folgenden Characteren stimmen die seit dem Jahre 1830 im atlan- 
tischen Ocean, bei den Capverden, in Malta und Genua gefallenen Staub- 
arten überein: 

1. Sie sind stets von gelber, ockerartiger Farbe, nicht grau wie die des 
bekannten Chamsins im nördlichen Afrika. 

2. Diese gelbe Farbe ist durch Eisenoxyd bedingt. 

3. Sie enthalten gegen £ bis + der Masse bestimmbare organische Theile. 


Passatstaub und Blutregen. 381 


4. Die organischen beigemischten Formen sind theils kieselschalige, 
polygastrische Infusorienreste, theils kieselerdige geformte Pflanzentheilchen 
(Phytolitharia), theils verkohlbare, aber unverkohlte, andere Pflanzentheil- 
chen, theils auch kalkschalige Polythalamia. 

5. Von bereits festgestellten 90 Arten solcher Organismen kommen die 
Mehrzahl in den an geographisch soweit von einander entfernten Punkten 
gefallenen Staubmassen gleichartig vor. 

6. Von den 46 Arten des Genuesischen Staubes sind nur 11 in den 

früheren Verhältnissen fehlend. 
7. Ueberall sind die Formen der Zahl nach vorherrschend Süfswasser- 
und Landgebilde, aber sowohl im Ocean und den Capverden, als bei Malta 
und Genua enthält der gefallene Staub auch Meeresthierchen, so dafs der- 
selbe von einem Küstenpunkte weggeführt zu werden, oder in der Atmosphäre, 
aus vorherrschenden Süfswasserverhältnissen, gemischt zu werden scheint. 
Diploneis didyma ist eine entschiedene Seeform im Staube von Genua, 
Spongolithis Fustis eine mögliche. 

8. Ganz besonders auffallend und merkwürdig ist das Mischungsverhält- 
nifs aller dieser Staubarten dadurch, dafs nicht blofs Infusorien und die 
gleichen Arten in ihnen sind, sondern dafs auch überall dieselben Species 
an Individuenzahl vorherrschen. So sind auch in Genua wieder Gallionella 
granulata und procera die vorherrschenden Formen gewesen. 

9. Keine dieser Staubarten hat bis jetzt lebend eingetrocknete Formen 
erkennen lassen. Es waren stets leere Schalen und Fragmente.(!) 

10. Keine dieser Staubarten hat geschmolzene, gefrittete oder verkohlte 
Formen gezeigt. Es sind ohne Hitze trocken bewegte Theilchen. 

41. Auch der Staub von Genua, seinerRichtung (als Scirocco) von Afrika 
her ungeachtet, hat, so wenig als irgend einer der früheren, characteristische 
afrikanische Formen erkennen lassen, deren doch jeder kleine Schlammtheil 
aus Afrika enthält. Dagegen ist Synedra Entomon, eine der südamerikani- 
schen Characterformen, unter den Arten. 

Beim Meteorstaub von Genua verdient auch nicht unbemerkt zu blei- 
ben, dafs demselben Samen von Brandpilzen (Phragmidium?) beigemischt 


(') Seitdem sind allerdings mehrfache Beobachtungen lebend eingetrockneter Formen 
in solchen Staubarten gemacht worden. S. Abschnitt VIII. (Monatsber. 1847 p. 328.) 


Phys. Kl. 1847. Nn 


989 EHREnBERG: 


sind. Ferner ist bemerkenswerth, dafs die wenigen bisherigen europäischen 
Beobachtungen aus sehr verschiedenen Jahren stets (Malta, Sardinien, Ge- 
nua) am 15. und 16. Mai gemacht worden sind. 

Eine chemische Analyse des Meteorstaubes aus dem atlantischen 
Ocean ist von Herrn W. Gibbs aus New-York in Herrn H. Rose’s Labo- 
ratorium ausgeführt worden. 


Wasser und organische Abgesehen von Wasser und der 
Materie — 18,53. organischen Materie. 
Kieselerde —=.37.13. Kieselerde — 45.575. 
Thonerde — 16.74. Thonerde — 20.547. 
Eisenoxyd ; = 7.6. Eisenoxyd — 9.388. 
Maganoxyd = 9.44. Manganoxyd = 4.222. 
Kohlensaure Kalkerde = 9.59. Kohlensaurer Kalk = 11.648. 
Talkerde —= 1.80. Talkerde —= 2.209. 
Rali =. 2.97. Kali = 3.645. 
Natron = 1.9. Natron 112.332: 
Kupferoxyd = 0.25. Kupferoxyd —= 0.306. 
100.00. 100.00. 


Die gröfste Masse der Kieselerde kommt offenbar auf Rechnung der 
Polygastrica und Phytolitharien, der Eisengehalt wohl vorherrschend auf 
Gallionellen, da diese vorherrschend sind, dabei mag auch das Mangan 
vorkommen. Die kohlensaure Kalkerde entspricht ziemlich der nicht ganz 
so reichlichen Menge der Polythalamien. Die Thonerde mag als fremder 
Staub dabei sein. Kali, Natron, Talkerde, Kupfer sind chemische, geringe, 
mikroskopisch nicht näher nachweisbare Beimischungen. 

Folgende Uebersicht der Verbreitung des gleichen Meteorstaubes nach 
den bisherigen Erfahrungen dürfte erläuternd sein: 

Atlantischer Ocean bis 800 Seemeilen 
westlich von Afrika. 
Areal: X Capverdische Inseln. 
Malta. 
Genua. 
Zeit: 1830! 1834! 1836? 1838! 1846! 

Sonach hat dieser gelbe Meteorstaub in 16 Jahren und in grofsen geogra- 

phischen Fernen einen übereinstimmenden beständigen Character gezeigt. 


Substanz gleich. 


Passatstaub und Blutregen. 2833 


Obwohl weit entfernt auf eine Hypothese irgend ein Gewicht zu legen, 
halte ich doch für Pflicht nach einer Verbindung der Thatsachen zu suchen 
und fühle mich daher angeregt und genöthigt, der schon jetzt vorgelegten 
Einzelheiten halber und so weit diese einen Schlufs gestatten, an eine Ame- 
rika und Afrika in der Gegend der Passatwinde verbindende, zuweilen, 
besonders gegen den 15. und 16. Mai nach Europa hin abgelenkte Luftströ- 
mung zu denken, welche diesen so eigenthümlichen, scheinbar nicht afrika- 
nischen Staub in unberechenbaren Massen mit sich führe. Wird man nicht 
Hypothesen mit Hypothesen bekämpfen, vielmehr im vereinten Streben, 
wissenschaftliche Beobachtungen an Beobachtungen reihen, so wird die 
Aufklärung dieser räthselhaften, die Aufmerksamkeit mannigfach spannenden 
Verhältnisse raschen Fortgang haben. 


V. 
Mittheilungen über die mikroskopische Analyse des Scirocco- 
Staubes und Blutregens, welcher am 17. October 1846 mit 
heftigem Orkane bei Lyon gefallen.(!) 


Durch die seit 2 Jahren schon allmählig mitgetheilten Resultate der 
Untersuchung verschiedener meteorischer Staubarten, wodurch die Wir- 
kungen des Scirocco mit Erscheinungen des fernen atlantischen Oceans in 
nahe directe Verbindung gebracht wurden, ist Herr Dr. Lortet in Lyon 
angeregt worden, mir eine Probe des Seirocco-Staubes, welcher am 17. 
October 1846 bei La Verpilliere zwischen Lyon und Grenoble mit dem 
unheilvollen Orkane jener Tage gefallen ist, alsbald zur Untersuchung zu 
übersenden. Das Schreiben vom 28. October enthält folgende kurze 
Schilderung der Nebenverhältnisse. 

„Das Unwetter kam über die Bergkette des Ardeche-Distriets mit 
Nord-Westwind. Gleichzeitig, von 7 Uhr Morgens am 17. October an, ver- 
dunkelte sich der Himmel aufserordentlich über Grenoble. Man hatte 
daselbst erstickende Stöfse eines südöstlichen Seiroccos. Gleichzeitig mit 
blutartigem Regen fiel der (eingesandte) sehr reichliche rothe Staub von 
dem die Postwagen 1-2 Linien hoch bedeckt wurden. Nur am Abend, von 
6 Uhr bis Mitternacht, war der Orkan in Lyon bemerkbar und der Staubfall 


(') S. d. Monatsber. 1846 p. 319. und 1847 p. 301. Vergl. Abschnitt VII. 
Nn2 


954 EHRENBERce: 


war von 64 bis 114 Uhr deutlich (wie in den Distrieten der Isere, Dröme 
und Ardeche). Der Regen war nicht übermäfsig, aber der Himmel er- 
schreckend. Es gab 2 Herde des Unwetters, einen im Süden, den anderen 
in Nordwest. Von Minute zu Minute wechselten die Winde. Blitze von 
merkwürdiger Stärke durchstreiften den Himmel, nicht vertikal, sondern 
horizontal und durchliefen mehr als + des Umkreises. Bei jedem Blitze 
verdoppelten die auf der Flucht befindlichen Zugvögel ihr verzweifeltes 
Geschrei. In den Strafsen, in offenen Zimmern, in Schornsteinen fing 
man Enten, Wachteln, Krammetsvögel, Amseln, Nachtigallen, Fliege- 
schnäpper u. s. w. 

Man sammelte in Lyon alle Materialien zu einer Mittheilung über den 
Verlauf des Orkans. Eine daselbst gemachte chemische Analyse des Staubes 
hatte als chemische Bestandtheile Kieselerde, kohlensauren Kalk und Eisen- 
oxyd ergeben. Die in das Schreiben eingelegte Probe des gefallnen Staubes 
war in feinem Briefpapier überall sauber und fest verklebt, sehr zweckmäfsig 
verpackt und mag an Masse dem Volumen dreier Erbsen gleichen. 

Dieser bei La Verpilliere ohnweit Lyon gesammelte Meteorstaub hat 
folgende Charaktere gezeigt: 

1. Von Farbe war der sehr feine Staub trocken ockergelb, beim An- 
feuchten mit Wasser rostroth, deutlich eisenhaltig. 

2. Bei der geringsten Bewegung verstäubte derselbe sogleich und war 
in seinen Theilen leichter verschiebbar als Mehl. 

3. Die mechanische Zusammensetzung ergab sich unter dem Mikroskop 
als aus sehr verschiednen Dingen bestehend, aber nirgends mit entschieden 
vulkanischen Theilen gemischt. Sehr feine sandartige Quarztheilchen und 
unregelmäfsige röthliche Theilchen bildeten mit einem noch feineren gelb- 
lichen Mulm die Hauptmasse, worin so viel bestimmbare Fragmente kleiner 
organischer Körper zerstreut lagen, dafs jedes kleinste untersuchte Staub- 
theilchen deren enthielt. 

Folgende 73 Species liefsen sich bestimmen und namentlich festhalten: 

Polygastrica. 39. 


Amphora libyca. Cocconema gracile. 
Campylodiscus Clypeus. Lunula. 
Cocconeis almosphaerica. Coscinodiscus. 


lineata. Discoplea atmosphaerica. 


Passatstaub und Blutregen. 285 


Eunotia amphioays. Himantidium Arcus. 
gibba. Zygodon. 
gibberula. Navicula affinis. 
granulata. Bacillum. 
?laevis. Semen. 
longicornis. Pinnularia aequalis. 
Monodon? borealis. 
Pileus. viridula. 
tridentula. Surirella Craticula. 

Gallionella decussata. Synedra Ulna. 

distans. Trachelomonas. 
granulata. Tabellaria 
procera. ?1 1) Fragmenta silicea 

Gomphonema gracile. ?2 } organica ignotae 

longieolle. 23 originis. 


Grammatophora parallela. 


Phytolitharia. 3. 


Amphidiscus obtusus. Lithostylidium Emblema. 
Lithodontium Bursa. Ossiculum. 
curvaltum. quadratum. 
Jurcatum. rostratum. 
nasutum. rude. 
platyodon. serpenlinum. 
rostratum. Serra. 
Lithostylidium Amphiodon. spiriferum. 
articulatum. Trabecula 
biconcavum. unidentatum. 
clavatum. Spongolithis acicularis. 
Clepsammidium. Fustis. 
crenulatum. 
Polythalamia. 3. 
Nodosaria? _Rotalia globulosa. Textilaria globulosa. 


Particulae plantarum molles. 5. 
Pollen Pini. Phragmidü? sporangia. Pili plantarum. Squamae plantarum. 
Tela cellulosa. 


256 EHRENBERG: 


Insectorum fragmenta. 1. 

Squamula alarum Tineae? 

Diese Beimischung erkennbar erhaltener Körperchen beträgt etwa + 
(124 pC.) des Volumens. Ob die übrige Hauptmasse unorganischen Ur- 
sprunges, oder auch noch durch ins Unkenntliche veränderte organische 
Kiesel- und Kalktheilchen wesentlich bedingt sei, hat sich nicht ermitteln 
lassen. Besonders drängt sich die Vermuthung auf, dafs ein Theil des 
gelblichen körnigen sehr feinen massenhaften Mulmes vielleicht der Gallo- 
nella ferruginea angehört, die aber nicht deutlich genug erkannt wurde. 

Wer sich dem ersten, unwissenschaftlichen Eindrucke hingiebt könnte 
sagen, es verstehe sich von selbst, dafs in dem Staube der Oberfläche, den 
ein Orkan aufwühlt und fortführt, auch allerlei mikroskopische organische 
Theilchen seyn müfsten und dafs es bei der nothwendig grenzenlosen Varia- 
tion derselben nicht der Mühe werth sei dieselben zu verzeichnen. 

Bei überlegtem wissenschaftlichen Forschen fanden sich jedoch fol- 
gende Umstände auch hier bemerkenswerth: 

a. Der bei Lyon (La Verpilliere) gefallene Meteorstaub gleicht, wie die 
früher untersuchten von Genua und Malta, nicht unserm gewöhnlichen Luft- 
und Gewitterstaube, welcher in Europa, des selten ganz fehlenden Humus 
der Oberfläche und der vorherrschenden Bodenarten halber, trocken eine 
mehr oder weniger helle graue Farbe hat und nur in beschränkten Lokalitäten, 
wo die Oberfläche ohne Humusdecke ist, von Lehm und Eisenockertheil- 
chen so selten röthlich erscheint, dafs es noch niemals die Aufmerksamkeit 
der Meteorologen auf sich gezogen hat, so viel auch über Schwefelregen 
und ähnliche Dinge verhandelt worden ist. 

b. Der Meteorstaub von Lyon hat durch seine rostgelbe, auch, im nassen 
Zustande, rostrothe Farbe, seine grofse Feinheit, so wie durch seine chemi- 
sche und mechanische Zusammensetzung gerade dieselben Charactere, welche 
der im atlantischen Ocean, ohne Orkan, regelmäfsig, angeblich mit 
dem Passatwinde, fallende Staub besitzt, in welchem Character die in Malta 
1534 und in Genua am 16. Mai dieses Jahres (1846) gefallenen, die ganze 
Atmosphäre trübenden Staubarten, wie schon gemeldet, übereinstimmen. 

c. Diese Uebereinstimmung des Characters ist nicht blos im Allgemeinen 
geltend, sondern auf höchst auffallende Weise speciell, nämlich 

1. Der Sceirocco-Staub vom 17. October zeigt erstlich wieder beigemengte 


Passatstaub und Blutregen. 287 


seltenere Seekörperchen bei vorherrschenden mikroskopischen Süfswasser- 
Organismen in seiner Mischung. Es sind bis jetzt darinn 5 entschiedene 
Seeformen erkannt: 
Kieselschalige Polygastrica. 2. 
Coscinodiscus. _Grammatophora parallela. 
Kalkschalige Polythalamia. 3. 
INodosaria? Rotalia globulosa. Textilaria. 

Ueberdies sind noch 6 möglicherweise ebenfalls dem Meerwasser an- 
gehörige Körperchen darinn beobachtet, deren Genera aber auch in Süfs- 
wasser leben, sämmtlich Polygastrica: 

Cocconeis almosphaerica. Fragmenta silicea. 1 
Discoplea atmosphaerica. 2 
Eunotia laevis. 3 
So sind denn vielleicht 11 unter 73, sicher aber 5-8 Meeresformen, die 
übrigen 1? - # sind entschieden Süfswassergebilde des Festlandes. 

2, Wie bei dem atlantischen Meteorstaub, so sind auch im Lyoner die 
Phytolitharien sehr zahlreich, was auf wesentliches Mitbedingtsein der Er- 
scheinung in terrestrischen Oberflächen-Verhältnissen, in Vegetationsresten, 

“hinweifst und die Ausbildung der Substanz im Luftraume selbst 
widerlegt. 

3. Die an Individuenzahl vorherrschenden häufigeren Formen im Lyoner 
Staube sind: 


Polygastrica. 

Eunotia amphioxys. Gallionella decussata. 
gibberula. granulata. 
longicornis. procera. 

Phytolitharia. 

Lithostylidium Amphiodon. Lithostylidium rude. 


Össiculum. 

Gerade diese Formen sind auch nicht blos vorhanden, sondern eben 
so stets oder meist vorherrschend in den 8 früher verzeichneten atlantischen 
Staubarten. 

4. Von den 73 Formen des Lyoner Staubes sind 51 in den früher ana- 
lysirten genannten Staubfällen schon gleichartig verzeichnet. In allen 9 
Staubarten gleichartig vorhanden sind 4: 


288 EurEnBEere: 


Polygastrica. 9. 
Campylodiscus Clypeus. Gallionella procera. 
Gallionella granulata. 

Phytolitharia. 1. 
Lithostylidium Clepsammidium. 

In Uebereinstimmung mit den 6 atlantischen Staubarten, mit Ausschlufs 
der von Malta und Genua, hat der Lyoner Staub 24 Arten. In wenigstens 
2 aller 9 Staubarten finden sich aufser den 4, die allen gemeinsam sind, 
noch 15: 

Polygastrica. 5. 
Eunotia amphioxys. Gallionella distans. 
gibberula. Pinnularia aequalis. 
Gallionella crenata. 


Phytolitharia. 10. . 


Lithodontium Bursa. Lithostylidium clavatum. 
‚Jurcatum. quadratum. 
nasutum. rude. 
rostratum. Serra. 

Lithostylidium Amphiodon. Spongolithis acicularis. 


d. Eigenthümliche, nur in dem Lyoner Staube, nicht in den übrigen 
ähnlichen Staubfällen beobachtete Formen sind folgende 21: 
Polygastrica. 14. 


Amphora liby.ca. Grammatophora parallela 
Cocconeis atmosphaerica. Himantidium Zygodon. 
Cocconema gracile. Trachelomonas. 
Coscinodiscus. Tabellaria. 
Eunotia gibba. Fragmenta silicea 1. 

? laevis. Dar 
Gomphonema longicolle. 3. 


Phytolitharia. 3. 
Lithostylidium articulatum. Lithosiylidium Trabecula. 
serpentinum. 
Polythalamia. 1. 
Nodosaria? 


DD 
[e 2) 
de) 


Passaistaub und Blutregen. 


Plantarum fragmenta mollia. 2. 
Pollen Pini. Squamae plantarum laciniatae. 
Insectorum particula. 1. 
Lepidopteri (Tineae?) squamula. 

Ganz neu sind unter diesen 21 Formen nur 2 so wohl erhaltene, dafs 
sie bestimmbar geworden, Cocconeis atmosphaerica und Eunotia? laevis 
vielleicht auch die 3 Fragmente, welche jedenfalls unbekannten Formen 
angehören. Ueberdiefs scheint das zierlich gelappte vegetabilische Schüpp- 
chen seiner Eigenthümlichkeit halber unter die nicht europäischen Körper- 
chen gezählt werden zu müssen. Die übrigen 15 Formen sind schon 
bekannten Arten ganz ähnlich. 

e. Die Hauptmasse aller dieser 73 Formen ist europäisch; viele sind 
auch aus anderen Welttheilen bekannt. Keine Form ist bezeichnend afrika- 
nisch, keine asiatisch, aber 2 sind wieder dabei, welche für Südamerika 
characteristisch zu sein scheinen: 

Eunotia Pileus. Himantidium Zygodon. 

Da die im Lyoner Staube allein beobachteten und die überhaupt nur 
in diesen Staubarten vorgekommenen Formen kein terrestrisches Vaterland 
bezeichnen, so geht von diesen vielleicht späterhin eine weitere Entschei- 
dung aus, es sind 7: 


Cocconeis almosphaerica. Fragmenta silicea organica 1. 
Cosecinodiscus. 2% 
Discoplea atmosphaerica. 3. 


Eunoltia ? laevis. 

Die Eunotia Pileus als amerikanische Charakterform ist insofern der 
fortgerückten Untersuchungen halber jetzt weniger scharf bestimmend, als 
sie auch aus Spanien neuerdings einmal erkannt worden ist, allein sie ist 
nur in einem Exemplare einer todten Schale aus Spanien und in zahllosen 
lebend gesammelten Exemplaren aus Guiana beobachtet, mithin doch immer 
noch wahrscheinlicher von hier als von dort. 

f. Dafs der rothe Staub in seiner Mischung mit dem Regen am 17. 
October ein blutartiges Gewässer gebildet hat, wie die Zeitungen vielfach 
berichtet haben, ist insofern bemerkenswerth, als diese Art von blutfarbigen 
Meteoren hiermit zum erstenmale eine sichere directe Ermittlung findet. 

g. Ganz besonders bemerkenswerth ist bei diesem Staubfalle, dafs, 


Phys. Kl. 1847. Oo 


290 EHRENBERG: 


ungeachtet seiner Übereinstimmung mit dem atlantischen Staube, der stets 
todte und leere Schalen von Organismen zeigte, sich darin Eunotia 
amphioxys öfter mit ihren grünen Eierstöcken, also lebensfähig 
vorgefunden hat. 

Es ergeben sich hieraus folgende allgemeine Resultate und Charactere 
des neuen Scirocco-Staubes: 

1. Der Staub des Scirocco-Orkans vom 17. October 1846 bei Lyon ist 
von gewöhnlichen europäischen und nordafrikanischen Staubarten abwei- 
chend, aber durchaus übereinstimmend mit den meteorischen Staubarten, 
welche seit 1830 im atlantischen Ocean, bei den Capverdischen Inseln und 
mit Scirocco bei Malta und Genua beobachtet worden sind. Die Proben 
dieser sämmtlichen Staubarten sind wie aus einem und demselben wohlge- 
mischten Päckchen Staub entnommen, obschon ihr höchst verschiedner 
Ursprung sammt ihrer unberechenbar grofsen Masse völlig sicher sind. 

2. Aufser der Windrichtung, (welche den neuesten glücklichen und 
scharfsinnigen Zusammenstellungen und Schlüssen der Meteorologen (Dove) 
zufolge, kein Kennzeichen vom Ursprunge der Stürme bildet) spricht kein 
innerer noch äufserer Charakter des Staubes für seinen Ursprung aus Afrika, 
aber es finden sich darin wieder mehrere in Südamerika vorzugsweise oder 
allein einheimische Formen. 

3. Auch der Lyoner Staub kann nicht aus dem tiefen Innern eines Fest- 
landes, sondern nur von einer Küstengegend stammen, wenn er überhaupt 
einfachen Ursprungs ist, weil er jetzt lebende Seeformen enthält. 

4. Die Mischung dieses neuesten Scirocco-Staubes ist wieder nicht blos 
den räumlich sehr fernen der Capverdischen Inseln gleich, sondern auch 
dem schon seit 16 Jahren dort gefallenen so sehr gleich, dafs der Unterschied 
durch die Übereinstimmung weit übertroffen wird und im Mangel der Kennt- 
nifs zu liegen scheint. 

5. Eine so gleichförmige Mischung in so grofsen Mengen und bei so 
grofsen Raum und Zeit-Unterschieden kann, wenn auch die Untersuchungen 
nur kleine Mengen betreffen, weder von einem beschränkten Punkte aus- 
gehen, wo ja andere nasse Jahreszeiten andere Organismen bedingen, noch 
überhaupt eine unbedeutende momentane Aufregung eines örtlichen Staubes 
durch Wirbelwinde sein. Sie scheint einem constanteren Verhältnisse, 
einem constanten, schwebenden, sich lange und immer von Neuem mischen- 


Passatstaub und Blutregen. 291 


den Staubnebel angehören zu müssen, welchen ein zufällig dazu tretender 
Orkan in beliebige Richtung verbreiten kann. 

6. In wie weit gewisse historische Arten des Höhrauchs (natürlich den 
vom Torfschwelen stets ausgenommen) mit dieser Erscheinung zusammen- 
fallen, läfst sich bis jetzt nicht feststellen, aber die Andeutung einer Mög- 
lichkeit solchen Zusammenfallens scheint nützlich zu sein. 

7. Die Gesammtzahl der in den bis jetzt untersuchten so auffallend 
übereinstimmenden 9 Staubarten aufgefundenen organischen Körperchen 
beträgt nun 119 Species, nämlich: 


Polygastrica 97 
Phytolitharia 46 
Polythalamia 8 
Particulae plantarum molles 7 
Inseciorum fragmenta 1 

119 


Von diesen sind 17 Arten: 8 Polyihalamia 
7 Polygastrica 
2 Phytolitharia (Spongolithides) 
dem Meerwasser angehörig, die übrigen 102, mit Ausnahme vielleicht der 
wenigen neuen Arten, sind Süfswassergebilde. 

8. Esgiebtin dem neuesten Staube lebend getragene Formen, 
welche jedoch der Idee eines verbreiteten Lebens in der Atmosphäre noch 
keine wissenschaftlich bedeutende Nahrung geben. Die gleichzeitigen Phy- 
tolitharien sind Erdgebilde, unselbstständige Pflanzentheile. 

9. Der Staub hat keine Spur vulkanischer Einwirkung. 

10. Gleichzeitig mit Regen fallend bewirkt er die Erscheinung rother (für 
aufgeregte Gemüther blutartiger) Gewäffer. 

11. Der oft Krankheiten bedingende Seiroeco des südlichen Europas, 
begleitet von einer staubigen orangefarbenen Atmosphäre, scheint allerdings, 
wie es von mir früher vermuthet worden war, regelmäfsig (Malta, Genua, 
Lyon) den atlantischen organischen Staub weit über Europa zu verbreiten. 

Mögen diese Thatsachen das Interesse an dem Gegenstande, besonders 
bei der Schiffahrt wissenschaftlicher Männer noch wach erhalten. Den ter- 
restrischen Ursprung merkwürdiger mit atmosphärischer Staubtrübung oder 


grolsen Stürmen verbundener Meteore wird man durch mikroskopische 
002 


2923 EHurEenBEre: 


Analyse der Staubarten allmählig so genau und so schnell ermitteln können, 
dafs sich eine wissenschaftlich und wohl auch sonst sehr interessante irdische 
und überseeische Telegraphie dadurch zuweilen gestalten mag, wie sie schon 
neuerlich(') und auch schon 1845 beim Hecla (?) stattgefunden. 


VI. 


Über eine neue Probe und Analyse des Scirocco-Staubes vom 
16. Mai 1846 aus Genua.(°) 

Herr L. v. Buch hat mir vor einigen Wochen in einer Sitzung der 
Academie eine neue Probe des Scirocco-Staubes vom 16. Mai dieses Jahres 
übergeben, welche der Director der Navigations-Schule in Genua, Herr 
General Graf della Marmora, correspondirendes Mitglied der Academie, 
als einer genauern Analyse würdig erkannt und eingehändigt hatte. Diese 
Staubprobe befindet sich in einem starken Gläschen mit eingeriebenem 
Stöpsel sehr sauber und wohl verwahrt. 

Im Äufsern ist diese zweite reichere Probe der erstern von Herrn 
Pictet in Genf gesandten völlig gleich. Es ist ein blafs rostrother sehr 
zarter Staub, welcher sich leicht in seinen Theilen verschiebt. Auch in 
der mechanischen Zusammensetzung ist die Übereinstimmung vollständig, 
in folgender Art: 

1. Jedes untersuchte Minimum der Substanz enthält zahlreiche erkenn- 
bare, oft ganz wohl erhaltene Organismen. 

2. Die Hauptmasse des Organischen sind kieselschalige Süfswasserthier- 
chen und Phytolitharien. 

3. Bei 20 genauen Untersuchungen nadelknopf-grofser Mengen sind keine 
Kalkschalen-Thierchen und auch keine Seethierchen vorgekommen. 

4. Synedra Entomon als südamerikanische Form und Discoplea atmos- 
phaerica aus dem Malteser und Lyoneser Staube sind charactergebend. 

3. Die an Individuenzahl vorherrschenden Formen sind Gallionella gra- 
nulata und procera. 


(') Es würde jetzt von grolsem Interesse sein, zu erfahren, ob beim Orkan vom 
12. October 1846 in Havanna ein ähnlicher Staub gefallen ist. 


(2) S. d. Monatsbericht 1845. p. 399. 
(°) S. d. Monatsbericht 1846. p. 379. 


Passatstaub und Blutregen. 293 


Im Ganzen sind bei 20 Untersuchungen 26 Arten von Organismen 
bestimmbar gewesen. 
Kieselschalige Polygastrica. 12. 


* 


Gallionella decussata. 


Campylodiscus Clypeus. 


* Cocconema. distans. 
Discoplea atmosphaerica. granulata. 
Eunotia amphioxys. procera. 

Argus. * Navicula. 
gibberula. Synedra Entomon. 
Kieselerdige Phytolitharia. 12. 
* Amphidiscus armatus. Lithostylidium Clepsammidium. 
Lithodontium furcatum. quadratum. 
platyodon. rude. 
rostratum. ä unidentatum. 
Lithostylidium amphiodon. ü Trabecula. 
© biconcavum. Spongolithis acicularis. 


Weiche Pflanzentheile. 2. 
Pollen —? Pius plantae. 

Von diesen Formen waren 19 auch in der von Herrn Pictet einge- 
sandten Probe aufgefunden. Mithin vermehrt sich hierdurch die For- 
menkenntnifs des Genuesischen Staubes um 7 Arten, die mit Sternchen 
bezeichnet sind. 

" Diese 7 Arten sind aber nicht eigenthümlich, sondern sind sämmtlich 
in den atlantischen und südeuropäischen rothen Staubarten der Atmosphäre 
schon angezeigt. 


Nr. 

Über den rothen Schneefall mit Föhn im Pusterthale in Tyrol 
am 31. März 1847, dessen Eigenthümlichkeit und sehr merk- 
würdigen Anschlufs an die atlantischen Staub-Meteore.(!) 

Am 31. März 1847 „fiel zu St. Jacob in Deffereggen (Tefferecken)(?) 
beim Südwinde zwischen 10 und 11 Uhr Mittags ein farbiger Schnee, der 


(‘) Monatsbericht 1847. p. 285. Vergl. Abschnitt IX. 
(*) Nach den Geographen (Stielers Atlas) heilst der Ort „‚das Tefferecken-Thal am 
Bache Tefferecken. 


994 EHrRENBERG: 


- 


der ganzen Wintergegend einen sonderbaren Anstrich gab. Man suchte 
diesen fremden Stoff zu gewinnen und bekam auf ungefähr 2 Quadratklaftern 
103 Gran von einer ungemein feinen Erdart, die im trocknen Zustande 
geschmacklos, mit äufserst feinem glänzenden Sandstaube vermischt ist und 
ziegelfarbig aussieht. Dieselbe Erscheinung erstreckt sich über den ganzen 
Landgerichtsbezirk Windisch-Matray und bis in die Gegend von Lienz, wie 
mündliche Berichte melden.“(!) 

Von diesem rothen Schneestaube hat sich Herr Jos. Oellacher, 
Apotheker in Innsbruck, durch den Curat zu St. Jacob in Tefferecken, 
Herrn Jgnaz Villplaner, zu einer chemischen Prüfung zu verschaffen 
gesucht. Dieser wissenschaftlich aufmerksame Geistliche hat am Tage des 
Schneefalls selbst und später am 20. April dergleichen Staub aus dem Schnee 
gesammelt und sandte etwa 50 Gran von beiden Massen an Hrn. Oellacher. 
Herr Oellacher fand beim Sieben der Substanz einen Rückstand von glatten 
cylindrischen Fasern, die er für Samenwolle, zumeist ähnlich der des Pappus 
der Centaurea benedicta hält. 

Der im März selbst sogleich gesammelte reinste Staub hatte eine ziegel- 
rothe ins Bräunliche ziehende Farbe, war sehr fein zertheilt wie geschlemmtes 
Pulver, knirschte zwischen den Zähnen, entwickelte im Kolben erhitzt 
zuerst Wasserdämpfe, ward dann schwarz und stiefs unter Bildung eines 
braunen Oels empyreumatische Dämpfe aus, die ein geröthetes feuchtes 
Lackmus-Papier augenblicklich blau färbten. Von Chromgehalt fand sich 
keine Spur. Die chemischen Bestandtheile waren in 100 Theilen ' 

Schneestaub. Saharasand. 


Kieselerde 1,72. 2,39. 
Kohlensaure Kalkerde 20,48. 4,34. 

Bittererde 9,04. 0,9. 
Eisenoxyd 8,50. 0,92. 
Alaunerde 4,63. 1,29; 
Kali 1,60. 0,33. 
Chlornatrium 0,06. 0,09. 


(') Diese Nachricht wurde zuerst im Tyroler Boten vom 15. April gegeben, dann 
ist die Erscheinung von Herrn Jos. Oellacher in der Wiener Zeitung vom 2. Juni 
14847 ausführlich erläutert worden. 


Passatstaub und Blutregen. 295 


Schneestaub. Saharasand. 


Chlorcaleium 

Chlormagnesium Spuren. Spuren. 
Salpetersaure Salze 

Wasserhaltige stickstofffreie organische Materie 4,15. 0,93. 
Unverwitterte Bestandtheile 47,30. 88,15. 


100,00. 100,00. 

Wegen beigemengter Pflanzenwolle und der stickstoffreichen organi- 
schen Materien hält Herr Oellacher den Staub für terrestrisch, nicht für 
kosmisch. 

In Rücksicht auf die sehr allgemeine angenommene aber noch nicht 
direct erwiesene Meinung, dafs der Seirocco-Staub von Süden kommend 
aus Afrika stamme fand sich Herr Oellacher veranlafst, eine im Tyroler 
National-Museum zu Innsbruck durch den Herrn Grafen v. Kunigl. nieder- 
gelegte Probe eines rothen afrikanischen Wüstensandes, angeblich aus der 
Sahara, ebenfalls chemisch zu prüfen. Herr Oellacher ist dadurch zu dem 
Resultate gelangt, dafs der rothe Sahara-Staub allerdings genau dieselben 
chemischen Bestandtheile enthalte, als der obige Schneestaub, wenn man 
nur die unverwitterten Bestandtheile, deren sehr viel mehr im Wüstensande 
seien, aufser Acht lasse. Durch den Luftschlemmungs-Procefs der Atmos- 
phäre glaubt Herr Oellacher diese Differenz der weiter getragenen feineren 
Massen hinreichend erläutert und erklärt sich überzeugt, dafs ein dem von 
ihm untersuchten ähnlicher afrikanischer Wüstensand das Material zu dem 
Schneestaubfall in Tyrol geliefert haben müsse, da auch ein ähnlicher See- 
salz-, Kalk- und Stickstoffgehalt beide verbinde. Somit glaubt derselbe 
zum erstenmale die wirkliche afrikanische Natur des Scirocco-Staubes nach- 
gewiesen zu haben, denn die verwitterten Bestandtheile allein genommen, 
geben folgendes Schema: 

Schneestaub. Saharasand. 


Kieselerde 15,24. 23,67. 
Kohlensauere Kalkerde 40,49. 39,67. 
Kohlensauere Bittererde 10,94. 8,23. 
Eisenoxyd 16,70. 8,41. 
Alaunerde 9,18. 11,42. 


Kali 3,13. 7,38. 


296 EHRENBER:G: 


Schneestaub. Saharasand. 


Chlornatrium 0,06. 0,09. 
Chlorcalecium 
Chlormagnesium Spuren. Spuren. 


Schwefelsaure Salze 
Wasserhaltige stickstoffreiche organische Materie 4,15. 0,93. 
100,00. 100,00. 
Da die mikroskopische Untersuchung mehrerer ähnlicher Staubmeteore 
schon längst ein von dieser chemischen völlig verschiedenes Resultat ergeben 
hatte, so erschien es mir wissenschaftlich nicht ohne gröfseres Interesse, 
mich zu bemühen darüber Klarheit zu erlangen, ob der hervortretende Un- 
terschied in der Untersuchung oder in der Substanz liege, da ja allerdings 
sehr ähnliche Erscheinungen durch ganz verschiedene ursächliche Bedingun- 
sen und Elemente hervorgebracht werden konnten, deren Erörterung hier 


5 
von besonderer wissenschaftlicher Wichtigkeit war. 

Ich habe mich daher im Juli 1847 an Herrn Oellacher mit der 
Anfrage gewendet, ob es wohl möglich sei eine, wenn auch noch so kleine, 
Probe der Staubart jenes Schneefalles, so wie des von ihm untersuchten 
Sahara-Staubes zur Ansicht und Prüfung zu erlangen? Auch über die Sicher- 
heit der Lokalität des Sahara-Staubes bat ich um gefällige Auskunft. Darauf 
ist mir ein freundliches Antwortschreiben sammt 4 kleinen Staubproben in 
Papier zugekommen, deren eine A am Tage des Schneefalles selbst bei Tef- 
ferecken von Herrn Villplaner gesammelt, deren zweite B ebenda, aber 
am 20. April gesammelt ist und deren dritte D, von Taufers im Pusterthale, 
ebenfalls später als der Schneefall, von demselben Geistlichen eingesammelt 
worden. Üeberdiefs war eine kleine Probe desselben rothen Sahara-Sandes 
C beigelegt, welchen Herr Oellacher analysirt hat. 

Rücksichtlich des rothen Sahara-Sandes wird im Briefe folgende Er- 
läuterung gegeben: „O ist der von mir untersuchte Sahara-Sand, den ich 
der Farbe nach, mit „leicht ziegelroth“ bezeichnete, der aber, wenn man 
will auch röthlich gelb oder gelbröthlich genannt werden könnte. Bereits 
habe ich mit Herrn Grafen von Kunigl gesprochen, der — ihn von Herrn 
Heinrich Littrow —, Bruder des jetzigen Directors der Wiener Stern- 
warte, als einen ächten Sahara-Sand, den er selbst gesammelt hatte, em- 
pfangen hat. Herr Littrow war — Marine- Offizier und (sein Onkel) — 


Passatstaub und Blutregen. 9397 


Graf K. glaubt sicherlich, dieser Sand sei aus Aegypten, will sich aber des- 
halb noch bei Herrn Littrow erkundigen.“ 

Da es rücksichtlich des Sciroeco-Staubes wichtig ist, eine richtige 
Ansicht von den Oberflächen-Verhältnissen von Nord-Afrika festzustellen, 
so ist es nöthig hierbei darauf aufmerksam zu machen, dafs die in Innsbruck 
aufbewahrte und in den chemischen Characteren verglichene Probe eines 
afrikanischen Sandes aus den brieflichen Mittheilungen nicht den Character 
eines auffallenden und bedeutenden Oberflächen-Verhältnisses, sondern nur 
den eines nebenbei betrachteten Localverhältnisses gewinnt, an deren ähn- 
lichen es freilich in Nordafrika nicht fehlt. Ich selbst habe die bunten, 
rothen, gelben und violetten sehr mürben Mergel und Sandsteine der Sahara- 
Wüste in ihrem Abfall bei Siwa beschrieben und abgebildet(!) und es ist 
bekannt, dafs im Innern von Afrika viel hochrothes Eisenoxyd und rother 
Bolus zum Malen des Leibes bei den Negern benutzt, auch viel Eisen ge- 
wonnen wird. Ich selbst habe die zu Tage gehenden Lager von Brauneisen- 
stein in Dongola 1821 besucht und ihre Proben zuerst nach Europa und 
Berlin gesandt. Alle diese nicht seltenen Verhältnisse stets lokaler eisen- 
schüssiger brauner, rother und gelber Erden, welche wo sie vorkommen, 
am meisten in die Augen fallen und von Reisenden leichter als gewöhnliche 
graue Erden, als Landes-Proben und Andenken, mitgenommen werden, 
sind für den Seirocco-Staub ohne Bedeutung. Auch ist dort an der Küste, 
bis tief in die Wüste, überall eine grofse Efflorescenz von Salzen aus dem 
Boden. Ferner ist der Flugsand sehr reich an organischen, besonders kalk- 
schaligen Theilen und Formen, so dafs er zuweilen ganz aus organischen 
Meeresformen besteht. So kann es freilich im oberflächlichen Sande der 
Sahara nicht an organischen Resten und Formen fehlen. Da aber der be- 
kannteste Character der Sahara in dem Mangel an süfsem Wasser besteht, 
so liegt es nahe, dafs da wo organische Mischungen im Sande vorkommen, 
diese nicht dem Süfswasser, sondern dem Meere oder Salzwasser, wenig- 
stens vorzugsweise angehören werden. — Endlich ist der von Herrn Oel- 
lacher zur Vergleichung herbeigezogene rothe eisenschüssige Sand doch 
auch von ganz anderer Farbe, als der in Tyrol gefallene Schneestaub. Er 
ist, wie im Briefe von ihm selbst angegeben wird und der Augenschein deut- 


(') Reisen in Aegypten u. s. w. 1828 p. 134. 
Phys. Kl. 1847. Pp 


298 EHuRENBERG 


lich ergiebt, grell gelbroth, nicht ockergelb oder braunröthlich. Wenn 
man hierzu noch bedenkt, dafs kleinere und gröfsere Staubwirbel und eine 
staubige Atmosphäre in der Sahara und schon in Aegypten selbst zu den 
fast täglichen Erscheinungen gehören und dafs weder von mir selbst bei 
sechsjährigem Aufenthalte daselbst, noch von anderen Reisenden je ein 
rother Staub bemerkt und angezeigt ist, ungeachtet der Chamsin und Sa- 
mum stets aus dem tiefen Innern des Continents kommen, dafs 
vielmehr von weifsen Oberflächen und grauem Staube stets ‘dort die Rede 
ist und dafs meine Erfahrung von Aegypten und Libyen bis Dongola hinauf 
mir ein völlig gleiches Bild dieser Verhältnisse eingeprägt hat, so können 
auch kleine Proben rothgelben Sandes, welche Reisende von dort mitge- 
bracht haben mögen, dieses feste Bild nicht stören. Hunderte von Fufsen 
hohe, blendend-weilse Berge von feinstem Flugsande als Felsanhänge in 
den Gebirgsgegenden und ebenso tiefe gleiche Anfüllungen der Thäler bilden 
die beweglichen Oberflächen-Verhältnisse in der wasserlosen grofsen Sahara. 

Nach diesen Erläuterungen erlaube ich mir das Resultat meiner Unter- 
suchung des Tyroler Schneestaubes vorzutragen. 

Der am 31. März im Pusterthale mit Schnee und beim Südwinde 
(Föhn, Fovonius?) gefallene Staub zeigt in seiner Zusammensetzung bei 
Anwendung des Mikroskopes viele verschiedenartige, nicht vulkanisch ver- 
änderte Theile, ganz gleich der Zusammensetzung des im atlantischen Meere 
bei den Capverden regelmäfsig fallenden Staubes. Unter diesen Theilchen 
sind so viele erkennbare Fragmente kleiner, meist Süfswasser-Organismen, 
dafs, wie dort, jedes kleinste von mir untersuchte Staubtheilchen deren 
erkennen liefs. 

Die mir übersandten 3 Proben des Tyroler Staubes sind unter sich 
an Farbe etwas verschieden. Die Probe No. 1., vom frisch gefallenen 
Schnee gesammelt, ist ockergelb oder blafs und schmutzig rostfarben, etwas 
heller als die beiden später gesammelten, aber der Farbe des atlantischen 
Staubes, so wie des Meteorstaubes von Malta, Lyon und Genua, welche 
im vorigen Jahre analysirt wurden, auffallend gleich. Die beiden anderen 
später gesammelten Proben sind etwas dunkler oder bräunlich, am meisten 
die von Taufers D. Alle sind sehr leicht verstäubend und in den übrigen 
äufseren Characteren den atlantischen Staubarten ganz gleich. 


Der vom Herrn Oellacher analysirte Sahara-Sand ist, der vorliegen- 


Passatstaub und Blutregen. 399 


den Probe nach, an Farbe grell rothgelb, viel lebhafter gefärbt und obwohl 
fein (wahrscheinlich gesiebt) doch sehr viel gröber, in seinen Theilen leichter 
verschiebbar und durchaus nicht verstäubend. Die ihn zusammen- 
setzenden Theile sind unregelmäfsige Quarzkörnchen, die alle einen feinen 
Eisenoxyd-Überzug haben und dazwischen liegen einzelne undeutliche Kalk- 
theilchen von Polythalamien oder zerriebenen Muscheln, eine Zusammen- 
setzung, welche ganz einem feinen quarzigen Dünensand gleicht, vielleicht 
aber einem verwitterten eisenschüssigen Sandsteine angehört. Von Süfs- 
wasser-Organismen ist keine Spur darin. 

Folgende 66 Formen haben sich als organische Beimischungen des 
rothen Schneestaubes vom 31. März feststellen lassen: 


RE TEN tam. |Sipe 
A. Polygastrica. nn C. N 
Campylodiscus Clypeus + + 
Coscinodiscus radiolatus? _ _ — - 
Discoplea atmosphaerica _ = — r 
Eunotia amphioxys +! +! —_ + 
Argus + 
gibberula er 
longicornis = _ — r 
Fragilaria rhabdosoma _ +? 
Gallionella erenalta | + _ — + 
distans + au m 
granulata +! +! — +! 
laminaris + 
procera +! +! En Su) 
Gomphonema truncatum + 
Pinnularia aequalis _ —_ _ +? 
borealis +! N er ae 
viridis — +? 
viridula + 
pP — 
Stauroneis se 


300 EHRENBERG: 


Schneestaub von Sah Schnee- 
Tefferecken. ahara- |taub von 


————— Sand. Taufers. 
A. B. eunll Be D. 
Surirella Craticula Eh 
Trachelomonas laevis _ + _ = 


<= 
> 
=) 


B. Phytolitharia. 
Ampbhidiscus truncatus +! +! 
Lithasteriscus? _ _ 
Lithodontium Bursa + 

Jalcatum + 


Jurcatum 


+ 


nasulum + 
platyodon 
rostratum 
Lithostylidium Amphiodon 
biconcavum 
Catena — 
clavatum —_ 


4+4+++++ 


Clepsammidium) + 


crenulatum 
Emblema 
Lima 


+ 


polyedrum 
quadratum 
Jajula 
rostralum 
rude 
serpenlinum 


++ 4+++++ 


+++ 
| 


Serra 
spiriferum 
Trabecula 
unidentatum 


+ 


Spongolithis acicularis 
oblusa 


3 a a ae ae ae a a ee ze 


++ 1 #1 
+ I#+++ + 
EEE | 


- 
je.) 


Passatstaub und Blutregen. 301 


Schneestaub von Sah Schnee- 

Tefferecken. ahara- [taub von 
Sand. 

m N Taufers. 


C. Polythalamia. A. B. €. D. 


Miliola? Pr 
? ni 4 ? 
Spiroloculina? _ er — E 


) 


Fr 


D. Plantarum particulae 


molles. 
Squamula plantae dichotoma| — = = + 
Plantarum particulae 
cellulosae| + -r — - 
‚Jibrosae + _ _ + 
porosae —_ u — + 
Pollen Pini + _ _ + 
fr — — —_ 
Semen Filicis + 
Pilus plantae laevis simplex - + 
articulatus == + 
dentatus (Pappus?) — er 
spiralis == _ _ + 
siellatus — + 
scaber simplex — == 


E. Insectorum fragmenta. 


| 
| 
+ 


Squamula alarum (Tineae?’)| — 
er 

Es sind 20 genaue Analysen von A, 10 von B, 10 von C und 20 von 

D gemacht worden, zusammen 60. Als Resultat dieser mikroskopischen 

Analysen des Tyroler Schneestaubes vom 31. März d. J. lassen sich, wenn 

man die 4 oben genannten Proben unter sich vergleicht, folgende Punkte 
feststellen. 

1. Der Schneestaub vom 31. März und der Sahara-Sand, welcher von 

Herrn Oellacher zur Vergleichung gezogen worden ist, sind chemisch zwar, 

seiner Analyse zufolge, in gewisser Beziehung nahe gleich gemischt, mikro- 


302 EHurEnBEre: 


skopisch aber durch kein einziges sicheres Merkmal vereinigt, dagegen durch 
66 sichere Merkmale getrennt. Je übereinstimmender aber die chemische 
Zusammensetzung und je abweichender gleichzeitig diemechanische Mischung 
ist, desto deutlicher tritt hervor, dafs die mikroskopische Analyse in solchen 
Fällen der chemischen sehr viel vorzuziehen ist, wenn man beide zu ver- 
binden nicht Gelegenheit hat. 

2. Die 3 zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gesam- 
melten, aber auf ein und dasselbe Meteor bezüglichen Tyroler Staubarten 
zeigen eine so grofse Übereinstimmung in ihren mechanischen Mischungs- 
Verhältnissen, dafs man sich überzeugt fühlt, dafs auch die nicht am Tage 
des Schneefalls aufgesammelten Proben in ihrer Reinheit fortbestanden 
haben und aufgenommen worden sind. Die etwas mehr dunkelnde Farbe 
der später gesammelten Proben mag vom Einwirken des Wassers durch die 
oberflächliche, wenn auch geringe Schneeschmelzung auf die organischen 
weichen Theile entstanden, ein anfangendes Verrotten sein. 

3. Da ein solches Verrotten dieses Staubes möglich ist, so darf man 
daraus schliefsen, dafs die demselben ausgesetzten Theile vom Winde aus 
lebenden rasch abgetrockneten (sehr trocknen, nicht vorher schon verrotte- 
ten) Verhältnissen emporgehoben und fortgetragen worden sind. 

4. Die Gesammtzahl der hiermit unterschiedenen organischen Formen 
dieses Schneestaubes beträgt 66 Arten, nämlich: 

Summa. Tefferecken. Taufers. 


Kieselschalige Polygastrica 22 18 10 

Kieselerdige PAytolitharia 28 24 18 

Kalkschalige Polythalamia 2 1 1 

Weiche Pflanzentheile 13 9 

Insectentheile 1 _ 1 
66. 52. ee 


Von diesen 66 sind bei Tefferecken 52, bei Taufers 37 Arten nieder- 
gefallen. Mithin sind 14 bei Taufers niedergefallene Formen nicht bei 
Tefferecken und 29 bei Tefferecken niedergefallene nicht bei Taufers beob- 
achtet worden. Die Differenz kann und mag deshalb in der Beobachtung, 
nicht in der Substanz, liegen, weil leicht jedes neu zu beobachtende Theil- 
chen die fehlenden Lokalformen enthalten kann und weil die Mischung 
übrigens auffallend gleichartig ist. 


Passatstaub und Blutregen. 303 


In sämmtlichen 3 Staub-Proben gleichartig sind 10 Formen. Da aber 
2 dieser Staub-Proben sich auf eine und dieselbe Lokalität beziehen, so 
giebt die Vergleichung der beiden Localitäten das andere Resultat, dafs 
nämlich 23 Arten, mehr als 2, in beiden übereinstimmen, ein schon hin- 
länglich ausreichendes Verhältnifs um den gleichartigen Ursprung anzuzeigen. 
Dazu kommt aber der weit wichtigere Umstand, dafs dieselben Formen, 
welche vorherrschend in der einen Lokalität A und B sind, es auch in D sind. 
5. Die an Individuenzahl vorherrschenden Formen sind in dem Tyroler 
Schneestaube beider Lokalitäten : 


Eunotia amphioxys. Pinnularia borealis. 
Gallionella granulata. Amphidiscus truncatus. 
procera. 


alle übrigen Formen sind mehr vereinzelt. 

6. Die grofse Mehrzahl der Arten sind bekannte Süfswasser- und Conti- 
nental-Bildungen. Nur 4-6 Arten von den 66 sind unbekannt und von 
diesen sind nur 2 möglıcherweise Meeresgebilde: 


Gallionella laminaris. Lithostylidium Lima. 
Pinnularia — ? Pollen — ? 
Amphidiscus truncatus. Semen Filicis. 


Die letzteren 3-4 gehören zu den sicheren continentalen Süfswasser- 
Gebilden, die ersteren 2-3 könnten Meeresgebilde, aber auch Süfswasser- 
Formen sein. Dennoch läfst sich an einigen Formen erkennen, dafs der 
Staub nicht aus einem Continental- Verhältnisse entsprungen ist. Aufser 
jenen zweifelhaften 2-3 neuen Formen finden sich 2 sichere Meeresbildun- 
gen dabei: 

Coscinodiscus radiolatus. Spiroloculina? 
Vielleicht ist auch Discoplea atmosphaerica dahin zu nehmen. 

7. Die nach Herrn Oellacher muthmafslich dem Pappus der Centaurea 
benedicta angehörigen Fasern des Tyroler Schneestaubes sind sehr verschie- 
dene Pflanzenhaare, deren 2 Arten, Pilus dentatus und laevis simplex, 
vielleicht allerdings Pappushaare sein könnten, andere sind so eigenthüm- 
lich, dafs mir keine solche Formen aus Europa bekannt sind, namentlich 
die spiralen und die gabelartig viel verästeten. Sie dienen vielleicht später 
zur Feststellung geographischer Beziehungen, für jetzt aber ist es nicht mög- 
lich mit einiger Sicherheit den Ursprung dieser Haare zu beurtheilen. 


304 EHRENBERG: 


8. Sämmtliche Formen haben zwar den Character europäischer Genera 
und die meisten sind europäische Arten, doch finden sich auch die meisten 
in amerikanischen Lokalitäten, weniger zahlreich in afrikanischen. Über 
die neuen Formen läfst sich in geographischer Beziehung nicht urtheilen. 

9. Es ist hiermit zum erstenmale deutlich, dafs dem rothen frischen 
Schnee wirklich organische Verhältnisse zuweilen zum Grunde liegen, wäh- 
rend die gewöhnlichen berühmten ähnlichen Erscheinungen nur auf den 
schon Aristoteles bekannten Fall passen, wonach der alte liegende Schnee 
sich roth färbt. Diese rothe Färbung des alten Schnees, irrthümlich öfter 
auf die secundären Infusorien übertragen, ist durch eine bei niederer Tem- 
peratur sich entwickelnde Pflanze, Sphaerella nivalis aus der Abtheilung der 
Algen bedingt, deren erst grünen, dann rothen Inhalt, wenn er frei wird, 
die Infusorien verzehren und mit dem sie als Träger, selbst farblos, neue 
sehr lokale Färbungen veranlassen. Vergl. die Infusionsthierchen als vol- 
lendete Organismen 1838 p. 119. 

Vergleicht man nun den diesjährigen Tyroler Schneestaub (1847) mit 
dem Sciroceo-Staube von Malta, Genua und Lyon, von welchem im vorigen 
Jahre (1846) der Academie Meldung geschehen, so wie mit dem früher 
analysirten Meteorstaube der Capverdischen Inseln und des atlantischen 
Öceans, so ergeben sich folgende höchst merkwürdige Verhältnisse. 

1. Die Farbe und das ganze Äufsere in allen Characteren, Feinheit, 
Adhäsionsverhältnifs der Theilchen, Schwere, verhält sich beim trocknen 
Tyroler Schneestaub durchaus nicht wie bei gewöhnlichem Luftstaub der 
Stürme, aber ganz und gar dem Scirocco-Staube und dem atlantischen 
Meteorstaube gleich. 

2. Die org 


5 
staub so auffallend characterisiren und sich gleichartig im Seirocco -Staube 


anischen Beimischungen, welche den atlantischen Meteor- 


gefunden haben, sind in höchst merkwürdig übereinstimmender Weise auch 
im Schneestaube vorhanden. Diese Übereinstimmung betrifft folgende 
wesentliche Punkte: 

a. Das Organische gehört denselben Abtheilungen an, es sind nur Poly- 
gastrica, Phytolitharia, Polythalamia, weiche Pflanzentheile, Insecten- 
theile, alle mikroskopisch. 

b. Von den 66 Arten des Tyroler Staubes sind 46, mithin mehr als 2, 
nämlich: 


Passatstaub und Blutregen. 305 


Polygastrica 17 
Phytolitharia 235 
Weiche Pflanzentheile 4 

46 


in den sämmtlichen früher analysirten Scirocco- und atlantischen 
Staubmeteoren gleichartig angezeigt. Folgende 21 aber sind in jenen 
Verhältnissen bisher nicht beobachtet: 

Kieselschalige Polygastrica 5: 
Coscinodiscus radiolatus. Pinnularia — ? 
Gallionella laminaris. viridis. 
Gomphonema truncatum. 

Kieselerdige Phytolitharia 3: 
Amphidiscus truncatus. Lithostylidium Lima. 
Lithostylidium Catena. 

Kalkschalige Polythalamia 2: 


Miliola ? Forma incerta. ( Spiroloculina?) 
Weiche Pflanzentheile 10: 

Poröse Pflanzenzellen (Pinus?) gezahnte 

Fasrige Pflanzenzellen Pflanzenhaare (@ Pappus?). 
glatte einfache (Pappus?). sternartige. 
glatte gegliederte. Blüthenstaub? 

Pflanzenhaare ü 

rauhe einfache. Farnsame. 


einfache mit Endspirale. 
Insectentheile 1: Schmetterlingsschüppchen. 

Von diesen 21 eigenthümlichen Formen sind die Mehrzahl Pflanzen- 
fragmente und ohne characteristische Eigenthümlichkeit. Auch sind 
dergleichen Pflanzenfragmente bei den früheren Analysen des Seirocco- 
„und atlantischen Meteorstaubes weniger speciell beachtet worden, da das 
Interesse erst neuerlich sich dafür gehoben hat. Von den 5 Polygastern 
als selbstständigen Organismen sind nur 2 neu. 

c. Die ganze Formen-Masse ist, wie sowohl im Scirocco als dem atlanti- 
schen Meteorstaube, vorherrschend aus Süfswasser- und Continental- 
Gebilden gemischt, in allen aber sind einzelne Meeresformen, so dafs 
man den Ursprung aus der Mitte eines grofsen Continentes nicht an- 
nehmen kann. 


Phys. Kl. 1847. Qq 


306 EHRENBER6G: 


d. In allen diesen gleichfarbigen Meteoren sind die Formen ohne vulka- 
nische Charactere (nicht gefrittet oder angeschmolzen). 

e. In allen sind sie ohne die Charactere eines Entwicklungsverhältnisses 
in der Atmosphäre selbst, vielmehr mit den Characteren terrestrischen 
Ursprungs. So wenig sich Säugethier-Knochen in der Atmosphäre 
entwickeln können, so wenig können es die zahlreichen Phytolitharien, 
welche Kieseltheile von Pflanzen sind. 

f. In allen diesen, sowohl der Localität nach, als der Zeit nach so höchst 
verschiedenen, aber gleichfarbigen Meteoren, welche seit 1830 bis 
1847 von den Capverden bis Tyrol und in den verschiedensten Jahres- 
zeiten gefallen sind, sind gewisse gleiche Formen so vorherrschend, 

5° 

kommen ist, ja wie die terrestrische Verschiedenheit der Jahreszeiten 


wie esin keinem Verhältnifs mikroskopischer F orschung bisher vor 


es nie zu erlauben scheint. i 

3. Vergleicht man den Tyroler Schneestaub nur mit dem atlantischen 
Meteorstaube, ohne Rücksicht auf den Scirocco von Malta, Genua und 
Lyon, so zeigen sich als gleiche Arten 

12 Polygastrica d. i. über die Hälfte, 

20 Phytolitharia d. i. über 3. 
Vergleicht man nun den Scirocco-Staub von Malta, Genua und Lyon mit 
dem Tyroler Schneestaube, ohne Rücksicht aut den atlantischen Meteorstaub, 
so giebt das 11 übereinstimmende Formen, oder 4. 

4. Dem atlantischen Meteorstaube, dem südeuropäischen Scirocco und 
dem Tyroler Föhn stets gemeinsam sind folgende 3 Formen: 

Campylodiscus Clypeus. Gullionella procera. 
Gallionella granulata. 

5. Dafs Föhn und Scirocco stets als Fortsetzungen der westindischen 
Sturmwirbel erschienen, ist durch die neuere Wirbel-Theorie der Stürme 
gegen die alte Meinung, dafs sie aus Afrika kämen, theoretisch wahre 
lich geworden und somit könnte der Gegenstand durch den directen Nach- 
weis aus speciellen bewegten Staubarten befestigt und wissenschaftlich abge- 
macht erscheinen. Dafs jedoch die Erklärung noch nicht völlig abgeschlossen 
sei, ergiebt sich aus folgenden Betrachtungen. 

Die bereits vorliegenden Analysen der von 1830 bis 1847 gefallenen, 
vom Harmattan oder Passat, Scirocco und Föhn getragenen Staub-Meteore 


Passatstaub und Blutregen. 307 


zeigen eine grofse Ähnlichkeit in der Mischung mit organischen kleinen 
Theilen. Solche Mischung läfst sich von jedem Sturme a priori erwarten. 
Dafs es aber überall gleichartige kleine Theile, dafs es sehr grofse 
Mengen verschiedener gleichartiger Theile sind, ist sehr auffallend 
und wird es noch weit mehr dadurch, dafs sie 17 Jahre lang undin 
ganz verschiedenen Jahreszeiten so gleichartig blieben, dafs so- 
gar die vorherrschenden Formen des einen Meteores auch die an 
Individuenzahl vorherrschenden Formen der übrigen sind. So 
gleichartige von Stürmen zu bewegende Oberflächen-Verhältnisse sind selbst 
dann nicht denkbar, wenn man sich der höchst unwahrscheinlichen Vorstel- 
lung hingeben wollte, dafs alle die untersuchten Meteore und Stürme immer 
genau von einem und demselben sehr beschränkten Punkte eines und des- 
selben Landes ihren Anfang genommen hätten. Überall wo Leben gedeiht, 
wechseln Jahreszeiten oder Regenzeiten und mit ihnen wechseln, nicht blos 
theoretisch, sondern meinen vielen directen Erfahrungen nach, entweder 
die Arten oder doch die Frequenz der einzelnen Lebensformen. Bedenkt 
man die Beimischung von Seethierchen und die immer gleiche Frequenz, 
das immer wiederkehrende Vorherrschen derselben Formen, so verschwindet 
alle Möglichkeit, daran zu denken, dafs die Staub-Meteore, welche der 
europäische Scirocco so wie der deutsche Föhn bewegt und welche den 
atlantischen Ocean nur in der Passatzone, auch im europäischen Winter 
(Januar und Februar) weit bedecken, sämmtlich stets direct aus West- 
indien abstammen könnten. So unmöglich es ist, sich die seit 1830 
bis 1847 in Vergleichung gebrachten Stürme alle in einem genetischen 
Zusammenhange, als ein einziges Continuum, zu denken, so unmöglich 
ist es auch, die von ihnen bewegten Staubmassen , bei solcher Gleichheit, 
sich ohne genetischen Zusammenhang zu denken. 

Es scheint sonach, wie es schon im November 1846 bestimmt ange- 
deutet wurde, immer nothwendiger zu werden, aneinen durch constante 
Luftströmungen constant schwebend gehaltenen Staubnebel zu 
denken, welcher, in der Passatzone gelegen, theilweis und 
periodisch Ablenkungen zu erfahren hat. Hiermit würde dann jede 
Schwierigkeit wegfallen, dafs alle genau beachteten Scirocco und Föhn- 
Stürme der verschiedenen Jahreszeit und der Jahre ungeachtet, stets einerlei 
Mischung der Staub-Meteore zeigen. Andererseits würde, ungeachtet der 


Qq2? 


308 EHRENBERGEG: 


Beimischung südamerikanischer Formen, nicht nothwendig anzunehmen 
sein, dafs alle Sciroeco und Föhn-Stürme aus einer, von ihrer aus Süden 
kommenden [Richtung ganz abweichenden, Lokalität in Westindien ihren 
Ursprung nehmen und allemal Wirbelwinde sein müfsten. Nothwendig 
würde nur, des von ihnen getragenen Staubes halber bleiben, dafs sie in 
der Passatzone anfıngen, gleichviel ob in der Nähe von Afrika oder Amerika. 
Da der wahre Passatwind das Festland von Afrika wohl gar nicht berührt, 
so würden sie nie von dessen Oberfläche unmittelbar kommen können, wohl 
aber von Amerika zuweilen, von wo ursprünglich die Masse des bewegten 
Staubes doch die Charactere mit sich trägt. Bei solchen Verhältnissen 
würde .es auch nicht mehr auffallen, wenn der von Herrn Pottinger beob- 
achtete gelbe Meteorstaub der Stürme in Beludschistan diese Mischung 
besäfse und demselben Verhältnifs angehörte, ohne dafs deshalb jene asiati- 
schen Stürme nothwendig in Cayenne oder den Antillen angefangen haben 
mülsten.(!) 

6. Da es gewifs sehr wünschenswerth ist für diese so eigenthümlichen 
Staub-Nebel und deren Substanz -Verhältnisse immer genauere und ausge- 
dehntere Nachrichten zu erhalten, so dürfte es angemessen sein, daran zu 
erinnern, dafs bei der grofsen Häufigkeit und dem Anhalten der Erscheinung 
im südlichen Europa, es den Bemühungen der Physiker, wenn man die 
optischen Charactere der Luft und des veränderten siderischen Lichtes in 
diesen Verhältnissen, sehr genau prüfte, gewils gelingen würde, auch solche 
Nebel, die ihrer grofsen Ferne oder electrischer Erdverhältnisse halber, 
von keinem Staubfalle begleitet sind, mit Sicherheit vergleichend zu beur- 
theilen. Mit manchem Höhrauch würden vielleicht manche Trübungen des 
siderischen Lichtes, Mondhöfe u. dergl. mehr, eine andere Erklärung finden, 
vielleicht sogar würde für den organischen Seiroeco-Staub ein weit gröfserer 
Gesichtskreis, oder doch die Sicherheit, dafs er nicht betheiligt ist, ge- 
wonnen werden. 

7. Danach Herrn Sabine’s genauen Beobachtungen in der Gegend des 
Gambia und der Capverden der feuchtere Nordost-Passat um 2 volle Grade 


(‘) Nur der brakische unfruchtbare Character dieses überaus merkwürdigen asiatischen 
rothen Staubes giebt ihm einen eignen Character, den ich am 27. Januar 1848 in einer 
vor der Akademie zum Jahrestage des Geburtstages König Friedrich II. gehaltenen Ein- 
leitungsrede, welche besonders gedruckt ist, bezeichnet habe. 


Passatstaub und Blutregen. 309 


(21°, 2) wärmer war, als der trocknere echt afrikanische Landwind Harmat- 
tan (19°, 2), so leitet dies wohl auf eine Erklärung des auffallend höheren 
Temperatur-Verhältnisses der europäischen Südwinde, ohne Mithülfe der 
afrikanischen Wüsten. Sabine, übersetzt in Schweiggers Jahrbuche 
der Chemie und Physik 1827 p. 3b. 

8. Der Mangel an vulkanischen Staubtheilchen in diesem Meteorstaube 
fängt nun an auffallend zu werden, da es aufser Zweifel gestellt ist, dafs 
grofse vulkanische Staubmassen in den antillischen Inseln bis zum oberen 
Passatstrome emporgeschleudert und in demselben weit fortgetragen worden 
sind. S. den Monatsbericht der Acad. 1847 p. 152. 

9. Die der Akademie im November 1846 vorgetragene Ansicht über den 
mit dem Scirocco-Sturme von Lyon am 17. October gefallenen Meteorstaub 
dessen Mischung mit 73 namhaften organischen Theilen, und deren wahr- 
scheinlicher Verbindung nicht mit Afrika, sondern mit Guiana in Südamerika, 
hat seitdem in der veröffentlichten gründlichen Untersuchung des Verlaufes 
des Orkans von Herrn Fournet in Lyon eine weitere entschiedene Stütze 
gefunden. Schon unter dem 3. Januar meldete mir Herr Dr. Lortet, nach 
Zusendung meiner Resultate in brieflicher Mittheilung, dafs der am 11. 
(9. Oct.) in der Havannah, Grenada, St. Vincent, Martinique und allerdings 
wahrscheinlich in Oyapack in Cayenne stattgefundene Orkan, Herrn Four- 
nets Untersuchung nach, den Anfang dieses Sturmes gebildet zu haben 
scheine. So hätte denn die mikroskopische Analyse unerwartet 
sicher den Ausgangspunkt der Substanzen vorausbestimmen 
lassen.(!) 


(') Nach dem gedruckten Berichte des Herrn Dr. Lortet, Präsidenten der Commis- 
sion Hydrometrique in Lyon vom 26. Febr. 1847 (Rapport sur les travaux de la Com- 
mission en 1846 p. 5.) wurden die ersten Anzeigen des Orkans am 17. Oct. in Guiana, 
Jamaica, Grenada und St. Vincent, am 11. in Florida u. s. w. bemerkt. Nach Herrn 
Prof. Fournet p. 63, hat sich die Bewegung der Atmosphäre an der Küste von Brasilien 
zuerst, dann (oder gleichzeitig) in Guiana kund gegeben. Es wäre interessant, besonders 
auch aus dem Innern von Südamerika in der Aequatorial-Zone durch Reiseberichte oder 
stationäre Missionare vergleichende Nachrichten über jene Zeit zu sammeln. Die ähnlich 
gefärbten gelben und rothen, stark eisenhaltigen Erden sind, nach den von den Herrn 
Gebrüdern Schomburgk mitgebrachten Materialien, gerade da bis tief ins Innere vor- 
herrschend. Von Polyeystinen und Geolithien aus Barbados (S. Monatsber. 1846 u. 1847 
p- 40.) zeigt sich nirgends eine Spur im Meteorstaube. Es scheint auch nöthig ausdrücklich 
zu bemerken, dafs ich solche directe Küsten- und Oberflächen-Verhältnisse 


310 EHrENBERG: 


Nach Herrn Fournet’s Darstellung hat der Staub nachweislich eine 
elliptische Fläche von 26,300 Quadrat-Kilometern (c. 400 DMeilen) bedeckt. 
Von Süd nach Norden bilden Livron und Ceyzeriat, von West nach Ost 
Lignon und Mont-Cenis die Grenzen. Quinson Bonnet in Valence sam- 
melte auf 40 TJMetres bis 30 Grammen solcher Erde und schliefst daraus, 
dafs die im Departement de la Dröme von den Wolken getragene Masse 
7200 Centner betragen habe (180 vierspännige Fuhren jede zu 40 Centner) 
p- 82 und 84. Die Meinung einzelner Beobachter in Frankreich, dafs der 
Staub aus der Nähe entführt sei, ist zurückgewiesen, auch ist einer mikrosko- 
pischen Analyse des Staubes von Valence durch Herrn Lewy, welcher nichts 
Organisches darinn sah, nur nebenbei und nicht mit dem Sicherheitsgefühle 
Erwähnung geschehen, als sei der Staub von Valence wirklich anderer Natur 
gewesen.(!) Herr Fournet ist der Meinung, dafs das Centrum oder der 
Anfangspunkt des Sturmes in der Mitte zwischen der Mündung des Amazonas 
und dem Gap Vert in 35° östl. Länge gewesen und dafs von da sich die 
Wellen desselben zu den vorhandenen Beobachtungspunkten, zuerst zu den 
kleinen Antillen, Brasilien und Guiana, fast mathematisch genau verfolgen 
lassen. Wie und wo der, dem vor 16 Jahren gefallenen gleiche, Staub hin- 
zugetreten, ist durch diese Darstellung nicht erklärt. Die angewendete 


im Passat-Staube nicht erwarte, und dafs ich gar nicht etwa der Meinung 
bin, dals die Guiana-Formen, obwohl ich noch jetzt vermuthen muls, dafs sie zum 
wesentlichen Theil von dortigen Küsten- und Continental-Puncten stammen, vom Orkane 
am 9. Oct. daselbst weggeführt worden sind, vielmehr hat dieser Orkan damals 
dort wohl nur die untere Passat-Zone bewegt und erst irgend wo anders mag derselbe 
die so constanten weit feineren Staubnebel ergriffen und verdichtet haben, welche muth- 
malslich der aufsteigende Passat langsam und in wohl sehr langer Zeit aus den Aequa- 
torial- Gegenden Amerika’s in der oberen Atmosphäre angehäuft hatte. Die bei einem 
solchen Versuch zur Erklärung rückbleibenden Schwierigkeiten verkenne ich nicht, halte 
aber für besser, irgend eine als gar keine leitende Idee bei der ferneren Untersuchung 
zu haben. Die bisher vorgelegten sicheren Data über die Substanz, deren Volumen und 
Verbreitung sind auffallend genug, haben nicht abzuläugnende mannigfache allgemeinere 
Beziehungen und wollen verbunden sein. Möge dies späterhin immer genügender gelingen. 
Bei der obigen Vorstellung erscheint es von Interesse, Proben des auf den Antillen oder 
in der Hayannah u. s. w. vielleicht gefallenen Staubes zu vergleichen, oder doch gewils 
zu werden, ob auf der ganzen Bewegungslinie des Orkans im unteren Passate bis 
Nordamerika und zum Wendepunkte der Orkan-Richtung hin, auch schon dergleichen 
gelber Staub vorgekommen ist. 
(') Vgl. Comptes rendus Paris 1847. II. 812. Hr. Ducaisne fand unsichre Spuren. 


Passatstaub und Blutregen. 311 


Wirbeltheorie des Sturmes ist, Herrn Fournets Angabe p. 3 nach, der 
von Herrn Dove der Akademie früher vorgetragenen beistimmend und be- 
stätigt dieselbe.(!) 

10. Offenbar ist wohl der am 31. März d. J. 1847. mit Regen gefallene 
Meteorstaub von Chambery in Savoyen (pluie terreuse), dessen im Nach- 
trage zu Herrn Fournets höchst verdienstlicher Abhandlung über das Lyoner 
Staub-Meteor p. 97 u. 98 Erwähnung geschieht, dasselbe Phänomen mit 
dem Tyroler Schneestaube, wodurch die Verbreitung und Richtung dessel- 


(') Notice sur les orages et sur la pluie de terre de l’Automne 1846. Par M. J. 
Fournet. Annales de la Soc. royale d’agriculture de Lyon 1847. M. Bouteille, Ver- 
fasser der Ornithologie du Departement de l’Isere, welcher sich in Lans-le-Bourg am 
Fulse des Mont Cenis befand, bemerkte, dafs dort die Menge des Staubes noch grols 
genug war, um anzunehmen, dafs er auch jenseits der Alpen gefallen sei (p. 81. 82). — 
Über denselben Staubfall hat Herr Alph. Dupasquier, Professor der Chemie in Lyon, 
chemische Analysen und seine Ansicht der Verhältnisse unterm 22. März 1847 kurz mit- 
getheilt. Notice sur une pluie de terre tombee dans les Departements de la Dröme, de 
l’Isere, du Rhöne et de l’Ain, les 16 K 17 Oct. 1847. Auch dieser Schrift zufolge soll 
man schon um 8 Uhr Morgens und dann um 6 Uhr und 114 Uhr Abends Staubfall in 
Lyon beobachtet haben. Dasselbe berichtet Herr Fournet. Herrn Dupasquiers Analyse 
des Staubes von La Verpiliere (Isere) und Meximieux (Ain) und die von Valence ergaben: 


Staub von La Verpiliere von Meximieux von Valence (Lewy). 

Kieselerde 54. 5 52. 0 58. 8 
Thonerde U Al Te & 13. 3 
Eisenhydrat 7:9 [oP:) 6.6 
Kohlensaurer Kalk 21. 3 206. 3 21.1 
Kohlensaure Magnesia ao) 2.0 Spuren 
Organische Stoffe (Kohle) Ho) 3.3 _ — 

100. 0 100. 0 99. 8 


Zu Meximieux im D£p. de P’Ain fiel der Regen Morgens um 8 Uhr am 17. Oct. 
mit leichtem Südwind, so dafs alle Fenster der Wohnungen von dieser Seite beschmutzt 
waren, alle Pflanzen waren davon überzogen und ein Bataillon Soldaten, das nach Genf 
hin zog, war wie mit Schlamm bedeckt. — In Ceyzeriat desselben Departements war 
nach der Beobachtung des Kloster-Einnehmers Herrn Chambre, die Staublage auf den 
Pflanzenblättern einförmig, rehfarben (couleur biche) und von der Dicke eines starken Papiers. 

In der Herrn Dupasquier von La Verpiliere zugekommenen, durch Hrn. Vezu, 
ehemaligen Chemiker der arzneiwissenschaftlichen Schule zu Lyon eingesammelten Flasche 
mit Regenwasser fanden sich, wie er ausdrücklichlich bemerken zu müssen glaubt, auch 
eine Raupe und eine kleine Schnecke (colimacon). Er vermuthet, dafs sie von den Kohl- 
blättern (choux), von denen das Regenwasser eingesammelt, stammen möchten, was den 
fremdartigen Gehalt des Wassers an organischen Stoffen etwas erläutere. — Schade dals 
die Species nicht bestimmt wurden. 


312 EHRENBERG: 


ben eine sehr bedeutend gröfsere Fläche und zugleich den eigenthümlichen 
Character erhält, dafs dasselbe nur an Dunst-Nebel (Wolken) ge- 
bunden gewesen, da in den Zwischen-Ländern kein Staubfall beobachtet 
worden ist. (Gehörte die ebenda p. 100 erwähnte Beobachtung des General 
Seott auch dahin, wonach vom 23-28 März 1847 bei der Belagerung von 
Vera-Cruz ein staubführender Orkan aus N. wüthete, so wäre das Phäno- 
men ebenfalls direct aus Amerika beobachtet.) 

Ebenso ist auch 1846 am 16. Mai, nach Herrn Fournets Bericht 
(p- 78), gleichzeitig mit dem Staubfalle zu Genua ein braungelber Staub mit 
Regen in Chambery und Syam und in der Nacht vom 15. zum 16. Mai, nach 
Aussage des Dampfschiff Capitains Herrn Leps, auch bei Gigelly zwischen 
Bona und Algier mit festem OÖ. und NO. Wind [also nicht aus der Richtung 
von Afrika] herabgefallen. 

141. Die Gesammtzahl der organischen Körper, welche sich in diesem, 
doch wohl am richtigsten Passat-Staub zu nennenden Staub-Meteore, 
unterscheiden liefsen, beträgt nach der Zusammenstellung und Special-Über- 
sicht der beifolgenden (hier mit den folgenden verschmolzenen) Tabelle bis 
heute (1547) 141 Arten, — eine grofse, mühsam zu vergleichende, aber für 
ganz sichere und mannigfachere Combinationen noch nicht hinreichende Zahl. 


vm. 


Über die zimmt- und ziegelfarbenen, zuweilen mit Feuerkugeln 
und Steinfällen begleitet gewesenen Staub-Meteore, neue Un- 
tersuchungen und Nachweis gleicher organischer Mischung 
dieser Staubarten seit 44 Jahren, nebst einigen Folgerungen.(') 


Seit einigen Wochen (October 1847) haben sich für die Untersuchung 
der röthlich braungelben atmosphärischen Staubarten, von denen seit 3 
Jahren der Akademie und zuletzt als rothem Schneefall in Tyrol berichtet 
worden, neue Materialien gewinnen lassen, welche von allgemeinem wissen- 
schaftlichen Interesse zu sein scheinen, so dafs ich das Resultat der Unter- 
suchung vorlegen möchte. 

Es war durch die genaue mikroskopische Analyse von 10 binnen 17 
Jahren vorgekommenen Staubfällen in dem grofsen Areal von den Capverdi- 


(') S. Monatsbericht der Akademie 1847 p. 319. 


Passatstaub und Blutregen. 313 


schen Inseln bis Tyrol ermittelt worden, dafs bei so grofsen Raum- und 
Zeit-Unterschieden, wozu noch grofse Mannigfaltigkeit der Jahreszeiten hin- 
zutrat (Januar bis October), in allen Fällen eine ganz auffallende Gleichheit 
der Färbung und Mischung des Staubes mit immer denselben organischen 
Theilen bis zu 141 Arten hervortrat. Für die im Winter (Januar und Fe- 
bruar) beobachteten Staub-Meteore des atlantischen Meeres konnte nicht 
das dann feuchte, meist mit Schnee und Eis bedeckte Europa die Staub- 
masse von jedesmal offenbar über 100,000 Gentnern geliefert haben, zumal 
amerikanische Formen in derselben sichtbar waren und aus Afrika konnte 
die Staubmasse wegen Mangels characteristischer afrikanischer Formen in 
derselben nicht stammen. Besonders interessant wurde der von den Lyoner 
Gelehrten in diesem Jahre (1847) gelieferte Nachweis, dafs wirklich der 
solchen zimmifarbenen Eisenstaub führende Orkan vom 17. Oct. 1846 zu 
Lyon, seinen Anfang am 9. October in Cayenne geäufsert habe. 

Die Hinweisung dieser Verhältnisse auf ein constantes nebelartiges 
Staub-Depot in den obersten Regionen der Atmosphäre, welches der kreis- 
artig wehende Passat, von Südamerika aufsteigend, bei West-Afrika abstei- 
gend, unterhalten, beständig mischen und so mit electrischen, vielleicht auch 
Rotations-Verhältnissen der Erde schwebend erhalten möchte, lag zu nahe, 
um nicht zur Erläuterung benutzt zu werden. Das so regelmäfsige Vor- 
kommen der staubigen, gerade solchen zimmtfarbenen, den afrikanichen 
gröfseren Oberflächen - Verhältnissen (vergl. Ritters Afrika) ganz fremden, 
reich eisenhaltigen Staub führenden, Atmosphäre bei den Capverdischen 
Inseln, welches viele Seeoffiziere zu Warnungen und die ostindische Com- 
pagnie in England zu Vorschriften für die dort segelnden, zuweilen deshalb 
verunglückenden Schiffe veranlafst hat, so wie das im August (1847) mit- 
getheilte Vorkommen desselben Staubes als rothen Meteorstaub im frisch 
fallenden Schnee und den sogenannten Blutregen, hat mich veranlafst, über 
den weiteren Zusammenhang dieser Erscheinungen fortdauernd nachzufor- 
schen. Es sind nun folgende zwei Facta, die ich der Theilnahme der 
Akademie neuerdings empfehlen zu können glaube. 

Eine Unterredung mit Herrn H. Rose über die Sicherheit jenes von 
Sementini 1818 beobachteten Chrom-Gehaltes des zimmtfarbenen Meteor- 
staubes, der 1813 in Calabrien in übergrofser Masse aus Wolken fiel und 
von einem Meteorsteinfall begleitet war, gab zwar keine Hoffnung 


5 
Phys. Kl. 1847. BE 


314 EHRENBERG: 


auf Anwesenheit des Chroms in solchen Staubarten, so wenig, als die 1846 
auf meinen Wunsch durch Herrn Gibbs ausgeführte chemische Analyse des 
atlantischen Meteorstaubes vom 9. März 1838 (siehe vorn) meteorische 
Normal-Substanzen ergeben hatte, allein ich erhielt von Herrn Rose die 
Nachricht, dafs Herr v. Humboldt ihm früher von Paris aus (1823) eine 
Probe des von Sementini analysirten Staubes zugesendet und dafs diese 
Probe von ihm an Chladni, zu dessen grofser Freude abgegeben worden, 
als er (1826), kurz vor seinem Tode (4. April 1827), in Berlin war. Diese 
Probe existire also wahrscheinlich auf dem hiesigen Mineralien-Cabinete in 
Chladni’s Sammlung. 

Durch diese Nachricht angeregt habe ich in Abwesenheit des Directors 
Herrn Weifs mit Herrn G. Rose die Meteorsubstanzen der Chladnischen 
Sammlung revidirt, und es fand sich allerdings ein zimmtfarbner Staub in 
einem sehr kleinen zollangen einige Linien dicken Gläschen, leider aber 
ohne Herrn v. Humboldts Etikette und Herrn H. Rose waren das Gläs- 
chen sammt der Staubart fremd, die Äufserlichkeit der von ihm an Chladni 
gegebenen Probe erschien ihm wenigstens ganz verändert. Nach einer von 
Herrn Weifs bei Übernahme von Chladni’s Sammlung geschriebenen sehr 
sorgfältig ausführlichen Etikette fand sich das Gläschen in einer runden 
Schachtel des Nachlasses mit der harzigen Substanz vom März 1796 aus der 
Oberlausitz und dem Meteorpapier von Rauden ohne weitere Bezeichnung 
zusammen. Da der von Sementini analysirte Meteorstaub aus Oalabrien 
als zimmtfarben vielfach bezeichnet worden, und eine Probe davon durch 
Herrn H. Rose an Chladni gekommen, ein anderer ähnlicher Staub aber 
in dessen Sammlung nicht vorhanden ist, als gerade dieser zimmtfarbene, 
so scheint Chladni zu besserer Aufbewahrung denselben kurz vor seinem 
Tode in das Gläschen gethan zu haben. Erläuternd und für Identität mit 
der v. Humboldtschen Substanz sprechend scheint noch der Umstand zu 
sein, dafs Chladni in seinem Werke über die Feuermeteore p. 380 (1819) 
ausdrücklich sagt, die von Fabroni im rothen Schnee und von Sementini 
im Meteorstaube von Calabrien gefundene Materie möge einige Ähnlichkeit 
mit der am 8. März 1796 in der Oberlausitz gefallenen harzigen Substanz 
haben. So scheint denn Chladni diesen Staub recht absichtlich in dieselbe 
Schachtel mit der Meteorsubstanz von 1796 gelegt zu haben, wo Herr 


Weifs ihn fand. 


Passatstaub und Blutregen. 315 


Diesen leider also unsicher gewordenen Staub habe ich nun mikro- 
skopisch untersucht und ermittelt, dafs er genau wieder ganz dieselbe Mi- 
schung wie der 1830 bei Malta und seitdem von den Capverden bis Lyon 
und Tyrol niedergefallene röthlich braungelbe Meteorstaub besitzt. Abge- 
sehen von dem gleichzeitigen Meteorsteinfall in der Gegend von Cutro in 
Calabrien, erschien dieser Staub am 13. und 14. März in Calabrien und 
Abruzzo mit einer Wolke bei Gerace unter heftigem Ostwind vom Meere 
her kommend, bei Arezzo am 13. März 9 Uhr Abends mit starkem Nord- 
wind ohne Sturm und ebenfalls am 13. März im Friaul. Daselbst verhüllte 
die Wolke alles und der Himmel nahm die Farbe des rothglühenden Eisens 
an. Darauf ward es so finster, dafs man um 4 Uhr Nachmittags Licht an- 
zünden mulfste. Es fiel rother Regen und Staub dort so wie in mehreren 
Gegenden Italiens in Toscana und bis Friaul, wo auch rother Schnee herab- 
kam. Dabei gab es Brausen, Blitz und Donner (Biblioth. britann. October 
1813 p. 176 u. April 1814 p. 356, daraus in Chladni’s Feuermeteore p. 377. 

Sementini fand in dem so grofsartig verbreiteten Meteorstaube in 


100 Theilen 


Kieselerde 33 
Thonerde 154 
Kalkerde 114 
Chrom 
Eisen h 144 
Kohlensäure 9 
844 
Verlust 154 
100,0. 


Der rothe in Friaul gefallene Schnee war 2-3 Finger hoch und gab 
beim Schmelzen, nach Linussio, einen thonartigen Bodensatz. Der zu 
Arezzo in Toscana gleichzeitig gefallene rothe Schnee hatte nach Fabroni 
einen nankinggelben Bodensatz beim Schmelzen, brauste mit Säure, wurde 
vor dem Löthrohr ockerartig rothgelb und zeigte etwas Verkohlbares. 

Einer der bei Cutro in Calabrien gefallenen Meteorsteine vom glei- 
chen Tage, der einzige gefundene, ist, nach Chladni, leider verloren gegan- 
gen, nachdem er von de Pourtalez aufgefunden worden war. 

Diese Verhältnisse sind so massenhaft und so auffallend gleich denen 

Rr2 


316 EHRENBERG: 


von Lyon und Tyrol, dafs die-Gleichheit des gefallenen Meteorstaubes in 
organischer Mischung dadurch bedeutend an Interesse gewinnt. Selbst 
wenn aber Chladni’s Meteorstaub nicht der von Herrn v. Humboldt 
stammende des Jahres 1813 wäre, so würde er jedenfalls, der mikroskopi- 
schen Analyse zufolge, einem ganz gleichartigen Verhältnifs angehören und 
die bisher nur vom Jahre 1830 bekannte Gleichheit der Erscheinung um 
wenigstens 3 Jahre bis zum Jahre 1827, wo Chladni am 4. April starb, 
mit Sicherheit verlängeren. Ist der Staub von 1813 so verlängert sich diese 
Gleichheit der Erscheinungen auf 32 Jahre. 

Eine Durchsicht der in dem Königl. Mineralien-Cabinette vorhandenen 
Meteorsubstanzen hat aber ein noch interessanteres und sicheres Material zu 
meiner Untersuchung gebracht(!). Es befindet sich nämlich in Klaproths 
an das Cabinet übergegangenen Sammlungen darinn ein Kästchen mit zimmt- 
farbenem oder nankingfarbenem Staube, bei welchem eine französische 
Etikette von Klaproth liegt: Sable tombe& par toute !Italie et la Sicile en 
Janvier 1803. Auch hier ist zwar Schwierigkeit in ungeschichtlicher Zeit- 
angabe des Monats Januar, indem ein sehr vielfach bekannt gewordener 
einen ganzen Tag lang andauernder grofser zimmtfarbner Meteorstaubfall 
als Blutregen, Schlammregen und rother Schnee am 5. und 6. März 1803 
von Friaul und Wien sich über Udine und Venedig bis Neapel und Sicilien 
erstreckt hat, von dessen Substanz wohl ohne Zweifel die Probe stammt, 
im Januar 1803 aber kein solches Meteor aufgeführt wird, welches Klap- 
roths genaue chemische Analyse wünschenswerth machen mulfste. 

Auch diesen zimmtfarbenen Staub von 1803, welcher nach Italien 
als grofse rothschwarze Wolke von Südost kam, alles verfinsterte und dann 
in verschiedenen Formen herabfiel, habe ich mikroskopisch geprüft und 
wieder so in allen Hauptmomenten den früher angezeigten zimmtfarbenen 
Staubarten gleich gefunden, dafs sich nun eine Übersicht der Gleichheit der 
Erscheinung auf 44 Jahre festgestellt hat. 

Die in diesen beiden Staubarten von 1813 und 1803 beobachteten 


organischen Formen sind folgende: 


(') Dergleichen nicht metallische erdige Materialien sind in dem so sehr verdienst- 
lichen Verzeichnils der Wiener Meteoriten-Sammlung von 1843 p. 138 als die Sammlungen 
der Meteoriten namentlich in Berlin und London verunzierend bezeichnet. Möge 
man ja gerade auch diese pflegen. 


Passatstaub und Bluiregen. 317 


Kieselschalige Polygastrica. 


180311813 180311813 
Achnanthes? vide Stauro- Gallionella distans + 
ptera? granulata +! +! 
Campylodiscus Clypeus +|+ laminaris —|+ 
Cocconema gracile + procera +!+ 
Coscinodiscus radiolatus? |+?|-+! Gomphonema rotundatum +! 
E Jlavicans —|+ Himantidium Arcus ++ 
. & + Navicula fulva —|+ 
Discoplea atmosphaerica +|+ lineolata — + 
Eunotia amphioxys elep Scalprum +|/+ 
Argus +|+ Semen + 
Diodon —-|+r * undosa —|+ 
gibba | Pinnularia viridis — + 
gibberula — + — ? +|/+ 
granulata — |+  "Stauroptera — ? + 
longicornis Pig — ? (Achnanthes)) — 
“ zebrina +?) +? "Stauroneis linearis —|+ 
"Fragilaria diophthalma — || Surirella Craticula — + 
rhabdosoma REIN — ? — |+ 
. ? Synedra n. sp. |+ | + Synedra Entomon ++ 
Gallionella erenata +|+ Ulna +|+ 
decussala Per 39 2333 
Phytolitharia: 
Amphidiscus armatus —|+  "Lithostomatium Rhombus |— |+ 
clavatus — [+ Lithostylidium Amphiodon \+ | + 
Rotella + clavatum + 
A truncatus +|+ Biconcavum + 
Lithodontium Bursa + Clepsammidium| — | + 
falcatum — + laeve + + 
Jurcatum +|+ obliguum —|+ 
nasutum Her OÖssiculum +[/+ 
Platyodon |—|+ polyedrum + 
rostratum une quadratum +!+ 


318 EHRENBERG: 


1s03l1813 h Free 
Lithostylidium rude +|+  *Lithostylidium Triceros erer 
f Securis — + Spongolithis acicularis Ener 
Serra | + | + ‚fistulosa. —— je 
serpentinum +|-+r Spongolithis obtusa | +? 
spiriferum + s Zu srl 
Taurus + 
Trabecula + 2 19] 32 
Polythalamia: 
Miliola — ? I—!4+  Spiroloculina +2 
Rotalia globulosa +? i p ae 
senaria +? 5 AD: 
Plantarum particulae molles: 
* Semen Fungi — eo Parenchyma plantae 
Pilus plantae laevis simplex | + | + porosum |— |-+ 
asper simplex — ı+ *Conferua? + 
articulalus FAR = 2 | 8 
Parenchyma plant. fibrosum| — | + 8 ET. 
Insectorum fragmenta: 
*Squamula alarum Lepidopteri + 
1 I 
85 4964 


Es sind in Summa 85 Arten, 49 von 1803 und 64 von 1813?. Unter 
den 49 Formen von 1803 sind 39 in den früheren Staub-Metoren bereits 
verzeichnet, 10 aber sind in jenen nicht beobachtet. Unter den 64 Formen 
von 1813? sind 13 in den früheren Staubmeteoren nicht vorgekommen, aber 
51 gleichartig. Diesen beiden Staubfällen, welche wohl 10 Jahre Zeit- 
Unterschied haben, sind 28 Formen gemeinsam, d. i. etwas mehr als +. 
Beide stimmen mit den früheren Meteoren darin überein, dafs die Mehrzahl 
der Formen Süfswasser- und Continental-Gebilde, und nur einige wenige 


Seebildungen sind. Solcher Seebildungen enthalten die beiden Meteore: 


Passatstaub und Blutregen. 319 


Coscinodiscus 3 Arten, Spongolithis obtusa und Polythalamia 5 Arten, 
zusammen 8-9 Formen, von denen 7 auf 1803 und 4 auf 1813 kommen, 
einige beiden gemeinsam sind, Discoplea atmosphaerica könnte überdies 
dahin gehören. 

Beide neue Meteorstaub-Arten stimmen mit den früheren in der licht- 
zimmtbraunen Farbe und der Feinheit überein. 

Beide haben wieder dieselben Species in ihrer Mischung vorherr- 
schend, welche auch in den früheren bereits verzeichneten Fällen die vor- 
herrschenden waren, nämlich : 


Eunotia amphioxys. Gallionella procera. 

Gallionella granulata. Lithodontia. 
crenata. Lithostylidia. 
distans. 


Polycystinen sind ebenfalls nicht dabei. 

In beiden Meteorstaubarten sind wieder 4 Formen bemerkbar, welche 

bisher nur aus Südamerika sicher bekannt waren, namentlich: 
Coscinodiscus flavicans aus Peru und St. Domingo, 
Mavicula undosa aus Surinam, 
Stauroneis linearis aus Chile und Nordamerika, 
Synedra Entemon aus Chile ('). 

Aus keiner terrestrischen Localität bekannte Formen sind die in fast 
allen diesen Meteorstauben vorkommenden Discoplea atmosphaerica sammt 
den wenigen neuen Arten, die zum Theil fragmentarisch sind. 

Characteristische Formen aus Afrika, haben sich in beiden wieder 
gar nicht bemerken lassen. 

Beachtenswerth ist, dafs in dem Meteorstaube aus Chladnis Samm- 
lung sehr viele lebend getrocknete Exemplare der Eunotia amphioxys und 
Synedra Entomon (letztere ist amerikanisch), sehr oft in Selbsttheilung 
begriffen vorkommen und ebenso auch einige, aber wenige, in dem Staube 
von 1803. Nur in dem Meteorstaube von Lyon 1846 waren dergleichen 
bisher vorgekommen, aber auch in dem Hecla-Auswurfe von 1845. 


(') Synedra Entomon ist seitdem auch in Afrika und Asien beobachtet. 


320  EHRENBERG: 


Anregung zur Vergleichung einiger historischer verwandter 
Erscheinungen.(') 


Bei der sehr auffallenden Sonderbarkeit dieser Übereinstimmung so 
vieler bis 44 Jahre auseinander liegender Staubmeteore und bei der auffallen- 
den Massenhaftigkeit und geographischen Verbreitung derselben, gewann es 
immer mehr Interesse, an das Beobachtete einiges Historische vergleichend 
zu knüpfen. Ich gestehe, dafs ich.es ungern unternahm, weil dabei der 
wissenschaftliche Boden zu fehlen schien, aber eben so gestehe ich, dafs ich 
durch einige nahe liegende Folgerungen aus diesen Vergleichungen über- 
rascht worden bin. 

Immer im Auge behaltend, dafs ich nur 12 Staubmeteore, welche 
aber bis 44 Jahre auseinander liegen, untersucht habe und nur diese direeten 
Resultate der Vergleichung als sicher ansehend und empfehlend, erlaube 
ich mir denn folgende Mittheilungen aus der Geschichte der Meteore daran 
zu knüpfen. 

Herr Alexander v. Humboldt hat auf seinen Reisen in Südamerika 
auf dem Paramo von Guanaco, wo der Weg von Bogota nach Popayan 
2300 Toisen, gegen 13800 Fufs, hoch fortgeht, das Fallen von rothem 
Hagel in der Nähe erlebt und dieses Factum in den Annales de Chemie von 
1825 ausführlich angezeigt. Höchst interessant wäre es aus der oberen At- 
mosphäre jener Gegend dergleichen rothe Meteor-Färbungen mikroskopisch 
zu vergleichen. Dafs etwas Ähnliches dort existirt, ist durch jene Bemer- 
kung festgestellt, ob es gleich ist dem hier bezeichneten, läfst sich ohne 
directe Untersuchung der Substanz nicht erschliefsen. Vielleicht fällt in 
jenen ungeheuren vulkanischen Gebirgs-Stöcken nicht selten ein ähnlicher 
Staub bald mit bald ohne Regen und Hagel, den man aber, der vulkanischen 
so häufigen Bewegungen halber, weniger beachtet und von vulkanischen 
Aschenregen nicht unterscheidet. 

Nächst diesem durch Herrn v. Humboldts Umsicht längst gewonne- 
nen, sehr wahrscheinlichen direeten Verbindungsgliede beider Hemisphären 
finde ich folgende zur Übersicht ausgewählte historische Thatsachen wichtig.(?) 


S. Monatsber. October 1847 p. 328. 
Sie sind theils aus Chladni’s Schrift über die Feuermeteore und Schnurrers 


C) 
@) 


Passatstaub und Blutregen. 321 


Im Jahre 1755 war am 14. October Morgens 8 Uhr ein ganz unge- 
wohnter auffallend warmer Wind (Scirocco) zu Locarno am Lago-Maggiore. 
Um 10 Uhr war die Luft mit rothem Nebel erfüllt. Abends 4 Uhr fing ein 
blutrother Regen an, der in Gefälse gesammelt, einen röthlichen Bodensatz 
von 4 machte. Furchtbares Gewitter in der Nacht mit unerhörten Blitzen 
die horizontal auf dem Pflaster der Stadt hinliefen. Die Regenmenge war 
9 Zall in einer Nacht, in 3 Tagen 23 Zoll. Der See stieg um 15 Schuh. 
Zur Zeit des etwa 40 Stunden im Quadrat benetzenden rothen Regens, der 
auch auf der Nordseite der Alpen und bis Schwaben fiel, fiel auf den Alpen 
ein röthlicher 6 Schuh hoher Schnee. Göttinger gelehrte Anzeigen 1756 
St. 6. 12 Januar p. 44. Chladni Feuerm. p. 371. Diese auch der uner- 
hörten Regenmenge halber höchst merkwürdige Nachricht schliefst sich ohne 
Zwang den Nachrichten von 1803 und 1846 aus Italien, Genua und Lyon 
an und scheint die gleichartigen Verhältnisse des rothen Meteorstaubes auf 
92 Jahre zu verlängern. Bei nur zwei Linien Höhe des gleichmäfsig gefalle- 
nen Staubes würden auf je 1 DMeile 40,000 Klafter Staub gefallen sein. 
Die lokal gemessene Höhe betrug aber, der Angabe nach, vielleicht 1 Zoll 
(5 von 9 Zoll). 

Im Jahre 1623 war am 12. August zwischen 4 und 5 Uhr Nachmittags 
ein Blutregen zu Strafsburg, nachdem man vorher eine finstere dicke rothe 
Wolke gesehen hatte. (Nach 1623 gedruckten Aufsätzen von Isaac Hab- 
rechtund Wilhelm Schickhardt, Bericht von einer wunderbaren Feuer- 
kugel). Diese bei Chladni sich findende Nachricht reiht sich mit grofser 
Wahrscheinlichkeit der gleichen Verhältnisse an die italienischen und Lyoner 
Staubmeteore an und erweitert den Gesichtskreis auf 200 Jahre. 

Im Jahre 1222 fiel zu Rom rothe Erde einen Tag und eine Nacht zur 
selben Zeit, als man zu Viterbo Blutregen hatte. Auch diese, bei Chladni 
fehlende, Nachricht hat Nees von Esenbeck aus Schnurrers Chronik 
der Seuchen entlehnt. Sie pafst ohne allen Zwang zu den zimmtfarbenen 
organischen Meteoren und erweitert die Zeit ihres erfahrungsmäfsigen Fal- 
lens aut 625 Jahre. 


Chronik der Seuchen, theils aus Nees v. Esenbecks Nachtrage dazu in Robert Browns 
vermischten botanischen Schriften Bd. I, theils aus Darwins Mittheilungen über rothen 
Meteorstaub 1845, theils eigene Citate. 


Phys.- Kl. 1847. Ss 


393 EHRENBERG: 


Im Jahre 1096 wurde in Griechenland ein Kreuzfahrer Heer von einer 
Wolke eingehüllt, die im Vorüberziehen die Zelte und den Boden mit einer 
röthlichen Substanz bedeckte. Diese Nachricht findet sich in Nees von 
Esenbecks fleifsigem Nachtrage zu Chladnis Zusammenstellungen in der 
deutschen Ausgabe von Robert Browns gemischten botanischen Schriften 
Band I. p. 643 und ist aus Schnurrers Chronik der Seuchen I. p. 223 ent- 
lehnt. Diese bei Chladni fehlende Nachricht scheint ohne alle Übertrei- 
bung dasselbe Phänomen des zimmtfarbenen Meteorstaubes des südlichen 
Europas auf 751 Jahre auszudehnen. 

Im Jahre 1056 sah man in Armenien im Winter bei Sonnenaufgang, 
als die Leute ausgingen, bei sehr heiterem Himmel die Erde nach allen 
Seiten zu mit rothem Schnee bedeckt, der in der Nacht gefallen war. Es 
folgte weifser Schnee, der am Tage zu einem festen See (zu Eis) ward und 
60 Tage lag. Nach der armenischen Chronik des Mathaeus (Eretz) von 
Edessa, von Chladni aus der Bibliotheque du Roi T. IX. aufgezeichnet. 
Es scheint kaum zweifelhaft, dafs dieser über Nacht frisch gefallene rothe 
Schnee keineswegs mit dem Gletscherschnee, aber sehr sicher mit dem Ty- 
roler Schnee von 1847 und dem Friauler Schnee von 1803 übereinstimmen 
möge. Hiermit würde aber die Erscheinung erfahrungsmäfsig auf 792 Jahre 
verlängert. 

Ein dreitägiger Blutregen in Constantinopel unter Kaiser Michael III, 
also vor 867, dem Jahre von dessen Ermordung, wird als ein blutrother 
Staubfall bezeichnet und schliefst sich den übrigen Fällen so an, dafs die 


oO 
. 


5 
Dafs der Blutregen sicher zu Ciceros Zeit den besseren Beobachtern 


Erscheinung damit 980 Jahre umfassen ma 


und verständigen Leuten als rother Meteorstaubfall bekannt war, läfst sich 
aus dem II. Buche de Divinatione erkennen, wo Cicero sagt: „Meinst Du 
wohl, dafs Thales oder Anaxagoras oder ein anderer Physiker an Blutregen 
und Schweifse der Statuen geglaubt habe? Blut und Schweifs sind nur im 
Körper, aber auch eine Färbung aus erdiger Beimischung, kann allerdings 
dem Blute ähnlich sein“ (sed et decoloratio quaedam ex aliqua contagione 
lerrena maxime potest sanguinis similis esse). 

Noch länger vor Christi Geburt läfst sich mit nicht geringer Wahr- 
scheinlichkeit auf geschichtliche Ereignisse gleicher Art schliefsen, da ziem- 
lich oft bei alten Schrifstellern des Blutregens und rother Meteorkörper 


Passatstaub und Blutregen. 323 


Erwähnung geschieht. Freilich mögen manche dieser Angaben rothe Flecke 
und Färbungen der Erde sehr verschiedener Art vermischen und aus Aber- 
glauben unrichtig beobachtet haben, dennoch ist die Angabe von Livius 
vom Jahre 172 vor Christus: sanguine per triduum in .oppido pluisse (L. 
XLH. c. 20) unter dem Consulat des ©. Popillius Laenas und P. Aelius 
Ligus, der dreitägigen Dauer, der Form als (herabfallender) Regen und der 
Lokalität zu Rom (Italien) halber beachtenswerth. So liefse sich denn über 
2000 Jahre hinaus das Phänomen nicht ohne Wahrscheinlichkeit seiner stets 
höchst gleichartigen Beschaffenheit, die wenigstens in der Farbe, der staub- 
artigen Substanz und der Form des Fallens angezeigt ist, erkennen. Ja 
man wird allmählig, bei Beobachtung der Reihenfolge, nicht abgeneigt auch 
den zu Homers Zeit gefallenen Blutregen, wodurch der Dichter einmal mit 
blutigem Regen Zeus um den Tod des Sarpedon klagen, ein andermal mit 
blutigem Thau die beginnende blutige Schlacht der Griechen und Trojaner 
durch den Kroniden vorzeichnen läfst, zwar nicht als ein Factum, aber als 
ein in Klein-Asien und Griechenland vor fast 3000 Jahren bekanntes Ereig- 
nifs anzuerkennen.(!) 

Aufser dieser, nur auszugsweise und in einigen leichter übersichtlichen 
Zügen hier angeführten geschichtlichen Reihenfolge bis in die Urzeiten der 
Menschengeschichte, schliefst sich noch ein anderes auffallendes Interesse 
an diese Erscheinungen des zimmtfarbenen stark eisenhaltigen Meteorstaubes. 

Bei einer Durchsicht der bei Chladni und den späteren Forschern 
vorhandenen Nachrichten über Feuer-Meteore und Meteorstein -Fälle tritt 
der merkwürdige Umstand hervor, dafs sehr häufig wirkliche Meteorstein- 
Fälle oder doch Feuerkugeln von einem solchen zimmtfarbenen oder röth- 
lichen Staube begleitet waren. Der einen Meteorsteinfall bei Cutro beglei- 
tende sehr grofse Staubfall in Calabrien am 14. März 1813 ist hiermit sehr 


(') Es dürfte nicht unwichtig sein Homers Ausdruck sehr genau zu nehmen. Ich 
meine nämlich, dals die so kunstvolle und ebenso natürliche Dichtung ziemlich deutlich 
zwei verschiedene Arten von Wunderzeichen andeutet und überaus treffend benutzt. Bei 
Sarpedon ist ein ausgegossener rother Regen offenbar aus Wolken gemeint, vor der 
grolsen mörderischen Schlacht ist aber ein rother Thau aus heiterem Himmel gesandt 
yaev 2eoras 2E auSegos UeSev. Der Thau aus dem wolkenlosen hohen Aether ist gewils 
nicht ohne Absicht eines ganz andern Naturbildes angeführt. So war denn wohl der 


Blutregen bei heiterem Himmel, ohne Wolken, wie der mit Wolken schon da- 
mals bekannt. 


SI? 


324 EuREnBERc: 


wahrscheinlich durch eie Probe aus Chladnis Sammlung zu directer Prü- 
fung gekommen und der Staub ist als organischer Passatstaub aufser Zweifel 
gestellt. Schwerlich kann man das ähnliche Verhalten bei vielen anderen 
Fällen nun läugnen, ohne ein unbegründetes voreilig verneinendes Urtheil 
auszusprechen. 

Chladni verzeichnet 6 Meteorsteinfälle aus den Jahren 333, 897, 
1438, 1608, 1791 und 1813, bei denen ein gelber massenhafter Staub, 
Blutregen, oder eine gelbe Wolke gleichzeitig war. Feuermeteore mit 
dergleichen Staube ohne Steinfall sind daselbst noch überdies 4 angezeigt 
aus den Jahren 1110, 1548, 1560, 1810, so dafs 9-10 Fälle dieser Art 
angezeigt worden sind. 

Da die chemischen Analysen bis jetzt eine genetische Verbindung der 
Meteorsteine mit den gleichzeitigen zimmtfarbenen Staubmeteoren nicht be- 
günstigen und nicht gestatten, ungeachtet für alle bekannte Meteorsteine und 
Meteorsteinfälle nun hinreichende und übergrofse Mengen von materiellem 
Eisen, Kieselerde und Kalkerde in der oberen Atmosphäre nachweislich vor- 
handen sind, so könnte man sich vorstellen, dafs diese zuweilen gleichzeitigen 
Aörolithen und Feuermeteore, im Falle sie aufserhalb der Erd-Atmosphäre 
bestehen und aus den ferneren Welträumen kommen, aus der Staubnebel- 
schicht der oberen Atmosphäre einen Theil mit herabdrängen, welcher ohne- 
dies nicht, oder nur bei Afrika herabgekommen wäre. 

Übrigens ist das Verhältnifs der A&rolithen zu den Staubnebeln der 
Art, dafs Chladni das seit 1790 bis 1819 herabgefallene auf wohlmehr 
als 6000 Pfund (600 Centner) an Steinmassen berechnet (F. M. p. 94), 
während für das einzige Staubmeteor von Lyon 1846, dessen ähnliche es, 
auch nur seit 1790, sehr viele und dem es an Massenhaftigkeit der Erschei- 
nung weit überlegene giebt, 7200 Centn. an getragener fester Masse von den 
französischen Gelehrten berechnet worden sind. Die bei den Capverden 
fast ununterbrochen beim Nordostwinde (Nordost-Passat) fallende Masse 
mufs ungeheuer sein, da die Verbreitung der Fall-Beobachtung nach Dar- 
win über 1600, ja nach Tuckey über 1800 Meilen in der Breite beträgt(!), 
und da es in einer Entfernung westlich von Afrika von 600-800, ja bis 1030 
Meilen beobachtet worden ist, mithin dort häufig ein Areal von 960,000 bis 


(') Quaterly Journal (Proceedings) of the Geological Society June 4. London 1845 p. 27. 


Passatstaub und Blutregen. 3235 


1,280,000 oder 1,648,000 ja 1 Million und 854,000 Meilen fortdauernd 
befällt. Der Flächen-Inhalt von ganz Italien beträgt 5806 TIMeilen, von 
Sicilien 495 OJMeilen, zusammen 6301 TMeile. Ein einziger Staubfall, 
welcher gleichzeitig beide Länder bedeckt, wie der beobachtete von 1803, 
und sich der Masse nach so verhält, wie der beobachtete von Lyon 1846, 
würde (an einem Tage) 112,800 Oentner Staub getragen und verbreitet haben. 

Wie viel tausend Millionen Centner kleines Leben mögen seit Homers 
Blutregen gehoben und meteorisch auf die Erde gefallen sein! 

Ich darf ferner jetzt kaum mehr zweifeln, dafses Verhält- 
nisse des sich fortentwickelnden Lebens in der Atmosphäre 
giebt. Diese beiden neuesten Staubarten, welche so höchst massenhaft 
gefallen sind, tragen die Spur der Existenz und der Fortentwicklung (nicht 
durch Eibildung, aber durch Selbsttheilung) kieselschaliger Formen zu deut- 
lich. Dennoch kann ich das Verhältnifs, der Phytolitharien und Seethiere 
halber, welche sich darunter befinden, nicht ein kosmisches nennen. Ich 
kann mich auch deshalb mit demselben noch nicht ganz befreunden, weil 
Leben und Fortentwicklung nur bei gleichzeitiger Feuchtigkeit bestehen kann, 
welche zwar das Leben begünstigt und entwickelt, aber nicht gleichzeitig 
die rothe Farbe des Staubes und die feinen Pflanzentheile vor Veränderung, 
Verrotten, schützen kann, was durch Trockenheit sicher erreicht wird. 
Mischen sich daher zuweilen verschiedenartige Verhältnisse? 

Viele weichere Meteor-Substanzen sind als stinkender schwarzer 
Schlamm, der zuweilen sauer und ätzend war, herabgefallen 581, 1646, 
1669, 1689. Wenn die Mehrzahl der Passatstaub-Meteore gelb und zimmt- 
farben niederfällt, so beweist dies wohl, dafs die obere Region der Atmo- 
sphäre sehr trocken ist und wenn zuweilen diese organischen ungeheuren 
Massen in einer tieferen feuchteren Schicht der Atmosphäre mit Wolken und 
g Fäulnifs der 
weichen organischen Theile der Substanzen gerade solchen unerträglichen 


als Wolken lange herumgetrieben werden ehe sie fallen, so ma 


Schwefelwasserstoff-Geruch durch chemische Zersetzung herbeiführen, wie 
es beim Moore unsrer Gräben der Fall ist, den ein ähnliches Leben bildet. 

Endlich darf ich nicht unterlassen, wenn es sich immer wahrschein- 
licher gestaltet, dafs ein unabsehbar grofses Staubnebeldepot in den oberen 
Schichten der Erdatmosphäre in über 14,000 Fufs Höhe, zumeist, vielleicht 
nicht allein, durch die Passat-Ströme schwebend gehalten wird, darauf auf- 


326 EHRENBERG: 


merksam zu machen, dafs ein solcher für optische Verhältnisse vielleicht so 
wenig störender Staubnebel wie das Glas der Fenster unserer Häuser oder 
die gewöhnliche Wasser-Dunstschicht der untersten Atmosphäre, dennoch 
theilnehmend und bedingend sein könne für gewisse sonst unerklärliche ähn- 
lich wiederkehrende Lichtreflexe und Lichterscheinungen der oberen Atmo- 
sphäre und gerade solcher, die eine Beweglichkeit, eine Streifung und 
Veränderlichkeit zeigen, auf welche aber specieller einzugehen, die Aufgabe 
späterer Zeit sein wird. 

Wenn es besonders auffallend erscheint, dafs auf dem Pie von Tene- 
riffa in (11,400 bis 11,800 Fufs Höhe) weder von Herrn v. Humboldt noch 
von Herrn v. Buch und manchen anderen Beobachtern, im oberen Passat- 
winde, dem sie als starkem Westwinde selbst direct ausgesetzt waren, kein 
solcher Staub aufgezeichnet worden ist, so läfst sich daraus freilich auf Man- 
gel der Existenz eines solchen dort schliefsen, allein andererseits auch auf 
Periodieität und eine Complikation der Art, dafs der äquatoriale aufsteigende 
Passat nur die Zuführung der Masse und der herabsteigende (bei Westafrika) 
oft die Herabführung bedingt, während das von Meteoren zuweilen bei hei- 
terem Himmel herabgedrückte, oder durch eigene Fülle herabsinkende Depot 
höher in der Rotationslinie der Erde liegend, auch der beständigen Einwir- 
kung des oberen Passates entzogen ist. Übrigens ist die gewöhnliche Beob- 
achtungslinie für das Fallen, die Bewegung und Stellung des Meteorstaubes 
mehr südlich von den canarischen Insel, näher am Aequator. Der rothe 
Hagel von Bogota ist hier wohl vermittelnd. Solche Schwierigkeiten fehlen 
freilich nicht und ihrer bewufst zu werden fördert die richtige Kenntnifs. 

Ein mit wissenschaftlicher Schärfe und Sicherheit als 44 Jahre lang 
constant nachgewiesenes Phänomen der Atmosphäre in solcher Ausdehnung 
mufs tief in viele tellurische, besonders die atmosphärischen Verhältnisse der 
Erde eingreifen und seine brennbaren und vielfache chemische Complika- 
tionen (Schwefeleisen) gestattenden erd- und metallreichen Stoffe sind einer 
vorzüglichen Beachtung offenbar sehr werth. 


Passatstaub und Blutregen. 327 


Historische Übersicht ähnlicher Naturerscheinungen.(!) 


1535? 1577? a. C. Vor gegen 3383 oder 3424 Jahren, etwa 1500 Jahre 
vor Christi Geburt, kommt in der mosaischen Geschichte eine sehr ausge- 
dehnte blutige Wasserfärbung in ganz Aegypten vor, die mitten unter meh- 
reren, nicht übernatürlichen, aber leicht schreckhaften Naturerscheinun- 
gen dort als räthselhaft wohl allein steht. In enger Zeitverbindung damit 
ist ebenda eine dreitägige dicke Finsternifs erwähnt, beides als Beweis des 
Zornes und unmittelbarer Einwirkung Gottes. Pharao entliefs durch diese 
und andere Erscheinungen erschreckt die Israeliten aus Aegypten. Eine 
Thatsache, die eine bekannte wichtige Geschichts-Epoche bildet. 

Ob die rothen Staubmeteore in ihrer hier folgenden historischen Über- 
sicht jene berühmte älteste Erzählung, welche bisher wissenschaftlich ganz 
unbenutzt geblieben, als historische Thatsache entschieden in ihre Reihe 
aufnehmen und wissenschaftlich nützlich machen können, bleibe anheim 
gegeben. 

Diese älteste Nachricht läfst sich zufällig durch das jüdische Passah- 
Fest nach Jahr und Monat genauer als viele andere weit neuere Nachrichten 
reguliren. Sehr entfernt von einander können offenbar die Zeiten, in denen 
unter Moses die 10 ägyptischen Landplagen, welche die Auswanderung der 
Juden einleiteten und bedingten, nicht sein. Der leichtfertig abschliefsende 
Jesuit, Pater Stoecklein(?) nimmt den vorhandenen Nachrichten zufolge 


(') Eine ausgewählte reichhaltige Übersicht wurde 1847 im Monatsbericht p. 336 
niedergelegt. Eine reichere tabellarische Übersicht wurde 1848 in der Einleitungsrede 
vom 27. Januar über das durch den Passatstaub bedingte Dunkelmeer (mare tenebrosum) 
der Araber publicirt. Im Jahr 1826 wurde der Akademie meine Beobachtung der das 
Rothe Meer im December bei Tor rothfärbenden Alge (Abhandl. 1829 p. 121) mitgetheilt. 
Über die blutfarbigen Erscheinungen und rothen Wasserbildungen besonders in Aegypten 
gab ich 1830 eine ausführlichere Darstellung in Poggendorffs Annalen der Physik und 
Chemie Bd. 18 p. 504. Die rothe Alge des Rothen Meeres wurde Trichodesmium erythraeum 
genannt. In dem gröfseren Infusorien-Werke findet sich 1838 eine Übersicht p. 118. 
Seitdem ist die Erscheinung im Juli 1843 auch im südlichen Theile des rothen Meeres 
von Hrn. Evenor Dupont beobachtet, und am 15. Juli 1844 von Hrn. Dr. Montagne 
in der Akademie zu Paris bestätigend und erweiternd mitgetheilt worden. Annales des 
sc. naturelles December 1844, 


(°) Der neue Welt Bott (Bote) III, 4. Nr. 424 p. 17. 1732. 


328 EHRENBERG: 


an, dafs am 25. November des Weltjahres 2424 die Plagen mit dem bluti- 
gen Gewässer angefangen und am 26. März 2425 (1577 a.C.) geendet haben. 
„Den 6. Abib an einem Montag den 17. Mertzen haben Moses und Aaron 
das Land Aegypten drei Täge und Nächt mit einer so dicken Finsternifs be- 
deckt, dafs kein Heyd den andern sehn könnte.“ „Die Finsternifs (sagt er 
p- 28) wird meines Erachtens den 19. Mertzen nachgelassen haben.“ Nach 
Zumpt(!) war es das Jahr 1535 vor Christus wo die Juden auswanderten. 
Andere (Sprengel)(?) haben das Jahr 1526 bezeichnet. 

Nach der ältesten eigentlichen Quelle dieser Nachrichten, den mosai- 
schen Schriften 2tes Buch Mosis (Exodus) 11, 5; 12, 6, 17; 23, 15 und 
3tes Buch Mosis (Leviticus) 23, 5, soll die Feier des jüdischen Passah-Festes 
am 14ten Tage (Vollmond) des ersten Monden (Abib) zwischen Abend sein, 
weil die Juden in demselben am folgenden Morgen aus Aegypten gezogen 
und vorher, am Abend, das Osterlamm gegessen. Abib oder Nisan ist nach 
Bochart’s gelehrten Forschungen (Hierozoicon I. p. 557) sicher der erste 
Frühlingsmonat und entspricht theils unserm März, theils dem April. Ma- 
carius Aegyptius (im 4ten Jahrhundert n. Chr.) schreibt in der 47 Ho- 
milia: Gott habe die Israeliten aus Aegypten geführt im Blumenmonat, wo 
der herrliche Frühling zuerst erscheint. Allerdings ist der März der Früh- 
lingsmonat Aegyptens, wo alles in schönster Blüthe und Frische steht, auch 


meinen eigenen Erfahrungen nach, noch heut. Dafs im März und Januar 


8 
die rothen Staubwolken des Passatstaubes sich öfter als in allen andern Mona- 
ten meist mit dicker, oft mehrtägiger Finsternifs, über verschiedene Länder 
verbreitet haben ist mafsgebend für diesen Fall. Die ähnliche, deutlicher 
hierher gehörige Erscheinung aus Palästina von 910 vor Christus, welche 
im zweiten Buch der Könige erzählt wird, schliefst sich erläuternd an. 

Da es aus den Nachforschungen nicht völlig deutlich wird, dafs Moses 
den Pentateuch selbst aufgeschrieben hat, ihm vielmehr nur die Epoche 
machenden ersten und schwerfälligen Versuche der fragmentarischen Ge- 
schichtsschreibung sicher zufallen, so ist es nicht unmöglich, vielmehr wahr- 
scheinlich, dafs die zwei in der Zeit getrennten Erscheinungen, dicker Finster- 
nifs und darauf unmittelbar folgender rother Wasserfärbung im ganzen Lande 


(') Annales veterum regnorum et populorum 1819. 


(*) Sprengels Geschichte der Arzneikunde 1821. Tabelle im Anhang. 


Passatistaub und Blutregen. 329 


durch den (Nachts) gefallenen, an allen trockenen Stellen leicht vom Winde 
verwehten Staub, noch weiter aus einander gerückt und sogar umgestellt, 
das rothe Gewässer vorangestellt worden, weil man ihren Zusammenhang 
nicht erkannte. Hätte Moses aber den Pentateuch wirklich selbst aufge- 
schrieben, so wäre eine solche Umstellung nicht wahrscheinlich(!). Jeden- 
falls wirft diese Erscheinung somit ein unerwartetes neues Licht auch auf die 
Abfassung des Pentateuchs(?). Vergl. 30a. C. 
1181? a.C. Aus der Zeit des Aeneas und der Dido findet sich ein Er- 
schrecken vor blutigem Gewässer in Virgils Aeneide IV. 454. 
Horrendum dictu, latices nigrescere sacros 
Visaque in obscoenum se vertere vina cruorem. 
Da jedoch nicht bekannt ist, dafs der sich oft frei bewegende Dichter damit 
sehr speciel Geschichtliches aus Nordafrika vorträgt, so wird diese Idee, 
welche ähnliche wahre Beobachtungen offenbar voraussetzt, nur ein Product 
der späteren Zeit sein, jedoch nicht späterer als die Zeit vor Christi Geburt 
in welcher Virgilius sein Gedicht abfafste. Er starb 19a.C. Da Ähnliches 
von Xerxes 480 vor Christus, als er den Athos bestieg, berichtet wird, so 
kann Virgil diese Nachricht auf die Dido übertragen haben. Das Factum 
in der Aeneide würde also weder auf Afrika noch auf Italien bezüglich sein, 
vielmehr wohl auf Griechenland, wenn es überhaupt berücksichtigt wird. 
950 a.C. Eine völlig zweifelfreie sehr alte Kenntnifs des Phänomens blut- 

artiger meteorischer Niederschläge findet sich aber schon bei Homer. Fast 
tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung heifst es in den Gesängen Homers: 
(Ilias XI. v. 52, 54.) 

--- 2. - Ev de nUdernov, 

’Qgre Kanov Kooviöns, zara 6° üboSIev Arev sepras 

Aluarı mudurtas EE andegos - = - - - 


EN HE HA in das Getümmel 


(‘) Ewald, Geschichte des Volkes Israel, Göttingen 1843 Bd. I. glaubt den Penta- 
teuch zur Zeit Davids abgefalst. Nach p. 86. habe man später eine allgemeine Weltgeschichte 
aus Mosis Notizen gemacht. Nach de Wette Lehrbuch der histor. erit. Einleit. in die 
Bibel I, p. 15. kann mit Moses die Einführung der Schreibkunst, aber nicht die Entstehung 
der Litteratur unter den Hebräern angenommen werden. Diese entstand erst mit Samuels 


5 
Prophetenschule. 


(?) Vergl. meine Einleitungs-Rede über das Dunkelmeer der Araber 1848 p. 15. 
Phys. Kl. 1847. Tı 


330 0  EHRENBERG: 


Zeichnete Grauses Kronion, herab Thau senkend von oben 
Blutig feucht aus dem Aether - - - - - 
An einer anderen Stelle der Ilias steht: (X VI. v. 459, 460.) 
Aluaroeovas Ö& Wutdas narexsuev egage 
Ileida diAov rıuav - - - - - 
Blutig träufelnden Regen ergofs er jetzo zur Erde 
Ehrend den theuren Sohn (Sarpedon) - - - - - 
Wegen der Wichtigkeit des Trennens dieser beiden Bilder Homers 
vergleiche man die Note vorn pag. 323. 

910?a.C. Zur Zeit des Propheten Elisa war Wassermangel in Palä- 
stina und am Morgen kam ein Gewässer von Edom her und füllte das Land 
mit Wasser. Da sich die Moabiter am Morgen früh zum Kriege gegen Israel 
rüsteten und die Sonne aufging auf das Gewässer (des Regens) sahen sie, dafs 
es roth war wie Blut. — Sie hielten es für ein gutes Kriegszeichen, wurden 
aber geschlagen. II. Buch der Könige c. 3. v. 17-23('). Es ist aus der 
kurzen Mittheilung überzeugend deutlich, dafs Regenwolken ungewöhnlicher 
Art von Westen (Idumaea) her kamen, welche in der Nacht ein blutartiges 
rothes Gewässer regneten. Ein starker Platzregen mit rothem Meteorstaub 
würde von keinem Volke anders aufgefafst worden sein. Die Erscheinung 
von 1814 bei Genua schliefst sich nahe an und die Auffassung der jetzigen 
- Menschen war im Wesentlichen völlig dieselbe. 

718a.C. Zu Romulus Zeit regnete es Blut gleichzeitig zu Rom und 
Laurentum, kurz nachdem die Laurentiner den mit Romulus regierenden 
König Tatius erschlagen hatten. Man hielt es für ein Zeichen des Zornes 
der Götter. Romulus, als Schwiegersohn und Mitregent, vielleicht selbst 
nicht unbetheiligt an jener That (nach Livius(?)) liefs zur Sühne einige der 
Mörder hinrichten, worauf die Unglückszeichen aufhörten. — Die Nachricht 
ist aus Livius und Plutarch(°) in Zonaras (ed. Paris. p.240) und Ly- 
costhenes übergegangen (*). 


x v £ =» N x > m m r 
(') Kar idov Üdare noX,ovro = sdou Edum, za Erin Y yn üdaros: — Kaı woSgirev 
3 e D \ un N z & 
To mul, zo 6 NArog aversılev Em ra udare" Kar side Much 2Esvarrias va Vbare mugdc wg 
[a . ’ a N 
ci. — Septuaginta. Barırauv A v. 20 et 22. Vergl. 100 nach Christus. 
(?) Livius Ic. 14. Eam rem (Tatii regis caedem) minus aegre quam dignum erat 
tulisse Romulum ferunt. 
©, m N x ’ e e [7 

() Plutarch. Romulus c. 24. "YrSr de zaı saydsıw amaros % morıs, use moRANV moosıyeve- 
Far m La N \ ı Er Es 
FI rors avayzaloıs magerı deisıdamoviev" "Erreı de zur rois ro Aaugevrov oizöucı Snoe uveßeıwer. 


(*) Wenn ich hier eine Reihe vorchristlicher Prodigien in die wissenschaftliche Unter- 


Passatstaub und Blutregen. 331 


461 a.C. Unter dem Consulat des Volumnius Amintinus Gallus 
und Servius Sulpicius Camerinus gab es unter anderen Prodigiis 


suchung ziehe, welche bisher absichtlich ganz bei Seite geschoben worden ist (auch von 
Chladni und den Nachfolgern), weil man sie nicht für glaubwürdig hielt, so glaube ich 
durch die Übersicht des Ganzen entschuldigt zu werden. Es scheint mir eine glückliche 
Fügung, diese abergläubischen Prodigia für die Wissenschaft erhalten zu finden. Manches 
was hier zu einem Jahresbilde zusammengedrängt ist, mag nicht auf dasselbe Meteor be- 
züglich gewesen sein, dennoch zeigt die neuere Zeit deutlich, dals in Italien die mit 
rothem Staub (Blutregen) begleiteten Stürme noch jetzt so häufig sind, dals man perio- 
disch auffallende Anhäufungen derselben leicht zugiebt, so wie sie hier schmucklos geschil- 
dert werden. Mehrere dieser Nachrichten geben aber ein so deutliches Bild richtig auf- 
gefalster Meteorstürme solcher Art, dals ich den zuweilen übertreibenden, zuweilen weniger 
treffenden Ausdruck im Einzelnen übersehen zu können meinte und der Wissenschaft 
gerade diese blutartigen Staubmeteore aus Italien, oft in Verbindung mit Meteorsteinen 
und Feuer-Meteoren als historische Vergleichungspunkte recht eigentlich empfehlen zu 
müssen glaube, wie sehr auch vorsichtige Benutzung im Detail anzurathen ist. Es sind 
besonders hier solche Fälle gewählt, wo eine mehr als lokale Verbreitung und eine mehr 
als momentane Dauer, oder characteristische Massen angegeben sind. Die so einfache 
gleichzeitige Aufzählung aller Mifsgeburten bei den Schriftstellern spricht für Glaubwür- 
digkeit der Nachrichten, welche auch das ernste Institut der Haruspices zur Römer Zeit 
verbürgt. (Ottfried Müller die Etrusker H, p. 17.) 

Die öfter angegebene dreitägige Dauer mag zuweilen mystische Steigerung, so wie 
mehrtägiger Steinregen Übertreibung sein. Die Verbindung von Blut- und Milch-Regen, 
die öfter wiederkehrenden Plätze des Vulkans und der Concordia, der Altäre (vielleicht 
ara für area zuweilen blos verschrieben) die Blut-Flüsse, -Ströme und -Quellen, für Regen- 
Gerinne mit rothem Erdabsatz, die Trennung zusammengehörender und die Vereinigung 
getrennter Erscheinungen verschiedener Meteore sind alterthümliche Darstellungsweisen, an 
denen ich ohne Anstols vorübergehe, das historische Factum des häufigen rothen Meteor- 
staubes in Italien mit Sturm und Blitz verbunden, scheint mir dadurch gesichert seit alter Zeit. 

Was einen festzuhaltenden Maalsstab für vulkanısche Erscheinungen anlangt, welche 
in Italien zur Zeit der Kraft Roms vorkamen, so ist im Gedächtnils zu behalten, dafs 


Steinregen, Aschenregen, dunkler Himmel und Feuererscheinungen am Himmel darin man- 


nigfache kesueekung Eden. Der Mons Albanus (Monte cavo) bei Rom hat den ersten 
historischen, Verwunderung erweckenden, Auswurf von hagelartigen Steinen unter Tullus 
Hostilius im Jahre 642 a. C. gemacht. Er war in den Jahren 344, 212 und 205 a. 
€. noch in Thätigkeit. Der König Tullus schickte nach Livius I, 31 Beauftragte zur 
Untersuchung der unglaublichen Erscheinung des Steinhagels, und veranstaltete neuntägige 
Sühnung des Prodigiums. Seit fast 2 Jahrtausenden ist dieser Vulkan erloschen. Der 
Vesuy hat bekanntlich im Jahre 79 nach Christus den ersten historischen Ausbruch gehabt. — 
Viele Feuer-Meteore mögen elecirische Erscheinungen gewesen sein, die eine zu vermu- 
thende beständige Gassäule über dem Berge erzeugte und die sich als Feuerbälle, Fackeln, 
unerhörte Blitze u. s. w. in Italien gezeigt haben mögen, gleich den vielen feurigen Me- 


AO. 


332 EHRENBERG: 


auch einen Fleisch-Regen, den die Vögel gröftentheils im Fallen auffingen. 
Was zur Erde kam lag da mehrere Tage ohne faulen Geruch und ohne äufsere 
Veränderung(!). — Es war wohl eine erdige rothe Meteorsubstanz, die, wo 
sie gehäuft und feucht lag, geronnenem Blute oder rohem Fleische glich, 
wie es öfter, auch neuerlich (1814), damit verglichen worden. Dafs die 
Vögel, welche der Sturm vielleicht nur in Angst (wie 1846 in Lyon) umher- 
trieb, es gefressen, ist weder beglaubigt noch wahrscheinlich. Ja Johan- 
nes Lydus(?) (550 p. C.) sagt ausdrücklich, wahrscheinlich auch nach 
älteren Schriftstellern, dafs kein lebendes Wesen dies Fleisch genossen habe, 
dafs es nutzlos gefallen und geblieben sei. Auch von einem blofsen Blut- 
regen wird 35 a. C. erzählt, dafs die Vögel ihn verschleppt hätten. Offen- 
bar flüchteten sich die Vögel in solchen Fällen nur vor dem Orkane. 

340 a.C.(?) Als Alexander der Grofse seine Armee gegen Theben 


teoren, welche beim Erdbeben von 1805 zu Neapel nach Poli in Italien gesehen wurden 
(Memoria sull tremuoto di 26 Luglio 1805 p. 37). Dennoch zeigen die Erscheinungen 
von 1803, 1813, so wie von noch vielen anderen Jahren, dafs die Scirocco-Stürme, unab- 
hängig von Vulkanen, zu einer Trennung der mit rothem Staubfall verbundenen 
Feuermeteore aller Zeiten berechtigen und völlig nöthigen. 

(') Livius II, 10. Valerius Maximus de prodigiis I, c. VI. 

(*) Joh. Lydus de Östentis c, VI. p. 23. Koca — HaremETEV ÜmarSIav HL Elasıvev 
ouruws. Oi yag av Sygiov Y Rryvov, Nr ToV einbuywv Auagav #z0Salaıro Exeivou TOU TWMaTOS. 

(°) 480 a.C. Als Xerxes vor seiner Zerstörung Athens den Berg Athos (qui Idae 
proximus est) bestieg, ereignete sich beim Essen ein auffallendes Wunder. Der Wein, 
welchen er in die Trinkschaale gols wurde plötzlich in Blut verwandelt und dasselbe wie- 
derholte sich nicht einmal, sondern 2-3 mal. Valerius maximus de prodigiis I, c. 6. Ver- 
gleiche 1181 a. C. 

Ob die gleichzeitig während der Seeschlacht des Themistocles mit Xerxes in 
der Richtung von Eleusis in Attica vorgekommene helle Feuer-Erscheinung mit Geräusch 
und sich (scheinbar) vom Lande erhebenden und auf die Schiffe zurücksenkenden Nebel einen 
Staubfall ähnlicher Art bezeichne bleibt unsicher. Thätige Vulkane sind in Attica damals 
nie gewesen. 

400 a. C. Ctesias berichtet, dals es in Aethiopien eine fast zinnoberrothe Quelle 
giebt. Sotionis Paradoxa. 

344 a.C. Bei Einweihung des Tempels der Juno Moneta zu Rom folgte sogleich 
ein Wunderzeichen, indem die Dunkelheit der Nacht den gröfsten Theil des Tages fort- 
dauerte und aus den Wolken Steine fielen. Livius 7, 28. Orosius III, c. 7, welcher 
aus einer anderen Quelle geschöpft hat. — Es war wohl vulkanische Thätigkeit des 
Mons albanus, wie Livius schon auch vermuthet. 


Passatstaub und Blutregen. 333 


führte(!), schickten die Götter Wunderzeichen. In den Sümpfen bei On- 
cheston (in Boeotien) hörte man einen furchtbaren anhaltenden Schall, wel- 
cher den Hafen und die Häuser erschütterte. Darauf wurde die Dirce 
genannte Quelle zwischen dem Flufs Ismenus und der Stadtmauer plötzlich 
unerwartet mit Blut erfüllt. — Diese Nachricht könnte sich auf einen Me- 
teorsteinfall mit Blutregen beziehen. Das Plötzliche der Erscheinung be- 
günstigt diese Ansicht vor anderen. Lycosthenes Prodigia(?). 

332. a.C. Als Alexander Tyrus belagerte kamen daselbst nach Dio- 
dorus Sieulus und Curtius Rufus(?) mehrere bedenkliche Prodigien 
vor. Im Tyrus selbst zeigte sich, sogar unter den Schmiede- Werkstätten 
(sub ipsis flammis), wo Eisen zubereitet wurde, Strömungen von Blut (san- 
guinis rivi), was die Tyrier zum Nachtheil der Macedonier deuteten und bei 
der Armee des Alexander fanden die Soldaten Blut im Brode, was der Prie- 
ster Aristander zum Nachtheil der Tyrier auslegte, weil es innerhalb sei. 
Diese Deutung ermuthigte die Macedonier und schwächte die Tyrier, so dafs 
Tyrus im 7ten Monate der Belagerung fiel. — Das letzte Prodigium ist ohne 
Verbindung mit dem Meteorstaube (und neuerlich als Product eines Infusions- 
thierchen, der auf feuchten Speisen lebenden Monas prodigiosa, erkannt). 
Das erste könnte das Product eines, im Freien weniger bemerkbaren, Me- 
teorstaub-Falles gewesen sein, so wie etwa der rothe Regen zu Brüssel 1646 
nicht alle Häuser der Stadt traf und auch Blutströme veranlafste. 

262 a.C.(*) Unter dem Consulat des M. Valerius Maximus und Q. 
Mamilius Vitulus flofs an vielen Orten (Italiens) Blut aus Quellen und Milch 


1 


Nach Zumpt 335 a. C. 
Der ebenda 333 a. C. erwähnte Staubfall gehört zu 88 a. €. 
Diodorus Siculus XVII, c. 41. CGurtius Rufus IV, c.ı. 


295 a.C. Nach Livius X. 31 war im Jahre 295 vor Christo eine schwere Pest 


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und es gab Besorgnils erregende Prodigien, denn es regnete an mehreren Orten Erde. 
Auch tödtete der Blitz mehrere Soldaten in der Armee des Appius Claudius. — War 
es ein einzelner von Gewitter und Meteorstaub begleiteter Orkan? 

294 a. C. Ein dichter, lange Zeit den Tag raubender Nebel, als dicke Finsternils 
(caligo) begünstigte im folgenden Jahre nach Livius X. 32 einen Angriff der Samniter 
auf das römische Lager und die Tödtung des Quästor L. Opimius Pansa. Auch in der 
Nähe konnten sich die Kämpfenden am Tage nicht erkennen. — Die schnelle Einweihung 
des Tempels der Victoria durch L. Postumius, den zu Hülfe eilenden Consul, scheint 
Sühnung des Prodigii, als ungewöhnliche Nebel-Erscheinung gewesen zu sein. 

Die Blutbäche zu Caura gehören nicht zu 264 sondern zu 143 a. C. 


339 EHurEenBenrc: 


fiel wie tropfender Regen aus Wolken herab. Furchtbare Regenstürme (diri 
imbres) überschwemmten das Land. — Diese Nachricht ist in den Ergän- 
zungen des Julius Obsequens von Lycosthenes dem Jahre 264 a. C. in 
dem Werke de Prodigiis 265 zugetheilt, nach Paulus Orosius gehört 
sie in das Jahr 274 (480 a. V.). Das Oonsulat ist nach Zumpt wohl 
das obige Jahr. Der ausgesprochene Gegensatz von Wolken und Quellen 
scheidet das bekanntere Blut-Meteor von dem noch unerklärten Milch-Meteor 
und die gleichzeitigen Regenstürme erlauben anrothen Meteorstaub zu denken. 

223 a.C. Unter den Consuln C. FlaminiusNeposund FuriusPhilus 
wurde gemeldet, dafs ein Flufs in Picenum blutiges Wasser geführt habe, 
dafs in Thuscien der Himmel zu brennen geschienen und zu Ariminum es in 
der Nacht hell wie am Tage geworden sei. In demselben Jahre wurde auch 
der Colofs zu Rhodus durch ein heftiges Erdbeben umgestürzt. — Die Er- 
scheinungen in Italien lassen sich, wenn sie im Zusammenhange und gleich- 
zeitig waren, als Product eines Feuer-Meteors mit Scirocco-Staube denken. 
Paulus Orosius giebt das Jahr 517 (237 a. C.), Lycosthenes das Jahr 
221 a.C.an 

218 a.C.(!) Unter den Consuln Cornelius Scipio und Sempronius 
Largus 218 a. C. im zweiten punischen Kriege, waren nach Livius XXI, 62. 
viele Wunderzeichen im Winter zu 217 a. C., viele andere, sagt er, seien, 
wie zu geschehen pflege, wenn die Gemüther in einer für Religion empfäng- 
lichen Stimmung sind, gemeldet und ohne Grund geglaubt worden. 

247 a.C. Unter den Consuln Cn. Servilius Geminus und Flaminius 
Nepos wurden in Rom die Gemüther nach Livius XXI, 1. durch Prodi- 
gien geängstigt, welche gleichzeitig aus mehren Orten gemeldet wurden 
(ex pluribus simul locis nunciata). Aufser eleetrischen Lichterscheinungen 
an Waffen der Soldaten und Meeres-Leuchten(?) hatten in Sardinien zwei 
Schilde Blut geschwitzt und einige Soldaten waren vom Blitz erschlagen. 
Die Sonnenscheibe erschien verkleinert. Zu Arpae sah man Schilde am 
Himmel und Sonne und Mond schienen zu kämpfen (Nebensonnen?). Zu 
Praeneste fielen brennend heifse Steine vom Himmel. Zu Capenae sah man 


(') Das in den Monatsber. im Jahre 218 verzeichnete Prodigium von Rom gehört in 
das Jahr 194 a. C. 

() Diels und Livius XXIII, 31. von 215 a. C. ist die deutlichste älteste Nachricht 
vom organischen, nicht vulkanischen Meeresleuchten, welche früher nicht beachtet worden. 


Passaistaub und Blutregen. 335 


2 Monde (Nebensonnen?) am Tage und zu Caere flofs Wasser mit Blut ver- 
mischt, selbst die Hercules-Quelle flofs mit blutigen Flecken. Bei Antium 
sammelten die Schnitter (im Sommer also) blutige Aehren. Zu Falerii schien 
der Himmel einen grofsen Spalt bekommen zu haben aus dem ein starker 
Lichtschein glänzte. — Gleichzeitig hatte zu Rom an der Via Appia die Statue 
des Mars bei dem Denkmal der Wölfe Schweifs gezeigt. Zu Capua sah man 
einen gleichsam brennenden Himmel und während des Regenwetters einen 
fallenden Mond. Aufserdem wurden, wie Livius hinzusetzt, auch geringfü- 
gigere Prodigien geglaubt. Grofse und kleine Opfer, dreitägige Gebete in 
allen Tempeln, ein goldener Blitz für Jupiter, Silbergeschenke für Juno und 
Minerva und viele andere Sühnungen wurden angeordnet. — Dieser Fall 
scheint völlig deutlich ein erschreckender grofser Orkan mit feurigem Meteor 
und Meteorsteinfall (wie 1813) gewesen zu sein, wobei der rothe Meteor- 
staub eine wichtige Stelle einnimmt. Vielleicht bedingte der Passatstaub 
gerade hier die Nebensonnen ebenso wie die scheinbare Verkleinerung 
der Sonnenscheibe. Dafs ein so zusammengesetztes und so richtiges Bild 
eines Meteorsturmes von Unwissenden erfunden werden könne scheint mir 
unglaublich. 

216 a.C. Im folgenden Jahre (zur Zeit der Schlacht bei Cannae) wurden 
die Römer wieder durch ähnliche Wunderzeichen erschreckt. Auf dem 
Aventinus in Rom und zu Aricia fielen Steinregen und die Kriegszeichen 
(Statuen?) wurden im Sabiner Lande mit vielem Blut überzogen. Es ent- 
stand eine heifse Quelle und einige Menschen wurden auf der Via Fornicata 
vom Blitz getödtet. — Ein Meteorsteinfall mit Blutregen und starkem Ge- 
witter ist hier wohl ebenfalls unverkennbar, vorausgesetzt, dafs die Annalen 
der Haruspices von Livius, welcher offenbar religiösen Sinn hatte, gewis- 
senhaft benutzt worden sind. Livius XII, 36. 

215 a.C. Im vierten Jahre des zweiten punischen Krieges im Consulate 
des T. Sempronius Graechus und Q. Fabius Maximus wurde wieder 
Meeresleuchten als Prodigium gemeldet (mare arsit eo anno). Zu Lanuvium 
beim Tempel der Juno Sospita wurden Statuen (oder Kriegszeichen, signa) 
von flüssigem Blut überzogen und es regnete Steine bei diesem Tempel. 
Dieses Orkans halber (ob quem imbrem) waren neuntägige Gebete. Auch 
die übrigen Prodigien wurden mit Sorgfalt gesühnt. Livius XXI, 31. — 


336 EHRENBERG: 


Steinregen und Blutregen sind hier wieder gleichzeitig mit einem Orkan und 
an gleichem Orte. 

214a.C. Unter den Consuln Q. Fabius Maxim. Verrucosus und 
Marcus Claudius Marcellus wurden nach Livius XXIV, 10. wieder 
viele Wunder gemeldet und, wie er sagt, desto mehr je mehr einfache und 
religiöse Menschen sie glaubten. Folgende gehören hierher: Zu Mantua sah 
man einen sich in den Mincio ergiefsenden Teich blutig roth und zu Calae 
regnete es Kreide, zu Rom auf dem Forum boarium regnete es Blut. — Der 
Blitz traf das Atrium publicum im Capitol, einen Tempel auf dem Vulkans- 
Felde und noch 4 andere Punkte. — Der Blutregen und die Blitze scheinen 
ein einfaches rothes Staub-Meteor in Rom zu bezeichnen. 

213 a.C. Unter den Consuln Q. Fabius, Qi. filius Maximus und 
Tit. Sempronius Gracchus schlug der Blitz zu Rom in die Stadtmauer 
und die Thore und zu Aricia in den Jupiters Tempel. Zu Amiternum sah 
man einen Blut-Flufs. — Beides als gleichzeitig angesehen, erlaubt an ein 
rothes Staub-Meteor zu denken. 

211 a. C.(!) UnterCn.FulviusGentumalus und P.Sulpicius Galba 
schlug der Blitz in den Tempel der Concordia zu Rom und warf die auf dem 
Giebel stehende Victoria herab, so dafs sie zwischen den an der Fronte an- 
gebrachten Victorien hängen blieb. Zu Anagnia und Fregellae wurde die 
Mauer und das Stadtthor getroffen. Zu Forum Subertanum (Sudernatum) 
flossen den ganzen Tag lang Blutbäche. Zu Eretum regnete es Steine. Li- 
vius XXVI, 23. — Es scheint auch hier ziemlich sicher ein rothes Staub- 
Meteor (Scirocco) gewirkt zu haben. 

210 a.C. Im folgenden Jahre unter den Consuln M. Claudius Mar- 


(') 212 a. C. Unter dem Consulate des Q. Fulvius Flaccus und Appius Clau- 
dius Pulcher gab es grälsliches Unwetter. Auf dem Mons Albanus regnete es zwei 
Tage lang Steine. Vieles wurde vom Blitz getroffen, zwei Tempel (aedes) im Capitol, 
ein Wall im Lager jenseits Suessula wurde mehrfach getroffen, auch zwei Schildwachen 
(oder Wächter) wurden getödtet. Eine Mauer und einige Thürme zu Cumae wurden nicht 
nur vom Blitz getroffen, sondern gänzlich zerstört. Zu Reate schien ein grolser Stein 
in der Luft zu fliegen. Die Sonne sah aulsergewöhnlich geröthet, fast blutroth. Livius 
XXV,7. — Der Steinregen auf dem Mons Albanus ist wohl sicher vulkanischer Natur 
gewesen, wie ihn auch Alex: v. Humboldt schon in seinem Reisewerke, deutsch IL, 
p- 72, beurtheilt hat. Die übrigen Erscheinungen lassen an Complieation mit Scirocco 
und sogar Meteorsteinfall denken. 


Passatstaub und Blutregen. 337 


cellus und M. Valerius Laevinus waren aus Städten und Ländereien in 
der Umgebung Roms im Sommer wieder viele Prodigien gemeldet worden. 
Hierher gehören nur folgende: Der Giebel des Jupiter Tempels wurde vom 
Blitz getroffen und fast die ganze Decke wurde zerstört. Fast zu gleicher 
Zeit brannte bei Anagniae die vom Blitz getroffene Erde einen Tag und eine 
Nacht lang ohne allen Brennstoff. — In der Gegend des Capenates in Tos- 
kana beim Haine der Feronia haben 4 Kriegszeichen (Statuen?) an einem 
Tage und Nachts viel Blut geschwitzt. Livius XXVI, 4. — Gewitter mit 
Scirocco-Staub. 

209 a.C. Als die Consuln Q. Fabius Maximus Verrucosus und Q. 
Fulvius Flaccus zum Kriege gegen Hannibal ausziehen wollten sühnten 
sie erst die Prodigien. Es waren zu Rom am Albaner Berge, zu Östia, 
Capua und Sinuessa viele Orte vom Blitz getroffen und im Albaner Gebiet 
war blutiges Wasser geflossen. Auch Milch-Regen war vorgekommen. Li- 
vius XXVH, 11. — Gewitter mit Scirocco-Staub. 

208 a.C. Unter M. Claudius Marcellus und T. Quinctus Crispi- 
nus wurden zu Capua zwei Tempel, der Fortuna und des Mars, samt einigen 
Gräbern vom Blitz getroffen. — Zu Östia schlug der Blitz in die Mauer und 
das Thor. Zu Bolsena (Volsiniis) war das abfliefsende Wasser des Sees 
blutig gefärbt. Livius XXVIL, 23. — Auch hier erklärt ein Gewitter mit 
Sciroceo-Staub die Erscheinungen, wenn sie gleichzeitig waren. 

207 a.C. Im folgenden Kriegsjahre wurden vor Abgang der Consuln zur 
Armee wie gewöhnlich wieder die vom Magistrate anerkannten Prodigia sehr 
feierlich gesühnt. Zu Veji waren Steine vom Himmel gefallen, zu Minturnae 
in Campanien hatte der Blitz den Jupiters Tempel und den Hain der Nymphe 
Marica getroffen, zu Atellae die Mauer und das Stadtthor. Auf dem Armi- 
lustrum fielen Steine. Zu Minturnae sah man überdies mit Schrecken einen 
Blutbach im Thore. Livius XXVI, 37. — Der Blutbach im Thore zeigt 
bei dieser Nachricht deutlich an, dafs man sich unter solchen Bächen kleine 
Regen-Strömungen zu denken hat. Besonders merkwürdig ist auch der Zu- 
satz bei Livius, dafs die zuerst genannten Prodigien, der Steinregen bei 
Veji, die Blitzbeschädigungen zu Amiturnae und Atellae samt den Blutflüssen 
im Thore zu Minturnae gleichzeitig waren und, dafs dergleichen mehrfache 
gleichzeitige Prodigien gewöhnlich gemeldet zu werden pflegten. Hier- 
durch wird die Annahme öfterer und die Gleichzeitigkeit ähnlicher Verhältnisse 

Phys. Kl. 1847. Uu 


338 EuRENnBERG: 


historisch unterstützt(!). Es ist also hier ein sicherer Meteorsteinfall mit 
Blitz, Regen und Seirocco-Staub oder Passat-Staub angezeigt. 

206 a. C. Im folgenden Jahre wurden zu Rom wieder viele Prodigia ge- 
meldet. Hierher beziehen sich vielleicht folgende: Zu Terracina wurde der 
Tempel des Jupiter und zu Satricum der Tempel der Mater Matuta vom 
Blitz getroffen. Aus Antium wurde gemeldet, dafs die Schnitter blutige 
Ähren gefunden haben. Zu Alba sah man 2 Sonnen und zu Fregellae Nachts 
eine Feuer-Erscheinung. Der Altar des Neptuns auf dem Circus Flaminius 
soll vielen Schweifs gezeigt haben und der Blitz schlug auch in die Tempel 
der Ceres, Salus und des Quirinus. Livius XXVII, 11. — Ob die Neben- 
Sonnen, die Feuer-Erscheinung und die bluiigen Ähren mit einem der Ge- 
witter gleichzeitig waren, wie es scheinen kann, ist freilich nicht weiter zu 
ermitteln. 

194 a.C. Unter den Consuln P. Scipio Africanus und T. Sempro- 
nius Longus wurden zu Rom Prodigien theils gesehen theils gemeldet deren 
einige bemerkenswerth sind. Einigemal regnete es Erde zu Rom und man 
fand Blutstropfen auf dem Forum, dem Comitium und dem Capitolium. 


(') Priusquam consules proficiscerentur, novemdiale sacrum fuit, quia Vejis de coelo 
lapidaverat. Sub unius prodigii, ut fit, mentionem alia quoque nunciata, 
Minturnis etc. a 

205 a. C. Unter den Consuln P. Cornelius Scipio und P. Licinius Crassus 
wurde der häufigen Steinregen halber, den sibyllinischen Büchern zufolge beschlossen, 
den heiligen Stein, welchen die Phrygier als das Bild der Mutter der Götter, der Cybele, 
verehrten, von Pessinus in Phrygien nach Rom zu schaffen (Livius XXIX, 10.), was 
im folgenden Jahre ausgeführt wurde (ibid. c. 14.), wo es wieder Gewitter, Feuererschei- 
nungen und Steinregen gab. Die von Lycosthenes ins Jahr 205 gestellten Erschei- 
nungen sind nach Zumpts Angaben der Consulats-Jahre in anderen Jahren erwähnt 

203 a. C. Auch im folgenden Jahre war die Atmosphäre eigenthümlich mit Dünsten 
erfüllt. Livius XXX. c. 2. 

202 a. C. Ebenso war es unter den Consuln M. Servilius Geminus und T. Clau- 
dius Nero. Steinfälle, starke Gewitter, kleine Sonnenscheibe und ungewöhnliche Regen- 
güsse ereigneten sich wieder. Liv. XXX, 38. 

200 a. C. Unter den Consuln P. Sulpicius Galba Maxim. und C. Aurelius Cotta 
hatte in Lucanien der Himmel zu brennen geschienen (Nordlicht? Feuer-Meteor?). Zu 
Privernum war bei heiterem Himmel einen ganzen Tag lang die Sonne roth gefärbt. 
Livius XXXlI. c. 12. 

193 a. C. Im Jahre 193 a. C. waren so viele Erdbeben, dals ihre Meldung als Prodi- 
gien vom Magistrat beschränkt wurde. Livius XXXIV, 55. 


Passatstaub und Blutregen. 339 


Der Kopf des Vulcans schien zu brennen. Aus Interamna wurde ein Milch- 
regen gemeldet und aus Hadrianum ein Steinfall angezeigt. Livius XXXIV, 
45. — Der Erdregen und die Blutstropfen zu Rom, an mehren Orten beob- 
achtet, lassen wohl keinen Zweifel über einen rothen Seirocco-Regen. Der 
Steinfall ist nur durch seine Vermehrung der Zahl bemerkenswerth. 

190 a. C. Unter dem Gonsulate des L. Cornelius Scipio Africanus 
und C. Loelius beschädigte der Blitz den Tempel der Juno Lucina zu Rom 
und tödtete 2 Menschen bei Pozzuoli. Zu Nursia war bei heiterem Himmel 
ein Orkan (nimbus) entstanden, der 2 Menschen tödtete. Zu Tusculum 
regnete es Erde (nicht Blut). Von zehn Waisenknaben und ebensoviel Wai- 
sen-Jungfrauen wurden wegen der Prodigien-Gebete angestellt. Livius 
XXXVIH, 3. — Ist ein ansprechender Scirocco Typhon. Nur wird der 
rothen Farbe des Staubes bei Livius, der alleinigen ältesten Quelle, nicht 
erwähnt. 

184 a.C. Unter den Consuln Q. Claudius Pulcher und L. Porcius 
Lieinus regnete es am Ende des Jahres Blut. Zur Todtenfeier des ver- 
storbenen Pontifex Maximus P. Lieinius waren nämlich Gladiatoren - Spiele 
und grofses Todtenmahl angeordnet. Ein Ungewitter mit grofsen Stürmen 


492 a. C. Unter L. Quinetus Flaminius und Cn. Domitius Ahenobarbus reg- 
nete es zu Amiternum Erde und zu Formiae wurden Mauer und Thor vom Blitz getroffen. 
Die Überschwemmungen der Tiber rissen Brücken und viele Gebäude weg. Liv. XXXV, 
21. — Es fehlt zwar die rothe Färbung, aber die übrigen Anzeigen sprechen für unge- 
wöhnliche analoge meteorische Niederschläge. 

191 a. C. Unter P. Cornelius Scipio Nasica und M. Acilius Glabrio gab es 
wieder Steinregen zu Terracina und Amiternum und zu Minturnae fuhr der Blitz in den 
Tempel des Jupiters und in die Läden am Markt, verbrannte auch zwei Schiffe an der 
Flufsmündung. Livius XXXVI, 37. 

188 a. C. Unter den Consuln M. Valerius Messala und €. Livius Salinator 
überschwemmte der Tiberfluls, der übermälsigen Regengülse halber 12 mal das Marsfeld 
und die Ebenen Roms. Zwischen 3 und 4 Uhr (d.i. 8 und.9 Morgens) entstand eine 
Finsternifs und auf dem Aventinischen Berge fiel ein Steinregen, weshalb neuntägiges 
Opfer festgesetzt wurde. Livius XXX VII, 28 und 36. — An Sonnenfinsternils ist hierbei 
keineswegs mit Drakenborg zu denken, denn dies unterschied man auch im Volke, wie 
aus Livius XXXVII, 4 hervorgeht. (Ante diem quintum idus Quintiles coelo sereno 
interdiu obscurata lux est, cum Luna sub orbem solis subisset —). Das Ereignils bestätigt 
nur wieder die Häufigkeit solcher Erscheinungen in jener Zeit, ganz abgesehen von der 
religiösen Spannung der Römer. Die damals so häufigen Pestkrankheiten mögen mit der 
Besonderheit der Atmosphäre wohl auch nicht ohne Verbindung sein. 


Uu2 


340 EHRENBERG: 


nöthigte Zelte auf dem Forum zu errichten und später wurde gemeldet, dafs 
es zwei Tage lang auf dem Vulcans-Platze Blut geregnet habe, weshalb die 
Decemvirn Gebete anordneten. Livius XXXIX, 46. — Sciroceo-Sturm mit 
Blutregen. 

183 a.C. Auch im folgenden Jahre unter M. Claudius und O. Fabius 
Labeo regnete es auf dem Concordien-Platze zwei Tage lang Blut. Ferner 
wurde gemeldet, dafs eine neue Insel bei Sicilien aus dem Meere hervorge- 
treten sei. Livius XXXIX, 56. Bei Julius Obsequens sind diese beiden 
letzten Erscheinungen vereinigt. — Vulkanische und meteorische Bewegungen. 

481 a.C. Unter dem Consulat des P. Cornel. Cethegus und Baebius 
Tamphilus wurden zu Rom viele schlimme Prodigien theils erlebt theils 
gemeldet. Auf dem Platze des Vulcans und der Concordia regnete es Blut. 
Auch die Pest war ungewöhnlich stark. Es wurden grofse Opfer veranstaltet 
und in allen Tempeln Roms und Italiens wurde gebetet. Livius XL, 19. 

172 a.C. Unter dem Consulat des C. Popillius Laenas und des P. 
Aelius Ligus wurde zu Rom eine Columna rostrata bei einem nächtlichen 
Sturme vom Blitz zerschmettert und es regnete zu Saturnia (nicht zu Rom 
wie einige Berichterstatter sagen) drei Tage lang Blut. Ein Stier samt fünf 
Kühen wurden zu Calatia durch einen Blitzschlag getödtet. Zu Oxinum 
regnete es Erde. Dieser Unglückszeichen halber wurden grofse Opfer ver- 
anstaltet und Gebete und Spiele angeordnet. Livius XLI, 20. — Es scheint 
ein Scirocco-Orkan damals stattgefunden zu haben. 

169a.C. Als Marcus Philippus und Servilius Caepio Consuln 
waren, sah man (im Anfang des Jahres oder 170 a. C.) zu Anagnia ein Feuer- 
Meteor am Himmel. Zu Minturnae hatte der Himmel gleichzeitig (Minturnis 
quoque per eos dies) zu brennen geschienen (schwerlich ein Nordlicht). Zu 


482 a. C. Ein furchtbarer Orkan mit Gewitter, welcher in Rom vielen Schaden an- 
richtete, aber ohne rothen Staub und ohne Steinregen war, wird unter dem Gonsulat des 
Cn. Baebius Tamphilus und L. Aemilius Paulus am Tage vor den Parilien Mittags 
(29. April) gemeldet. — Bei Lycosthenes (Prodigia) ist der Blutregen des folgenden 
Jahres mit Unrecht zu diesem Jahre hinzugezogen. 

177 a. C. Unter C. Claudius Pulcher und T. Sempronius Gracchus fiel ein 
grolser Stein im Crustumenischen Felde in den See des Mars. Zu Capua schlug der Blitz 
an vielen Orten ein. Zu Puzzuoli wurden zwei Schiffe durch den Blitz verbrannt. Li- 
vius XLI, 9. 


Passatstaub und Blutregen. 341 


Reate war ein Orkan mit Steinfall. Der Apollo in der Burg zu Cumae hat 
3 Tage und 3 Nächte geweint. Der Castellan des Tempels der Primigenia 
Fortuna auf dem Hügel meldete, dafs es am Tage Blut geregnet. Zwei an- 
dere Meldungen von Prodigien wurden nicht anerkannt. Jener und der 
übrigen anerkannten halber wurden zur Sühnung 40 grofse Opferthiere ge- 
schlachtet und der ganze Magistrat betete und opferte an allen Altären, wo- 
bei das Volk mit Kränzen geschmückt erscheinen sollte, was genau nach der 
Vorschrift der Decemvirn ausgeführt wurde. Livius XLIHN, 13. Am Ende 
desselben Consulats-Jahres sind nach Livius noch 2 Steinregen vorgekom- 
men XLIV, 18. — Wenn die grofse Lichterscheinung, der erste Steinfall, 
der Orkan und Blutregen gleichzeitig waren, wie es, auch der Wirkung auf 
die Gemüther nach, scheint, so ist dies wieder eins der sehr merkwürdigen 
Ereignisse, welche damals häufig waren, später seltener geworden. 

167 a. C. Unter den Consuln Q. Aelius Paetus und M. JuniusPen- 
nus war der Tempel der Penaten in Velia (nach Jul. Obsequens zu Rom) 
vom Blitz getroffen und zu Minervium hatte er in die Mauer und 2 Thore ein- 
geschlagen. Zu Anagniae hatte es Erde geregnet, zu Lanuvium (Lavinium) 
hatte man am Himmel eine Lichterscheinung gesehen und zu Calatia meldete 
auf dem ager publicus der römische Bürger M. Valerius, dafs aus seinem 
Hause (e foco suo) drei Tage und zwei Nächte lang Blut geflossen (nach 
Jul. Obsequens hatte es auf dem ager publicus selbst Blut geregnet). Die 
Decemvirn wurden beauftragt die Bücher einzusehen und verordneten ein 
eintägiges Volksgebet und ein Opfer von 50 Ziegen auf dem Forum. — Es 
scheint wieder ein Orkan mit Feuermeteor und lokalem Blutregen eingetre- 
ten zu sein. — Livius XLV. c. 16. 

Da die auf uns gekommenen Bücher des Livius hiermit zu Ende sind, 
so ist zunächst Julius Obsequens die weitere Gewähr. Weil aber die 
Consulatsnamen bei J. Obsequens oft unvollständig sind, so ist die von 
Zumpt in den Annales vet. regn. et pop. gegebene Ausführung und nähere 
Bestimmung benutzt. 

166 a.C. Unter M. Claudius Marcellus und C. Sulpicius Gallus 
regnete esin Campanien und vielen Orten Erde. Zu Praeneste fiel Blutregen. 
Zu Vejentum trugen die Bäume Wolle. Zu Terracina wurden drei Frauen 
bei der Arbeit im Minerven - Tempel vom Blitz erschlagen. — Dem Tempel 
der Salus traf der Blitz und auf dem Quirins-Hügel flofs Blut an der Erde. 


342 EHrREnBERG: 


Zu Lanuvium war Nachts eine Feuer -Erscheinung am Himmel und der Blitz 
beschädigte Verschiedenes. Zu Cassinum wurde einige Stunden lang in der 
Nacht die Sonne sichtbar. (Das kann weder Nordlicht noch Feuerkugel 
gewesen sein). Jul. Obsequens Lycosth. c. 71. — Es mögen leicht meh- 
rere, vielleicht zwei Orkane mit Feuer-Erscheinungen und MeteorstaubFall 
hier bezeichnet sein. Die Grade der Sühnung, welche nicht erwähnt sind, 
lassen sonst einigermaafsen auf die schreckhafte Intensität der Meteore 
schliefsen. 

147 a.C. Im Consulat des Publ. Cornel. Scipio Aemilianus und 
C. Livius Mamilianus Drusus flossen Blutbäche in Caere aus der Erde 
und der Himmel schien Nachts zu brennen. Zu Rom und in der Umgebung 
ward vieles vom Blitz getroffen. Zwei farbige Sonnenzirkel sah man zwischen 
3 und 4 Uhr (9 und 10 Morgens) zu Lavinium. Einer war roth, der andre 
weils. Jul. Obsequens c. 79. 

143 a.C. Unter App. ClaudiusPulcherundQ. Caecilius Metellus 
Macedo sah man zu Caura Blutbäche an der Erde fliefsen. Jul. Obse- 
quens c. 80. 

137. a.C. Im Consulat des M. Aemilius Lepidus Poreina und C. 
Hostilius Mancinus war zu Praeneste eine Feuer-Erscheinung am Himmel. 
Zu Terracina ward der Praetor M. Claudius im Schiffe vom Blitz erschla- 
gen und verbrannt. Der Fuciner See trat auf 5000 Schritte überall ans den 
Ufern. In der Griechen-Station (in Graecostasi) zu Rom und dem Comitium 
flofs Blut. — Der Blitz beschädigte mehreres. Jul. Obsequens c. 83. 

136 a.C. Unter P. Furius Phflus und Sex. Atilius Serranus ent- 


stand ohne alle wahrnehmbare menschliche Ursache ein grofser Brand zu 


163 a. C. Unter T. Sempronius Gracchus und M. Juventius Thalna sah man 
zu Capua die Sonne zur Nachtzeit. Zu Stellatum wurde eine Widderheerde zum Theil 
vom Blitz erschlagen. Zu Formiae sah man zwei Sonnen am Tage und der Himmel schien 
zu brennen. — Zu Gabiae war Milchregen, im Palatium zerschlug der Blitz Mehreres. — 
In Cephalonia glaubte man vielstimmigen Gesang vom Himmel zu vernehmen. Es fiel 
Erdregen. Durch den Sturm wurden die Dächer abgerissen und die Felder verwüstet. 
Dabei waren häufige Blitze. Zu Pisaurum sah man die Sonne des Nachts. Jul. Obsequens 73. 
452 a. C. Unter M. Cl. Marcellus und L. Valerius Flaccus stürzte ein Wirbel- 
Orkan eine Säule vor dem Jupiters Tempel zu Rom mit einer vergoldeten Statue um, 
und zu Ariciae fiel ein Steinregen. Julius Obsequens Lycosthenis c. 77. 
140 a. C. Unter den Consuln Q. Servilius Caepio und €. Laelius Sapiens 


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zeigte der Aetna Siciliens viel Feuer. Jul. Obsequens c. 82. 


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Passatstaub und Blutregen. 343 


Rhegium, der es fast ganz verzehrte. Zu Puzzuoli sah man die warmen 
Quellen blutig gefärbt. Die Blitze beschädigten vieles. J. Obsequensc. 84. 

134. aC. Das Consulat des P. Corn. Scipio Aemil. Africanus und 
Q. Fulvius Flaceus zeigt zu Amiterrum eine nächtliche Sonne, die einige 
Zeit andauerte. Es regnete Blut. Ein ligustischer Schild im Tempel der 
Juno Regina wurde vom Blitz getroffen. — Zu Rom flossen Milchbäche,. — 
Zu Ardea regnete es Erde. Schilde wurden (in Rom) mit frischem Blut 
befleckt. Dreimal 9 Jungfrauen sühnten durch Singen die Stadt. Jul. 
Obsequens c. 86. 

128 a.C. Unter den Consuln On. Octavius und T. Annius Luscus 
Rufus wurden viele Orte in und um Rom vom Blitz getroffen. — Eine 
Feuer Erscheinung war am Himmel (zu Rom). In Caere fiel Blutregen. 
Jul. Öbsequens c. 88. Das früher 130 a. C. erwähnte Meteor gehört zu 
9a.C. 

114 a.C. Auf dem Aventinischen Berge regnete es im Jahre Roms 640 
Milch und Blut, überdies auch Fleisch. Lycosthenes Prodigia p. 185. 

106 a.C. In Cicero’s Geburtsjahre regnete es im Perusinischen Gebiete 
und zu Rom an einigen Orten Milch. Der Blitz traf Vieles und zu Atellae 
schlug er einem Menschen 4 Finger wie mit einem Schwerdte ab. Silbergeld 
war geschmolzen. — Man hörte Geräusch am Himmel und es schien eine 
Kugel (pila, sich drehende Feuerkugel?) vom Himmel zu fallen. Es regnete 


Blut. Jul. Obsegq. c. 101. — Diese Nachricht scheint wieder eine der 
wichtigeren zu sein. 


Unter Servius Fulv. Flaccus und Q. Colpurnius Piso waren die Feuer- 


Ausbrüche des Aetna ungewöhnlich stark. Jul. Obsequens c. 85. 

126 a.C. Unter M. Aemilius Lepidus und L. Aurelius Orestes waren Erd- 
beben zu Rom, Blitze schlugen ein und der Aetna hatte grofse Feuer-Ausbrüche. Bei 
den Liparischen Inseln kochte das Meer, Schiffe wurden angebrannt und die Leute durch 
Dämpfe getödtet. Die zahlreich getödten Fische brachten durch ihren Genuls eine pest- 
artige Darm.Krankheit unter die Liparenser. Jul. Obsegq. c. 89. 

125 a.C. Zu Vegentum regnete es Öl und Milch, zu Arpae drei Tage lang Steine. 
Jul. Obsegq. c. 90. 

124 a. C. Milchregen in der Graecostasis zu Rom. Zu Crotona erschlägt der Blitz 
eine Schafheerde, den Hund und 3 Hirten. Ibid. c. 9. 

118 a. C. Milchregen zu Rom. Ibid. c. 95. 

417 a. C. Milchregen zu Praeneste. Ibid. c. 96. 

111 a. C. Dreitägiger Milchregen zu Rom. Ibid. c. 99. 


344 EHrRENBEREe: 


102 a. C. Zur Zeit des Krieges der Römer mit Jugurtha war ein grofser 
Meteorsteinfall in Toskana, weshalb Rom entsühnt und die Asche von Opfer- 
Thieren von den Decemvirn ins Meer gestreut wurde. Neun Tage lang 
machte der Magistrat Umgänge in die Tempel. Beim Flufse Anio fiel Blut- 
regen. Auf dem Aventinus regnete es Lehm (gelben Schlamm). Jul. Ob- 
sequens c. 104. — Dieser Lehm- und Blutregen ist ohne Zweifel wichtig. 

100 a.C. Durch Sturm wurde zu Nuceria eine Ulme umgeworfen und 
sogleich wieder auf die Wurzel aufgerichtet, so stand sie wieder fest. In Luca- 
nien regnete es Milch, zu Luna in Hetrurien Blut. — Es gab eine Sonnen- 
finsternifs, welche den Tag verdunkelte um 9 Uhr Morgens (3te Stunde). 
Im Comitium regnete es Milch, ebenso im Tarquinischen Gebiete. In Picenum 
sah man 3 Sonnen, im Vulsinischen Gebiete eine von der Erde zum Himmel 
aufsteigende Flamme. Jul. Obseq. c. 103. — Der ersie Sturm- und Blut- 
regen bilden wohl ein hier zu bemerkendes Meteor. Die Sonnenfinsternifs 
ist wieder scharf abgeschieden. Die Bezeichnung der Consulate bei Jul. 
Obsequens scheint irrig zu sein. Der Stellung des Capitels nach gehören 
diese Meteore in das Jahr 104 a. C. 

99 a.C. Durch Wirbel-Orkan und Sturm wurde Vieles umhergetrieben, 
Vieles wurde vom Blitz getroffen. Zu Lanuvium fand man im Tempel der 
Juno Sospita im Gemach der Göttin Blutstropfen. Zu Nursia wurde ein 
Tempel durch Erdbeben zerstört. — Dieser Fall von Blut kann zum Insec- 
ten-Auswurf gehören. 

96 a.C. Zu Rom wurde mehreres vom Blitz getroffen. Von einer ver- 
goldeten Jupiters Statue wurden Kopf und Säule fortgeschleudert. Zu 
Fesulae flofs Blut am Boden. Jul. Obsequens c. 109. — Ungewitter mit 
Blutregen ? 

94 a.G. Ein Steinfall bei den Volskern wurde mit neuntägiger Feier ge- 
sühnt. — Zu Vestinum regnete es Steine in ein Landhaus. Am Himmel sah 
man ein Feuer-Meteor und der ganze Himmel schien zu brennen. An der 
Erde flofs Blut und dasselbe gerann (vergl. 1814). Ibid. ce. 111. — Auch 
hier giebt eine Verbindung der letzteren Meteore ein richtiges Bild. 


108 a. C. Zweimal Milchregen (zu Rom). 

98 a. C. Während der Spiele im Theater regnete es zu Rom Kreide. Es donnerte 
auch bei heiterem Himmel. Jul. Obsegq. c. 107. 

95 a.C. Zu Caere fiel Milchregen. Ibid. c. 110. 


Passatstaub und Blutregen. 345 


93 a.C. In Rom und Umgegend schlug der Blitz an vielen Orten ein. — 
Zu Carseolum flofs ein Blutstrom. — Zu Bolsena war am Morgen ein gro- 
fses Feuer-Meteor. Ibid. c. 113. 

92a.C. Man sah zu Fesulae eine Fackel am Himmel. Zu Volaterra 
flofs ein Blutstrom. — Der Blitz traf Manches. Es wurde öffentlich gebetet. 
Ibid. ec. 118: 

75 a.C. Als Sertorius die Armee in Spanien befehligte, wurden die 
Schilde der Soldaten äufserlich samt den Lanzen und der Brust der Pferde 
mit Blut gefärbt. — Es wird dabei auch eines grofsen Sturmes erwähnt, 
welcher die feindlichen Wacht-Thürme umwarf. Jul. Obsegq. ec. 121. 

Nach Jul. Obsegq. ist es im Jahre 73 a. C., die daselbst genannten 
Consuln gehören aber nach Zumpt zum Jahre 75. 

53 a.C. Dafs der Wochenmarkt, die Nundinae, auf den ersten Januar 
fiel erschreckte die Römer als üble Vorbedeutung im Jahre Roms 701. Auch 
hatte eine Götter-Statue 3 ganzer Tage lang Schweifs gezeigt. Eine Feuer- 
Erscheinung war in der Richtung von Süden nach Osten fortgezogen, viele 
Blitze hatten eingeschlagen und es hatte öfter Erde (BöAc), Steine und Mu- 
scheln, auch Blut geregnet (za: aiu« dia Tod aegos jveySn). Dio Cassius 
XL, 47. In dasselbe Jahr zieht Fabricius bei Dio Cassius den folgenden 
Ziegelsteinregen des Plinius. 

48 a.C. Während Annius Milo eine Vertheidigungsrede hielt regnete 
es nach Plinius Hist. nat. II. c. 56. zu Rom gebrannte Ziegelsteine (lateri- 
bus coctis pluisse). Da die durch Cicero’s Rede sehr bekannt gewordene 
Rechtssache des Milo, eben wegen der ganz genau aufgezeichneten Neben- 
umstände, wobei Cicero eines Prodigiums eben so sicher, als der Gewalt- 
thaten Erwähnung gethan haben würde, besonders da die Rede pro Milone 


941 a. C. Ein Feuerball erscheint mit sehr starkem Knall am Himmel. Als bei den 
Arretinern bei Tische von Gästen das Brod gebrochen wurde, flols Blut mitten aus 
dem Brode, wie es aus den Wunden des Körpers flielst, überdies traf das Land in weiter 
Ausdehnung bei Vestinum ein 7 Tage lang fortdauernder Steinhagel mit Muschel -Frag- 
menten gemischt. — Mehrere Römer, welche unterwegs waren, sahen zu Spoletum eine 
goldene Kugel vom Himmel gegen die Erde fallen, gröfser werden und von der Erde 
wieder nach Osten aufsteigen. Durch ihre Gröfse verdeckte sie die Sonne. Paulus 
Orosius Historiarum libri. p. 335. 

88 a.C. Zu Athen soll es im Jahre vor der Ankunft Sulla’s daselbst, Asche geregnet 
haben. Lycosth. Prodig. 


Phys. Kl. 1847. Xx 


346 EHurEnBEre: 


später zur Publication von ihm mehr ausgearbeitet worden ist, nicht gemeint 
sein kann, so ist auch schwerlich an Steinwürfe zu denken und Chladni 
mag ganz recht gethan haben, diese Nachricht unter den historischen Meteo- 
ren aufzuführen. Im Koran (s. 570 n. Chr.) wird ebenfalls von Meteor- 
steinen aus gebranntem Lehme berichtet. Daher glaubt Chladni, dafs bei 
Plinius „wie angebrannt aussehende Steinemitschwarzer Rinde“ 
gemeint seien. (Chladni Feuermeteore p. 179). Mir scheint diese Erläu- 
terung dadurch ganz behindert, dafs es nicht lapidibus, sondern lateribus, 
und nicht adustis, sondern coctis heist. Ich sollte meinen, dafs man dabei 
mit mehr Recht an gebrannten Ziegeln gleiche Erde, an zerbröckel- 
ten Ziegelsteinen, Ziegelmehl, ziegelfarbenem Sand und Staub 
ähnliche Substanzen zu denken habe. Durch diese ungezwungene Erklä- 
rung würde dann die Wissenschaft um eine merkwürdige Thatsache anderer 
Art bereichert.(!) 

48 a. C?(?) Unter dem Consulat des Julius Caesar wurden Blutregen, 
Schweifs der Götterstatuen und öfteres Einschlagen des Blitzes gemeldet. 
Lycosthenes Prodigia p. 219. 

43 a.C? Cicero spricht sich um diese Zeit in seiner Schrift de Divi- 
natione II. über die blutartigen Färbungen bei den Prodigien aus. Er läugnet 
ihre Existenz nicht, ist aber ebenso entfernt dieselben für wahres Blut zu 
halten, erklärt vielmehr, dafs nach den verständigen naturwissenschaftlichen 
Grundsätzen es offenbar nur eine meteorische Färbung durch beigemischte 
blutfarbige Erde sein möge(°). Übrigens stellt Cicero den Schweifs der 


(!) Dies wird auch dadurch annehmlich, dafs die Erscheinung des Ziegelsteinregens 
öfter vorgekommen ist, da Lydus de Ostentis c. VI. p. 23 sagt: Karywzy,Sysav de 
aawSIor mOrAazıS Omrai. 

(2) 44 a.C. Nachdem Julius Caesar am 15. März ermordet worden, waren viele 
Erdbeben und mehrere Schiffe wurden vom Blitz getroffen. Die von Cicero vor dem 
Minerven- Tempel aufgestellte Götterstatue wurde umgeworfen und zerbrochen, Bäume 
wurden entwurzelt, Dächer abgerissen. Man sah 3 Sonnen (Nebensonnen) und Cirkel um 
die Sonne. Fast ein Jahr lang hatte die Sonne keinen Glanz. Plinius 2, 30. Julius 
Obsequens 128. — Eine auffallend getrübte Atmosphäre mit starker electrischer Spannung. 


(°) Sanguine pluisse senatui nunciatum est; atratum etiam fluvium fluxisse sanguine: 
Deorum sudasse simulaera. Num censes his nunciis Thalem et Anaxagoram aut quemquam 
physicorum crediturum fuisse? nec enim sanguis nec sudor nisi in corpore est; sed et 
decoloratio quaedam ex aliqua contagione terrena maxime potest sanguinis similis esse. 


Passatstaub und Blutregen. 347 


Statuen dabei so zu den Blut-Prodigien, dafs es fast scheint, als sei dieser 
Schweifs öfter roth gewesen, was nur zuweilen ausdrücklich gesagt wird, 
wie im nächstfolgenden Jahre. 

42 a.C. Es scheint ein grofser Seirocco-Sturm in Rom stattgefunden 
zu haben, wobei Wölfe und andere ungewöhnliche Thiere sich in die Stadt 
flüchteten. Einige Götterstatuen zeigten Schweifs, andere Blut, man hörte 
starkes Geräusch ohne alle sichtbare Ursache. Es fielen Steine vom Himmel. 
Die Statue des Antonius auf dem albaner Berge, obwohl von Stein, schwitzte 
viel Blut aus. Durch einen Ausbruch des Aetna wurden viele benachbarte 
Ortschaften gräfslich vernichtet. Lycosth. Prodig. 229. 230. — Da der 
Aetna thätig war, so ist es ganz unwahrscheinlich, dafs der Mons albanus 
damals auch in Thätigkeit gewesen. Vielmehr scheinen ein oder mehrere 
Wirbelstürme mit Passatstaub gleichzeitig geherrscht zu haben. 

41 a.C. In einer stürmischen Nacht war es so hell, dafs man wie am 
Tage an die Arbeit ging. Zu Mutina wurde eine nach Mittag sehende Statue 
der Victoria nach Norden gewendet. In der dritten Tagesstunde (9 Uhr 
Morgens) sah man 3 Sonnen, die sich dann in eine zusammenzogen. Beim 
Opfer auf dem Mons albanus sah man Blut aus dem (Fufs-) Daumen des 
Jupiter fliefsen. Lycosth. Prodig. p. 230. — Es scheint ein grofser Wir- 
belsturm gewesen zu sein und die Blutfärbung, wenn überhaupt alle diese 
Erscheinungen gleichzeitig waren, giebt eine, freilich sehr lokale, Anzeige 
von Staubmischung. 

37 a.C. Unter den Consuln M. Agrippa und L. Caninus Gallus 
regnete es zu Aspis an der afrikanischen Küste, zwischen Carthago und Adru- 
mentum, Blut, das die Vögel sogleich verschleppten. Nach Dio Cassius 
XLII, 52. Lycosth. Prodig. 232.(') 

30 a.C. Es fiel in Aegypten zur Zeit als Caesar Octavianus nach der 
Schlacht bei Actium und dem Untergange des Antonius und der Cleopatra 
dasselbe in eine römische Provinz verwandelte, nicht blos an Orten, wo es 
nie zu regnen pflegt, Regen, sondern auch Blut. In den Regenwolken sah 
man Kriegswaffen und man hörte das Geräusch von Trompeten, Pfeiffen, 
Trommeln und Pauken. Dio Cassius LI. c. 17. — Es ist dies ein die 
mosaische Erscheinung erläuternder Fall, dessen Nebenumstände einen star- 


1 T 22 700 oÜ Ü ousv, doviSes Ö 2 
(') ame &= 7 Vpavov gusv, opvıTas OLehogyTav. 


Xx9 


348 EHRENBERG: 


ken Orkan vielleicht mit Platzen eines Meteors bezeichnen, da sich das er- 
wähnte Geräusch durch Donnern allein schwerlich erklären läfst. 

10 a.C. Dafs man zu Livius Zeit an die Prodigien wenig mehr glaubte, 
geht aus mehrfachen beiläufigen Äufserungen desselben hervor, besonders 
aber XLII, 15. sagt er ausdrücklich: „Es ist mir nicht unbekannt, dafs aus 
derselben Vernachlässigung, womit fast jedermann jetzt gegen die Götter- 
zeichen ungläubig ist, auch fast gar keine Prodigien öffentlich bekannt und 
in die römischen Jahrbücher eingezeichnet werden. Es entwickelt sich abeı 
in mir beim Schreiben der alterthümlichen Geschichte ich weifs nicht warum 
ein alterthümlicher Sinn und ein religiöses Gefühl drängt mich, das, was 
jene hocherfahrenen Männer der Öffentlichkeit für werth hielten nicht für 
unwürdig zu halten für mein Geschichtswerk.“ 

Die christliche Aera beginnt auch nach Zumpts Annahme mit dem 
Jahre der Welt 3983. 

54 p.C.(!) Alsder Kaiser Claudius den Sohn der Agrippina, Nero, mit 
Zurücksetzung seines Sohnes Britannicus, an Kindesstatt angenommen hatte, 
schien vor seinem Tode der Himmel auf eine wunderbare Weise zu brennen. 
Es erschien ein Comet und es fiel Blutregen. Der Blitz schlug in die Kriegs- 
zeichen der Leibgarde ein. Dio Cass. LX, 35. 

61 p.C. Der Canal zwischen England und Frankreich wurde blutroth 
und brauste auf. Dio Cassius LXII. Polydorus Vergil. III, 242. — 
Da sich die rothe Färbung durch eine untere vulkanische Thätigkeit nicht 
erläutern läfst, so mag das Aufbrausen von einem starken Wirbelsturm mit 
Passatstaub zu verstehen sein. 

68 p.C. Kurz nach Kaiser Nero’s Tode fiel auf dem Albaner Berge 
ein so starker Blutregen, dafs Blutströme entstanden. Dio Cass. LXIII, 26. 


(') 14 p. C. Im Todes-Jahre des Caesar Octavianus Augustus ward die Sonne 
verdunkelt und ein grolser Theil des Himmels schien zu brennen. Dio Cass. LVI. 

70 p. C. Eine eigenthümliche blutrothe Färbung des Mondes erschreckt die Soldaten 
des Vitellius. Dio Cassius LXV. 

79 p. C. Der erste und stärkste Ausbruch des Vesuvs war am 23. August (am 9ten 
vor dem ersten September) wobei Herculanum und Pompeji verschüttet wurden und Pli- 
nius umkam. 

90 p. C. Plutarch spricht bei Gelegenheit der Homerischen Verse, welche des Blut- 
regens erwähnen, die Ansicht aus, dals der Regen durch feuchte Ausdünstungen gebildet 
werde, und dafs diese ebenso gemischt niederfallen, wie sie emporgehoben seien. Plutarchus 


Passatstaub und Blutregen. 349 


100 p. C. Eine merkwürdige Nachricht über rothes Gewässer in Syrien 
findet sich bei Lucianus Samosatensis, welcher zu Trajans Zeit in 
Antiochien Advocat war, im 3ten Buche de Syria Dea p. 455. ed. Reitzii. 
Er sagt: „Vom Berge Libanon entspringt ein ins Meer ausmündender Flufs, 
welcher Adonis heifst. Dieser Flufs wird jährlich blutroth und trägt seine 
Farbe ins Meer, das er in weiter Ausdehnung ebenso färbt, und womit er 
den Bewohnern von Biblus (bei Bairut, welche den Adonis verehrten) seine 
Trauer verkündet. — Man erzählt sich, dafs in jenen Tagen auf dem Liba- 
non der Adonis verwundet werde, sein Blut in den Flufs komme, und ihn 
verunreinige, woher auch der Name des Flusses stamme. So spricht das 
Volk. Mir hat aber ein Mann aus Biblus, der die Wahrheit zu sagen schien, 
eine andere Ursache der Wasserfärbung angegeben. Er sagte so: Der Ado- 
nisflufs kommt vom Libanon her. Aber der Libanon hat viele rothe Erde. 
Heftige Winde, welche regelmäfsig an jenen Tagen wehen, führen Erde in 
den Flufs, welche dem minium (Mennige) sehr gleicht. Diese Erde giebt 
jene Blutfarbe, und nicht Blut ist die Ursache, sondern die Umgegend.“ — 
Diese Nachricht aus dem Anfange des zweiten Jahrhunderts nach Christus 
scheint sehr deutlich die fast jährlich um dieselbe Zeit wiederkehrenden 
Scirocceo-Stürme mit rothem Staubfall in Syrien zu bezeichnen, was zur Er- 
läuterung jener alten Nachricht aus dem Buche der Könige 910 a. C. dienen 
kann. Da ich selbst die Gegend bei Bairut besucht habe und die Erdarten 
des Libanon aus eigener Erfahrung recht wohl kenne, so darfich hinzufügen, 
dafs es zwar sehr lokale eisenschüssige Erden hie und da giebt, dafs aber 
dort, wie in Libyen, mir nirgends eine grell rothe Färbung aufgefallen ist. 


de Homero. Im Leben des Marius sagt derselbe Ähnliches bei Gelegenheit der cimbri- 
schen grofsen Schlacht. Daraus hat man, wie es scheint (Franciscus Luftkreys 1680 p. 733) 
das unrichtige Factum gebildet, dals es nach dem ceimbrischen Treffen einen Blutregen 
gegeben habe, wofür ich keine bestimmte Autorität habe auffinden können. 

202 p. C. Zu den meteorischen bisher unerklärten Merkwürdigkeiten gehört der silber- 
farbene Regen, welcher unter Kaiser Severus mit einem Feuermeteore bei heiterem 
Himmel auf das Forum Augusti in Rom fiel, und welcher Kupfermünzen drei Tage lang 
silbern färbte. Dio Cassius. Lycosthenes. 

266 p.C. Nach Eusebius und Cyprian war im Jahre 266 ein sehr verheerendes 
hitziges Fieber. Erdbeben, schauerliches Getöse in der Erde, Aufbrausen des Meeres, 
Untergang ganzer Städte im Orient, Verdunkelung der Luft, ganz trübe Atmosphäre, ver- 
pestende Nebel und stinkender Thau, welcher dem Geruche faulender Körper glich und 
Alles bedeckte. Baronis Hist. eccles. VII. 22. Schnurrer Chronik d. S. I. 98. 


350 EHREnBERre: 


Das Hauptgestein des Libanon ist ein weifser oder weilsgrauer Kalkstein. 
Staubige Flächen giebt es gar nicht, es giebt dort nackten Fels und feuchten 
pflanzentragenden Humusboden. Daher scheint mir die alte Nachricht als 
meteorisches Zeugnifs recht wichtig. Offenbar ist wohl jene, für Italien an 
solchen Meteoren überreiche Periode vor unsrer Zeitrechnung es auch für 
Syrien gewesen und von da her mag sich die Sage damals erhalten haben. 

333? Ein Meteorsteinfall in China mit Feuermeteor von dem sich eine 
gelbe Wolke weit umher verbreitete. Nach Ma-tuan-lin von Abel Remu- 
sat. Journal de phys. Mai 1819. 

434. Bei Toulouse flofs Blut, nachdem wenige Tage vorher ein Comet 
erschienen war. Lycosth. Prodigia 292. 

464. Im vierten Jahre der Regierung Kaisers Leo 1. flofs bei Toulouse 
in Frankreich mitten aus der Stadt einen ganzen Tag lang ein sehr breiter 
blutfarbiger Wasserstrom. Lycosthenes Prodigia p. 297. — Sehr wahr- 
scheinlich sind diese beiden Nachrichten auf eine und dieselbe Erscheinung 
zu beziehen. 

473. Im November dieses Jahres, als Kaiser Leo I. kurz vor seinem 
Tode (474) ein kleines Kind, Leo II., zum Kaiser gekrönt hatte, entstand 
während der Feste in der 6ten Stunde (Mittags) grofse Dunkelheit in Con- 
stantinopel und es fiel aus Wolken, die zu glühen schienen, bis zur Mitter- 
nacht eine ungeheure Menge Asche, so dafs jedermann meinte es regne Feuer. 


358 am 22. August bald nach Tagesanbruch bildeten sich in Nicomedien (Ischmid in 
Vorderasien) bei heiterem Himmel schwarze Wolken, die sich schnell zusammenzogen und 
solche Dunkelheit verbreiteten, dafs man die nächsten Gegenstände nicht erkennen konnte. 
Darauf entstand ein entsetzlicher Sturm, der mit starkem Brausen an die Berge schlug, 
und die Meeresfluthen gegen das Ufer trieb. Nun erst erfolgte unter Wirbelwinden das 
Erdbeben. Nach 2 Stunden endlich wurde die Luft wieder hell, so dals man die ange- 
richtete Zerstörung erkennen konnte. 150 Städte sollen gelitten haben. Ammianus 
Marcellinus XVII. 7. — Vielleicht ist auch das scheinbare Erdbeben nur Wirkung 
des entsetzlichen Typhons gewesen. 


367. Als die Juden auf Befehl des Kaisers Julianus den Tempel zu Jerusalem wie- 
derherstellen wollten, soll erst ein furchtbares Erdbeben entstanden sein, dann fiel Feuer 
vom Himmel und verbrannte das Werkzeug, endlich entstanden in der Nacht Kreuze auf 
den Kleidern der Juden, die sich nicht auswaschen lielsen. 

Auch bei einer Reise des Kaisers Julianus Apostata in Thracien fiel ein Thau, 
welcher auf den Mänteln Kreuze bildete. Lycosth. Prodig. 276, 277. — Es scheinen 
doch wohl rothe Kreuze gemeinnt und die Erzählung erinnert an einen Meteor-Fall. 


Passatstaub und Blutregen. 351 


Die Asche war handhoch gefallen, übelriechend, in den Wolken roth und 
am Boden schwarz. Nach Cedrenus Histor. compend. p. 277. Glycos 
P. III. Theophanes spricht von diesem feurigen Staubregen im Todes- 
jahre Leo I. (Chronographia p. 193) Zonares bringt dieselbe Erscheinung 
unter Leo I. mit einem Erdbeben zu Antiochien in Verbindung (p. 50) Pro- 
copius und Marcellinus Comes haben es dem Vesuy zugeschrieben, bei- 
des hypothetisch und ohne Wahrscheinlichkeit. Nach dem Menologium, 
dessen November-Monat Nicephorus Hieromonachus bearbeitet hat, fiel 
die Asche glühend und verbrannte alles Kraut und Pflanzen. Lycosthenes 
erwähnt dieselbe Erscheinung im 2ten Jahre der Regierung Kaiser Leo 1. 
(402 p. C.) Prodigia p. 296. Chladni hält es für Wirkung eines Feuer- 
Meteors (p. 361). Ob es eine grofse in der Luft entzündete Wolke eines 
rothen Meteorstaubes war, dessen organische Theile verbrannten, vorher 
schwebend roth aussahen, dann als wirklich brennender Himmel erschienen, 
zuletzt als schwarze Asche niederfielen, ist nicht weiter zu ermitteln. So allein 
konnte aber die Asche heifs fallen. Bedeutend mufs die Erscheinung ge- 
wesen sein, da sie vielfach aufbewahrt ist und alle Einwohner und der Kaiser 
selbst aus der Stadt flohen. Ähnliche erschreckend feurige Wolken werden 
1813 in Calabrien bei dem rothen Meteorstaube beschrieben, welchen ich 
analysirt habe. 

Dafs 6 Jahre vor dem Tode des Kaisers Anastasius, also 512, in 
Constantinopel der Himmel zu brennen geschienen, was Joh. Lydus de 
Östentis p.23 ed. Hase berichtet, bezieht sich wohl auf jene ältere Er- 
scheinung. 

541. Nach Siegebertüs Gemblacensis war in Frankreich zur Öster- 
zeit Blutregen, und es erschienen wunderbare rothe Flecke an den Häusern. 
Nach Lycosthenes Prodigia 1557 p- 302 erschien am Östertage ein Comet, 
der Himmel schien zu brennen und wahres Blut flofs aus den Wolken auf 
die Kleider der Menschen. Fincelius theilt 1566 mit es habe Blut geregnet 
das den Leuten auf die Kleider gefallen, und ein Haus habe inwendig allent- 
halben Blut geschwitzt. 

570° Im Geburtsjahre Muhammeds. . Wenn dem Koran zufolge Sura 8 
v. 16 und 105 v. 3. 4 in dem Gefecht der Koraischiten Araber und Christen 


541. zeigten sich plötzlich wieder unaustilgbare Kreuze auf Kleidern, Gefälsen und an 
Häusern in Ligurien und bei den Longobarden. Lycosth. Prod. 301. 


352 EHRENBERG: 


bei Beder in Arabien die zum Theil auf Elephanten streitenden Christen (Ha- 
bessinier) durch glühende Steine von in der Hölle gebranntem Lehm (Sig- 
gihl), welche Schaaren grofser Vögel übers Meer (von Westen) hertrugen, 
getödtet oder erschreckt wurden, so schlofs sich an den Meteorstein-Hagel 
wohl ein ziegelfarbner Staub, zumal auch wolkenbruchartiger Regen die 
Feinde bedrängt haben soll. Im Koran heifst es Sura 8 v. 16: „Ihr seid es 
nicht, die den Feind in der Schlacht bei Beder ermordet haben. Gott hat 
ihn ermordet. Auch Du (o Muhammed!) hast ihnen den Sand nicht in die 
Augen geworfen, Gott hat ihn hineingeworfen.“ Ferner heifst es Sura 105 
v.3. 4: „Weifst Du nicht was der Herr Dein Gott an den Reitern der Ele- 
phanten that? Hat er nicht ihre List in verderblichen Irrthum geleitet und 
Heerden Vögel wider sie gesandt, welche Steine aus gebranntem Thon auf 
sie herabgeworfen?* Bruce erzählt in seiner Reise (Travels in Abyssinia 
Vol. I. p. 513 deutsche Übers. p- 556) nach Hamisi, dafs die Araber eifer- 
süchtig auf eine prächtige christliche Kirche waren, welche der habessinische 
Vicekönig Abraha Ibn Elzebahh zu Sana (San) im glücklichen Arabien 
hatte bauen lassen, und die ihren alten Tempel zu Mecca beeinträchtigte. 
Sie schickten daher einen Araber ab, der den Altar und die Mauern mit 
Koth verunreinigte. Diese Schmach brachte Abraha zu dem Entschlusse, 
den Tempel zu Mecca zu zerstören. Er zog mit 13 Elephanten nach Mecca 
und zerstörte den Tempel bei Taife, ward aber durch falsche Berichte abge- 
halten den eigentlich gemeinten in Mecca zu zerstören. Daher kam er noch- 
mals mit seinem Heere, er selbst auf einem weifsen Elephanten reitend. 
Diesmal wurde er durch Vögel mit feurigen Steinen im Schnabel in die 
Flucht geschlagen. Hamisi hält die Erzählung für eine allegorische Dar- 
stellung der ersten Erscheinung der Pocken und Bruce's Mittheilung hat 
bei Curt Sprengel und den neueren Aerzten (Schnurrer Chronik der 
Seuchen I. p. 144.) diese Idee eingeführt. In der zweiten Ausgabe von 
Sprengels Geschichte der Arzneikunde II. 225. 1823 ist aber diese Ansicht 
mit Rücksicht auf Chladni’s Urtheil zurückgenommen und die Erscheinung 
als Meteor anerkannt. Der im Koran erwähnte Staub, welcher den Feinden 
(Christen) ins Gesicht getrieben wurde, neben den feurigen Steinen der 
Vögel, oder dem Meteorsteinregen, mag wohl Meteorstaub gewesen sein. 
Jedenfalls ist der bei den Arabern sehr gefeierte Elephantenkrieg, oder die 
Schlacht bei Beder, damals durch einen Typhon mit Steinfall, ein Staub- 


Passatstaub und Blutregen. 398 


und Stein-Meteor zum Unglück der Christen entschieden worden und das 
gab den Ausschlag für die kräftige Feststellung und Verbreitung des späteren 
Muhamedanismus. 

Schwarze Vögel, welche feurige Kohlen in den Schnäbeln trugen, 
glaubte man auch 1189 und 1191 in Deutschland und 1226 in Italien bei 
Meteorsteinfällen gesehen zu haben. Schnurrer Chronik d. S. 

570 gab es auch in England Feuererscheinungen an den Bäumen (Elms- 
feuer) und in York (in Eboraco) flossen Blutquellen. Lycosth. Prod. p. 307. 

In Italien soll im selben Jahre Blut vom Himmel geflossen sein. Es 
gab Feuererscheinungen mit Blutfall und mehrere Tage lang fortgesetzten 
Regenstürmen, wodurch der Tiberflufs so angeschwellt wurde, dafs er die 
niedern Stadttheile sehr beschädigte und überschwemmte. — Man hörte 
Trompetenton vom Himmel her. Polydorus Vergil. III, p. 242 ed. Basil. 
Lycosthenes Prodig. p. 308. 

583.(') Am Österfesttage schien bei Soissons in Frankreich im 7ten Jahre 
des Königs Childebert der Himmel zu brennen, so dafs 2 Brände gesehen 
wurden, ein gröfserer und ein kleinerer. Nach 2 Stunden flossen sie zusam- 
men, bildeten eine grofse Lichterscheinung und verschwanden. Bei Paris 
aber flofs wahres Blut aus einer Wolke und fiel auf die Kleider vieler Men- 
schen, welche es so mit Jauche verunreinigte, dafs diese sich ihrer eigenen 
Kleider mit Abscheu entäufserten. An 3 Orten im Gebiete der Stadt erschien 
das Wunderzeichen ; in Senlis aber war das Haus eines Mannes, als er am 
Morgen aufstand, inwendig mit Blut befleckt. Gregorius Turonensis 
Historia francorum LVI, 14. 

594. Es gab in diesem Jahre nach Paulus Diaconus Blutregen und 
Blutströme in Italien. De gest. Longobard. IV, 4. 

610? Im Koran giebt es ein vieldeutiges Kapitel, Sura 96, welches über- 


schrieben ist: das g 


geronnene Blut, el Alak, worin, den Interpreten zu- 


583 sah man am 31. Januar Morgens früh bei Tours in Frankreich einen grolsen 
Feuerball bei Regenwetter, der eine grolse Strecke des Firmaments durchzog und eine 
Helle wie bei Tage verbreitete, endlich aber hinter eine Wolke trat, worauf es so finster 
wie bei Nacht wurde. Gregor. Turonensis Histor. francor. VI, 25. 

586 war bei Venedig ein See mit einer Lage von blutartiger Flüssigkeit eine Elle 
hoch bedeckt, wovon Thiere und Vögel in ungemessener Zahl Tag für Tag leckten. 
Gregor. Turon. VII, 8. 17. 


Phys.- Kl. 1847. My 


394 EHurRENBERG: 


folge, die erste Entstehung des Menschen aus geronnenem Blut gelehrt wird. 
Es fängt an: „Lies im Namen Deines Herrn der (alles) erschaffen hat, den 
Menschen erschaffen hat aus geronnenem Blute.“ Ibn Abbas und Med- 
schahed, angesehne muhamedanische Gelehrte (letzterer starb 722 p. C.), 
behaupten, dafs dieses Kapitel des Koran die erste Offenbarung enthalte, 
welche Muhammed vom Engel Grabriel erhalten. Ist daher nicht doch wohl 
Muhammed durch vom Himmel gefallenes Blut (Blutregen, Fleischregen) auf 
eine solche Vorstellung und Lehre geleitet worden? War es mystische schein- 
bare Gelehrsamkeit, war es mystische Auffassung einer eigenen für Offen- 
barung gehaltenen Erfahrung um das Jahr 610, wo er Blut vom Himmel 
fallen sah? Aus Sure 23 und anderen Stellen des Koran scheint freilich her- 
vorzugehen, dafs er auch Adam aus Letien geschaffen sein lasse, und dafs 
nur die Folge der Zeugung aller übrigen Menschen ein Blutklumpen sei, der 
in sich allmählig Knochen entwickle und das Kind ausbilde. Das wäre denn 
blos eine rohe Vorstellung der Entwickelung. Allein, dafs die erste Offen- 
barung Muhammeds gerade jenen Ausspruch enthält, bleibt um so bemer- 
kenswerther, je einflufsreicher die mystischen Vorstellungen und Andeutungen 
Muhammeds geworden sind, und je mehr auch in den religiösen Vorstellungen 
anderer Völker das Blut eine directe Beziehung zur Gottheit erhalten hat. 
Hat eine auffallende Naturerscheinung Muhammeds Nachdenken erregt, so 
läfst sich freilich die eigne Überzeugung und der Ernst in seinen Handlun- 
gen natürlicher erklären.(') Vergl. Wahl Übersetz. des Koran. Note. 

640. In Deutschland erschienen Kreuze auf den Kleidern der Leute und 
es fiel blutiger Regen mit Sturm (imber). Joh.W olf Lectiones memorabiles. 

782(?) regnete es Blut, wie es scheint, in oder bis Constantinopel und 
es flofs auch Blut aus der Erde. Lycosth. Prodigia 1557. 


(') 587 gab es in der Ausbreitung von Chartres, Orleans und Bordeaux und allen 
dazwischen liegenden Städten in Frankreich unaustilgbare Flecke am Hausgeräth (vasa per 
domos diversorum signis nescio quibus caraxata sunt). Gregor. Turon. IX, 5. 

(?) 652 fiel unter Heraclius in Constantinopel Staub wie Regen bei heiterem Him- 
mel (e£ ovgavot). Theophanes Chronograph. p. 286. 

742. Die syrische Chronik von Edessa (Assemanni Biblioth. orient. P. 1. p. 403) 
giebt Nachricht über einen Staubregen nach Quatremere Memoire sur l’Egypte IH, p. 486. 

746. Im öten Jahre des Kaisers Constantin erschienen in Calabrien, Sicilien und an 
anderen Orten an den Kleidern der Menschen und an den Vorhängen der Kirchen Kreuze 
wie mit Oel gezeichnet. Lycosthenes Prodig. p. 331. 


Passatsiaub und Blutregen. 395 


786 regnete es in England Blut und es erschienen Kreuze auf den Kleidern 
der Leute. Joh. Wolf Lectiones memorabiles 1671. 

787 nahmen manche Flüsse eine blutrothe Farbe an und aus der Luft 
fielen brennend heifse Tropfen, wem sie auf den Leib fielen der starb, die 
denen sie auf die Kleider fielen kamen davon. Vergl. 1629. Avent. Chron. 
p- 324. 

811 im 3ten Mond am Tage Wou-Siu zwischen 3 und 5 Uhr Nachmittags 
sah man eine grofse Feuerkugel zwischen Yan und Yun fallen. Mehrere 100 
Li weit hörte man den Donner. Über dem Orte, wo die Feuerkugel her- 
abfiel, blieb ein röthlicher Dampf 3-8 Meter schlangenförmig bis zum Abend. 
Abel Remusat Annales de Chemie et de Physique Mai 1819. 

859? sah man bei einem sehr schneereichen kalten Winter in Italien auch 
rothen Schnee. Nach Hermannus Üontractus war der schneereiche kalte 
Winter 860. Der rothe Schnee wird von Anderen erwähnt. S. Schnur- 
rers Chronik d. S. I, 178. 

860 fiel unter Kaiser Michael III in Constantinopel blutrother Staub bei 
heiterm Himmel nach Georgius Monachus p. 399. Kevıs ainarwöns En rev 
ougavov. S. Chladni F. M. p. 362. 

860 fiel ein Regen von geronnenem Blut zu Balkh nach Kaswini in Syl- 
vester de Sacy Chrestomatie arabe 3. p. 526.527. S. ChladniF.M.p. 362. 

860. Nach Bartholinus (Consultationes de ulcere syriaco c. 4.) sagt 
der unbekannte Autor der Annales Franeici, dafs im Jahre 860 bei strenger 
Winterkälte in den meisten Örtern ein blutiger Schnee gefallen. S. Fran- 
eiseus Lufikreys p. 827. 

864. Es war in diesem Jahre ein überaus langer und strenger Winter, 
so dafs das adriatische Meer bei Venedig zugefroren war. Dabei fiel bluti- 
ger Schnee (Nive sanguinea pluit). Lycosthenes Prodigia. 

869. In der Koenigshovener Chronik findet sich p. 104. Bi disen Ziten 


regnete es zu Italia itel Blut drige Tage anenander. 


784. Unter Karl den Grofsen sah man Kreuze auf den Kleidern der Leute, auch 
war damals um 2 Uhr im September eine Sonnenfinsternils. Lycosth. Prodig. 336. 

839 röthete sich der wolkenlose Himmel des Nachts und es durchliefen viele sternähn- 
liche Feuerfunken den Himmel mehrere Nächte hindurch. Ruodolfi Fuldenses Annales 
Pertz I, p. 361. 362. 

869 gab es zu Mainz bei bedecktem Himmel anhaltende Sternschnuppen und der 
Himmel sah mehrere Nächte blutroth aus. Annales Fuldenses. 


Yy2 


356 EHrEnBEre: 


Wahrscheinlich dieselbe Nachricht ist es, wonach es in Brixen 369 
drei Tage lang Blut geregnet, und es ist somit nicht Brixen in Tyrol, son- 
dern Brescia in der Lombardei gemeint. Sie ist aus Barlandi historiarum 
libri ed. 1603 Uolon. p. 16. Eine ganz ähnliche Nachricht wird vom Jahre 
874 gegeben. Nach Platina vita Hadriani II ist es kurz vor dem Tode Ha- 
drians 872 gewesen. Happelius p. 561. 

874? Im 19ten Jahre des Kaisers Ludwig hat es in Italien in Brescia 
(Brixiae) 3 Tage und 3 Nächte lang Blut vom Himmel geregnet nach Lyco- 
sthenes Prodigia p. 356. und nach Fincelius ist dasselbe im gleichen 
Jahre zu Brixen in Welschland vorgekommen. 

897 war nach Ibn el Athir’s arabischem Manuscript, welches Quatre- 
mere in den M&moires sur [’Egypte citirt, im Jahre der Hedgra 285 ein Me- 
teorsteinfall mit Staub in der Stadt Kufah am Euphrat. Es erhob sich ein 
mit gelben Dünsten beladener Wind, welcher bis zur Sonnenhelle (candeur 
du soleil)(!) blies und dann seine Farbe in Schwarz verwandelte. Vergl. 
473. Bald darauf fiel heftiger Regen, mit fürchterlichem Donner und Blitz. 
Nach einer Stunde fielen weifse und schwarze Steine, die in der Mitte runz- 
lich waren, in dem Dorfe Ahmed Abad. 

929. Im Jahre 318 sah man zu Bagdad den Himmel geröthet und es fiel 
auf die Dächer der Häuser eine Menge rothen Staubes (sable). Die Nach- 
richt ist von Quatrem£re ]. c. aus einem persischen Manuseript Moudj- 
mel el tawarikh mit anderen ähnlichen aus arabischen Manuscripten entlehn- 
ten und bei Chladni vermischten ausgezogen. 

935. In der ersten Zeit des Pabstes Johann des 11ten flofs zu Genua 
ein reichlicher Blutquell nach Lycosthenes Prodigia p. 360. Zu Genua 
flofs aus einem Brunnen nichts als Blut. Johannes der elfte was Bobest. 
Koenigshoven Chronik p. 104. 

936. Zur selben Zeit flofs ein sehr reichlicher Blutquell. In Januensi 
urbe quae est in alpibus Coceis, 80 stadiis a Papia distans super africanum 
mare constituta fons sanguinis largissime fluxit. Annales ecclesiastiei. — Diese 
2 sich in der Zeit so nahe liegenden Notizen scheinen zu einer einzigen Er- 
scheinung zu gehören, die wohl auch einem Scirocco -Sturme angehören 
könnte. 


(') Chladni übersetzt: bis Sonnenuntergang, hält daher das Wort candeur für Druckfehler. 


Passatstaub und Blutregen. 397 


990. Man schreibt von Blut, welches zur Zeit Königs Roberti am Ende 
Brachmonats (Junius) geregnet und sowohl an dem Fleisch als an Kleidern 
und Steinen so fest geklebt, dafs mans mit Wasser nicht abwaschen können, 
ausgenommen diejenigen Tropfen so auf Holz gefallen. — Peiresk erklärt 
es für Insecten- Auswurf. Gassendus vita Peirescii 2. p. 154. Francisei 
Luftikreys p. 736. Vergl. 1017. 

990°? Im der Aventinischen Chronik p. 438 heifst es: Man schreibt auch, 
dafs (vor den Kreuzzügen) ganze Blutströme geflossen sind. Es fiel Blut 
aus frischem Brod und man fand Zeichen auf den Kleidern. 

1006 am 1. Mai hat es bei Magdeburg Blut geregnet. Spangenbergs 
Mannsfeld. Chronik. 

1009 fielen am Palmsonntage (März?) an verschiedenen Orten rothe Tro- 
pfen wie Blut aus der Luft. Ein Höhrauch deckte gegen Ende des Aprils 
drei Tage lang die Sonne und den Mond und gab beiden Gestirnen ein grau- 
senvolles Ansehen. Crusius Annales. 

1017. In Gascogne (Aquitania) fiel ein dreitägiger Blutregen vor dem 
Johannistage (24. Juni), der wenn er auf die Haut der Menschen oder auf 
Steine fiel nicht abgewaschen werden konnte, aber von Holz vertilgbar war. 
König Robert von Frankreich fragte den gelehrten Bischof Fulbert von 
Chartres (Carnotensem) um Auskunft, welcher erklärte, unter den Steinen 
seien die Gottlosen, unter dem Fleische die Sinnlichen und unter dem Holze 
die Übrigen zu verstehen. Baronis Annal. eccles. Ist wohl dasselbe von 990. 

1056 war in Armenien (in Edessa?) die Erde bei heiterem Himmel vor 
Sonnenaufgang nach allen Seiten mit rothem in der Nacht gefallenen Schnee 
bedeckt. Nach Mathaeus (Eretz) von Edessa. Bibliotheque du Roi T. 
IX. Chladnil. c. 362. 


963. Blutige Kreuze erschienen plötzlich auf den Kleidern vieler Leute. Wolf Lectio- 
nes memorabiles. 

1010. Im Dorfe Bruhesare auf dem Gute Aufrede Nofs 25 Tage lang eine Blutquelle 
und steckte, jedermann augenscheinlich, einen nahen Sumpf an. Lycosth. Prod. p. 370. 

1011 ist im Herzogthume Lothringen ein Wasserbrunnen in Blut verwandelt worden. — 
Beides kann Euglena sanguinea gewesen sein. 

1076 fiel in Irak ein Regen mit Hagel und Kugeln von Erde, die den Sperlingseiern 
glichen und angenehm rochen. Quatreme&re nach dem arabischen Manuscript Mirat el 
zeman. Memoire sur l’Egypte II. 486. 


358 EHRENBERG: 


4104. Das Gemüth der Menschen wurde durch viele Wunderzeichen 
erschreckt. Es sollen Blutbäche entstanden sein, und nach Abbas soll Blut 
aus dem Brode geflossen sein. Lycosthenes Prodigia. 

1110. In Armenien in der Provinz Vaspuragan sah man während einer 
sehr dunkeln Nacht einen freurigen Körper mit Getös in den See Wan stür- 
zen. Das Wasser des Sees wurde blutroth, über die Ufer getrieben und 
die Fische waren gestorben. Man bemerkte Schwefelgeruch. Bibliotheque 
du Roi T. IX. 307. Armenische Chronik des Mathaeus Eretz. — Feuer- 
erscheinung, Meteorsteinfall, rother Staubfall. 

4113. Blutregen im Juni (13) in Italien. Staindorf Chronie. In agro 
Aemiliano et Flaminio Id. Juniis sanguis pluit. 

4414. Unter Heinrich V. hat es in Italien auf dem Acker des Hemilia- 
nus und Flaminius, wie auch bei Ravenna und Parma, sowohl auf dem 
Lande als in den Städten am 13. Juni Blut geregnet. Lycosth. Prodigia. 

1117. Im Mai (5 nonas) war zu Lüttich, als man in der grofsen Kirche 
Abend-Gottesdienst hielt, ein plötzlicher Donnerschlag mit Erdbeben, wel- 
cher Alles zur Erde warf. Beim Abendläuten am Sonntag (Sabbatho) hatte 
jemand, als er einem Knaben den Kopf waschen wollte, die Hände voll rothes 
flüfsiges Blut. — Offenbar rothes ‘Wasser, vielleicht in Folge jenes Donner- 
schlags. Das Erdbeben ist vielleicht auch nur eine durch das Meteor erfolgte 
Erschütterung gewesen. Lycosthenes Prodigia. 

1120. Blutregen zu Lüttich. Einer, der sich den Kopf wäscht findet 
seine Hände blutig. Die Erde zitterte, Städte und Häuser wurden umge- 
stürzt (urbes, domus eversae). Schlatende wurde aus den Betten geworfen. 
Donnerschläge, häufige Blitze erschreckten die Menschen. Zu Lüttich ent- 
stand bei stiller Luft plötzlich ein Wirbelsturm. Der Blitz erschlug am 
Tage vor Ostern 3 Priester in der Kirche. Mauern und Häuser wurden um- 
geworfen. Ein Pest-Geruch folgte, Wolkenbruch trat ein. Blutige Wolken, 
ein Kreuz, eine weifsglühende Menschenfigur sah man am Himmel. Die Leute 
glaubten der jüngste Tag sei gekommen. Lycosthenes Prodigia. — Bei- 
des ist wohl nur ein Meteor gewesen. 


4121 Im Osten (Orient?) sah man bei Tagesanbruch ein ungeheures unermelsliches 
Feuer, das 6 Stunden lang Flammen answarf, bis ein Wirbelsturm von Westen mit gro- 
(sen Regenmassen es auslöschte. Lycosthenes Prodigia. 


Passatstaub und Blutregen. 359 


1128. regnete es in Italien Blut. Wolf Lectiones memorabiles. 

1147. wurde eins der Kreuzfahrerheere, die im April und August unter 
Kaiser Conrad und König Ludwig aufgebrochen waren auf dem Marsche 
durch Griechenland am Abend von einer sehr dichten Wolke eingehüllt, 
die nach ihrem allmähligen Weiterziehen die Zelte und alles, was unter freiem 
Himmel sich befand so durchaus mit einer blutartigen Substanz überzogen 
zurücklies, als wenn die Wolke Blut geregnet habe. Helmoldi, Presbyteris 
Lubeecensis, Historiarum liber. 1556. c. 61. p. 131. 

1160. Edrisi giebt die erste Beschreibung des Dunkelmeeres oder Ne- 
belmeeres, mare tenebrosum, an der Westküste von Afrika. Er war in 
Ceuta geboren und hatte in Spanien studirt. Das Mittelmeer nennt er Bahr 
schami, im Gegensatz des Dunkelmeeres (Bahr el mudslim, nicht moslim) 
„all ‚di. Es wird durch diese Nachricht die Beständigkeit der staubigen 
Atmosphäre oder des fallenden Passatstaubes seit jener Zeit erläutert und 
die Erzählung läfst erkennen, dafs seit alter Zeit die Erscheinung dort be- 
kannt war.(!) Die Furcht vor diesem Dunkelmeere, mithin der Passatstaub 
bei Westafrika, hinderte die Schiffer sich von der Küste zu entfernen, wo 
er freilich gerade am stärksten war, und so hinderte der westafrikanische 
atlantische Passatstaub jahrtausende lang die Kenntnifs der transatlantischen 
amerikanischen Länder. 

1163. Im August fiel Blutregen in der Bretagne bei Rochelle. Mense 
Augusto sanguis pluit in Retbel in Episcopatu Dolensi. Georg. Fabricii 
rerum Misnic. Tom. I. p. 32. Schnurrer Chr. d. S. I. 247. 

1163. Im Juni regnete es Blut. Mense Junio in Britannia minore, secili- 
cet in Recello, sanguine pluit et de ripis cujusdam fontis ibidem effluxit nec 
non etiam de pane. Lycosthenes Prodigia 1557. So hat es auch anno 
1163 bei Rochelle in Frankreich Blut geregnet. Happelius p. 561. — Im 
Jahre 1163 ist bei Rochelle in Frankreich dergleichen (Blutregen) geschehen. 
Franeiscus Lufikreys. 1680. p. 731. 

1165 regnete es am 8. August im Bischofthum Dol Blut vom Himmel. 
Lycosthenes Prodigia. — Diese 3 Nachrichten beziehen sich offenbar auf 
ein und dasselbe Phänomen. 


1144. In England quoll in der Kirche zu Rames im August Blut aus der Kirchen- 
mauer. Rogerius in Annalibus. Annales eccles. 


(') Vergl. die Einleitungsrede über das Dunkelmeer der Araber 1848 p. 9. 


360 EHrRENBERG: 


1194. Eine sehr merkwürdige Mittheilung findet sich bei Eustathius 
zu Ilias A p. 8. ed. Lips. 1827. In den armenischen Gebirgen soll auch 
rother Schnee fallen, weil eine der Mennige ähnliche Erde durch die Aus- 
dünstung emporgehoben den fallenden Schnee ähnlich färbt. Vor nicht 
langer Zeit hat man auch in Macedonien in der Gegend des Axius oder Bar- 
darion einen herabfallenden blutrothen starken Hagel erlebt, der wie es 
scheint Unglück bedeutet.(!) Vgl. A. v. Humboldts rothen Hagel 1802. 

1222. Zu Weihnacht war rother Regen in der Gegend von Viterbo und 
zu Rom sah man einen Tag und eine Nacht lang rothe Erde fallen. Aus 
Godofred. Anon. Leob. Chronicon und Chron. Mont. Seren. Lauterberg 
bei Schnurrer Chronik d. Seuch. p. 272. Vergl. Nees v. Esenbeck in 
Rob. Browns bot. Schrift. I. 624. 

4226. Im Winter, der aufserordentlich kalt war, fiel rother Schnee in 
Steyermark. Annales Fuldens. 

1269. Am 6. December in der Dämmerung entstand am Himmel ein un- 
erhörter ausgezeichneter Glanz in Form eines Kreuzes, der nicht nur die Stadt 
Krakau sondern die ganze Umgegend erhellte. — In Schlesien soll beim 
Dorfe Machelow zwischen der Oder und Neifse drei Tage lang Blutregen 
gefallen sein. Lycosthenes Prodigia. 

1272. Marco Polo bezeichnet in Mittelasien eine Gegend jenseits der 
Tartarei als die Gegend der Finsternisse. Hist. generale des Voy. IX. 371. 

1274 regnete es Blut in Wales in England nach einem Erdbeben. Ly- 
costhenes Prodigia. 

1319? Als in Schweden Birger, Sohn des Königs Magnus II. auf den 
Thron gelangt „seynd bei Ringsstaholm bald hinnach aus den Wolken blutige 
Tropfen gefallen.“ Scheferus in Memorabil. Suec. c.2.p.9. Francis- 
cus Luftkreys p. 639. 

1334 gab es im Frühjahr beim ersten Mond einen Blutregen zu Pien-tcheou 


€) Hagı yap 7a "Agıevice on za Yıoves, pacıv, EpuSgei zaragönyvuvrer die 70 &2 WıhrW- 
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bayeısa Uheaımov döge Yarıada, SYWalwoure wg Enıze Ösivd. 

1304 fiel ein Regen feuriger Steine wie Hagel oder Schlofsen am St. Remigii Tage 
bei dem Städtchen Urdeland in der Mark Brandenburg so das Feld verwüstet. Cranz 
Saxon. 8. c. 37. Happelius p. 564. Franciscus Luftkreys. p. 764 


Passatstaub und Blutregen. 361 


und Leong-tcheou. Deguignes Histoire generale des Huns, des Tures et 
des Mongols T. IV. p. 226. 

1337 gab es Blutregen an einigen Orten Deutschlands. G. Fabricii 
Misnie. II. Lycosthenes Prodig. 

1348 war im October in Syrien ein heftiger Sturm von Mitternacht bis 2 
Stunden nach Sonnenaufgang, dann trat Dunkelheit ein, so dafs keiner den 
anderen erkennen konnte und wonach alle Gesichter gelb gefärbt erschienen 
(ob vom Staube?). Schnurrer Chronik d. S. 322. 

1348 war Blutregen in Deutschland (an der Donau). Schnurrer. 321. 

1349. Am 25. Januar regnete es Blut und es flossen Blutflüsse. Bei 
Kehlheim an der Donau brach ein Blutstrom hervor, der, wie den Natur- 
forschern bekannt ist, sagt Lycosthenes, nichts weiter ist als ein feuchter 
Dunst, welcher durch Anblasen eines irdischen und feurigen Windes roth 
wird). Zum Andenken wurde dort ein steinerner Tempel gebaut, welcher 
zum heiligen Blute genannt ist. Lycosthenes Prodigia. 

1416 Am Freitag nach Corpus Christi (23. Juni) war rother Regen und 
Finsternifs in Böhmen sechs Meilen weit und breit. Nach Spangenbergs 
Mannsfeld. Chronik (nicht 1406). 

1438 fiel eine Plüssigkeit wie geronnenes Blut mit einem Steinfall und 
Feuermeteore bei Luzern im Sommer. Das Meteor zog vom Rigi nach dem 


Pilatus (von NO. nach SW.), wie ein fliegender Drache. Der Stadtschreiber 


4348. Ein Dunst von furchtbarer Ausdehnung kam von Norden, zog zum Schrecken 
der Zuschauer über den Himmel und senkte sich auf die Erde. Lycosth. Prod. 

4365 fiel nach Makrisi während einer Schlacht der Bewohner von Zeila mit den Ha- 
bessiniern (753 d. Hedjra) ein Regen von verdorbenem Wasser (pluie d’eau eroupie) und 
darauf fielen eine grolse Menge Schlangen, welche viele Habessinier tödteten. Quatre- 
mere Memoire sur l’Egypte II. 486. — Rothe Schlangen (glühende Meteorsteine?) fielen 
auch 590 in Italien ins Meer. S. Lycosthenes Prodigia. 

1434. In der Schweiz sahen die Einwohner von Burg-Mellingen im Flusse Rusa einen 
Blutbach hervorbrechen. Lycosthenes Prodig. 

1438. Aus weilsen, die Sonne bedeckenden Wolken fiel beim Dorfe Roa unweit Bur- 
gos in Spanien, als König Johann dort auf der Jagd war, eine Stunde lang eine sehr 
grolse, ein Feld dicht bedeckende Menge ganz leichter grauer ‚und schwärzlicher Steine, 
wie Kopfkissen u. s. w., deren gröfste nicht 4 Pfd. wogen. Sie glichen verdichtetem 
Meerschaum. Aus dem Journal de physique 'T. 60. Mars 1805 und Gilberts Anu. d. 
Phys. B. 24. S. 263 bei Chladni p. 203. — Dies erinnert an das Meteorpapier von 
Rauden 1680 und an meine Beobachtung in Ostende s. 1818. 


Phys. Kl. 1847. Zz 


362 EHRENBERG: 


Cysat zu Luzern hat es 1661 p. 176 beschrieben (Beschreibung des Luzer- 
ner- oder Vierwaldstädter-Sees). Der Stein, welchen Blumenbach selbst 
gesehen, soll einem verhärteten Thone ähnlich sein und sich im Besitz der 
Familie des Dr. Beatus F. Maria Lang zu Luzern befinden. Chladni 
Feuer-Meteore p. 203. Vergl. 1499. 

1446. Am 27. Januar war bei Zofingen, Lenzburg, Sursee und Araune 
ein nächtliches Unwetter, wobei die beständigen Blitze bei furchtbaren Don- 
nerschlägen eine Stunde lang Tageshelle verbreiteten (instar meridiani diei) 
worauf wieder Finsternifs folgte. Am 1. Februar fanden die Leute zu Sursee 
welche in der Morgendämmerung zur Kirche gingen auf dem Kirchhofe und 
anderwärts auf 2 Häusern viel geronnenes Blut. Lycosth. Prodig. 

1456. Am Venus-Thore (apud Veneris portam) zu Rom war Blutregen. 
Lycosthenes Prodig. Nach Palmerius in Callisto III. und Bonfinius 
Dec. 3. Lib. 8. hat es zu Rom im Jahre 1456 nicht allein Blut, sondern 
auch Fleisch geregnet. Franeisci Lufikreys 1680 p. 732. 

1501 sind Blutstropfen vom Himmel gefallen. Barlandi histor. lib. p. 39. 

Nach Thuanus gab es um diese Zeit einen Blutregen in Preufsen. 
Franciscus Luftkreys p. 732. 

1531 waren zu Lissabon in Portugall feurige Zeichen am Himmel und 

Blutstropfen fielen aus den Wolken. Lycosthenes Prodigia. Bei Fin- 


celius ist es zu 1532 gezogen. 


5 
1534 war nach Frommont Blutregen in Schwaben mit Kreuzen auf den 


Kleidern. Nach Fincelius ist im Jahre 1534, da Ludovicus der andre 


1500 fielen zu Herrenberg in Schwaben Kreuze und andere Zeichen auf die Menschen. 
Das erste sah Simon Lamparter an Barbara, der Frau des Jacob Dachtler. Am Tage vor 
Ostern sah derselbe auch dergleichen an der Tochter des Conrad Holtz. Es waren grüne, 
blaue, gelbe Linien und Kreuze. Wolf Lectiones memorabiles. 

1502 gab es Kreuze auf den Kleidern in Würzburg. Würzburg. Archiv des hist. 
Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg X. B. 1.H. p. 161. 

4503 waren blutige Kreuze auf den Kleidern. Fincelius II. 

4510 fielen in der Lombardei gegen 1200 sehr harte Steine von rostrother Farbe mit 
einem Feuermeteor, nachdem 2 Stunden vorher ein grolser Knall gehört worden war. 
Lycosthenes nach Cardanus. Chladni hat p. 209 das Factum ausführlich erörtert 
im Jahre 1511. 

1529 war ein merkwürdiger Feuerregen mit Brandmäler hinterlassenden Tropfen in 
Schweden. Scheferus. Happelius p. 564. 

1530. In Italien (Welschland) ist eine Quelle mit Blut geflossen nach Fincelius. 


Passatstaub und Blutregen. 363 


regiert hat, viel Blut und Feuer durch einander, drei Tage und Nächt vom 
Himmel gefallen. Cardanus de subtilitate lib. 16 scheint besonders von 
diesem Fall die Erklärung entnommen zu haben, dafs der mit dem Regen 
fallende Staub auf grober Leinwand, der Fadenkreuze halber, Kreuze bildet. 

1539 hat es an etlichen Orten teutschen Lands Blut geregnet, sonderlich 
aber im Niederlande. Fincelius hat diese Nachricht im I. und im III. 
Theil seines Werkes „Wunderzeichen“. In den Niederlanden war es im 
October von 2 bis 4 Uhr Nachmittags. Man habe solch Blut aufbewahrt. 

1540 hat es bei Chemnitz nach Georg. Agricola eine gelbe Erde (luteam 
terram) mit Wasser geregnet. 

1543 fiel rother Regen in Westphalen im Münsterschen nahe bei Waren- 
dorp und Schlofs Sassenburg. Surii Comment. ed. Col. 1574 p. 39. 
Lycosthenes und Fincelius haben es zum Jahre 1542 gezogen. Letzte- 
rer hat noch eine andere Nachricht von 1543. 

1546 wurde in Syrien das Meer bei einem Erdbeben (?) blutroth. Fince- 
lius Wunderzeichen. Vergl. 53. 

1548. Am 6. November zog Nachts zwischen 1 und 2 Uhr von Abend 
nach Morgen im Mannsfeldischen eine mit ungeheurem Knalle platzende 
Feuerkugel, dabei fiel eine röthliche Flüssigkeit, „wie zertriebenes und ge- 
liebertes Blut.“ Nach Spangenbergs Mannsfeld. Chronik. S. Chladni 364. 

1548 war zur Erndtezeit das Getreide beim Dorfe Hausdorf in Schlesien 
unweit Neunburg mit vielem Blut überflossen. Fincelius, 

1550. Bei Trebin nicht weit von Wittenberg sah man am 19. Juli wun- 
derbare Zeichen am Himmel (Wolken) aus denen ein Blutregen fiel. Die 
Sonne war erschreckend. Lycosth. 

1551 waren in Deutschland, namentlich in Sachsen, Blutwunder, auch in 
Frankreich (oder Franken). Vor Östern war ein ungeheurer Sturm. Lycosth. 


1546 fand man in Ungaren Blut in Weinbeeren. Lycosthenes. 

1547 war eine dreitägige Verfinsterung um die Zeit der Schlacht bei Mühlberg, wo 
der Churfürst von Sachsen gefangen genommen wurde. 

1549 flols auf einem Acker in Braunschweig viel Blut. Lycosth. 

1549. Beim Dorfe Unstmalen bei Koburg in Franken war eine Ackerfurche voll Blut, 
das man in Fläschehen füllte. Auch im Stadtgraben zu Koburg war Blut. Auch zu Zor- 
begk (Zörbig) bei Magdeburg war ein Teich voll Blut. Fincelius. Diese Nachrichten 
gehören wohl sämmtlich zu Euglena sanguinea. 


Zz2 


364 EHRENBERG: 


1551 regnete es am 28. Januar Blut zu Lissabon in Portugall. Gleich- 
zeitig war grofses Erdbeben, wobei 1000 Menschen umkamen. Lycosth. 

1552. Am St. Bartholomaeus-Tage (August) war in Holland ein grofser 
Sturm, mit pfundschwerem wunderbar gestaltetem Hagel, welcher beim 
Zerfliefsen entsetzlichen Gestank verbreitete, wodurch viele Thiere starben. 
Lycosthenes. — Waren es vielleicht nur vom Meere gleichzeitig ausgewor- 
fene Quallen, die dann faulten? War er mit verrottetem Luftstaub gemengt? 

1552 regnete es zu Hoffstat in Franken Blut und Fleisch. Lycosthenes. 
Fincelius. Am 15. Juni war (um St. Veit) zu Schönfelt im Königreich 
Böhmen die Sonne blutig. Man sah viele runde Kugeln aus der Sonne hin- 
und herfahren und alles war wie ein gelbes Tuch. Fincelius. 

1553 hat es im Sommer zu Greufsen, Erfurt und an anderen Orten in 
Thüringen Blut geregnet. Fincelius. 

1553 war ein grofser Sturm, welcher 2 Zelte des Churfürsten Moritz 
von Sachsen am Tage vor der Schlacht (9. Juli), in welcher er blieb, um- 
warf. Am 8. Juli war zu Leipzig Blutregen. Lycosth. — Am 5. Juni war 
ein Blutregen zu Erfurt. Fincelius. — Am 8. Juni hat es um Leipzig Blut 
geregnet. Fincelius. Im Juni, kurz vor dem Tode des Churfürsten Mo- 
ritz von Sachsen, der bei Sivershausen blieb, fand man rothe Tropfen auf 
Bäumen, Kräutern und an Häusern. Tharsander. — Der Sturm scheint 
hier den Blutregen aufser Zweifel zu stellen. 

1554. Am 26. Mai regnete es bei der Stadt Dunkelspühel (Dünkelspiel) 
in Deutschland Blut nach Marcus Frytschius. Lycosthenes p. 696. 


Fincelius. Zwei Meilen von. Würzburg in dem Dorfe Reimlein flofs eine 


1550. Im Juni war zwischen Halle und Merseburg in Sachsen eine blutrothe Wiesen- 
quelle, die, mit der Hand bewegt, gelb wurde. Lycosth. 

1552 war ein Teich bei Merseburg blutig. Fincelius. 

1555 war der Schlofsgraben zu Weimar 3 Tage lang blutig, Zu Erfurt war eine 
Quelle blutfarbig und eine kleine Quelle zwischen Weimar und Erfurt, die schon 1524 
vor dem Bauernkriege blutroth gewesen war, färbte sich am 12. und 13. Juni wieder 
blutig. Fincelius. Lycosthenes. Diels ist wohl Monas Okenii gewesen, welche ich 
in Ziegenhayn bei Jena 1836 den Grund einer Quelle stark roth färbend sah. Infusions- 
ihierchen 1838 p. 15. 

1555. Zu Freiberg bei Meilsen gab es im Juni eine grofse Menge Schmetterlinge, die 
Kräuter, Bäume, Blätter und Wäsche mit Blutflecken verunreinigten. Einige meinten es 
habe Blut geregnet. G. Fahricius de Fribergo oppido. 


® 
Passatstaub und Blutregen. 365 


Quelle 3 Stunden lang blutig. Fincelius. Vielleicht gehört beides zusam- 
men zu Einem Meteor. 

1556. Am 14. Mai fiel zu Herblingen bei Schafhausen Blutregen, was 
einige läugneten, beim Nachforschen aber bestätigt wurde. Lycosth. 

1556. Am 31. December war in Algei in Schwaben (in Algoea Sueviae) 
nicht weit von Lowingen am Sonntag nach der Christnacht häufiges Blitzen. 
— Am gleichen Tage war in Böhmen und Schlesien ein furchtbares Unge- 
witter, welches viele Menschen und Thiere tödtete. In vielen deutschen 
Städten zündete der Blitz und es fiel Blutregen. Lycosth. 

1557. Am 20. November 1556 segelte de Lery von Honfleur ab. Am 
18. December war das Schiff bei den canarischen Inseln. Ende Januars 
etwa 4° vom Aequator (nördlich) hatten sie viele Stürme. Überdiefs war 
der Regen, welcher unter der Linie fiel nicht nur stinkend und höchst übel- 
riechend, sondern auch so ätzend (contagieuse), dafs wenn er auf die Haut 
fiel sich Pusteln und grofse Blasen bildeten, auch befleckte und verdarb er 
die Kleider. Am 4. Februar passirten sie die Linie. De Lery Voyage. 

1557 hat sichs zu Schlage in Pommern den Freitag für Fastnacht (Februar) 
zugetragen, dafs daselbst Blut geregnet hat, auch ist von vielen Leuten ge- 
sehen worden, dafs grofse Stück Bluts auf die Erde gefallen, faustgrofs und 
gröfser, darin sind gemeiniglich Menschenangesicht gewest. Dieser Blutregen 
hat 5 Acker lang und breit geweret. Aus Micrelius Beschreib. d. Pom- 
merlandes. Fincelius. 

1557. hat es in Thüringen Feuer und Blut geregnet. Fincelius. 

1559 am 15. Januar um 7 Uhr ist zu Strafsburg ein grofs Erdbiden ge- 
schehen, dergleichen ist auch dazumal am Himmel eine schreckliche Feuer- 
kluft erschienen, dafs diejenigen so für der Stadt gewesen, anders nicht 
gemeynt, denn die Stadt steht in eitel Feuermeer, dazu hat es eben zu der 
Zeit Blut und Feuer geregnet. Fincelius. 

1560. 24. Decbr. Mittags fiel ein rother Niederschlag mit Feuermeteor 
bei heiterem Himmel vielleicht auch Meteorsteinfall bei Lillebonne Depart. 


1555 fand Towtson so starke Nebel an der afrikanischen Goldküste in der Nähe des 
Riviere del Oro, dafs man die Segel auf den Schiffen nicht sehen konnte. Hist. gener. 
des voyages I. 255. 

1556 am 2. September um 11 Uhr Vormittags war ein furchtbarer Südsturm (Scirocco) 
zu Locarno, welcher einen Theil des Schlosses herabstürzte.e. LycosSthenes. 


“ 
366 EHRENBERG: 


de la Seine infer. Das Meteor entzündete ein Pulvermagazin. Aus Natalis 
Comes Hist. sui temp. XIII. 259 bei Chladni 364. 

1568 Am Östertage (April) fiel zu Trier 10 bis 11 Meilen breit rother 
Regen. Nach Fromondi Meteorologia. S. Chladni p. 364. Nach Hap- 
pelius war es am Pfingstage, ebenso nach Franciscus Lufikreys p. 732. 

1571 fiel Nachts zu Pfingsten ein Blutregen bei Emden an dem Damm 
(Ostfriesland) der 5-6 Meilen weit alles Kraut und ausgehängte Wäsche be- 
deckte. Fromondi Meteorol. aus Gemma Frisius Cosmocrit. c. 2. 

1572? Am 9. Januar Abends nach 9 Uhr als die Weichsel 3 Tage blut- 
roth gewesen, darnach wiederum ihre rechte Farbe bekommen, ist zu Thorn 
ein Erdbeben und ein verheerender Wolkenbruch mit Steinfall von 40pfün- 
digen Steinen gewesen, wobei Leute getödtet wurden. Ein Blitz zündete 
das Kornhaus der Stadt. Nach Sebastian Münster Cosmographie L. V. 
p- 1290. S. Chladni p. 216. (— Die rothe Farbe im Winter vor dem 
Wolkenbruch kann schwerlich rothe Lehmfärbung gewesen sein, sicher auch 
keine Algen- noch Infusorien-Färbung, auch war es offenbar kein Erdbeben, 
sondern ein erschütternder Orkan. Die historische Auffassung scheint durch 
Münster, der es für Übertreibung hielt, unrichtig geworden.) 

1536 ist am 3. December in der Nacht bei Verden (im Hannöverschen) 
eine theils blutrothe, theils schwärzliche Substanz niedergefallen. Der Frost 
hörte auf, es donnerte und auf Jost Berends Teich fiel vieles Blut einen 
Finger tief ins Eis. Unten war es schwarz wie Dresch, hat auch die Planke 
verbrannt als ob es Feuer gewesen. Dieses Blut ist auch zu Uchtenhausen, 
wo Evers v. d. Linth wohnt, gesehen worden. Aus einer handschrift- 
lichen Chronik von Heinrich Salomons, Rathsherrn in Bremen, der 1597 
gestorben ist, durch Chladni p. 366. 

1576. Peucer (Melanchthons Schwiegersohn) sagt in seinem Buche Te- 
ratoscopia (de praecipuis divinationum generibus): Zu seiner Zeit hätten 
die Völker oft Blutregen, Feuerregen und andere ungewöhnliche Dinge 
erlebt. Bei Boekelheim im Hildburghausenschen sei ein starker Blutbach 
geflossen. Bei Merseburg sei ein Teich öfter mit Blut gefärbt (1552), in 
Schlesien seien die Ahren auf den Feldern mit Blut befleckt gewesen (1548). 
Zu Bernburg haben Bilder (simulacra) Schweifs gezeigt. 

1579 sagt der Seefahrer Stephens, dafs zwischen den Capverdischen In- 
seln und der afrikanischen Küste die Luft oft dick und neblich ist, und oft 


Passaistaub und Blutregen. 367 


durch Gewitter und so ungesunde Regen getrübt werde, dafs wenn der ge- 
fallene Regen nur kurze Zeit auf Fleisch steht, sich sogleich Würmer bilden. 
Histoire generale des Voyages I. 316. 

1597 sah man zu Stralsund in den Gärten vor dem Frankenthore früh an 
Bäumen, Kräutern, Blumen, Gras und Zweigen Blutstropfen, auch das nackte 
Erdreich war mit Blut befleckt und roth. Man schlofs allgemein auf Blut- 
regen in der Nacht. Die Fischer auf dem Meere hatten ebenfalls auf ihre 
Kähne, Netze und Kleider während der Nacht Blutflecke bekommen. Eine 
Frau, die ein leinenes Halstuch zum Trocknen und Bleichen ausgehängt 
hatte, wollte die Blutflecke mit Seife abwaschen. Da vertheilte sich das 
Blut in mehrere Kreuze, so dafs 13, jedes einen Finger lang, so schön zum 
Vorschein kamen, als wären sie absichtlich gemalt worden. Wolf Lect. 
memorabiles. 

1606. Jobson hat in seiner Untersuchung der Goldküste (Jobson Gol- 
den Trade) die Ursache schädlicher Luft am Gambia aufzufinden sich be- 
müht. Er überzeugte sich, dafs dort viel Giftiges in der Luft sei. Es fällt 
mit dem Regen herab. Die ersten Regen(tropfen) machen Flecke, nicht blos 
auf die Haut, auch auf die Kleider, und wenn man diese nur kurze Zeit in 
der Feuchtigkeit läfst, bilden sich Würmer. Die späteren Regen haben das 
nur selten. Er erklärt damit die Sterblichkeit auf dem Schiffe St. Jean. 
Hist. gener. des voy. IV. 275. 

1616 sah Wendelinus zu Forcalquier nahe bei Marseille einen rothen 
Regen, wie der in Brüssel 1646 im Juli (30 Jahre später) gefallene, den er 
analysirte. Happelius p. 562. Franciscus Luftkreys p. 737. 

1617 fiel ein Blutregen zu Sens, Depart. de la Yonne in Frankreich und 
dessen Umgegend am Frohnleichnahmstage (7) Juni. Der Chirurg Thomas 


1580. Zu Weimar verschwand ein Blutquell bei einer Sonnenfinsternils und kehrte 
dann an 4 Stellen des Bodens zurück. Wolf Lect. memorabiles. 


1585. John Davis sah am 6. August 1585 nahe der Davis-Strafse schöne goldfar- 
bene Abhänge in einer Bucht am Mount Raleigh, die vielleicht gelbrother Schnee (Sprae- 


rella nivalis) waren. 


1608 war Anfangs Juli zu Aix ein Blutregen. Nach Gassendi vita Peirescii L. I. 
p- 117 ed. Quedl. soll es Insecten-Auswurf gewesen sein, was aber doch zweifelhaft bleibt, 
da die Untersuchung offenbar mangelhaft war. Blos der Mangel eines Sturmes könnte 
für Gassendus Ansicht sprechen. 


368 EHRENBERG: 


Mont-Sainet hat ihn 1617 beschrieben. Hist. miraculeuse des eaux rouges 
comme sang tombees etc. (Paris 8.) Nur dem Titel nach bekannt. 

1618 war in der zweiten Hälfte Augusts ein grofser Steinniederfall mit 
Blutregen und Feuermeteor in Steyermark, District der Mur, Gränze von 
Ungarn, mit schwarzen Wolken. Nach furchtbaren Donnerschlägen, die 
Menschen und Thiere betäubten, fielen mehre bis 3 Centner schwere Steine. 
Aus Naimas osmanischer Reise von Hammer in den Fundgruben des Orients 
V. 2. 163. Chladni F. M. p. 221. 361. 

1620 war ein heftiges Donnerwetter am 19. Mai zu Wien. Man bemerkte 
dabei schwefliche brennbare Materie. Das Wasser des Stadtgrabens blieb 
8 Tage lang röthlich. Schnurrer Chr. d. S. 

1623 am 12. August zwischen 4 und 5 Uhr war Blutregen zu Strafsburg, 
nachdem man vorher eine finstere dicke, rothe oder rauchfarbene Wolke 
gesehen hatte. Nach Elias Habrechts Bericht von 1623 bei Chladni 
F. M. p. 366. 

1627 ist das holländische Schiff, Geldern genannt, bei Guinea auf das 
Castell Nassau zu gesegelt, hat einen harten Sturm erlitten und unter dem- 
selben sind in kurzem alle Segel, Schiffseile, wie auch das auswendige Schiff- 
Getäfel als mit Blut gefärbt erschienen. Aus Ricciolo lib. 10. Geograph. 
reform. c. 12. fol. 443. bei Erasmus Franeiscus Luftkreys p. 797. All 
ihre Segel, Schiffseile und das Schiff selbst sind in kurzer Zeit blutroth ge- 
worden von einem blutigrothen Regen. Ibid. p. 1152. 


1629 fiel 4 Tage nach Pfingsten Feuerregen in Schweden. Feurige Tropfen versengten 
die Kleider. Tharsander 1738. Happelius 1683. (1529). Ist aus Scheferus Me- 
morabil. Suec. Es fielen kleine Stücklein, wie angebrannte Blätter der Bäume dabei. Nach 
Fischerberichten kam eine schwarze dicke Wolke von Norden, welche Feuer und Wasser 
zugleich regnete. Franciscus Luftkreys p. 748. 

1634 am 27. Oct. Morgens 8 Uhr sah man in Charollois (Burgund) eine sehr rothe 
und flammende Wolke bei heiterem Himmel, woraus mit grolsem furchtbarem Getöse 
Steine fielen. Nach Morinus dissert. de atomis 1650 p. 30 bei Chladni p. 99. 224. 

1635? Bei Baldivia in Chile und der Stadt Lima, besonders bei Porto formoso werden 
die Schiffe oft in einen seltsamen trocknen Staubnebel, wie von (weilsem) Mehl einge- 
hüllt. Diese Nebel dauern oft einen ganzen Tag. Franciscus Luftkreys p. 811. — Milch- 
und Kreide-Regen in Italien. Vulkanisch? Vergl. 1812. 

1637 am 6. Dec. fiel auf das Schiff des Capt. Badily im Meerbusen von Volo 2 Zoll 
Asche. Es dauerte von 10 Uhr Morgens bis andern Nachmittags 2 Uhr, ohne Wind. 100 
engl. Meilen weit entfernte Schiffe hatten den Staubfall bei St. Jean d’Acre. Der Capi- 


Passalstaub und Blutregen. 369 


1638 war rother Regen bei Turnholt und Duisburg in holländ. Seeland 
21 Tage andauernd und alles roth färbend. Nach Ruhland in Schweiggers 
Journal 1812 #6, Bd. 44S. Chladni F. M. 367. 

1643. Blutregen im Januar zu Vaihingen an der Ens und Weinsberg nach 
einer handschriftlichen Chronik bei Chladni p. 367. 

1645. Zwischen dem 22. und 24. Januar rother Regen zu Herzogenbusch 
in den Niederlanden. Chladni p. 367. 

1646. Rother Regen am 6. Oct. zu Brüssel um 7 Uhr Morgens, welcher 
plötzlich eintrat und 7-8 Stunden dauerte, anfangs mehr, später weniger 
geröthet war. Das Wasser schmeckte säuerlich und setzte ruhend einen 
purpurfarbenen Niederschlag ab. Nach Marcus Marci aKronland philo- 
sophia vetus restituta P. II. sect. 7. Chladni p. 367. Ein Kapuciner 
bemerkte es und zeigte es dem Dr. Wendelin, der sich erinnerte vor 30 
Jahren auch so einen rothen Regen bei Marseille erlebt zu haben. Er war 
lieblich warm und schmeckte wie Spaa-Wasser, traf auch nicht alle Häuser 
und Plätze. Etwa 5 Meilen von Brüssel sind in einem Städtchen ganze Blut- 
ströme durch die Strafsen gerauscht. Weilse Kleider wurden davon gefärbt. 
Happelius. 

1648. Ist ein Wunderblut über Malchin in Mecklenburg aus den Wolken 
gekommen, wobei ein Blitz war, und man hörte die Stimme: Wehe! Wehe! 
Franeisei Lufikreys p. 740.— Feuer-Meteor (mit Steinfall?) und Blutregen. 

1665? Erasmus Franciscus schreibt in seinem Luftkreys p. 739 im 
Jahre 1680, dafs vor wenigen Jahren ein Blutregen in der Mark gewesen, 
worauf der Krieg zwischen Frankreich und Schweden erfolgt sei. 

1668? Derselbe Autor sagt in seinem indisch-chines. Lustgarten Bd. II. 
p- 929. 1668. Unter der Linie fällt ein röthlicher Regen. — Im Lande Ci- 


tain hat ein Maals Asche an die K. Soc. der Wiss. in London abgegeben. Man hielt es 
für Asche des Vesuvs. Philosoph. Transact. I. p. 377. Tharsander. Happelius (1683). 
Letzterer fügt hinzu: Sonsten berichtet auch ein Schiffer, dafs er ungefähr 6 Meilen von 
den canarischen Inseln unter einen Aschenregen verfallen. — Passatstaub? Von 1631? 
1647 ist am 42. März Abends 7 Uhr zu Buchau (Würtemberg) am Feder-See Feuer 


wie kleine Regentropfen vom Himmel gefallen eine halbe Stunde lang, so dafs die auf 


dem See schiffenden zu verbrennen glaubten. Francisci Luftkreys p. 748. — Electri- 
scher Luftregen? Leuchten des zerseizten organischen Luftstaubes im Regen? 


1652 im Mai sah Menzel bei Rom eine Sternschnuppe glänzend niederfallen und er 
fand eine Gallerte. Wahrscheinlich Verwechslung eines Pilzes (Tremella meteorica) damit. 


Phys. Kl. 1847. Aaa 


370 EHRENBERG: 


bola fallen Steine. — Dasselbe wird auch im „Luftkreys“ 1680 p. 712 mit 
dem Zusatz wiederholt, dafs diese Regen höchst ungesund sind. 

1669 fiel am 17. März zu Chatillon sur Seine ein stinkige rötbliche Flüs- 
sigkeit, die wie Blut aussah. Richard Hist. nat. de l’air V. p. 502. 

1676. Röthlicher dicker klebriger und stinkender Regen bei Fere in der 
Picardie. Schweiggers Journal 6. 45. — Beides ist wohl ein und dasselbe 
Meteor. 

1676 fiel ein rother Regen in Mitwayda. Chladni p. 619. 

1678 fiel bei Genua am St. Josephs Tage (19. März) auf die Berge Le 
Longhe erst weifser, dann in grofser Menge rother Schnee oder Blutschnee, 
von dem als er schmolz ein gleichfarbiges Wasser enstand. Nach einem 
Briefe aus Genua an den Venetianischen Residenten Sarotti in London. 
Philosoph. Transactions 1678 p. 976. Chladni p. 368. 

1630. Ein wunderbarer Wolkensturm ist im arabischen Meere (rothen 
Meere). Eine dicke schwarze Wolke mit feurigen Wölkchen wie ein glühend 
lohender Kamin, verfinstert den Tag. Daraus fährt ein heftiger, kurze Zeit 
dauernder Sturm, welcher viel rothen Sandes aufs Land und ins Meer wirft. 
Ganze Caravanen sollen davon begraben worden sein. — Der Niederländer 
Twist bezeuget solche Sandwolken in Gusurate (Guzerate, Indien). Fran- 
eisci Luftkreys p. 1082. — Erinnert sehr an die Nachrichten des Korans 
(570?) und erläutert dieselben. 

1689. Rother Regen (polverosa pioggia) in Venedig und den benachbarten 
Inseln, salzig sauer, verdirbt die Pflanzen und macht beim Genufs nicht wohl 
gereinigter Gemüse Durchfall und Übelkeiten. Nach Vallisneri verlor 


1665. Eine niederländische Retourflotte aus Ostindien (11 Schiffe) hatte am 8. Febr. 
in 24° SB. einen starken Ost-Sturm bei ganz dunklem Wetter, am 27. Febr. bei Mauri- 
tius starken Sturm mit dickem Nebel, am 1. März dunkelbraune Wolken im Südmeere 
mit Donner, Blitz und Hagel wie Hasselnüsse. — Ob hierbei an Staubnebel zu denken, 
ist zweifelhaft, zumal sonst aus dem Australmeere directe Nachrichten fehlen. Aus Wal- 
ter Schulzens ostind. Reise 3. Bd. in Franciscus Luftkreys p. 1191. 

1677. Am 1-7. Juni war ein blutfarbiges Wasser in Gräben bei Berlin, das aufwallte 
und gohr. Collectiones academicae VI. 577. Hoff Veränderungen der Erdrinde IV. 326. 
Bei Euglena sanguinea ist das Wasser oft schäumig an der Oberfläche. 

1691. Am 40. Februar hatte man zu Frankfurt a. M. einen Blutregen, der aber durch 
ausfliegende Bienen in der Galgengasse veranlalst zu sein schien. Lersners Chronik 
von Frankfurt a. M. p. 526. — Bienenauswurf ist nur local bei den Stöcken. 


Passatstaub und Blutregen. 374 


sich nach einigen Tagen die rothe Farbe. Er hielt es für rothe Asche des 
damals thätigen Vulkans (Vesuvio). Vallisneri Opere Physico mediche 
T. H. p. 65. S. Chladni p. 369. 

1692 schreibt Pater Gabriel Sepp aus Uruguay, dafs er am 6. Februar 
(Hornung) bei Capoverde vorbeigefahren, welches wegen den Dämpfen so 
von deren Pfitzen ewig aufsteigen in sehr ungesunder Luft stehe. Stoeck- 
lein, Weltbott 1. ır. 42. 

1711 war am 5. und 6. Mai rother Regen in Orsioe in Schonen. Acta 
litteraria Sueciae 1731. p. 21. 

1712 waren Blutstropfen auf Pflanzen in Delitzsch in Sachsen. J. C. 
Westphal de pluvia sanguinea. Ephemerid. Nat. Cur. Cent. V. et VI. 
p- 282. Es wird eine alchemistische Erklärung gegeben. Insecten-Auswurf 
soll es nicht gewesen sein. 

1716. Rothe Flecke mit übelriechenden Nebeln gab es im August und 
September in der Ukräne und bei Lemberg. Der Bischof von Lemberg 
ordnete deshalb Fasten und Beten an. Schnurrer Chronik d. S. II. 252. 

1721 war man in ziemlicher Bestürzung wegen eines Feuer-Meteors, das 
gesehen wurde und worauf am folgenden Tage Blutregen eintrat, so dafs 
das Blut mit Händen aufgefangen werden konnte. Wo es hingefallen konnte 


1719 war auf dem atlantischen Meere unter 45° NB., 322° 45’ L. P. ein Staubregen 
mit kurzer Lichterscheinung, die man für ein Nordlicht hielt. Me&m. de l!’Acad. de Paris 
1719 hist. p. 23. Feuillee hat ein Päckchen Staub der Academie übergeben. Chladni p. 370. 

1720 schreibt Le Maire der Luft die gefährlichen Krankheiten zu, welche die Fremden 
auf den canarischen Inseln befallen, Fieber, Cholera, Fulsgeschwüre mit tödtlichen Con- 
vulsionen. Hist. gen. des Voyages IV. 274. 

1729 war zu Trecenta in Italien Abends 6 Uhr ein grausames Gewitter mit Blitz und 
Schlofsen. Es dauerte an 3 Minuten. In den Wiesen von Massa sah man dann einen 
dicken finstern Nebel aus der Erde aufsteigen, welcher sich in ein fliegend Feuer ver- 
wandelte und Alles in Brand steckte, wodurch grolser Schaden geschah. 'Tharsander, 
Schauplatz — der Magia naturalis. Berlin 1753. 

1731. Feuerregen wie glühende Metalltropfen am 3. Juni zu Lessay in der Normandie. 
Chladni p. 241 hält es für electrisches Leuchten des Regens. 

1737 fiel ein besonderer Aschenregen am 30. Dec. auf den Chilo& Inseln, der als grofse 
feurige (rothe) Wolke (nube de fuego) Nachmittags im Norden über die Inseln des Archi- 
pels zog und alles mit Asche bedeckte, so dals erst 1750 (nach 13 Jahren) wieder Pflan- 
zen hervorkamen. Viaggero universal XV. 366. S. Schnurrer II. 285. — Scheint 
nicht vulkanisch gewesen sein zu können, weil er noch glühend und heifs gefallen zu 
sein scheint. 


Aaa? 


372 EHRENBERG 


es nach einer Woche zum Theil noch gesehen werden. Die Nachricht hat 
Chladni aus Familienpapieren in Stuttgart erhalten. p. 370. — Rother 
Schlammregen, auch dem Fleischregen ähnlich. 

1741 fiel nach sehr kaltem Winter in Nord-Amerika im Januar bei ganz 
umzogenem Himmel und schnell nachlassender Kälte etwas Regen. Der 
Himmel erschien mit einbrechender Nacht ganz in Feuer, so dafs man die 
Gegenstände unterscheiden konnte und der nun fallende Regen hatte eine 
blutrothe Farbe. S. Schnurrer II. p. 29. 

1744 fiel rother Regen bis San Pietro d’Arena bei Genua. Man fand ihn 
durch eine besondere Erde gefärbt, die man für von den nahen Bergen weg- 
gewehthielt. Richard Histoire natur. de l’air. T. V. p. 447. Chladni p.371. 

1748. Rother trockner Nebel bei Verdun. Die Erde bedeckt sich dabei 
mit kleinen leuchtenden Punkten. Der Nebel, an sich selbst trocken, färbt 
ausgesetzte Leinwand roth und wo er sich ansetzt erscheint er beim Reiben 
als schwarzes Pulver. Ruhland inSchweiggers Journal 1812 6. Bd. p. 44. 

1755 am 14. October war gegen 8 Uhr Morgens ein heifser ungewöhnlicher 
Wind mit rothem Nebel, der alles röthete, zu Locarno im Tessin am Lago- 
Maggiore. Um 4 Uhr war Blutregen mit röthlichem Bodensatz bis zu z- 
Die Verbreitung des Regens war 40 Stunden im Quadrat bis Schwaben. 
Dabei fiel 6 Fufs rother Schnee auf den Alpen. Der Regen dauerte 3 Tage. 
In der Nacht war 6 Stunden lang entsetzliches Gewitter. Der Regen belief 
sich in der Nacht auf 9 Zoll, in 3 Tagen auf 23 Zoll. Der See stieg um 15 
Fufs. (Die gefallene Staubmasse läfst sich auf 100 Tausende von Oentnern 
berechnen). Aus den Göttingischen gelehrten Anzeigen von 1756 6. Stück. 
12. Januar p. 44. Chladni p. 44. Vergl. vorn p. 321. 

1755 den 20. October zwischen 3 und 4 Uhr Nachmittags fiel auf einer 
Shetlands Insel schwarzer Staub wie Lampenrufs, der alles schwärzte und 
nach Schwefel roch (wie 472 und 1814). Hierauf folgte Regen. Der Wind 
kam von Süd-West. Der Staub kann daher nicht vom Hecla gekommen 
sein, welcher nordwestwärts liegt. Philosophical 'Transactions Vol. L. 
P. 1. p. 298. Vergl. 1849. 

Vom 23. zum 24. Oct. fiel in der Nacht bei stiller Witterung zwischen 
Shetland und Island schwarzer Staub in Menge auf ein Schiff, so dafs das 
Verdeck und das Tauwerk dicht damit überdeckt worden sind. Ebenda 
Vol. XLIX. p. 510. Chladni F. M. p. 372. — Diese beiden Nachrichten 


Passatstaub und Blutregen. 318 


betreffen allerdings vielleichteinen und denselben vulkanischen Staub desHecla. 
Man vergleiche den von 1844, wo aber die Thätigkeit des Hecla sicher war. 

1755 am 29. October fiel bei Kirsa in Rufsland mit dicker Finsternifs und 
einem Schalle in den Wolken, wie Trompeten, viel Blut vom Himmel. Aus 
der Sammlung von Meinungen über Wunderregen, Ulm 1755, bei Chladni 
p- 372. 

1755 am 15. November war gegen Mittag rother Regen nach zweitägigen 
Südstürmen (Scirocco) in Ulm bei stillem, warmen, feuchten Wetter. Die 
einzelnen Tropfen waren farblos, in Gefäfsen oder Tümpeln war er roth, 
nicht blutroth, sondern tief crocusfarben, wie reiner Neckar-Wein. Von 
den Dächern lief er weniger roth. Er war geruchlos, bitterlich und rufsartig 
im Geschmack. Verdunstet zeigte sich ein gleichfarbiger Rückstand. In 
starker Kälte fror das Wasser nicht ganz. Lackmus und Veilchen-Syrup 
zeigten keine Wirkung. Durch Schwefelsäure wurde der Bodensatz schwärz- 
lich, das Wasser hell. Bleiessig färbte das Wasser bräunlich mit schwärz- 
lichem Niederschlage. Dr. Rau glaubte, dieser Analyse halber, feinste 
schwefliche Theilchen darin annehmen zu können. Nova Acta Nat. Curios. 
II. 1761 p.85. Chladni p. 372. 

Diese sämmtlichen Meteore von 1755 könnten sich leicht auf eine und 
dieselbe weit ausgedehnte atmosphärische Bewegung beziehen und dann mag 
leicht auch der schwarze Staub der Shetlands Inseln ein verrotteter ursprüng- 
lich rother nicht vulkanischer Staub gewesen sein. 

1763? ist am 9. October im Herzogthume Oleve bei Utrecht, auch am 
19. Oct. bei Ribemont in der Picardie, 3 Stunden von Fere, ein rother Regen 
gefallen. Richard Hist. nat. de lair V. 502. Chladni 373. Bei Gem- 
maFrisius ist der rothe Regen zu Cleve und Utrecht 1764 gefallen. 

1765 am 14. Nov. fiel rother Regen in der Picardie als Schlammregen, 
welcher öfter dort vorgekommen, wie Richard l. c. bemerkt. Chladni. 

17580? Eine dunkle Wolke zeigte sich nach mehreren dünstigen Tagen 
am 19. Mai zwischen 10 und 114 Uhr in Nordamerika. Sie schien über Con- 


1759. Zwei electrische Feuer-Regen beobachtete Beckmann im September. 

1774 fielen in England am 13. oder 18. Juli, nachdem vorher am 12. oder 17. Juli eine 
grolse Feuerkugel gesehen worden war, Regentropfen von eigenthümlichem Geruch. Die 
von Sussex bis Melun beobachtete Feuerkugel wurde 500 Toisen im Durchmesser und in 
18000 Fufs Höhe geschätzt. Schnurrer I. p. 359. 


374 EHRENBERG: 


necticut zu stehen und verbreitete solche Dunkelheit, dafs man Licht an- 
zünden mufste. Um 12 Uhr wurde es etwas heller, aber alle Gegenstände 
sahen während des Tages gelblich aus. S. Schnurrer II. p. 377. Hinderte 
electrisches Verhältnifs einen Staubfall? 

1785? Ein ähnliches Verhältnifs wie 1780 wiederholt sich in Canada am 
9. October, wobei die tief dunkle Wolke 7 Tage lang, bis zum 16. October, 
herumzieht und wiederkehrt. (Ihr feuriger Schein spricht für röthlichen 
Dunst, wodurch diese Lichtreflexe sehr erhöht werden). S. Schnurrer 
II. p. 388. — Bei solchen Verhältnissen können die organischen Theile durch 
die gleichzeitige Feuchtigkeit und Wärme in der Luft schwebend zersetzt 
werden und stinkend oder chemisch verändert, kohlschwarz verrottet (wie 
das Meteorpapier von Rauden) niederfallen. 

1799? war am 20. October bis 3. November und am 13. Noy. in Cumana 
die Atmosphäre mit einem röthlichen trocknen Dunst erfüllt, welcher Herrn 
v. Humboldts Erstaunen und ganze Aufmerksamkeit hervorrief. Es war 
die Zeit des so merkwürdigen grofsen Sternschnuppenfalles (12. Nov.). Das 
Saussuresche Hygrometer zeigte dabei zunehmende Trockenheit. Der 
Himmel war am Tage vorher völlig schön und rein. Es erschienen dann 
Schaafwolken in ungeheurer Höhe, ungeachtet es sonst dort 3-4 Monate 
lang keine Spur von Wolken oder Dünsten giebt. Diese Schaafwolken wa- 
ren wunderbar durchsichtig. Ganz dieselben Wolken sah Hr. v. Humboldt 
auf den Gipfel der Anden hoch über sich. Relation historique I. C.IV. 
p- 510. (Diese Nachricht ist in ihrer Verbindung mit dem Sternschnuppen- 


1783 war ein auffallend starker über Europa nach allen Richtungen verbreiteter Nebel 
oder Höhrauch, im Dessauischen am 3. Juni, um die Zeit eines sehr starken vulkanischen 
Ausbruchs in Island. In Schweden war während dieser Zeit ununterbrochener Südwind 
(Sciroeco). Maret in Dijon glaubte zu bemerken, dals er sich alle Morgen neu bilde. 
Der Schein der Sonne war sehr gemindert. Am 10. Februar zog ein empyreumatisch 
riechender Nebel über Nord-Amerika. Gegen Mitte Augusts schien er sich zu verlieren, 
mehrere auffallende Feuermeteore wurden dabei bemerkt, und ihre Höhe auf 57-60 engl. 
Meilen geschätzt. Auch sah man in England Nebensonnen. Schnurrer II. 380-382. 

1791 am 17. Mai Morgens in Toskana ein Steinfall mit Höhrauch, der einige Tage lang 
die Sonne einhüllte. Journal des Savans 1791 p. 275. Chladni p. 260. 

1501 wurde am Ende des Jahres in Isle de France und Isle de Bourbon zugleich eine 


Feuerkugel gesehen, die platzte. Bory de St. Vincent Reise, Voyage aux 4 Isles, 
deutsch p. 594. 


Passatstaub und Blutregen. 373 


falle höchst auffallend und ihrer Sicherheit, Umsicht und vielfachen Anre- 
gung halber von besonderem Gewicht. Da so oft Feuer- und Steinmeteore 
rothen Staub in ihrer Begleitung hatten — herabdrückten? — so liegt es nahe 
genug, den Schlufs auch hierauf anzuwenden.) 

1802. Rother Hagel war bei Bogota in 2300 Toisen (= 13800 Fufs) 
Höhe, während Hr. Alex. v. Humboldts und Bonplands Anwesenheit 
und nicht fern von ihnen gefallen. Annales de Chemie XIV. p. 42. XXVI. 
p- 120. Nur aus dem Jahre 1194? habe ich noch einen früheren Fall rothen 
Hagels aus Macedonien aufgefunden. 

1803. In der Nacht vom 5. zum 6. März gab es auf den Bergen von 
Tolmezzo im Friaul rothen Schnee, während fast überall von Wien ab über 
ganz Italien und Sicilien rother Regen und Schnee aus einer rothschwarzen 
von Süd-Ost kommenden Wolke fiel. Dabei Blitz, Donner und Hagel bis 
Sieilien. Chladni p. 376. Amoretti Opuse. scelti I. 22. Gilberts 
Annalen 18. p. 332. 

1808 fiel rother Schnee im Veltelin in Krayn u. s. w. nach dem Giornale 
di Fisica 1818. 


1808. Am 16. Mai sah man 2 Stunden lang um Bischofsberg bei Skenninge millionen- 
weise zum Theil Hutkopf grolse aufsteigende Kugeln wie Seifenblasen. Der Sekretär 
Wettermark sah einige der grölsten neben sich niederfallen. Sie glichen farbigen Sei- 
fenblasen. An der Stelle wo sie fielen lag ein dünnes Häutchen wie Spinngewebe. Neue 
Verhandl. d. Akad. d. Wiss. zu Stockholm Bd. XXIX. IV. Ähnliches wiederholte sich 
1818 in Dänemark. 

Eine von mir bei Ostende 1847 beobachtete Erscheinung vermag für solche Phä- 
nomene den Schlüssel zu geben. Wo Nache Küsten sind bilden die auslaufenden Wellen 
einen sehr zähen Schaum, wie Seifenschaum, aber mit oft sehr grolsen Blasen. Ganze 
kleine Berge solchen Schaums bleiben lange stehen und ein lebhafter Wind reilst die 
Blasen mehr oder weniger vereinzelt fort. Hinter einer Sanddüne stehend sah ich in der 
Luft vom Meere her zahllose dunkle Kugeln kommen, die mir so räthselhaft auffielen, dafs 
ich dem Meere näher ging. Einige Schritte schon lösten das Räthsel auf. Gegen die 
Sonne hin erschienen diese Blasen dunkel. Stand ich abgewendet von der Sonne, so sah 
ich sie glänzend weils. Sollten nicht auch die den astronomischen Beobachtern zuweilen 
vorkommenden zahlreichen dunkeln runden Körperchen dergleichen zähe Schaumblasen 
sein, die in geringer Entfernung vom Teleskop vorüberziehen? Fern vom Meere wird 
diese Erscheinung immer sehr selten sein, nahe dabei kann sie häufig sein. Denselben 
Schaum trocknet der Wind am Strande ganz aus ohne ihm seine Form zu nehmen. Er 
enthält auch sehr viele mikroskop. Seethiere mit Sand und formlosem Schleim zusammen- 
gekittet. S. Monatsbericht der Akademie 1847 p. 350. Note. 


376 EHRENBERG: 


Im März wurde die ganze Gegend von Cadore, Belluno und Veltri 
in einer einzigen Nacht bis auf eine Höhe von 20 Centimetern (7 -8”) mit einem 
rosenfarbenen Schnee bedeckt, sowohl vor- als nachher fiel weifser Schnee, 
so dafs der rothe eine Schicht zwischen beiden bildete. Dieselbe Erscheinung 
wurde zu gleicher Zeit auf den Gebirgen vom Veltelin, von Brescia, Krayn 
und Tyrol wahrgenommen. Agardh, aus dem Giornale di Fisica 1818; in 
Nova Acta Leopold. 1824 XII. p. 739. Nees v. Esenbeck hält in Rob. 
Browns botanischen Schriften I. p. 610 dies Phaenomen für einerlei mit 
dem von 1810. 

1809. Im April rother Regen in der Ghiara d’Adda im Venetianischen 
nach Luigi Bossi. Giornale di fisica e chimica T. I. Dee. 2 (1808) p.109. 
Chladni p. 377. 

1810 am 17. Januar fiel auf den Bergen bei Piacenza, besonders auf den 
Centocroce, erst weifser Schnee, dann, nach Blitz und Donner, rother 
Schnee, dann wieder weifser. Chladni 377. Die Nachricht war 1810 
zuerst im Moniteur, dann in der Jenaischen Litteratur-Zeitung— Juni. Gui- 
dotti hat ihn analysirt. 

1810 im October scheiterte das nordamerikanische Schiff Charles an der 
Nebelküste des Cap Blanco. Der Matrose Adams gerieth in Gefangenschaft, 
kam nach Tumbuctu und seine Reiseabentheuer sind im Druck erschienen. 
Robert Adams Narrative of Travels in the interior of Africa London 1816. 
4. Es war am 11. Oct. so dicker Dunst, dafs man kein Land sehen konnte 
und das Schiff, unter Capitain Horton, scheiterte $ Meilen vom Lande bei 
el Gazie, 400 Meilen nördlich vom Senegal. Am völlig flachen Lande sah 
man keinen Baum, noch irgend ein Kraut. Es gab keine Spur von Bergen 
oder Hügeln noch irgend etwas aufser Sand, so weit das Auge reichte. Es 
ist dabei von gewöhnlichem Sande, nicht von rothem Staube die Rede. 

1810 am 23. November 3 Uhr Morgens strandete ein englisches Schiff an 
der Nebelküste zwischen Cap Nun und Bojador. Der Matrose Alexander 
Scot gerieth in 6jährige Gefangenschaft, entkam aber 1816 glücklich nach 
Mogador. William Lawson und Stewart Trail zeichneten in Liverpool 
seine Nachrichten auf, so entstand der Aufsatz im Edinburgh Philosophical 
Journal 1821 mit Anmerkungen des bekannten Geographen Major Rennell 
Account of the captivity of Alexander Scott among the wandering Arabs. 


Passatstaub und Blutregen. 377 


1810. Sir Henry Pottinger beschreibt eine überaus eigenthümliche 
und merkwürdige Gegend in den Wüsten von Beludschistan, wo er am 31. 
März 1810 ankam. Sie ist die einzige auf der ganzen bekannten Erde, welche 
in einer massenhaften Verbindung mit dem Passatstaube, oder dem unter dem 
Jahre 1837 zu erwähnenden Kaschgar-Staube Oentral-Asiens gedacht wer- 
den kann. In der Richtung über Regan, zwischen Sarawan und Kharan 
durchwanderte Pottinger 60 Meilen lang eine Wüste von rothem so feinen 
Sande, dafs er in seinen Theilen nicht fühlbar war. Die Oberfläche war 
ganz eigenthümlich durch Sandwellen von 10 bis 20 Fufs Höhe gefurcht, die 
auf einer Seite senkrecht, auf der dem herrschenden Nordwestwinde zuge- 
kehrten sanft ansteigend waren. Die schroffe Seite erschien wie ein Wall 
von neuen Ziegelsteinen. Zwischen den Wellen konnte man in der Tiefe 
gehen, wie auf einem engen Fufssteige. In der heifsen Mittagszeit erhob 
sich der Staub scheinbar von selbst, ohne Wind, zu einem Nebel. Ein Tor- 
nado, furchtbarer Wirbelwind, brachte am 3. April völlige Dunkelheit durch 
Staubwolken und Regen mit unerhört grofsen Tropfen. Diese, Julo genann- 
ten, Tarnodos erscheinen häufig im Mai bis September und sind für Lebendes 
oft tödtlich. Auch bis 150 Fufs tiefe Brunnen gaben in jenen Gegenden 
noch brakisches Wasser und die Oberfläche überall hat und erlaubt gar keine 
Vegetation. — Andere Wüstenstriche desselben Landes zeigten harten schwar- 
zen Kiesboden, keinen Sand, keinen Busch, keine Unebenheit. 

So leicht man sich auch geneigt fühlen mag, den rothen Staub der 
Atmosphäre aus einer solchen Gegend abzuleiten, so schwer bleibt die Erklä- 
rung seiner organischen Mischung, welche in den dortigen lebensfeindlichen 
wasserlosen Verhältnissen, wenn sie überhaupt existiren sollte, nicht ur- 
sprünglich, nur durch ein ihrem eigenen Leben feindliches Verhältnifs be- 
dingt und abgelagert sein kann. — Pottinger Travels in Beludshistan. 

1813. In Calabrien und Abruzzo sah man am 13. und 14. März eine 
rothe Wolke von Süd-Ost kommen, welche Alles verhüllte, wobei der Him- 
mel die Farbe des rothglühenden Eisens annahm. Hierauf ward es so finster, 
dafs man um 4 Uhr Nachmittags Licht anzünden mufste. Die Leute in der 


4812 am 25. März wurde in Venzuela weilse Erde vulkanisch ausgeworfen. Alex v. 
Humboldt. Reise V. 14. (II. p- 17.) 

1512 fiel auf ein Packetboot, das nach Brasilien bestimmt war, Staub, 1000 Meilen vom 
Lande. Edinburgh. Philos. Journal Vol. VII. p. 404. Ist nicht näher bezeichnet. 


Phys. Kl. 1847. Bbb 


378 EHrRENBERG: 


Meinung das Ende der Welt sei da, eilten in die Kirche um zu beten. Es 
fiel rother Regen und Staub nicht nur dort, sondern auch in anderen Ge- 
genden Italiens, so wie auch in Toscana und in Friaul rother Schnee fiel. 
An mehreren Orten hörte man dabei ein Brausen, wie von Meereswellen, 
so dafs man in etlichen Meilen Entfernung vom Meere wirklich dessen Brau- 
sen zu hören glaubte. In einigen Gegenden bemerkte man auch Blitz und 
Donner (ohne Zweifel eine damit verwechselte Feuererscheinung mit donner- 
artigem Getöse bemerkt Chladni) und in der Gegend von Cutro in Cala- 
brien zwischen Geraze und Cantazaro fielen Steine, deren einen man fand. 

Sementini’s chemische Analyse ist bereits pag. 315 mitgetheilt. Er 
nennt den Staub zimmtfarben, von erdigem, wenig merklichen Geschmack 
und fettig anzufühlen. Es fanden sich darin kleine harte dem Pyroxen (Augit) 
ähnliche Körner, die er absonderte. Durch Glühen wurde der rothe Staub 
erst braun, dann schwarz, dann roth, nach den verschiedenen Oxydations- 
graden des Eisens. Nach dem Glühen bemerkte er darin kleine gelbe glän- 
zende glimmerartige Blättichen (wie im Meteorstaube bei Piacenza vom 17. 
Januar 1810). — Sementini glaubt, dafs die ziegelartige Erde, welche 
Horner auf der vulkanischen Insel Australiens Nukahiwa gefunden hat, 
etwas Ähnliches und dafs der Staub etwas von Meteorsteinen ganz verschie- 
denes sei. — Er meint der Staub sei vom Winde aus Afrika gebracht. 

Nach Linussio fiel am 13. März 2-3 Finger dick röthlicher Schnee 
Nachts zum 14ten auf den Bergen bei Tolmezzo in Friaul, der beim Schmel- 
zen einen thonartigen Bodensatz gab. 

Nach Fabroni fiel bei Arezzo in Toscana, als der Boden schon ganz 
mit Schnee bedeckt war, eine neue Quantität rothen und rothgelben Schnees 
von 9 Uhr Abends bis den folgenden Tag, am stärksten des Morgens um 
3 Uhr. In der Nacht sah man Blitze (wohl Feuererscheinung? Chl.). Es 
war starker Nordwind und in den Zwischenräumen hörte man immerfort ein 
dumpfes gleichförmiges Getöse wie einen Meeressturm in der Ferne, (daher 
meint Chladni sei das Brausen in Calabrien auch nicht vom Meere, sondern 
vom Meteore gewesen). Einige wollen gelbrothe Wolken gesehen haben. 
Bei dem stärksten (Schnee-) Fall hörte man 2-3 Donnerschläge (Explosio- 
nen Chl.). Der Bodensatz des Schnees ist schon p. 315 beschrieben. Thon- 
erde, Kalkerde, Eisen, Braunstein und Kieselerde und eine verkohlbare 
geringe organische Substanz schienen nach Fabroni die Bestandtheile zu 


Passatstaub und Blutregen. 379 
sein. Das scheinbar Organische hält Chladni für Schwefel und Kohlenstoff 


und das Ganze scheint ihm eine kleine chaotische lockere kometenartige 
Himmelswolke oder Weltwolke gewesen zu sein, die als Meteor auf die Erde 
niederfiel(!). Chladni F. M. 377-380. 

1814. Am 3. und 4. Juli fiel schwarzer Staub bei Canada an der Mün- 
dung des Lorenzflusses in der Bai der 7 Inseln bei der Insel Anticosti 49° 
49' Breite, 65° 48’ Länge. Am 3. Juli Abends ward eine solche Finsternifs, 
dafs man vom Verdeck des Schiffes die Masten und das Tauwerk kaum 
sehen konnte. Um 9 Uhr fiel eine Art von Staub oder Asche und das dauerte 
die ganze Nacht. Gegen Morgen ward die ganze Atmosphäre roth und feurig 
auf eine wundervolle Art; der damals volle Mond war nicht sichtbar. Um 
74 Uhr mufste man in der Cajüte Licht brennen; die Flamme desselben 
erschien bläulich. Noch um 9 Uhr konnte man die Zeit einer Taschenuhr 
kaum erkennen. Es war dabei völlige Windstille. Gegen Mittag erst nahm 
die Atmosphäre ihre natürliche Eigenschaft an. Die Sonne war wieder sicht- 
bar, aber roth und feurig, wie sie durch ein gefärbtes Glas erscheint und nach 
und nach mehr gelb. Die See war mit Asche bedeckt und ein Becken mit 
Wasser, das man in die Höhe gezogen hatte, war fast so schwarz wie Tinte, 
wegen der grofsen Menge gefallener Asche. Diese war nicht sandig, sondern 
leicht wie Holzasche, aber schwärzer. Der Geruch verursachte Kopfschmer- 
zen. Den 4. Juli fiel die Asche in etwas geringerer Menge; um 34 Uhr 
Nachmittags konnte man kaum die Stunde einer Uhr erkennen. Die Asche, 
wovon etwas mit nach England genommen worden, hat keine Ähnlichkeit 
mit der vulkanischen von St. Vincent. Die auf der Oberfläche der See ge- 
sammelte Asche sieht getrocknet wie Schuhschwärze aus. Aus Tillochs 
philos. Magazin Vol. 44. p. 91. Juli 1814 und Juli 1816 p. 73. in Chladni 
F.M.p. 380. Chladni meint, dafs die Erscheinung der von 473 ähnlich sei. 

1814. Vom 27. zum 28. October in der Nacht fiel im Thale von Oneglia 
bei Genua ein Regen von rother Erde. Sie hatte eine Farbe wie Ziegelmehl, 
war weich, fein, behielt das Wasser lange in sich und schien thonartig zu 
sein. Es waren auch weilse und schwarze Körnchen darunter, erstere waren 
schimmernd und brausten mit Salpetersäure. Lavagna, welcher im Gior- 
nale di fisica e chimica Dec. 2. T. 1. p- 32 davon Nachricht giebt, sagt, dafs 
es nicht von Insecten herrühren könne, er ist aber nicht abgeneigt es durch 
einen Wirbelwind aus Afrika herüberführen zu lassen, (welches zwar eine 


Bbb2 


380 EHRENBERG: 


der leichtesten aber auch eine der unnatürlichsten Erklärungsarten ist. Chl.) 
Er bemerkt auch, dafs vor ungefähr 60 Jahren (1754) sich etwas Ähnliches 
ereignet habe. Chladni p. 381. — Es ist wohl 1744 gemeint. 

1815. Im August scheiterte die amerikanische Brig Commerce an der 
neblichen Westküste von Afrika. Der Supercargo James Riley kam in 
Gefangenschaft und ward später losgekauft. Er beschrieb in Mogador seine 
Reise nach Tumbuktu. Lofs of the american Brig Commerce wrecket on 
the Western Coast of Africa in the Month of August 1815. 

1816 fiel am 15. April auf dem Berge Tonale und noch an anderen Orten 
im nördlichen Italien aus rothen Wolken ziegelrother Schnee. Der Boden- 
satz gab ein erdiges Pulver sehr leicht und fein, etwas fettig anzufühlen, von 
dunkelgrauer Farbe (wahrscheinlich nach längerem Stehen), thonigem Ge- 
ruch und etwas salzigem zusammenziehenden Geschmack. Es ward nicht 
vom Magnet angezogen. In 26 Gran fanden sich: 

Kieselerde 8, Eisen 5, Alaunerde 3, Kalkerde 1, Kohlensäure +4, 

Schwefel +, brenzliches Oel 2, Kohlenstoff 2, Wasser 2, Verlust 24. 
Es wird aus Afrika abgeleitet. Aus dem Giornale di fisica e chimica Dee. 2. 
t. 1. sesto bimestre 1818 p. 473 in Chladni F.M. p. 382. 

1816 sah Capit. Tuckey nachdem er am 2. April Madeira passirt hatte 
(30° N.B.) die Atmosphäre bei NNO und NO Passat mehr trübe, Nachts 
aber schien kein Stern zu fehlen. Zwischen den Capverdischen Inseln und 
Afrika im 22° N.B. 19° 9’ L. war das Meer sehr trübe, man fand aber 120 
Faden Tiefe. Es war 32 Leagues von Cape Cowaira. Die Atmosphäre war 
aufserordentlich trübe. Da dieses trübe Meerwasser dort constant zu sein 
scheine und bei Capo blanco viele Schiffe scheitern, so räth er nicht auf der 
Ostseite der Capverden zu fahren. Tuckey Narrative of an expedition to 
the River Zaire (Congo) p. 10. 11. Fehlte die trübe Atmosphäre zur Nacht, 
oder sah man die Sterne nur besser durch den Staub als durch Wasserdunst 
gleicher Stärke? Mir ist das letztere wahrscheinlich. Vergl. 1802. 


1814. Am 5. November war in Doab in Ostindien ein grolser Steinfall, bei welchem 
von vielem Staube gleichzeitig die Rede ist. S. Chladni F. M. p. 381. 306. 

1815 zu Ende September ist ein grofser Staubniederfall im südlichen indischen Meere 
in 13° 15’ S. B. und 34° 0’ Länge vorkommen. Nach 2 Tage Fahrt sah man die See 
noch bedeckt in 10° 9’ S.B. Er wurde für ausgebrannte vulkanische Asche gehalten. 
Chladni F. M. p. 382. 


Passatstaub und Blutregen. 381 


1817 fand der französische Admiral Baron Roussin grofse Schwierigkeit 
bei Aufnahme der Küste von N.W. Afrika durch den dicken Nebel oder 
Staub, der fast das ganze Jahr hindurch, wie er sagt, an diesen Küsten 
herrscht. Er sei durch den Sand hervorgebracht, welchen die Winde aus 
den Wüsten herbeiführen. Wenn der Wind parallel mit der Küste wehe, 
sei die Trübung nur schmal, wenn aber der Harmattan eintrete, im Januar, 
Februar, März und oft auch im April, dann komme der Sand direct aus der 
Wüste, gehe sehr hoch, bilde Wirbelstürme und eine nebliche dicke Atmo- 
sphäre. Man kann dann nicht eine Meile weit sehen, keinen Stern beob- 
achten bis 30° über dem Horizont. (Wenn der Landwind den Staub erregt 
warum ist die Atmosphäre denn doch trübe, wenn der Wind der Küste pa- 
rallel weht? Sonderbar, dafs die Seefahrer daran keinen Anstofs genommen 
und nicht andere Erklärungen versucht haben!) Nautical Magazin 1838 
p- 825. — Bei solchem Staube dennoch Sterne! 

Auch die rothe Farbe des fallenden Staubes und die weifse Farbe des 
Wüstensandes ist offenbar als widersprechend den Seefahrern bekannt und 
wohl deshalb ist zuweilen, wie 1838 im Nautical Magazin, die vulkanische 
Natur des Staubes vermuthet und vorgezogen werden. 

1819 fand im April am Euphrat nach unerhörtem Regen und Hitze in einer 
Nacht eine Erhebung des Wasserstandes um 74 Fufs statt und der Flufs hatte 


1818. Am 17. Juli sah man in Nord-Amerika eine grolse Feuerkugel und zwischen 
Swendborg und Odensee auf Fühnen sah man Abends gegen 7 Uhr, gleich einem Regen, 
eine unzählige Menge grolser und kleiner Kugeln, wie Seifenblasen, aus der Luft fallen, 
die, so wie sie durch dıe Sonnenstrahlen fuhren, alle Farben des Regenbogens annahmen. 
Beim Auffangen lösten sie sich in einen Dampf auf und liefsen gelbe Flecken und einen 
schweflichen Geruch zurück. Man hat es ebenda schon früher auch bemerkt. — Schnur- 
rer Chronik der Seuchen II. p. 549. Vergl. 1808. 

1818. Der von Chladni unter diesem Jahre erwähnte rothe Schnee-Staub der Alpe 
Aceindaz bei Bex, welchen Thomas und Charpentier gesammelt, (sammt dem rothen Schnee 
der Baffıns Bay) gehört, meinen directen Untersuchungen nach, zu Sphaerella nivalis, nicht 
zum Meteorstaube. 

1819 hatte der zu Blankenburg, Dixmünde und Schwenningen in Flandern Nachmittags 
25 Uhr fallende Regen eine zeitlang eine ganz dunkelrothe Farbe, so dals am folgenden 
Tage noch das Wasser in den Cisternen schwach rosenroth gefärbt sich zeigte. Bei der 
Analyse fand sich diese Färbung angeblich von kohlensaurem Kobaltoxyd entstanden und 
solches Regenwasser konnte wirklich als sympathetische Tinte gebraucht werden, da auch 
in den Cisternen die Kanne noch 14 Gran metallischen Kobalt enthielt. 


3823 EHrRENBERG: 


eine so eigenthümliche rothe Farbe, dafs das Volk im höchsten Grade er- 
schreckt und das Ende der Welt befürchtete. Schnurrer Chronik der Seu- 
chen I. p.22. Ebenda II. p. 563 wird anstatt des Euphrats der Tigris ge- 
nannt. — Es ist wohl ohne Zweifel ein Staubmeteor dabei betheiligt gewesen. 

1821 bemerkte am 29. März der Cadet James Alexander einen röth- 
lichen Staub der Segel in grofser Menge in 11° 3’ N.B. 22°5’ W.L. bei 
300 Seemeilen Entfernung von Afrika. Edinb. Philos. Journal VII. 1822. 
p- 404. Darwin 1845. p. 50. 

1821 am 3. Mai war rother Regen in Giefsen bei Windstille, Morgens 
gegen 9 Uhr. In dem rothbraunen flockigen Bodensatze fand Prof. Zim- 
mermann: Kieselerde, Eisenoxyd, Chromsäure, Kalkerde, Kohlenstoff, 
flüchtige Theile, Talkerde. Zimmermann in Karstens Archiv I. 3. p. 267. 
In sehr vielen Regen-Analysen fand Prof. Z. Eisen, Mangan, Kalk, Talk, 
Salzsäure, organische Stoffe, Pyrrhin (Ammonium), Nickel. — Diese Ana- 
Iysen sind interessant wegen des nun neuerlich entdeckten überaus häufigen 
Gehaltes aller atmosph. Luft an mikroskopischen Thieren. 1848. 

1822 waren am 22. Januar in 23° N.B. 21° 20’ W.L. 276 Meilen von 
Afrika alle Segel eines Schiffes mit röthlichem Staube bedeckt, der in Kü- 
gelchen reihenweis am Segelwerk hing. Annales de Chimie Vol. 30. p. 430. 
Vergl. 1830. 

1522 hatte das Schiff Kingston, von Bristol nach Jamaica bestimmt, als es 
bei Fogo (Capverden) vorüberfuhr, die Segel mit einem braunen Staube 


4819. Ein mehr schwarz gefärbter Regen fiel am 9. November bei Montreal in Canada 
während einer nachtgleichen Verdunkelung der Atmosphäre und schien Ruls zu enthalten. 
Diesen wollte man von einigen grofsen Waldbränden südlich von Ohio ableiten. Schnur- 
rer I. c. p. 576. Scheint wohl zu den in der Luft verrotteten Passatstaub-Meteoren 
zu gehören. Vergl. 1814. 

1819 am 16. Nov. fiel bei Broughton in Nord-Amerika eine grolse Menge schwarzen 
Pulvers auf den Schnee, mit welchem die Erde bedeckt war. Ebenda. — Gehört vielleicht 
zu Einem Meteor mit Vorigem. 

1822. Carl Ritter in seiner klassischen aus der reichsten Litteratur entnommenen 
Übersicht von Afrika sagt: Die Küste von 32° bis 20° N.B. (schon bei Mogador fängt 
sie an) also eine Strecke von wenigstens 150 geog. Meilen südwärts bis Capo blanco 
ist hier zugleich Wüstenrand mit aulserordentlich grolsen Dünen (immense hills) losen Flug- 
sandes bedeckt, die aus dem inneren Lande in verschiedenen Formen von den Winden 
viele Meilen weit seewärts getrieben werden und das Meer wie die Atmosphäre mit 
Sandtheilen erfüllen. 


Passatstaub und Blutregen. 383 


bedeckt, der dem auf dem Roxburgh 1839 beobachteten ähnlich war, und 
nach Schwefel geschmeckt haben soll. Berghaus Almanach 1841 p. 179. — 
Ein Schwefelgeruch wäre zwar ein wichtiger Charakter, aber ein Schwefel- 
geschmack ist es nicht. Auch ist nicht bekannt, dafs der Vulkan von Fuego 
damals in Thätigkeit war. Offenbar war es Passatstaub. 


Der Meeresgrund ist hier Sandbank, die weit in den Ocean hineinreicht. Vom 
trocknen Strande geht der Araber halbe Stunden weit in das Meer hinein nach gestran- 
deten Schiffsgütern, ohne dals ihm das Meer über das Knie reicht. Diese Sandbank 
erstreckt sich in 1-2 Stunden Breite oceanwärts, der Küste entlang fast im Niveau des 
Meeres (von Wadi Nun oder dem Küstenflusse am Cap Nun bis Cap Bojador). 

Dies ist die furchtbare Seeküste, auf welcher jährlich durch die kreisende Strömung 
des atlantischen Oceans und durch den Wogenschlag gegen die Küste getriebene Schiffe 
scheitern, denen selbst die mit Sandtheilchen erfüllte Luft, die weit hinaus in den Ocean 
wie ein weilser Nebel (hazy weather) reicht, die Annäherung der Gefahr zu stranden 
verbirgt. 

p- 1015. Die beiden hohen Sanddünen (Mammelles) am Capo Verde sind 600 Fuls 
hoch, Landmarken der Schiffer. (Durand Voyage au Senegal I. p. 61.) 

Das Areal der Wüste im Ganzen beträgt 27000 geogr. OMeilen, mit Abzug der 
Oasen 50000 IMeilen. 

p- 1023. Man bedenke, dafs jährlich während des Aequinoctiums die furchtbarsten 
Sandstürme wüthen und dals alle vorherrschenden Winde in diesem tropischen Flachlande 
von Ost nach West als Land-Passat ziehen, oder wie Rennell will als Nordost-Monsoon 
während der trockenen Jahreszeit, in Gegensatz als Südost-Monsoons während der weit 
kürzeren Regenzeit (August bis November). 

Das Fortrücken der Sahara gegen den westlichen atlantischen Ocean und das fort 
und fort westlich vorschreitende Wachsthum Afrikas wird p. 1016 erörtert. — 

(Für einen Land-Passat in Afrika sprechende direete sichere Beobachtungen fehlen 
meines Wissens und auch eine den Monsoons vergleichbare Dauer und Regelmälsigkeit 
ist nicht von Reisenden nachgewiesen. Meine eigenen Erfahrungen habe ich 1827 Abh. 
d. Akad. p. 86 in der Art mitgetheilt, dals sich aus den oft 100 Fuls hohen südlichen 
Sand-Anhängen der Felsen und Berge von Libyen bis Nubien fort, eine Regelmälsigkeit 
des vorherrschenden Nordwindes mit Nothwendigkeit abnehmen lasse, welche dem Ost- 
und West-Land-Passat oder einem Monsoon völlig entgegen ist. Der unregelmäfsige 
Chamsin oder 50 Tage dauernde Südwind hat auf die Sand-Anhänge der Berge nur vor- 
übergehenden geringen, nie einen dieselben abändernden Einfluls und kann nimmermehr 
Passat oder Monsoon genannt werden. — Die Dünen sind weils, der Luftstaub ist roth.) 

1822 am 16. April sah der damalige englische General-Consul Salt in Ober- Ägypten 
einen Wasserstrom, der Lehmhügel mit sich zum Nil führte und diesen färbte. Aus 
einem Briefe des Dr. Ricci an den General v. Minutoli in der Augsburger Allgem. 
Zeitung No. 144. 3. September 1822. Schnurrer Chronik d. S. I. p. 22. Ob vorher 
ein staubführender Regen-Orkan gewesen ist unbekannt. Wasserströme in Ober-Ägypten 
sind ohne Orkan nicht leicht annehmbar. Die Lehmfärbung mag meteorisch gewesen sein. 


384 EHRENBERG: 


1825 am 19. Januar war das Schiff Olyde zwischen dem Gambia und Cap 
Verd bei 200 Lieues Entfernung vom Lande mit feinem braunen Sand be- 
deckt. Der Wind hatte zwischen NO. und O. stark geweht. Annales de 
Chimie Vol. 30. p. 430. Auch der von mir analysirte Staub von 1803 wird 
Sand (Sable) genannt. 

1826. Herr Horsburg meldet, dafs die staubige Atmosphäre bei den 
Capverdischen Inseln landwärts eine bei NO.-Wind stets vorhandene 
und fortdauernde Erscheinung sei, in einem Werke (Directory for 
sailing to and from the East Indies), welches der ganzen englischen Marine 
als Vorschrift dienen soll. Er hält übrigens den Staub für afrikanisch (Dust 
or dry vapour driven to seaward by the NE. winds from the hot sandy desert 
p:44.) Vergl.u1817% 

1830 fiel am 15. Mai rother Staub mit Scirocco auf das Schiff Revenge 
bei Malta. Der Proviantmeister (Purser) Herr Didham sammelte davon. 
Die Atmosphäre war orangegelb und dick. Ein Platzregen brachte den 
Staub mit sich. Der Wind war OSO. Monatsber. d. Akad. 1845. p. 378. 
Dieser Fall ist von mir mikroskopisch analysirt. Vergl. 1847. Monatsber. 
p- 304 Tabelle und hier p. 275. 

1830 am 27. October fiel ein rother Staub auf das Preufs. Seehandlungs- 
Schiff Prinzefs Luise auf der Reise weit westlich von Afrika und den Oap- 
verden in 11° 11’ N.B. 24° 24’ W.L. Dieser rothe Meteorstaub ist vom 
Dr. Meyen, welcher sich als Arzt und Naturforscher auf dem Schiffe be- 
fand, ausführlich beschrieben worden. Er sagt: „Am Morgen fanden wir, 
daf swährend der Nacht das ganze Tauwerk, so wie einzelne Segel, besonders 
nach der Windseite zu, bräunlich roth gefärbt waren. Wir sahen sehr bald, 
dafs diese Färbung durch ein sehr feines Pulver hervorgebracht wurde, das 


4825. Die von mir 1825 beobachtete Färbung des rothen Meeres ist p. 327 erläutert. 

1825 behauptete der Prior Biselx im St. Bernhardt-Kloster, dafs noch Niemand habe 
Schnee roth herabfallen gesehen. Nees v. Esenbeck in Rob. Brow.ns bot. Schrift T. p. 600. 

4826. Ist in Alex. v. Humboldts Ansichten der Natur eine sehr merkwürdige 
Stelle über vorherrschenden, durch die aufsteigende warme Luft der Sahara bedingten, 
Westwind bei West-Afrika I. p. 83. (— Der Staub fällt nicht mit diesem Westwinde, son- 
dern mit Ost- und Nordost-Passat.) 

1829 hat Fee in den Anmerkungen zur französischen Ausgabe des Plinius den 
Blutregen durch Insectenauswurf, Blüthenstaub und metallische Theilchen, den rothen 
Schnee durch Vredo erläutert. (Sphaerella nivalıis). 


ce Da 


Passatstaub und Bluiregen. 335 


wir (Dr. Meyen) mit aller Genauigkeit mikroskopisch untersuchten. Es 
bestand aus sehr kleinen unvollkommen runden Bläschen, die aus einer 
ungemein zarten und weichen Substanz gebildet waren, in ihrem Innern 
nichts von besondrer Structur zeigten, sondern wasserhell waren. Sobald 
die Sonne aus dem Nebel hervortrat, verschwand auch die rothe Färbung 
der Segel und des Tauwerks und von dem merkwürdigen Luftgebilde war 
nichts mehr zu finden. Wir nennen diese Pflanze (sagt Dr. Meyen) Aöro- 
phytum tropieum es ist vielleicht die niedrigste aller Algenbildungen.“ — 
„Auffallend ist es, dafs diese rothbraune Färbung des Tauwerks und der 
Segel noch nirgends beschrieben worden ist (allerdings ist sie öfter beschrie- 
ben), da sie, wie es scheint, nicht selten ist, denn Capitain Wendt ver- 
sicherte schon auf seinen früheren Weltumsegelungen diese Erscheinung 
beobachtet zu haben (also in den Jahren 1820-1830). Aus der Luft war 
unser Aörophytum nicht gefallen, denn auf dem Verdeck war keine Spur 
davon zu finden.“ — Am 28. October: „Den ganzen Tag über weht noch 
immer der Ost-Passat und wir geniefsen des schönsten Wetters bei ziemlich 
klarem Himmel.“ 

Die grofse Bestimmtheit dieser Meldung einer genauen Untersuchung 
und die darauf zu basirenden und schon basirten Folgerungen auch der wis- 
senschaftlich so wichtigen Generatio spontanea u. s. w. nöthigen auch hier, 
wie so oft anderwärts, zu erinnern, dafs die Genauigkeit dieses Beobachters 
als zweifelhaft zu bezeichnen ist. 

Die Sache ist offenbar weder neu, wie der Beobachter ausspricht, 
(s. 1822), noch ist sie genau von ihm beobachtet worden. Auch die Witte- 
rungstafeln p. 156, verglichen mit dem Tagebuche der Reise p. 54 und 55 
ergeben eine störende Ungleichheit. Den am Tage nach dem Staubfalle 
wehenden Wind nennt er p. 55 den noch immer wehenden Öst-Passat, in 
den Tabellen heifst er am 28: OÖ. zu N. Das Wetter am 27. Oct. wird in 
den Tabellen sehr schönes Wetter genannt und die Nebel am Morgen „aus 
denen die Sonne hervortrat“ übergeht er in den Tafeln sammt dem Staubfall, 
den er p. 94 doch ein Pulver nennt, ganz, obschon er sonst trübe Luft notirt. 
Ich würde diese Bemerkung unterdrückt haben, wenn nicht bereits ein treff- 
licher Beobachter und Schriftsteller 1845 das Besondere dieser Beobach- 
tung festgehalten hätte und somit durch dieselbe zu einem anderen Urtheile 


verleitet worden wäre. Dazu hat noch besonders die Jahreszeit (October) 
Phys. Kl. 1847. Oce 


386 EHurEnBBEre: 


mitgewirkt, allein die ganz ähnliche Beobachtung im Januar 1822 zeigt deut- 
lich, dafs der Beobachter von 1830, so unglaublich es auch sei, doch den 
gefärbten staubigen Thau als eine Pflanze beschrieben und benannt hat, 
welche aber doch wohl manchen phantastischen Ideen über Entstehung orga- 
nischer Körper wenig Vorschub leisten kann. Es scheint der alt homerische 
Blutthau gewesen zu sein. Vgl. Monatsbr. 1845 p. 56. MeyensReise 1834. 

1833 im Januar rother Staubfall in San Jago der Capverden als trockner 
Nebel von Charles Darwin beobachtet und gesammelt. Die Atmosphäre 
ist von solchem Staube dort gewöhnlich trübe, klare Luft seiten. Die erste 
Nachricht über diesen Fall findet sich in Darwins Reisewerk Journal of 
researches into the Geology and natural history 1840. Sie ist daselbst ge- 
legentlich im Jahre 1932 aufgeführt, gehört aber der specielleren Mitthei- 
lung zufolge, welche Herr Darwin in dem Quarterly Journal der Geologi- 
schen Gesellschaft (Proceedings) vom Juni gegeben, zum 16. Januar 1833, 
von welchem Tage an das Schiff Beagle 3 Wochen lang, bis zum 8. Febr., 
sich dort aufhielt. Es war NO. Wind, wie stets in dieser ganzen Jahreszeit, 
die Atmosphäre war oft sehr trübe, so dafs von dem Staube die Instrumente 
verdarben. Der am Bord des Beagle gesammelte Staub war übrigens fein 
und röthlich braun, brauste nicht mit Säuren und gab vor dem Löthrohre 
eine schwarze oder graue Perle. Dieser Staub ist mit der Bezeichnung San 
Jago V von mir analysirt in dem Monatsber. 1845 p. 304. — hier p. 273. 

Die direct beobachtete 3 wöchentliche Dauer der trüben Atmosphäre 
und des Staubfalls vom rothen Staube ist hier besonders beachtenswerth, 
da allgemeine Bezeichnungen langer Dauer keinen solchen wissenschaftlichen 
Werth haben. 

1833 im Februar rother Staubfall in San Jago. S. das Vorige. 

1534. Tito Omboni, Gouvernements-Arzt in Angola, welcher 1834 
auf der portugiesischen Fregatte il Prineipe Reale war, die den neuen Gou- 
verneur nach Angola brachte, sah am Sten Tage nachdem das Schiff St. 
Helena passirt hatte, im Laufe gegen Guinea hin das Meerwasser trübe und 
erdig ehe noch das Land sichtbar wurde p. 30. Im November 1834 fuhr 
T. Omboni von Villa da Praja auf San Jago nach Isola da Fogo (p. 30). 


1833 im November grolser Meteorsteinfall in Cantahar in Indien bei dichtem 3 Tage 
dauernden Nebel. L’Institut 1834 p. 365. 


Passatstaub und Blutregen. 387 


„Diese und die übrigen Inseln waren in dicken Nebel eingehüllt, ohne dafs 
man Feuchtigkeit bemerkte. Unterm September schreibt er von der (afric.) 
Insel St. Thomas „die Atmosphäre ist selten klar auf dieser Insel und zuweilen 
ist die Insel so von Nebel eingehüllt, dafs man sie gar nicht sieht“ (p. 238). 
Schon 80 Jahre vor der Entdeckung der Insel (1554) habe ein portugiesischer 
Pilot aus Conde, die oft mit Blitz und Donner, den man 40-50 Meilen weit 
hört, begleiteten immerwährenden Nebel, die er von der Sierra Leona ab- 
leitet, angezeigt (p. 258). Das vorherrschende Erdreich in St. Thomas sei 
Thon (l’Argilla) (p. 250). Er sah dann wieder (am 30. November) die Cap- 
verdischen Inseln von fern in Nebel gehüllt. T. Omboni Viaggi nell’ Africa 
occidentale. 1847. 

1834 wurde am 10. März bei SO. Wind im atlantischen Meere ein rother 
Staubfall auf dem englischen Schiffe Spey beobachtet. Der Lieut. James 
sammelte 150 Fufs über dem Verdeck auf den Raaen davon und liefs es auf 
Löschpapier trocknen. Eine von Herrn Darwin an mich gesandte Probe 
ist analysirt in den Monatsberichten 1848 p. 64. 85 mit der Bezeichnung IV. 
1834. Vergl. 1847 p. 304 Tabelle. — S. vorn p. 273. 

1834 wurde am 15. Mai in der Palmas-Bay bei Sardinien von Herrn 
Didham (Purser des Schiffes Revenge) ein Scirocco-Staub beobachtet aber 
nicht gesammelt, welcher der Erscheinung von 1830 bei Malta ganz gleich 
war. Monatsber. d. Akad. 1845 p. 378. 

1836 im April sah Herr Burnett bei West-Afrika zwischen 4° und 8° 
N.B. eine sehr trübe Atmosphäre und einen sich ablagernden rothen Staub 
nach Nautical Magazin 1837 p. 291. (Darwin Quarterly Journal Procee- 
dings of Geol. soc. 1845 p. 30.) 

1837 im Februar beobachtete Herr Burnett 4 Tage lang rothen Staub- 
fall in 4°20’N. B. 23° 20’ W.L. bis 8° N.B. 27°20’ W.L. mit Erstreckung 
auf 300 Meilen bei NO. Passat (the regular NE. Trades). Erst war SE. 
Wind, der durch ESE. inNE. überging. Der Staub fiel, als der Wind 
NE. (N.Ost) wurde. Segelwerk und Masten wurden mit dem rothen Staube 
bedeckt, der wie Ziegelmehl war (dust resembling that from red bricks), 
ähnlich dem Strafsen-Staube von Calcutta. (Es ist wohl Madras gemeint?). 
Die neuen Segel hatten mehr als die alten (weil sie rauher waren). Die At- 
mosphäre war sehr trübe. Das nächste Land, West-Afrika, war 600 Meilen 
entfernt. Nautical Magazin 1837 p. 291. (Darwin. c. p. 30). 

Cce2 


338 EHrEnNnBERG: 


1837. Sylvestre de Sacy hat in der Übersetzung von Abdellatifs 
Beschreibung Aegyptens (p. 3) zwei Sprüchwörter der Araber zugänglich 
gemacht, welche hierher zu gehören scheinen. Abdellatif, der gelehrte 
arabische Lehrer und Schriftsteller, starb 1231 zu Bagdad. Er schreibt: 
„Die Araber sagen: je stärker die Winde, desto fruchtbarer die 
Saat. Der Grund davon ist, weil die Winde eine fremde fruchtbare Erde 
(terre vegetale) zuführen. Oder sie sagen auch: Viele Stürme, reiche 
Erndte.” 

1837. Herr Alexander Burnes, der Reisende in Cabul, sagt in seiner 
Beschreibung, p. 223, das Clima in Cashgar sei sehr trocken, selten Regen 
der Boden salzig und die Leute behaupten, dafs die gute Erndte von rothen 
Staubwolken abhängig sei, welche in diesem "Theil Asiens beständig fallen. 
Die fremde Erde dämpfe das Salz des Bodens. „Die rothen Staubwolken 
in Turkistan, fügt Burnes hinzu, sind fürchterlich, aber ich habe nicht ge- 
hört, dafs sie solche Ausdehnung haben, wie in jener Nachricht behauptet 
wird und das Factum verlangt Bestätigung.“ Sir A. Burnes Travels in 
Cabool 1836-38. Its productions, it is said, depends upon the clouds ofred 
dust, which always fell, or are blown in this part of Asia. — The clouds of 
dust in Turkistan are tremendous, but — (!). 


(‘) In Herrn Ritters Asien Band V. p. 380 und 430 ist jene Gegend aus ver- 
schiedenen Quellen wissenschaftlich geschildert. Es heilst da: „sehr verrufen ist das Land 
der Wüste in Osten und Südosten von Pidschan. Dort sagt man sei der Tummelplatz 
gewaltiger Stürme. — Jeder der Winde, der sich dort erhebt, kommt aus Nordwest 
(also vom hohen Bogdo Oola?). Erst giebt es ein Getöse, wie ein Erdbeben, plötzlich 
hört dies auf und der Wind kommt an. Er reilst die Dächer von den Häusern, wirbelt 
grolse Steine in der Luft herum. — Im Frühling und Sommer weht er sehr häufig, im 
Herbst und Winter äulserst selten. — So oft man bei Anbruch der Morgenröthe, sagt 
der chinesische Beobachter (Chines. Reichsgeographie nach Neumanns Manuscript), die 
nördlichen und südlichen Berge ganz hell und ohne Staub (Nebel) sieht, giebt es an die- 
sem Tage keinen Wind, wenn aber ein schwärzlicher (nicht rother?) Nebel sich weit 
verbreitet, so dals man beide Berge nicht sehen kann, so giebt es an diesem Tage ohne 
Zweifel einen solchen Orkan und man darf sich nicht auf die Reise wagen. Auf der das 
Siyn-wen-kian-lo begleitenden Landcharte ist diese Stelle durch das Zeichen „‚Fung‘“ d. 
i. Wind angedeutet. — Schon 1254 erfuhr der Mönch Rubruquis die dortigen Stürme. 
— Die Gegend um Scha-ma am Lop-nor ist berüchtigt wegen der Stürme. Man spricht 
dort oft vom Schabernack der Bergkobolde, die den Menschen berücken. 

Möge die hier gegebene Zusammenstellung Reisende der nächsten Zeit anregen, 


Passatstaub und Blutregen. 389 


1838 am 7. 8. und 9. März beobachtete und sammelte Lieut. James auf 
dem Packetschiffe Spey wieder rothen Staub in 21° 40’ bis 17° 43’ NB. 
und 22° 14’ bis 25° 54’WL. in 380, 356 und 380 Meilen Entfernung von 
Afrika. Der Wind kam am 7ten von Afrika und war ein mäfsiger frischer 
SO. Die Erscheinung war wie ein dicker trockner Nebel (like a dense fog). 
Mit einem Schwamm wurde der Staub vom oberen Schiffsdeck aufgenom- 
men und in reinem Süfswasser ausgedrückt, dann durch Löschpapier filtrirt. 
— Am Sten war das Schiff in 19° 57’ Lat. und 24° 5’ Long. Der Staub 
wurde mit dem Schwamm von dem Bramsegel und den Bram-Raaen, in 140 
Fufs Höhe vom Deck, in rein Süfswasser aufgenommen, durch Löschpapier 
filtrirt und in der Sonne getrocknet. Es war 356 Meilen von Afrika. Der 
Wind war ein günstiger SO. Wind. — Am 9ten war das Schiff in 17° 43' 
NB. und 25° 54’WL. Der Staub kam von Afrika mit mäfsigem frischen 
SO. Wind. Entfernung von der Küste 380 Meilen. Er wurde ebenfalls 
mit dem Schwamme vom obersten Bramsegel eingesammelt. — Diese 3 Pro- 
ben sind durch die Herren Lyellund Charles Darwin an mich gelangt 
und 1845 von mir mikroskopisch analysirt worden mit den Bezeichnungen 
IA. IB. IH. II. No.]1. ist vom 9. März, No. II. vom 7., No. III. vom 8. 
S. d. Monatsbericht 1844 Mai, 1845 p. 64. 85. Die 1846 p. 205 ebenda 
abgedruckte chemische Analyse des Herrn Gibbs bezieht sich auf IB. IA. 
und IB. unterscheiden sich dadurch, dafs IA. eine kleine Probe war, die 
Herr Darwin 1844 zur Prüfung auf vulkanische Charactere an mich sandte, 
von demselben Päckchen, das er mir 1845 ganz übersandt hat. S. ob. p.273. 

1838 äufsert der Herausgeber des Nautical Magazin p. 824, dafs der Sand- 
Staub im Meere bei West-Afrika entweder von den feinen losen Sandtheil- 
chen der grofsen Sahara in Afrika komme, oder von den thätigen Vulkanen 
einer der Capverdischen Inseln stamme. In Rücksicht auf die rothe 
Farbe sei das letztere wahrscheinlicher. Der nächste thätige Vulkan 
sei der von Fuego oder der St. Philipps-Insel der Capverden. Die sehr 
flache Küste von Afrika zwischen 20 und 32° NB. sei eine Wüste voll uner- 
mefslicher lockerer Sandhügel, die vom Winde verändert werden, und in 


die dortigen Erscheinungen mit möglichster Critik zu ordnen und zu verzeichnen, beson- 
ders auch die Farbe und Proben der dort den Boden bildenden und der durch die Stürme 
getragenen Staubarten zur genaueren Vergleichung zu bringen. Giebt es begleitende 
Meteorsteinfälle? 


390 EHureneBEßge: 


die Luft getrieben Staubnebel bilden. Man könne 1 Meile weit in die See 
gehen und komme nur bis ans Knie ins Wasser. Hierdurch und durch die 
starke Strömung nahe der Küste scheitern Schiffe in grofser Entfernung vom 
Lande. So habe der amerikanische Capitain Paddock in 29° NB. (bei 
nebliger Luft) daselbst Schiffbruch gelitten. 

1838 sah Capitain Hayward auf der Brig Garland vom 9-13 Febr. 5 Tage 
lang rothen Staubfall von 10° bis 2°56’NB. und 29° bis 26° WL. bei 450 
Meilen Entfernung am 9. und 880 Meilen am 13. Febr. von den Capverdi- 
schen Inseln als nächstem Lande. Der Wind war am 9. ONOst, am 10. 
NO. bei Ost und an den 3 folgenden Tagen NOst. Nautical Magazin 1839 
p: 364. Ch. Darwin Proceedings Geol. soc. 1845 p. 29. 

1839. Am 14. und 15. Januar fand das preufs. Seehandlungs-Schift 
Prinzefs Luise zwischen 24° 20’ NB. 20° 4% WL. und 23° 55’ NB. 28° 18’ 
WL. gelben Staub in der Luft des atlantischen Meeres bei 165 deutschen 
Meilen westlicher Entfernung vom Lande. Berghaus Almanach 1841. 

1839 am 4. Febr. Mittags war das engl. Schiff Roxbourgh in 14° 31’ NB. 
25° 16 WL. Der Himmel war überzogen, das Wetter mistig und unerträg- 
lich schwül, obgleich das Thermometer nur auf 17° 8’R. stand. Um 3 Uhr 
Nachmittags tratt plötzlich Windstille ein, dann erhob sich ein Luftzug aus 
SW. mit Regen begleitet und die Luft schien mit Staub angefüllt zu sein, 
der die Augen der Passagiere und der Mannschaft affieirte. Mittags den 5. 
Febr. war der Roxbourgh in 12° 36’ NB. 24° 413’WL. Das Thermometer 
stand 17° 8’R. Barometer 30 Zoll, eine Höhe in der die Quecksilbersäule 
seit der Abreise von England beständig geblieben war. Die vulkanische 
Insel Fogo des capverd. Archipels war ungefähr 45 nautische Meilen entfernt 
(es sind wohl Leagues, 135 Meilen, gemeint). Das Wetter heiter und schön. 
Die Segel aber waren mit einem unfühlbaren rötblichbraunen Staube be- 
deckt, von dem Rever. Clarke bemerkt, er habe der Asche geglichen, 
welche der Vesuv bei Eruptionen auswirft und er sei augenscheinlich kein 
aus den afrikanischen Wüsten herübergewehter Sand gewesen. — Rever. 
Clarke war Passagier und berichtete in der geologischen Gesellschaft zu 
London. — Herr Berghaus Almanach 1841 p. 179 fügt hinzu: So bestimmt 
sich Rev. Clarke gegen den Sandstaub ausspricht, so möchte der Bericht- 
erstatter geneigt sein, diesen für das Phänomen in Anspruch zu nehmen, 
denn wäre es vulkanische Asche gewesen, so müfste man doch von einer 


Passatstaub und Blutregen. 391 


gleichzeitigen Eruption des Feuerberges von Fogo gehört haben und das ist 
nicht geschehen. 

Herr Clarke erwähnt noch des braunen Sandes auf dem Schiffe 
Kingston 1822 und anderer Fälle. 

1540 im Mai fiel vier Tage lang (6.-9.) gelber Staub auf das preufs. Schiff 
Prinzefs Luise zwischen 10° 29’ NB. 32° 19’ WL. und 16° 44’ NB. 36° 
37’ WL. Der Abstand vom Lande war 250 bis 290 deutsche Meilen. Herr 
Berghaus vergleicht es mit einem etwa sich ereignenden Staubfalle in Co- 
penhagen oder Riga, der vom Aetna abzuleiten wäre. Diese berichtigte 
Angabe ist aus Berghaus Almanach 1841 p. 177, wo der Auszug aus dem 
Schiffsjournal wörtlich gegeben ist. 


1839 am 27. November sah Cap. Rofs in 8° NB. in der Gegend der variablen Winde 
die Venus am Tage im Zenith beim herrlichsten Sonnenschein. Dabei bemerkte man, dafs 
die höheren Wolken sich dem unteren Winde entgegengesetzt bewegten. (Es waren also 
wohl die dort vermuthlich constanten oberen Staubnebel in scheinbare obere Dunstwol- 
ken (Schaafwolken) vertheilt.) 

Capt. Basil Hall sah dasselbe auf der Spitze des Pic von Teneriffa und Graf 
Strzelecki beim Besteigen des Vulkans von Kirauea in Owaihi, wo er in 4,000 Fufs 
oberhalb des Passats war und einen entgegengesetzten Lufstrom fand mit anderer Wärme 
und anderem Feuchtigkeitsverhältnils. Bei 6,000 Fuls Erhebung fand St. einen Luftstrom 
im rechten Winkel auf beide untere Ströme gerichtet, wieder mit anderer Feuchtigkeit 
und Wärme, aber wärmer als der Zwischenstrom. Jam. Cl. Rofs Voyage in the Sou- 
thern and antaretie Regions Vol. I. 1847 p. 13. 


1839 sah Dr. Grube in Königsberg einen Teich der Hufen daselbst, Mitte Juli, durch 
Euglena sanguinea roth gefärbt. Derselbe hat in einem am 16. October 1840 gehaltenen 
in den Preuls. Provinz. Blättern und besonders abgedruckt erschienenem Vortrage über 
das sogenannte Blutwasser, Blutregen und rothen Schnee die Vermuthung geäulsert, dafs 
es wohl rothe Infusorien in der Atmosphäre geben möge, die den Regen und Schnee 
färben und glaubt, dals Shuttleworihs Beobachtungen der rothen Infusorien im Glet- 
scherschnee dies erweisen. — Rothe Infusorien sind aber im Passatstaube bisher nicht 
vorgekommen, und die Beobachtungen Hrn. Sh. sind, wegen zu schwacher Vergröfserung, 
nicht hinreichend scharf, betreffen auch nur die Begleiter der Sphaerella nivalis. 


1839. Ob der in der vorletzten Woche Aprils zu Montfort und Rille mit einer grolsen 
gelben von Norden kommenden Wolke, bei ziemlich hoher Temperatur, gefallene Gold- 
regen von der Farbe der Corchorus-Blüthe hierher gehört, oder zu dem Schwefelregen 
durch Blüthenstaub ist zweifelhaft. Er liefs gelbe Flecke zurück, die sehr schnell trock- 
neten, und einen feinen sich leicht zerstreuenden Staub zeigten. Die Wolke trieb gegen 
SW. und die Atmosphäre kühlte sich alsbald auffallend ab. Aus dem Courrier de Rouen 
in Perty’s Allgem. Naturgesch. Bd. IV. p. 97. 


392 EHRENBERG: 


1840. Der Reisende Hermann Köhler giebt in einer kleinen Schrift: 
Einige Notizen über Bonny (Niger) Göttingen 1848, Nachricht vom 
trockenen Nebel jener Gegend aus dem Jahre 1840. Am 23. November 
beginnen die Smokes oder trocknen Nebel, deutlicher aber am 2. Decbr. 
Von 120 Beobachtungstagen waren 17 Nebeltage, 5 im October, 2 im No- 
vember, 10 im December. Er sagt p. 98. Gegen Ende Novembers erschei- 
nen zuerst die trocknen Nebel ekringa (engl. the smokes). Sie treten Anfangs 
nur mit Unterbrechungen und vorübergehend auf, blofs am frühen Morgen. 
Von Anfang des Decembers aber werden sie beständiger, kehren häufiger 
wieder und sind von längerer Dauer, weichen aber doch leicht dem Seewinde 
des Nachmittags. Sie bedecken als ein dünner durchsichtiger Schleier Flufs 
(Bonny) und Land, sind bald nur leicht, bald und namentlich über dem Lande 
mehr dicht. Im Zenith scheint oft der blaue Himmel noch schwach durch, 
gegen den Horizont erscheinen die Nebelschichten dichter und dunkelgrau, 
und geben der Sonne das röthliche matte Ansehen des Neumondes. Auf- 
fallend ist die aufserordentliche Trockenheit der Luft. — Auf der See 
herrscht während dieser Nebel Windstille, die mit Tornados abwechselt, 
welche im März und April am häufigsten sind. 

1841 den 19. Februar fiel schlammiger Regen bei Bagnone, Genua und 
Parma auf mehrere TLieues Fläche. Herr Matteucci sandte davon an die 
Pariser Akademie. Bei Parma war er nach Herrn Colla von gelblicher 
Farbe, bitter und metallisch schmeckend. Comptes rendus de l!’Acad. des 
sc. de Paris T. XI. p. 789. Poggendorffs Annalen 53 p. 224. 1841. 

1841 am 29. März fiel ein Schlammregen zu Vernet les eaux in den Ost- 
pyrenäen, welcher dem am 19. Februar bei Genua gefallenen ähnlich war. 
Comptes rendus XII. 789. Poggendorff Annalen 53. p. 224. 

1841. Der Geograph Berghaus sagt in seinem Almanach p. 177: Afrikas 
Westküste zwischen dem Cap Bogador und dem grünen Vorgebirge und 
drüber hinaus ist während der trocknen Jahreszeit, d. i. vom November bis 
Mai, beständig in Nebel gehüllt; diese Nebelschicht, die man früher als das 


1841 den 9. Aug. sah Capt. Rols auf dem Erebus in 33° 40’ SB. 164° 18° WL. bei 
Neuholland, um 8 Uhr 20 M. Abends, ein glänzendes Meteor aus einer schwarzen 
Wolke nahe am südlichen Kreuze kommen, in 10° Erhebung. Es stieg bis zu 25° und 
im Fallen streute es 5 helle Lichter aus. Rofs Antarctic Voy. II. p. 52. — Ist eine 
dieser seltenen Erscheinungen aus dem Süd-Meere. 


Passatstaub und Blutregen. 393 


Land selbst erblickt und ein sichres Zeichen von der Nähe desselben ist, 
besteht aus weiter nichts als Staub und Sand, der wegen seiner aufserordent- 
lichen Feinheit vom geringsten Luftzuge in die Höhe gehoben und in der 
Schwebe gehalten wird. — Er schliefst daran den 1839 und 1840 erwähnten 
Auszug aus den Schiffs-Journalen des Preufs. Schiffs Prinzefs Louise. 

1843 sah Cap. Fremont im Winter (27. Nov.) in Californien rothen 
Schnee am Morgen auf Mount Hood. Es war eine rosenfarbene Schnee- 
masse. Der Himmel war klar, die Luft kalt 2° 5’ unter 0. Bäume und 
Büsche waren bereift und der Strom trieb Eis. Report of the exploring 
expedition 1845. p. 198. Er scheint nicht blofsen Lichtreflex der Sonne zu 
meinen. 

1845 hat Herr Ch. Darwin in einem kurzen aber reichhaltigen Aufsatze 
in dem Quarterly Journal oder Proceedings of the Geological soc. June 
p- 26 seine Ansicht über das Phänomen des Staubes bei den Capverden aus- 
gesprochen, und dabei mehrere sehr interessante historische Facta geliefert, 
welche hier benutzt worden sind. Er findet sich besonders deshalb zu der 
Meinung veranlafst, dafs unzweifelhaft der Staub aus Afrika komme, weil er 
entschieden aus dieser Richtung kommt und weil er in der Nähe Afrika’s 
immer gröber sei. Den von mir damals schon angezeigten Mangel afrikani- 
scher und die Anwesenheit amerikanischer Organismen, welche letztere da- 
mals nur 2 waren, finde er zwar räthselhaft, wage aber nicht es zu erklären 
(p- 29). Seitdem haben sich die Thatsachen freilich noch räthselhafter, 
aber auch entschiedener gestaltet und sehr vermehrt. Ob die von mir (1844 
bis 1847) versuchte Erklärung weiteren Halt gewinnt, ist von der weiteren 
Forschung ganz allein abhängig. Ein in Amerika gesammelter Staub kann 
durch völlig gleiche oder völlig verschiedene Bestandtheile schnell entschei- 
den, vielleicht auch ein indischer. 


1842 am 31. December sah Cap. Rols auf dem Erebus das Meer in 64° Sb. 55° 23 
WL., 30 Meilen von der südöstlichen Landspitze des Erebus- und Terror-Golf, schmutzig- 
braune, wahrscheinlich, wie er sagt, von kleinen rostrothen Infusorien, die in einem 
grünlichen Schlamme waren, welche aus 207 Faden Tiefe heraufgezogen wurde. Antarctie 
Voy. II. p. 332. 1847. 

1843 am 23. November beobachtete Cap. Fremont einen Aschenfall, den er aus dem 
St. Helena-Vulkan in Californien ableitet, in 50 Meilen Entfernung. Er sammelte Asche 
und gab sie Herrn Brewer, einem Geistlichen im Columbia-Gebiete. Report. p. 194. — 
War es Asche? 


Phys. Kl. 1847. Ddd 


394 EHRENBERG: 


1846 im Mai fiel rother Regen, Blutregen und Staub in Genua und gleich- 
zeitig in Chambery (und Syam) in Savoyen. Er bedeckte die Dächer und 
Terrassen (s. vorn p. 279) der Stadt in Genua bei einem heftigen Scirocco- 
Sturme. Von Herrn Prof. Pictet in Genf schon im Mai und von Herrn 
Grafen della Marmora im October erhaltene Proben habe ich analysirt. 
Auch bei Gigelly zwischen Bona und Algier wurde der Staub beobachtet. 
Siehe vorn p. 312. 

1846 am 17. October fiel Blutregen und rother Staub mit einem sehr hef- 
tigen Seirocco-Orkane in Frankreich besonders in Lyon. Die Untersuchung 
dieses von mir analysirten Staubes findet sich in den Monatsberichten 1846 
p- 319 und 1547 p. 301 sind Nachträge aus Herrn Fournets ausführlichem 
Berichte über den Verlauf des Orkans gegeben. Siehe vorn pag. 283. 
Gleichzeitig fiel ähnlicher Staub zu Chambery in Savoyen. S. oben p. 312. 


1846. In der Nacht vom 26. zum 27. Januar fiel zu Dou& la Fontaine (Maine et 
Loire) nach Peltier reichlich ein Hagel, welcher deutlich nach Schwefelwasserstoffgas roch. 
Er enthielt Schwefelwasserstoff-Ammoniak. Comptes rendus XXII. p. 376. Vergl. 1552. 

1846 berichtet Henry Piddington, der Curator des ökonomisch-geologischen Mu- 
seums zu Calcutta, über einen von Dr. Bellot, Schiffsarzt auf dem Schiffe Wolf, beob- 
achteten atmosphärischen Staubfall zu Shanghae in Indien aus einem Briefe desselben vom 
16. März 1846 an Dr. Macgowan. Am 15. März 1846 fiel in Shanghae ein feiner Sand 
mit Nord-Ost-Wind. Mit Tagesanbruch war Windstille, die allmählig in NO.-Wind 
überging und man glaubte eine gewöhnliche neblige Trübung zu sehen. Officiere aber, 
die ans Land gingen bemerkten, dals ihre Kleider und Schuhwerk staubig wurden. Dr. 
Bellot erfuhr selbst dieses am Nachmittag. Nach 8 Uhr war Staub auf den Kanonen, 
an den Oberwerken und den polirten Oberllächen auf dem Verdeck sichtbar. Am folgen- 
den Tage erschien die ganze Atmosphäre aus einem hellbraunen staubigen Nebel zu 
bestehen, was den ganzen Tag anbielt. Die Pflanzen wurden mit Staub bedeckt. Die 
untergehende Sonne war offenbar kleiner als sie an kalten Abenden ist und weilsfarbig, 
blalsweils. — Obschon der fallende Sand sich auf die Geschütze lagerte, so fiel doch keiner 
auf Papier (ausgebreitete Zeitungen), er wisse nicht, ob dies durch electrische Attraction 
bewirkt werde oder nicht. Obschon der Himmel wolkenlos war, so waren doch Sterne 
wie der grolse Bär ım Zenith nur schwach sichtbar. Der vor 3 Tagen voll gewesene 
Mond war etwas verdunkelt (partially obscured) und warf auf die Hand einen sehr schwa- 
chen Schatten. Um 15 Uhr nach Mitternacht hörte es auf. Das Barometer ging von 
88 auf 33,00. 

Auf das Kauffahrthei-Schiff Deina soll 308 Meilen vom Lande auch Staub gefallen 
sein und Bimstein soll in der See geschwommen haben. 

Der Staub selbst war nach Herrn Piddington olivengrau. Er sah darin mit dem 
Mikroskop weilse, schwarze und braune Haare, auch röthliche feine Stacheln (reddish 


Passatstaub und Blutregen. 395 


4847 ist am 31. März ein rother Schneefall im Pusterthale in Tyrol und 
am gleichen Tage ein Blutregen in Chambery in Savoyen und auch im Böh- 
merwalde vorgekommen. Eine Probe des Schneestaubes ist von mir analy- 
sirt und das Resultat vergleichend mit einer chemischen Analyse des Herrn 
Oellacher in Innsbruck mitgetheilt (s. vorn p. 293 sq. Monatsber. 1847. 
1848 p. 65). Ob der am 23. und 28. März in Vera-Cruz beobachtete staub- 
führende Nord-Orkan (siehe vorn p. 312) sich, der Vermuthung des Herrn 
Fournet gemäfs, hier anschliefst, ist später vielleicht weiter zu entscheiden. 
Da im Pusterthale aus 2 OKlaftern Schnee 103 Gran Staub gesammelt wur- 
den, so läfst sich berechnen, dafs auf je 1 DMeile etwa 100,000 Pfd. d. i. 
1000 Centner gefallen sind. 


IX. 


Untersuchung des zimmtfarbenen Meteorstaubes von Udine 1803 
nebst einigen Nachträgen.(!) 

Auf eine Anfrage bei dem Kaiserlichen Custos Herrn Partsch in 
Wien wegen des in dem Meteoriten-Verzeichnisse erwähnten, dort in Probe 
vorhandenen Meteorstaubes von Udine 1803, sind mir sowohl von diesem, 
als vom rothen Schnee der Alpe Aceindaz bei Bex, dessen Chladni aus- 
führlich erwähnt, samt noch einigen andern, aber nicht für diesen Zweck 
weiter wichtigen Fällen, kleine Proben mit grofser Liberalität übersendet 
worden. Meine der Sache zugewendete ernste Bemühung möge als mein 
freundlicher bester Dank dafür erscheinen. 

Die rothe Schneefärbung der Alpe bei Bex ist, meiner stattgefunde- 
nen Untersuchung nach, diesen hier berührten Verhältnissen ganz fremd, 
es scheinen die zusammengebacknen Kugeln der rothen Sphaerella nivalis 
zu sein, die der schmelzende Schnee im Sommer als festen Boden trägt, wie 
ja besondere Alpen auch an den Glasscheiben der Fenster wachsen.(?) 


strait spines). Diese Fasern hielten Cantor und Grant für Conferven. Journal of 
the asiatic soc. of Bengal. Febr. 1847 No. 175 p. 195. — Da die Nachricht von dem 
Bimstein nicht ganz sicher zu sein scheint, so könnte dieser Staub wohl auch ganz ohne 
vulkanischen Character gewesen sein. Sehr einflulsreich ist die Beobachtung des electri- 
schen Verhaltens. 

(') Monatsberichte der Akademie 11. Nov. 1847 p. 360 und 427. 

(2) Aulser diesen unter den Meteorsubstanzen verzeichneten nicht meteorischen Kör- 
pern, habe ich früher schon der Akademie über ähnliche: das Meteorpapier von Rauden, 


Ddd2 


396 EHRENBERG: 


Von sehr grofsem Interesse wird dagegen die Substanz von Udine 
1803. Auf der Etikette heifst es: Terre de la pluie limoneuse tombee a 
Udine 5 Mars 1803. Es ist mithin die Substanz, welche damals von Wien 
anfangend, Udine, ganz Italien und Sicilien bedeckte, also in wahrscheinlich 
mehreren 100,000 Centnern getragen und gefallen ist, und die eine Controlle 
für die aus Klaproths Sammlung hier analysirte Masse bildet. Ich habe 
diese Substanz mit aller Sorgfalt untersucht und zuerst sogleich erkannt, 
dafs sie sowohl an Farbe, wie allen äufseren Characteren mit der Klaproth- 
schen identisch ist, als auch mikroskopisch sich höchst übereinstimmend 
verhält. 

Folgende 28 Species kleiner organischer Körper habe ich in 40 Ana- 
Iysen bis jetzt erkannt: 

Kieselschalige Polygastern: 18. 


Campylodiscus Clypeus. Gallionella granulata. 
Cocconema? laminaris. 
Discoplea atmosphaerica. procera. 
Eunotia amphioxys. Himantidium Arcus. 
gibba. Navicula affinis. 
gibberula. Pinnularia borealis. 
iridentula. Surirellae? fragmentum | 
Gallionella crenata. Synedra Entomon. 
distans. Ulna. 
Kieselerdige Phytolitharien: 8. 
Amphidiscus truncatus. Lithostylidium laeve. 
Lithasteriscus tuberculatus. polyedrum. 
Lithostylidium Amphiodon. rude. 
crenulatum. Spongolithis acicularis. 
Weiche Pflanzentheile: 2 
Einfache glatte Pflanzenhaare. Pilzsaamen. 


Es sind dieselben Species, welche in den atlantischen und übrigen 
von mir „Passat-Staub“ genannten Meteoren bereits seit 4 Jahren angezeigt 
sind. Dieselben Formen sind auch vorherrschend. Eine entschiedene See- 


(Monatsber. 1838 p. 177. Abhandl. 1839 p. 45), über Chladnis harzige Substanz aus 
Schlesien von 1796 (Abhandl. 1839 p. 48), über das Bohnenerz von Ivan in Ungarn 
(Monatsber. 1841 p. 357) Bericht erstattet. 


Passatstaub und Blutregen. 397 


form ist nicht dabei, aber Synedra Entomon aus Südamerika mit ihren grü- 
nen Ovarien (lebend) getrocknet zahlreich. Aufserdem ist noch Eunotia 
amphioxys mit den Ovarien und in Selbsttheilung häufig, wie in der Masse 
aus Klaproths Sammlung. 

Eine kleine aus Wien mir zugesandte Probe des Meteorstaubes vom 
Pusterthal, März 1847, gehört zu der etwas bräunlichen, später gesammelten 
Form und zeigt sich, bei oberflächlicher Betrachtung schon, den früher 
analysirten gleichartig. 

Gleichzeitig mit den Proben aus Wien sind auch neuere Nachrichten 
aus Innsbruck durch Herrn Oellacher an mich gelangt, welche das beson- 
dere Interesse haben, dafs nach Ermittelung des Herrn Curat Villplaner 
dasselbe Phänomen gleichzeitig im Böhmerwalde stattgefunden hat, von wo 
aus es sich dann über Tyrol (bis Savoyen) erstreckte. Man hat in Bruneck, 
dem Kreisamte des Pusterthales, eine Commission zur amtlichen Beurthei- 
lung des Phänomens in dem Herrn Dr. Heinisch mit Zuziehung des dor- 
tigen Apothekers niedergesetzt und Dr. Heinisch hat erklärt, dafs der rothe 
Schneestaub im Pusterthale durch eine Lawine bei Lappach aufgetrieben 
worden sei. Herr Villplaner und Herr Oellacher erklären, ersterer pri- 
vatim, letzterer auch öffentlich sich sehr entschieden gegen diese Ansicht, 
als rein durch die ganzen Local- und Winter-Verhältnisse unmöglich. Die 
chemische Ähnlichkeit der gelben Erde bei Lappach konnte freilich wenig 
entscheiden. Im Tyroler Boten No. 41 und 42 so wie 63 und später im 
August finden sich diese Verhandlungen. 


gen. 


Ergänzun 


X. 


Uber den am 31. März 1847 auch im Gasteiner Thale in Salzburg 
vorgekommenen rothen Stauhregen.(!) 

Herr Haidinger in Wien, Correspondent der Akademie, meldet 

unserm 27. Dec. folgendes: „Ich habe das Vergnügen Ihrem — Auge — 

zwei neue Proben Passatstaub hier einzuschliefsen. Sie sind beide im Ga- 


(') S. Monatsber. d. Akad. 13. Januar 1848 p- 69. 


398 EHurEnBEere: 


steiner Thale in Salzburg gesammelt und zwar, No. 1 vom Herrn Bergver- 
walter Werkstätter in Böckstein, unmittelbar nach dem Falle. Das Pul- 
ver No.2 aber vom Herrn Schichtmeister Reisfacher Anfangs Juni am 
Rathhausberg und in Singlitz.“ 

„Der Fall des Pulvers erfolgte am 31. März zwischen 11 und 12 Uhr 
Mittags mit heftigem Regen und Sturm aus Südwest.“ 

Barometer Thermometer 
64 Uhr früh 24” 5” n ia BE 
124 4, Mittage 24" 4.5 f Venen Mael- TOR. 

„Der Niederschlag fand nur in der Meereshöhe zwischen 3000 und 
7000 Fufs statt, darüber hinauf blieben die beschneiten Gletscher und Alpen- 
köpfe weils. Der Absatz geschah nach Herrn Reisfacher gleichförmig an 
den südlichen und nördlichen Gebirgsabhängen. Herr Reisfacher konnte 
die Färbung deutlich über die ganze, das Gasteiner und Raurieser Thal süd- 
lich begrenzende Central-Kette beobachten, die immer wieder den Sommer 
hindurch hervortrat, wenn frisch gefallner Schnee abschmolz.“ — „Es ist 
das Phänomen von Deffereggen aber weiter gegen Nord-Ost ausgedehnt.“ 

Die mit dieser Nachricht übersandten 2 Proben des Meteorstaubes 
aus Salzburg bei Gastein sind beide gelblich braun. Die Probe von Böck- 
stein No. 1, welche unmittelbar nach dem Falle gesammelt wurde, ist etwas 
gelblicher als die Probe No. 2, die mehr ins Graubraune spielt und etwas 
dunkler ist, aber auch 2 Monate nach dem Falle erst, wahrscheinlich vom 
Schnee gesammelt wurde. Beide Pulver haben in Feinheit und Cohärenz 
dieselben äufseren Charactere als die des Pusterthales, an Farbe sind sie 
beide der daselbst später gesammelten Form am meisten ähnlich. 

In diesen beiden Staubarten haben sich in 30 und 10 Analysen fol- 
gende Formen mikroskopischer Organismen entdecken lassen. 

Polygastrica:u21. 


LIRAUNEE 1.1 1ER 
Campylodiscus Clypeus + | -+  KEunotia gibba + 
Closterium? + longicornis u 
Coscinodiscus radiatus + Zebra 2” 
Discoplea atmosphaerica | + | + Gallionella crenata +|+ 
_ ? + distans er 
Eunotia amphioxys +|+ granulata +|+ 


Passatstaub und Blutregen. 399 


sol EL 1. |). 
Gallionella laminaris +  Pinnularia viridis + 
procera + | +  Podosphenia Pupula + 
Gomphonema gracile + |-+  Synedra Entomon + 
Navicula Semen -- Ulna 2er 
Pinnularia borealis + |+ 
Phytolitharia: 26. 
Amphidiscus obtusus +  Lithostylidium falcatum | -+ 
truncatus + |+ laeve +|+ 
Lithasteriscus tuberculatus| + Pecten + 
Lithochaeta laevis + polyedrum | + 
Lithodontium Bursa + quadratum | + | + 
Jurcatum + rude +|+ 
nasutum + ‚Serra + 
rostratum + spiriferum | + 
Lithostylidium Amphiodon | + | + Taurus + 
biconcavum | + Trabecula | + 
calcaratum | + Spongolithis acicularis +|+ 
clavatum + aspera + 
curvaltum + obtusa + 


Particula siliceaincertae originis: 1. 
Lamina silicea hexagona 


I 
Particulae plantarum molles: 9. 


umbonata 


Parenchyma, cellulae ocel- Pilus plantae simplex laevis| + | + 
latae Pini + | + asper | + 
Jibrosum + stellatus + 
porosum + |-+ Pollen Pini + | = 
clathratum _ ? + 


Orystalli:o. 
Crystalli virides columnares (Pyroxenä’) |+ | + 
albi rhombei — 
Seminis Tritici forma albi (calcarei?)| + 
Im Allgemeinen gehören die Staubtheile zu den etwas gröberen For- 
men dieser Art. Die Mischung ist sehr reich organisch und der der atlanti- 


400 EHRENBERG: 


schen Staubarten wieder in allen Hauptsachen völlig ähnlich und gleich. 
Eigenthümlich ist dieser Staubart eine überaus grofse Menge von Fichten- 
blüthenstaub (Pollen Pini) in einem offenbar durch Verrotten sehr gefalteten 
und oft zerstörten Zustande, so dafs, selbst wenn man von den gleichzeitigen 
3 Graden Kälte und der völligen Winterzeit in Tyrol und Salzburg absehen 
wollte und an südeuropäische vielleicht schon blühende Fichten denken 
wollte, deren Blüthezeit für den März überall zu früh ist, doch jedenfalls 
dann frischen Blüthenstaub finden mufste, wie bei den bekannten Schwefel- 
regen es jedesmal der Fall ist. Mit diesem Pollen finden sich auch überaus 
viel verkohlte augenartig poröse Holzzellen, wie sie das Fichtenholz charak- 
terisiren. Dieser Fichtenblüthenstaub samt den feinen Holztheilchen ist in 
solcher Menge, dafs besonders ersterer sicher über + des Volumens der 
Masse, vielleicht die Hälfte bilden mag. 

Mit grünen Ovarien und in Selbsttheilung ist wieder Eunotia amphioxys 
beobachtet. Ebenso wie im atlantischen Staube finden sich wieder Seefor- 
men (Coscinodiscus, ein elegantes Fragment). Ferner finden sich in diesem 
Staube wieder die charakteristischen südamerikanischen Synedra Entomon 
und die noch auffallendere ihre Verwandte in China habende Discoplea atmo- 
sphaerica(!). Das zahlreiche mit vorherrschende Vorkommen der Gallio- 
nella granulalta, procera, distans und crenata schliefst sich samt der 
Erscheinung der Eunotia longicornis dem Passatstaube völlig an. Auch 
Amphidiscus truncatus ist sehr zahlreich und charaktergebend. Überhaupt 
werden späterhin die Localformen, welche der Sturm hie und da zufällig 
in diese fernher getragenen Staubarten bringt, sich leicht ausscheiden. Die 
übereinstimmenden häufigeren Formen werden den Maafsstab geben und die 
abweichenden und selteneren Formen wird man unberücksichtigt lassen 
können. 

Durch Herrn Curat Villplaners Mittheilung war früher gemeldet, 
dafs aufser in Tyrol auch im Böhmerwalde gleichzeitig solcher Staub gefallen 
sei. Die Nachricht stammt von Herrn Martin Tegischer, welcher es 
selbst in der Grafschaft Winterberg, zu Sablath und Wallern gesehen hat und 


(') Über die Infusorien China’s ist ein Vortrag in den Monatsberichten 1847 p. 476 
abgedruckt. Gallionella granulata und procera, Discoplea sinensis, das Pilzsporangium und 
der Farnsaame sind dort in der Culturerde denen des Passatstaubes theils gleich, theils 


sehr ähnlich p. 483. 


Passatstaub und Blutregen. 401 


dessen Zuverlässigkeit Herr Villplaner rühmt. — Durch den von Herrn 
Haidinger gesandten hier analysirten Staub ist nun die weitere Verbreitung 
der gleichen Substanz direct festgestellt und das von ihr bedeckte Areal von 
Winterberg in Böhmen bis Tyrol und wohl Savoyen aufser Zweifel gesetzt. 


XI. 
Über denrothen Passatstaub und das dadurch bedingte 
Dunkelmeer der Araber(!). 

In diesem zur Feier des 24. Januar 1848 gehaltenen Vortrage ist, 
aufser der frühesten Geschichte des Dunkelmeeres, oder Meeres der Fin- 
sternisse an der Westküste von Afrika, eine reichere gedrängte Übersicht 
der Passatstaubverhältnisse gegeben und ganz besonders auf den Nebelberg 
Bolor Takh in Mittelasien(?), als ein auffallend ähnliches paralleles Verhält- 
nifs, aufmerksam gemacht worden, so wie auch der ziegelrothe überaus 
merkwürdige Wüstenstaub von Beludschistan hervorgehoben worden ist. 
Vorgelegte Tabellen erläuterten sowohl der Zeitfolge nach, als der Form- 
Verschiedenheiten des Passatstaubfalles, auch der Jahreszeiten und der Be- 
ziehungen zu Meteorsteinfällen und Feuermeteoren nach, diese Verhältnisse. 
Die sämtlichen Materialien sind in den früheren historischen und den folgen- 
den tabellarischen Übersichten mit enthalten. 


X. 


Über den Meteorstaubfall in Schlesien und Nieder-Österreich 
am 31. Januar 1848.(°) 
41. Meteorstaub von Breslau. 
Herr Prof. Goeppert, Correspondent der Akademie, meldet unterm 
31. Januar selbst aus Breslau folgendes: 
„Nach heftigem Südwinde erschien heut Morgen beim Anbruch des 
Tages der Schnee in der ganzen Umgegend von Breslau, so wie in Breslau 


(') Meine Einleitungs-Rede bei der Gedächtnifsfeier Königs Friedrich I. in der 
öffentlichen Sitzung der Akad. am 27. Januar 1848, besonders gedruckt 1848. 

(2) Wahrscheinlich ist auch Marco Polo’s wunderbare Erzählung vom mittelasiati- 
schen Lande der Finsternisse, nicht blols vom Eismeere und dem polaren langen Son- 
nen-Mangel, sondern von den neckenden und lebensgefährlichen Staubverhältnissen mit 
zu verstehen. (?) Monatsbericht 1848 p. 107 24. Febr. 


Phys. Kl. 1847. Eee 


402 EHRENBERG: 


selbst mit einem grauen Staube dicht bedeckt, der auch noch Vormittags 
bei übrigens halb heiterem Himmel die Atmosphäre erfüllt. Unverkennbar 
finden sich darinn organische, thierische und vegetabilische Reste, über 
deren Bestimmung ich mich — nicht erkühne etwas zu äufsern. — Die bei- 
liegenden Portionen Staub sind an 2 verschiedenen Stellen gesammelt, a 
vom Fensterbrett meiner nach Osten und ganz im Freien gelegenen Wohnung. 
Der Staub war innerlich auch durch die sonst ziemlich gut anschliefsenden 
Fensterrahmen gelangt und bedeckte in dichter Schicht das Fensterbrett. 
b aus geschmolzenem auf der Oder gesammeltem Schnee.“ 

Die Untersuchung dieses Staubes hat bis jetzt folgende organische 
Mischung ergeben: 

Polygastrica 6, Phytolitharia 27, weiche Pflanzentheile 6 = 39 Arten. 

Die Farbe des Meteorstaubes ist gelblich-grau. Die constituirenden 
Theilchen sind nicht überaus fein. Überwiegend sind es unorganische Theil- 
chen, weiche Pflanzentheile sind nicht selten, kieselerdige Pflanzentheile 
sind zahlreich, Infusorien selten, doch aber so häufig, dafs in jeder Nadel- 
knopfgröfse der Masse deren eins oder einige angetroffen werden. 

Besonders merkwürdig ist, dafs Infusorien mit ihren grünen Ovarien, 
also lebensfähig und in Selbsttheilung vorhanden sind. 

Die Mehrzahl der Formen sind Süfswasserbildungen, allein Spongo- 
lithis robusta (ingens?) ist wohl eine sichere Meeresbildung. — Ganz beson- 
ders merkwürdig ist eine auffallende Menge von wahrscheinlich vulkanischen 
grünen und bräunlichen COrystallen. 


{eo} 


Diese Resultate der Untersuchung 
fseres Gewicht durch ein Schreiben des Correspondeten der Akademie Hrn. 
Haidinger in Wien vom 16. Febr. 


2. Meteorstaub von Wien. 


erhalten ein noch ansehnlich grö- 


„Kaum gaben Sie am 24. Januar Ihre neueste Übersicht, als wir in 
Österreich schon wieder einen Staubfall hatten und zwar in der Nacht vom 
31. Jan. auf den 1. Febr., an welchem Tage ich selbst und gleichzeitig Dr. 
Reissek ihn bemerkten. Ich schliefse eine Probe ein, die aber unglück- 
licherweise aus den 3 Fundorten: Wien Glacis vor der Münze, botanischer 
Garten und Dürnkrut im Marchfelde, die übrigens von gleicher Beschaffen- 
heit waren, gemischt ist. Herr Dr. Reissek hat sie bereits untersucht. — 
Auch diesmal war Scirocco, aber nur bis Salzburg. Ich sammle jetzt einige 


Passatstaub und Blutregen. 403 


Daten um die Verbreitung des Südwest-Sturmes genauer kennen zu lernen. 
In Wien hatten wir fast Windstille.” — „Ich versäumte (früher) zu 
bemerken, dafs die Kohlenfragmente in dem Staube von Böckstein zufällig 
beim Schmelzen in den Staub geriethen.” 

Diese letztere Bemerkung ändert nichts wesentliches in den Mitthei- 
lungen über den Schneestaub von Böckstein, da er voll von Fichtenblüthen- 
Staub und unverkoblten Holztheilchen ist und sich dem Tyroler vom gleichen 
Tage genau anschliefst. Die Verunreinigung durch Kohlenstaub konnte 
daher nur unbedeutend sein. 

Was den Wiener Meteorstaub anlangt, welcher beim gleichen Süd- 
winde, wie in Breslau, aber um 24 Stunden später gefallen, obschon Wien 
und Prefsburg genau im Süden von Schlesien liegen, so ist derselbe auf die 
auffallendste Weise mit dem Breslauer in Farbe, Form und specielster Mi- 
schung übereinstimmend. 

Polygastrica 5, Phytolitharia 17, Polythalamia 1, weiche Pflanzen- 
theile 4, Insektenfragmente 1. 

Dieselbe Farbe und Cohärenz, so wie dieselbe Durchschnittsgröfse 
der massebildenden Staubtheilchen begleitet die gleiche Mischung. 

Die Infusorien sind dieselben Species in demselben Zustande der 
Lebensfähigkeit und Selbsttheilung. — Die amerikanische Synedra Entomon 
ist mit ihren Ovarien und in sehr grofsen Exemplaren darin. — Anstatt des 
einen fraglichen Seekörpers im schlesischen Staube sind deren 2 und dabei 
ein ganz entschiedener (Textilaria) im Wiener Staube. Der andre ist die- 
selbe Spongolithis. — Auch hier sind viele pyroxenartige? und hornblende- 
artige? (in Wasser und Säure unlösliche) Krystalle im Staube neben kalk- 
spathähnlichen (in Säuren löslichen) Krystallen. 

Aufser dieser Nachricht ist mir durch Hrn. Dr. Friedenberg später 
der Aufsatz des Herrn Dr. Reifsek aus Wien zugekommen, welcher in 
No. 55 der Wiener Zeitung unterm 24. Febr. abgedruckt ist. Demnach war 
der meteorische Staubfall am 31. Januar 1848 im gröfsten Theile Nieder- 
Oesterreichs so wie in der ganzen Umgegend von Wien beobachtet worden. 
Nachdem in der ganzen letzten Hälfte des Januar bei einer durchschnitt- 
lichen Temperatur von — 8°R. am Tage und — 10° bei Nacht, bei ziemlich 
reicher allgemeiner Schneedecke, ein anhaltender, mitunter heftiger Ostwind 
geweht und sich am 31. die Atmosphäre in ähnlicher Weise verdüstert hatte, 

Eee? 


404 EHRENBERG: 


wie es in trocknen Sommertagen durch den aufgewirbelten Staub geschieht, 
bemerkte man schon des Abends an diesem Tage, noch deutlicher aber am 
Morgen des 1. Februar die Oberfläche des Schnees mit einem grauen erd- 
artigen, wie durch ein feines Sieb ausgestreuten Staube bedeckt. Diese 
Erscheinung zeigte sich allgemein. — Besonders auffallend war die Erschei- 
nung in der Ebene des Marchfeldes, wo sie sich bis Prefsburg überall zeigte. 
— Ein auffallendes Phänomen, das gleichzeitig mit dem Staubfall eintrat, 
war das Steigen der Temperatur auf 0O°R. und das Aufhören des Ostwindes. 
Ursache davon scheint der am 31. Januar im Salzburgischen bei + 6° we- 
hende Scirocco gewesen zu sein. — 

Eine mikroskopische Untersuchung wurde durch Herrn Dr. Wedl 
gemacht. Der Staub in gröfserer Menge war einer gewöhnlichen grauen 
feingesiebten Acker- oder Garten-Erde ähnlich. Es liefsen sich schätzen als 
Bestandtheile: Quarzkörnchen 60-70, Glimmerblättchen 10-15, Humus 
10-12, organische Reste 1 pC. 

Die organischen Reste waren mannigfaltig, darunter mit freiem Auge 
bemerkbare Holzsplitterchen und Kohlenfragmente. 41. Stückchen der 
Oberhaut von grafsartigen unverwesten Gewächsen. 2. Eben solche ver- 
kohlt. 3. Haare von mehreren Pflanzenarten, gröfstentheils nur in Frag- 
menten. 4. Holzstückchen eines unbekannten Baumes oder Strauches, 
verkohlt, selten. 5. Protococcusartige erstorbene Zellen, ziemlich selten. 
6. Fragmente von Spiralfasern, Bastzellen, selten. 7. Fragmente eines Laub- 
mooses, selten. 8. Vertrocknete panzerlose Infusorien vom Ansehen der 
Bursaria, Colpoda oder Paramecium. 9. Kieselpanzrige Infusorien aus der 
Gattung Navicula, 3 Arten, ziemlich selten, alle zu den kleinsten gehörig, 
2 ellipsoidisch, eine länglich quergestreift. 10. Flügelfragmente einer klei- 
nen .Lepidoptere (”) sehr selten. 

Dr. Reifsek schliefst aus dieser Mischung, dafs der Staub aus — den 
russischen Steppen (!) kommen müsse, wo Hirten die Steppe abbrennen 
und grofse Ebenen wären. Ein wunderlicher Schlufs, welcher aus Unbe- 
kanntschaft mit der Steppe entspringt, und die Winterverhältnisse auf unbe- 
greifliche Weise (auch die veränderte Wind-Richtung) aufser Acht läfst. 
Jedoch ist das Erkennen specieller organischer Verhältnisse wichtig, obschon 
die vertrockneten Bursarien, Colpoden und Paramecien nimmermehr er- 
weislich das gewesen sind, wofür sie gehalten worden und jedenfalls besser 


Passatstaub und Blutregen. 405 


unerwähnt geblieben wären, um den übrigen Mittheilungen ihren Credit 
ungeschmälert zu lassen. (!) 

Bemerkenswerth ist noch die Angabe der Menge des in Oesterreich 
gefallenen Staubes, welche von Dr. Reifsek zu $ Cubikzoll auf die DKlafter 
geschätzt ward, wodurch auf die OMeile 14 Cubikklaftern kämen. 

Hieran schliefsen sich noch einige später eingegangene Nachrichten 
aus Schlesien und der Lausitz. 


3. Meteorstaub von Alt-Rauden bei Glogau. 


Aus Alt-Rauden (bei Glogau) ward in der Breslauer Zeitung vom 
1. Februar unter der Chiffer E. H.(?) gemeldet: „Der Sturmwind, der gestern 
aus Ost-Süd-Ost wehte, hat die hiesige Gegend mit einer neuen Naturer- 
scheinung überrascht. Es zeigte sich, — sobald die Nacht gewichen war, 
der schöne weifse Schnee mit einem Überzuge, der je nach der Dichtigkeit 
des Anfluges vom Aschgrauen ins Ockergelbe überging, bedeckt. — Die 
Wolken aus denen direct Niederschlag kam, gingen bei mäfsiger Höhe in 
ostsüdöstlicher Richtung oft mit solcher Unterbrechung, dafs die Sonne 
klar durchscheinen und einen Theil der Gegend hell erleuchten konnte. 
Oft aber hüllte eine einzige Wolke an und für sich ganz helle Gegenstände 
gänzlich 
unsichtbar wurden. Dies dauerte bis gegen Abend ununterbrochen fort. 


in einen so dichten Schleier, dafs sie dem Auge des Beschauers 


Abends legte sich der Wind auf einmal und der Himmel klärte sich auf. 
Ich nahm nun eine Quantität solchen verunreinigten Schnees, denn es war 
nur ein oberflächlicher Überzug, brachte ihn unter das Vergröfserungsglas 
und erkannte ihn als wirkliche Asche. Eine Messerspitze davon auf die 
Zunge gebracht, gab einen Salzgehalt mit einem bitterlichen Nachgeschmack 
und verursachte ein Kratzen im Gaumen wie die Laugensalze. Eine Auflö- 
sung in kleiner Quantität auf weifsem Papier hinterliefs einen ockergelben 
Niederschlag, der im trocknen Zustande sich in Pulverform leicht ablösen 
liefs. Eine gröfsere Menge in einem Gefälse aufgelöst hinterliefs nach Absei- 
gung des trüben Wassers einen dunkelbraunen Bodensatz, der im trocknen 
Zustande einige Festigkeit erlangte, lehmige oder schmutziggelbe Farbe 


(') Es haben sich zwar neuerlich auch von mir im Luftstaube Colpoden und Pa- 
ramecien erkennen lassen, allein nur lebende Formen erlauben Gattungsbestimmungen. 
S. Monatsbericht 1849 p. 97. (2) Vom damaligen Hauslehrer Stud. Haertel. 


406 EHRENBERG: 


hatte, ganz feine crystallinische Spitzen zeigte und einen bittern salzigen 
Geschmack auf der Zunge hervorbrachte. — Es schien mir also unzweifel- 
haft, dafs die hiesige Gegend ein sogenannter Aschenregen getroffen hat.” — 
Die Wolkenverhältnisse dieser Nachricht sind sehr interessant, ebenso 
ist es auch die öfter ausgesprochene ockergelbe Farbe des Staubes. Die 
Laugensalze und die Aschenvorstellung sind weniger beachtenswerth. 


4. Meteorstaub von Spremberg bei Muskau. 


Aus dem Monatsberichte der Königl. Regierung zu Frankfurt a. d. O. 
an des Königs Majestät für Januar 1848 sind folgende Nachrichten von 
Spremberg in der Lausitz. 

„Nach einem starken Sturme in der Nacht vom 30. und 31. Januar 
wurde am Morgen in der Umgegend von Spremberg der Schnee mit einer 
scharfen gelblich-grauen Staubmasse überzogen gefunden, deren Ursprung 
man sich um so weniger erklären konnte, als der Erdboden bis in weiter 
Ferne mit Schnee bedeckt und gefroren war. — Zu derselben Zeit ist das- 
selbe in Alt-Rauden in Schlesien als ein sogenannter Aschenregen beob- 
achtet worden.” 


5. Meteorstaub von Hirschberg. 


Da auch von Hirschberg in Schlesien der Staubfall in den Berliner 
Zeitungen gemeldet worden war, so habe ich dorthin, so wie nach Landshut, 
geschrieben und um Nachricht gebeten. In Landshut hat man die Erschei- 
nung nicht bemerkt. In Hirschberg ist derselbe meist für einen im Anfang 
Frühjahrs nicht ungewöhnlichen Staubwind gehalten worden, ohne dafs 
aufser dem unbekannten Zeitungsreferenten irgend jemand darauf geachtet 
habe, da Stadt und Umgegend ohne Schnee waren. Durch Herrn Apotheker 
Dubois in Hirschberg erhielt ich rückgehend folgende Nachricht: 

„Bevor der Sturm am 31. v. M. eintrat, waren die Felder bereits von 
dem zuvor gefallenen Schnee durch den wenige Tage vorher herrschenden 
Wind entblöfst, und hatte sich derselbe in den Gräben und Schluchten 
angesammelt. Der Erdboden war auf der Oberfläche ziemlich trocken. 
Kein Wunder daher, dafs der Sturm am 31. den Staub von den Feldern 
aufjagte, den Schneemassen zuführte und diese bedeckte.. Am anderen 
Morgen waren jene Massen mit schwarzem Staube überzogen, wie wir dies 


Passatstaub und Blutregen. 407 


jeden Winter wahrnehmen können. — Gleich nach dem Empfange des ge- 
ehrten Schreibens ging ich ins Freie, suchte mir eine von späteren Einflüssen 
befreit gebliebene Stelle aus, mafs einen TIFufs Oberfläche ab und befreite 
die Eisdecke vom Überzuge, der in einer latwergenartigen Consistenz wohl 
ein halbes Quart fafste. Denn die Oberfläche betrug wohl 14 Linien. Die 
ganze Masse trocknete ich bei gewöhnlicher Stubenwärme ab und erlaube 
mir Ew. eine Kleinigkeit davon zu senden. —” 

Herr Prorector Ender in Hirschberg hat während der Zeit täglich 3 
Thermometer- und Barometer-Beobachtungen gemacht, wonach am Morgen 
des 31. Decembers bis Mittag den 1. Febr. plötzlich sehr niedriger Baro- 
meterstand und Morgens am 1. Febr. trübe Luft bemerkt ist. Am 31. Mor- 
gens war 7°R. Kälte mit Ostwind. Am 1. Februar waren am Morgen und 
Mittag + 2° R. mit Westwind. Abends — 2° mit Nordwind. 

Meiner Untersuchung zufolge enthält dieser Staub an organ. Theilen: 

Polygastrica 5, Phytolitharia 18, weiche Pflanzentheile 1. 

Es sind fast insgesammt dieselben Species wie im Staube von Breslau 
und Wien. Auch fehlen vermuthliche Pyroxen-Crystalle nicht. 

Ferner habe ich unterm 4. März durch Herrn Pascal’s, Mitglie- 
des der Akademie der Künste zu Berlin, Verwendung Nachrichten und 
Meteorstaub vom Grafen Lüttichau aus Ober-Wangten und Nieder-Kum- 
mernick bei Liegnitz erhalten. 


6.-7. Meteorstaub von Ober-Wangten und Nieder-Kummernick. 


Am Nachmittag des 30. Januars war in Ober-Wangten (2 Meilen von 
Liegnitz) im Süden und Südosten eine eigenthümliche Erscheinung. Die 
ganze Atmosphäre sah am Horizonte dick aus und hatte eine rothbraune 
Färbung. Diese Bemerkung wurde um 5 Uhr Nachmittags gemacht und auf 
nahen Sturm gedeutet. Um jene Zeit hatte die rothbraune Wand kaum 
mehr als 15° am Himmel eingenommen. Es war 4° Kälte und über den 
Scheitel war der Himmel heiter. In der Nacht vom 30-31 Dec. erhob sich 
ein fürchterlicher Orkan, welcher den Niederschlag des Staubes brachte. 
Vor diesem Sturme hatte die Gegend eine sehr schöne gleichmäfsige Schnee- 
decke, nach demselben waren grofse Massen Schnee zu Haufen getrieben 
und grofse Erdflächen ganz davon entblöfst. Der Niederschlag wurde so 
gewaltig vom Sturme gepeitscht, dafs derselbe nicht allein durch die Doppel- 


408 EHRENBERce: 


Fenster getrieben ward, sondern auch in ziemlich beträchtlicher Menge in 
die Zimmer drang. Im Garten hatte der Orkan an einer Akazien-Hecke 
5 Fufs hoch den Schnee zusammengetrieben und darauf sich der Staub so 
häufig niedergelegt, dafs noch am 4. März (wo das Gesuch um Nachrichten 
eingetroffen) nachdem der Schnee unten weggeschmolzen war, nicht die 
gewünschten Lothe oder Quentchen, sondern zu vielen Centnern dieser 
Erde wegzunehmen war. Sie war durch am 1. Februar darauf gefallenen 
Schnee, der am 4. Febr. einem wahren Frühlingswetter weichen mufste, 
nafs geworden und es wurden einige Blumentöpfe voll als Brei gesammelt. — 
Die Erscheinung erstreckte sich nur 1 Meile westlich von Wangten nach 
Liegnitz hin. Graf v. Lüttichau fand später bei Prausnitz nahe bei Gold- 
berg die Schneedecke noch unverändert. Sturm wollte man dort gehabt 
haben, aber der Staubfall war nicht zu erweisen (vielleicht war auch die 
Schneedecke erneuert). 

In diesen 2 Staubarten fanden sich bis jetzt 35 bestimmbare organi- 
sche Theile. 

Polygastrica 9, Phytolitharia 24, Polythalamia 1, weiche Pflanzen- 
theile 6, Insectenflügel-Staub 1. 

Die Polygastern sind 2 einheimische, allen Passatstaubarten aber ge- 
meinsame Formen. Desmogonium? ist eine nur aus Guiana bekannte Form. 
Das Fragment ist jedoch unsicher zu bestimmen. Eunotia amphioxys ist 
mit grünen Ovarien, also lebensfähig. 

Von Meeresgebilden sind nur 3 deutlich, ein kalkschaliges Polythala- 
mium, das aber aus fossilen Verhältnissen beigemischt sein kann und ‚Spon- 
golithis robusta samt cenocephala? von denen dies weniger wahrscheinlich ist. 

Die sämmtlichen übrigen Phytolitharien können einheimischen Pflanzen 
angehören. — Lauchgrüne und gelbgrüne in Wasser und Säuren unlösliche 
Crystalle giebt es ebenfalls. 

Kurze Übersicht und Folgerungen. 

So viel bis heute bekannt geworden, hat der staubführende Orkan 
vom 31. Januar d. J. in südlicher Richtung von Glogau und Spremberg 
bei Muskau bis Wien und Prefsburg in einer Länge von 70 deutschen Meilen 
und in westlicher Richtung von Prefsburg bis Salzburg, so wie von Breslau 
bis Spremberg in einer Breite von 30-50 Meilen seine Wirkung geäufsert. 
Dieses Areal beträgt gegen 3500 DMeilen. 


Passatstaub und Blutregen. 409 


In Wien wurde der Staubfall ohne Sturm beobachtet, bei Goldberg 
in Schlesien wurde Sturm ohne Staubfall beobachtet. In Hirschberg hat der 
Staub 14 Linie hoch auf dem Eise gelegen. In Wien hat man die Masse 
des gefallenen Staubes zu 14 Cubikklaftern auf jede TIMeile geschätzt. Da 
in Landshut der Staubfall nicht beobachtet worden ist, so scheint derselbe 
strichweise erfolgt zu sein. Die von den Wolken getragene Masse hat jeden- 
falls viele 1000 vielleicht Hunderttausende von Centnern betragen. Den 
Nachrichten aus Rauden zufolge hat der Staub dort getrennte tiefziehende 
Wolken gebildet, zwischen denen Sonnenschein war. Mithin war der Staub 
nicht blofs vom Winde getrieben, sondern offenbar durch electrische Ver- 
hältnisse so geordnet, wie es die Wasserdunst-Wolken sind. 

Schon am 30. Januar ist der Staub bei Liegnitz in Südost gesehen 
worden und erst in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar ist er bei 
Wien beobachtet worden. Diese der überall ähnlichen Windesrichtung ent- 
gegengesetzte Verbreitung der Erscheinung scheint sich mit einem Wirbel- 
Orkan und dessen Drehung weniger zu vereinen. Eine Senkung der Staub- 
masse von oben, in der Nähe der Erdfläche sich verdichtend, zuerst über 
Breslau, dann über Prefsburg scheint erläuternder zu sein. Die Verschie- 
denartigkeit der Windrichtung spricht auch für eine wirbelnde Drehung in 
einem weiteren Kreise und die Temperatur- und Barometer-Veränderungen 
zeigen Theilnahme hoher atmosphärischer Schichten an. 

Der Staub ist meist grau oder gelblich-grau gefallen, gewöhnlichem 
Ackerstaube fast gleich, doch gelblicher, allein bei Rauden ist seine Farbe 
ockergelb, lehmartig gewesen, wie die des Passatstaubes bei West-Afrika. 

Wie der Passatstaub des atlantischen Oceans, so enthält dieser Staub 
sowohl Süfswasser als Meeresorganismen in seiner Mischung. Die Meeres- 
organismen sind nicht sämtlich aus fossilen Verhältnissen erklärlich. Ebenso 
finden sich südamerikanische Charakter-Formen Synedra Entomon, Arcella 
constricta,(!) Desmogonium? Keine afrikanische Charakterform. 

Sehr auffallend ist, dafs der Meteorstaub vom 31. Januar keine an- 
deren Polygastern enthielt, als solche, welche vorherrschend im Passat- 
staube des atlantischen Meeres sind, und dafs diese so gleichartig vertheilten 
Formen, auch allein nur mit Ovarien versehen, also lebensfähig, und in 


(') Diese 2 Arten sind neuerlich im europäischen Baumstaube auch beobachtet worden. 


Phys.- Kl. 1847. Ftf 


410 EHRENBERG: 


Selbsttheilung erkannt wurden: ‚Synedra Entomon, Eunotia amphioxys, 
Pinnularia borealis. 
Andererseits weicht der Staub vom 31. Januar in einigen wesentlichen 

Punkten vom Passatstaube ab, nemlich: 

1) ‘Er ist sehr viel ärmer an Polygastrieis und reicher an Phytolitharien. 

2) Es fehlen die charakteristischen Gallionellen, die Discoplea atmo- 
sphaerica und Campylodiscus, so wie die Eunotiae des Wendekreises bis 
jetzt gänzlich. 

3) Er ist weniger eisenhaltig, weniger gelb. 


Beimischung vulkanischer Crystalle. 


Das Vorkommen von Crystallen, welche Pyroxen- und Hornblende- 
Crystallen an Form und lauchgrüner, bei auffallendem Lichte zuweilen dunkler 
Farbe, ähnlich sind, hat mich veranlafst die früher analysirten Passatstaub- 
Arten auf diesen Character sämtlich noch einmal zu prüfen, da auf die unor- 
ganischen Verhältnisse so specielle Aufmerksamkeit früher nicht verwendet 
worden war. Zu grofser Verwunderung hat sich ergeben, dafs alle früher 
genannten Meteorstaubarten, sowohl die atlantischen als die europäischen 
eine ganz bedeutende eben solche Mischung von grünen und gelben, oft sehr 
schön ausgebildeten, in Wasser nicht und in Säuren schwer auflöslichen, nur 
meist sehr kleinen und sehr durchsichtigen Crystallen enthalten, so dafs 
dergleichen Crystallbildungen künftig als wesentliche Mi- 
schungsverhältnisse des Passatstaubes betrachtet werden müs- 
sen. Schwierig freilich wird es noch eine zeitlang bleiben, die wahre Natur 
dieser Crystalle wissenschaftlich festzustellen, zumal sich im Sciroccostaube 
von Malta nun auch lebhaft bräunlich-rothe (hyacinthrothe) Säulen-Crystalle 
jedoch stets nur mit unausgebildeien beiden Endflächen, öfter nur als Split- 
ter gefunden haben. 

Gerade solche, im Mikroskop lauchgrüne und braungrüne, ganz 
ebenso geformte, dem blofsen Auge nicht zugängliche, in ihren Flächenver- 
hältnissen schwer bestimmbare Crystalle und deren Splitter finden sich als 
wesentliche, oft sehr zahlreiche Bestandtheile vieler vulkanischer Staubarten 
und Tuffe, namentlich auch sehr zahlreich in den Tuffen der Eifel. In allen 
vulkanischen Staubarten wurden die lauchgrünen bisher von mir für Pyroxen 
und die braungrünen für Hornblende-Crystalle vorläufig gehalten. In den 


Passatstaub und Blutregen. 411 


Eifel-Tuffen sind diese selben Crystalle öfter mit den deutlichsten Augit- 
und Sodalit-COrystallen lagenweis dicht gemischt(') 

Das wären also doch sichtbare Spuren eingreifender Thä- 
tigkeit der Vulkane in die über dem unteren Passatwinde lie- 
gende obere, vielleicht sehr ferne Atmosphäre und deren 
Wechselbeziehung auch dort zu dem organischen Leben. 

Die Formen-Übersicht wird im folgenden Abschnitt vereinigt gegeben. 


XL 
Über den Meteorstaub vom 31. Januar 1848 aus Muhrau und 
Niesky in Schlesien.(?) 
A. Von Muhrau bei Striegau. 

Da das Staub-Meteor, welches am 31. Januar d.J. bei plötzlich sehr 
tiefem Barometerstande und gefrornem Boden mit Schneedecke sich über 
Schlesien und Nieder-Österreich verbreitet hat, den bereits gegebenen Mit- 
theilungen zufolge mit den Seirocco- und Passat-Staubmeteoren in enger 
Beziehung zu stehen scheint, so erlaube ich mir folgende, die Kenntnifs 
jenes neuesten Meteors erweiternde Nachrichten den früheren zuzufügen. 


(') Diese lauchgrünen Crystalle sind meist schmale linienförmige 4-6seitige Täfelchen 
mit 2 breiten und 2 oder 4 schmalen Längsflächen. Die Zuspitzung ist selten auf beiden 
Enden vollendet. Meist ist ein Ende unregelmälsig abgestumpft. Die vollendete Zuspitzung 
ist gewöhnlich ungleich im rechten oder stumpfen Winkel, meist so, dafs bei Äseitigen nur 
die schmalen Seiten sich zuspitzen und eine Zuspitzungslläche kürzer, die andere länger ist. 
Da wo beide Enden auskrystallisirt sind, entspricht auf gleicher Seite die kurze Endfläche 
der entgegengesetzten langen. Aulfserdem giebt es fast regelmälsige sechsseitige blalsgrüne 
Säulen mit auf den Kanten stehenden Zuspitzungsflächen an beiden Enden. 

Lielsen sich die bei durchgehendem Lichte lauchgrünen und bräunlich- grünen, auch 
zuweilen, besonders in Splittern ziemlich hochgelben Crystalle, deren Existenz unabweisbar 
ist, anstatt für Pyroxen und Hornblende, für Olivin und Chrysolith ansehen, so würde der 
Passatstaub nothwendige Mengen von Nickel ( pC. der Crystalle) enthalten 
und es würde der Grund, warum die chemische Analyse bisher in solchem Staube keinen 
Nickel fand in der zu geringen Menge des auf einmal analysirten Staubes liegen können. 
Durch Beobachtung dieser Meteorstaub - Crystalle ist somit, wenn nicht Gewilsheit, doch die 
Möglichkeit gewonnen, dals 50-100 pC. Nickel-Eisen (zu 3 pC. Nickel mit 97 pC. Eisen) recht 
wohl in 1000 Centnern von Meteorstaub (mit 14 pC. Eisen) wie ein einziger Tag ihn öfter 
gebracht hat, enthalten sein könnten. 

(2) Monatsbericht Mai 1848 p. 195. 


Fff2 


412 EHRENBERG: 


Der Geheime Oberbergrath Steinbeck hat mir ein Schächtelchen 
mit Meteorstaub übergeben lassen, welcher am 31. Januar in Muhrau bei 
Striegau in Schlesien gesammelt worden ist. Nähere Umstände sind mir bis 
jetzt nicht angezeigt worden, nur ging aus vorheriger kurzer mündlicher 
Mittheilung hervor, dafs auch dort ein Sturmwind gleichzeitig eingetreten 
ist, und dafs der Staub durch die verschlossenen Fenster in die Zimmer 
getrieben wurde. 

Die Untersuchung des hellgraubraunen ins Gelbliche ziehenden, an 
Farbe und allen übrigen Äufserlichkeiten den gleichzeitigen Staubarten von 
Breslau und Wien gleichen Staubes von Muhrau, giebt für das Mikroskop 
wieder auffallend genau dieselben Mischungsverhältnisse an organischen und 
unorganischen erkennbaren Formen. 

Im Ganzen sind in 20 Analysen nadelkopfgrofser Theilchen, bis jetzt 
47 Formen, namhaft zu machen gewesen, von denen bei weitem die grofse 
Mehrzahl ganz dieselben, wie in jenen bereits analysirten Staubarten sind. — 
Der Staub zeigte bis jetzt nur dieselben 2 eierführenden Arten kieselschaliger 
Polygastern und beide öfter auch mit den Ovarien, daneben bis jetzt keine 
anderen Arten. Beide sind Süfswasserformen aller Länder der Erde. Ame- 
rikanische Polygastern wurden nicht erkannt, auch keine Seeformen. — 
Von Kiesel-Phytolitharien fanden sich 28 Arten, darunter 2 Meeresgebilde, 
Spongolithis Caput serpentis und Triceros in Fragmenten, die übrigen alle 
sind Süfswasserbildungen. Nur Lithodontium Scorpius ist eine vielleicht 
eigenthümliche, neue Art. — Von kalkschaligen Polythalamien fand sich das 
gewöhnliche, noch jetzt lebende Kreidethierchen Textilaria globulosa. 

. Von weichen Pflanzentheilen fanden sich 11 Arten von Formen, das- 
selbe Pilzsporangium, eine im Scirocco-Staube von 1803 zuerst gefundene 
Conferva, dieselben glatten einfachen Pflanzenhaare, dieselben Moosfrag- 
mente, dieselben Parenchym und Gefäfsformen. — Von Insecten Theilen 
fanden sich 4 Arten, 3 Formen von Schmetterlings-Schüppchen und ein 
vermuthlicher Flügel eines Zweiflüglers. — Von unorganischen Formen fan- 
den sich unter vorherrschenden nicht vulkanisch veränderten Quarzfragmenten 
dieselben lauchgrünen und blafsgrünen Crystalle. 


Passatstaub und Blutregen. 413 


B. Von Niesky bei Görlitz. 

Die Probe ist von Herrn Apotheker Burkhardtin Niesky gesammelt, 
welcher durch die Zeitungs-Anzeige meines Vortrages sich angeregt gefühlt 
hat dieselbe an mich zu übersenden. 

Der Boden hatte in der Umgegend meist seine Schneedecke und war 
damals überall hart gefroren. Den Staub brachte ein Sturm. Die äufseren 
Charactere des Staubes sind vollständig denen des vorigen und der übrigen 
gleichzeitigen Meteorstaubarten gleich. Die Mischung ist ebenfalls wieder 
sehr übereinstimmend. 

Bei 20 Analysen nadelkopfgrofser Mengen sind bis jetzt 35 Arten 
von Formen beobachtet. — Unter den 9 Polygastern sind auch die beiden 
der vorigen Staubart und nur diese beiden allein sind mit Ovarien versehen. 
Dieselben sind im Scirocco und Passat-Staube ebenso bereits angezeigt. 
Meeresformen und amerikanische Formen wurden vermifst. Unter den 19 
Phytolitharien findet sich aber Spongotlithis robusta als Meeresgebild. — 
Polythalamien wurden vermifst. — Die weichen Pflanzentheile sind denen 
der übrigen gleichzeitigen Meteorstaubarten meist gleich. Der Fichtenblü- 
thenstaub scheint mir anderen Fichten-Arten anzugehören, und erinnert an 
den der Picea pectinata, während er bei den übrigen mehr dem der Pinus 
sylvestris gleicht. Dieser ist gröfser, jener constant kleiner. — Insecten- 
fragmente fanden sich nicht. 

Die unorganischen Theile, welche dem Volumen nach, wie überall, 
vorherrschende Masse sind, scheinen meist kleine Quarzfragmente ohne 
Spuren vulkanischer Einwirkung zu sein. Säure verändert sie nicht. Dar- 
unter sind aber die kleinen grünlichen Crystall-Prismen der vulkani- 
schen Tuffe. 

Beiden Staubarten fehlen wieder mehrere der Hauptformen des Pas- 
satstaubes und des südeuropäischen Scirocco-Staubes, aber viele der wesent- 
lichen sehr ins Einzelne gehenden Charactere der Mischung sind völlig 
dieselben nach folgender Übersicht: (2) 


(‘) Ein Lehrer in Berlin hat mir etwas spät nach diesen zur öffentlichen Kenntnils ge- 
kommenen Mittheilungen die schriftliche Nachricht gegeben, dals er sich erinnere, wie am 
gleichen Tage auch bei Berlin gegen den Gesundbrunnen hin eine starke Lage Staub auf dem 
Schnee von ihm bemerkt worden sei. Da die Erscheinung sehr lokal und ohne Sturm gewe- 
sen, so halte ich es nicht für hierher gehörig. Eine Probe ist nicht gesammelt. 


414 EHRENBERG: 


Meteorstaub vom 31. Januar 1848. 


Breslau. a = & 8 3 = 
ER a. a5s|2 = =) ir 
ne (Ele een 
Polygastrica: 16. a a a tz oe 
Arcella constricta | er 
Enchelys (hyalina) ala | + 
Desmogonium guyanense fragm. |\— | — | —- | —- | + 
Difflugia areolaia lH 
Discoplea a | — | > en 
Eunotia amphioxys Firi el + | riererg 
Fragilaria rhabdosoma? — |— |+ 
Gomphonema gracile -|-|1-|— | | (me 
Navicula Semen te eepee | | nee 
Pinnularia affinis — Dee |, — er 
borealis +|+|+ | +|— | ae 
viridis — 1er 
? (Amphora?) le ee | 
Synedra Entomon +/+|+|+ 
Ulna 1 — N le | 28? 
? (an S. Entomon) | |+ 
Phytolitharia: 44. 
Amphidiscus truncatus +|— | ||| — | Sr 
Lithasteriscus tuberculatus +|- |-|-| - | - | + 
Lithochaeta laevis | nl Eee 
Lithodontium Bursa — ern error 
curvalum — | — |+ 
excisum — 7 — 3 — ler 
furcatum ++ +++ |+| + | + 
nasulum +'+|i—-'—-|'+|—- ı + 
oblusum ae | je N] en Ben 
platyodon || — (Hier 
rostratum er el NE Eee 
Scorpius U BEZ ee ER 1 57 0 1 2 
Lithostylidium Amphiodon Sri | Eee ee 
angulatum IF | + Riesen 


Passatstaub und Blutregen. 


Lithostylidium biconcavum 
clavatum 
Clepsammidium 
crenulatum 
Emblema 
Formica 
laeve 
obligzuum 
polyedrum 
Pecten? 
quadratum 
Rajula 
rostratum 
Rhombus 
rude 
serpentinum 
Serra 
spiriferum 
spinulosum 
Trabecula 
unidentatum 
ventricosum 

Spongolithis acicularis 

Caput serpenlis 
cenocephala 
fistulosa 
Joraminosa 
Fustis 
robusta 
Triceros 
Polythalamia: 2. 
Grammostomum 


Breslau. 


— [u 
A. B. 
1. 2. 
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Ober- 
Wangten. 


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+++ 


Muhrau. 


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+ 


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++ ++ +++ ++ 


416 EHRENBERG: 


Breslau. E 3 er BE a i E & 
hı2|E Eriea Bele 
Be \ 2. | 3| A Sa 
Textilaria globulosa? —_ | — Sp LIEB 
Plantarum partes molles: 13. 
Seminulum plantae reniforme lawe \— \— | — | — + 
Sporangium Fungi Far + | Fer 
Confervae utrieuli . - |-|-|- | -|-|+ 
Pilus plantae simplex laevis = | na ner || = || = 
turgidus N | ee 
articulatus ob- 
Zusus | + 
acutu\ — | —-— | —  — | +| — | + 
hamatus — ala sie ae 
Musci frondosi parlicula — I1— I#+|—- | —1-|+ 
Cellulae plantarum parenchymaticae | — |+ | — | — | —-| - | + 
V asa fibrosa plantarum =. la ee Re lee 
spiralia — ll NE 
reliculata ra N Ne | re 
ocellata Pini —_ 4 Se 
Pollen Pini majus (P. sylvestris?) — Ne Al He 
minus (Piceae pectinatae?)| — — | — | -| —- | -— Be 
Insectorum particulae: 5. 
Squamula Lepidopteri 5-dentata ee 
integra re ae ur le 
integra aia\— | — — — | +|- | + 
Ala Dipteri Rn a a a EN IE | 
Pes — ? Er 
Anorganicae formae: 5. 
Crystalli Spathi (albi) cubici er | — 
rhombei el | —_ 
columnares pallide virescentesl ++ + | — | -| - | + 
alliaceo virids |+ + + + | + | + |+ | + 
Pumiceae particulae + 


Passatstaub und Blutregen. 417 


XI. 


Kurze Übersicht der neuesten Zusätze bis zum Jahre 1849. 


Da die Verhältnisse des westafrikanischen Küstenlandes als in einer 
ganz direeten Beziehung zum Luftstaube des atlantischen Meeres stehend, 
oft bezeichnet worden sind, so waren neuere Materialien vom Bonny-Flusse 
(Niger) von besonderem Interesse, welche ich zu erlangen bemüht war, und 
zu untersuchen auch Gelegenheit hatte. Das Detail dieser Untersuchung 
wurde der Akademie vorgetragen und findet sich in dem Monatsberichte 
Mai 1848 p. 227 gedruckt. Es möge hier nur bemerkt sein, dafs Eunotia 
amphiosxsys und Pinnularia borealis nicht unter den Formen sind, welche 
das Flufswasser in Guinea mit sich führt, wohl aber Fragmente von Gallio- 
nella granulata und procera mit noch anderen Gallionellen. Die dort im 
Flufswasser vorhandenen Meeresthierchen finden sich nicht im atlantischen 
Luftstaube. 

Eine neue Seite der mikroskopischen Forschungen wurde ebenfalls 
im Mai 1848 der Akademie vorgetragen (!), welche später sehr fruchtbar 
geworden. Es war dies die Beobachtung eigenthümlicher auf den 
Bäumen des Urwaldes in Südamerika zahlreich lebender mikro- 
skopischer oft kieselschaliger Organismen. Diese auffallende Er- 
scheinung einer eigenthümlichen bisher nicht geahneten Baum-Fauna war zwar 
nicht unmittelbar in ihrer Beziehung zu den Passatstaub-Organismen sogleich 
entscheidend einflufsreich, allein sie war doch von hohem Interesse und 
anregend zu beschleunigter Untersuchung mehrfacher Lokalitäten aus den 
verschiedenen Erdgegenden, wodurch vielerlei Neues erlangt wurde, was 
denn auch für diese Passatstaub-Verhältnisse speciell erläuternd geworden. 
Die Kenntnifs der in der Atmosphäre hoch abgelagerten, mithin periodisch 
getragenen Formen, war für Süd-Amerika, zumal für die Nähe jener Gegend 
von woher man viele der grofsen Wirbelorkane ableitet, die sich bis Europa 
erstrecken, wichtig. 

Eine neue Beobachtungs-Methode mit Hülfe des polarisirten Lichtes 
wurde gleichzeitig, als die Analyse und Unterscheidung der Substanzen be- 
deutend erleichternd und schärfend, angewendet, und darüber der Akademie 


()  Monatsbericht 1848 p. 213. 


Phys. Kl. 1847. Gag 


418 EHRENBERG: 


ebenfalls im Mai Vortrag gehalten, dessen Fortsetzung 1849 im Februar 
erfolgte. (') 

Das weitere lebhafte Nachdenken und Erwägen dieser Verhältnisse 
führte in derselben, durch eine epidemische schwere Krankheit aufgeregten 
Zeit zu der ernsten Beschäftigung mit dem gewöhnlichen Luftstaube oder 
Sonnenstaube hin. Daher entstand die Mittheilung neuer Beobach- 
tungen über das gewöhnlich in der Atmosphäre unsichtbar getra- 
gene formenreiche Leben mit Übersicht von 109 Arten als Mafsstab 
für Ungewöhnliches, welche im August 1848 der Akademie vorgetragen 
wurde. (?) 

Die in Berlin herrschende Cholera führte darauf die eigenthümliche 
Untersuchung und Reihe von Aufschlüssen herbei, Erscheinungen betreffend, 
welche bis dahin mit den blutfarbigen Meteoren verzeichnet wurden, die 
sich aber nun völlig ausschieden. Es war das der Akademie im October 
1848 vorgetragene seit alter Zeit berühmte Prodigium des Blutes 
im Brode und auf Speisen als gegenwärtige im frischen Zustande 
vorgelegte Erscheinung in Berlin, erläutert durch ein bisher 
unbekanntes monadenartiges Thierchen (Monas prodigiosa).(°) 
Dieser in kirchlichen Beziehungen überaus einflufsreich gewordenen Natur- 
Erscheinung, welche Tausenden von Menschen durch Hinrichtung und fana- 
tischen Mord das Leben gekostet, wurde ihre Parallele in den lebhaft him- 
melblauen und orangegelben kleinen Organismen festgestellt, welche die 
ebenfalls oft sehr unheilvoll gewordene blaue und gelbe Milch der Kühe 
beim Sauerwerden, meist auch nur auf der Oberfläche bedecken, so dafs 
die Lebensweise dieser Thierformen sich weniger den Wasser-Infusorien, als 
den Dachsand- und Baummoosthierchen anschliefst. Da von der Monas 
prodigiosa mehr als 884 Billionen (884,736 000,000,000) Einzelwesen in den 
Raum eines Cubikzolls gehen und da binnen 6 Stunden sich aus der gering- 
sten Spur eine Cubikzoll-grofse Masse bildet, so wurde hierin zugleich 
das feinste und kräftigste bisher beobachtete selbstständige Le- 
bens-Element erkannt, was gewils noch manche Räthsel einst lösen 


(‘) Monatsbericht 1848 p. 238. 246. 1849 p. 61. 

(2) Monatsbericht 1848 p. 325. Erste Tabelle p. 346. 

(32) Monatsbericht 1848 p. 349. Blaue Milch p. 358. Die gelungene Aufbewahrungs- 
methode wurde im December vorgezeigt. Ebenda p. 462. 


Passatstaub und Blutregen. 419 


wird. Ferner wurde ebenfalls im October eine zweite vergleichende Über- 
sicht von wieder 121 mikroskopischen Atmosphärilien des gewöhnlichen 
Luftstaubes, namentlich auch aus den Cholera-Verhältnissen, so wie von 
Thürmen und Bergen naher und ferner Erdgegenden mitgetheilt. (1) 

Eine fruchtbare einfache Untersuchungs- Methode der Luft auf ihre 
Staubmischung wurde im December der Akademie vorgetragen. Sie hat 
ihre Bedeutung besonders für solche Fälle, wo die electrischen Verhältnisse 
die Ablagerung des Staubes hindern. (?) 

Eine dritte Reihe von Untersuchungen und Übersichten der gewöhn- 
lichen Staubverhältnisse der Atmosphäre wurde im Februar 1849 mit 108 
Formen vorgelegt. Sie hatte den speciellen Zweck eine erste Basis und 
Material zur Vergleichung der epidemischen Krankheitsperiode zu schaffen, 
und sie hatte räumlich in fast gleicher Zeit von der Ostsee bis Ägypten aus- 
gedehnt werden können. Der aus Agypten frisch,herbeigezogene und vor- 
gelegte Häuserstaub der Atmosphäre von Cairo, von Farbe grau (vgl. p. 298.), 
erwies sich zugleich direct als verschieden vom zimmtfarbenen Passatstaube. 
Gleichzeitig wurde auch die, bisher nicht hinreichend begründete, Existenz 
ungepanzerter Polygastern im Luftstaube nachgewiesen und ein Verzeichniss 
derselben mitgetheilt. (?) 

Auch die blutartige von diesen Meteoren nun ganz abzusondernde 
Färbung im Brode wurde im März dieses Jahres von Neuem historisch und 
physiologisch weiter erläutert. (*) 

Am 28. März 1849 regnete es in Catania in Sicilien unter starkem 
Südwinde einen feinen blutrothen Sand. In der Beilage zur Augsburger 
Allgem. Zeitung vom 18. April ist zu dieser Nachricht bemerkt, dafs der 
Sand wahrscheinlich von der afrikanischen Küste herübergetrieben worden.(°) 

Am 14. April regnete es im südöstlichen Irland nach aufserordentlicher 
Finsternifs unter Hagelsturm und Blitzen ohne Donner eine schwarze rufs- 
artige Masse, wie Tinte. 


(') Monatsbericht 1848 p.370. (2) Monatsbericht 1848 p. 440. (2) Monatsbericht 
1849 p. 61. (*) Monatsbericht 1849 p. 104. 

(5) Nach einer hierüber durch Herrn Dr. Peters auf meine Bitte von Herrn Gemellaro 
eingezogenen Nachricht, ist der im Mai zu Catania gefallene rothe Staub, dort eine sehr häufige 
Erscheinung (fenomeno frequentissimo in questo suolo), besonders bei starkem Scirocco (SO.), 
wenn die Luft trübe und dunkel wird, dabei falle auch zuweilen leichter Regen. Die Pflanzen 


Ggg2 


420 EHRENBERG 


Der Professor der Chemie, Herr Barker in Dublin erhielt eine Flasche 
voll aus Carlow, und fand bei vorläufiger chemischer Prüfung einen deut- 
lichen rufsartigen Kohlengehalt als schwarze Färbung, obwohl vielen Rufs 
gebende Kohlen dort nirgends gebrannt werden. Derselbe erstattete darüber 
Bericht in der Dubliner Societät der Wissenschaften. Der schwarze Nieder- 
schlag war über 400 und nach späteren Nachrichten über 700 engl. TIMeilen 
gefallen. Die betroffenen Ortschaften sind: Abbeyleix, Kilkenny, Carlow 
und Athy. Der schwarze Regen war schr übelriechend von unangenehmem 
Geschmack und machte Flecke auf Leinewand. Die mannichfachen bereits 
vorn erwähnten historischen schwarzen Meteore regten mich an bei Herrn 
Prof. Barker selbst das Nähere zu erfragen, und ich erhielt von ihm eine 
Probe der schwarzen Flüssigkeit, welche am 5. Juli der Akademie samt 
meiner Analyse vorgelegt wurde. Die bisher noch nie geschehene genaue 
mikroskopische Untersuchung eines schwarzen Schlammregens, ergab bei 
diesem: 1) dafs die schwarze Färbung weder durch vulkanischen 
Staub (Asche), noch durch Rufs hervorgebracht worden, son- 
dern durch eine Beimischung von, bald mehr bald weniger ver- 
rotteten, schwarzen Pflanzentheilchen, 2) dafs in der Mischung 
sehr viele andere organische theils Thier- theils Pflanzenkör- 
perchen sind, nemlich, aufser den verbrennbaren, sowohl kieselschalige 
Polygastern und Phytolitharien, als auch kalkschalige Kreidethierchen; 
3) dals sehr viele lebende Thierchen, die freilich schon über 
2 Monatealte Flüssigkeit erfüllten. Danach wurde dieser tintenartige 
irländische Regen keineswegs als ein Rufsregen, sondern beobachtungsmäfsig 
als ein (durch langes Herumziehen mit Wasserdunstwolken) verrotteter 
und zersetzter, daher übelriechender sehr wahrscheinlicher 


bedecken sich dann mit einem unfühlbaren Staube von ziegelrother Farbe (di color di mattone). 
Die Landleute nennen es rossa und verwünschen es. Beim Regen färbe es das Wasser roth. 
Der Geschmack sei zuweilen zusammenziehend, zuweilen salzig. Man leite es allgemein aus 
den Wüsten von Ägypten und Syrien ab. An der Ostküste Siciliens sei dieser Wind fast 
der herrschende. Die Erscheinung gehe aber nicht über 10 Meilen von der Küste ins Land. 
In Palermo nenne man einen anderen Wind Scirocco, der aus den heilsen Thälern kommt, 
derselbe heilse Levante caldo in Trepani, Tramontana calda in Girgenti und Sciacca, Ponente 
caldo in Catania. Jener sei ein afrikanischer Wirbelwind (turbine africano), der sich über 
Sicilien verbreitet. Proben vom Mai d. J. waren nicht zu erhalten. 


Passaistaub und Blutregen. 


421 


Passatstaub- oder Blut-Regen bezeichnet, welcher dem bei Canada 
1814 gefallenen Meteore sehr ähnlich sei.(') 
Folgende 25 Bestandtheile wurden in Zeichnung und Präparaten vor- 


gelegt: 


Kieselschalige Polygastern: 


1. Eunotia Amphioxys. 
2. Navicula Semen. 


3. Synedra Ulna. 


Panzerlose Polygastern: 
Monas viridis lebend und bewegt. 


Ar 
5. Spirillum Undula lebend und bewegt. 


Kieselerdige Pflanzentheile: 


6. Lithodontium Bursa. 

7 Jurcatum. 

8. rostratum. 

9. Lithostylidium Amphiodon. 
10. Clepsammidium. 
Aal. laeve. “ 
19% quadratum. 
18% rude. 
14. spinulosum. 


Negative wichtige 
Kein Rufs, die schwarze Färbung 
aus verrotteten Pflanzentheilen. 
Kein Bimsteinstaub. 


15. Lithostylidium Trabecula. 
16. Spongolithis acicularis. 


Kalkschalige Polythalamien: 


17. Rotalia globulosa. 
18. Textilaria globulosa. 
Fragmenta varia multa. 


Weiche Pflanzentheile: 


19. Conferva tenuissima? lebend. 


DD 
==) 


. Ulvae granulatae particulae. 


21. Pflanzentheile: Epidermis. 
DR Spiralgefäfse. 
283. Fasergefäfse. 
24. Zellgewebe. 


Unorganische Theile: 


25. Feiner unorganischer doppelt 
lichtbrechender (Quarz-?) 
Sand. 

Characiere sind: 

Kein Obsidianstaub. 

Keine vulkanischen Crystalle. 

Keine verbrannten noch gefritteten 


Theilchen. 


) 


Athenaeum vom 12. Mai London 1849 p. 500 No. 1124. Monatsbericht Juli 1849. 


Der von mir analysirte schwarze geruchlose Aschenregen von den Orkney-Inseln 


vom 2. September 1845 (s. Monatsbericht 1845 p. 


398 1846 p. 376), war unzweifelhaft vulkanisch, 


ebenso der Maistaub von St. Vincent 1812 s. Monatsber. 1847 p- 152. 
Am 6. Juni erschien in Kiew ein unerhörter Staub-Orkan aus Süd-West mit schwarzen 


Wolken, Regen und Gewitter. 


Vossische Berliner Zeitung 8, Aug. 1849 Beilage. 


4923 EHuRrENBERG: 


Monas viridis bildet eine so starke Belebung, dafs die schwarze 


Farbe und sich absondernde klarere Flüssigkeit dem blofsen Auge grünlich 
erscheinen. — Ausländische Körperchen sind nicht beobachtet. 


— 1 LED Dr nn — 


Historische Übersichts - Tabelle 
des 
Passat-Staubes so wie ähnlicher besonders blutfarbiger und 
Nebel-Meteore in Verbindung mit Feuer-Meteoren und 
Meteorsteinfällen. 


Erklärung der Zeichen. 


—+ Blutregen, Blutthau, Blutschweils der 


Statuen. 

*_—? Staubregen nicht vulkanischer Art, 
nicht roth. 

* _—! rother Staub. 


N Nebel und Wolken ähnlicher Art. 
AxX übelriechender Nebel. 
!  rothe oder gelbe Farbe des Meteors. 
x übelriechender oder ätzender Regen. 
ZI rother frischer Schnee. 
HH-! rother Hagel. HHX stinkender Hagel. 
& dunkle Kugeln in der Luft. 
©  Gleichzeitiges Feuer - Meteor. 
@ Gleichzeitiger Meteorsteinfall. 
&  heiterer Himmel gleichzeitig. 
A 


Y Blutige Ähren im Felde (= Sommer). 
—? fragliche Masse, (?) fragliche Zeit. 
ww rothe Flüssigkeiten, Flüsse. 
2 rothe Meeres - Färbung. 
. Blut in Brod und Weinbeeren. 
6 o rother Insecten - Auswurf? 
( ) doppelte Zeit- Angabe. 
A Milchregen. 
& Blitze und Donner gleichzeitig. 
+tr Kreuze auf den Kleidern der Leute. 
—* verglichene Stellen der Geschichts- 
Quellen. 
** directe eigene Beobachtung je einer 
Local - Erscheinung. 
!! ununterbrochene Fortdauer des Staub- 


Fleischregen. falles angezeigt. 
& sezeas 
Vor Christus. 
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Passatstaub und Blutregen. 


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N 1750 ? 
N 1733 ©? 
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+** 1319 + 
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* 49P* 


oı 


Passatstaub und Bluiregen. 42 


Zahlen-Übersicht 
der 


directen Beobachtungen nach den Jahrhunderten. 


Vor Christus. 


16tes Jahrhundert 1 Fall. 4tes Jahrhundert 4 Fälle. 
40tes « 3 Fälle. Ites « DDERe 
Stes « 1 Fall. Ftes « 3 « 
Dies « A Fälle. 1stes « 18 « 

81 Fälle. 

Nach Christus. 

1stes Jahrhundert 5 Fälle. 11tes Jahrhundert 6 Fälle. 
Ites « AwRalle 1Ptes « 11 « 
Ites « 2 Fälle. 1dtes « 6 « 
Ätes « 4 « 1Ates « SS « 
Dtes « Ic 1dtes « 6 « 
6tes « 10 « 16tes « DA « 
Ttes « < 1 Ttes « BT v« 
Sies « 6 « 18tes « 29 « 
Ites « 109% 19ies « 63 « 

7, i a 259 Fälle. 
31 « 


340 Fälle. 


Phys. Kl. 1847. Hhh 


426 


EHrENBERc: 


Monats-Tabelle 


der 


Passatstaub-Meteore und verwandten Erscheinungen, 


Januar. | 


| 


+ 19()@ ©% 


583 © 
859 (?) 
860 (?) 
364 (?) 
I 1056 
I 1226 
+ 1349 
A?-+ 1446 © 
+ 1532 
+ 1551 ©? 
+ 1557 ©? 
x ae 
+ 1559 © 
A512 
—+- 1643 
—+- 1645 
+ 1741 
ZI ısıo 
N* asız !! 
* 1822 ! 
#* 1825 | 
*#* 1533 ! 
A* ıs37 !!? 
* 1839 ! 
HIX 1846 ? 
KR 4S4s? 


HHH> 


soweit die Nachrichten dafür ausreichen. 


Februar. 


ww} 1349 
—+- 14416 


+1557 © 


AN 1665 ! 

N 65? 

(0° 0)+ 1691 ? 
AN 1692 ! 

NAx 1753 ? 
N* ısı7z !! 

* 41933 ! 


A* 1ıs37 !!? 


* 1538 ! 
* 1839 ! 
*ısdı ! 


14 


Mara. MT 
Vor Christus. 


PA 1576 (?)| + 182 
(179) 


Nach Christus. 


NA sıı @? 
+ 1009 
x+ 112008 + 1334 


+ 54 


x+ 55300) + 1117 


A 1551 A-+ 1416 
+ 1647 ? N 4547? 
N 1665 & + 1551 
—- 1669 —- 1568 
I 1678 + 1809 
+ 1721 © * 15101? 

Fiss *L ısı6! 
*% Sn * 46! 
I ısos A* ısız!! 
A# 1512 ? + 1819? 
+I*#* ısı3 @!| *ısao! 
N* asız !! | A%*ıs37 11? 
* 4521! #4839? 
rıszal ex ısıg? 
A* 1537 ?!! 
*r* 
KrlıSzS! 
*%* 
* 1541 | 
* 4846 ? 
*%* 
”%* 
. 1847 
*%* 
* 1849 | 
23 18 


| Mai. | 


ech 


+ 1006 


+ 1554 

—+- 1556? 
+ 1571 
mann 1620 ? 

x 1629 ©? 
1711? 

N 1750? 
Aıryı @? 

* 1508? 
NA*asız !! 

* 4821! 
*R 1530! 

* 4534! 
N* 1537 !!? 

* 1840! 


l/h 
Ye 1846 


Juni. 


(0° 0)4990 
(+ 1017 ) 
+ 1113 
+ 1114 
—+ 1163 
+ 1416 
am 1550 ? 
— 1552 ? 
+ 1553 
++ 1555 

55 

+ 1617 

am 1677 
x A731 
N 1783 ?© 

Nyasız I! 
* 1822 

N* 1537 ?!! 
* 1849 ? 


Peer 


nam 


Passaistaub und Blutregen. 


427 


Juli. | August. |September. | October. | November. | December. 
Vor Christus 
A+ 217?@ © | 5 1577?) [A+ 184(?) 
AY 206 ?® (+ 169 @O%) 
Nach Christus 
+ 1550 A 358 N 1556? | Aısas? * 473 ? * 49092! 
+ 1553? | m 1144? AX-+ 1716? | + 1539 + 1548 © + 1269 ©? 
+ 1608 ? + 1147 + 1759 @| A1634 ©?| + 1755 + 1549 
+ 1646 + 1163 NAtısıs? | + 1646 * 1765 ! + 1556 ©? 
x 1771 ©? -+ 1165 A*uısız!! | L1755 N 1799 O&| -+1560© 
* 1sı4? + 1433 @O?| A* 1s34 * 55? * 4810 * 1586 © 
A* ısız !! |P+ 1548 N*ısa7 !ı?| # 55? * ısı4 @ # 1637? 
* 1818? | HX 1552 + 550 |A*asır !! * 1737 O? 
A* ıs37 !!?|) + 1618 @ + 1763 + 1819? 1801 © 
+ 1623 © + & * 49? A*# ısı7 !! 
Ax# 1716? (1764 ) N 1834 ? A * 1837 11? 
* 1515! NA ı7s5 ? N* ıs37 !!? A 1840 ! 
A* ısız !! N1799 ©&| A 1839 ? ee 
A* 1837 !!? A ısıo! A 1340 ! 
1841 ©? * + 1814! I 1843 & 
A* ısı7 !! * 0.459 
—+* 1830 !& 
A* 1837 !!? 
—+* 1846 ! 
9 17 Mi 18 16 14 


Hhh2 


428 EHRENBERG: 


Geographische Übersicht der Staubfälle nach den Ländern. 


Europa. 
1. Italien mit den naheliegenden Inseln. 
Vor Christus. Nach Christus. 

—— L . .. 
718 215 202 182 143 117 95 42 14 746 1652 Bl aus 
710 214 200 181 140 114 9A da 54 859 1689 869 p-C. 1510 217 2.C. 
46 213 194 177 137 a1 93 37 61 86h rag 874 220 p.C. 
344 212 193 172 136 108 92 30 68 1104 1791 
295 211 192 169 134 106 91 10 70 1113 1803 Sicilien. Malta. 
294 210 191 167 128 102 88 79 114 1808 ° 9172.C. 1830 p. C. 
262 209 190 166 126 100 75 90 1128 1809 559p.C. 
223 208 188 163 125 99 53 202 1222 1810 49803 
217 205 184 152 124 98 48 570 1456 1813 4849 sehr häufig. 
216 203 183 147 118 96 AA 594 1530 1816 


2. Deutschland. 


787p.C. Baiern. Mecklenburg. Ostfriesland. Schlesien. 
1009 1502 1552 1648 1571 4548 1848 
1010 1534 1554 Meiningen. Preufsen. 1556 
1337 an 1556 1576 1006 1557 Schweitz. 
1501 ass! Niellande, 1501 1572 1434 1556 
21503 Bernburg. n. (Bekien 1545 1668 1438 1755 
1539 1576 f 5 = 1548 1677 1146 1847 
1548 Böh ee 1550 1848 
en ; ö = 1120 1646 Westphalen. 
1416 8 . 
1555 2 ‘ ö. Holland. Rheinlande. IE 
1556 155 1539 1645 1568 Würtemberg. 
41691 Braunschweig. 1552 1763 ee 1643 1721 
1745 1376 14549 1638 1764 ea 1647 1755 
Hannover. Oesterreich. 1540 1555 
1586 1226 1620 4547 1557 
Hessen. 1348 1716 1549 4576 
839 1821 1349 1803 1550 1676 
869 1618 1848 1551 
3. Frankreich. 4. Piemont. 5. Spanien. 6. Portugall. 
434 860 1551 1617 1676 1830 1846 (Genua.) aNG. 275 531 1551 
464 aor1 1559 1623 1731 1839 935 1814 p.C. 1438? 1531 
541 1114 1560 1634 1748 1841 Elsafs. 1678 1841 
581 1163 1608 1658 1763 Al 1559 1744 1847 


583 1165 1616 1669 1765 1846 1623 


Passatstaub und Blutregen. 


429 


7. Ungarn. 8. Griechenland. 9. Europäische Türkei. 
1546 a.C.450 p.C. 1147 266 652 
1848 488 1637 458 782 
1194 473 860 
412 
10. England. 11. Schweden. 12. Polen. 13. Rufsland. 
53 1755 1319 1629 1269 1755 
570 1849 1529 1711 1550 1849? 
1274 
Africa. 


(Nebelküste, ununterbrochener Staubfall). 
Vor Christus. Nach Christus. 


Atlantischer Ocean 


mit den Inseln. 


En n ab N Dunkelmeer. Capverden. 
1577 1160 1627 1821 1838 1840 1579 1812 1579 
400 1181 1810 1822 38 (1631) 1816 1692 
37 1421 1810 1825 1839 1668 1830 1833 
35 1555 1815 1826 39 1683 1833 PART: 
1 . 
30 1557 1817 1836 39 1692 1834 
18 1606 1820 1837 1840 1719 1683? 
Asien. 
Arabien. Palästina Klein-Asien. Persien. Indien. 
570 und Syrien. mit Armenien. 1076 (Nebelgebirg.) 
1065 a.C. 910 1348 a.C. 950 929 1650 
1365 332 4546|, p.C. 358 ,/,1819 1815? 
1680 100 1637 860 1835 
1825 p- C. 610 897 1846 
China. Indischer Ocean. 
333 1334 1665? 1801? 
811 65 1815? 


America. 


Süd-Amerika. 


1635? 1799 
1680 1802 
1737 1812 


Australien. 
1841? 


Nord-Amerika. 


1741 1814 
1780 1843 
1785 43 


430 


00-100 N.B. 


10° -20° 


20° -30° 


30° -40° 


40° - 50° 


50° -60° 


60° -Pol. 


EHRENBERG: 


Geographische Übersicht nach den Breiten. 


Afrika’s Nebelküste von Ober-Guinea (Bonny, 
Niger). Amerikas Staub-Orkane von Guyana. 
Rother Hagel von Bogota. Staubfall 
periodisch, jährlich, häufig. 


Senegal, Gambia, Capverden.\ Nebelküste 
Beständiger Staubfall bei | von Afrika. 


Afrika. Im stillen Meere | Dunkel- 
keine Beobachtung. Antillische Meer. 
Staub-Orkane. Cumana. StauBe 
Cap blanco, Bojador, Canarien,| Orkane der 
Arabien, Beludschistan, China.| Antillen. 
Beständige Haupt-Ne-| Beludschi- 
belküste von Afrika. stan. 


Nebelgebirg in Mittel-Asien. Sicilien, Süd- 
Spanien, Aegypten, Syrien, Griechenland, 
Türkei (Edessa, Bagdad). Mittelmeer. 

Sehr häufiger Staubfall. 


Italien, Frankreich, Süd-Deutschland, Schweitz, 
Piemont, Ungarn. Jährlicher oder 
häufiger Passatstaubfall. 


Nord-Deutschland, England, Schweden, Polen, 
Rufsland. Seltner Staubfall. 


Keine Beobachtung. 


0°-10°S.B. Aus den Sunda- 


10° - 20° 


30° -30° 


30°- 40° 


40° - 50° 


50° -60° 


60° -Pol. 


Inseln, 
Congo u. Süd- 
Afrika keine 
Beobachtung. 


vom 


1815? 
Indisches Meer. 


1665? 1665? 1801? 
Mascarenen, in- 
discher Ocean. 


1635? Valdivia. 


1737? Chiloe 
1841? Südocean 
bei Neuholland. 


Keine Beobach- 
tung. 


Keine Beobach- 
tung. 


Passatstaub und Blutregen. 431 


Übersicht der Resultate und Anregungen. (1,2) 


Je mehr ich mich mit diesen Untersuchungen des atmosphärischen 
Staubes beschäftigt habe, desto mehr fühle ich, dafs der Gegenstand von 
grofser mannigfacher und rasch wachsender Bedeutung ist, dafs er mit nicht 
wenigen herrschenden und wichtigen Vorstellungen in Widerspruch tritt und 
neue wissenschaftlich wichtige Vorstellungen hervorruft und begründet. Es 
ist nur ein Anfang einer künftigen grofsen Erkenntnifs. Möge der hier fol- 
gende Versuch, aus den Beobachtungen, welche ich mühsam, sorgfältig mit 
möglichster Prüfung und Umsicht sammelte, Resultate zu ziehen, weder 
Unwichtiges zu scharf hervorheben, noch die wichtigeren, zu einer richtigen 
weiteren Forschung anregenden Gesichtspunkte, übergangen haben. Der 
Nachsicht in Worten und Formen glaube ich bei Edlen gewifs zu sein. 

1) Die hier unter dem Namen Passatstaub zusammengestellten Erschei- 
nungen der zimmtfarbenen und davon abhängigen Staub-Meteore sind bisher 
als Staub-Orkane, rother Staubregen, rother vulkanischer 
Aschenregen, Blutregen, Blutthau, blutiger Schweifs der Steine 
und Statuen, blutiges Gewässer, blutige Ähren desFeldes, rother 
frisch gefallener Schnee, Niederfall geronnenen Blutes, Fleisch- 
regen, Schlammregen, Lehmregen, übelriechender ungesunder 
Regen, Ziegelsteinregen, Tintenregen, Meteorstein-Gewölk, 
Meteorstein-Staub und Gallerte, gelbe und feuerrothe dicke 
Wolken, breunender Himmel, Nebelküste von West-Afrika und 
atlantisches Dunkelmeer oder Meer der Finsternisse verzeichnet 
worden, wahrscheinlich sind sie auch als Nebelgebirg in Mittel-Asien, 
als Feuer-Regen, als rother Hagel, als trockner Nebel, als Höh- 
rauch, als rother in Schaafwolken übergehender trockner Dunst 


(') Da der Druck dieser Abhandlung im Jahre 1849 vollendet wird, so sind im Interesse 
der Sache die geschichtlichen Materialien bis dahin in die Übersicht aufgenommen worden, 
so wie auch die zur Erläuterung aller früheren Mittheilungen nothwendigen Abbildungen 
hier erst beigegeben sind. Die Zusammenfassung der Mittheilungen in derselben historischen 
Folge wie sie gegeben worden, schien als ein überzeugendes Element richtiger Entwicklung 
derselben für künftige Forscher nützlich, während andere Leser aus den hier folgenden kurzen 
Resultaten eine leichtere Übersicht gewinnen können. 

(2) Im Monatsbericht 1847 p. 318 und 362 sind die wesentlichsten Resultate bereits in 
anderer Folge bezeichnet. 


4323 EHRENBERG: 


der Atmosphäre, als Licht reflectirende Schaafwolken, als Hof 
der Gestirne, als die Erde fegender Kometenschweif, sicher aber 
als Weltstaub und als kleine chaotische kometenartige Weltwolke 
(Chladni 1813) in mannigfache wichtige Betrachtung gezogen. Ob der 
3tägige sonderbare Höhrauch von 1547 zur Zeit der Schlacht bei Mühlberg, 
welcher Keplers Phantasie lebhaft beschäftigte, und ihm die Veränder- 
lichkeit der Himmelsmaterie vor Augen legte, aus deren periodischer Ver- 
dichtung zunächst Kometen entstehen könnten, welche durch die Sonnen- 
wärme siderische Bewegung erhielten, und wovon mehrere der obigen Be- 
zeichnungen ihren Ursprung nehmen, hierher gehört, ist nicht nachweisbar, 
aber eben so wenig abzuweisen. Das Bekannte der Erscheinung ist bereits 
fast grofs genug um auch dies in sich aufzunehmen. (') 

2) Der Name Passatstaub wurde hier (seit 1847 Monatsbericht p. 312) 
für die atlantischen Staub-Meteore zuerst angewendet. Die Verbindung des 
atlantischen Staubes mit dem Passatwinde, nicht dem Harmattan, ist 1816 
von Capitain Tuckey bestimmt ausgesprochen, sie ist durch das preufsische 
Seehandlungsschiff Capitain Wendt von 1830 an erkannt und gemeldet, 
1837 von Burnett, 1839 von Capitain Hayward ausdrücklich angezeigt. 
Auch der Admiral Roussin sondert die beständigen Küsten-Nebel vom 
periodischen Harmattan 1817. 

3) Die zusammengestellte historische Übersicht, deren Einzelheiten bis 
zu guten, oft den ersten Quellen, so weit sie bisher zugänglich waren, revi- 
dirt sind, zeigt, dafs die hauptsächlichste sicher bekannte Verbreitung des 
Phänomens an der Westküste von Mittel und Nord-Afrika und von da nord- 
östlich ablenkend über Italien gegen Armenien in der Richtung des Mittel- 
meeres ist, in ersterer Gegend ununterbrochen fortdauernd, in letzterer stets 
periodisch, dafs sie sich aber zuweilen über das ganze auch das nördliche 


(‘) Die ruhigen Beurtheiler begegnen sich in der wie durch Kepler, so durch Alex. 
v. Humboldt in dem die Völker belehrenden Kosmos, empfundenen Nothwendigkeit einer 
gestaltlosen und bildsamen kosmischen Materie. Sie mag wohl existiren und Störungen 
siderischer Bahnen und Kometen erklären. Ob aber einzelne historische Fälle gerade dazu 
gehören, wird bis auf directen Nachweis nicht terrestrischer Verhältnisse in denselben uner- 
ledigt bleiben. Nie würden auch jene Forscher und Denker terrestrische Formen in kosmi- 
schem Staube zugeben! Die Nothwendigkeit der speciellen Prüfung tritt jetzt mehr als sonst 


hervor. Sie geschehe durch das Licht polarisirende Mikroskope oder Teleskope. 


Passatstaub und Blutregen. 433 


Europa und bis Schweden und Rufsland seltner verbreitet, in Asien aber 
zwischen dem caspischen Meere und dem persischen Meerbusen (Balkh, 
Kufah, Bagdad) durchziehend, vielleicht bis Turkistan, Beludschistan, 
Kaschgar und China reicht. Ja in Kaschgar Mittelasiens tritt sogar ein Ver- 
halten wie bei West-Afrika hervor, wo die warme stets aufsteigende Luft- 
säule über dem breiten Continente der stetigen Fortbewegung des oberen 
Passates und Staubstromes von Westen nach Osten ein beständiges Hinder- 
nifs wird, auch vielleicht dessen Abweichung nach Norden veranlafst. Aus 
Süd-Amerika sowohl, als Nord-Amerika sind nur vereinzelte Fälle bemerkt, 
welche für Ablenkungen der Normal-Verbreitung wohl ebenfalls angesehen 
werden können. Besonders bemerkenswerth dürfte sein, dafs die eigent- 
lichste Nebelküste von Cap Bojador bis Capo blanco auch zugleich die Ge- 
gend der gröfsten westöstlichen Breite und Verflachung von Afrika und die 
Gegend des Bolar Takh auch die der gröfsten ähnlichen wärmeren Flächen- 
Ausdehnung von Asien ist. So begleitet denn die Erscheinung das Mittel- 
meer mit seinen Fortsetzungen von Afrika über Italien nach Asien hin und 
vom Wendekreise ab immer nördlicher gewendet bis Mittel-Asien, wie es 
die Special- Tabelle der geographischen Verbreitung weiter anschaulich 
macht. 

4) Der Passat-Stanb enthält bei chemischer Analyse Kieselerde, 
Thonerde, Eisenoxyd, Manganoxyd, kohlensaure Kalkerde, 
Talkerde, Kali, Natron, Kupferoxyd, Wasser und organische 
(verbrennbare) Materien. Bei mikroskopischer Analyse: feinen Quarz- 
sand und noch feineren gelblichen oder röthlichen Mulm (überaus feinkör- 
nigen Staub, Gallionella ferruginea?) zwischen denen sich zahlreiche organi- 
sche Formen und Fragmente befinden. Einzelner, obwohl fast stets, lassen 
sich darinn auch seltene Bimsteinfragmente, besonders aber grüne Krystall- 
Prismen erkennen, wie sie in vulkanischen Tuffen und Aschen häufig sind. 
Ebenso sind weifse in Salzsäure schnell auflösliche Kalk-Crystalle fast stets 
einzeln zerstreut vorhanden. Das Organische besteht aus Polygastern, Phy- 
tolitharien, Polythalamien und weichen Pflanzentheilen. Dagegen sind Zoo- 
litharien, Polyeystinen, und Geolithien (von Barbados) noch nie darin beob- 
achtet. Die Gesammtzahl der Formen beträgt 320 Arten. Kieselerde, Eisen, 
kohlensaurer Kalk und Kohle sind auch durch die organischen Formen 
reichlich mit erläutert. 


Phys. Kl. 1847. Li 


434 EHRENBERG: 


5) Bei weitem vorherrschend sind im Passatstaube die Süfswasser- und 
Land-Formen. Nur folgende Genera gehören dem Meerwasser allein an: 


Coscinodiscus. Grammatopkora. 
Diploneis. Biddulphia. 
Goniolhecium. 


Aufserdem sind alle Polyihalamia und einige Spongolithen Meeresbildungen. 
Sp. Clavus, cenocephala, Caput serpentis, obtusa, robusta. 

Bekannte afrikanische Characterformen finden sich nicht. Die grofse 
Mehrzahl der Formen finden sich in mehreren Welttheilen, auch in Europa 
und Afrika. Folgende Formen sind amerikanisch (s. das kleinste Leben in 
Amerika 1843): 


Arcella constricta. Eunotia quaternaria. Stauroneis dilatata. 
Desmogonium guyanense. quinaria. Surirella peruana. 
Eunotia Camelus. Gomphonema FV ibrio. Synedra Entomon. 
depressa. Himantidium Papilio. Fragmenta incerta 1. 
Pileus. Zygodon. % 
Navicula undosa. 3. 


6. Es giebt im Inneren von Afrika keinen Passatwind und keine roth- 
staubigen Oberflächen, welche den Passatstaub liefern könnten. Der Sand 
der Sahara ist weils und grau, der Nebelstaub des Passates zimmtfarben. 
Der Staub der Nebelküste ist also ein fremder Staub. Da dem unteren 
Passatwinde erfahrungsmäfsig auf dem Pic von Teneriffa ein oberer Passat 
entspricht und da der untere Passatwind kein afrikanischer Landwind, son- 
dern vom Harmattan verschieden ist, so kann nur der obere Passatwind den 
Staub bis Afrika führen und, da wahrscheinlich auch er nicht über Africa 
fortweht, sich senkend und sich in den unteren Passat umwandelnd, dort 
fallen lassen. Dafs südamerikanische Formen im Passatstaube beobachtet 
wurden, hat gleich Anfangs diese Ansicht hervorgerufen und ist derselben 
noch jetzt günstig, auch hat sich die Zahl dieser Formen stets vermehrt. Es 
kehrt mithin der in der äquatorialen Region der Windstillen und aufsteigen- 
den (südamerikanischen) Luftströme gehobene amerikanische Staub, welchen 
der obere nach Osten gerichtete Passatstrom nach Afrika hin trägt, durch 
dessen senkrechtes Herabströmen daselbst, als nach Westen gerichteter 
unterer Passatstrom, nach Amerika zurück , wenn er nicht vorher im Dun- 
kelmeere abgelagert worden. 


Passatstaub und blutregen. 435 


7) Dafs diese Staubnebel an der afrikanischen Westküste meist das 
ganze Jahr hindurch stattfinden (sich senkrecht herabsenken) und zur Zeit 
des Harmattan, vom Januar bis April, sich weiter horizontal in die See 
erstrecken, hat 1817 dem Nautical Magazin zufolge Admiral Roussin aus- 
gesprochen (the thick fog or haze prevails almost all the year on the coasts 
ofNW. Afrika). Dafs sie bei den Capverdischen Inseln während des NO. 
Windes (Passats) eine stets vorhandene und fortdauernde Erscheinung sind, 
meldet Horsburg 1826. Dafs diesen Verhältnissen Ahnliches ohne Unter- 
brechung das ganze Jahr hindurch (always) in Kaschgar stattfinde, berichtet 
Alexander Burnes 1837. Von der Ostküste Siciliens meldet es 1849 
Gemellaro. 

8) Dafs der Staub bei Afrika am gröbsten ist, mag allerdings dadurch 
begründet sein, dafs er dort aus der oberen Atmosphäre direct herabsinkt, 
während er tiefer im Ocean meist gesichtet ist, allein der Staub vom 9. März 
1838 ist nicht gröber als der von San Jago der Capverden 1833. So mag 
der Senkungsort immer die gröbsten Theile zeigen. 

9) Von den Jahreszeiten ist die Erscheinung offenbar ganz unabhängig, 
da sie ununterbrochen bei Afrika, auch in fast allen Monaten in Europa 
beobachtet ist und nur in der zu meteorischen Bewegungen und Ablenkungen 
weniger geeigneten stilleren Sommerzeit seltner verzeichnet ist. Mitten im 
Winter ist sie in Europa, ungeachtet der nassen mit Schnee und Eis bedeck- 
ten Oberfläche oft, ja am häufigsten beobachtet. Im Ganzen sind von den 
340 historichen Aufzeichnungen des Phänomens nur 199, gegen +, mit dem 
Monat verzeichnet (s. die Tabelle), davon fallen 118 auf die erste Hälfte, 
81 auf die zweite Hälfte des Jahres. 


Januar 7. Juli 9 
Februar 14 August 17 
März 23 September 7 
April 18 October 18 
Mai 18 November 16 
Juni 18 December 14 
118 WB 


October bis März, das Winterhalbjahr, enthält 112, April bis September, 
das Sommerhalbjahr, enthält 87 Fälle; also in nahe gleichem Verhältnifs. 


lii2 


436 EurEnBere: 


10) Bemerkenswerth erscheint, dafs Nordamerika nie häufig von dem 
Staube berührt worden ist, auch kein im grofsen stillen Ocean segelndes 
Schiff, woraus man schliefsen könnte, dafs die constante Staubnebel-Zone 
der oberen Atmosphäre wirklich nur der atlantischen Nord -Passat -Zone 
angehören und über Amerika, wo sie im Süden anzufangen scheint, im Nor- 
den, wie über den Sandwichs Inseln, ganz fehle, mithin auch von Feuer- 
Meteoren und Meteorsteinfällen nicht herabgedrückt werden könne. 

11) Den bisherigen Forschungen nach würde die zuweilen 1600 und 
mit Tuckeys Beobachtung 1800 Meilen breite Staubnebel-Zone der Erd- 
Atmosphäre, von fern gesehen, eine Schlinge über dem atlantischen Meere 
in der nördlichen Tropen-Gegend (der Gegend des Zodiakallichtes) mit 
einem Streifen oder zweiten Schlinge (Niederbeugung, beständiger Senkung) 
über das Mittelmeer und dessen Fortsetzungen hin bis Mittel-Asien bilden. 

12) Sehr auffallend ist die häufige Verbindung von zimmtfarbenem 
Passatstaub mit Feuer- Meteoren und auch mit Meteorsteinfällen. Vor 
Christus scheinen 18mal mit ähnlichen Verhältnissen Meteorsteine gefallen, 
jedoch ist die Gleichzeitigkeit nicht sicher und auch die vulkanischen Aus- 
würfe sind schwer zu unterscheiden. Dennoch dürften einige wahrschein- 
liche übrig bleiben, so im Jahre 217, 215, 207, 169, 102, 94, 42. Nach 
Christus sind 14, zusammen 32 angezeigt. Von einem nur (1813) hat bis 
jetzt die mit dem Steine herabgekommene Staubmasse untersucht werden 
können. Beides zusammen ist wegen herrschender Vorliebe zu den festen 
Meteorsteinen und noch herrschender Unachtsamkeit gegen die Staubmas- 
sen, noch nie zugänglich geworden. Die folgenden Geschlechter werden 
umsichtiger sein. — Mit Feuer-Erscheinung und Blutregen vereint sind vor 
Christus 5 Fälle, nach Christus 2, 1438 und 1813, verzeichnet. Ohne 
Feuererscheinung fielen historisch mit Blutregen 6 Meteorsteine vor Christus, 
2 nach Christus 1618, 570. Mit gelbem Dunst und Staub fielen 3 nach 
Christus 570, 897, 1814. — Feuermeteore mit und ohne Steintall sind bei 
ähnlichen Staubfällen 21 vor Christus, 38 nach Christus, zusammen 59 ver- 
zeichnet. Wenn auch einige dieser zahlreichen Fälle unsicher bleiben, so 
sind es viele andere doch nicht (1548, 1559). — Bei ganz heiterem Himmel 
erschien plötzlich Blutregen und Staubfall 4mal vor Christus, 9mal nach 
Christus, zusammen 13mal. Die Meteore von 1056 in Armenien, 1560 in 


Passatstaub und Blutregen. 437 


Frankreich und 1799 in Südamerica verdienen grofse Beachtung. Ja täglich 
fällt der Nebel des Dunkelmeeres bei heiterem Himmel. 

13) Obwohl man den schon vielfachen Analysen des Passatstaubes ihr 
Recht nicht vergeben kann und ihre Geltung beansprucht werden mufs, so 
würde es doch sehr gewagt und ungerechtfertigt sein, nun alle beweglichen 
Himmelslichter und Meteorsteine sogleich für terrestrische Producte zu hal- 
ten. Vieles mag im Weltraume existiren und sich gestalten, einiges (seit 
Kepler und Chladni) für kosmisch gehaltene wird terrestrisch werden 
und ist es nachhaltig schon geworden. Das herrliche mit Vorliebe geschrie- 
bene Kapitel des Kosmos über die kosmischen Nebel, Kometen und Aste- 
roiden verschiedener Art, dämpft alle terrestrischen Phantasien, welche der 
Scholle zu fest anhängen, hinlänglich, aber geläutert vom irdischen Nebel, 
dessen Lichtreflexen und Concretionen kehre der Geist freier in jene Räume 
des ungezähmten Denkens zurück. 

14) Scirocco und Föhn tragen dieselben Formen und Mischungen des 
atlantischen Passatstaubes. Ihre Wärme kommt nicht nothwendig von Africa, 
s. p. 309 vielleicht von Verdichtung des Staubes. Vergl. Kosmos I. 158. 

15) Obwohl es unbegründet und vollkommen unmöglich ist, dafs alle 
Staubwirbelstürme von einem und demselben eng begrenzten Erdpunkte alle- 
mal ihren Ursprung nehmen, so ist es doch nun scharf begründet, dafs die 
seit 46 Jahren, seit 1803, von allen untersuchten Passat-, Scirocco- und 
,„ getra- 
genen Staubarten sich in Farbe und bis zu den gröfsten Einzelheiten ihrer 


Föhnstürmen, vom atlantischen hohen Meere bis Tyrol und Salzburg 


Mischung gleichen. Wo irgend also eine wirbelnde Luftbewegung so tief in 
die oberen Schichten der Erd-Atmosphäre eingreift, dafs sie die oberen 
bald sehr dünn ausgebreiteten, bald vielleicht sehr dicht gehäuften Staub- 
wolken des Staubnebel-Stromes berührt, dessen Masse durch vielleicht 
viel tausendjährige fortwährende Mischung gleichartig geworden, so bringt 
ein solcher Orkan, bald in der Richtung von Amerika, bald von Afrika her 
den zimmtfarbenen Staub gleicher Mischung mit sich. Vergl. p. 307. 

16) Auch die über den thätigen Vulkanen ununterbrochen aufsteigen- 
den Gassäulen, mögen die Veranlassung oberer wirbelnder Bewegungen, ge- 
wisser Mischungen und Ablenkungen der Staubnebel werden, wie denn oft 
den vulkanischen ähnliche Erscheinungen gleichzeitig bei Blutregen angezeigt 


438 EHREnBERe: 


sind, die man freilich früher nicht von den Wirkungen grofser Orkane 
schied, während man, auch bei direeter Verbindung, dergleichen Staubfälle 
unrichtig vulkanische nennen würde. 

17) Die durch Luftströmung, Erdrotation und electrische Spannung 
gehobenen und gehaltenen, obwohl erfahrungsmäfsig (Al. v. Humboldt, 
Rofs) eigenthümlich durchsichtigen, Staubnebel der fernen Erd-Atmosphäre 
müssen nothwendig, sobald sie existiren, eigenthümliche Lichtreflexe, viel- 
leicht auch electrische Lichterscheinungen geben. Diese Lichterscheinungen 
müssen, der Strömungen halber, meist ein gestreiftes Ansehen haben und 
müssen der steten raschen Bewegungen der Masse halber matt und wechselnd 
sein. Ob die regelmäfsigen Erscheinungen einiger der bekannten streifigen 
matten Himmelslichter hier einen Anhalt finden, will ich der Neuheit der 
Vorstellung halber, späterer noch gründlicherer Erörterung vorbehalten. 

18) Die früher vorhandene Schwierigkeit, so viel feste Masse in der 
Atmosphäre schwebend und schnell vereint zu denken, als zu einem einzigen 
Meteorsteine von 1 Centner gehört, ist dadurch nun beseitigt, dafs, den 
p- 324 gegebenen Erläuterungen zufolge, ein einzelnes Passatstaub - Meteor 
öfter Tausende und Hunderttausende von Üentnern fester Masse mit 7 bis 
44 pC. Eisen, 37 pC. Kieselerde, 16 pC. Thonerde (s. p. 282) historisch 
getragen hat, dafs das bei Afrika im Dunkelmeere auf ein Areal von mehr 
als 1 Million Meilen fortdauernd niederfallende unmefsbar viel ist. Alle 
bekannten Meteorsteinfälle zusammengenommen sind jetzt eine unbedeutende 
Kleinigkeit von Masse gegen das Mögliche der Atmosphäre. Es fragt sich 
jetzt nur noch, ob die Höhen-Messungen und die Geschwindigkeits-Messun- 
gen bei Feuermeteoren und Meteorsteinen jetzt noch für Annahme ihres kos- 
mischen Ursprunges und Laufes stets genügen. Nur wenige dieser Beobach- 
tungen erscheinen ganz sicher und das flache, öfter kaum Fufs tiefe Einfallen 
mancher Meteorsteine in lockeren Boden, so wie die geringen Luft-Compres- 
sions-Erscheinungen dabei, stimmen nicht wohl mit einer Weltkörper-Ge- 
schwindigkeit, auch wenn diese durch Spiral-Umlaufum die Erde und Platzen 
als geschwächt gedacht wird. Ein Wirbelsturm könnte wohl auch in hoher 
Atmosphäre die vorhandenen Nebel rasch auf einen Punkt massenhaft vereinen 
und was dann eine hohe electrische Kraft in solcher Masse ungeschmolzen 
verwandtschaftlich zu ordnen oder zu schmelzen vermag, ist vielleicht so 


Passatstaub und Blutregen. 439 


wenig zu beurtheilen, als die Kraft der Vulkane. — Die p. 410 gegebene 
Anzeige leicht auch vorhandenen Nickels in hinreichender Menge, um das 
kohlen- und nickelhaltige Schwefeleisen zu erklären, ist der weiteren Prü- 
fung anheimgegeben und zugänglich gemacht. 

19) Eins der wichtigeren Ergebnisse ist die nun gleichzeitig festgestellte 
fast immer theilweise, zuweilen erstaunenswerthe Belebung dieser atmosphä- 
rischen Staubarten, s. p. 325. Als lebensfähige mit Ovarien und grünen 
Körnern versehene oder wirklich bewegte Formen sind bisher nur im Passat- 
staube direct 9 Arten beobachtet 


Eunotia amphiowys. Monas viridis. 
Pinnularia borealis. Spirillum Undula. 
Synedra Entomon. Conferva tenuissima.? 
Fragilaria Synedra. Ulva. 

rhabdosoma. 


Noch sehr viel mehr Arten fanden sich im hochabgelagerten gewöhnlichen 
Luftstaube, worüber 1848 und 1849 Mittheilungen gemacht wurden. Jedes 
geringste untersuchte (nadelknopfgrofse) Staubtheilchen einiger der Seirocco- 
Staubarten enthielt einige oder doch 1 lebensfähiges Thierchen, besonders 
häufig sind Eunotia und Pinnularia. Vollstes Leben zeigte der Tintenregen 
von Irland 1849. 

20) Einige welthistorische Begebenheiten im Völkerleben der Menschen 
haben durch diese Art von Meteoren theils allein, theils mit anderen Dingen 
zugleich eine bestimmte nachhaltige Richtung bekommen. Dahin gehören 
vielleicht die Auswanderung der Juden aus Aegypten unter Moses und Aaron 
1576 Jahre v. Christus, sicher die Schlacht der Moabiter gegen Joram, etwa 
900 Jahre v. Christus, die Schlacht der Koraischiten-Araber und Christen bei 
Beder, als erste Basis des Islam, 570 nach Christus, die anthropogenetischen 
Ideen Muhammeds im Gegensatz der mosaischen. Die Ansicht und irrige 
Auffassung des Dunkelmeeres hinderte die Entdeckung von Amerika bis auf 
Columbus (s. 1160). Die Trübung der Sonne bei der Schlacht bei Mühl- 
berg 1547, wo der Churfürst von Sachsen Johann Friedrich durch Kaiser 
Carl V. gefangen wurde und die Thronfolge von der Ernestinischen auf die 
Albertinische Linie überging, diente auch, durch Kepplers Auffassung, 
zur Erläuterung des Weltgebäudes. Der Scirocco-Sturm mit Blutregen 


440 EHRENBERG: 


von 1553, welchem die Niederlage und der Tod des Churfürsten Moritz von 
Sachsen in der Schlacht (bei Sivershausen) unmittelbar folgte. — Dafs der- 
gleichen Meteore Hinrichtungen von Menschen zur Sühnung der Gottheit 
veranlafst, wird aus Romulus Zeit berichtet. Grofse kirchliche Ceremonien 
haben sie in den neusten Zeiten (1813) noch bei ganzen Volksmassen bedingt, 
wie sie in den ältesten Zeiten auch ohne verhältnifsmäfsigen Schaden, stets 
das Gemüth besonders angeregt haben. 

21) Diese Mittheilung betrifft keinen mineralogischen Erdstaub, keinen 
astronomischen Weltstaub, keine einfachen meteorischen Luftströmungen, 
sie betrifft einen Einflufs einer bisher dunkeln Art des organischen Lebens 
in seiner Beziehung zu allgemeinen Verhältnissen der Atmosphäre der Erde. 
Sie möge und wird der Physiologie, aus deren Studium sie entsprossen, eine 
breitere Basis und intensivere Anwendung, gewils nicht die leizte, geben 


helfen. 


———— — m S—— 


Passatstaub und Blutregen. 441 


Erklärung der Kupfertafeln. 


Sämmtliche Zeichnungen sind übereinstimmend bei 300maliger Linear-Vergröfse- 
rung entworfen. 

Auf diesen 6 Kupfertafeln sind, ohne die Übersichtsgruppen, über 1200 Darstellungen 
einzelner Körper enthalten, welche die Vergleichung aller Einzelheiten der bis zum Jahre 1848 
der Untersuchung zugänglich gewordenen Staubmeteore möglich machen und die vom Jahre 
1303 einen Zeitraum von 45 Jahren in direeter Beobachtung umfassen. Es sollte hierdurch die 
eigene Vergleichung Vielen zugänglich werden, so gut sie nämlich auf graphischem Wege, 
durch Abbildung zu erreichen ist. Jede Tafel enthält in einem Cirkel eingeschlofsne Total- 
Ansichten der Masse, welche das Mischungsverhältnils anschaulich machen sollen, und nebenbei 
alle die specifisch verschiedenen bei vielen Untersuchungen vorgekommenen im Luftkreise ge- 
tragenen Einzelformen. 

Alle Zeichnungen sind von mir selbst verfertigte Abzeichnungen aufbewahrter,, stets 
der Vergleichung und Revision zugänglicher Präparate mit canadischem Balsam. 

Der grüne Inhalt mancher Polygastern bezeichnet die eingetrocknet erhaltenen Ova- 
rien, gewöhnlich sind diese durch eine dunkle Luftblase mit hellem Centrum begleitet. 

Die bunte Figur auf Tafel V ist mit polarisirtem farbigen Lichte beobachtet, um durch 
ein Beispiel zu zeigen, wie ein an sich farbloses Körperchen dadurch hervortritt, wenn es dop- 
pelt lichtbrechend ist. 

Auf Tafel IT ist ein künstlich geglühter Zustand des Staubes vergleichend anschaulich 
gemacht. 

Auf diesen Tafeln sind auch alle die Formen aufgenommen, welche die neueste Unter- 
suchung noch ergeben hat. Sie sind weit reichhaltiger als die ersten Verzeichnisse. Alle For- 
men sind jedoch in das Hauptverzeichnils der Abhandlung aufgenommen worden. 


Tafel Il. 


Diese Tafel enthält die ältesten bisher direct zugänglichen Meteore von 1803 und 1813, 
deren ersteres Wien und Italien bedeckte, deren zweites von einem Meteorsteinfalle in Cala- 
brien begleitet war. In beiden Fällen mus der Analogie nach die meteorisch gefallene Masse 
Hunderttausende von Centnern betragen haben. 


I. Scirocco- Staub von Udine und Italien 1803. 
Nach den Proben welche in Berlin und Wien aufbewahrt werden. 
A. Links im getheilten Cirkel ist der Gesammt -Eindruck des Staubes aus Klapp- 
roth’s Sammlung zu Berlin; Rechts ist der jener aus Wien erhaltenen Probe, beide stellen 


Phys. Kl. 1847. Kkk 


443 EurEnBERe: 


das Mischungsverhältnils dar. Die groben eckigen Theilchen sind, bei chromatisch polarisirtem 
Lichte iridescirende, Quarz-Sandtheilchen. Das feine ist ein gelblicher Mulm (vielleicht von 
Gallionella ferruginea mit bedingt), dazwischen liegen organische farblose Formen und Frag- 


mente. a. Gallionella granulata. b.idem. c. Gall. procera. d. Gall. crenata. e. Gall. distans. 
f. Amphidiscus truncatus. g. Lithostylidium rude. h. Lithost. Armphiodon. 1. Gallionella distans. 


k. Pinnularia Fragm. 1. Navicula Semen. m. Fibrilla plantarum. n. Crystalli viridis Fragm., 


welche die Farbe von Fig. 108 hat. 


1 
2% Gallionella granulata 
3 


marchica 
5 _— decussata 
6 
gi — procera 
fl 
8 
nn crenata 
) 
10 4 
— distans 
11 
12 — laminaris 


13 Pyxidicula? Coscinodiscus? 
14 Coscinodiscus radiolatus ? 
15 Discoplea atmosphaerica 

16 Campylodiscus Clypeus 


17 Eunotia longicornis 


18 — Argus 
19 
\ — _ zebrina? 
20 
21 —  gibba 
22 
23 
24 — tridentula 
25 
26 
27 Eunotia amphioxys 
28 26 28-30cum oyarlis. 
29 
30 
31 


32 Fragilaria rhabdosoma ? 

33 Pinnularia viridis? Fragm. 
34 Meridion vernale 

35 Gomphonema gracile ? 


36 Fragilaria diophthalma ? 


37 Cocconema lanceolatum ? Fragm. 


38 — Fusidium 


39 _ (gracile?) leptoceros 
40 Navicula Scalprum 
4 —  (affinis ?) dubia 


42 — Semen 

43  Pinnularia borealis? 

44  Pinnulariae Fragm.? (viridis Achnanthes?) 
45 Stauropterae cardinalis ? Fragm. 5 

46 Surirellae undulatae Fragm. ? 

47 Synedra Ulna 

48 
49 


50 Fragilaria amphioxys? 


\ —  Entomon cum ovario. 


51 Desmogonium guyanense? 
52 Adrcella? costata 

53 Amphidiscus Rotella 

54 

55 — 
56 


57 Lamina (Assula) umbonata hexagona 


truncaltus 


58 Lithasteriscus tuberculatus 
a Lithodontium furcatum 


60 

61 

a — rostratum 
63 — obtusum ? 
64 —_ Scorpius 
65 — Bursa 

66 — curvatum 
67 Lithostylidium Ossiculum 
68 — Trabecula 
69 — rude 

a 

74 — clavatum 
172 — quadratum 


Passatstaub und Blutregen. 4483 


73 Lithostylidium obliquum 94  Spongolithis obtusa? (Fustis ?) 
er 95  Spiroloculina — ? 

— Serra 
75 96  Polythalamii Fragmentum 
76 — angulatum 97 Rotalia globulosa? Fragm. 
77 = Taurus ? (denticulatum ?) 98 —  senaria? Fragm. 
78 _ denticulatum 99 Semen Fungi triloculare 
79 — Amphiodon 100 Cellulae plantarum obtusae prosenchy- 
so _ serpentinum maticae 
s1 — Ossiculum 101 —_ — —  parenchy- 
82 —_ biconcavum maticae 
83 — calcaratum 102 —_ _ acutae prosenchy- 
54 — Rectangulum (cum quadra- maticae 
85 to olim conjunctum) 403 Pilus plantae basi turgidus 
856] Zithosphaeridium irregulare 104. — —  simplex laevis 
r Lithostylidium Clepsammidium 105 Parenchyma Pini (Vasa fibrosa) 
88 _ Formica 106 Conferva 
89 _ Fibula 107 Lepidopteri squamulae integrae fragmen- 
90 _ spiriferum Zum 
9 = rude? 108 Crystallus columnaris viridis 


2 


JL 


93 


ps 5 $ 109 — rhombeus 
Spongolithis aciceularis 


II. Scirocco -Staub aus Calabrien von 1813. 


Von Sementini stammend in Chladni’s Sammlung. 


II 4. Mikroskopischer Gesammt-Eindruck des Staubes. Es sind viele gröbere ver- 
schiedenfarbige Sandkörnchen, zwischen denen ein feiner gelblicher Mulm befindlich ist, der 
zum grolsen Theil der Gazlionella ferruginea ebenso gut als anderen Dingen angehören könnte. 
Zwischen diesen Substanzen liegen zerstreute organische Kiesel-Formen. a. Gallionella gra- 
nulata. b. Gall. procera. c. Gall. crenata. d. Pinnularia borealis. e. Discoplea atmosphaerica 
Fragm. f. Lithostylidium Clepsammidium. g. Pinuulariae fragmentum. h. Eunotiae granulatae 


Fragm. i. Lithostyl. rude. k. Eunotia amphinxys cum Ovario. 2. Crystalli viridis fragmentum. 


1 e 
N Gallionella granulata 12 Coscinodiscus ? (minor ?) 
3 13 

_ rocera 

a 14 f Discoplea atmosphaerica 

4 _ crenata 
\ 15 
5 = a ’ 
6 16 —_ sinensis? 
—_ distans 17 , Campylodiscus Clypeus 
g 18  Eunotia Argus 
a — laminaris ? 19 — _longicornis 


n R 20 — ibberula 
10 Coscinodiscus lineatus ? 1 g 
21 —  granulata? 


Kkk2 


11 _ flavicans ? 


444 


2} Eunotia Textricula 


24 — _ zebrina 

25 —  Diodon 

26 —  (Camelus? 
7 


amphioxys, cum Ovarlis. 


2 

28 
29 
30 
31 


3 Himantidium Arcus 

33] 

34 

35(f Synedra Entomon, cum ovario. 
36 

37 — Ulma 

38 —  Entomon? 

39 Biddulphia ? 


40 Gomphonema rotundatum 
1a . 
. Fragilaria Synedra, cum ovario. 
43 — diophthalma 

44 Staurosira construens ? 

45 Fragilaria rhabdosoma ? 


46 Navieula lineolata 


u —_ Semen 

49 —  fulva 

50 — undosa 

51 — emarginata 


= Pinnularia borealis 
53 


54 — viridis 

55 — ? (Eunotia gibba ?) 
56 Stauroneis Legumen n. sp. 

57 — 
58 Stauroptera cardinalis ? 


linearis 


59 Cocconeis finnica juv. ? 
60 Surirella? paradoxa 

61 — 
62 — 


63 Arcella Enchelys 


? Entomon 


Craticula 


64 
65 
66 
67 
68 
69 
70 
71 
72 
73 
74 
75 
76 
17 
78 
79 
80 
81 
82 
83 
84 


100 
101 
102 
103 


EHRENBERG: 


} Amphidiscus truncatus 


ne ne 


clavatus 


Lithodontium furcatum 


rostratum 

platyodon 

Bursa (L. Rectangulum ?) 
nasutum 


curvatum (cf. Lithost. c.) 


Lithostylidium Fibula 


Rectangulum 
biconcavum ? 
quadratum 
Trabecula 
obliguum 
spiriferum 
rude ? 
denticulatum 

— cum Lithosphaeridio. 
irregulare 


spinulosum 
Amphiodon cum Lithosphaeridio, 


serpentinum ? 
Serra 


ventricosum 


Triceros (cum L. furcato olim). 


Ossiculum 
laeve ? 
Securis 
clavatum 


Glepsammidium 


Lithosphaeridium irregulare 


Passatstaub und Blutregen. 445 


104 Lithostylidium Clepsammidium A415 Parenchyma plantae (Musci?) 


105 — Formica 116 Pilus laevis simplex 
106 —_ ? Cassis 17 = — — _ basi constrictus (pedicellatus) 
107 Lithostomatium Rhombus as I — — _ asper 
108 Spongolithis acicularis 119 Fibra plantarum nodosa 
109  Miliola? 120 Pilus plantae articulatus asper 
110 Polythalamii fragmentum 111. — — ornithorhamphus 
111 ‚Semen reniforme tuberculosum 1422 Confervae utriculi 
4 } Sporen al erapernih 123 Crystallus columnaris viridis 
113 124 —  Tritici forma 
114 Semen constrictum costatum 

Tafel’ 


Diese Tafel enthält 3 Meteorstaub-Arten von 1830, 1833 und 1834. Es sind der Me- 
teorstaub von Malta 1830 und 2 Formen jenes Passatstaubes des atlantischen Dunkel - Meeres, bei 
San Jago der Capverden vom Januar 1833, welchen Herr Darwin gesammelt, und des vom 10. 
März 1834 von der afrikanischen Nebelküste. 


I. Sciroeco- Staub von Malta 1830. 


I 4. Total- Eindruck des 300mal vergrölserten Staubes. Es ist im Ganzen eine grö- 
bere Masse. Die eckigen unförmlichen Theilchen sind doppelt lichtbrechender Quarzsand. Da- 
zwischen liegen zerstreut Polythalamien, Polygastern und Phytolitharien. Gallionella granulata, 
procera und distans finden sich leicht heraus. In der Mitte liegt ein Fragment der Discoplea 
atmosphaerica, links oben liegt Eunotia amphioxys, unten liegt Rotalia globulosa: Zwischen 
Gall. distans und procera liegt ein grüner Crystall. 


4 
Eunotia Textricula 


Gallionella granulata 


19 ; 

h Er —  amphioxys 

5 —_— decussata 21 —  gibba? 

H 22 Gomphonema gracile? 

A — procera 

j Al Fragilaria pinnata 

8 24 
" _ distans | Synedra Ulna 
41 27 — Entomon? 
12 — crenata 23 Navicula Bacillum 
13. Discoplea atmosphaerica var.? 29 Lithasteriscus tuberculatus 
14 = — integra 30 Amphidiscus truncatus ? 
15 Campylodiscus Clypeus 31 — clavatus ? 


16 Eunotia gibberula (longieornis ?) 32 — obtusus 


446 EHREnBERrR: 


zu ind 63  Lithostylidium. denticulatum 
34 64 — quadratum 

35 65 —_ angulatum 

2 — furcatum a _ unidentatum? 
31 67 

38 68 — calcaratum 

39 Rn) 

: —_ biconcavum 

40 — Bursa 70 

A s 2 

12 KL: BEER } pongolithis acicularis 

43 73 — inflexa 

“| _ nasutum 7% —_ obtusa (Fustis?) 
45 75 —_ philippensis? 

46  Lithostylidium Securis 76 — Fistulosa 

47 —_ Triceros 77 Textilaria striata 

48 — Emblema 78 — 

49 — Emblema? 79 — Don 

50 — curvatum sS0 Grammostomum? 

51 — Rectangulum s1 _— carıinatum 
52 — clavatum 82 Spirillina 

58 83 ARotalia ? 

54 — Clepsammidium sä — globulosa 

55 85 senaria? 

56 = Formica 86 Sporangium Fungi 5-spermum 
57 — laeve 87 Plus plantae asper turgidus simplex 
58 — obliguum 53 Antenna Insecti 

59 — Trabecula s9 Crystallus rhombeus albus 
60 — dentieulatum 90 — viridis columnaris 
61 — Serra 9 — ruber columnaris 
62 — Amphiodon 


II. Nebel-Staub des atlantischen Dunkelmeeres 
von San Jago der Capverdischen Inseln Jan. 1833. 


II A. Total-Eindruck des von Herrn Darwin gesammelten Staubes im Sehfeld des 
Mikroskops. Die feinkörnige gelbe Grundmasse, welche den Eisengehalt vorherrschend hat, 
kann zur Gallionella ferruginea gehören. Darin liegt oben ein Fragment der Discoplea atmo- 
sphaerica, daneben links ist Gallionella procera, unten rechts Gall. granulata, links Gall.procera. 
Gallionella distans in verschiedenen Ansichten ist 4mal sichtbar, sowie auch andere Fragmente 
der obigen Gallionellen. In der Mitte liegt ein Pflanzentheil von 3 Fasergefälsen, einige kleine 
Samen- und verschiedene Sandtheilchen, durch eckige unregelmälsige Form kenntlich, sind 
zerstreut vorhanden. 


Passatstaub und Blutregen. 447 


1 Gallionella granulata 27 Navicula lineolata 
2 28 Pinnularia viridis 
— procera es 
3 29 — viridula 
4 30 Stauroneis dilatata? 
m crenata 

5 31 Cocconema Lunula 

6 32 _ Leptoceros? Fragm. 

s} — distans 23 a 2 

: R Synedra Ulna 

8 Discoplea atlantica ? 34 

9 —_ atmosphaerica 35 JAmphidiscus truncatus 
10 Coscinodiscus flavicans ? 36 —_ obtusus 
11 Campylodiscus Clypeus 37 Lithodontium rostratum 
12 Eunotia longicornis 38 
13 — Triodon (Zygodon? 

= (Zrs ) Lithostylidium GClepsammidium 
14 —  tridentula? 40 
15 —  gibba 4A 
16 > 42 Lithostomatium ellipticum 
— amphioxys 
ji 2 Lithostylidium Serr 
ithostylidium Serra 

18 —  Pileus u ” 
19 Himantidium Ärcus 45 — Amphiodon 
20 — gracile 46 Spongolithis fistulosa ? 
21 Fragilaria diophthalma 47 — aspera 
22 —_ pinnata? AS Seminulum Fungi ovatum 
23 49 Sporangium dispermum 


N Gomphonema gracıle 


50 — trispermurm 


25 51 Vasa fibrosa plantae 
seh Navicula affınis Fi P 


III. Staub der Nebel-Küste von West-Afrika 
vom 10. März 1834. ') 


III 4. Total-Eindruck des von Lieut. James an der Küste von Afrika gesammelten 
Staubes (Dust from coast of Afrika) dessen Lokalität nicht näher bekannt ist. Der Kreis des 
Sehfeldes ist in 2 Hälften getheilt, deren linke den natürlichen Zustand, deren rechte den ge- 
glühten Zustand des Staubes darstellt. Der Staub enthält einen sehr feinen, körnigen, gelben, 
nach dem Glühen rothen Mulm, welcher an Gallionella ferruginea im jungen Zustande erinnert. 
Darin liegen unförmliche, eckige, doppelt lichtbrechende Quarztheilchen und organische For- 
men und Fragmente. Rechts erkennt man leicht Gallionella procera und Synedra Ulna. In 
der Mitte liegt Zithostylidium Clepsammidium und ein Pinnularien- Fragment, oben Gallionella 
distans als Scheibe. Rechts ist nach oben Gallionella granulata, unten ein Fragment einer 
Eunotia und der Gall. distans. Techts am Rande ist ein Theilchen der Surirella. 


‘) Die sämmtlichen 1834 und 1838 von Lieut. James auf dem Schiffe Spey gesammelten Staub - Pro- 
ben wurden mit einem feuchten Schwamm von den Segeln und Raaen aufgenommen und in Sülswasser 
ausgedrückt, das Wasser dann filtrirt. Diese Methode ist, wo sie vermeidlich ist, nicht zu empfehlen, da 
im Schwarnme leicht fremde Seeformen befindlich sind, auch das Wasser nicht ganz rein ist. 


A48 EHurENnBERG 


1 Gallionella granulata 

2 — procera 

3 — crenata 

4 — distans 

5 Discoplea atlantica 

6 — sinensis 

7 — atmosphaerica 


3 Campylodiscus Clypeus 
9 Eunotia Argus 


10 — _ zebrina? 

41 —  gibberula 

12 —  quaternaria 
13 — _ quinaria 

14 —  amphioxys 

15 s 58 Er 
‚c} Himantidium Papilio 
17 == Arcus 

18 Cocconema Lunula 

19 — Leptoceros 


20 Gomphonema gracile 


21 Grammatophora oceanica 


22 = parallela? 
23 Synedra Ulna 

24 — _ capitata? 

25 —  Entomon 

26 


\ Desmogonium guyanense? 


- 
{ 


28 Navicula affınis? 


29 — _ Baeillum 

30 Pinnularia viridis 

31 _ amphioxys 
32 —_— viridula® 
33 — borealis 

34 = offinis 


35 Stauroneis Phoenicenteron 
35 Stauroptera paroa 


37 Surirella undulata 


38 Chaetoglena volvocina? 
39 Trachelomonas laevis 
40 Amphidiscus Rotella 


41 — Zruncatus 

42 _ obtusus 

43  Lithodontium furcatum 

44 

= — rostr atum 

46 Lithostylidium Amphiodon 
a7 — ? 

48 — Serra 

49 — denticulatum 
50 — rude 

51 — quadratum 
52 

5 nn Trabecula 

54 no obliguum 

55 

5 s D clavatum 

57 

58 ? a 
59 — Clepsammidium 


60) Lithosphaeridium irregulare 
61 Lithostylidium Formica 


62 —_ ventricosum? 
63 — angulatum 
64 u biconcavum? 
65 Spongolithis acicularis 

66 _ robusta 


67 Polythalamii fragmentum 

68 Semiculum Fungi ovatum? 

69 Musci frondosi particula 

70 Grystallus seminis Tritici forma 


71 
= 


rhombeus albus 


viridis columnaris 


Dates all. 


Die aut dieser Tafel dargestellten 2 Staub-Arten sind im hohen atlantischen Ocean, 
im eigentlichen Dunkelmeere, im Mai 1838 auf das englische Schiff Spey gefallen. Es sind ganz 


eigentliche Passatstaub - Arten. 


Passatstaub und Blutregen. 449 


I. Passat-Staub des atlantischen Oceans 
vom 7. März 1838, 300 Meilen von Afrika. 


I. 4A. Gesammteindruck des obwohl fern von Afrika gesammelten doch ziemlich gro- 
ben Staubes im Sehfelde des Mikroskops. Die unförmlichen eckigen meist bunten Theilchen 
sind Quarzsand, doppelt lichtbrechend. Dazwischen liegen ohne verbindenden gelben Mulm 
die gewöhnlichen farblosen organischen Theile und auch grüne Crystall-Splitter. Man unter- 
scheidet rechts Zizkodontium nasutum, links am Rande Lithostylidium Clepsammidium, ebenda 
gegen die Mitte Lithost. rude, oberhalb Zithodont. Bursa, Lithostylidium Serra und Spongo- 
lithis acicularis, unten Gallionella procera und Lithostylid. Ossiculum. 


1 33 
Gallionella granulata. ; Me; ‚ 
2 34 Lithostylidium Securis 
3 35 
— rocera 
A A 36 
N — curvatum 
5 — distans 37 
6 — crenata, 38 Lithodontium curvatum 
7 Coscinodiscus flavicans? 39 
8  Eunotia longicornis. 40 —_ nasuturm 
9 — Argus. 4A 
10 ? 42  Lithostylidium Emblema 
—  gibberula. 2 
11 43 — obliquum 
12 —  longicornis? Au 
—_— clavatum 
13 Veipas 45 
14 ebrina 16 
15 — Zebra? 47 —_ Rhombus 
16 —  gibba 48 
17 Himantidium gracile 49 — irregulare? 
18 Stauroneis Phoenicenteron. 50 — Triceros 
419 Navicula fulva? 51 — biconcavum 
20 Campylodiscus Clypeus 2 
— Taurus 
21 Synedra Ulna? 53 
22 Asula hexagona 54 — Rajula 
23 Amphidiscus Rotula 55 _ Trabecula 
2 —_ Martii 56 — rude 
25 — armatus? 57 — unidentatum? 
26 58 —_ quadratum 
— Zruncatus P) 
27 59 — Trabecula‘! 
28 60 -- calcoratum 
Lithodontium furcatum 
a an 61 —_ undatum 
4 62 — Serra 
E — rostralum . 
31 63 — Amphiodon 
32 _ Bursa 64 _ Clepsammidium 
Phys. Kl. 1847. Lil 


450 . EHRENBERG: 


65 74 Spongolithis mesogongyla 
66 f Spongolithis acicularis 75 Polythalamii fragm. 
67 76 Tertilaria globulosa 
68 —  robusta (ingens?) 77 Particula fibrosa Pini. 
69 ae 78 Pe u ER | 
70 79 Lithostylidium spinulosum 
71 _ cenocephala 80 Crystallus viridis columnaris. 
12 
u obtusa 
73 


II. Passatstaub des atlantischen Dunkelmeeres 


vom 8. März 1838, 356 Meilen von Afrika. 


II. 4. Gesammt-Eindruck des Staubes im Mikroskop. Der feine Quarzsand ist mit 
noch feinerem körnigem gelbem Mulm vermengt. Dazwischen zerstreut liegen die organischen 
Formen. Rechts liegen Gallionella distans, procera und granulata, sammt einem weilsen 
kronartigen Crystall, unten LitRodontium furcatum, links Lithostylidium Amphiodon, Lithost. 
‚Serra, in der Mitte ist Gallion. granulata und procera. 


26 Navicula lineolata 


c 


1 
Gallionella granulata i x x 
27 Pinnularia borealis 


3 — decussata 28 — viridis? 
4 29 — viridula 
— procera X 
5 30 — aequalis 
6 2 31 Fragilaria rhabdosoma 
— distans a 
Mi 32 Amphidiscus truncatus 
8 — taeniata 33 — clavatus 
9 34 — obtusus 
== erenata z 2 
10 35 Lithodontium furcatum 
11 — erenata 36 —_ Bursa 
12 Discoplea atmosphaerica 37 — nasutum 
13 Campylodiscus Glypeus 38 — rostralum 
141 Eunotia Zebrina 39 — platyodon 
15 40  Lithostylidium falcatum 
16 — Zebra? A — Triceros? 
17 2 — clavatum 
—  Triodon ar x 
18 43 — obliquum 
19 —  gibba 44 - laeve 
20 — amphioxys 45 — Trabecula 
21 Synedra Entomon? 46 — quadratum 
22 7 
Hımantidium Arcus ? 
23 48 
24 Synedra Entomon 49 _ unidentatum 
25 Cocconema Fusidium 50 — Serra 


Passatstaub und Blutregen. 451 


51 Lithostylidium Amphiodon (denticulatum?) 58 Spongolithis Fustis? 


BO — irregulare 59 Pilus ornithoramphus 
53 —_ Clepsammidium 60 Lithochaeta laevis 
54 — biconcavum 61 Sporangium Fungi tetraspermum 
55 — '  spiriferum 62 Wasa fibrosa plantae 
56 Spongolithis acieularis 63 Crystallus triticeus albus. 
57 —— mesogongyla 
Tafel IV. 


Die Tafel enthält die 1844 und 1845 gefertigten Zeichnungen der zu verschiedenen 
Zeiten mir von Herrn Darwin überschickten Proben eines und desselben Passat - Staubes 
vom 9. März 1838. Obschon dieser Staub in weit grölserer Ferne von Afrika gesammelt wurde, 
als die beiden gleichzeitigen der vorigen Tafel, so ist seine Mischung doch nicht feiner als 
die vom 8. März, was einen Maalstab für die sogenannten Sichtungen giebt. 


C. Gesammt-Eindruck der Mischung des Staubes A. Es sind in einem feinkörnigen 
gelblichen Mulme liegende feinere, zuweilen auch gröbere Sandtheilchen,“ zwischen denen 
zahlreiche grolse und kleine Organismen gesehen werden. Links Gallionella distans stärker 
und dünner. Oben Zithostylidium crenatum und Gallion. procera. Rechts Lithoszyl. spinulo- 
sum, clavatum, Gallion. distans. Unten Gallion. granulata. In der Mitte zwischen verschie- 
denen Fragmenten Spongolithis acicularis. 


A. Passatstaub des hohen atlantischen Meeres 
vom 9. März 1838, 380 Meilen von Afrika. 


Es ist der vom Lieut. James auf dem Schiffe Spey mit einem Schwamm aufgesam- 
melte und dann filtrirte Staub, und zwar die erste 1844 mir übersandte Probe. 


1 Gallionella marchica 17 Discoplea atmosphaerica 
2 18 Campylodiscus Clypeus 
— granulata > Fe 
3 49  Himantidium Arcus 
4 20 Surirella peruana? 
—  procera 
5 21 b : 
} Eunotia amphioxys 
6 22 
—_— distans N f 
7 23 — longicornis 
Ss 24 —  gibberula a ventre 
— cerenata 
9 25 — Argus 
10 \ 26 — _ gibberula a latere 
Chaetotyphla? reticulata ? 
11 27 —  zebrina 
12 28 — Zebra? 
Trachelomonas laevis { 
13 39 —  granulata? 
14 Himantidium Papilio 30 —  depressa 
15 Eunotia Camelus 31 —  Triodon 
16 Discoplea sinensis 32 Synedra Ulna 


L11l2 


EHrEnBERG: 


33 
34 
35 == 
36 Pinnularia aequalis? 


\ Gomphonema gracile 


rotundatum 


37 Navicula Semen 

38 
— _ affınis?® 

4 ff 

40 Pinnularia gibba 


u } — viridula 

42 

43 — viridis 

44 —  borealis 

45 Fragilaria pinnata? 

46 — ? (Nav. Bacillum?.) 
47 — rhabdosoma 

48 — _ pinnata? 

49 — _ diophthalma? 
50 Amphidiscus armatus 

51 — truncatus 

52 (51-52 Lithostyl. 
53 Ossicul.?) 
54 

a — clavatus 

56 — ‚fistulosus 

57 — obtusus 


55 Lithodontium Bursa 
59 Lithostylidium Amphiacanthus 


60 )LZithodontium curvatum 


bla 
615 
62 — nasutum 
a 
B. Zweite Analyse 
1 Gallionella granulata 
2 — procera 
3 
4 — crenata 
5 
6 _ distans 
7 Gomphonema rotundatum? 


— Vibrio? 


8 
9 Cocconema Fusidium 


e1 Peinodontium curvatum 

65 — Bursa? 

66 —_ platyodon 
67 —_ furcatum 

68 Lithostylidium clavatum 

69 — angulalum 
70 _ laeve s 
7a 

— angulatum 
73 — sinuosum 
74 — ‚Serra 

75 — Clepsammidium 
76 — Taurus ? 

Ar — biconcavum 
78 — spiriferum 
79 — calcaratum 
s0 _ denticulatum 
ii \ — Amphiodon 
82 

83 — Serra? 

84 ‚Spongolithis aspera 

85 — amphioxys 

36 — mesogongyla 
\ — obtusa 

89 2. (Fustis?) 

90 — acicularis 


91 Epidermis plantae 
92 Parenchyma plantae 
93 Polythalamii fragmentum. 


desselben Passatstaubes. 


10 Nawvicula gracilis 


14 —  lineolata (Pinnul. aequalis?) 


42 Pinnularia viridula? 
13 Siynedra Entomon? 

14 Campylodiscus Clypeus 
15 Synedra Ulna 

16 Eunotia amphioxys 

17 — Triodon 

15 — Zebra? 


Passatstaub und Blutregen. 453 


19 Eunotia gibberula 38  Lithostylidium biconcavum 
20 —  zebrina 39 —_ Clepsammidium 
21 —  longicornis 40 — Serra 

2 —  granulata ? 4 — Amphiodon 
23 Fragilaria pinnata? 42 — rude 
24 Amphidiscus obtusus 43 — laeve 
25 Lithodontium furcatum Al — ventricosum 
26 — rostratum 45 — articulatum 
27 _ Bursa 46 Spongolithis obtusa 
28 — curvalum 47 —_ aspera 
29 _ Amphacanthus 48 — robusta 
30 — nasulum 49 —_ acicularis 
31 2 er, \ 50 — Fustis ? 

Lithostylidium irregulare ” 

32 \ 51 Polythalamii fragmentum 
a In a 52 = aliud 
2 92 Plantarum particulae 
35 — Rectangulum? 5 h 
36 — quadratum 55 Confervae utriculus 
37 — unidentatum 


Tafel V. 


Diese Tafel enthält Übersichten des süd-europäischen Scirocco-Staubes von Genua 
März 1846 und von Lyon October 1846, erlaubt die Vergleichung mit dem atlantischen Passat- 
Staube und stellt dessen Übereinstimmung vor Augen. 


I. Scirocco-Staub von Genua 


16. Mai 1546. 


Die Zeichnungen der Analyse sind nach der von Hrn. Prof. Pictet gesandten Probe 
von blals-rostrother Farbe gemacht worden. 


I. 4. Gesammt-Eindruck des 300mal vergrölserten Staubes. Es ist ein feiner, wegen 
der Vergrölserung blasser gelblicher und körniger Mulm mit vielen gröberen doppellichtbre- 
chenden Sandtheilchen (wie Quarzsand). Dazwischen liegen die organischen Formen zer- 
streut. Oben liegt Zithostylidium Clepsammidium, Gallionella procera, Lithostylid. laeve, links 
Fragment eines Pflanzenhaares, unten Spongolithis Fragment; rechts Gallionella distans und 
grüne Crystall-Splitter, auch ein Weizenkorn-Crystall; in der Mitte Eunotia amphioxys und 


Gallionella granulata. 


} 


1 6 
\ Gallionella granulata 7 Gallionella distans 


je>1 


— procera S Goniothecium erenatum n. sp. 
4 9 Discoplea atmosphaerica 
— crenata 


5) 10 Cocconeis lineata 


454 


11  Chaetotyphla saxipara? 
12  Campylodisceus Clypeus 
13 Eunotia Monodon? 


14 — zebrina? 

15 —  Diodon? 

16 — _ zebrina 

17 — _ Triodon 

18 — _ tridentula 

19 

20 _ amphioxys, c. ovar. 
21 

99 


22 Cocconema cornutum 

23 Fragilaria rhabdosoma? 

24 Himantidium Arcus?‘ jue. 

25 Teabellaria® 

26 Fragilaria Synedra (Synedra bilunaris) 
Desmogonium guyanense? 


28 Navicula gracılis 


29 —_ (affinis = Stauroneis Semen) 
30 — Semen 

31} 

32 _ gracilis 

33  Pinnularia Termes 

34 _ nobilis 

35 —_ borealis 


36 .Diploneis didyma 
37  Surirella Craticula 
38 Synedra Ulna 

39 _ 


40  Lithasteriscus Zubereulatus 


Entomon 


41 Amphidiscus clavatus 


42 _ obtusus 
A) — truncatus (nec Martü) 


45  Lithodontium furcatum 


na —_— rostratum 


nasutum 


EHurEnBERG: 


49  Lithostylidium fulcatum 

50 Lithodontium Scorpius? (L.platyodon !) 
51 Lithostylidium laeve 

52 Lithosphaeridium. irregulare 

53  Lithostylidium Ossiculum 


54 E Clepsammidium 
35 _ Formica 

N _ biconcavum 

97 

58 _ quadratum 


59 Lithomesites ornatus 
60 Lithostylidium Rhormbus 
61 —_ 


curvatum 
62 _ obliguum 
63 
_ erenulatum 
a} 
65 _ Serra 
66 —_ Amphiodon 
67 5 
} — denticulatum 
68 
69 _ unidentatum 
70 _ spiriferum 


71 Lithostomatium Rhombus 
72 Spongolithis Clavus 


73 _ Caput Serpentis 

74 —_ acicularis 

75 Squamula plantae radiata 

76 _ _ —_ al. sp. 
77 Pollen? tricoccum 

78 — triqueirum 


79 Seminulum ovatum 
80 Sporangium pentaspermum 


81 Pius ornithorhamphus 


82 —  fascieulatus 

83 Crystallus rhombeus albus 

84 —_ triticeus albus 

85 _ columnaris alliaceo viridis 


86 Idem ab apice visus 


II. Scirocco-Staub von Lyon 
17. October 1846. 


Es ist der von Herrn Fournet gesandte Staub von Labillardiere bei Lyon, dessen 
gefallene Masse nach Quinson Bonnet’s Berechnung (s. oben p. 310) 7200 Gentner be- 


tragen hat. 


Passatstaub und Blutregen. 455 


II 4. Gesammt-Eindruck der Masse im Mikroskop. Es sind viele gröbere Sandtheil- 
chen, dazwischen aber auch etwas gelblicher Mulm, der sich beim Glühen röthet. Die einge- 
streuten Organismen sind sehr mannichfach, zum Theil lebensfähig. Oben ist Eunotia amphio- 


ays, links oben Gallionella granulata, mehr nach unten ist Eunotia amphioxys mit den Ovarien 
und eine Luftblase, unten ein grünes Orystall-Fragment, rechts unten Eunotia longicornis, nach 


der Mitte zu Gallionella procera. 


} Gallionella granulata 


3 _ decussata 
4 _ procera 

5 

6 _ distans 

7] 

8 


\ Discoplea atmosphaerica 


10 Coscinodiscus? 

11 Trachelomonas laevis 
12 Campylodiscus Clypeus 
13 

14f Gomphonema gracile 
15 


j) Cocconema cornutum (nec gracile) 
Ä 


18 _ Lunula 


= Eunotia longicornis 
20 


21 S / 
_ longicornis 

99 

22 

23 — Argus 

24 _ longicornis 

25 — granulata ? 

26 _ zebrina? (Argus?) 

27 _ Monodon? 

28 

29 


30 — __ amphioxys 


31 (31 cum ovario) 
32 

“ —_ gibberula 

35 _ zebrina? 


36 Himantidium zygodon? 


37 Eunotia gibba 


38 Eunotia tridentula 


39 —?  lawvis 
40 Himantidium Arcus 
41 


2. Tabellaria — ? 


43 Fragilaria pinnata ? 
44 Cocconeis lineata 


45 _ atmosphaerica 
46 Navicula Bacillum 

47 _ amphioxys 

48 \ _ Semen 

49 

50 —_ lineolata? 

51 Pinnularia borealis 

52 _ viridula 

53 _ viridis 

54 _ taeniata n. sp. 
55 —_ aequalis? 

36 Surirella Craticula ? 

.- 

3 ; \ Synedra Ulna 

58 

59 


Fragilaria pinnata ? 

Fi R 

61 Grammatophora ? parallela ? 
9 

. Incerti generis 1 

63 


64 _ 2 
65 _ 3 (Arcella costata ?) 
66 SE 
er} Amphidiscus truncatus 

1 
68 _ obtusus 
69 
70% Lithodontium furcatum 
71 
72 _ Scorpius 
ni : 

= rostratum 

74 


EHRENBERG: 


en 
ou 
[>3} 


75 99  Lithostylidium irregulare 
76 Lithodontium Bursa 400  Lithomesites ornatus 

77 401 Lithostylidium Triceros ? 
78 _ angulosum 102 —_ calcaratum 
79 en nasulum 103 _ spiriferum 
s0 _ triangulum ? 104 _ laeve 

81 Lithostylidium clavatum 105 — unidentatum 
S2a _ Serra 106 Spongolithis Fustis? 

82b —_ Taurus ? 107 _ acicularis 

83 108 Nodosoria? 

84 _ curvatum 109) Polythalamii Fragm. 

85 110 \ _ _ 

36 _ biconcavum 411 Textilaria globulosa 

87 u Clepsammidium 112, Rotalia globulosa? 

88  Lithosphaeridium irregulare 113 

89  Lithostylidium Clepsammidium 114 Rotalia al. sp. 

90 _ crenatum 115 Pilus simplex asper 

91 _ Ossiculum 116 _ — lawis 

92 _ Amphiodon 117 Pilus stellatus dichotomus 
93 a Terebra ler 6y porangium tetraspermum 
94 _ angulatum 119 _ pentaspermum 
95 _ rude 120 Pollen Pini majus laeve 
a Fr nn 121 Syuamula Lepidopteri tridentata 
97 122 Crystallus columnaris viridis 
98 _ Emblema ? 123 _ triticeus albus 


Tafel VI. 


Diese Tafel enthält den Föhnstaub und das rothe Schnee-Meteor vom Pusterthale 
und Gastein vom März 1847 und den in Schlesien und Nieder - Österreich im Januar is48 ge- 
fallenen Scirocco - Staub. 


I. Rother Schnee vom Pusterthale 
31. März 1847. 


Es ist der vom Curat Villplaner gesammelte, von Hrn. Öllacher übersandte Staub, 
welcher vom Böhmerwalde über Gastein bis Savoyen verbreitet war und von dem auf jeder 
DMeile etwa 1000 Gentner niederfielen. 


I A. Gesammt-Eindruck des Staubes bei 300 maliger diametraler Vergrölserung. 

Grober Sand, feiner gelber Mulm und zerstreute Organismen bilden die Mischung. Nach 

oben ist Gall. granulata, links Campilodiscus Clypeus Fragm.; unten ist ein gitterförmiges 
Pflanzenparenchym, daneben Gall. granulata und Amphidiscus truncatus, auch Gall. procera. 

1 


3 \ Gallionella granulata ; } —_ procera 


- 


Passatstaub und Blutregen. 


a Gallionella erenata 


rd . . 
{ _ laminaris 


Joe 


li Discoplea atmosphaerica 


distans 


12 Coscinodiscus radiolatus? 
13 Trachelomonas laevis? 
14 Gomphonema truncatum 
15 Campylodiscus Clypeus 
16 Eunotia zebrina 


17 \ _ amphioxys 
18 

19 — longicornis 
20 _ Argus? 

21 _ longicornis? 


22 Fragilaria? 


23 Pinnularia taeniata 


24 _ aequalis 
92 
Al —_ borealis 
26 


27 Fragilaria (Biblarium?) 
28 Pinnularia viridis 

29 ? 

30 Fragilaria pinnata? 

31 Stauroneis Semen 

32  Surirella Craticula 


S4f Amphidiscus truncatus 


36 — 


obtusus 


Sn, i 
38} Lithodontium furcatum 


39 
10} 
41 — 


42  Lithostylidium calcaratum 


rostratum 


platyodon 


43  Lithodontium angulosum 


44 —_ Bursa 
45 _ nasulum 
46 — Bursa 


Phys. Ki. 1847. 


47 
48 
49 


Na BoD Mo 
DE) u u 


{oe} 


IAAUTITUTaN 


9 
80 
81 


Lithostylidium denticulatum 


_ (lacerum ?) 
_ clavatum 

— denticulatuwuı 
= quadratum 
- Serra 

—_ undatum! 

— curvalum 

_ quadratum? 
—_ Rectangulum 
— Securis 

—_ irregulare 

_ serpentinum 
—_ laeve 

—_ Taurus 

_ calcaratum 
_ spiriferum 
—_ sinuosum 

_ angulatum 
_ unidentatum 
_ articulatum 
_ biconcavum 
—_ Clepsammidium 


Lithosphaeridium irregulare 


Lithostylidium Lima 


Epidermis plantae 
Spongolithis obtusa 


—_ acıcularis 


82 
} Spiroloculina 
83 


84 
85 
86 
87 
88 


Pollen Pini majus granulatum 
Semen Filicis 

Pollen? flexuosum 

Pilus dichotomus 


Squamula stellata 


Mmm 


4 


7 


458 EHurEnBERG: 


89 Pilus ornithoramphus 97 Cellulae parenchymaticae hexangulares 
90 —  dentatus 98 WVasis ocellati (Pini) particula 

91 — laevis apice spiralis 99 — porosi particula 

20 — —  basi turgidus 100 Fibra plantae nodosa 

3. — —  simplex 101 Lepidopteri sqguamula integra 

u —-  —- —  basi contractus 102 Crystallus cubicus albus 

95 Pilus laevis articulatus acutus 103 _ column. viridis 

96 Vasa fibrosa 104 _ rhombeus albus 


II. Rother Schneestaub vom Gasteiner Thale 
vom 31. März 1847. 


Es ist der von Herrn Prof. Haidinger im Dec. 1847 gesandte Staub, welcher in 
Böckstein und Singlitz gesammelt wurde, in zwischen 3000 und 7000 Fuls Höhe die nördlichen 
und südlichen Gebirgsabhänge der das Gasteiner und Raurieser- Thal begrenzenden Central- 
Alpen -Kette bedeckt hat und sich an das Meteor des Pusterthals anschlielst. 

IT 4 giebt den Gesammt-Eindruck des Staubes im Mikroskop. Ein mittelgrober, 
doppeltlichtbrechender (Quarz-) Sand- und Fichten-Blüthenstaub sind sehr vorherrschende 
Elemente. Auf dem kleinen Sehfelde liegen 5 Fliegenkopfartige Pollen - Körper der grölsern 
und platten Art. Die schwarzen Zellen sind mit Luft erfüllt, die farblosen sind: Gallionella 
distans in der Mitte, G. granulata rechts, links ein grüner Crystall ; unten liegt eine ästige, 
verrottete, schwarze Pflanzenfaser. 


1 Gallionella procera 23 Pinnularia viridula 
2 24 es viridis? Fragm. 
—_ granulata e 

3 25 Synedra Ulna 

4 — crenata 26 

Ei R Ex _ Entomon 

65) —_ distans 27 

6 _ erenata 28 Lithasteriscus tuberculatus 

7 Discoplea atmosphaerica 29 Amphidisceus truncatus 

8 —_ sinensis 30 _ obtusus 

9 Campylodiscus Clypeus 31 Assula hexagona umbonata 
10 Coscinodiscus radiatus? 32  Lithodontium furcatum 
11 Eunotia longicornis 33 _ curvatum 
12 _ Zebra? 34 _ rostratum 
13 . 35 _ nasutum 

—_ amphioxys , ER 

14 36 Lithostylidium curvatum 

b) — amphioxys c. ovario 37 _ clavatum 
16 —  gibba 38 _ denticulatum 
17 Pinnularia borealis? 39 _ calcaratum 
18 Gomphonema gracıile 40 _ crenulatum 
19 Podospheria Pupula 41 _ laeve 
20 42 _ Taurus? 
2 Navicula Semen Die Ma 
2 43  Spongolithis apiculata 


22 Pinnularia borealis? 44  Lithostylidium denticulatum 


Passaistaub und Blutregen. 459 


45 _ angulatum 34 Wasa fibrosa 

46 _ spiriferum 39 Epidermis silicea 

47 _ ventricosum 36 Vasa reticulata 

48  Spongolithis acicularis 57 —  ocellata Pini 

49 _ obtusa 98 Crystallus rhombeus albus 

50 Pollen ? tricoecum 59 _ triticeus albus 

51 Lithochaetus laevis 60 _ cubicus albus 

32 Pilus faseiculatus 61 _ columnaris viridis 

53 — asper 62 - column. lamin. viridis 


IIL Scirocco-Meteorstaub aus Schlesien und Nieder-Österreich. 


31. Januar 1848. 


Es ist der von Hrn. Göppert, von Hrn. Haidinger aus Wien u.s. w. gesandie 
Meteorstaub. Hauptsächlich beziehen sich die Abbildungen des Details auf den Breslauer 
Staub, doch sind characteristische Gruppen der anderen Lokalitäten, soweit der Platz es er- 
laubte, aufgenommen. 

III 4. Dieser Gesammt - Eindruck ist vom Breslauer Staube gezeichnet, doch war bei 
allen übrigen wenig Abweichung im Wesentlichen. Es ist ein ziemlich grober, quarziger (dop- 
peltlichtbrechender) Sand, ohne den gelben Mulm (ohne Gallionella ferruginea?) des atlanti- 
schen Passatstaubes, aber mit wunderbar ähnlicher Mischung. Oben liegen Zithoszylidium Am- 
phiodon, Lithost. Clepsammidium (im Kreuz), links ist Eunotia amphioxys mit dem Ovarıum 
und mit Luftblase, unterhalb Zizhosz. Serra, unten ein grüner Säulen - Crysall und Zithost. rude, 
rechts Lithost. crenatum, in der Mitte Zithost. guadratum und Pinnularia borealis. 1-48 sind 
Formen des Breslauer Staubes, 44 und 49-59 sind aus dem Wiener Staube, 60-68 sind aus 
dem Staube von Hirschberg, 69-75 sind von Nieder - Kummernick, 76-86 sind von Muhrau. 


1 18 5 a 
Lithodontium rostratum 
2 : 19 
Eunotia amphioxys, c. ovar. ö 

e 20 _ platyodon 

4 21 _ Scorpius 

3  Synedra Entomon 22 _ obtusum 

6 23 _ nasutum 

7\ Pinnularia borealis 24 E 

E — zriangulum 

8 2: 

9 Synedra Entomon? 26 Lithostylidium clavatum 
10 Pinnularia viridis? 27 _ calcaratum 
11 Navieula Semen 28 _ Fibula 
12 Arcella constrieta 29a ER 

£ : R _ Clepsammidium 
153  Lithasteriscus tuberculatus 29h 
14 Amphidiscus truncatus 29Ic _ spiriferum 
15 s ; 30 _ 7 

\ Lithodontium furcatum ya Rn 

16 30b n angulatum 


A _ Bursa 31 —_ Taurus? 


460 


Eurengenrc: Passatstaub und Blutregen. 


32 Lithostylidium biconcavum 


33 _ quadratum 
34 Spongolithis robusta 

39 Ase BR; 

36 —_ acicularis 


37 Vasculum spirale plantae 
38 Vasa fibrosa plantae 

39 Pilus inflexus 

40° — 


41 Sporangium triloculare 


artliculatus obtusus 


42 Cellulae plantarum 
43 Crystallus columnaris pallide viridis 


44 —  cubicus albus (Wien) 

45 _ columnaris pallide viridis 
46 columnaris viridis 

47 _ hexagonus regularis viridis 


48 Particula pumicea 
507 Eunotia amphioxys, cum ovarlis 


52 Fragilaria rhabdosoma! cum ovarlıs 


3 


Ju 


1 Synedra Entomon, cum ovariis 


54 

55 Eunotia amphioxis. 
56 Spongolithis Fustis? 
57 Vasa fibrosa (Pini) 
53 Musci foliosi stolones 
59 Textilaria globulosa! 


60 
61 
62 
63 
64 
65 


Trachelomonas laevis 
Difflugia areolata 
Navicula dubia 

_ Semen 
Arcella Enchelys 
Lithostylidium Formica 
Lithomesites Pecten 
Seminulum (triticei forma) 
Crystallus columnaris albus 
Desmogonium guyanense? 
Difflugia cellulosa 
Gomphonema gracıle 
Fragilaria constricta 
Synedra Ulma? 
Spongolithis cenocephala 
Seminulum reniforme 
Spongolithis Triceros 

— Caput serpentis 
Lithostylidium comtum 
Denticulus plantae marginalis 
Textilaria globulosa 
‚Sporangium 6 loculara 

_ 4 loculare 
Pollen? 
Pollen Pini minus 
Lepidopteri sguamula 5 dentata 


Crystallus columnaris aurantiacus. 


I — 


chung. 


Passatstaubl Scirocco-Staub 
-Meer (mit Meteorstein 1813) 
| N m N —— 
Er 1803 = 
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5 Ee) Fa MEN Se = = ) 
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Achnanthes *+ R 
Amphora lib, * | '.| ' I 7 
Arcella cons ' | "| ° Ele ee: 3% 
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Biddulphia 2 * + 
Campylodisc ' : + 
Chaetoglena en 
Chaetlotyphli \, 1 & a Be 
Closterium m 
Cocconeis af * 
lu . - . . + 
Cocconema j lee: | | 203 
| 3 el elle Re lan 


Föhnstaub 
nn me 


Tyrol und Salzburg 


1847 
Tyrol 


—— 
AIBIC 


Salzburg 


13114 |45|16|17118[19|20| 21 


s 52° N. Br. getragenen mikroskopischen organischen 


Winter-Staub-Orkan 1848]|Tin- 


Schlesien und Nieder-Österreich | ten- 


Ten | \_ U 
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2EI2|21——|:3|2|2| 5 
BUZZ OH WAT IB RE FR g = 


Vergleichende Übersicht 


N der vom regelmälsigen Passat-Wind, so wie bei Scirocco - und Föhn-Stürmen von 1803 bis 1849 in 17° bis 5% N. Br. getragenen mikroskopischen organischen 
und unorganischen Formen und deren übereinstimmender Mischung. 


E. 


Atlantischer Passatstaub| Scirocco-Staub Fol Winter-Staub-Orkan 1848 [Tin- Atlantischer Passatstaubl| Scirocco-Staub Winter-Staub-Orkan 1848ITi 
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2, 
3 P sa ER | 
= - 


Vergleichende Übersicht 


der vom regelmälsigen Passat-Wind, so wie bei Scirocco- und Föhn-Stürmen von 1803 bis 1849 in 17° bis 52° N. Br. getragenen mikroskopischen organischen 
und unorganischen Formen und deren übereinstimmender Mischung. 


Ir 


Atlantischer Passatstaub| Scirocco-Staub S b Winter-Staub-Orkan 1548 |Tin- Atlantischer Passatstaubl Scirocco-Staub .- Winter-Staub-Orkan 1848]Tin- 
Dunkel- Meer (mit Meteorstein 1813) Föhnstau Schlesien und Nieder-Österreich |ten- Dunkel-Meer (mit Meteorstein 1813) Föhnstaub Schlesien und Nieder-Österreich 
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Zu Hrn Ehrenberg's Abhandl. Physik.Bl.1847. Taf V- 


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Mathematische 


Abhandlungen 


der 


Königlichen 


Akademie der Wissenschaften 


zu Berlin. 


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Aus dem Jahre 


Annan nano onnannnernengn 


Berlin. 


Gedruckt in der Druckerei der Königl. Akademie 
der Wissenschaften. 


1849. 


In Commission in F. Dümmler’s Buchhandlung, 


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STEINER: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, und über einige damit 
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Über 
die Asträa. 


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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 14. Januar 1847.] 


Sa einem Jahre ist unser Sonnensystem durch zwei neuentdeckte Haupt- 
planeten so erweitert worden, dafs wir jetzt schon mehr neue Planeten zäh- 
len, als die Alten uns an sehr hellen Planeten überliefert haben. Zugleich 
sind auch die Entdeckungen derselben von so vielen verschiedenen Theilen 
der astronomischen Wissenschaft, diese als Ganzes betrachtet, ausgegangen, 
dafs besonders durch den neuesten Planeten, Neptun, der Kreis der Möglich- 
keiten auf diesem Felde fast abgeschlossen erscheint. Die optische Volkom- 
menheit der Instrumente, die Genauigkeit der Meridianbeobachtungen und 
die consequente Durchführung derselben, die specielle Ortskenntnifs durch 
vieljährige Bemühungen erworben, die Vervollkommung der graphischen 
Hülfsmittel, selbst eine kühne, durch die Erfahrung keineswegs bestätigte, 
Hypothese hatten bis dahin zu der Entdeckung der Planeten geführt. Die 
theoretische Vervollkommung der Wissenschaft war noch im Rückstande ge- 
blieben, obgleich es angedeutet war, dafs auch sie, unterstützt von langjäh- 
rigen genauen Beobachtungen, schon vor längerer Zeıt zu einer solchen Ent- 
deckung hätte führen können. Um so erfreulicher ist es, dafs durch Herrn 
le Verrier es vermieden worden ist, dafs ähnlich wie etwa bei der Aberra- 
tion, eine Erscheinung, die theoretisch hätte vorausgesehen werden können, 
erst durch die Erfahrung nachgewiesen werden mufste, um hinterher theore- 
tisch erklärt zu werden. Vielmehr hat diesesmal die Theorie die Erfahrung 
bestimmt und überraschend richtig geleitet, und daraus hauptsächlich ist die 
grofse freudige Anerkennung zu erklären, welche die Männer vom Fache die- 
ser Entdeckung geschenkt haben. Entfernt läfst sich hiermit nur die Voraus- 
Verkündigung der Nutation der Erdaxe durch Newton vergleichen, bei 
Math. Kl. 1847. A 


b) Encke 


welcher ebenfalls der Umstand stattfand, dafs durch die Theorie eine Bewe- 
gung im Voraus angedeutet war, welche durch die besseren Instrumente der 
neueren Zeit unfehlbar gefunden worden wäre, wenn man auch nicht gewufst 
hätte, dafs sie vorhanden sein müsse. Es findet aber hiebei der bedeutende 
Unterschied statt, dafs bei der Nutation nur das Gesetz und die Periode theo- 
retisch vorhergesagt war, während die Gröfse der Bewegung, wegen mangeln- 
der Kenntnifs der Elemente und theoretischer Unvollständigkeit, erst durch 
die Erfahrung ermittelt werden mufste. Bei dem Neptun scheint mit weit 
gröfserer Annäherung auch das Maafs vorherverkündigt worden zu sein. 

Es ist natürlich, dafs bei einer solchen Gelegenheit Vergleichungen 
zwischen den verschiedenen Arten der Entdeckung angestellt werden und 
angestellt worden sind. Es möge mir deshalb erlaubt sein, ebenfalls eine 
kurze Zusammenstellung hier folgen zu lassen. 

Die alten Planeten, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, zeich- 
nen sich durch den Glanz ihrer Erscheinung so aus, dafs ihre Bewegung un- 
ter den Fixsternen keinem aufmerksamen Beschauer des Firmaments entge- 
hen konnte, selbst wenn er aller äufseren Hülfsmittel entbehrte. Ihre Ent- 
deckung fällt deshalb auch in die vorgeschichtlichen Zeiten. Uns Bewoh- 
nern der nördlichen Hemisphäre kann es dabei nur höchst merkwürdig er- 
scheinen, dafs die Alten den Lauf des Merkur, einen an sich sehr hellen 
Stern, der aber nur 27° von der Sonne sich entfernt und deshalb bei uns 
fast immer der Dämmerung wegen für das blofse Auge unsichtbar bleibt, 
schon so richtig erkannt haben, da nach dem Macrobius und andern Zeug- 
nissen, die alten Ägypter schon ihm einen Kreislauf um die Sonne zugeschrie- 
ben haben. Allerdings konnte die Analogie der Venus sie darauf führen. 

Die Grenzen des Sonnensystems blieben selbst anderthalb Jahrhun- 
derte nach der Erfindung der Fernröhre unverändert dieselben. Daher die 
ungemeine Überraschung, als am 13. März 1781 Herschel in Bath einen be- 
weglichen Stern mit merklicher Scheibengestalt auffand. Die Überraschung 
war so grofs, dafs man in der ersten Zeit ihm, trotz seiner Ähnlichkeit mit 
den älteren Planeten, eine ungewöhnliche Cometen - Natur zuschrieb. 

Diese Entdeckung wurde durch einen grofsen Fortschritt herbeige- 
führt, den Herschel in der Verfertigung der Spiegeltelescope gemacht hatte, 
verbunden mit dem Vertrauen, welches seine Instrumente ihm einflöfsten, 
durch sie die Parallaxe der Fixsterne, das Problem, welches schon die 


über die Asträa. 3 


Aberration und Nutation hatte finden lassen, zu lösen. Die Anstrengungen, 
die er machte, gehören zu den ehrenvollsten in der Wissenschaft. Über- 
zeugt, dafs die vollkommenste Gestalt der Spiegel, wenn ihre Brennweite 
6 Fufs übersteigt, nicht von der theoretischen Befolgung der Regeln, wel- 
che man zur Hervorbringung einer parabolischen Gestalt besitzt, abhängt, 
da die letzte Politur häufig diese Gestalt ändern kann, sondern von den prak- 
tischen Kunstgriffen, machte er sich zu seinen 7-, 10- und 20 füfsigen 
Telescopen, zu jedem 3 Spiegel. Den besten derselben setzte er jedesmal 
ein und durchmusterte mit ihm den Himmel, die andern schlif er um, und 
wählte dann von neuem unter den corrigirten den besten aus, so dafs er stets 
als Prüfstein bei den folgenden Arbeiten, das beste übrig behielt, was seine 
früheren Leistungen ihm gewährt. Er verband damit eine leichte mechani- 
sche Handhabung der langen Röhren, die ihm jeden Punkt des Himmels 
leicht und ohne Anstrengung einzustellen erlaubte. Endlich liefs er sich 
durch ungünstige äufsere Verhältnisse nicht abhalten, den Himmel mit Ver- 
gröfserungen zu durchmustern, die damals zu den unerhörten gehörten. 
Mit Anwendung einer 227 maligen Vergröfserung, die nur ein Feld von 44’ 
gewährte, fand er an dem angegebenen Abend einen Stern zwischen den 
Hörnern des Stiers und den Füfsen der Zwillinge, da wo die Milchstrafse 
durch den Thierkreis geht, der eine merkliche Scheibe zeigte und bei 460 
und 932 mal sie noch ansehnlich vergröfserte. Seine Mittel zur Messung 
(die tägliche Bewegung betrug damals etwa 4’) würden ihm schwerlich er- 
laubt haben, ihn an der Bewegung zu erkennen, selbst wenn er darauf aus- 
gegangen wäre. Die Entdeckung war die reine Frucht seiner vortrefflichen 
selbstverfertigten optischen Hülfsmittel, verbunden mit einer Beharrlichkeit 
in der Verfolgung seines Ziels, und in der Anwendung der Instrumente, die 
nur der innere Trieb einem höchst energischen Manne geben kann. Das 
Telescop war 7 füfsig, folglich keineswegs von so ungewöhnlicher Gröfse. 

Diese merkwürdige Entdeckung führte eine Zeit lang darauf, auf ähn- 
liche Weise mit starken Vergröfserungen den Himmel zu durchmustern, um 
an der Scheibengestalt andere Planeten zu erkennen. Herschel selbst soll 
es längere Zeit fortgesetzt haben, aber ohne Erfolg. Erst am 1. Jan. 1801 
ward ein zweiter neuer Planet von Piazzi in Palermo aufgefunden. 

Piazzi hatte den Auftrag bekommen, eine Sternwarte anzulegen, und 
war zu dem Ende selbst nach England gereist, um die Instrumente bei dem 


A2 


4 Encke 


berühmten Ramsden zu bestellen und bei ihrer Ausführung gegenwärtig zu 
sein. Es ist für den gegenwärtigen Zweck Nebensache, dafs das für ihn gear- 
beitete Instrument in gewissem Sinne Epoche in der beobachtenden Astro- 
nomie macht, da es der erste gröfsere Vollkreis ist, welcher die Vorzüge 
dieser Construktion vor den sonst gebräuchlichen Quadranten und Sextan- 
ten in die Augen fallen liefs, so sehr, dafs man in der neueren Zeit ganz den 
Vollkreisen sich zugewandt hat, da die Vervollkommung der Theilmaschinen 
die Vergröfserung des Radius, welcher sich bei Instrumenten, welche nur 
Abtheilungen des Kreises enthalten, anbringen läfst, nicht von so grofsem 
Werthe erscheinen läfst, als die geschlossene Gestalt des ganzen Kreises. 
Merkwürdiger ist die Anordnung, die Piazzi bei seinen Beobachtungen be- 
folgte, und die wesentlich zu der Entdeckung des Planeten beitrug. Piazzi 
begann sogleich die Beobachtung eines grofsen Sternkatalogs, bei welchem 
ihm Wollaston’s Sternverzeichnifs zur Grundlage diente. Um möglichst 
schnell und bequem und doch dabei mit hinreichender Genauigkeit sein Ziel 
zu erreichen, schlug er folgenden Weg ein, der erst jetzt durch den höchst 
verdienstlichen Druck der Piazzischen Beobachtungen, den Littrow in Wien 
in den Wiener Annalen veranstaltet hat, völlig aufgeklärt ist. Der schöne 
Sieilianische Himmel wird selten durch Wolken getrübt, welche eine be- 
stimmte Beobachtung verhindern könnten, fast das ganze Jahr hindurch ist 
er wolkenfrei. Piazzi wählte daher für mehrere Tage hintereinander (mei- 
stens 6) bestimmte Sterne aus, die er vorzugsweise und bestimmt beobach- 
ten wollte. Einen solchen Satz nannte er Corso, und ordnete dann die Be- 
obachtungen desselben Sternes an den verschiedenen Tagen eines solchen 
Corso zusammen. Bei der raschen Aufeinanderfolge der Tage und der sehr 
seltenen Unterbrechung konnte die Reduktion der Beobachtungen ohne 
Nachtheil nur mit dem Mittel aus den Beobachtungen desselben Sternes an- 
gestellt werden, und zugleich gab die Vergleichung der einzelnen Tage unter 
sich einen sichern Maafsstab zur Schätzung der Genauigkeit und Ausmerzung 
des Fehlerhaften. In den Zwischenzeiten zwischen den ausgewählten Ster- 
nen nahm er solche Sterne, die in der Nähe befindlich, ohne die Beobach- 
tungen der bestimmten Sterne zu stören, mitgenommen werden konnten. 
Aus dieser für sein Klima und seinen Zweck sehr angemessenen Anordnung 
ist es allein zu erklären, dafs ihm die Ceres nicht entging. Denn als er am 
ersten Abende sie beobachtet, brachte es die Reihefolge der folgenden Tage 


über die Asträa. b) 
mit sich, dafs er auch an den folgenden Tagen sie erwartete, und sofort an 
der merklichen Verrückung erkennen konnte, es sei ein beweglicher, einer 
besondern Betrachtung würdiger Stern. Die Entdeckung war daher die 
Folge einer umsichtigen consequent durchgeführten Vertheilung einer grofsen 
Arbeit. Für unsere ungünstigen climatischen Verhältnisse, wo längere Zeit 
häufig zu bestimmten Stunden die Meridianbeobachtungen unterbrochen wer- 
den durch Wolken, würde diese Vertheilung höchst unzweckmäfsig sein, wenn 
man sie ausschliefslich beibehalten wollte. 

Die Entdeckung der Ceres war durch den Aufschwung, den sie durch 
Hrn. v. Zach der deutschen Astronomie verschaffte, von den wichtigsten 
Folgen. Die Gewinnung von Gaufs für praktische und theoretische Astro- 
nomie, die sich unmittelbar daran knüpfte, da er allein das durch die Ent- 
deckung der Ceres hervorgerufene Problem der Bahnbestimmung aus nicht 
mehreren Beobachtungen, als dazu nöthig sind, löste, gehört nicht unter die 
kleinsten Vortheile, welche die Wissenschaft davon hatte. Aber weder die 
Genauigkeit der Piazzischen Beobachtungen, noch die Dauer derselben in 
Bezug auf die Ceres, konnte selbst bei den Berechnungen eines Gaufs den 
Platz, wo die Ceres nach ihrer Rückkehr von der Sonne sich finden mufste, 
genau genug angeben, um nicht der Hülfe der genausten Kenntnifs des Stern- 
himmels sehr bedürftig zu sein. Nur mit grofsem Bedauern kann man be- 
sonders in der neuern Zeit bemerken, dafs dieser Theil der astronomischen 
Wissenschaft sehr und unverdient meistens zurückgesetzt wird. Allerdings 
nur von denen, welche aus Bequemlichkeit sich nicht damit bekannt gemacht 
haben, und meistens von Solchen, die es angenehmer finden (leichter ist es 
gewifs), sich in Worte ergehen zu lassen, als selbst Hand anzulegen. An sich 
schon sollte in keiner angewandten Wissenschaft irgend ein Theil hintange- 
setzt werden, am wenigsten ein so wichtiger, wie der der Kenntnifs des Ma- 
terials. Wenn in allen Naturwissenschaften die Kenntnifs des Materials einen 
grofsen und von keinem Bearbeiter des Faches hintanzusetzenden Aufwand 
von Kräften und Zeit erfordert, dem keiner ungestraft sich entziehen kann, 
so findet dasselbe eben sowohl in der Astronomie statt, wenn auch bei ihr 
die Klassen und Eintheilungen weniger auf wesentliche Merkmale sich grün- 
den. Es ist gewifs ein Nachtheil der zur genauen Ortsbestimmung allerdings 
unentbehrlichen Meridianbeobachtungen, dafs bei den eigentlichen Astrono- 
men vom Fach diese astrognostischen Kenntnisse immer seltener werden. 


6 Encke 


Wenn sie auch mechanisch gesammelt werden können, so zeigt doch nament- 
lich auch das Beispiel von Olbers, dafs bei ihrer Einsammlung leitende 
Ideen gar nicht ausgeschlossen zu werden brauchen, und mehrere der inter- 
essantesten Abhandlungen von Olbers gründen sich auf diese seine umfas- 
sende Kenntnifs der Einzelnheiten des Sternsystems. Sind denn in den rein 
theoretischen Wissenschaften nicht ganz ähnliche grofse Theile, die als rein 
mechanisch angelernt werden müssen, und die häufig selbst nur so eingelernt 
werden, während eine geistvolle Auffassung auch dieser unentbehrlichen 
Übungen nicht selten den Fingerzeig zu Entdeckungen gegeben haben? Frei- 
lich werden sie später meistens mit Vorliebe von ihren Entdeckern so hinge- 
stellt, als seien sie die Frucht des angestrengtesten Nachdenkens. So wie 
Euler’s Beispiel, wie ich glaube, in 9 Mare vorzugsweise den Werth 
einer beständigen Übung in den mechanischen Theilen am deutlichsten her- 
vorhebt, so haben Bessel und Olbers in der Astronomie bewiesen, dafs 
nur der, der auch die mechanischen Arbeiten in diesem Fache nicht scheut, 
in ihnen die Vorbereitungen findet, die erforderlich sind, um mit wirklichem 
Erfolge die theoretischen Vorschriften in fruchtbare Anwendung zu setzen. 
Ich erwähne diese Sache hier speciell, weil es mich verwundet hat, selbst 
von Astronomen die Behauptung aufgestellt zu lesen, die Auffindung des 
Neptun sei ihnen unmöglich gewesen, weil die von Hrn. Dr. Bremiker ge- 
zeichnete Karte des Theils des Himmels, wo sich der Planet hefand, nicht 
in ihren Händen war, ja in einer Druckschrift findet sich ganz unumwunden 
ausgesprochen, da am 23. Sptbr. 1846 die Bremiker’sche Karte ausgegeben 
sei, so habe auch vorher der Planet gar nicht gefunden werden können. 
Als ob das, was ein Astronom entworfen hat, nicht auch von einem Andern 
gemacht werden könnte. Als Entschuldigung, wenngleich nur eine sehr 
ärmliche, und nur vor einem Auditorium, bei dem man keine Kenntnifs der 
Sache voraussetzt, auszusprechende, kann es höchstens gelten, weil aller- 
dings die Karte die Aufsuchung wesentlich erleichtert hat. Aber wenn das 
Vertrauen zum angegebenen Orte vorhanden gewesen wäre, so bin ich über- 
zeugt, in höchstens zwei Abenden hätte ein zu diesem Zwecke hinreichend 
grofser Raum gezeichnet werden können, und bei einer Vergleichung nach 
14 Tagen, in welcher der Planet sich etwa 4° bewegt haben würde, hätte 
er auch ohne die Bremiker’sche Karte gefunden werden müssen. Ich kann 
es um so unbedenklicher aussprechen, als man gewifs bei mir voraussetzen 


über die Asträa. 7 


kann, dafs ich den grofsen Werth der akademischen Karten nicht herabsetzen 
werde. Diese Karten geben für das Ganze auf einmal die Mittel, die man 
in den speciellen Fällen auf einem kleinen Raume sich erst verschaffen müfste. 
Wäre es aber ohne sie unmöglich, einen beweglichen Stern zu finden, wie 
hätte Olbers unter weit schwierigeren Verhältnissen damals die Ceres auf- 
finden können? 

Denn allerdings war die Auffindung der Ceres beträchtlich schwieri- 
ger als die des Neptun sich ausgewiesen hat, weil, obgleich Gaufs aus den 
Piazzischen Beobachtungen eine elliptische Bahn berechnet hatte, doch eine 
Zwischenzeit von 10 Monaten zwischen der letzten Piazzischen Beobachtung 
und der Zeit, wo man zuerst wieder hoffen konnte, sie am Morgenhimmel 
zu finden, die Vorausberechnung etwas unsicher machte; aufserdem hatte 
durch seine verspätete Bekanntmachung Piazzi die übrigen Astronomen 
verhindert, sie auch nur einmal zu sehen, folglich waren Piazzis Beob- 
achtungen allein die Grundlage und endlich hatten ähnlich wie bei Neptun, 
die theoretisch richtigen Angaben von Gaufs, da sie von den genäherten 
Kreisbahnen anderer Astronomen abwichen, nicht im Voraus das Vertrauen, 
welches erlaubt haben würde, sich auf einen sehr kleinen Raum am Him- 
mel bei der Durchsuchung zu beschränken. Während jetzt bei Neptun eine 
Karte von vielleicht 4 Quadrat-Graden hingereicht haben würde, wurden 
bei der Ceres eine genaue Erforschung und Verzeichnung von 12 bis 16 er- 
fordert. Gerade aber diese gröfsere Ausdehnung der Gegend des Himmels, 
welche Olbers (unter den Astronomen der neueren Zeit wohl der gröfste 
Kenner des gestirnten Himmels) genau sich versinnlichen mufste, durch die- 
selben, bei weitem nicht einmal so vortrefflichen Mittel, wie die neuere Zeit 
bei Neptun sie darbot, führte am 28. März 1802, vier Monate, nachdem Ol- 
bers die Ceres aufgefunden hatte, fast an derselben Stelle, nur 30’ entfernt 
von dem Ort, wo die Ceres bei der Rückkehr aus den Sonnenstrahlen ge- 
standen hatte, zu der Entdeckung der Pallas, die folglich als eine reine Frucht 
der genauesten, auf einen beträchtlichen Raum ausgedehnten Ortskenntnifs, 
unter den Sternen anzusehen ist. Die Bemerkung eines neuen Sternes in 
einer Gegend, die er sich genau bekannt gemacht hatte, führte Olbers auf 
eine fortgesetzte Beobachtung dieses Sterns, welche eine nicht unbeträchtli- 
che Bewegung, und damit die Gewifsheit eines neuen Wandelsterns ergab. 


8 Encks 


Diese raschen aufeinanderfolgenden Entdeckungen zweier Planeten, 
welche nahe in derselben Entfernung von der Sonne sich befanden, machten 
die Vermuthung rege, es könnten noch mehrere in derselben Gegend befind- 
liche vorhanden sein; in jedem Falle erforderte aber die Beobachtung der 
schon gefundenen neue Hülfsmittel, um sie mit Bequemlichkeit und Erfolg 
anstellen zu können. Hier reichten nicht mehr die Oppositionen allein aus, 
auf welche man bei den alten Planeten in den neuesten Zeiten fast allein sich 
beschränkt hat. Es war nothwendig, wenigstens in den ersten Jahren die 
schwachen Sterne auch aufser dem Meridian, die ganze Zeit hindurch, in 
welcher sie durch die Sonnenstrahlen nicht verdeckt waren, zu verfolgen, 
wäre es auch nur gewesen, um genäherte Elemente gleich in den ersten Jah- 
ren aufstellen zu können. Die damaligen Himmelskarten reichten aber zu 
einer leichten Auffindung so schwacher Sterne nicht hin. Denn entweder 
waren sie von zu altem Datum, wie die Flamsteedschen, und enthielten 
doch nur die allerhellsten Sterne, so wenige, dafs unter der grofsen Anzahl 
schwächerer der Planet nicht herauszufinden war, oder sie waren, wenn Meh- 
rere Sterne aufgetragen waren, nicht mit der gehörigen Kritik angefertigt, so 
dafs durch Druck-, Schreib- und Rechnungsfehler Sterne auf den Karten 
standen, die am Himmel nicht zu finden waren, oder Sterne auf ihnen ver- 
mifst wurden, welche beobachtet und schon genau genug bestimmt waren. 
Der Schatz von Beobachtungen in Lalande’s Histoire celeste war dabei noch 
gar nicht benutzt worden, weil die Karten vor der Publikation erschienen 
waren. Um den Lauf der bisher bekannten kleinen Planeten verfolgen zu 
können, fing der Herr Prof. Harding die mühsame Arbeit an, die er so 
glücklich zu Ende geführt hat, Sternkarten zu entwerfen, ohne allen Schmuck 
der Zeichnung in den Figuren der Constellationen, welche indessen alle 
Sterne enthalten sollten, die in bewährten Catalogen, der Hist. celeste, und 
einigen Beobachtungsjournalen enthalten waren, welche zur Ausfüllung der 
Lücken der Hist. cdleste angestellt worden waren. Es sind dieses die ersten 
Sternkarten, welche eine ganz sichere Basis haben. Sie enthalten nur Sterne, 
welche an den angegebenen Stellen als beobachtet angegeben sind und nach- 
gesehen werden können, und zur Verhütung der so schwer ganz zu vermei- 
denden Fehler in den aufgezeichneten Zahlen unterzog sich Prof. Harding 
der ungemein mühsamen, aber allein zuverläfsigen Prüfung, jeden einzelnen 
Fleck am Himmel nachzusehen und dadurch bestimmt in Bezug auf die wirk- 


über die Asträa. 9 


lich vorhandenen Fixsterne zu controlliren. Diese Karten, da sie über den 
ganzen Himmel ausgedehnt sind, bilden noch jetzt die Haupt-Grundlage bei 
allen Nachforschungen und sind im Grunde von allen späteren Herausgebern 
von Karten benutzt worden. 

Die Frucht dieser ersten, nach einem festen Principe veranstalteten, 
Zeichnung des Himmels war die Entdeckung der Juno durch Harding am 
1. September 1804. 

Wenn bisher die gröfsere Kraft der optischen Instrumente, die conse- 
quente Durchmusterung des Himmels an einem festen Instrumente, die ge- 
naue Ortskenntnifs an einem kleinen Theile des gestirnten Himmels, und die 
Vorbereitung zu einer solchen über das ganze Firmament die Zahl der Pla- 
neten vermehrt hatte, so trat nun eine leitende Idee hinzu, nicht unwahr- 
scheinlich dem ersten Anblicke nach, nicht festgegründei durch theoretische 
Schlüsse, aber doch aus einem geistreichen Bestreben hervorgegangen, sich 
die auffallende Erscheinung zu erklären, dafs drei, und zwar sehr kleine Pla- 
neten, nahe in demselben Abstande um die Sonne sich bewegen, während 
die gröfseren in Bahnen kreisen, welche so weit von einander geschieden 
sind, dafs wenn man den Ort der drei kleinen Planeten als einen solchen an- 
sieht, der von einem einzigen grölseren hätte eingenommen werden können, 
die Abstände eines Planeten zum nächstfolgenden etwa wie 2:3 oder selbst 
wie 1:2 sich verhalten. Diese Erklärung, welche darauf hinauskommt, an- 
zunehmen, dafs die drei kleinen Planeten in gewissem Sinne Stücke eines 
gröfseren sind, entweder durch wirkliche Zersprengung entstanden, oder 
doch in dieser Gegend durch denselben Procefs hervorgerufen, der in an- 
dern Gegenden einen einzigen gröfseren entstehen liefs, wird gewöhnlich mit 
dem Namen der Olbers’schen Hypothese bezeichnet. (!) Indessen hat Ölbers 
sowohl vor der Entdeckung der Vesta, als auch nachher, sie nur und zwar 
auch nur sehr selten gleichsam hingeworfen, niemals hat er sie theoretisch 
zu begründen versucht. In der That, so viel sich bis jetzt urtheilen läfst, 
widerspricht ihr die Theorie, wenn nämlich an eine Zersprengung gedacht 
wird. Wäre das der Fall, so müfste der Ort des Zerspringens allen aus dem 
einen Planeten entstandenen kleinen Körpern auf ihren Bahnen als gemein- 
schaftlicher Kreuzungspunkt geblieben sein, abgesehen von den Störungen 


€) M. C. VI. 88, 313. X. 377. 
Math. Ki. 1847. B 


410 Encke 


unter sich, welche kleine Modifikationen eintreten lassen können. Unter al- 
len Punkten, die dazu geeignet scheinen, ist vorzugsweise einer, wo Üeres 
und Pallas bei dem niedersteigenden Knoten der Pallasbahn auf der Ceres- 
bahn sich jetzt in ihren Bahnen ungemein nahe kommen. Die Secularände- . 
rungen der Elemente können zwar noch nicht genau sein, allein sie sind doch 
mit grofser Näherung so weit entwickelt, dafs der Sinn der etwanigen Ände- 
rungen in der Lage dieses Kreuzungs - Punktes daraus abgeleitet werden kann. 
Wendet man sie aber an, so werden sich die Pallas- und Ceresbahn niemals 
in einer früheren Zeit wirklich gekreuzt haben, wohl aber in Zukunft einmal 
sich schneiden können. (!) Hiernach kann an eine eigentliche Zersprengung 
vor einer Reihe von Jahrhunderten nicht gedacht werden. Immer indessen 
bleibt es eine merkwürdige Thatsache, die aber erst vor einigen Jahren sich 
ergeben konnte, dafs höchst wahrscheinlich die Dichtigkeit der Planeten, 
welche zwischen der Region der kleinen Planeten und der Sonne stehen, 
nahe einander gleich oder sehr nahe der Dichtigkeit der Erde kommt, wäh- 
rend die Dichtigkeit der Planeten, welche weiter entfernt von der Sonne sind 
als die Region der kleinen Planeten, sehr beträchtlich kleiner ist, und der 
Dichtigkeit des Sonnenkörpers oder etwa — sich weit mehr nähert, als der 
der Erde, die letztere bei dem Bruche — als Einheit angesehen. 

Leitende Ideen dieser Art, wenn sie sich auch nicht strenge beweisen 
lassen, sind bei Verfolgung von Hypothesen immer von dem grofsen Nutzen, 
die Fortführung der Untersuchung angenehmer zu machen und dazu anzu- 
spornen. Auch sind sie in der Astronomie nichts Ungewöhnliches, da schon 
Kepler durch mangelhafte Analogien auf die Entdeckung seiner Gesetze, 
namentlich des sogenannten zweiten, dafs die Flächenräume den Zeiten pro- 
portional sind, geführt worden ist, und selbst bei dem Neptun hat das soge- 
nannte Bodesche Gesetz geleitet und die Untersuchung wesentlich erleich- 
tert. Wenn deshalb nur den Erscheinungen nicht Gewalt angethan wird, 
um sie in das vermeinte Gesetz einzupassen, so sind sie keinesweges ganz zu 
verwerfen. Namentlich schwebt über die Art der Massenbildung im Anfange 
ein so starkes Dunkel, dafs ein Widerspruch mit unsern jetzigen Theorien 
noch gerade kein ganz stringenter Beweis für die gänzliche Falschheit ist. 
Olbers benutzte seine Hypothese ganz auf die rechte Weise, indem er die 


(1) M. C. XXVE299: 


über die Asträa. 11 


Schneidungslinie der Pallas- und Ceresbahn nach der Stelle zu, wo beide 
Bahnen sich am nächsten kommen, verlängerte, und darnach die Himmels- 
gegend bestimmte, in welcher Asteroiden, die einen solchen Ursprung eben- 
falls gehabt hätten, sich irgend einmal aufhalten müfsten. Er durchsuchte 
deshalb jeden Monat den nordwestlichen Theil des Gestirns der Jungfrau, 
und den westlichen Theil des Gestirns des Wallfisches, nämlich immer den, 
der seiner Opposition unter diesen beiden am nächsten ist. Am fruchtbar- 
sten für diese Nachforschungen war die dadurch erlangte genaue Bekannt- 
schaft mit allen Sternen dieser Gestirne. Sonach war es nicht ganz Zufall, 
dafs er am 29. März 1807 (') im nordwestlichen Flügel der Jungfrau einen 
unbekannten hellen Stern, mindestens von der 6. Gr., sogleich als Planeten 
erkennen konnte. Die regelmäfsige Bewegung der folgenden Abende bestä- 
tigte dieses vollkommen, und Vesta ward sehr schnell in die Reihe der Pla- 
neten mit festen Elementen eingeführt. 

Auch nach dieser Zeit hat Olbers fortgefahren, denselben Gang zu 
befolgen, ohne weiteren Erfolg. Man kann hieraus vielleicht schliefsen, dafs 
Asteroiden von der 6., 7. und vielleicht 8. Gr. nicht mehr vorhanden sind, 
obgleich es doch auch möglich ist, dafs bei dem grofsen Umfang der zu 
durchsuchenden Gestirne einzelne selbst einem Kenner der Gegend, wie Ol- 
bers war, entgangen sind. Der Sterne 9. Gr. sind zu viele, als dafs man 
glauben könnte, es sei möglich das Bild der Gegend so fest im Gedächtnisse 
zu behalten, dafs nicht ein solcher übersehen werden könnte. 

Der Aufschwung der beobachtenden Astronomie nach der Gründung 
der Königsberger Sternwarte, welchen sie fast allein B esseln verdankte, liefs 
für die nächsten Jahre das freie Nachsuchen zurücktreten, gegen die so 
höchst verdienstvollen Bestrebungen, durch möglichst genaue Beobachtun- 
gen mit den Meridianinstrumenten alle Grundlagen der Wissenschaft zu ve- 
rifiziren und zu vervollkommen. Selbst die Entdeckung mehrerer Gometen 
von kurzer Umlaufszeit bewirkte doch kein so anhaltendes Nachsuchen nach 
solchen Himmelskörpern (woran sich die Möglichkeit der Entdeckung neuer 
Planeten angeschlossen haben würde), dafs nicht besondere Veranstaltungen 
erforderlich gewesen wären, um diesen Zweig der Wissenschaft zu beleben. 


(') Astr. Jahrb. 1810. p. 194. 
B2 


19 Enck# 


Zu diesen gehören die akademischen Sternkarten. Bessel hatte im 
Jahre 1825 seine Zonenbeobachtungen bis zu 15° nördlich und südlich vom 
Äquator vollendet, welche sowohl in Bezug auf Genauigkeit, als auf die 
Menge der kleinen darin beobachteten Sterne die Hist. cel. von Lalande 
übertrafen, übrigens denselben Zweck verfolgten, für eine möglichst grofse 
Anzahl schwacher Sterne bis zur 9. — 10. Gröfse etwa herunter, eine Orts- 
bestimmung zu geben, die sowohl das Wiederfinden sicherte, als auch für 
die meisten Cometenbeobachtungen schon an sich eine hinreichende Ge- 
nauigkeit gewährte. Ähnlich wie man sagen kann, dafs die Hardingschen 
Karten die graphische Auftragung der Lalandeschen Histoire celeste sei, 
wünschte er auch seine Zonen verzeichnet zu sehen, und um damit zugleich 
den wichtigen Zweck zu verbinden, nicht blofs die schon auf das Gerade- 
wohl hin beobachteten Sterne verzeichnet zu haben, sondern eine Grundlage 
zu besitzen, welche versicherte, man habe wirklich alle am Himmel befindli- 
chen Sterne bis zu einer bestimmten Gröfse auf den Karten, ohne dafs Einer 
fehle, so schlug er der Akademie vor, die Zone des Himmels von — 15° bis 
+ 15° Decl. in 24 Blätter zu vertheilen, für die Zeichnung jedes Blattes zu 
verlangen, dafs alle beobachteten Sterne in Bradley und Piazzi’s Catalog, so 
wie den Zonen von Lalande’s Hist. cel. und Bessel gehörig eingetragen wür- 
den und bezeichnet, dafs sie beobachtet wären, aufserdem aber alle Sterne 
bis zur 10. Gr., d. h. solche, die man in einem gewöhnlichen Cometensu- 
cher noch sehen könnte, nach dem Augenmaafse so nachgetragen würden, 
dafs jedes Blatt ein getreues und ganz vollständiges Bild des Himmels bis zu 
der angegebenen Helligkeit wäre und den späteren Beobachtern zeigte, was 
noch zu bestimmen sei. Die Akademie ging auf diesen Vorschlag ein. Es 
ward noch die Bedingung eines vollständigen Catalogs Aller bis jetzt beob- 
achteten Sterne hinzugefügt und für die Anfertigung jedes Blattes eine Prä- 
mie ausgesetzt, der Stich ward jedesmal, sobald ein Blatt vollendet war, 
gleich begonnen. Es sind 15 von diesen Blättern beendigt und das 16te be- 
reits gestochen. 

Die Absicht war, durch Vertheilung an Viele, zugleich eine gleichzei- 
tige Revision des ganzen Himmels zu veranstalten und eben dadurch einen 
Planeten, wenn er sich in dieser Zone befinden sollte, zu entdecken. Die- 
ser Zweck ist nicht erreicht. Theils fand die Arbeit nicht die Theilnahme, 
welche sie ihres Zweckes wegen verdient hätte, so dafs viele Liebhaber mit 


über die Asträa. 13 


in die Reihen der Bearbeiter aufgenommen werden mufsten, theils schritt sie 
langsam, sehr langsam, vor, da Viele sich wieder lossagten, die einen Theil 
begonnen hatten, Andere immer nur sehr unterbrochen daran arbeiteten und 
bis auf diese Stunde noch nicht fertig sind. Die meisten Blätter wurden in 
Berlin gemacht. 

Dennoch haben diese Sternkarten ganz direkt die Entdeckung der bei- 
den Planeten herbeigeführt. Für den Liebhaber, der unter dem grofsen 
Heere schwächerer Sterne nach beweglichen oder Planeten suchen will, ist es 
immer die gröfste Schwierigkeit, eine genaue und hinlänglich specielle Stern- 
karte zu haben, die ihm die Resultate der früheren Beobachtungen graphisch 
und folglich ihm am leichtesten verständlich darlegt, verständlicher als die Zah- 
len der Cataloge esthun. Diesem Bedürfnifs helfen die akademischen Stern- 
karten ab. Sie sind genau genug, um bei 5--” auf einen Grad, oder 10° auf 
eine Linie, noch bis auf etwa 2’ den Ort des Sterns finden zu können, und 
sie sind speciell genug, um fast mit derselben Sicherheit die nicht beobach- 
teten nachtragen zu können, besonders da der Catalog die beobachteten 
Sterne genau den einzelnen Zeit-Secunden und Zehntheilen der Minute nach 
angiebt. 

So benutzte die Blätter der akademischen Sternkarten ein eifriger 
Liebhaber der Astronomie, der frühere Postsekretair Hencke('!) in Driesen, 
der mir seit 1828 bekannt war. Seine Liebhaberei zur Astronomie hatte ihn 
den Staatsdienst aufgeben lassen, und mit einem Cometensucher und einem 
stärkeren Fernrohre durchmusterte und verzeichnete er die Theile des Him- 
mels, bei welchen ihm die bis dahin herausgekommenen akademischen Stern- 
karten als Grundlage dienen konnten. Als Beispiel seines Verfahrens kann 
ich die Hora X. von Göbel, vielleicht nicht ganz dem Plane gemäfs gezeich- 
net, vorlegen, die Hencke 9mal vergröfsert hat. Er hat auch 16 mal ver- 
gröfserte Karten sich entworfen. Die Sterne des Verzeichnisses sind nebst 
den nachgetragenen auf einem Blatte verzeichnet, während auf einem Neben- 
blatte die nachgetragenen durch besondere Farbe ausgezeichnet sind, und 
bei jedem derselben angezeichnet, wie oft er ihn nachgesehen hat, wobei 
mehr als 4mal in demselben Jahre nicht beachtet ist. Die häufigen Zahlen 


(') Carl Ludwig Hencke, geb. den 8. Apr. 1793, verwaltete das Postamt Driesen 
bis zum 1. Juli 1837, wo er nach 2 Militair- und 29 Civil- Dienstjahren auf seinen Wunsch 
mit Pension entlassen ward. 


14 Encke 


12 etc. zeigen folglich eine 3jährige oder längere Aufmerksamkeit, wobei 
aus der nächsten Constellation sogleich eine Verrückung geschlossen werden 
konnte. Dafs auf diese Weise ein Planet mit Sicherheit erkannt werden 
könne, wenn er auf der Karte erscheint, ist von selbst einleuchtend, und 
eben deshalb konnte Hencke, als er am 8. Dechr. in der Hora IV. einen 
Fremdling Iter Gr. fand, mit grofser Bestimmtheit ihn als Planeten bezeich- 
nen, da selbst, wenn es ein veränderlicher Stern sein sollte, die mehrjährigen 
Nachforschungen wahrscheinlich schon früher eine Spur hätten entdecken 
lassen. So ward die Asträa gefunden, von der ich die Beobachtungen und 
Bahnbestimmung nachher angeben werde. 

Wenn man diese verschiedenen Entdeckungen betrachtet, so geht da- 
raus hervor, dafs der praktische Theil der Astronomie in seinen verschiede- 
nen Theilen Alles erfüllt hat, was zu einer solchen Entdeckung führen kann. 
Die Instrumente sind so vervollkommt, dafs das äufsere Merkmal einer 
Scheibe, wenn sie hinreichend grofs ist, den Planeten erkennen läfst, und 
es ist dadurch einer gefunden, wenngleich mit der Kleinheit der Scheibe 
nothwendig die Schwierigkeiten, besonders in unserm Clima, so wachsen, 
dafs man auf diesem Wege keine Hoffnung hatte, noch entferntere Planeten 
zu finden. Die Aufmerksamkeit auf etwanige Bewegungen war gespannt, 
und wurde, so weit es die regelmäfsigen Beobachtungen zuliefsen, angewandt, 
wodurch der zweite Planet gefunden ward. Die sehr specielle Ortskenntnifs 
am Himmel eines der gröfsten Astrognosten führte zur Entdeckung des drit- 
ten, die Vorbereitung zu einer consequenten Verbreitung dieser Kenntnifs zu 
der Entdeckung des vierten, und die noch weiter vervolikommten Bestre- 
bungen in derselben Absicht zu der des sechsten. Endlich leitete eine ge- 
wagte, aber nicht ganz verwerfliche, Hypothese, verbunden mit einer ener- 
gischen Ausdauer, zu der Entdeckung des fünften. Die Mittel, welche die 
Praxis allein darbieten konnte, waren sonach, was die Methoden betrifft, 
so gut-wie erschöpft. Durch die Verbindung der Praxis mit der Theorie ist 
jetzt auch der siebente gefunden, und diese Verbindung, die von jeher der 
Astronomie eigenthümlich war und der sie ihre schönsten Früchte verdankt, 
wird hoffentlich künftig auf diesem Felde die Schritte auch noch sicherer leiten. 

Seit der Erscheinung der Uranustafeln von Bouvard, im Jahre 1821, 
war eine Differenz zur Sprache gekommen, welche nach den damaligen Da- 
ten der Praxis und der damaligen Anwendung der Theorie sich mit den an- 


über die Asträa. 15 


genommenen Gesetzen nicht vereinigen liefs. Uranus war vor seiner Ent- 
deckung 19 mal von Flamsteed, Bradley, Lemonnier und Mayer be- 
obachtet worden, als ein Fixstern sechster Gröfse. Nachdem er als Planet 
erkannt war, hatte man von 1781-1821 eine fortlaufende Reihe von 40 jäh- 
rigen Beobachtungen, so dafs von der ersten Flamsteedschen Beobachtung 
bis zu 1821 130 Jahre, oder etwa 1 Umläufe des Uranus verflossen waren. 
Es war folglich hier wie immer die Aufgabe, nicht blofs einzelne Gruppen, 
sondern das Ganze der Erscheinung innerhalb der möglichen Beobachtungs- 
fehler darzustellen. Dieses aber war dem verdienten Herausgeber der Ta- 
feln nicht gelungen. Die Beobachtungen vor der Entdeckung liefsen sich 
mit denen nach derselben nicht vereinigen, wenn man nicht Beobachtungs- 
fehler annehmen wollte, die schon bei den einzelnen der genannten älteren 
Astronomen, auch bei flüchtiger Wahrnehmung, unwahrscheinlich waren; 
durch ihren Gang aber und durch die übereinstimmende Gröfse der Abwei- 
chung bei allen es zur Gewifsheit erhoben, dafs hier eine andere Fehlerquelle 
sei als die der zufälligen Beobachtungsfehler. 

Diese Frage wurde von den verschiedensten Seiten betrachtet. Man 
vermuthete einen Fehler in der Anwendung der Theorie bei Bouvard, der 
indessen, wenngleich die strengste Schärfe fehlte, doch bis zu dem Betrage 
nicht nachgewiesen werden konnte. Bessel scheint mit durch diesen Um- 
stand veranlafst zu sein, die Frage in unsern akademischen Abhandlungen 
aufzuwerfen: ob eine Wahlverwandtschaft bei den verschiedenen Planeten 
in Bezug auf die Anziehung nicht stattfinden könne, ähnlich wie in der Che- 
mie, und dadurch sowohl diese Differenz als eine andere zu erklären sei, 
nach welcher die Masse des Jupiters anders aus den Störungen, die er auf 
Saturn ausübt, herauszukommen schien, als aus den Störungen, welche die 
kleinen Planeten durch Jupiter erleiden. Beides indessen hat sich nicht er- 
wiesen. Aus den Störungen der Vesta hat sich wenigstens ergeben, dafs eine 
solche Wahlverwandtschaft zwischen Sonne, J upiter und Vesta nicht besteht, 
und da die Störungen, die Jupiter auf den Pons’schen Cometen, Vesta, Juno, 
Pallas und Ceres ausübt, fast genau dieselbe Masse geben, als diejenige welche 
aus den Jupiterstrabanten nach Bessel’s und Airy’s genauen Beobachtungen 
folgt, so liegt der Grund, warum die Saturnsstörungen einen andern Werth 
geben, höchst wahrscheinlich in der nicht streng genug geführten Entwickelung 
der Störungsglieder. Sonach blieb zur Erklärung des anomalen Laufes des 


16 Encks 


Uranus nichts anderes übrig, als eine besondere störende Kraft, einen neuen 
störenden Planeten, anzunehmen, ein Gedanke, der früh schon ausgespro- 
chen und von Eugene, Bouvard, Hansen, Bessel, Airy und Andern ventilirt 
war, ohne dafs eine besonders geführte Untersuchung darüber gemacht wäre. 
Selbst, eine Preisfrage der Göttinger Societät hatte keinen Erfolg. 

Die Gründe, warum die Frage früher nicht ernsthaft angegriffen war, 
lagen theils darin, dafs namentlich die Bestimmung der Jupiters- und Saturns- 
Masse erst vor wenigen Jahren mit voller Befriedigung festgesetzt ist, dieses 
aber sind die hauptstörenden Kräfte in unserm Sonnensysteme, die man am 
genauesten kennen mufste, wenn man den Betrag ihrer Wirkungen auf den 
Uranus bestimmt angeben wollte, und darnach bestimmen, wie grofs der 
aufsergewöhnliche unerklärte Betrag der beobachteten Abweichung bei dem 
Uranus sei. Theils in der Kleinheit, numerisch betrachtet, dieses Einflusses, 
der zusammen etwa einen Unterschied von 5 Bogenminuten während eines 
Jahrhunderts ausmachte. Man glaubte daher auf indirektem Wege sich Ein- 
sicht verschaffen zu müssen von dem Haupt-Einflusse, welcher auf die Bahn 
des Uranus ausgeübt werde. In der That hat auch Airy im Jahre 1835 
(Astr. Nachr. 349) aus den Beobachtungen von 1833-1836 direkt nachge- 
wiesen, dafs der Abstand des Uranus von der Sonne, wie die Tafeln ihn ge- 
ben, merklich zu klein für diese Jahre sei, so dafs wenigstens eine Form der 
Bahn, wie sie ausfallen müsse, nachgewiesen war. Theils aber lag allerdings 
der Hauptgrund in der Complication der Aufgabe. Zwar wenn der Ort des 
störenden Planeten und seine Bewegung gegeben ist, so hatte man immer 
schon aus der Gröfse der Störungen die Masse, welche stört, bestimmt, dabei 
handelte es sich aber nur um die Ermittelung eines einfachen Faktors, wobei 
die Zahlen, mit denen dieser Faktor multiplizirt ist, als genau angesehen 
werden konnten. Hier waren blofs die Gröfsen angegeben, welche mit Hülfe 
eines störenden Planeten weggeschafft werden mufsten, und es fand die Auf- 
gabe statt, mit Hülfe der allein noch bekannten Form der Störungsglieder, 
die ungemein verwickelt ist, die Zahlenwerthe der einzelnen Elemente, aus 
denen sie zusammengesetzt sind, abzuleiten. Die Anzahl der Unbekannten 
wächst dabei um so mehr, als man die Unterschiede zwischen Beobachtung 
und der bisherigen Theorie gar nicht rein als die wahre Wirkung des unbe- 
kannten Planeten ansehen darf, sondern auch die Änderung berücksichtigen 
mufs, die die bisherigen Uranuselemente durch ihn erleiden. Die Zahl der 


über die Asträa. 17 


Unbekannten, welche aus den gegebenen Differenzen der Rechnung und Be- 
obachtung gefunden werden soll, steigt damit im Allgemeinen auf 13, näm- 
lich die sechs Elemente der beiden Planeten und die Masse des unbekannten, 
oder wenn, wie es hier der Fall war, man die Ebene des unbekannten Pla- 
neten mit der Ekliptik zusammenfallen lassen kann, so bleiben immer noch 
neun Unbekannte übrig, deren Ermittelung eine besondere Geschicklichkeit 
und einen grofsen numerischen Takt erfordert, da eine strenge Lösung nicht 
erreicht werden kann. 

Diese Untersuchung hat Herr le Verrier in Paris musterhaft durch- 
geführt und die jedesmaligen Resultate in den Comptes rendus vom 10. Nov. 
1845, 1. Juni 1846 und 31. Aug. 1846 sogleich bekannt gemacht. Eine noch 
vollständigere Übersicht der ganzen Arbeit giebt indessen die Abhandlung 
Recherches sur les mouvemens de la planöte Herschel par U. J. le Verrier, 
Paris 1846. Man ersieht hieraus den eben so consequenten als sicheren 
Gang, den-Herr le Verrier befolgt hat und der es vollständig erklärt, warum 
er in seinen Bekanntmachungen so wenig die Gefahr zu fürchten brauchte, 
es möge der Erfolg seine Bemühungen nicht krönen. 

Der Gang, den er genommen, ist in kurzem der folgende. Zuerst 
entwickelt er die Störungen des Uranus durch Jupiter und Saturn, mit den 
neueren genaueren Massen, und bei weitem vollständiger als es bisher ge- 
schehen war, und verbessert dadurch und durch Wegschaffung von Schreib- 
und Rechnungsfehlern die Bouvard’schen Tafeln. Dann leitet er für alle 
alten und neuen Beobachtungen den berechneten Ort her, mit Beibehaltung 
der Bouvard’schen Elemente. Er bestimmt nun die Bedingungsgleichungen, 
welche angeben, wie viel für jeden Ort der Einflufs einer Änderung jedes 
der vier Elemente des Uranus, Epoche, mittlere Bewegung, Excentrieität 
und Perihel bewirken, da er die Breiten ausschliefsen kann, und folglich 
Knoten und Neigung ebenfalls vernachläfsigen. Er discutirt dann, ob die 
Annahme von wahrscheinlichen Beobachtungsfehlern es möglich macht, durch 
Änderung der Elemente des Uranus allein, eine Übereinstimmung hervorzu- 
bringen. Bei der Unmöglichkeit, dieses zu erhalten, bildet er die Störungs- 
gleichungen für einen unbekannten Planeten, dessen Distanz von der Sonne 
zweimal so grofs ist als die des Uranus, und behält so die 8 unbekannten 
bei, nämlich die 4 Correetionen der Elemente des Uranus und die 3 noch 
zu bestimmenden Elemente des unbekannten Planeten nebst seiner Masse. 


Math. Kl. 1847. C 


18 Encke 


Durch Elimination der 4 Elemente des Uranus, welche dadurch erleichtert 
wird, dafs er aus den gegebenen Gleichungen 8 interpolirt, die um 60° Be- 
wegung des Uranus von einander abstehen, giebt er den 3 Elementen des 
unbekannten Planeten, Excentrieität, Perihel und Masse, die Form einer pe- 
riodischen Funktion der Epoche des unbekannten Planeten, und findet dann, 
dafs eine positive Masse aus den numerischen Werthen nur hervorgeht, wenn 
diese Epoche innerhalb zwei bestimmt begrenzter Bogentheile liegt. Die 
möglichen Beobachtungsfehler in den entfernteren Flamsteedschen Beobach- 
tungen modifiziren aber diese Grenzen und beschränken selbst die Annahme 
der Epoche auf den kleinen Bogen von 9°, der merkwürdigerweise aufserhalb 
der Grenzen liegt, welche eine völlige Wegschaffung aller Unterschiede in 
den letzten S0 Jahren erfordern würde, und bei Versuchen über die noch 
zu wählenden Annahmen zeigt sich, dafs die Masse jedesmal gröfser wird als 
die des Uranus. 

Bei der zweiten Verbesserung dieser Resultate berechnet er die Stö- 
rungswerthe für etwas verschiedene Gröfsen der halben grofsen Axe, und 
etwas verschiedene Werthe der Epoche, und erhält dann Elemente für den 
unbekannten Planeten, die sehr wenig verschieden von der ersten Annähe- 
rung, eine sehr befriedigende Übereinstimmung aller älteren und neueren 
Beobachtungen geben. 

Eine Discussion über die mögliche Ungewifsheit beschliefst die Ab- 
handlung. Herr Galle fand bei der Vergleichung des Himmels mit der 
Karte des Herrn Dr. Bremiker am 23. Sept. 1846 den Planeten bekanntlich 
kaum um etwas mehr als 50’ entfernt von dem angegebenen Orte. 

Dieses glänzende Resultat kann mit vollem Rechte als ein wahrer 
Triumph des Herrn le Verrier angesehen werden, sowohl der Gröfse des 
Zweckes wegen, als auch für die musterhafte Auswahl der dazu hinführen- 
den Wege und Benutzung der vorhandenen Data. Aber eben so sehr, ja 
vielleicht noch mehr, giebt es das ehrenvollste Zeugnifs für den Zustand der 
astronomischen Wissenschaft, in so fern es den innigen Zusammenhang und 
die consequente Ausbildung aller Theile zeigt. Wenn, wie sich hier zeigt, 
jeder Fortschritt so angedeutet wird, dafs die Mittel, deren man bei ihm be- 
darf, sorgfältig herbeigeschafft werden und der Grundsatz fest im Auge be- 
halten wird, dafs Praxis und Theorie beständig Hand in Hand gehen, jede 
beobachtete Erscheinung genau geprüft wird, ob sie den bisherigen Annah- 


über die Asträa. 19 


men entspricht, und wenn ein Widerspruch stattfindet, die Versuche ihn zu 
erklären so lange vervielfältigt werden, bis die Erfahrung einen derselben be- 
stätigt, so läfst sich mit Recht behaupten, dafs die wissenschaftliche Form 
sich immer mehr und mehr ihrem Ideale genähert hat. Es gewährt einen 
wahren Genufs zu sehen, wie alle verschiedenen Theile der Astronomie ge- 
hörig vorbereitet waren und zu der Entdeckung mitgewirkt haben. Die ein- 
fache Form der astronomischen Beobachtungen, welche erlaubte, auch 1- 
Jahrhundert alte Beobachtungen doch nach ihrem wahren Werthe mit den 
neueren vollkommneren zu verbinden; die strenge Regelmäfsigkeit der Aufbe- 
wahrung auch einzelner, für den Augenblick werthlos scheinender Wahrneh- 
mungen, welche allein die Auffindung des Planeten in den alten Beobach- 
tungsjournalen möglich machte; die consequente ununterbrochene Durch- 
führung von Beobachtungsreihen länger als 70 Jahre hindurch, worin die 
Engländer uns das Muster aufgestellt; die Vergleichung alles Vorhandenen 
mit den, wenn auch mangelhaften theoretischen Daten, welche den Wider- 
spruch erkennen liefs und ihn klar aussprach, ohne durch eine theilweise 
Übereinstimmung sich befriedigen zu lassen; die verschiedenartigsten Bemü- 
hungen, alles was zur Erforschung der Ursache mitwirken konnte, sicher zu 
ermitteln, namentlich auch über die Gröfse der bereits vorhandenen Kräfte 
nicht in Zweifel zu bleiben; die consequente Durchführung der Untersuchung 
mit gewissenhafter Berücksichtigung alles Vorhandenen; die sehr weit aus- 
gebildete graphische Darstellung des schon Bekannten, um auf den ersten 
Blick das Neuhinzugekommene unterscheiden zu können; endlich die Ge- 
nauigkeit der neuern Instrumente, die in der kürzesten Zeit es zur Gewils- 
heit brachte, dafs der angekündigte Planet gefunden sei. 

Als ob dieser innige Zusammenhang des Ganzen und die dadurch be- 
stimmt indieirte Entdeckung auch recht augenscheinlich hätte dargelegt wer- 
den sollen, so hat die einfache thatsächliche Darlegung von Airy es unwider- 
leglich dargethan, dafs ein Engländer Adams, durch ähnliche Berechnun- 
gen, unabhängig von le Verrier, fast identische Angaben für den Ort des 
Planeten gefunden hatte, und dafs die auf diese Angaben angestellten Nach- 
suchungen am Himmel von Herrn Challis in Cambridge wirklich bereits 
den Planeten gefunden hatten, so dafs eine Discussion derselben, die nur 
aufgeschoben war, aber bereits begonnen, ihn unfehlbar hätte entdecken 


lassen. Diese Notiz kann auf das Verdienst von le Verrier gar keinen Einflufs 
CG3 


20 EnckE 


haben, da seine Arbeiten unabhängig geführt sind, vollständig Alles benutzt 
haben und allein vor der Entdeckung publizirt sind. Eben so wenig auf das 
Verdienst des Herrn Galle, der mit der bestimmten Absicht den Planeten 
zu finden, die besten ihm zu Gebote stehenden Mittel verband. Aber es be- 
festigt das Zeugnifs für den Zustand der Wissenschaft, wonach solche Fort- 
schritte allerdings befördert werden durch ausgezeichnete Männer, aber nicht 
ganz allein in der Persönlichkeit Einzelner begründet sind, sondern in dem 
consequenten Gange, den die Bearbeiter im Allgemeinen verfolgen. 

Ich habe geglaubt, mich hier so aussprechen zu können, da es meiner 
Ansicht nach der gröfste Nachtheil sein würde, wenn diese durch eine so schöne 
Vereinigung der Beobachtung und Theorie erfolgte Entdeckung das innige 
Band, welches beide vereinigen sollte, auch nur einen Augenblick locker 
machte. Als Erfahrungswissenschaft bleibt in der Astronomie die Beobach- 
tung stets die Grundlage. Bisher hat die Beobachtung so gut wie alle Er- 
scheinungen ohne Hülfe der Theorie, wenigstens ohne eine ganz direkte, 
kennen gelehrt, die Theorie hat sie dann erklärt und in Verbindung gebracht, 
so wie die Punkte angedeutet, auf welche ferner das Augenmerk zu richten 
sei. Ohne die Data der Beobachtung kann die Theorie nichts ableiten, und 
wenn sie jetzt mit Hülfe der anderthalbhundertjährigen Anstrengung der 
Beobachter einen neuen Himmelskörper nachweist, so zeigt dieser Glanz- 
punkt eben darin die Nothwendigkeit der Verbindung beider. Käme es auf 
Zahlen an, so könnte man, wenn dieser unheilbringende und in der That 
etwas kindische Streit geführt werden sollte, die sechs aus der reinen Beob- 
achtung, ganz ohne Hülfe der Theorie gefundenen Planeten, dem einen mit 
Hülfe der Beobachtung von der Theorie ermittelten, mit um so gröfserem 
Erfolg entgegenstellen, als die Zahl jener auf dem Wege der Beobachtung 
zu findenden höchst wahrscheinlich stets bei weitem überwiegender blei- 
ben wird. 

Denn in den nächsten Jahren, man kann wohl sagen Jahrhunderten, 
läfst sich schwerlich hoffen dafs eine ähnliche Entdeckung gemacht werden wird, 
wenigstens nicht bei entfernteren Planeten als Neptun. Die Beobachtungen 
seit der Entdeckung des Uranus, etwa 60 Jahre hindurch, konnten allerdings 
eine Incongruenz indiziren, und eine Nachforschung veranlassen, aber allein 
würden sie schwerlich dahin geführt haben, wenn nicht die 90jährigen vor 
der Entdeckung direkt auf eine solche Differenz hingewiesen hätten. Es war 


über die Asträa. D2 1 


deshalb ein fast doppelter Umlauf des Uranus erforderlich, um die nöthigen 
Data zu sammeln. Bei Neptun ist es kaum zu hoffen, dafs viel ältere Beob- 
achtungen aufgefunden werden, als in der Hist. celeste, oder höchstens bei 
Bradlei, da Sterne 8ter Gr. von Flamsteed selten beachtet werden. Es wird 
folglich der Zeitraum, ın welchem die Möglichkeit einer früheren Beobach- 
tung stattfindet, kaum so grofs absolut genommen wie bei Uranus, und rela- 
tiv, wenn man die viel gröfsere Umlaufszeit von etwa 200 Jahren gegen die 
84 jährige des Uranus berücksichtigt, beträchtlich kleiner. Nimmt man nun 
dazu, dafs die Störungen, die der Neptun durch einen noch entfernteren 
Planeten erleidet, wahrscheinlich beträchtlich schwächer sind, als die des 
Uranus durch Neptun, und dafs ein Jahrzehnt vielleicht verfliefsen kann, 
ehe man so genaue Elemente des Neptun erhält, dafs man mit Sicherheit die 
älteren Beobachtungsjournale durchsuchen kann, und auch dann noch genö- 
thigt sein wird, eine längere Prüfung anzustellen, damit nicht eine irrige An- 
nahme in den einzelnen älteren Wahrnehmungen zu fehlerhaften Elementen 
verleite, so tritt eine fernere Erweiterung unseres Sonnensystems auf ähnli- 
chem Wege in eine sehr entfernte Zukunft zurück. 

Hoffentlich wird die Beobachtung inzwischen nicht müfsig bleiben und 
die Erkenntnifs unsers Sonnensystems von ihrer Seite unabläfsig zu fördern 
bemüht sein. Sie wird gewils nie die Leitung, welche die Theorie ihr geben 
kann, verschmähen, vielmehr eben so bereitwillig wie bisher sich bestreben, 
die erforderlichen Data mit der sorgfältigsten Genauigkeit darzubieten. Aber 
hoffentlich wird sie eben so fortfahren wie bisher, das Beste der Wissen- 
schaft jedem persönlichen Bestreben nach augenblicklicher Auszeichnung 
vorzuziehen und mit der wahren Klugheit anzunehmen, was in andern Krei- 
sen ihr Förderliches geboten wird, und mitzutheilen, was sie gefunden hat, 
unbekümmert ob dieser ächte Sinn anerkannt wird oder nicht. 

Folgendes sind nun die ersten Beobachtungen der Asträa, so wie die 
Resultate der ersten Störungsrechnungen und Bahnbestimmungen. 

In der hiesigen Vossischen Zeitung vom 13. Decbr. 1845 fand sich 
folgendes Inserat: 

Driesen den 10. Dechbr. Bei der Gelegenheit, als ich vorgestern 
die Vesta ihrer jetzigen Lichtstärke wegen betrachtete, durchmusterte ich 
auch ihre Umgegend und fand einen Stern von der 9ten Gröfse, den ich 
früher nie gesehen, daher auch auf meinen Karten, welche noch viele Sterne 


>» EnckE 


der 9ten bis 10ten Gr. und alle helleren enthalten, nicht verzeichnet hatte. 
Auch auf den akademischen Sternkarten, Zone IV Uhr, fand ich ihn nicht, 
obgleich Herr Prof. Knorre diese Gegend mit ungemeinem Fleifse bearbei- 
tet und fast sämmtliche Sterne bis incl. 9- 10ter Gr. vermerkt hat. Für 1800 
reduzirt war die Stelle des Fremdlings 4 19° 9’ = 64° 47,3 AR. und 12° 
34,7 Decl. bor. am Sten um 8", so dafs er sich beinahe in der Mitte jener 
2 Sterne, welche in den akademischen Sternkarten unter den nachgetragenen 
9. — 10. 4b 18457 + 12° 4139 
9. — 10. 4 2020 + 12 311 
aufgeführt stehen, mithin unweit 579 Tauri befindet. Er ist mit jenen beiden 
Sternen fast von gleicher Lichtstärke, des hellen Mondscheins und der Dünste 
wegen waren nur die Sterne 9-10ter Gr. nicht sichtbar. Ungünstige Witte- 
rung hat gestern sein Aufsuchen verhindert, und wahrscheinlich wird dieses 
Hindernifs hier noch einige Zeit andauern, daher diese Nachricht für Jene, 
welche durch besseres Wetter begünstigt, diesen Fremdling verfolgen kön- 
nen und wollen. Es bleibt übrigens sehr unwahrscheinlich, dafs man es etwa 
nur mit einem veränderlichen Sterne zu thun habe, denn bei meinen sehr 
oft und mehrere Jahre lang wiederholten früheren Beobachtungen dieser 
Himmelsgegend habe ich nie eine Spur von ihm gesehen. 
K. Hencke. 

Eine Vergleichung der akademischen Sternkarte Hora IV. mit dem 
Himmel, am 13. Decbr. Abends, führte zu keinem entscheidenden Resultate, 
da das Wetter bald ungünstig ward. Aber am 14. Dechbr. wurde ich und 
Herr Galle auf einen nicht in der Karte verzeichneten Stern 9ter Gr. auf- 
merksam, der rückläufig sich bewegt haben mufste, wie auch die Zeit der 
Culmination es mit sich brachte, wenn er der Planet sein sollte. Eine vor- 
läufige Bestimmung um 6." Abends, verglichen mit einer späteren um 12" 
Nachts, bestätigte die Verrückung, die auch schon dem blofsen Anblicke 
sichtbar war und stimmte überein mit der Bewegung, welche seit dem 8. Dec. 
stattgefunden haben mufste. Die tägliche Bewegung aus der Vergleichung 
von 6" 28’ und 14° war etwa = 1421” im Bogen rückläufig, woraus sich 
schon schliefsen liefs, dafs der Planet in der Region der kleinen Planeten sich 
wahrscheinlich befinden werde. Der Parallel war nahe derselbe. 

Bei der so erfreulichen Thätigkeit auf den europäischen Sternwarten 
und der raschen Verbreitung der Nachricht von dieser Auffindung war es 


über die Asträa. 23 


natürlich, dafs jetzt überall der Planet aufgesucht und verfolgtwurde. Ich.über- 
gehe die ersten Beobachtungen jetzthier und werde später allezusammenstellen. 

Das nächste Interesse hatte eine beiläufige Bahnbestimmung, welche 
dadurch etwas erschwert wurde, dafs, so genau auch die Vergleichungen der 
Asträa mit benachbarten Sternen am hiesigen Refractor ausfielen, doch der 
Ort dieser Sterne selbst nicht ganz scharf bestimmt war. ‚Sie waren alle aus 
Bessels Zonen oder der Hist. celeste entlehnt. Herr Conferenzrath Schuma- 
cher hatte die grofse Güte, zu den Bestimmungen dieser Vergleichungssterne 
so mitzuwirken, dafs sich ein günstiger Erfolg auch aus sehr naheliegenden 
Beobachtungen mit Sicherheit hoffen liefs. 

Ich übergehe hier den ersten Versuch, den ich machte, mit Hülfe des 
von Herrn Hencke angegebenen Ortes am 8: Dechr., und zweier hiesiger 
Beobachtungen vom 14ten und 20ten eine Bahn herzuleiten. Sie sollte nur 
dienen, um die Aufsuchung in den nächsten Tagen zu erleichtern, da die un- 
günstige Jahreszeit es nöthig machte, jeden heitern Augenblick sofort zu be- 
nutzen. Der für die Genauigkeit der Angaben des Herrn Hencke und für 
die Sicherheit, mit der man aus den akademischen Sternkarten Ortsbestim- 
mungen herleiten kann, gleich ehrenvolle kleine Fehler von 2‘, der sich spä- 
ter auswies, mufste natürlich das Resultat entstellen. 

Die erste zuverläfsigere Bahnbestimmung erhielt ich aus den drei hie- 
sigen Beobachtungen am 14ten, 21ten und 27ten Dechr., bei welchen ich 
die Distanz der früheren roheren Ermittelungen benutzte, um einigermafsen 
auf Aberration und Parallaxe Rücksicht nehmen zu können. Die Data, von 
denen ich ausging, nachdem diese Correctionen angebracht waren, die Län- 
gen und Breiten hergeleitet, und diese auf das mittlere Äquinoctium von 


1846 reducirt, waren: 
Berl. Zeit | Länge T | Breite T | Länge ö lg. Rad. vect. Ö 


1845 Dec. 14,56926 64° 23’ 0/6 — 8° 30 36,4 82° 58° 25.6 9,9929692 
21,31399 63 146,4 — 8 13 20,8 | 89 50 27,9 9,9927769 
27,46628 692 236,2 | —7 54243 | 96 642,8 9,9926895 


Aus ihnen folgte das Elementensystem I. 
Elemente q<I1 
Epoche 1846. Jan. 0. Berl. Mittl. Zt. 
Mittl. Länge L. 94° 48’ 1178 
Mittl. Anom. M.319 2 54,8 
Länge d. Peri. # 135 45 17,0 
Länge d. aufst. Kn. Q 141 10 ne 


M. Äqu. 1846. Jan. 0. 


24 Encke 


Neigung iy.Iolıau Ja 2 ins 2ni 1772 

Eccentr. Winkel... $11 16 30,4 

Mittl. tägl. sid. Bew. . # 850/473 _Umlaufszt. 1523,86 Tage 
Lg. halbe gr. Axe . Ilg.a 0,413564. 


Diese aus 13 Tagen abgeleiteten Elemente geben die Bahn mit sehr 
grofser Annäherung und beweisen dadurch auf das einleuchtendste die grofsen 
Fortschritte, welche die Astronomie seit der Entdeckung der andern kleinen 
Planeten, in der Bestimmung ihrer Grundlagen und ihrer Beobachtungsmit- 
tel, gemacht hat. Für die Dauer der Sichtbarkeit der Asträa, im Anfange 
von 1846, hätte eigentlich keine andere Bahnbestimmung nöthig gethan, wenn 
es blos der Zweck gewesen wäre, den Ort so genau anzugeben, dafs man auf 
die Beobachtung sich vorbereiten konnte; denn noch nach vier Monaten, am 
gänzlichen Schlusse der Beobachtungen, Ende April, betrug die Abweichung 
dieser Elemente nur 44’ in AR. und 1’ in Decl. Gröfsen, die für den 
angegebenen Zweck in gar keinen Betracht kommen. 

Sobald indessen eine Reihe von Beobachtungen gemacht war, die so 
gelegen war, dafs die mittlere Beobachtung nahe auf 1846 Jan. 0. fiel und 
die Zwischenzeiten dabei gleich blieben, schien es zweckmäfsig, eine zweite 
Bahnbestimmung zu versuchen. Diese wurde gemeinschaftlich von mir und 
Herrn Dr. Galle ausgeführt. Ich bleibe indessen bei dem Resultat von Hrn. 
Dr. Galle stehen, weil es in der siebenten Decimale noch etwas genauer in 
den Prüfungen übereinstimmt, als das meinige. Die Örter, von denen wir 
ausgingen und die bei den Zeiten und Planetenörtern durch die Werthe der 
früheren Bahn von den kleinen Correctionen der Aberration, Nutation, Prä- 
cession und Parallaxe befreit sind (das mittlere Äquinocetium von 1846 ist 
wiederum angenommen), wobei aber bei den Erdörtern aufserdem, zur Be- 
rücksichtigung der Breite der Sonne, der Punkt gewählt ist, wo die rück- 
wärts verlängerte Gesichtslinie nach dem Planeten hin, die Ebene der Eklip- 
tik durch das Centrum der Sonne gelegt, trifft, sind folgende: 


M. Berl. Zt. | Länge T | Breite T | Länge ö | lg. Rad. vet. & 
Fe 
0. ” or " Nam 
Dee. 14,57357 64 22 57,76 — 3 30 32,98 82° 58 40,4 9,9929750 
31,32549 61 34 14,97 — 7 41 18,10 100 2 51,9 9,9926634 
46,43347 60 54 32,26 — 6 45 31,57 115 26 18,8 9,9929066 


Diese werden vollkommen genau dargestellt durch das folgende Ele- 
mentensystem ! 


über die Asträa. 25 


Elemente II. 

Epoche 1846. Jan. 0. M. Berl. Zt. 

L= 94° 7 1539 
M = 318 51 235,08 
” = 135 15 50,31 
Q = 1Ul 25 47,74 
i= 519 17,78 

$= 10 51 53,30 
# = 857,4096 Umlfszt. 1511,530 Tage. 

lga = 0,4112122 


M. Ägq. 1846. Jan. 0. 


Diese aus einer Zwischenzeit von 32 Tagen abgeleiteten Elemente 
reichten völlig bis zum Ende der damaligen Sichtbarkeit aus, da ihre Ab- 
weichungen' Ende April nur 14’in AR. und noch nicht 4’ in Declination 
betrug. Auch haben die späteren Beobachtungen nach der Rückkehr der 
Asträa von der Sonne gezeigt, dafs diese Elemente unerwartet genau sind. 

Diese Übereinstimmung ist allerdings und bis auf einen solchen Grad 
als eine zufällige anzusehen. Denn nach der grofsen Thätigkeit der Astro- 
nomen, deren sich die Wissenschaft in Deutschland, Rufsland, England und 
Frankreich erfreut, waren eine sehr grofse Anzahl von Bahnbestimmungen, 
vorzugsweise von Herrn Peters in Pulkowa, und Herrn Hind in London, 
auf eben so gute ja noch sicherere Beobachtungen als die hier angegebenen 
gegründet, gemacht, die indessen, soweit bis jetzt der Erfolg gezeigt hat, in 
den einzelnen Elementen mehr von der Wahrheit abweichen. 

Sobald die Elemente sich als so sehr angenähert auswiesen, ersuchte 
ich Hrn. d’Arrest, der eine so gründliche Kenntnifs und Übung in Rech- 
nungen dieser Art sich erworben hat, die Bahn der Asträa mit eben der 
Schärfe zu untersuchen, mit welcher bei den andern kleinen Planeten ver- 
fahren wird. Er bestimmte deshalb zuvörderst den Einflufs der Störungen 
auf die einzelnen Elemente während der 6 Monate 1846 Debr. bis 1847 Mai. 
Die Rechnung ward in Intervallen von 20 zu 20 Tagen geführt, und der Ein- 
flufs von Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn und Uranus mitgenommen, da 
eine vorläufige Rechnung gezeigt hatte, dafs der Einflufs von Merkur ganz 
unmerklich sei, dieser Planet auch überdiefs, wenn man ihn hätte berück- 
sichtigen wollen, nach der gewöhnlichen Form eine grofse Weitläufigkeit 
herbeigeführt haben würde, da das Intervall von 20 Tagen bei ihm zu grofs 
gewesen wäre. Die folgende Tafel enthält den Betrag der sämmtlichen Pla- 

Math. Kl. 1847. D 


96 Encke 


netenstörungen mit ihrer Summe. Die Constanten sind in den summirten 
Reihen so bestimmt, dafs für Jan. 0. 1846. der Werth 0 überall erhalten 
wird, wenn man die Correction der Summe für das einfache Integral, und 
das Argument von der Form {+ w gehörig anbringt, nämlich + 4, f’ (t 
+4) — „I, /”"(t+5) bei dem einfachen Integral, und bei dem doppelten 
Integral den zum Argumente z gehörigen Werth bildet durch "f(2) + 4, / (2) 
— 7,/ (t); oder wenn das arithmetische Mittel zweier aufeinander folgen- 
den Werthe in der zweifach summirten Reihe, der Reihe der Differential- 
quotienten und ihrer geraden Differenzen mit "f(£+4), f(t+ 4), / (++), 
und ebenso das arithmetische Mittel zweier auf einander folgenden Werthe 
in der einfach summirten Reihe, den ersten und dritten Differenzreihen mit 
fit), f(O), f(t) bezeichnet wird, für das Argument t; die Function des 
ersten Integrals gebildet wird durch 


JO-:SO+aF"0): 


und bei dem doppelten Integral für das Argument (£ ++ 4) 


11 
720 


IECrz) - HaIE Hz) Fan) e+r,) 
t Ai AR As Ar 

0" Berlin SB \ra+H| FO |Fu+Y9| so |YU+H| SO | Yu+s) 

1845 Debr. 1 |-+0,236 — 8,434 — 7,286 +47.929 
0,252 + 6,406 + 6787| _ — 45,188 

21 |-+0,252 6,473 — 6,802 +45,308 
0,000 — 0,067 — 0,015 + 0,120 

1846 Jan. 10 [-+0,255 rn — 6,432 -+42,414 
+0,25 — 4,928 SM edar + 42,534 

30 |+0,237 — 3,636 — 6,136 -+38,877 
+0,492 — 8,564 — 12,583 + 81,411 

Febr. 19 |+.0,222 — 2,706 — 6,048 —+-33,991 
+0,714 — 11,270 — 18,631 -+115,402 

März 11 1-H0,215 — 2,045 —5,721 +28,326 
+0,929 —13,315 — 24,352 +143,728 

31 |-+0,200 — 1,523 — 5,118 422,171 
+1,129 — 14,838 — 29,470 +165,899 

Apr. 20 |+0,186 — 1,076 — 4,208 —+-16,279 
+1315 — 15,914 — 33,678 + 182,178 

Mai 10 [-+0,160 —.0,670 — 3,012 +11,406 
+1,475 116,584 — 36,690 +193,584 

30 |++0,121 — 0,334 1 ses] + 8.219 


t ja A (20 a) dr MWAM) ATAUTH| 
0° Berlin TORE |. ft FÖ |) 

1845 Debr. 1 |+1,64033| , + 160530 | —51,063 
— 1,54477 + 46,107 

21 |+-1,54922 + 0,06053 | —46,126 
-+0,00445 — 0,019 

1846 Jan. 10 |-+1,45276 ++ 0,06498 | — 41,461 
+-1,45721 — 41,480 

30 |+1,34595 + 1,52219 | — 36,641 
-+2,80316 — 78,121 

Febr. 19 |+1,24270 + 4,32535 | —31,295 
+4,04586 — 109,416 

März 11 |-#1,10477 + 8,37121 | — 25,425 
+5,15063 — 134,841 

31 |-++0,93272 +-13,52184 | — 19,318 
+-6,08335 | — 154,159 

Apr. 20 |-+-0,73060 -+19,60519 | — 13,614 
+6,81395 — 167,773 

Mai 10 |+0,50505 +26,41914 | — 8,940 
+-7,31900 — 176,713 

30 40.276290 +33,73814 | — 5,904 


Die hier zum Grunde gelegten Massen sind 


über die Asträa. 


1 


2 hl her 401839 
1 
OR mel: EUER 
1 
“772680337 
1 
”"4047,871 
1 
ne SE 
1 
ER OEE . .— 


Aus diesen Werthen fand Herr d’Arrest folgende Incremente der 
einzelnen Elemente, welche zu den Elementen von 1846 Jan. 0 gelegt wer- 
den müssen, wenn man die jedesmaligen Elemente für die verschiedenen 
Zeitpunkte haben will. 


D2 


28 EnckE 


l..a: | asian] Ar. [ah aa 


1845 Dechr. ı | —0,37 | -r10.41 | -+10,39| — en —0,11792 | + 73.09 


21 | —0,13|-+ 3,02| + 3,38 


+ 
— 22,27 | —0,03781 | + 22,65 

1846 Jan. 10 | +0,12 | — 2,62 | — 3,27 | + 21,59 | +0,03695 | — 21,14 
30 | +0,37 | — 6,84| — 9,53 | + 62,31 | +0,10693 | — 58,77 

Febr. 19 | -+0,60 | — 9,99 | — 15,62 | ++ 98,84 | +0,17071 | — 89,98 


Mz. 11 | +0,82 | —12,35 | — 21,53 | -+130,07 | +0,23054 | — 114,30 
31 | +1,03! — 14,12 | — 26,98 | +155,36 | -+0,28162 | — 131,50 
Apr. 20 | +1,22 | —15,42 | — 31,66 | +174,56 | +0,32331 | — 141,82 
Mai 10 | +1,39 | — 16,28 | —35,30 | +188,32 | +0,35427 | — 146,02 
30 | +1,53 — 1678| 37.61 +197,97 | +0,37379 | — 146,24 


wo bei AM die Summe des BIER und des einfachen Integrals san an- 


gesetzt ist. 


Trotz der bedeutenden Änderungen in den Elementen, wird doch 
der Einflufs auf den geocentrischen Ort nur sehr gering, wie es auch in der 
Natur der Sache liegt. Bildet man nämlich die Differentialgleichungen der 
geocentrischen AR. und Decl., so wird für jeden Tag die Gröfse um welche 
der Einflufs der Störungen den mit constanten Elementen gültig für 1846 
Jan. 0 berechneten Ort ändert, nur folgende kleine Gröfsen betragen: 


185 Debr. 1 | +16 | +04 
21 | + 0,8 0,0 

1846 Jan. 10 0,0 0,0 
301 —07| —01 

Febr. 9 | —19 | — 01 

März 1 | —28 | — 02 

31 as 01 

Apr. 20 | —61| -+ 0,3 

Mai 10 | — 7,4 | + 0,8 


Gröfsen, welche bis Mitte Februar kaum die gewöhnlichen Fehler der Be- 
obachtungen übersteigen, besonders wenn berücksichtigt wird, dafs auf al- 
len Sternwarten (mit Ausnahme der Pulkowaer), die Vergleichungssterne 
aus den verschiedenen Zonenbeobachtungen in der Regel entlehnt werden 


über die Asträa. 29 


mufsten, und deshalb häufig die Fehler einer einzelnen Meridianbeobachtung 
in den Bestimmungen des Planeten enthalten sind. 

Herr d’Arrest wandte dann das gewöhnliche Verfahren an, die Be- 
obachtungen mehrerer auf einander folgender Tage zu einem einzigen mög- 
lichst sicheren Orte dadurch zu vereinigen, dafs er bei der Vergleichung der 
Beobachtungen mit nahe richtigen Elementen (hier den obigen Galleschen), 
die Unterschiede zwischen Rechnung und Beobachtung für eine nicht zu 
lange Zeit der Zeit proportional wachsend annahm, so dafs das Mittel der 
Unterschiede zu dem Mittel der Zeiten gehört. Diese sogenannten Normal- 
örter, durch Abzug der Störungen auf den rein elliptischen Ort für das Ele- 
mentensystem 1846 Jan. 0 gebracht, und von den Correktionen der Aber- 
ration, Nutation und Parallaxe befreit, so wie auf das mittlere Äquinoctium 
von 1846 Jan. 0 reducirt, sind die folgenden, welche daher als der Inbegrif 
sämtlicher Beobachtungen angesehen werden können. Auch für die Zukunft 
werden sie nur solche Modifikationen erleiden können, welche vou den ver- 
besserten Positionen der Vergleichungssterne herrühren; klein werden diese 
immer sein. Denn wengleich namentlich zur Zeit des Stillstandes, fast auf 
allen Sternwarten dieselben Vergleichungssterne benutzt wurden, und so- 
nach ein constanter Fehler allerdings stattfinden wird, der trotz der gröfse- 
ren Anzahl der Beobachtungen nicht aufgehoben wird, so findet dieser be- 
sonders nachtheilige Umstand hauptsächlich nur bei dem Normalort Jan. 10 
und Jan. 30 statt. Bei den übrigen bis zur Mitte März, sichern die Meri- 
dianbeobachtungen und die Beobachtungen, bei denen die Vergleichungs- 
sterne bestimmt werden konnten, vor solchen constanten Fehlern, und selbst 
bei den letzten 3 Normalörtern von Mz. 11, Mz. 31 u. Apr. 20, welche aus 
Berliner und Königsberger Beobachtungen allein hergeleitet werden konn- 
ten, ohne die Vergleichungssterne verificirt zu haben, ist es ein sehr erfreu- 
licher Umstand, dafs eine spätere, erst nach der Bildung der Normalorte 
eingegangene Pulkowaer Beobachtung, bei der diese Berichtigung schon 
statt fand, so gut wie vollkommen bis auf 3” durch das abgeleitete Elemen- 
tensystem dargestellt wird. Man kann deshalb zu den folgenden Orten ein 
grofses Vertrauen hegen. 


30 ENckKE 


Mittl. Normalörter 2 bezogen auf das Mitt]. Aequinoet. 1846. 


Zahl d. Beob. 


8: Mittl. Berl. Zt. AR. Decl. ST erg 
i ng ? RT AR. | Decı. 


1845 Decbr. 21 | 6235 599 | +ı2 42287 | 20 | ıs 
1846 Jan. 0 |60ı16 26| 13%5305| 38 | 33 
solsıma3| 1ussızo| 28 | 3 

Febr. 19|65 11255 | 1644561 | 9 | 10 

Mz. 11 | 71 34 42,3 18 38 22,5 4 4 
sılm9a 40! mr! 9 | 9 

Apr. 20 | 9175| ammsıl 3 | 3 


Mit Recht glaubte Herr d’Arrest bei diesen Örtern nicht auf die 
gröfsere oder geringere Zahl der Beobachtungen, aus deren Mittel jeder ge- 
schlossen ist, Rücksicht nehmen zu dürfen, da die erwähnten Umstände das 
Vorhandensein von Fehlern vermuthen lassen, die diese Schätzung ganz un- 
sicher machen. 

Aus diesen 7 Örtern wurde nach der Methode der kleinsten Quadrate 
das Elementensystem abgeleitet, welches ihnen am besten genug that. Um 
immer nur kleine Verbesserungen zu haben, ward eine Ellipse zuerst an den 
ersten mittleren und letzten Ort angeschlossen, deren Aufführung indessen 
hier überflüssig scheint. Folgendes ist das Elementensystem III, welches 
als das Resultat der ersten Periode der Sichtbarkeit der Asträa angesehen 
werden kann. 


Elemente g Ill. 

Epoche 1846. Jan. 0. M. Berl. Zt. 

L= 94 5 5/96 
M = 318 40 43,68 
a = 135 24 22,28 
Q = 141 26 16,55 
i= 5 19 17,76 

$= 10 49 13,62 
w = 858,12561 Umlaufszt. 1509,76 Tage. 

Iga = 0,4108692 


M. Ägq. 1846. Jan. 0. 


Die Übereinstimmung der Rechnung und Beobachtung bei den Nor- 
malörtern war, wie sich erwarten liefs, eine ungemein befriedigende. Es 
fand sich nämlich: 


über die Asträa. 31 


Deb. 21 | +19 | +16 


Jan. 0| —45 | — 12 
| —38 | — 19 
Febr. 9| — 13 | —03 
Mz.1ı| +12 | —12 
3ıl +01 | —01 
Apr.20| —29 I+11 


Der mittlere Fehler würde aus ihrer Quadratsumme (= 56,35) nur 
etwa 2’ folgen. Noch gründlicher läfst sich aber auf den Erfolg der Bemü- 
hungen des Hrn. d’Arrest, aus der vollständigen Vergleichung mit allen 
einzelnen Beobachtungen schliefsen, deren Zahl 161 beträgt. 


| 1545, 1846 | M. Zt. Berlin | Beob. AR. T Beob. Decl. 7 | Au | AS | Beobachtungsort 


1 | Dechr. 14 | 13"56 59.7 | 64° 0 31.3 -F12°39 50.9| ++ 3.6| + 3.2 | Berlin 

2 15| 712 93 | 63 50 54,1 12 40 05| + 9,7| — 7,7 |Berlin. Dollond 
3 16 | 10 20 16,5 | 63 36 0,9 12 39 58,3| + 9,0|-+ 0,4 | Berlin :: 

4 7a 35434 163, 247752 ers Hamburg 

5 17| 9 431,0 12 40 7,4 + 3,8 | Hamburg 

6 17 | 9 58 12,0 | 63 23 33,7 12 40 65| — 15| + 5,3 | Altona 

7 17 | 9 58 12,0 | 63 23 25,4 12 40 15,1| + 6,8| — 3,3 | Altona 

8 17 | 10 41 43,5 | 63 23 9,7 12 40 18,7) — 1,1) — 6,3 | Hamburg. Mer. 
9 17 | 10 41 513 | 6523 83 12 40 22,4| + 0,2| — 10,0 | Altona. Mer. 

10 20 | 7 11 30,0 | 62 48 22,3 12 41 47,7| — 4,3| — 12,4 | Berlin. Dollond 
11 20 | 7 38512 | 6248 233 12 41 32,7| + 0,9) + 3,2 | Berlin 

12 21 | 7 49 38,4 | 62 36 23,0 12 42 18,1 + 23|/ + 28 |Berlin 

13 24 | 617409 | 62 439,1 12 44 53,7 — 0,1 | +25,4 | Hamburg :: 

14 2414| 643 23|62 425,2 12 45 18,0! + 2,8| + 2,5 | Altona 

15 24| 7 2 26|62 423,0 12 45 34,2| — 2,7| — 12,8 |London. (Hind) 
16 26 | 8 38 34,5 | 61 43 58,5 12 48 83| + 1,6) + 1,5 | Pulkowa. Merc. 
17 27| Ss 150,9 | 61 35 17,8 — 12,4 Hamburg 

18 27 | 843 55,7 | 61 34 50,9 — 1,7 Altona 

19 27 | 9 41 22,9 12 49 50,8 — 2,4 | Hamburg 

20 27 | 11 13 39,2 | 61 33 48,5 12 50 12,8| + 25| — 18,0 | Berlin. Dolld. 
21 27 | 11 29 14,6 | 61 33 42,4 12 49 52,7|-+ 2,6/-+ 3,2 | Berlin 

22 28 | 841 42,0 | 61 26 11,7 — 5,0 Hamburg 

23 28 | 846 14,7 12 51 29,1 — 2,0 | Hamburg 

24 28 | 9 50 57,4 | 61 25 36,6 12 51 30,5 | -+ 4,4| + 1,3 | Hamburg. Mer. 
25 30| 8 0175 |6110 5,1 1255 5,7| +11,0| + 6,4 | London. (Hind) 
26 30 | 820 359 | 6110 79 12 55 13,6 — 0,3 — 0,5 | Pulkowa. Mer. 
27 30 ı 1059515 | 61 9 171 12 55 16,0) +12,2, + 7,7 London. (Hind) 
28 SI" ralelT.2 Wo. 312512 12 57 11,3) — 13,0 | + 1,0 Hamburg 

29 31 [#7 '— 1,5 |Altona 


33482 |6ı 3 28| 1257169! — 1,0 


32 


EnckE 


| 1845, 1846 |m. Zt. Berlin | Beob. AR. T | Beob. Decl. 2] Aa 


—— 


30 | Dechr. 31 
31 3l 
32 | Januar I 
33 
34 
35 
36 
37 
38 
39 
40 
41 
42 
43 
44 
45 
46 
47 
48 
49 
50 
51 
52 
53 


SBEsawmnnmun ap eu CK VUBKPDRNDPRRFrTT = 


60 

61 12 
62 12 
63 12 
64 13 
65 13 
66 13 
67 14 
68 14 
69 14 
70 14 
7ı 15 
72 15 
73 15 
74 16 
75 17 


17 


Wo 
8 0189 
9 23 41,7 
719 04 
742 6,0 

10 41 35,5 

11 50 38,9 
6 57 38,6 
712 6,0 
835 12,0 

10 33 26,4 

11 5121 

15 25 56,3 

14 34 30,2 
7 2 60 
7720078 
8 14 33,7 
9 24 16,6 

10 37 29,0 
6 30 19,3 
7360 
719 53,6 

13 48 10,5 
7460 
757 36,0 
8 32 15,8 
9 27 40,6 

12 7104 
6 31 24,9 
713 6,0 
850 18,4 
7 644,0 
713 43,1 
753572 
9 16 41,0 
6 37 57,7 
7 8182 

1032 98 
6 20 46,2 
6 52 20,7 
8 36 43,0 
839 35 
854 8,9 
9 7445 

10 36 40,6 
7 9555 

| 7636 

12 48 59,6 


(IR) ” or ” [2 
61 257,4 | +12 57 16,9 |— 3,7 


61 233,8 
60 56 27,8 
60 55 25,0 
60 55 15,9 
60 54 54,0 
6050 2,8 
60 49 10,0 
60 49 28,2 
6049 2,0 
60 48 48,9 
60 48 16,6 
60 47 58,3 
60 43 10,0 
60 43 59,6 
60 43 37,4 
60 43 24,9 
6043 5,4 
60 38 39,5 
60 37 55,0 
60 38 37,2 
60 36 51,9 
60 32 55,0 
60 33 28,1 
60 33 24,8 
6033 6,6 
60 32 36,6 
60 29 12,9 
60 28 17,0 
60 14 21,3 
6013 5,3 
60 13 12,0 
6013 4,4 
60 12 57,3 
60 12 11,3 
60 12 14,5 
6012 1,5 
60 11 50,8 
60 11 50,6 
60 11 44,8 
60 11 52,5 
60 11 53,9 
60 11 57,4 
60 11 57,6 
60 12 22,5 
60 13 29,5 
60 13 51,9 


| As | Beobachtungsort 
—+ 1,0] Berlin 

12 57 23,6 |— 6,2|+ 1,8] Berlin. Mer. 
12 59 27,1 |—14,9,+ 0,7) Hamburg 
12 59 27,0 |+-40,5/— 3,8| Marseille 
12 59 46,7 |+ 1,3 + 0,9lLondon. (Hind) 
12 59 56,2 |— 0,11— 1,6| Paris 
13 147,1)— 9,3 + 0,2| Hamburg 
13 146,0 |+38,4 + 3,4] Marseille 
13 2 1,7|— 13 — 4,2| Altona 
13 2 89|— 3,4+ 0,6] Hamburg 
13 2165 |— 1,9) — 3,5| Paris 
13 225,0 I— 6,1-+ 1,6|Bonn 
13 234,3 |— 7,9)— 0,9|Bonn 
13 434,0 |+45,6| — 16,3| Marseille 
13 4 17,8|— 2,4|— 0,1) Hamburg 
13 423,1 /-+ 0,6|-+ 1,9| Berlin 
13 426,7 |— 4,2|+ 5,6 Hamburg. Mer. 
13 4436 |— 2,9] — 2,9] Paris 
13 652,9 |— 2,0) — 2,2] Bonn 
13 7 0,0 |+33,3| — 4,8] Marseille 
13 644,0 |—11,4|+-12,2] Hamburg 
13 7415 |-+ 5,7/— 1,8jLondon. (Hind) 
13 940,0 |+38,5)— 0,1] Marseille 
13 9473| — 6,2 — 1,5|Bonn 
13 954,0 |— 10,4 — 4,1) Bonn 
13 955,8 |— 377/+ 0,5) Bonn. Mer. 
13 10 16,8 )— 6,8 — 1,5} Paris 
13 12 31,3 /— 1,2! — 3,8] Berlin 
13 12 50,0 |+46,4 — 16,9] Marseille 
1329 1,6 |— 4,8 — 5,6] Altona 
13 32 13,4 |— 5,8 + 1,6) Königsberg. Mer. 
13 32 19,3 |— 11,9J— 3,1| Bonn 
13 32 19,1 )— 6,9/+ 3,2] Bonn 
15 32 34,1 |— 5,8)+ 0,6] Königsberg 
13 35 50,4 |— 4,4 + 1,1] Bonn 
13 35 56,3 |— 8,8 -+ 0,2| Bonn 
13 36 30,4 |— 4,2) — 2,2| Paris 
13 39 36,6 |— 8,6 + 0,6| Bonn 
13 39 41,1 |— 9,0+ 0,1| Bonn 
13 39 56,8 — 7,0,+ 0,9| Königsberg 

— 13,2 Göttingen. Mer. 
13 43 57,8 |— 7,31 — 3,0| Königsberg 
13 43 58,3 |— 9,9) — 1,3] Hamburg 
13 44 13,5 ,— 10,4— 1,8] Berlin 

— 06 Pulkowa. Mer. 
1351 44,6 — 0,9)— 1,7|Pulkowa. Mer. 
13 52 40,2 — 6,8-+ 1,8| Paris 


| 


über die Asträa. 33 


1846 M. Zt. Berlin | Beob. AR. ? | Beob. Decl. T | Au | AS | Beobachtungsort 
I} 

77| Januarıs | 7 ausm | „ ,,„ |+1855582| „| «e|Pulkowa. Mer. 
78 20 | 736585 | 6020 3,1 14 451,0 —10,6 — 10,9) London. (Hind) 
79 20 | 815527 | 6019579 | 14 450,8 ,— 1,9— 3,7) Hamburg. Mer. 
80 20 | 856108 | 602011,7| 14 5 9,2)—11,3) —14,7| Hamburg 

81 20 | 9 929,5 | 60 20 10,5 — 82 Liverpool. Mer. 
82 20 | 929 24,8 | 60 20 19,2 14 5 0,1/)—14,6 + 1,0| Makree Castle. Mer. 
83 21 | 11 35 57,0 | 60 23 36,4 14 954,6 /— 85)— 1,4| Königsberg 

84 25 | 636223 | 6040 6,9 14 27 39,9|— 2,6 — 0,2| Pulkowa. Mer. 
85 25 | 1025273 | 6041 07 | 1428289 — 7,3) — 2,1 Königsberg 

86 25 | 1158 21,0 | 60 41 19,0 14 28 46,4 |— 6,2 — 2,0) Königsberg 

87 26 | 63249,0 | 60 45 38,0 14 32 31,6 — 2,8 — 0,2| Pulkowa. Mer. 
88 26 | 955 8,0 | 60 46 29,9 14 33 16,0 |— 6,11— 3,1| Königsberg 

89 27 | 629 16,0 | 60 51 36,1 14 37 30,8 l— 0,9) — 3,3 Pulkowa. Mer. 
90 27 | 655421 | 6051 43,6 14 37 30,4 |— 1,3/+ 3,0| Berlin 

9 27 | 71341,4 | 6051 58,4 14 37 40,4 —11,4|— 2,9) Hamburg 

92 27 | 720593 | 605153,1 14 37 34,4 )— 4,7)+ 4,2| Berlin 

93 27 | 91922, | 6052 18,6 1438 7,3|)— 0,4— 4,1) Hamburg 

94 27 | 1020 7,4 | 6052 40,1 14 38 17,6 |— 7,2]— 2,1) Königsberg 

05 28 | 62546,0 | 6058 0,4 14 42 28,3 + 2,2!— 0,5 Pulkowa. Mer. 
96 28 | 73235,0 | 60 58 25,8 14 42 43,8 |— 3,7/— 1,7) Paris 

97 28 | 844555 | 6058479 | 144259,1|— 7,51— 1,9] Königsberg 

98 28 | 1119 4,5 | 60 59 22,3 14 43 42,8 |+ 2,0 — 13,7) London. (Hind) 
99 28 | 11 37 57,9 | 60 59 29,4 1444 3,9|+ 1,4 —25,4| Wien 
100 29 | 85242%,4 | 61 549,1 14 48 5,9|— 6,8|— 1,7| Königsberg 
101 30 | 61852,0 | 61 12 22,8 14 52 40,3 |— 0,4|— 0,5 Pulkowa. Mer. 
102 30|ı 9 4 10 | 6113 21,4 14 53 16,5 |— 7,9) — 0,7) Königsberg 
103| Februar 1 | 10 56 45,7 | 61 30 27,7 15 4 8,8) —16,2-—+- 0,3) Hamburg 

104 2| 6 842,9 | 61 37 21,0 15 825,5 |— 3,3 — 0,6) Pulkowa. Mer. 
105 5| 833424 | 62 722,8 15 25 19,4 |— 3,1 — 6,0) Makr. C. Mer. 
106 7| 827 6,8 | 62 28 57,0 15 36 17,0 |— 6,0 — 1,4| Makr. C. Mer. 
107 7| 852565 | 6229 11,1 15 36 20,7 |— 9,0+ 3,8 London. (Hind) 
108 8| 930245 | 62 40 47,5 1542 8,7 |— 2,5— 3,2|London. (Hind) 
109 8| 93311,8 | 62 40 45,2 1542 6,2 |-+ 0,4 — 0,5| Königsberg 

110 9| 546 4,9 | 6250 48,4 15 46 49,5 |— 4,3 0,0 Pulkowa. Mer. 
111 9 | 82050,7 | 6252 5,4 15 47 28,1 J— 3,4 — 1,7|Makr. C. Mer. 
112 9| 833562 | 6252 13,2 15 47 31,8 |— 5,7/— 2,3] Berlin 

113 9| 852 98 | 62 52 21,0 15 47 38,1 |— 4,01 — 4,2| Wien 

114 9| 916 7,9 | 62 52 29,0 15 47 38,4 |— 1,4 + 0,4| Königsberg 

115 9| 95414,9 | 62 52 47,2 15 47 46,9 |— 0,3) + 0,9| Königsberg 

116 10 | 542555 |63 3 03 15 52 27,7 I— 6,7, + 0,1|Pulkowa. Mer. 
117 10| 817344 | 63 415,1 1553 6,6 |— 1,0!— 1,9 Makr. C. Mer. 
118 11 | 11 24 30,4 | 63 18 32,7 15 59 30,4 )— 3,2)— 1,5) Königsberg 

119 13 | 746412 | 6343 51 — 45 Liverpool. Mer. 
120 16 | 738328 | 64 25 26,5 16 27 13,5 — 0,8|+ 5,2] Königsberg 

121 17 | 756489 | 6440 33,9 16 33 11,7 !— 0,3'— 0,8) Makr. C. Mer. 
122 18 | 9 30 35,4 | 64 57 15,2 | 16 39 35,2 — 25,5 — 15,1) Hamburg 

123 19 | 516 0,0 16 44 6,9 + 0,6 Pulkowa. Mer. 


Math. Kl. 1847. | E 


34 
| 


1846 


Encke 


Im. Zt. Berlin | Beob. AR. T | Beob. Decl. ? | Au | AS | Beobachtungsort 


ä ho ” 
124 |Februar21| 9 56 47,5 


125 
126 
127 
128 
129 
130 
131 
132 
133 
334 
135 
136 
137 
138 
139 
140 
141 
142 
143 
144 
145 
146 
147 
148 
149 
150 
151 
152 
153 
154 
155 
156 
157 
158 
159 

160 | 
161 


22 
22 
24 
26 
26 
27 
28 
28 


24 
28 
Maäi ı 
12 
13 
18 
22 


90 
9 43 
9 36 
856 
10 17 
9 43 
9 56 
10 37 
10 39 
10 39 


ei 


ei 
DD EOEODTOCDTDTOTS SE SO 5 5S 
o 


10 20 
9 48 


43,4 
32,7 

9,4 
32,3 
25,3 
12,7 
24,0 
13,8 
42,4 
42,4 
30,9 
32,1 
28,3 
17,8 
26,3 
50,4 

7,6 
49,9 
47,0 
59,3 
42,3 

6,8 
30,0 
30,9 

5,1 


27,1 
27,2 
8,2 


o ’ ” o ’ ” 
65 45 18,9 | +16 56 57,2 
66 1 30,2 
66 2 3,4 


66 
67 
67 
67 
67 
67 
67 
67 
69 
69 
70 
71 
75 
75 
75 
76 
76 
77 
77 
78 
79 
79 
833 
83 
833 
83 
89 
90 
91 
93 
94 
100 
101 


36 
11 
12 
30 
49 
50 
50 


33 
59 

0 
18 
45 
24 
52 
53 
43 
13 
16 
17 
20 
51 
44 
16 


18,6 
35,9 
45,1 
40,6 
41,9 
15,2 


13,1° 


6,4 
41,9 
49,6 
25,2 


7 50,7 


59,1 
23,5 
57,0 
50,1 
23,4 
32,6 
34,8 
29,1 
39,9 
39,1 
59,4 
49,6 
13,6 
30,1 
33,8 
18,0 

12 
32,1 
44,2 

8,1 

1,8 


103 59 44,4 
106 10 32,0 


17 
17 
17 
17 
17 
17 
17 
17 
17 
17 
18 
18 
18 
18 
19 
19 
19 
19 
19 
19 
19 
19 
20 
20 
20 
20 
20 
21 
21 
21 
21 
21 
21 
21 
21 
21 
21 


2 
2 
14 
25 
25 
3ı 


30 
25 


23,3 
44,4 
20,2 
34,9 
57,2 
56,1 
20,5 
30,0 
28,2 
29,3 
4,0 
33,6 
42,3 
56,8 
35,3 
27,8 
28,9 
37,2 
58,8 
35,6 
5,5 
16,9 
59,0 
15,7 
55,1 
11,3 
14,2 
51,6 
4,4 
16,4 
50,7 
32,5 
42,9 
02 
25,2 
56,2 | 
8,3 


” 


— 2,6 


+15,4 
+ 54 
— 99 


Er 


4,7 
1,6 
92 
9,7 
0,5 
11 


— 125,2 


FH l+HH HH I HT 


IH I+ttH tr HH I HT 


2,0 
1,8 
0,3 
0,8 
4,0 
02 
1,0 
1,5 
0,3 
2,6 
6,4 
5,5 
1,6 
1,0 
0,0 
2,7 
0,8 
5,0 
0,6 
0,7 
0,5 
03 
1,0 
01 
1,0 


nttknänänuseeeessesessz ll ji  — — 


Wien 
Berlin 
Wien 
Wien 
Berlin 
Hamburg 
Hamburg 
Berlin 
Hamburg 
Königsberg 
Königsberg 
Berlin 
Wien 
Berlin 
Königsberg 
Berlin 
Berlin 
Senftenberg 
Senftenberg 
Berlin 
Königsberg 
Pulkowa 
Königsberg 
Königsberg 
Berlin 
Berlin 
Pulkowa 
Berlin 
Pulkowa 
Pulkowa 
Berlin 
Berlin 
Berlin 
Pulkowa 
Berlin 
Berlin 
Berlin 
Berlin 


Diese Vergleichung, bei welcher auf alle kleineren Einzelheiten, auch 
der Störungen, Rücksicht genommen ist, giebt zu der höchst erfreulichen 


Bemerkung Veranlassung, dafs die Beobachtungsmittel an Genauigkeit, seit 


der Entdeckung des letzten kleinen Planeten, ganz ungemein zugenommen 


über die Asiräa. 35 


haben. Das arithmetische Mittel aller Unterschiede, ohne einen einzigen 
auszuschliefsen, obgleich offenbar fehlerhafte Angaben bis zu 4576 vorkom- 
men, ist bei 156 Unterschieden in AR. 654, und bei 154 Unterschieden in 
Declination 3733, so dafs sich in der That behaupten läfst, der wahrschein- 
liche Fehler einer solchen Ortsbestimmung eines Planeten, sowohl mit grö- 
fseren als mit kleineren neueren Instrumenten, werde kaum 4” übersteigen, 
eine Genauigkeit, die hauptsächlich den grofsen Fortschritten zuzuschreiben 
ist, welche die Instrumente zur Beobachtung aufser dem Meridian gemacht 
haben, und der Vortrefflichkeit der Besselschen Zonenbeobachtungen. Bei 
weitem am genauesten sind die Pulkowaer Beobachtungen, bei denen über- 
dem auch die Berichtigung des Ortes der Vergleichungssterne schon gemacht 
ist. Am längsten wurde die Asträa in Berlin verfolgt, nämlich bis zum 22. 
Mai, obgleich diese letzte Angabe, wo bei der Lichtschwäche der Asträa der 
Stern mehr errathen als scharf wahrgenommen wurde, nur gemacht wurde, 
um sich zu vergewissern, wie lange überhaupt der Planet im äufsersten 
Falle noch sichtbar bleibe, und also auch wieder aufgesucht zu werden 
brauche. Dagegen sind die Beobachtungen bis zu Mai 13. inel. ganz zuver- 
lässig. Asträa glich bei ihrer ersten Beobachtung einem Stern 9. Gr., und 
war damals, relativ gegen andere Stellungen, die bei ihr stattfinden können, 
noch sehr lichtstark. Verglichen mit der mittleren Lichtstärke in den Op- 
positionen war die Lichtstärke etwa 1,8. Am Schlusse der Beobachtungen 
g auch 
wohl ihren Antheil hatte. Fast ist zu befürchten, dafs sie in der Regel nicht 
heller als 9-10. oder 10. Gröfse in den Oppositionen sein wird. Dafs eine 


konnte man sie kaum 11. bis 12. Gröfse halten, woran die Dämmerun 


Scheibe unter diesen Umständen nicht merkbar war, ist für sich klar. 

Die Angabe der Data, wodurch die angeführten Beobachtungen noch 
verbessert werden können, wenn die Vergleichungssterne sorgfältiger be- 
stimmt werden, halte ich hier für überflüssig, da sie den einzelnen Beob- 
achtungstagebüchern vorbehalten bleiben müssen. 

Herr d’Arrest setzte nun die Störungsrechnungen für die nächsten 
zwei Jahre fort, wobei er das Intervall von 20 Tagen beibehielt, die Ele- 
mente aber alle halben Jahre den Störungen gemäfs änderte, und sich auf 
Erde, Mars, Jupiter und Saturn beschränkte. Er berechnete dann eine 
Ephemeride, um die Aufsuchung nach der Rückkehr von der Sonne vor- 

E2 


36 Encke 


zubereiten. Man konnte der Auffindung wohl mit einer grofsen Spannung, 
aber doch mit beträchtlicher Gewifsheit entgegensehen, und sicher hoffen, 
dafs, sobald die Dämmerung es gestattete, die Vergleichung der Epheme- 
ride mit dem Himmel den Planeten sogleich erkennen lassen würde. In der 
That fand auch Hr. Dr. Galle an dem ersten Morgen, wo nach dem Stande 
der Sonne und des Mondes schwache Sterne in der Gegend der Asträa am 
Morgenhimmel sichtbar wurden, den Planeten sofort, und eine halbstündige 
Beobachtung reichte hin, durch seine Bewegung ihn erkennen zu lassen. 
Noch früher war er indessen in Pulkowa aufgefunden, nämlich schon am 
4. Nvbr., während in Berlin der Planet est am 17. Nvbr. beobachtet ward. 
Die Übereinstimmung mit der Ephemeride konnte eine sehr befriedigende 
genannt werden, denn die Unterschiede zwichen Rechnung und Beobach- 
tung waren bei den zwei Pulkowaer und den zwei Berliner Bestimmungen 


folgende: 
Bechn. — Beob. 
1846 M. Berl. Zt. | Beob. AR. T | Beob. Decl. T | ———  ———| Beob. -Ort 
cosd AR. | Decl. 
IN. ” OR. ” one " ” 
Novbr. 4 | 16 51 6,0 | 193 55 29,6 | — 3 14 24,8 | + 55,7 | — 35,4 | Pulkowa 
13 | 16 56 28,0 | 198 12 42,8 | — 4 47 41,6 | + 66,6 | — 39,6 is 
17 | 17 48 24,8 | 200 6538| —5 28 0,1| + 733 | —38,0 | Berlin 
18 | 17 37 7,5 | 200 34 50,0 | — 5 37 39,7 | + 76,0 | —43,5 | 


”» 


Um indessen, da schon ein die Fehler vergröfsernder Gang hier sicht- 
bar war, eine für die Dauer der jetzigen Sichtbarkeit näher sich anschlie- 
fsende Bahn zu erhalten, bestimmte Hr. d’Arrest im Mittel aus diesen Be- 
obachtungen für Novbr. 16,5 den Unterschied zwischen Rechnung und Be- 
obachtung auf + 73/0 und — 3875, berechnete den Einflufs der Störungen, 
der auch hier sehr gering war, um das Elementensystem für 1846 Jan. 0 
beibehalten zu können (man hat nur + 29/2 in AR. und — 1478 in Deel., 
zu dem mit dem Elementensystem III. berechneten Ort für Novbr. 16,5 
hinzuzulegen, um den gestörten zu erhalten) und erhielt so den 8. Normal- 
ort, bezogen auf das Äquinoctium von 1846 Jan. 0 


1846 Nov. 16,5 M.B. Zt. AR. 2 = 199°30' 59/0 
Dec. = —5 15 19,1 


über die Asträa. 37 


Eine Ellipse an 1845 Deb. 21, 1846 Apr. 20 und 1846 Nov. 16,5 
angeschlossen, diente als Grundlage, worauf nach der Methode der klein- 
sten Quadrate die wahrscheinlichste Ellipse zufolge dieser 8 Normalörter 
bestimmt ward. Diese ergab sich so 


Elemente 2 IV. 

Epoche 1846. Jan. 0. M. Berl. Zt. 

L= 94° 9 27)98 
M = 318 51 48,99 
rs = 135 17 38,99 
= 141,257 4772 
i= 519 25,32 

$= 10 53 31,92 
# = 856,13474 Umlaufszt. 1513,780 Tage. 

lg a = 0,4116430 


M. Ägq. 1846. Jan. 0. 


Durch diese Elemente werden, mit Zuziehung der Störungen, die 8 
Normalörter so dargestellt: 


| cos? Aa | A» 


1845 Deb. 21 | +02 | +29 


1846 Jan. 10 — 21 —+ 1,2 
30| +16 — 2,7 

Febr. 9 | +27 |! — 0,8 

Mz. ıı| #25 | —-ı9 

31 — 12 — 0,4 


Apr. 2 | +03 | +16 
Nvb. 16 | #10 | +15 | 


und die vier neuesten Beobachtungen so: 


1846 Nvb. 4 +26 + 3/4 
13 +04 +11 
17 +04 +33 
18 +02 —21 


Es ist hiernach grofse Wahrscheinlichkeit vorhanden, dafs dieses Ele- 
mentensystem, da es aus einem Zeitraume von 11 Monaten hergeleitet ist, 
der Wahrheit ungemein nahe kommen mufs, und dafs die Elemente IV. 


38 Enexs 


sehr nahe die wirklichen oseulirenden Elemente der Astraea für den An- 
fang von 1846 sind. Merkwürdig ist es, dafs dieses System den Elementen 
IT. von Hrn. Dr. Galle in jedem einzelnen Stücke näher kommt als den 
Elementen III, wenngleich die letzteren auf einer vierfach längeren Beob- 
achtungsreihe beruhen. Alle Elemente liegen zwischen den Elementen I. 
und II, und ungemein nahe dem letzteren Systeme. Abgesehen von den 
Eigenthümlichkeiten der Beobachtungsreihen, die dieses paradoxe Resultat 
herbeigeführt haben können, mögen in der That kleine Rechnungsfehler bei 
Hrn. d’Arrest stattgefunden haben. Denn in der That stellt das Elemen- 
tensystem IV die 7 ersten Normalörter noch befriedigender dar als das Sy- 
stem III, obgleich das letztere ganz allein auf sie gegründet war. Eine Er- 
scheinung, die nothwendig einen, glücklicherweise aber nur sehr kleinen 
Rechnungsfehler bedingt. 

Überträgt man, um einen den jetzigen Beobachtungen näheren Stand- 
punkt zu haben, die Elemente auf die Epoche von 1847 vermittelst der Stö- 
rungen, so erhält man: 


Epoche 1847. Jan. 0. M. Berl. Zeit. 

L = 181° 0 28,89 
M= 45 36 48,99 
r” = 135 23 39,90 
Q2 = 141 25 29,07 
i= 519 3,59 

o= 1053 16,67 
vw = 856,28299 Umlaufszt. 1513,518 Tage. 

lg a = 0,4115929 


M. Ägq. 1847. Jan. 0. 


Wenn man bei dieser kurzen Zusammenstellung der ersten Bemü- 
hungen den ruhigen, festen und sicheren Gang übersieht, den die Untersu- 
chung solcher neuen Erscheinungen jetzt nimmt, wenn man dabei die grofse 
Anzahl vortrefflicher Beobachtungen auf einer sehr grofsen Anzahl von Stern- 
warten in Deutschland, Rufsland und England, so wie auch einiger franzö- 
sischen berücksichtigt, von denen eine weit kleinere Anzahl hingereicht ha- 
ben würde, den Planeten nicht verloren gehen zu lassen, deren Verbindung 
aber nach wenigen Monaten schon mit festem Vertrauen die einzelnen Di- 
mensionen der Bahn erkennen läfst, wenn man dabei erwägt, dafs vor 45 


über die Asträa. 39 


Jahren das hier gegebene Problem noch erst gelöst werden mufste, und die 
Störungen erst bei allen kleineren Planeten weit später berücksichtigt wor- 
den sind, so kann auch die Entdeckung, Beobachtung und Berechnung der 
Asträa mit Recht als eine schöne Frucht der ausgebildeten Wissenschaft an- 
gesehen werden, und wesentlich beitragen kräftig zu ermuntern, das enge 
Band zwischen Erfahrung und Theorie festgeknüpft zu erhalten. 


a — 


Kr 


£ vor K 


Ks 
Bu 7 


BEA NR 


IR NENL 
Ne pa 

N 
4 


Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 
und über einige damit in Beziehung stehende 
Eigenschaften der Kegelschnitte. 


Von 
H”" STEINER. 


nnnannnnannnnn 


[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 19. April 1847.] 


$.L. 


Aufgabe I. „Aus der Spitze C eines Dreiecks ABC nach irgend 
einem Punkte D der Grundlinie AB eine solche Gerade CD zu ziehen, deren 
Quadrat zu dem Rechteck unter den Abschnitten der Grundlinie, AD und 
BD, ein gegebenes Verhältnifs hat, wiem :n.” Und 

II. „Wenn die Grundlinie AB der Cröfse und Lage nach gegeben, 
so soll die Grenzlage für die Spitze C gefunden werden, über welche hinaus 
die Forderung (1.) unmöglich wird.” 


Erste Auflösung. 
Man setze m: n=g, so soll sein 
eDE=q4ADNBD: 


I. Was zunächst die Construction der geforderten Geraden CD, so 
wie deren Möglichkeit und Unmöglichkeit betrifft, so ergiebt sich dieses Alles 
leicht wie folgt. 

Man beschreibe um das Dreieck ABC (Fig. 1.) den Kreis und ziehe 
mit seiner Grundlinie parallel die Geraden Uund V, deren gleicher Abstand 
p von derselben sich zu der Höhe A des Dreiecks verhält, wie n: m, so dafs 
also 

sp m.on=g. 

Zieht man nun weiter aus der Spitze € durch die Schnitte Eund E,, 

F und F, der Parallelen U, Y und des Kreises die Geraden CE, CE,, CF, 
Math. Kl. 1847. F 


42 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


CF,, welche die Grundlinie in Dund D,, DO und ®, treffen, so sind CD, 
CD,, CD, CD, die vier verschiedenen Geraden, welche der Forderung (I.) 
genügen. Denn vermöge des Kreises ist z.B. 


CD.DE=AD.DEB, 


und zufolge der Construction 
CD=DEZh pP Sg, 
folglich ist 
CD’=qgAD.DB. 

Von den vier Punkten der Grundlinie, nach welchen die verlangten 
Geraden gezogen sind, liegen allemal zwei, D und D,, zwischen den End- 
punkten der Grundlinie AB, wogegen die beiden andern, D und D,, auf 
ihrer Verlängerung, und zwar entweder auf jeder Seite einer, wie Fig.1., 
oder beide auf einerlei Seite wie Fig 2., liegen, je nachdem nämlich bezieh- 
lich m>n, oderm<n ist. Ist insbesonderem =nundh=p, so geht 
V durch die Spitze C, F vereiniget sich mit C, und dann fällt CD, auf V, 
so dafs der Punkt ®, sich ins Unendliche entfernt, und die Gerade CD wird 
Tangente des Kreises im Punkte C. 

Hiernach ist es auch klar, wie die construirten vier Geraden paarweise 
unmöglich oder imaginär werden können. Denn je nach Beschaffenheit der 
gegebenen Gröfsen m, n, h, kann die eine oder andere Parallele U oder Y, 
oder es können beide zugleich jenseits des Kreises liegen, wo dann das eine 
oder beide Paar Gerade unmöglich werden. Beim Übergangsfall, wo eine 
der Parallelen U oder Y den Kreis berührt, fallen das bezügliche Paar Ge- 
rade in eine zusammen. 

Bemerkung. Die vier Geraden CD, CD,, CD, CD,, oder ein- 
facher bezeichnet, d, d,, d, ö,, bilden paarweise mit den Schenkeln des Drei- 
ecks, CA und CB, oder a und 5, gleiche Winkel, nämlich es ist 

Wink. (ad) = (bd,), und Wink. (ad —= (bd,), 
weil Bogen AE = BE,, und Bogen AF=BF.. 

Es folgt daraus umgekehrt: Dafs wenn man aus der Spitze eines Drei- 
ecks nach der Grundlinie zwei Gerade zieht, welche mit den Schenkeln gleiche 
Winkel machen, und welche entweder beide innerhalb oder beide au/serhalb 
des Dreiecks liegen, dann die Quadrate dieser Geraden zu den Rechtecken 
unter den respectiven Abschnitten der Grundlinie allemal gleiches Verhält- 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 43 


nifs haben, d.i. d’:AD.DB=d}: AD, .D.B, oder 69: AD.DB=} 
AD, D.B: 

Ist insbesondere die Gerade CE, Durchmesser des Kreises (Fig.1.), 
so ist der Winkel CEE, ein rechter, und dem zufolge CD oder d das Per- 
pendikel aus der Spitze C auf die Grundlinie 4B. Somit hat man den bekann- 
ten Satz: „Zieht man aus einer Ecke eines Dreiecks den Durchmesser des 
umschriebenen Kreises und das Perpendikel auf die Gegenseite, so bilden die- 
selben mit den anliegenden Seiten gleiche Winkel.” 

Nimmt man für einen Augenblick das Dreieck ABC als gegeben, dage- 
genp oderg=h:p als unbestimmt an, so ist klar, dafs q ein Minimum 
wird, wenn die Parallele U oder Y den Kreis berührt, in E, oder F, (Fig.2.); 
dabei fallen d und d, in eine Gerade d,, oder ö und d, in eine Gerade Ö, zu- 
sammen, und diese Geraden d, und d, hälften also die Winkel (innern und 
äufsern) an der Spitze C. Seien D, und D, die Punkte, in welchen diese 
Geraden die Grundlinie treffen, so ist also einerseits d; : AD, . BD,, und 
andererseits 6: AD, . BD, ein Minimum. — Ist insbesondere das Dreieck 
an der Spitze C rechtwinklig, so ist: 

di »AD,.BD, = AD, :Bd.: 

II. Was nun die zweite Frage: Die Grenzlage der Spitze C betrifft, 
wenn die Grundlinie AB als fest und q als gegeben angenommen wird, so 
läfst sich dieselbe getrennt, das eine Mal in Betracht der inneren Geraden 
d, d, und das andere Mal in Rücksicht der äufsern Geraden 6, ö,, wie folgt 
leicht beantworten. 

A. Wir haben bereits gesehen, dafs d und d, nur so lange möglich 
sind, als die Parallele U den Kreis schneidet, und dafs also der Zustand, wo 
U den Kreis nur noch berührt, die Grenze bildet. Dabei vereinigt sich der 
Punkt E, mit E, D, mit D, und die Gerade d, mit d. Der Punkt E (Fig. 3.) 
ist die Mitte des Bogens ABC, und sein Ort — wenn das Dreieck und der 
ihm umschriebene Kreis sich ändern — ist die auf der Grundlinie AB, in deren 
Mitte M, senkrechte Gerade Y. Die Gerade d hälftet den Winkel (ab) an 
der Spitze C. Wird unter diesen Umständen AD=a,, BD=b,, unda, + 
b, = 2y, oder MA = MB =y gesetzt, so hat man zunächst 

#00, — asad,. 
b 


9) en 


. 
a; db; 


44 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


Da nach einem bekannten Satze über das Dreieck: 
adb=d’+ab, 
so ist ferner (1.): 


3. d=(+9).0,5,=!.d. 


Aus (2.) und (3.) folgt: 


a b 
4. Vırg= En? 
und daraus weiter 
9. a+b=(a +5)Vır9=2yVi+g, 
d.h. die Summe der Schenkel « + Bist constant. Man setze diese Constante 


2yVYırg=2a, unda —y’=b*, 


so ist 
b 
6. Vi — 2=_, oder 
> A a b,’ 
2 b z d? 2 d? 
Us = ee u a ee 
y a,b, [17 19 ab y a,b; 


8. a= I vab= Vab.. 


Man setze ferner CE=e, DE=fund AE=BE=3g, so ist 
d:f=h:p=g wde=d+f, 


oder 


9, =g.J; und e= (149). f= — d, 


und weiter: 


10. e:d:f=a?:*:y°; 
110, de =.eb; dA ab; ef E a ar .. ab. 
Da die Dreiecke DEB und DAC ähnlich sind, so ist 
= = Belt. (6.), 


und weiter: 


13. g=— J=L.e=5.d=7 .Vab. 
Wird der Winkel (a5) oder ACB durch $ bezeichnet, und bemerkt, dafs 


Winkel BAE= - $, so ist 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 45 


oder 
14. Yab.cos+o—=R. 

Die vorstehenden Gleichungen enthalten nebst der Lösung der obigen 
Aufgabe zugleich auch viele, theils bekannte, Sätze über die Ellipse, nämlich 
in Worten enthalten sie folgendes: 

„Alle Dreiecke ABC, deren Spitzen C in der verlangten Grenze liegen, 
haben die gemeinsame Eigenschaft, dafs die Gerade d den Winkel (ab) an 
der Spitze hälftet; dafs die Schenkel a und b zu den ihnen anliegenden Ab- 
schnitten a, und b, der Grundlinie constantes V erhältni/s haben, nämlich wie 
Vırg:1; dafs daher auch die Summe 2a der Schenkel constant ist und 
sich zur Grundlinie 2% ebenfalls wie Vırq :ı verhält (6.); u.s.w.” Oder: 

„Die gesuchte Grenze ist eine Ellipse, welche die Endpunkte A, B der 

‚festen Grundlinie zu Brennpunkten hat, und deren grofse Axe 2a sich zur 
Grundlinie oder doppelten Excentricität 24 verhält, wie VYırq : 1, oder de- 
ren halbe grofse Axe a, halbe kleine Axe B und Excentricität y sich verhal- 
ten, wie Vı+g: vg: 1 

„Jede Ellipse hat folgende Eigenschaften: Zieht man aus irgend einem 
Punkte C derselben die beiden Leitstrahlen a, b und errichtet die Normale 
CE, so theilt letztere das Stück AB der Hauptaxe X zwischen den Brenn- 
punkten allemal in solche Abschnitte, a, und b,, welche zu den ihnen anlie- 


genden Leitstrahlen constantes Verhältnifs haben, und zwar wiey: a, d.h. 
wie die Excentricität zur halben grofsen Axe”. „Ebenso hat das Rechteck 
unter den genannten Abschnitten, a, b,, zum Quadrat der Normale d’ — diese 
bis an die Hauptaxe X genommen — constantes V erhältnifs, nämlich wie 
y°:ß?, d.h. wie das Quadrat der Exceniricität zum Quadrat der halben klei- 
nen Axe.” „Desgleichen hat das Quadrat der Normale, d’, zum Recht- 
eck unter den Leitstrahlen ab, constantes Verhältnifs, wie B? : a’, d.h. wie 
die Quadrate der halben Axen; u.s.w.(7).” „Die drei Abschnitte der Nor- 
male, zwischen ihrem Fufspunkt C und ihren Schnittpunkten D, E mit den 
Axen X, Y haben unter sich constantes Verhältnifs, und zwar wie die Qua- 
drate der halben Axen und der Exceniricität, nämlich es verhält sich e:d:f = 
a’ :ß° :y° (10); also verhalten sich die Stücke, d und e, der Normale bis 
an die Axen X, Y umgekehrt wie die Quadrate der respectiven halben Axen; 


46 Steiner: Elementare Lösuug einer geometrischen Aufgabe, 


1.5.0.” „Das Rechteck, de, unter den Stücken d, e der Normale bis an die 
Axen ist gleich dem Rechteck, ab, unter den Leitstrahlen; u.s.w. (11).”. — 
„Die Gerade g, welche einen der Brennpunkte mit dem Schnittpunkt E der 
NVormale und der zweiten Axe Y verbindet, verhält sich zum Stück der Nor- 
male bis an diese Axe, e,wie die Excentricität zur halben grofsen Axe (13.), 
und zum Stück der Normale zwischen den Axen, f, wie die halbe grofse Axe 
zur Excentricität (13.); so dafs also g die mittlere Proportionale zwischen 
e und f, oder g’= efist, usw” — Die mittlere Proportionale, Vab, 
swischen den Leitstrahlen, a und b, multiplieirt in den Cosinus ihres halben 
Winkels, +, ist constant, nämlich gleich der halben kleinen Axe ß (14.).” 

Man setze den Halbmesser CM=,, und denke sich den conjugirten 
Halbmesser MH = a, gezogen, so ist letzterer bekanntlich gleich der mittle- 
ren Proportionale zwischen den Leitstrahlen @ und 5 aus C, also. «, = Vab, 
und somit ist (14.) 

a, cs+o=A. 

Wird der Winkel, welchen die Leitstrahlen aus dem Scheitel 7 ein- 

schliefsen, durch X a so ist eben so 
ß,.cstt=ß. 

Nun ist bekanntlich «? +? = a’ -+Q?; daher folgt für die Winkel 

$ und X leicht die interessante Relation: 
15. WFtH +igyV’= RE = — 

d.h. „Die Winkel, welche die zwei Paar Leitstrahlen aus den Scheiteln C, 
H irgend zweier conjugirten Halbmesser der Ellipse unter sich bilden, haben 
die Eigenschaft, dafs die Summe der Quadrate der Tangenten der halben 
Winkel constant ist, nämlich gleich ist dem Quadrat der Excentricität dividirt 
durch das Quadrat der halben kleinen Axe.” 


y? 


Für die Axen-Scheitel ist tg — ®° = und tg +Y/?’=0, was auch 


stimmt. 
Für die besondere Ellipse, deren Axen sich verhalten, wie die Diago- 
nale des Quadrats zur Seite, oder bei welcher «® = 28° = 2y”, hat man 
16. 4’ Hg ıV’ =. 
Für diese besondere Ellipse treten überhaupt in den obigen Gleichun- 
gen und Sätzen ähnliche interessante Modificationen ein. Sie entspricht der 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 47 


vorgelegten Aufgabe für den speciellen Fall, wo das Quadrat der aus der 
Spitze C des Dreiecks zu ziehenden Geraden, CD oder d, dem Rechteck 
unter den Abschnitten, AD und BD, der Grundlinie gleich, oder qg = ı 
sein soll. 

B. In Rücksicht der äufsern Geraden & und d, findet nun Analoges 
statt. Nämlich sie sind nur so lange möglich, als die Parallele / den Kreis 
schneidet; berührt sieihn, so befindet sich Cin der gesuchten Grenze, und 
alsdann vereinigt sich der Punkt F, mit F, D®, mit D, und die Gerade d, mit 
ö, und es ist der Punkt F die Mitte des Bogens AFB, so dafs sein Ort die- 
selbe, auf der Grundlinie AB in deren Mitte M senkrecht stehende Axe Y 
ist, und dafs ö den äufsern Winkel an der Spitze C des Dreiecks hälftet. Für 


diesen Fall setze man 
AD—=a,; BO—=D,; und ABZzZıy=b,— a, 


so hat man gleicherweise, wie oben (A.): 


13,0 ga, 
a b 
2 RER 
3. d=ab,—®=(—-g).0b,= — ur. 
4. h-g= =. 


5. db-a=(b, —a,).Vı—g=2yVı—gq, 
d.h. die Differenz der Schenkel a, 5 des Dreiecks ist constant. Man setze 


2yYı—g=2e, udy” — ae =ß%, 


so ist 
@ —— a b 
6. N 
a? ao Br ab 1 ß? DR q A a Bin AR); } 
T. ye 577 a Qab5a 2 a 1—g Ei Tab? y° rg Zu 
Bu van DO voz, 
« 2 


Wird Cr =e, DOF=f, und AF=BF= g gesetzt, so ist ferner 
o:f=h:p=gq, unde=f— oder 
I. d=g.h unde=(h— d)f= — 
10. erier: ße ig; 


48 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


HE ab Nee 7 ad= Te Nab: 
Da die Dreiecke OBF und DCA ähnlich, so ist weiter: 


9 ge = N = u — . . 
1 7 = > etc. (6.), oder 
13 = - [= e=g°=7 /a 


Wird der äufsere Winkel an der Spitze C durch ®, bezeichnet, so hat man 
cos dd, = = — , oder 


14. Vob.coo+g,—=ß. 


Diese verschiedenen Gleichungen besagen in Worten Ähnliches, wie die obi- 
gen (A.), z.B. 

„Alle Dreiecke, deren Spitzen C in der gesuchten Grenze liegen, haben 
die Eigenschaft, dafs die Gerade ö den äufsern Winkel an der Spitze hälftet; 
da/s die Schenkel a, b zu den ihnen anliegenden Abschnitten a,, b, der Grund- 
linie constantes Verhältnifs haben, wie vı—q : 1, (4) und dafs daher die 
Differenz 2a der Schenkel(b— a, oder a— b) constant ist (5.) und sich zur 
Grundlinie 24 ebenfalls wie Yı — g : ı verhält (6.), u.s.w.” Oder: 

„ Die gesuchte Grenze ist im gegenwärtigen Falle eine Hyperbel, welche 
die Endpunkte A, B der festen Grundlinie zu Brennpunkten hat, und deren 
Hauptasxe 2a sich zur Grundlinie oder doppelten Excentricität 2% verhält, wie 
1% 1—g :ı, oder deren Halbaxen «, ® und Excentricität y sich verhalten, 
wieVyı—qg:Vg:ı, (wenn ß als reell angesehen wird).” 

Für die Hyperbel enthalten die Gleichungen analoge Eigenschaften, wie 
oben für die Ellipse, was ich nur anzudeuten brauche. 

Wie man sieht mufs hier qg <ı, und also ö° > a,b, sein, wenn die 
Hyperbel reell sein soll. 

Ist insbesondere g = —, so wird die Hyperbel gleichseitig, näm- 
licha=@=-yV2, und dann treten in den Formeln und Sätzen Modifi- 
cationen ein, wie oben bei der speciellen Ellipse, bei welcher g = ı. 

Bemerkung. Die in der Aufgabe (II.) verlangte Grenze besteht 
demnach im Allgemeinen aus zwei Kegelschnitten, einer Ellipse und einer 
Hyperbel, welche confocal sind und zudem die zweite Axe 2@ gemein haben 
(abgesehen davon, dafs dieselbe für die Hyperbel imaginär ist); ihre Haupt- 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 49 


axen verhalten sich, wieYı+g:Vı —gq. Die Kegelschnitte schneiden ein- 

ander in vier Punkten C,, und zwar rechtwinklig. Somit giebt es vier solche 

besondere (einander gleiche) Dreiecke ABC,, deren Spitzen C, in beiden 

Kegelschnitten zugleich liegen. Für jedes dieser Dreiecke ist daher 
dab, — 0 20,02 =g, 

woraus man schliefst, dafs dieselben an der Spitze C, rechtwinklig sind (s. 

oben I. Bemerk.). Demnach folgt: 

„Bleibt die Grundlinie AB constant und in fester Lage, während die 
Verhältni/szahl q sich ändert, so ändern sich auch die beiden Kegelschnitte, 
aber der geometrische Ort ihrer vier Schnitipunkte C, ist ein Kreis, welcher 
die feste Grundlinie zum Durchmesser hat.” Oder 

„Soll ein Dreieck ABC,, dessen Grundlinie AB in fester Lage gege- 
ben, die Eigenschaft haben, dafs die Quadrate der beiden Geraden d und 8, 
welche die Winkel $ und $, an der Spitze C, hälften, sich zu den Rechtecken 
unter den respectiven Abschnitten der Grundlinie gleich verhalien, so mu/s 
es an der Spitze rechtwinklig sein, oder so ist der Ort seiner Spitze C, ein 
Kreis, welcher die Grundlinie zum Durchmesser hat.” 

Werden die beiden Kegelschnitte, Ellipse und Hyperbel, oder kürzer 
Eund H, gezeichnet gedacht, so theilen sie zusammen die Fbene in 7 Theile 
oder Räume A. Von diesen Räumen liegen: 1) zwei sich gleiche R,, inner- 
halb E und H zugleich; 2) einer A, innerhalb E allein; 3) zwei gleiche 2, 
innerhalb H allein; und endlich 4) zwei gleiche A, aufserhalb E und H. 
Liegt nun die Spitze C des Dreiecks ABC entweder: 1) in einem der beiden 
Räume A,, so sind sowohl zwei Gerade d (d.h. d und d,) als zwei Gerade 
ö möglich; 2) im Raume A,, so sind nur zwei Gerade d möglich; 3) in einem 
der zwei Räume A,, so finden nur zwei Gerade d statt; und endlich 4) in 
einem der zwei Räume A,, so findet weder d noch d statt, d.h. die Auf- 
gabe (I.) ist unmöglich. 


Zweite Auflösung. 


Von der in der Aufgabe (II.) verlangten Grenze, kann man sich durch 
folgende Betrachtung eine klare Anschauung verschaffen. 

Wird in der gegebenen Grundlinie AB der Theilungspunkt D irgend 
wo angenommen, so ist, wenn zudem auch g gegeben, die Länge der Gera- 
den CD oder d bestimmt, dad’ =g.AD.BD sein soll. Daher ist für 

Math. Kl. 1847. G 


50 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


jeden Theilungspunkt D der Ort der Spitze C des Dreiecks ein Kreis, der 
D zum Mittelpunkt und d zum Radius hat. Und daher ist klar, dafs die 
gemeinsame Enveloppe E aller dieser Kreise D die gesucht® Grenze ist. 
Jeder Kreis wird von der Enveloppe E in denjenigen zwei Punkten € be- 
rührt, in welchen er von dem ihm zunächst folgenden geschnitten wird, oder, 
wenn man sich so ausdrücken darf, in welchen er von dem mit ihm zusam- 
menfallenden (oder von sich selbst) geschnitten wird. In jedem andern Punkte 
C, wird er von einem der übrigen Kreise geschnitten, aber nur von einem. 
Jene zwei Berührungspunkte € lassen sich z.B. durch die Eigenschaft der 
Ähnlichkeitspunkte zweier Kreise leicht geometrisch bestimmen. 

Es seien D und D, zwei der genannten Kreise, und F und F, seien 
ihre Ähnlichkeitspunkte: so sind diese (nicht allein zu den Mittelpunkten D 
und D,, sondern zugleich auch) zu den gegebenen Punkten A und B har- 
monisch, was leicht zu erweisen ist. Eine äufsere gemeinschaftliche Tan- 
gente Z, die also durch den äufsern Ähnlichkeitspunkt F geht, berühre die 
Kreise beziehlich in € und €,, und der diesen Punkten zunächst liegende 
Schnittpunkt der Kreise heifse C,. Bleibtnun D fest während D, ihm nä- 
her rückt, bis er endlich mit ihm zusammenfällt, so rücken die Punkte E 
und C, auf dem festen Kreise D einander auch näher, bis sie zuletzt sich in 
einen Punkt C vereinigen, welcher der verlangte Berührungspunkt ist; dabei 
fällt auch €, in C, und der innere Ähnlichkeitspunkt F,, der stets zwischen 
D und D, liegt, fällt in D. Demnach werden die zwei Punkte C, in welchen 
ein beliebiger Kreis D von der Enveloppe E berührt wird, wie folgt ge- 
funden: 

„Zu den drei Punkten A, D, B suche man den vierten, dem D zuge- 
ordneten, harmonischen Punkt F, und lege aus ihm Tangenten an den Kreis 
D, so sind deren Berührungspunkte die verlangten zwei Punkte C.” 

Zieht man aus einem der construirten Punkte C nach den Punkten 
A, D, B, F Strahlen a, d, b, f, so sind diese auch harmonisch; und dad und 
f zu einander rechtwinklig (als Radius und Tangente des Kreises D), so hälf- 
ten sie die von aund d gebildeten Winkel. Hierdurch gelangt man, für die 
Bestimmung des Orts von C, zu denselben drei Fundamentalgleichungen, 
wie bei der ersten Auflösung (II. A. 1, 2, 3.), woraus also, wie dort, folgt, 
dafs die Enveloppe E eine Ellipse sei. 

Der Kreis D kann mit der Enveloppe E reelle oder imaginäre Berüh- 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 51 


rung haben. Ob das Eine oder Andere statt findet, hängt davon ab, oder 
wird bei der obigen Construction daran erkannt, ob aus # Tangenten an den 
Kreis D möglich sind oder nicht, also ob F aufserhalb oder innerhalb des 
Kreises liegt, oder ob d kleiner oder gröfser als DF’ ist. Es finden immer 
beiderlei Kreise statt, und der besondere Fall, wo gerade d= DF, oder 
zur Unterscheidung, d, = D,F,, bildet den Übergang von den einen zu den 
andern. Bei diesem Übergangsfalle vereinigen sich beide Berührungspunkte 
C, mit F,, und der Kreis D, wird der Krümmungskreis der Ellipse £ im 
Scheitel F, ihrer Hauptaxe 2«. Die Lage des Mittelspunkts D, wird durch 


die zwei Gleichungen 
de gi AD; BD, und MA>= MD, "ME, 
oder, wenn MD, = x und MA = MB = y gesetzt wird, durch 
d=g4(y’ — a’), undy’=x(x +d,) 


bestimmt. Daraus ergiebt sich: 


2 2 
= — = I%;,unddd, =ae—ı= h 
Vi+g [2 @ 


Von den auf diese Weise bestimmten zwei Punkten D, und D; liege der er- 
stere nach A und der andere nach B hin. Die Mittelpunkte der beiderlei 
Kreise D vertheilen sich nun so: „Die Strecke D, D; enthält die Mittelpunkte 
aller reell berührenden Kreise D, wogegen die Mittelpunkte der imaginär 
berührenden Kreise D in den beiden Strecken AD, und BD; liegen.” Da- 


bei ist 


D,D, =, und AD, =BDi= 2 («— 9). 


Die Berührungspunkte C der Kreise D mit der Enveloppe E können 
ferner auch auf folgende umständlichere Art gefunden werden, was hier noch 
um eines unten folgenden Satzes willen in Betracht gezogen werden soll. 

Zieht man in allen Kreisen D parallele Durchmesser GG, = 2d nach 
einer beliebigen Richtung A, so liegen ihre Endpunkte G und @, jedesmal 
in irgend einem Kegelschnitte X [denn dd’ =g.AD.BD, so ity’=q 
(y— x) (Y+x), wenn man d=y, MD=x und MA= y setzt]. Wird 
nun an diesen Kegelschnitt X im Punkte G die Tangente GF gelegt, so trifft 
diese die Axe X im nämlichen Punkte F, aus welchem die an den Kreis D 
gelegten Tangenten die verlangten Berührungspunkte C geben (wie bei der 


G2 


52 Steinen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


obigen Construction). — Für den oben genannten Übergangsfall, d.h. für 
den besondern Kreis D,, hat man dabei das Merkmal: dafs die Tangente 
GF mit der Richtung R und mit der Axe X gleiche Winkel bildet, oder dafs 
D,F=D,G ist; und je nachdem sie mit A einen gröfsern oder kleinern 
Winkel bildet, als mit X, berührt der zugehörige Kreis D die Enveloppe 
E reell oder imaginär. Bei dem besondern Kegelschnitte X,, der entsteht 
wenn R zu X senkrecht, bildet also für jenen Fall die Tangente GF mit der 
Axe X einen Winkel von 45°, und je nachdem sie mit derselben einen kleinern 
oder gröfsern Winkel bildet, berühren sich D und E reell oder imaginär. — 
Da beim Übergangsfall D,F=D,G = D,G,, so folgt, dafs die Tangenten 
GF und G,F dabei einen rechten Winkel bilden. Beiläufig mag noch be- 
merkt werden, dafs aus der Bestimmungsart der Kegelschnitte X unmittelbar 
folgt, dafs dieselben die Grundlinie AB zum gemeinsamen Durchmesser ha- 
ben (somit unter sich und mit E concentrisch sind), und dafs der demselben 
conjugirte Durchmesser für jeden X der zugehörigen Richtung R parallel und 
für alle X von constanter Gröfse ist, nämlich er ist zugleich ein Durchmesser 2d 
desjenigen Kreises D oder D,,, dessen Mittelpunkt in M fällt, so dafs also 2d, — 
e@=2yVg. Ferner folgt, dafs jeder Kegelschnitt X die Enveloppe E in 
zweiPunkten H und H,,in den Endpunkten eines ihnen gemeinsamen Durch- 
messers, berührt; dieser Durchmesser ist dadurch bestimmt, dafs die Nor- 
malen (der E) in seinen Endpunkten der jedesmaligen Richtung A parallel 
sind. Demzufolge ist E zugleich auch die Enveloppe der Schaar Kegel- 
schnitte X, welche sämtlich Ellipsen sind und innerhalb der Ellipse E liegen. 
Jener oben erwähnte besondere X, hat mit E die Axe 28 gemein und berührt 
sie in den Scheiteln derselben. — Für die obige specielle Ellipse, die ein- 
tritt, wenn g= 1, und bei dere = @VYa=yV2, ist AB für jeden Kegel- 
schnitt X einer der gleichen conjugirten Durchmesser, indem 2d, = ß= 
2y, und daher wird in diesem Falle X, ein Kreis über dem Durchmesser 
AB. 

Wird oben anstatt des Theilungspunkts D, zwischen A und B, ein 
Theilungspunkt D in der Verlängerung der Grundlinie AB, also jenseits A 
oder Bangenommen, und wird sodann mit der dadurch bestimmten Geraden 
ö um ihn ein Kreis ® beschrieben, so gelangt man zu analogen Resultaten. 
Nämlich die Enveloppe E aller Kreise ® ist eine Hyperbel; die Kreise zer- 
fallen in zwei Abtheilungen, die einen haben mit E’reelle, die andern imaginäre 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnilte. 53 


Berührung, und der Übergang von den einen zu den andern geschieht durch 
die Krümmungskreise D, in den Hauptscheiteln der Hyperbel E, etc. Ferner: 
Zieht man in den Kreisen je ein System parallele Durchmesser GG, so lie- 
gen deren Endpunkte in einer Hyperbel X, welche die Hyperbel E in zwei 
Punkten H und H,, in den Endpunkten eines gemeinsamen Durchmessers 
(eines reellen oder imaginären) berührt, u.s. w. 

Bemerkung. Dafs die obigen Kreise D eine Ellipse E zur Enve- 
loppe haben, und dafs die Endpunkte G und G, je eines Systems paralleler 
Durchmesser derselben in einer andern Ellipse X liegen, u.s.w. davon kann 
man sich durch stereometrische Betrachtung, durch Projection, eine klare 
unmittelbare Anschauung wie folgt verschaffen. 

Man denke durch den Mittelpunkt M einer Kugel eine feste Ebene p, 
die sie in einem Hauptkreise P schneidet; ferner einen der Kugel umschrie- 
benen (geraden) Cylinder T, dessen Axet, die immer durch M geht, gegen 
die Ebene p unter beliebigem Winkel A geneigt ist, und welcher die Kugel 
in einem Hauptkreise € berührt, der mit dem Kreise P einen Durchmesser 
QR oder Y gemein hat. Der Cylinder T schneidet die Ebene p in einer 
Ellipse E, die M zum Mittelpunkt und OR zur kleinen Axe (2) hat. Sei 
Z der auf der Ebene p senkrechte Kugeldurchmesser, und X und 8 dessen 
Endpunkte. Jede durch Z gelegte Ebene schneidet die Kugelin einem Haupt- 
kreise 8; geht die Ebene insbesondere durch Z und Y, so heifse der Kreis &,. 
Jeder Kreis $ hat mit dem festen Kreise € einen Durchmesser HN, gemein. 
Alle Kreise & haben den Durchmesser AB (oder Z) gemein, und die dem- 
selben conjugirten Durchmesser haben sie einzeln mit dem Kreise P gemein. 
Eine mit der Ebene p parallele, aber bewegliche, Ebene p, schneidet die Kugel 
in einem kleinen Kreise D, dessen Mittelpunkt D den Durchmesser AB zum 
Ort hat. Der Kreis D schneidet den festen Kreis € in zwei Punkten €, die 
reell oder imaginär sein können, nämlich es giebt zwei besondere Kreise D, 
und D;, welche den Kreis E nur berühren, und über diese hinaus schneiden 
sich D und & nicht mehr reell, aber die Schnittlinie CE ihrer verlängerten 
Ebenen bleibt immerhin ihre ideelle gemeinschaftliche Chorde. Die Schaar 
Kreise D werden von der Ebene jedes Kreises & in einem System paral- 
leler Durchmesser G®&, geschnitten, deren Endpunkte & und ©, in & lie- 


gen; U.S.W. 


54 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


Werden nun diese auf der Kugel beschriebenen Elemente nach der 
Richtung der Cylinder-Axe # auf die feste Ebene p projicirt, so ergiebt sich 
folgendes: 

Der Kreis P entspricht sich selbst. Dem Kreise entspricht die Ellipse 
E;, dem senkrechten Durchmesser Z entspricht die grofse Axe X von E; den 
Endpunkten X und B entsprechen die Brennpunkte A und Bvon E. Jedem 
Kreise D entspricht ein ihm gleicher Kreis D, dessen Mittelpunkt D die Stre- 
cke AB der Axe X zum Ort hat; den zwei Schnittpunkten € von D und € 
entsprechen die zwei Berührungspunkte € von D und E; den besondern zwei 
Kreisen DO, und D; entsprechen die Krümmungskreise D, und D; in den 
Scheiteln der grofsen Axe X; und überhaupt je nachdem der Kreis D den Kreis 
& schneidet oder nicht, hat D mit E reelle oder imaginäre Berührung, und 
der Schnittlinie @& der Ebenen von D und € entspricht immer die reelle oder 
ideelle Berührungssehne CC von D und E. Die Kreise 8 gehen in eine Schaar 
Ellipsen Aüber; je einem System paralleler Durchmesser &G&, der Kreise D 
entsprechen parallele Durchmesser GG, der Kreise D, deren Endpunkte G 
und @, in Je einer Ellipse X liegen; den Schnittpunkten 9 und 9, von & und 
& entsprechen die Berührungspunkte H und H, von K und E, und HA, ist 
allemal gemeinsamer Durchmesser der letztern; dem gemeinsamen Durchmes- 
ser AB aller Kreise & entspricht der gemeinsame Durchmesser AB aller Ellip- 
sen X, und die diesen beiden Durchmessern beiderseits conjugirten Durch- 
messer fallen zusammen und sind zugleich die Durchmesser des Kreises P. 
Dem besondern Kreise &, entspricht die besondere Ellipse X,, u.s.w. 

Die Verhältnifszahl oder der Coefficient q wird hierbei bestimmt durch 

g=tang‘”. 

Ist insbesondere der Winkel A = 45°, so ist g= ı, und dann wird 
E die mehrerwähnte besondere Ellipse, bei der « = Bye. 

Anstatt der Kugel können auch andere Umdrehungsflächen zweiter 
Ordnung zu Hülfe genommen werden, nämlich die Sphäroide und das zwei- 
theilige Umdrehungs-Hyperboloid. Dabei ist gleicherweise die feste Ebene 
p durch den Mittelpunkt M der Fläche und senkrecht zu ihrer Drehaxe Z 
anzunehmen. Beim Hyperboloid ist dann der umschriebene Cylinder 7 ein 
hyperbolischer, und sein Schnitt E mit der Ebene p ist eine Hyperbel, und 
ebenso werden alle Kegelschnitte X Hyperbeln, u.s. w. 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 55 
Bei diesen Fällen wird die Gröfse q durch den Winkel A und durch 


die zwei verschiedenen Axen 2a, 2@ der jedesmaligen Fläche bestimmt, näm- 
lich es ist 
up tang A” 
De ana, 


wo 2« die ungleiche Axe ist, die in der Drehaxe Z liegt. 


$.ı. 


Die vorstehende Untersuchung führte auf ein System Kreise, welche 
einen Kegelschnitt doppelt berühren. Aber es kamen dabei einerseits nicht 
alle Kreise in Betracht, welche den Kegelschnitt doppelt berühren, und 
andererseits stellten sich nicht alle Arten Kegelschnitte ein. Dies giebt An- 
lafs diesen Gegenstand für sich etwas ausführlicher zu erörtern. Es bieten 
sich dabei noch einige nicht ganz uninteressante Eigenschaften und Sätze dar. 

1. Ein gegebener Kegelschnitt A kann von zwei Systemen oder zwei 
Schaaren Kreise P und Q doppelt berührt werden, deren Mittelpunkte in den 
beiden Axen X und Y des Kegelschnitts liegen, und zwar ist jeder Punkt 
in der einen oder der andern Axe als Mittelpunkt eines solchen Kreises an- 
zusehen, der reell oder imaginär ist. Die Kreise P, deren Mittelpunkte in 
der Hauptaxe X liegen, berühren den Kegelschnitt X von Innen und liegen 
ganz innerhalb desselben, wogegen die Kreise @, deren Mittelpunkte in der 
zweiten Axe F liegen, denselben entweder von Aufsen berühren, oder ihn 
umschliefsen und von ihm von Innen berührt werden. Die erste Kreisschaar 
P besteht aus reellen und imaginären Kreisen, wogegen die andere Schaar 
Kreise Q sämmilich reell sind. Die reellen Kreise P der ersten Schaar zer- 
fallen in zwei Abtheilungen, wovon die einen mit Ä reelle und die andern 
imaginäre Berührung haben, (was bereits im Vorhergehenden sich heraus- 
stellte). Bei den Kreisen Q hängt es von der Art des Kegelschnitts A ab, 
ob ihn dieselben alle reell berühren, oder ob sie, ebenso wie jene, in zwei 
Abtheilungen zerfallen, wovon die einen ihn reell und die andern imaginär 
berühren. 

Sei AA, = 2a die Hauptaxe, in X, und BB, = 2ß die zweite Axe, 
in Y,, ferner Fund F, die Brennpunkte (in X) und FF, = 2y; seien ferner 


56 Steinen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


A und AX,,Bundß, beziehlich die Krümmungsmittelpunkte der Axen-Schei- 
tel 4 und A,, B und B,, und sei endlich M der Mittelpunkt des Kegel- 
schnitts K: so läfst sich das Gesagte bei den verschiedenartigen Kegelschnitten 
wie folgt specieller angeben. 

a. Bei der Ellipse. 1) Die Kreise P werden von der Ellipse umschlos- 
sen. Die Mittelpunkte der reellen Kreise P sind auf die Strecke FF, be- 
schränkt, und jeder derselben berührt die Ellipse reell oder imaginär, je 
nachdem sein Mittelpunkt in der Strecke AW,, oder in einer der beiden Stre- 
cken AF oder A,F, liegt. Der Kreis P wird am gröfsten, ein Maximum, 
wenn er M zum Mittelpunkt und BB, = 2ß zum Durchmesser hat; er wird 
um so kleiner, je weiter sein Mittelpunkt von M absteht, bis er in den Gren- 
zen F und F, sich auf seinen Mittelpunkt redueirt. 2) Die Kreise Q um- 
schliefsen die Ellipse und berühren sie reell oder imaginär, nachdem der 
Mittelpunkt in der Strecke BB,, oder auf der einen oder andern Seite jen- 
seits dieser Strecke liegt. Der Kreis Q wird ein Minimum, wenn er M zum 
Mittelpunkt und AA, = 2« zum Durchmesser hat; er wird um so gröfser, 
je weiter sein Mittelpunkt von M absteht. — Im beiden Fällen findet der 
Übergang von den reell zu den imaginär berührenden Kreisen bei den Krüm- 
mungskreisen in den Scheiteln der respectiven Axen AA, und BB, statt. 

b. Bei der Hyperbel. 1) Die Kreise P werden von der Hyperbel 
umschlossen. Die Mittelpunkte der reellen Kreise P liegen zu beiden Sei- 
ten jenseits der Strecke FF,, von deren Endpunkten an bis ins Unendliche, 
und jeder Kreis P berührt die Hyperbel reell oder imaginär, nachdem sein 
Mittelpunkt jenseits der Strecke AA,, oder in einer der beiden Strecken AF 
oder 4,7, liegt; in den Grenzpunkten Fund F, wird der Radius des Krei- 
ses—= 0, etc. 2) Die Kreise Q@ berühren die Hyperbel von Aufsen, jeder 
berührt beide Zweige derselben, und alle berühren reell, so dafs jeder Punkt 
der unbegrenzten Axe Y Mittelpunkt eines die Hyperbel reell und doppelt 
berührenden Kreises Q@ ist. Der Kreis Q wird ein Minimum, wenn er M 
zum Mittelpunkt und 44, = 2a zum Durchmesser hat; er wird um so grö- 
{ser, je weiter sein Mittelpunkt von M entfernt. 

c. Bei der Parabel. 1) Die Kreise P werden von der Parabel um- 
schlossen. Die Mittelpunkte der reellen Kreise P liegen von Fan nach dem 
Innern der Parabel, bis ins Unendliche, und jeder Kreis P berührt die Pa- 
rabel reell oder imaginär, je nachdem sein Mittelpunkt jenseits X, oder in 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 57 


der Strecke FA liegt; bei wird der Radius des Kreises 0, ete. 2) Hier 
ist die zweite Axe Y unendlich entfernt; als ihr entsprechende Kreise Q kann 
man die gesammten Tangenten der Parabel ansehen. 

Bemerkung I. Die Radien der Kreise P und Q, welche nach deren 
Berührungspunkten mit dem Kegelschnitte X gezogen werden, sind zugleich 
die Normalen des letztern. Somit sind umgekehrt die beiden Kreisschaaren 
durch die Normalen des Kegelschnitts X bestimmt, nämlich dieselben bis an 
die Axen X und Y genommen, sind die Radien der respectiven Kreise. Aber 
wie aus dem Obigen ersichtlich, erhält man hierdurch nicht die ganze Kreis- 
schaar P, sondern nur diejenige Abtheilung derselben, welche mit X reelle 
Berührung haben. Ebenso verhält es sich mit der zweiten Kreisschaar Q, 

im Falle, wo X eine Ellipse ist. — 

II. Von den zwei Kreisschaaren P und Q, die einen Kegelschnitt X 
doppelt berühren, will ich hier beiläufig folgenden Satz angeben: 

„Die gemeinschaftliche Sekante SS irgend zweier Kreise aus der näm- 
lichen Schaar und ihre Berührungssehnen CC und C,C, mit dem Kegel- 
schnitte K sind parallel, und die erstere liegt immer in der Mitte zwischen 
den beiden letztern” (Dabei können die genannten drei Geraden reel oder 
ideel sein). Oder: 

„Werden zwei gegebene Kreise N und N, von irgend einem Kegel- 
schnitte K doppelt berührt, aber beide gleichartig, so sind die beiden Berüh- 
rungssehnen CC und C,C, immer mit der gemeinschaftlichen Sekante SS der 
Kreise parallel, und stehen gleichweit von ihr ab” — Die zwei äufsern, so 
wie die zwei innern gemeinschaftlichen Tangenten der Kreise V und NV, sind 
als ein solcher Kegelschnitt X anzusehen: und für diesen besondern Fall ist 
der Satz bekannt. — Übrigens findet der Satz auch etwas allgemeiner statt, 
was ich bei einer andern Gelegenheit nachzuweisen mir vorbehalte. 

IH. Die zweite Schaar Kreise Q haben, unter andern, folgende be- 
sondere Eigenschaft: 

„Zieht man aus den Brennpunkten F und F, nach allen Tangenten 
des Kegelschnitts K Strahlen unter demselben beliebigen Winkel ®, so liegen 
ihre Fufspunkte allemal in einem solchen Kreise Q, so dafs durch Änderung 
des Winkels $ die ganze Schaar Kreise Q erhalten wird.” Oder umgekehrt: 

gegebener Winkel $ so, dafs der eine Schenkel 
stets einen festen Kegelschnitt K berührt, während der andere beständig durch 


Math. Kl. 1847. H 


„Bewegt sich ein beliebiger 


58 Sreıner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


einen der beiden Brennpunkte F oder F, desselben geht, so beschreibt sein 
Scheitel einen solchen Kreis Q, welcher den Kegelschnitt doppelt berührt (re- 
ell oder imaginär) und seinen Mittelpunkt in der zweiten Axe Y des letztern 
hat”— Für den besondern Fall, wo = 90", ist der Satz allgemein bekannt; 
ebenso für den Fall, wo X insbesondere eine Parabel aber $ beliebig ist, und 
wobei der Kreis Q unendlich grofs, d.h. eine Gerade, eine Tangente der 
Parabel wird. — Zur weitern Entwickelung dieses Satzes und seines Zusam- 
menhanges mit andern Eigenschaften, ist hier nicht der geeignete Ort. 

2. Kürze halber wollen wir die obige Annahme (1.): „dafs X die 
erste, oder die Hauptaxe des gegebenen Kegelschnitts X sei”, für einen Au- 
genblick aufheben, und vielmehr es unbestimmt lassen, ob X die erste oder 
zweite Axe, und ob die ihr zugehörige Kreisschaar P die erste oder zweite 
sei, wobei dann gleicherweise unbestimmt bleibt, ob die in X liegende Axe 
AA, = 2a, so wie die Brennpunkte Fund 7,, und deren Abstand FF, = 
2%, u.s.w. reell oder imaginär seien. Alsdann braucht man nur von einer 
Kreisschaar Pzu sprechen und kann doch die übereinstimmenden Eigenschaf- 
ten beider Schaaren zugleich beschreiben. 

Einige schon im Frühern angedeutete Sätze ($.I, 2te Auflös.) lauten 
nun vollständiger wie folgt: 

„Werden in einer Schaar Kreise P, welche einen gegebenen Kegel- 
schnitt K doppelt berühren, nach beliebiger Richtung R parallele Durchmesser 
GG, gezogen, so liegen deren Endpunkte G und G, in irgend einem andern 
Kegelschnitte K,, welcher FF, zum Durchmesser hat, der mit den Brenn- 
punkten F und F, zugleich reell oder imaginär ist. Der diesem Durchmesser 
FF, conjugirte Durchmesser G’G? in K,, ist der Richtung R parallel, näm- 
lich er ist zugleich der Durchmesser GG, desjenigen Kreises P, dessen Mit- 
telpunkt in M liegt, und somit ist er auch gleich der andern Axe BB' = 28 
des gegebenen Kegelschnitts K (1.), und mit derselben zugleich reell oder 
imaginär. Daher ist die Summe der Quadrate dieser conjugirten Durchmes- 
ser FF, und G’G? von K, gleich dem Quadrat der Axe AA, = 2a von K.” 
Werden diese conjugirten Durchmesser von ÄX,, als solche, durch 2/ und 2g 
bezeichnet, soitf=yundg= ß, und da in X @? +y?=.«°, so ist auch, 
wie behauptet, 

He 
Ferner: „Der Kegelschnitt K, berührt den gegebenen K in denjenigen zwei 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 59 
Punkten H und H,, in welchen die Normalen, auf K, der Richtung R pa- 


rallel sind, somit in den Endpunkten eines gemeinsamen Durchmessers HH, 

—=.2h. Die diesem Durchmesser in beiden Kegelschnitten K und K,, conju- 

girten Durchmesser LL = 2l und L,L, = :l, fallen also aufeinander, 

und die Differenz ihrer Quadrate ist gleich dem Quadrai der andern Axe 

BB, des gegebenen Kegelschnitts K.” Denn in Rücksicht auf X, ist h’+7, 

—=g’+f’=.a°, und in Bezug auf Kit + =a’ + ß*, folglich ist 
P_e—Bt. 

Wird die Richtung R so viel wie möglich geändert; so entsteht eine 
Schaar Kegelschnitte X,, oder abgekürzt $. X,, welche insgesammt folgende 
Eigenschaften haben. 

„Die S. K, haben FF, zum gemeinsamen Durchmesser und sind da- 
her unter sich und mit K concentrisch. Die diesem Durchmesser conjugirten 
Durchmesser G’G? in der S.K, sind zugleich die gesammten Durchmesser 
desjenigen Kreises P, welcher M zum Mittelpunkt hat, also alle gleich und 
auch gleich der andern Axe BB, des K. Daher ist für alle K, die Summe 
der Quadrate conjugirter Durchmesser constant, und zwar gleich dem Qua- 
drat der fixirten Axe AA, des K; (denn es ist g + f” =«°). Der über 
der Axe AA, = 2a, als Durchmesser, beschriebene Kreis M hat daher die 
Eigenschaft, dafs die aus irgend einem Punkte m seines Umfanges an je ei- 
nen K, gelegten Tangenten allemal einen rechten Winkel bilden. Die 5. K, 
haben den gegebenen Kegelschnitt K zur gemeinsamen Enveloppe, nämlich 
jeder von jenen berührt diesen in den Endpunkten eines ihnen gemeinsamen 
Durchmessers HH,, und zwar in denjenigen Punkten, in welchen die Nor- 
malen der zugehörigen Richtung R parallel sind. Die diesem Durchmesser 
HH, in dem jedesmaligen K, und in K conjugirten Durchmesser L,L, = el, 
und LL=2l fallen aufeinander, und die Differenz ihrer Quadrate ist con- 
stant, nämlich gleich dem Quadrat der andern Axe BB, = 2ß des K;, (oder 
= %, oben)” — „Legt man aus irgend einem Punkte p des gemein- 
samen Durchmessers FF,, oder dessen Verlängerung, an jeden K, zwei 
Tangenten pg und pg,, so liegen die Berührungspunkte g und g, sämmtlich 
in einem der Kreise P, und die Berührungssehnen gg, sind Durchmesser 
desselben, und schneiden sich somit in einem Punkt.” — „Die S. K, sind 
unter sich und im 4llgemeinen auch mit K von gleicher Art, nur wenn K eine 


H2 


60 Sreisen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


Ellipse und X ausdrücklich die zweite oder kleine Axe derselben ist, sind die 
S. K, anderer Art, nämlich Hyperbeln.” 

Gemäfs einer früheren Bemerkung (1.1.) kann man den ersten Satz 
auch so aussprechen: 

„Werden die Normalen eines Kegelschnitts K bis an eine seiner Axen 
X gezogen und um die Punkte, in welchen sie diese treffen, so herumbewegt, 
bis sie irgend einer gegebenen Richtung R parallel sind, so liegen ihre End- 
punkte allemal in irgend einem andern Kegelschnitte K,, welcher jenen ersten 
in den Endpunkten eines ihnen gemeinsamen Durchmessers HH, berührt, 
und welcher allemal den Abstand FF, der in der Axe X liegenden Brenn- 
punkte des K von einander zum Durchmesser hai.” U.s.w. 

3. Aus dem Vorhergehenden ergeben sich durch Umkehrung fol- 
gende Sätze. 

„Zieht man in einem gegebenen Kegelschnitte K, ein System parallele 
Sehnen GG, nach beliebiger Richtung Rh, so liegen ihre Mitten P in einem 
Durchmesser FF, =2/f desselben: und beschreibt man über den Sehnen, als 
Durchmesser, Kreise P, so haben diese irgend einen bestimmten andern Ke- 
gelschnitt K zur Enveloppe, und zwar berühren sie ihn doppelt, jeder in zwei 
Punkten C. Eine Axe AA, = 2a des K fällt auf den Durchmesser FF, 
und die ihr zugehörigen Brennpunkte fallen in dessen Endpunkte F und F,, 
so da/s also FF, = 2y die doppelte Excentricität des K und dieser mit K, 
concentrisch ist. Die andere Axe BB, =2ß des K ist dem zum System der 
Sehnen GG, gehörigen, und dem FF, conjugirten, Durchmesser G’G, =2g 
des K, gleich. Daher ist das Quadrat jener Axe AA, des K gleich der 
Summe der Quadrate der conjugirten Durchmesser FF, und G’G} des K.. 
Die aus einem Scheitel A der Axe AA, an K, gelegten Tangenten A und 
A®, bilden einen rechten Winkel, und die Berührungssehne &&, gehört 
mit zum System Sehnen GG, sie ist der Durchmesser des Krümmungskrei- 
ses, oder ihre Mitte ist der Krümmungsmittelpunkt X des Kegelschnitts K in 
jenem Scheitel A ($. 1. 2te duflösung.) — Der Kegelschnitt K berührt den 
gegebenen K, in den Endpunkten eines ihnen gemeinsamen Durchmessers 
HH,, und zwar in denjenigen Punkten H und H,, in welchen die Normalen 
des K, der Richtung R und somit auch den Tangenten in F und F, an K, 
parallel sind. Daher sind die Brennpunkte F und F, und die Berührungs- 
punkte H und H, des K zugleich auch die Berührungspunkte der Seiten eines 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 61 


dem K, umschriebenen Rechtecks. Die dem Durchmesser HH, = 2h beid- 
seitig conjugirten Durchmesser 2l und 21, fallen aufeinander und es ist 
aut B = ß@? = ge? 

Wird die Richtung AR so viel wie möglich geändert, so entsteht auf 
diese Weise, bei demselben gegebenen Kegelschnitte X, eine Schaar Kegel- 
schnitte X, oder S. X, welche folgende gemeinsame Eigenschaften haben. 

„Die 5. K haben mit K', denselben Mittelpunkt M. Alle K haben eine 
gleiche Axe dA, deren Quadrat der Summe der Quadrate je zweier conju- 
girter Durchmesser des K, gleich ist; daher sind sämmtliche Axen AA, 
Durchmesser eines Kreises M, welcher in Bezug auf K, der Ort der Schei- 
tel der ihm umschriebenen rechten Winkel ist. Die in den Axen 4A, liegen- 
den Brennpunkte F und F, der $. K sind zugleich die Endpunkte je eines 
Durchmessers FF, des K,, und somit ist K, ihr geometrischer Ort. Der ge- 
nannte Kreis M ist ferner für jeden Kegelschnitt K der Ort der Fufspunkte 
der aus seinen Brennpunkten F und F, auf seine Tangenten gefällten Perpen- 
dikel” — „Die andern Axen BB, der S.K sind respective den einzelnen Durch- 
messern des K\, gleich, nämlich je dem, der dem Durchmesser FF, conjugirt 
ist. Der Ort der Endpunkte dieser Axen BB, ist eine Curve Aten Grades(*). 
„Jeder Kegelschnitt K berührt den gegebenen K, in den Endpunkten eines 


ihnen gemeinsamen Durchmessers HH, in welchen Endpunkten nämlich die 


5 
Normalen der jedesmaligen Richtung R parallel sind; die beiden Brenn- 
punkte F und F, und die beiden Berührungspunkte H und H, jedes K sind 
immer zugleich die Berührungspunkte der zwei Paar Gegenseien eines dem 
K, umschriebenen Rechtecks, und es giebt allemal einen zweiten K, welcher 
verwechselt H und H, zu Brennpunkten und F und F, zu Berührungspunkten 
hat. Und umgekehrt: Die zwei Paar Berührungspunkte der Gegenseiten 
eines jeden dem K, umschriebenen Rechtecks entsprechen in diesem Sinne 
zweien Kegelschnitten K.” — „Die gemeinsame Enveloppe aller K besteht 
aus zwei Theilen, aus dem gegebenen Kegelschnitte K, und aus dem genann- 
ten Kreise M; letzterer berührt jeden K in den Endpunkten A und A, seiner 
Axe AA,.”— „Das dem K, eingeschriebene Viereck, dessen Ecken in 


(*) Die Gleichung der genannten Curve ist 
(x? +y?) (a? x? en b?y°+a°b°) — (a? + 5°) (a®x? er b?y?), 
wobei a, 5 die Halbaxen des gegebenen Kegelschnitts X, sind. 


62 Sreınre: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


den Berührungspunkten eines umschriebenen Rechtecks liegen, wie FHF,H,, 
ist ein Parallelogramm, seine Seiten sind den Diagonalen des Rechtecks pa- 
rallel, und von den sich anliegenden Seiten desselben ist die Summe oder der 
Unterschied constant, und zwar gleich der Diagonale des Rechtecks, also 
FH+F,H= AA, = 2a. Die im vorstehenden Satze genannte besondere 
Sehne ©&,, Durchmesser des Krümmungskreises P, im Scheitel A jedes K, 
berührt oder hat zur Enveloppe einen bestimmten Kegelschnitt M,, nämlich 
die Polarfigur des Kreises M in Bezug auf den gegebenen Kegelschnitt K ,; 
dieser Kegelschnitt M, hat ebenfalls M zum Mittelpunkt. Der Ort der Mit- 
ten der Sehnen &®&, oder der Krümmungsmittelpunkte A aller K in ihren 
Axen-Scheiteln A (und A,), ist eine Curve Aten Grads, deren Gleichung 
(a? + B°) (a’y? + b’x°)? DW (y? Fr x°) 

ist, wo a, b die Halbaxen des K, sind. Die Curve hat M zum Mittelpunkt 
und zudem die Eigenschaft, dafs je zwei Durchmesser derselben, AA, und 
A’A;, welche auf irgend zwei conjugirte Durchmesser FF, und G’G‘/ von 
K, fallen, constante Summe oder constanten Unterschied haben, und zwar 
dafs A, HA AU = AA, = 2e ist, und dafs ferner die Durchmesser AA} 
der Curve einzeln den Durchmessern &&, der genannten Krümmungskreise 
P, gleich sind.” Denn auf je zwei conjugirte Durchmesser FF, und G’G/ 
des X, (Fig. 4.) fallen immer die Diagonalen AA, und 4° A} eines umge- 
schriebenen Rechtecks AA°A, A}, und auch umgekehrt, und dabei sind 
die Seiten des zugehörigen eingeschriebenen Parallelogramms &&, 6, ©, 
(gleichbedeutend mit dem genannten FH F,H,) den Diagonalen des Recht- 
ecks parallel, so dafs AA, = 66, und A’A} = 66,, und somit AA, + 
WA = 66, + 66, = AA, = 2a ist. Übrigens ist auch nach früherem 
(8-1. 2° Aufl.) MA= T- und MA° = &, und somit MA+ Me -I + 
=&. 

Es folgt ferner: 

„Die Tangenten jedes Kegelschnitts K schneiden alle den Kreis M; 
und umgekehrt: jede Sehne mn des Kreises M, die den gegebenen Kegelschnitt 
K, nicht schneidet, berührt irgend zwei bestimmte Kegelschnitte K, und zwar 
sind diese dadurch bestimmt, dafs die auf die Sehne, in deren Endpunkten 
m und n, errichteten Perpendikel mm, und nn, den K, in den zwei Paar 
Brennpunkten F und F, derselben schneiden. Wenn insbesondere die Sehne 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 63 


mn den gegebenen Kegelschnitt K, berührt, in einem Punkte H, so berühren 
ihn auch die Perpendikel mm, und nn, in einem Punkten- Paar F und F,, 
und alsdann fallen die zwei K in einen zusammen, welcher die Sehne mn 
und den K, in jenem Punkte H zugleich berührt; etc.” 

„Die S. K sind im Allgemeinen mit K, von gleicher Art; wenn jedoch 
K, eine Hyperbel ist, so können die S. K sowohl Ellipsen als Hyperbeln sein, 
so wie auch imaginär werden.” — Überhaupt treten bei den angegebenen 
Eigenschaften verschiedene Modificationen ein, wenn der gegebene Kegel- 
schnitt X, eine Parabel, oder eine besondere Hyperbel (gleichseitig, oder 
mit stumpfem Asymptotenwinkel) ist. 

Aus der Bestimmungsart und aus den angegebenen Eigenschaften des 
dem X, eingeschriebenen Parallelogramms FHF,H, (oder 66,6, 6&,, 
Fig. 4.) geht hervor, dafs seine Winkel durch die respectiven Normalen (und 
Tangenten) des X, gehälftet werden, so dafs daher, im Falle X, eine Ellipse 
ist, sein Umfang ein Maximum sein mufs (*), was den interessanten Satz giebt: 

„Unter allen einer gegebenen Ellipse K, eingeschriebenen Vierecken 
hat dasjenige den gröfsten Umfang, dessen Ecken in den Berührungspunk- 
ten der Seiten eines der Ellipse umschriebenen Rechtecks liegen; es giebt un- 
endlich viele solche Vierecke, nämlich jeder Punkt der Ellipse ist Ecke eines 
solchen Vierecks, dessen Umfang ein Maximum ist: aber alle diese gröfsten 
Umfänge sind einander gleich, und zwar gleich der doppelten Diagonale 
des genannten Rechtecks, oder gleich der vierfachen Sehne, welche zwei Axen- 
Scheitel der Ellipse verbindet, also = ıYya® +b’=4a. Alle diese Vierecke 
von gröfstem Umfange, die sämmtlich Parallelogramme, sind zugleich einer 
bestimmten andern Ellipse M, umgeschrieben, deren Axen 2a,, 2b, auf die 
gleichnamigen Axen 2a, 2b der gegebenen Ellipse K, fallen, und welche mit 
letzterer confocal ist. Nämlich zwischen den Axen beider Ellipsen finden 
folgende Gröfsen-Relationen statt: 


2 


a 2 2; u 2 
1. aa E 2.10 ba bb: 
und daraus 
a? b® 
a a, m und b, a —— 
Va® + b2 Va? + 2? 


(*) S. meine Abhandl. im Journal de mathem. de Mr. Liouville, tome VI., oder im Journ. 
f. Mathem. Ba. 24 8.151 von Crelle. 


64 Sreiwen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


4. a =a, (a, +5,), und5B’=b, (a, +5,); 
5. (a, +b), =u+rb’=au°; 


6. a,b, = 
7. 05a, +0.) Va,0., eic.® 


Hierbei will ich noch eines interessanten Umstandes erwähnen. Aus 
einem Satze nämlich, der zu meinen Untersuchungen über Maximum und 
Minimum gehört, läfst sich leicht darthun, dafs die nämlichen genannten 
Vierecke (FHF,H, oder &6, &,6,) in Bezug auf die zweite Ellipse M, 
zugleich auch die Eigenschaft haben, dafs sie unter allen ihr umschriebenen 
Vierecken den kleinsten Umfang haben, so dafs man mit dem vorstehenden 
zugleich den folgenden Satz hat: 

„Unter allen einer gegebenen Ellipse M, umschriebenen Wierecken 
hat dasjenige den kleinsten Umfang, bei welchem die Normalen in den Berüh- 
rungspunkten seiner Seiten eine Raute (gleichseitiges Viereck) bilden. Es 
giebt unendlich viele solche Vierecke, deren Umfang ein Minimum ist, jede 
Tangente der Ellipse ist Seite eines derselben, aber der Umfang ist bei allen 
gleich, und zwar gleich der doppelten Summe der Axen der Ellipse, also = 
4a, +b,. Alle diese Vierecke, Parallelogramme, sind zugleich einer be- 


stimmten andern Ellipse K, eingeschrieben, und haben unter allen ihr einge- 
svphrnP Viprprk > N 2) Dar 22, 
schriebenen Vierecken den gröfsten Umfang; _ete. 


Für je zwei Ellipsen, deren gleichnamige Axen aufeinander liegen und 
nach Gröfse den obigen Gleichungen (1.) und (2.) genügen, finden also die 
angegebenen Eigenschaften statt, nämlich: dafs unendlich viele Parallelo- 
gramme der einen ein- und zugleich der andern sich umschreiben lassen, und 
dafs der Umfang derselben constant ist, und dafs dieser Umfang bei der er- 
sten Ellipse ein Maximum, dagegen bei der andern ein Minimum ist, in Be- 
zug auf alle andern Vierecke, welche jener ein- und dieser umgeschrieben 
sind. Auf je zwei conjugirte Durchmesser der innern Ellipse M, fallen die 
Diagonalen FF, und HH, eines der genannten Parallelogramme, sie werden 
durch die äufsere Ellipse A, begrenzt. 

Der Inhalt der verschiedenen Parallelogramme (FHF, H,) ist nicht 
constant, so wenig als der Inhalt der zugehörigen (der Ellipse X, umschrie- 
benen) Rechtecke, „vielmehr ist jener ein Maximum oder ein Minimum, und 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 65 


dieser gleichzeitig umgekehrt ein Minimum oder ein Maximum, wenn die 
Seiten des Parallelogramms beziehlich den gleichen conjugirten Durchmes- 
sern oder den Axen der Ellipse K, parallel sind, oder wenn die Diagonalen 
des Rechtecks auf jene Durchmesser oder auf diese Axen fallen” Wird der 
Inhalt des Rechtecks durch R und der Inhalt des zugehörigen Parallelo- 


gramms durch P bezeichnet, so ist stets 

et —sab —sab, (a, T0,), 
also das Product der Inhalte constant. Werden ferner die Maxima der In- 
halte R und P durch A, und ?,, und die Minima durch R, und P, be- 


zeichnet, so hat man 
R,„=2(a +b’)=2(a, +5), undR, =4ab=4il(a, +b,)Vab,; 
EN ee —1a,b,undP,=2ab=e(a, +5,)Vab, 
RER =2(a*b)‘; 
P,+P,=:(Va, #Vb,)‘Va,b,; etc. 


Über die der Ellipse X, umgeschriebenen Rechtecke A A° A, A? und 
die zugehörigen eingeschriebenen Parallelogramme & &, &, &, (oder FH 
F,H,) will ich hier noch folgende Eigenschaften angeben. Man bezeichne 
die Brennpunkte der Ellipse X, durch B und B,, und setze BB, = 2b. 

„Die vier Ecken jedes der genannten Rechtecke liegen mit den beiden 
Brennpunkten B und B, in einer gleichseitigen Hyperbel 9, welche mit der 
Ellipse K, concentrisch ist, nämlich 44 ,, A’A}, BB, zu Durchmessern und 
M zum Mittelpunkte hat; und ebenso liegen die Ecken des Parallelogramms 
6 6,6,6, mit den Brennpunkten B und B, in einer andern gleichseitigen 
Hyperbel 9,, welche mit $ den Durchmesser BB, gemein hat, und also mit 
ihr und mit K, concentrisch ist. Die Hauptaxen 2a und 2a, dieser beiden 
zusammengehörigen gleichseitigen Hyperbeln 9 und 9, bilden einen constan- 
ten Winkel von 45°, und zudem ist die Summe der Biquadrate dieser Axen 
constant, und zwar dem Biquadrate jenes Durchmessers BB, oder 2b gleich, 
oder 

a +ra=b". 
Die auf diese Weise bestimmten zwei Schaaren gleichseitige Hyperbeln, S(9) 
und 5 (9,), sind im Ganzen nur eine und dieselbe Schaar, S(9,9,), und 
als solche einfach dadurch bestimmt, dafs sie den reellen Durchmesser BB, 
Math. Kl. 1847. I 


66 Steinen: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


gemein haben. Ihre Tangenten in den Scheiteln ihrer Hauptaxen berühren 
sämmtlich diejenige, 9,, unter ihnen, welche die gröfste dxe, nämlich den 
Durchmesser BB, zur Hauptaxe hat. Daher liegen die Hauptscheitel der 
$(9,9,) in einer Lemniscate, welche BB, zur Axe und M zum Mittel- 
punkte hat!” In dem Gesagten ist somit auch der Satz enthalten: „Die Lem- 
niscate hat die Eigenschaft, dafs die Summe der Biquadrate je zweier Durch- 
messer derselben, welche einen Winkel von 45° einschliefsen, constant, und 
zwar dem Biquadrat ihrer Asxe gleich ist.” 

Durch Umkehrung folgt: 

„Jede gleichseitige Hyperbel 9 (oder 9,), welche mit einer gegebenen 
Ellipse K, concentrisch ist und durch deren Brennpunkte B,B, geht, schnei- 
det dieselbe in den Ecken (©, ©,, ©,, ©,) irgend eines ihr eingeschriebenen 
Parallelogramms, oder in den Berührungspunkten der Seiten eines ihr umge- 
schriebenen Rechtecks.” Oder: 

„Die Schaar gleichseitige Hyperbeln 9, welche einen nach Gröfse und 
Lage gegebenen Durchmesser BB, gemein haben, besitzen die Eigenschaft, 
dafs die Tangenten in ihren Hauptscheiteln sämmtlich eine und dieselbe und 
zwar diejenige, 9$,, unter ihnen berühren, welche jenen Durchmesser zur 
Hauptaxe hat; dafs ihre Hauptscheitel in einer Lemniscate liegen, welche 
denselben Durchmesser BB, zur Axe hat, und da/s auch ihre Brennpunkte 
in einer Lemniscate liegen, etc.” Und ferner: „Jeder mit den Hyperbeln 
concentrische Kreis M, dessen Durchmesser gröfser als BB,, schneidet jede 
derselben in den Ecken eines Rechtecks AA’A, A, und alle diese Rechtecke 
sind einer und derselben Ellipse K,, welche die Endpunkte B und B, jenes 
Durchmessers zu Brennpunkten hat, umgeschrieben und berühren sie in sol- 
chen 4 Punkten etc” Oder: „Jede Ellipse K,, welche die Endpunkte des 
Durchmessers BB, zu Brennpunkten hat, schneidet jede Hyperbel 9 in den 
Ecken eines Parallelogramms, alle diese Parallelogramme haben gleichen 
Umfang und sind zugleich einer andern Ellipse M, umgeschrieben, welche 
mit jener concentrisch ist; u.s.w. — 

4. Die obige Betrachtung der beiden Kreisschaaren P und Q (1.u.f.), 
welche einen gegebenen Kegelschnitt A doppelt berühren, ist übrigens nur 
ein besonderer Fall von der allgemeinen Betrachtung, wo der gegebene Ke- 
gelschnitt A von solchen beliebigen andern Kegelschnitten Pund Q berührt 
werden soll, welche durch zwei gegebene Punkte a und d gehen. Denn un- 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 67 


ter dieser Bedingung finden bekanntlich gleicherweise zwei Kegelschnitt - 
Schaaren P und Q statt, welche die Eigenschaft haben, dafs ihre Berührungs- 
sehnen PP, und DD, mit A beziehlich durch zwei feste Punkte p und g in 
der Geraden ab gehen. Diese Punkte p und q sind auch dadurch bestimmt, 
dafs sie sowohl zu den gegebenen Punkten a und d, als auch zu den Schnitten 
s und Zi der Geraden ab und des Kegelschnitts X zugeordnete harmonische 
Punkte sind. In jenem speziellen Falle nun, wo blos verlangt wird, die 
Kegelschnitte P und Q sollen Kreise sein, werden durch diese Bedingung 
die Punkte a und 5 stillschweigend gesetzt, aber sie sind imaginär und lie- 
gen auf der unendlich entfernten Geraden ad der Ebene; dagegen bleiben 
die genannten festen Punkte p und q reell und liegen nach den Richtungen 
der Axen X und F des Kegelschnitts X auf der unendlich entfernten Gera- 
den ab, so dafs die Berührungssehnen PP, und DD, beziehlich diesen Axen 
parallel laufen. 

5. Wollte man die obige Betrachtung in der Art umkehren, dafs man 
zwei beliebige Kreise M und I als gegeben annähme und sodann die sämmt- 
lichen Kegelschnitte ‚X berücksichtigte, welche dieselben doppelt berühren, 
so würde man zu neuen Resultaten gelangen, deren Entwickelung hier zu 
weit führen würde. Aber auch diese Betrachtung wäre wiederum nur ein 
besonderer Fall von derjenigen, wo statt der gegebenen Kreise zwei belie- 
bige Kegelschnitte M und N angenommen werden, und worüber ich das Nä- 
here bei einer andern Gelegenheit mitzutheilen mir vorbehalte. Hier will 
ich mich auf folgende, darauf bezügliche, Angaben beschränken. 

Die Aufgabe: 

„Einen Kegelschnitt K zu finden, welcher jeden von drei gegebenen 
Kegelschnitten M,N,O doppelt berührt”, 
ist im Allgemeinen mehr als bestimmt, und nur unter gewissen beschränken- 
den Bedingungen möglich. Diese Bedingungen lassen sich wie folgt näher 
angeben. 

Ein Kegelschnitt hat unendlich viele Trippel zugeordnete harmoni- 
sche Pole x, 5, und zugeordnete harmonische Gerade X, Y,Z. Je zwei 
(in derselben Ebene liegende) Kegelschnitie haben ein solches Trippel zu- 
geordnete harmonische Pole x, y,z und Gerade X, Y, Z gemein, und zwar 
sind jene die Ecken und diese die Seiten eines und desselben Dreiecks, oder 
sie haben drei Paar sich zugehörige Pole und Polaren x und X, y und F, 

I2 


68 Steiner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


z und Z gemein (Abhäng. geom. Gestalten. $. 44. S. 165 u. 166.). Ferner 
haben die zwei Kegelschnitte drei Paar gemeinschaftliche Sekanten x und x,, 
y und 9,, 5 und 3,, (reell oder imaginär), welche sich beziehlich in jenen 
Polen x, y, z schneiden. 

Nun seien aund A irgend eins der drei Paare sich zugehörige gemein- 
schaftliche Pole und Polaren der gegebenen Kegelschnitte M und N; ein 
eben solches Paar seien 5 und B von den Kegelschnitten M und O, und ein 
gleiches Paar seien c und € von den Kegelschnitten N und O; ferner seien 
aunda,@ und ß,,yundy, die in den Polen a, 2, c sich schneidenden ge- 
meinschaftlichen Sekanten der respectiven Kegelschnitte M und N, M und 
O, N und O; und endlich seien A, B,, C, die Seiten be, ac, ab des Drei- 
ecks abc, so wie a,, d,, c, die Ecken des Dreiseits ABC: so sind die ge- 
nannten Bedingungen folgende: 

„Die Dreiecke abe und ABC (oder a, b, c,) müssen perspectieisch 
sein, d.h. die drei Geraden aa,, bb,, cc, durch ihre entsprechenden Ecken 
müssen sich in einem Punkte treffen, oder, was gleichbedeutend, die drei 
Schnittpunkte ihrer entsprechenden Seiten (A und A,, Bund B,, Cund C,) 
müssen in einer Geraden liegen; und ferner müssen die Seiten B, und C, zu 
den Sekanten a und a,, so wie die Seiten A, und C, zu den Sekanten ß und 
ß,, und ebenso die Seiten A, und B, zu den Sekanten y und y, harmonisch 
sein.” 

Finden sich diese Bedingungen erfüllt, so giebt es einen Kegelschnitt 
K, welcher die drei gegebenen Kegelschnitte M, N und O doppelt berührt, 
und zwar sind dann die Seiten A,, B,, C, des Dreiecks abc zugleich seine 
Berührungssehnen mit den respectiven Kegelschnitten M, IV, O; auch sind 
aund A, bund B, cund € drei Paar sich entsprechende Pole und Polaren 
in Bezug auf den Kegelschnitt X, und dieser ist durch dieselben bestimmt. 
Und umgekehrt: wenn ein Kegelschnitt Xirgend drei andere Kegelschnitte 
M, N, O doppelt berührt, so finden die genannten Eigenschaften statt. — 
Läfst man jeden der drei Kegelschnitte M, I, O entweder 1) in zwei Punkte 
oder 2) in zwei Gerade übergehen, so resultiren aus den angegebenen Be- 
dingungen die bekannten Pascal’schen und Brianchon’schen Sätze über 
das einem Kegelschnitte A ein- oder umgeschriebene Sechseck. Ferner 
erhält man andere specielle Sätze, wenn von den drei Kegelschnitten M, 
N, © entweder 3) zwei in zwei Paar Punkte und der dritte in ein Paar Ge- 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 69 


rade, oder 4) einer in zwei Punkte und jeder der beiden übrigen in zwei 
Gerade übergeht. 

6. In Rücksicht auf blos einfache Berührung der Kegelschnitte un- 
ter einander ist meines Wissens bis jetzt noch wenig geschehen. In älterer 
und selbst bis in die neueste Zeit hat man sich fast ausschliefslich nur mit 
dem sehr beschränkten Falle, mit dem Berührungsproblem bei Kreisen be- 
schäftigt, aber nicht mit den entsprechenden Aufgaben bei den allgemeinen 
Kegelschnitten. Die letztern sind aber auch in der That ungleich schwie- 
riger. Um dies zu zeigen, wird es genügen, hier nur die folgende Haupt- 
aufgabe hervorzuheben, nämlich 

„Einen Kegelschnitt K zu finden, welcher irgend fünf gegebene Ke- 
gelschnitte berührt.” 

Beschränkt man sich darauf, nur die Anzahl der fraglichen Kegel- 
schnitte Ä, nicht diese selbst zu finden, so läfst sich schon an gewissen spe- 
ciellen Fällen ermessen, dafs dieselbe bedeutend gröfser sein mufs, als bei 
dem Problem über die Kreise, wo bekanntlich drei gegebene Kreise von 8 
verschiedenen andern Kreisen berührt werden können. Denn z.B. schon 
für den Fall, wo jeder der fünf gegebenen Kegelschnitte aus zwei Geraden 
besteht, giebt es 32 Kegelschnitte A, welche der Aufgabe genügen; und eben 
so viele giebt es, wenn jeder der gegebenen Kegelschnitte aus zwei Punkten 
besteht. Und wenn ferner von den fünf gegebenen Kegelschnitten drei aus 
drei Paar Geraden und zwei aus zwei Paar Punkten bestehen, so finden schon 
128 Auflösungen statt; und eben so viele finden statt, wenn zwei der gege- 
benen Kegelschnitte aus zwei Paar Geraden und die drei übrigen aus drei 
Paar Punkten bestehen. Diese respectiven 32 und 128 Kegelschnitte X sind 
übrigens auch selbst leicht zu finden, und zwar auf elementarem Wege, wie 
aus meinem kleinen Buche (‘) zu ersehen ist. Hiernach wird man um so 
mehr eine hohe Zahl von Lösungen zu gewärtigen haben, wenn die gegebe- 
nen fünf Kegelschnitte beliebig sind. 

Durch eine gewisse geometrische Betrachtung glaube ich nun gefun- 
den zu haben: 


(*) Die geom. Construetionen ausgeführt mittelst der gerad. Linie u. eines festen 
Kreises. $. 20. S. 97. u. 99. Berlin 1833. bei F. Dümnler. 


70 Srzıner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


„Da/s fünf beliebige gegebene Kegelschnitte im Allgemeinen (und 
höchstens) von 7776 andern Kegelschnitten K berührt werden.” 

Mein Verfahren erhebt sich stufenweise bis zur vorgelegten Aufgabe. 
Nämlich zuerst stelle ich die Frage: 

„Mie viele Kegelschnitte K giebt es, welche durch vier gegebene Punkte 
gehen und einen gegebenen Kegelschnitt berühren?” 

Hier ist leicht zu beweisen, dafs es im Allgemeinen 6 solche Kegel- 
schnitte Ä giebt. Sodann ist die zweite Frage: 

„Wie viele Kegelschnitte K können durch drei gegebene Punkte gehen 
und zwei gegebene Kegelschnitte berühren?” 

Hier stellt sich heraus, dafs es 6 . 6 = 36 solche Kegelschnitte giebt. 
Und wird auf diese Weise fortgefahren, so gelangt man zuletzt zu 6° —= 7776 
Kegelschnitten X, welche der obigen Aufgabe entsprechen. 

Bemerkung. 

7. In Bezug auf den obigen Satz über die der Ellipse ein-oder umge- 
schriebenen Vierecke von beziehlich gröfstem oder kleinstem Umfange ist zu 
bemerken, dafs derselbe nur ein einzelner Fall eines umfassendern Satzes 
ist, welchen ich hier, nebst noch einigen andern Sätzen mittheilen will, die 
sämmtlich aus meinen anderweitigen Untersuchungen über Maximum und 
Minimum entnommen sind. 

„Einer gegebenen Ellipse lassen sich unendlich viele solche convexe 
n Ecke einschreiben, deren Umfang ein Maximum ist, nämlich jeder Punkt 
der Ellipse ist Ecke eines solchen n Ecks. Alle diese n Ecke sind zugleich 
einer bestimmten andern Ellipse umgeschrieben, und in Rücksicht auf alle 
andern derselben umgeschriebenen convexen nEcke ist ihr Umfang ein Mi- 
nimum.” Oder auch umgekehrt: 

„Einer gegebenen Ellipse lassen sich unendlich viele solche convexe 
n Ecke umschreiben, deren Umfang ein Minimum ist, nämlich jede Tangente 
der Ellipse ist Seite eines solchen n Ecks; und alle diese n Ecke sind zugleich 
einer bestimmten andern Ellipse eingeschrieben und haben unter allen ihr ein- 
geschriebenen convexen n Ecken den gröfsten Umfang, und zwar haben alle 
denselben Umfang. , 

Dieser Satz gilt nicht allein für die gewöhnlichen 2 Ecke von nur 
einem Umlaufe, sondern eben so für diejenigen von 2, 3. 4, .... u Umläufen, 
welche, trotzdem ihre Seiten einander durchkreuzen, dennoch convex sein 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 71 


können, (so z.B. bilden die 5 Diagonalen eines regelmäfsigen Fünfecks ein 
convexes Fünfeck von zwei Umläufen). Nämlich etwas allgemeiner gefafst 
hat man statt des vorstehenden Satzes den folgenden. 

„Von irgend einem Punkte A eines gegebenen Kegelschnitts K gehe 
ein Lichtstrahl unter beliebigem Winkel a aus und treffe den Kegelschnitt 
in einem zweiten Punkte B, werde hier von demselben reflectirt, oder (falls 
der reflectirte Strahl den Kegelschnitt nicht trifft) so gebrochen, dafs der 
gebrochene Strahl gerade die enigegengesetzte Richtung des reflectirten hat, 
eben so geschehe es in allen folgenden Punkten C, D, E,...., in welchen der 
Lichtstrahl den. Kegelschnitt trifft: so berührt der Lichtstrahl fortwährend 
einen bestimmten andern Kegelschnitt K',; und lä/st man sodann ferner von 
einem beliebigen andern Punkte A, des ersten Kegelschnitts K einen neuen 
Lichtstrahl A,B, so ausgehen, dafs er den zweiten Kegelschnitt K, be- 
rührt, dann aber von dem ersten, eben so wie der erste Lichtstrahl, wieder- 
holt reflectirt oder gebrochen wird, so berührt er gleicherweise auch Jortwäh- 
rend den nämlichen zweiten Kegelschnitt K,.” 

Bei diesem Satze findet je einer von zwei verschiedenen Fällen statt, 
nämlich der Lichtstrahl kehrt entweder 

a) nach bestimmter Anzahl, z, Umläufen in den Anfangspunkt A 
zurück, oder 

6b) er kehrt nie (oder nur nach unendlich vielen Umläufen) dahin 
zurück. 

Im ersten Falle (a) durchläuft der Lichtstrahl die Seiten eines geschlos- 
senen Vielecks V, etwa von n Seiten und u Umläufen, welches dem Kegel- 
schnitte A ein-und zugleich dem Kegelschnitte A, umgeschrieben ist; und 
dabei kehrt der Lichtstrahl unter gleichem Winkel @ nach dem Anfangspunkte 
A zurück, wie er von da ausgegangen ist, so dafs er bei fortgesetzter Be- 
wegung das nämliche n Eck N wiederholt beschreibt. Und in diesem Falle 
beschreibt dann ferner auch jener genannte zweite Lichtstrahl A,B,, der 
von einem beliebigen andern Anfangspunkte A, ausgeht, allemal ebenfalls 
ein geschlossenes, mit dem vorigen gleichnamiges, Polygon V,, d.h. von 
gleicher Seitenzahl n und gleicher Umlaufszahl x. 

Ist nun der erste Kegelschnitt X eine Ellipse und soll das Polygon 
N convex sein, so ist dann auch der zweite Kegelschnitt Ä, eine Ellipse, 
und alsdann haben die verschiedenen nEcke N, N, .... die oben genannte 


72 Srriner: Elementare Lösung einer geometrischen Aufgabe, 


Eigenschaft: dafs sie unter allen der Ellipse K eingeschriebenen oder der EI- 
lipse K, umgeschriebenen gleichartigen n Ecken beziehlich den gröfsten oder 
kleinsten Umfang haben, und da/s sie unter sich gleichen Umfang haben. 

Der Leitstrahl aus einem Brennpunkt der Ellipse X nach jeder Ecke 
des nEcks N (oder N,, ....) theilt den zugehörigen Polygonwinkel in ir- 
gend zwei Theile x und y: wird die Summe der Cosinusse aller dieser Win- 
keltheile x, y mit der halben grofsen Axe der Ellipse A multiplieirt, so er- 
hält man den Umfang U des nEcks; oder in Zeichen 

U=a.xZ(cos®+cosy)=2a. 3[cos- (x +y).cos4 (= — Yy)]- 

In der oben citirten (3. Note.) Abhandlung über Maximum und Mi- 
nimum finden sich die Bedingungen angegeben, unter denen der Umfang ei- 
nes geradlinigen Polygons V, welches einem beliebigen Curven-Polygon P 
oder einer einzelnen Curve P oder einem andern gleichnamigen geradlinigen 
Polygon P eingeschrieben ist, ein Minimum oder ein Maximum wird. Den 
dortigen Sätzen sind die nachfolgenden zur Seite zu stellen. 

a. „Unter allen einem gegebenen (geradlinigen) nEck N umgeschrie- 
benennEcken kann der Umfang nur bei demjenigen, N,, ein Minimum sein, 
welches die Eigenschaft hat, dafs in Betracht jeder Seite desselben das aus 
der in ihr liegenden Ecke desn Ecks N auf sie errichtete Perpendikel mit den 
beiden Strahlen, welche die an dieser Seite liegenden Aufsenwinkel des n Ecks 
N, hälften, in einem Punkte zusammentrifft.” 

Mag auch die Construction des nEcks N, schwierig sein, so ist dage- 
gen, wenn umgekehrt dasselbe als gegeben angenommen wird, alsdann das- 
jenige nEck N, welchem es mit kleinstem Umfange umgeschrieben ist, sehr 
leicht zu construiren, wie aus dem Satze selbst erhellet. 

ß. „Unier allen einem gegebenen Curven- Polygon P, oder einer ein- 
zelnen gegebenen Curve P umgeschriebenen geradlinigen Polygonen P, von 
gleicher Seitenzahl, kann nur bei demjenigen der Umfang ein Minimum sein, 
welches die Eigenschaft hat, dafs in Betracht jeder Seite desselben die Nor- 
male in ihrem Berührungspunkte mit den beiden Geraden, welche die der Seite 
anliegenden Aufsenwinkel des Polygons P, hälften, in irgend einem Punkte 
zusammentrifft.” 

Diese beiden Sätze (« u. ß) finden übrigens auf analoge Weise auch 
für die sphärischen Figuren statt. 


u. üb. einige damit in Bezieh. stehende Eigenschaften d. Kegelschnitte. 73 


Für den speciellen Fall, wo das umzuschreibende Polygon P, nur 
ein Dreieck sein soll, hat die angegebene Bedingung (®.) zur Folge: „dafs 
die drei Normalen in den Berührungspunkten der Seiten des Dreiecks sich 
in einem und demselben Punkte treffen.” Und in Rücksicht des ersten Satzes 
(«) folgt ebenso: „dafs die in den Ecken des Dreiecks N auf die Seiten des 


Dreiecks N, errichteten drei Normalen in einem Punkte zusammentreffen” 


zu—— 


Math. Kl. 1847. K 


Au Hrn. Steiner's Abhdlg: Malh: Abhälg: von. 1847. 


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Philologische und historische 


Abhandlungen 


der 


Königlichen 


Akademie der Wissenschaften 


zu Berlin. 


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Aus dem Jahre 


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Berlin. 


Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie 
der Wissenschaften. 


1849. 


In Commission in F. Dümmler’s Buchhandlung. 


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BEKKER: Der Roman von Aspremont, Altfranzösisch, aus der Handschrift der K. 
Bibliothek (Ms. Gall. 4° 48) abgeschrieben ............. 
H. E. Dirksen über die, durch die griechischen und lateinischen Rhetoren ange- 
wendete, Methode der Auswahl und Benutzung von Beispielen 
römisch-rechtlichen@ Inhalts Sr Eee a: 
WELCKErR: Die Composition der Polygnotischen Gemälde in der Lesche zu Delphi 
H. E. DiRKsEn: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus und die alte Glosse 


der Turinerölnstitusionen- Handschrüte. 2 Sasse: 
JAcoB GRIMM über das pedantische in der deutschen sprache... ......... 
PERTZ über ein Bruchstück des 98*te® Buchs des Livius . ..... 2 222.2... 


TRENDELENBURG über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme .. . 
NEANDER über Matthias von Janow als Vorläufer der deutschen Reformation und 
Repräsentanten des durch dieselbe in die Weltgeschichte einge- 
treteneneneren® Brin cin a ee N 
ScHOTT über das Altai’sche oder Finnisch - Tatarische Sprachengeschlecht ... .... . 
A COBLGRINIMELchens Marcellusg Burdisalensis.2 u 2 


GERBARD über Agathodämon und Bona Dea .i. 2. en. 


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Seite 1 


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Der Roman von Aspremont, 


Altfranzösisch, 


aus der Handschrift der K. Bibliothek (Ms. Gall. 4°. 48) 
abgeschrieben von HB EKKER. 


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[Der K. Akademie vorgelegt d. 11 März 1847] 


fol. . 
155que par son sens el par sa baronie,*) 


Te 


par sa proece, par sa cheualerie 

de sept roiaumes acroist ma seignorie. 

n'est mie rois qui tel seruice oublie.” 
Hiamunt parla: bien se sunt tuit teu. 

son voloir dit: par tot est entendu. 

mes li message ne sunt plus arestu. 

em piez se drece; s’a Agolant veu. 

et dit Balant qui moult iert irascu, 

“Agolant sire, g’ai bien aperceu, 

l'en soloit dire que g’estoie vos dru. 

mau guerredon m’en auez hui rendu. 

caaınz n’a homme sı viel ni sı chanu, 

ne haut ne bas, de sı fiere vertu, 

s’enconlre moi emportoit son escu, 

ge ne vos rende sempres coi et veuchu.” 
Em piez s’en drece Hector le fiz Lampa; 

par maulalent au roı respondu a. 

“Agolant sire, dehez ait qui croira 

que Balant eroie de ce qui vos conta, 

que Karles ost contre vos venir ia. 

aincois qu'il viegne, si grant ost vos croistra, 

l’ost crestiene ia ne la sofferra, 

qui por poor cete terre lera. 


tot soit honniz qui autre li dourra.” 


Gorhan se lieue, irez comme lion, 
tout deffubl&; en sa main un baston. 
vestuz estoit d’un hermin pelicon. 
seneschax iert Agolant le baron, 
druz la roine qui n’aime se lui non. 
deuant le roi se mist ä genoillon. 
moult hautement les a mis & reson. 
“Agolant sire, or oiez, gentius hom. 
tant ai soufert qu’or me tien por bricon, 
que tuit me blament caainz mi compaignon. 
mes por mon pere cest mien gage vos don 
vers le mellior qui soit en vo roion, 
qu’il n’a fete neis nule traison.” 

ä ce mot abessa la tencon. 

or lerai ci de cete mesprison 

et d’Agolant et de son fiz Hiamon 
et du message qui Balan out ä non; 
si vos diırai du riche roi Karlon. 

a Aes fu et il et si baron. 

ä pentecouste, apres l’acension, 
puisque Balant fu partiz de la cort, 
fet crier Karlon li barnage seiort: 
chascus aura son gage ainz que se mort. 
don sunt remes et deduit au behort. 
ä fol tien qui son cheual i cort. 


*) Den Anfang des Gedichts s. Abhandl. vom Jahr 1839 $. 252 ff., den Anfang der Berliner 


schrift /oman von Fierabras S.170a. 


Philos.- histor. Kl. 1847. 


A 


Hand- 


I BEKKER: 


n’en i out nul, ne tant lonc ne tant cort, 

qui n’en sospire et qui des cuz ne plort. 

Karlon quemande que nul plus n’i demort. 

en sa contree chascus d’eus s’en retort; 

au mieuz que peust s’apareille et atort. 

s’iront secorre le besoign qui lor sort. 
Nostre emperere a moult grant ioie eu 

que li message fu ä& la cort venu 

et que Francois l’ont tres tuit entendu. 

et l’apostoiles meismement.... 

here en. neldemorailmiess) 
Quant li baron ont entendu li roi, 

entre eus parolent, et dient bien par foi 

ne li faudrunt ni ä bien ni ä poi. 

mieuz voudroit estre chascun boliz en poi 

qu’o lui ne voisent por fere grant desroi 

sor Agolant qui desdeigne li roı. 

congie demandent; si s’en vunt ä esploi 

en lor contrees por fere lor conroi 

aparellier, et dient bien par foi 

voudrunt aidier lor droit seignor, lı roi. 
La cort depart que Karles tint li bers: 

car l’emperere se uoloit moult haster 

des Sarrazin de sa terre geler, 

et li baron s’en veolent moult pener 

de lui aidier sa terre a gouuerner. 

en leur pais s’en vont sanz demorer 

por lor hernois fere tost atorner 

et as mesnies vestir et conreer, 

por lor cheuaus querre et acheter. 

en Engleterre vint li roi Caboer. 

par le pais fet les letres porter 

qu’aue viegnent si demeine et si per, 

por Karlemaigne garanlir et tenser 

contre Agolant, qui l veut desseriter. 

quant cis l'oirent, ne l’oserent veer; 

A lui en uindrent sanz plus de demorer. 

x mil furent, que viel que bacheler. 

la fet li rois son grantl tresor trosser 

et en ses nes encharger et trosser. 

en mer s’enpeignent, se peinent de sigler. 


ainz ne finerent de nagier et d’aler 


duqu’& Hincant, ou durent ariuer. 

des nes isirent, ne uoudrent arester. 

as chevas montent, qu’orent fet enseler. 
forment se peinent du pais Lrespasser, 

qu’einz ne uoudrent en nul liu arester 
duqu’ä Paris, ou l’ost dut assembler. 

Rois Gondebues s’en est venuz en Frise. 
ses hommes mande, munt les cuite et alise 
qu’o Ini viegnent; chascun li doit seruise: 
car aidier doit Karlon de saint Denise 
contre Agolant, que dieu n’aime ne prise, 
qui a sa lerre embrasee el esprise. 
deuers Calabre l’ont ia toute porprise. 
“sire” ce dient, “tot A uostre deuise 
yıons secorre Karlon et sainte iglise.” 
Gondebuef l’ot; bien fu ä sa deuise. 
grant goie en out de moult estrange guise. 
il fet chargier son Lressor seinz feintise 
et ses dromunz, qui fuerent en falise; 
et sa mesniee s’est dedenz tole mise. 
lıeuent lor voiles; forment vente la bise. 
tant ont nagie par mer et par falise 
qu’il sunt venuz par moult grant aalise 
droit ä Paris qui sor Seine est assise. 

xv mil furent embrieu& par deuise. 

Moult se hasta rois Brimox de Hongrie 
de l’asembler sa grant cheualerie 
por Karlon fere et secors et aie, 
que o lui maine tote sa baronie. 

il lor manda qu’il ne targassent mie; 
et il si firent par moult grant seignorie. 
tot lor conta l’annuie et l’enhalie 
qu’Agolant fet li roi de saint Denie, 

si con il a ia sa terre sesie. :.. 


459en Aspremont ....-..- 


r 


- . . et sans danger.**) 
Girart du Frate ä la chiere membree, 

si tost con out sa terre deuisee, 

a ses neuez et A ses fiz donee, 

depart son or aA sa grant gent mandee, 

ä dos millier de bone gent armee, 

des plus vaillianz du mieuz de sa contree. 


*) Die hier weggelassenen Verse s. Fierabras S 


*) S. Fierabras 8.173. 


.169. 


le roman d' Aspremont. 


ceus en merra li uieus ä l’asenblee. 

la veissiez tante targe doree 

et tant vert hiaume et tante bone espee 
et tante lance A bon fer aceree 

et lante enseigne de paile gironee 

et tant destnier & la grant croupe lee. 
de garison, de uin, de char salce, 
jusqu’ä un an, s’il n’en trouent dervee, 
en auront il et soir et matinee. 

dame Ameline a Girart apelee; 

moult li a bien sa reson demostree. 

“je m’en vois, dame, en la sainte meslee” 
(lors l’a Girart em plovant acolee) 

“sor Sarrazin, cele gent desfnee. 


se ge vos al corecie ne iree, 


ge vos proie, dame, que Il m’aiez pardonce.” 


& tant s’en vait; A dieu l’a quemandee, 
au deparlir mainte lerme a ploree. 
Girart cheuauche A sa grant ost armee. 
li uelz en iure sa grant barbe meslee 
que Sarrazin ont fait male iornee; 
creslient& mar ı ont destorbee. 

Girart cheuauche et soir et malinee; 
lost Karlon suit A grant esperonee, 
qui fu ä Romme logie et trauee. 
159Karlon quemande ...... 

ir .. .. el chief lerme . . .*) 


467 vient en treuf belement en requoi 
”" vez quel Francois con est de grant bofloi. 


tant par li siet richement ce conroi: 
se tuit li autre sunt de si fier agroi, 
n’en remerront destrier ne palefroi. 


Va s’en du Nayme; Balant le conuoia. 


mes ne vet mie la voie qu'il ala, 

mes loign ä destre, si con li oz ala, 
par une tor que Ayolant ferma. 
Hiaumont son fiz garder Ja quemanda 
ä cent mil Turs que auec lui mena. 
Balant le guie, outre l’ost le passa. 

tant cheuaucherent que Balant li mostra 
l’ost Karlemaine qui cheuauche de ca. 


lä prent congi€ Naymes; si l’acola. 
moult doucement li dus l’aressona. 
“sire Balant” dist il, “entendez ca. 

il est bien droiz, et diex le commanda, 
que compaign soit qui compaing trouera. 
vos creez dieu, et diex vos aidera. 

ä nos vendroiz, sire, quant vos plera. 
li apostoles, cil vous baptizera.” 

dist a Naymon “ge ia alasse sa: 

mais Agolant mis sires norri ma, 

et cheualier me fist et corona. 

s’or li failloie et aloie de la, 

ce seroit max; ia mes cors n'usera, 

ne mauues hom neu me reprouera, 
qu’ä cest besoing li doie faillir ia. 

mais ge voi bien comment li plez ira: 
car en la fin n’i durero nos ia. 

mais or vous pri, por dieu qui tot forma, 
qu’en vos proire soie o ceu de la. 

lor ouroisont croi bien que m’aidera 
enuers Jesu qui le mont estora. 

saluez moı Karlon et ceus de la.” 
Naymes li donne une croiz que ıl a, 
que l’apostoile l’autre ior li donna. 

si granz vertuz cele sainte croız a, 

cil qui Ja porte o lui, craace a: 

tant com ıl iert en estor, ne morva. 
Naymes l’encline; ä itant s’en torna. 
de si qu’ä l’ost mes ne s’arrestera. 


Va s’en du Naymes qui tant a de valor. 


Karlon troua dedenz son tref maior. 
trete out Joiose, dont tant recut honor. 
s’ot mis le branc desus un couertor. 
oste les renges; est&E i ont maint ior. 

si i met autres asez de grant valor. 
quant voil venir Naymon som poinoior 
et de ses armes a choisi la luor, 

et le destrier si blane comme une flor, 
qu’en li enuoie en foi et en amor, 

“he diex” dist Karles, “biau pere, ge t!aor, 
qui m’as rendu mon bon conseilleor.” 


*) S. Fierabras S. LIN-LXVI, wo die Blattzahl nachzutragen ist: f.160r zu V.93, v zu V.185; f.161 r 
zu V.276, v zu V. 370; £.162 zu V. 462; f.163 zu V. 646; £.164 zu V. 828; £.165 zu V. 1011; f.166 zu 


iv. 1195: 


A2 


4 BEKKER: 


Quant Karles voit Naymon son messagier, 
“he diex” dist il, "toi puisse gracier, 
qui m’as rendu Naymon mon messagier. 
moult a souffert por moi grant encombrier. 
de sor toz homes le doi ge tenir chier. 
quant or le voi sain et sauf repairier, 
ne crien mes homme qui me puisse empirier.” 
ä lui descendre vint li rois tot premier, 
et desarmer fu il son escuier. 
quant Naymes fu descendu du destrier, 
Karles le vet acoler et besier, 
et puis li fet son hiaume deslacier. 
apres li fet son hauberc desdossier. 
robe de soie li fet aparellier. 

“Naymes” dist Karles, “es tu sain et haitie?” 
“oil” dist Naymes, “eins n’i oi encombrier, 
fors solement en Aspremont poier, 

ou li oisel me cuidierent mangier, 

moi et Morel, par de soz un rochier. 

ä moult grant tort em blamai ier Richier. 
eins de mes euz ne vi cel cheualier: 

son esperon troud el sahlunier, 

et si troue les os de son destrier. 

Sire” dist Naymes, “n’i a mestier celee. 
ja Aspremont niert par vos sormontee; 
que la montaigne par est si desrubee 
qu’il semble bien qu’as nues soit fermee. 
l’autrier i tres une dure iornee. 
tant i souflii de noif et de gelee 
que n’i dormi de si qu’en la iornee. 
illee me vint une beste face, 
qui prist Morel ä la gueule baee. 
bien le leua une aune mesurce. 
ge l’affolai au trenchant de m’espee. 
vez en ci l’ongle, que vos ai aportee.” 

167 Naymes l’a trete; si l’a Karlon liuree. 

N grant merueille l’a li rois regardee; 

A ses barons l’a entor lui mostree. 

“or oiez, emp”” dist Naymes au uis fier. 
“la merci dieu et le bon messagier 

que Agolant vos enuoia l’autrier, 

reparie sui sain et sauf et enlier. 
membreroit vos du felon paulonnier 

que vos tensistes caainz un an enlier, 
que faisiez par deuant vos mangier? 


espie estoit Agolant au vis fier. 

quant ge cuidai mon message noncier, 

oiez que fist adonc le pautonnier. 

moult tost ala a Agolant noncier 

que ge estoie du Naymes de Baiuier, 

li hon el siecle que plus auiez chier. 

qui vos voudroit de noient corecier 

et toz les Frans durement esmaier, 

si me feist toz les membres trenchier. 

ge fuse mort sans autre recourier, 

quant ci Balant vint & lui pledoier. 

ä moult grant poine me pout du tref sachier. 
Rois’ ce dist Naymes, “pres eire du morir, 

quant vi Balan venir par grant air. 

dist ä Scebrin qu’i li feroit tolir 

tres toz les membres et male fin tenır. 

puis quist congie, qu’il me feist seruir. 

a son ostel me mena por dormir. 

que vos diroie? quant vint au departir, 

deuant moi fist un bon destrier venir. 

il le vos donne. fetes le recullir, 

par tel couent qu’i voudra dieu seruir. 

mes ne ueut mie & son seigneur fallir: 

car il le fist coroner et norrir. 

ne ne veut ne boisier ne trahir. 

mes se poez de la guerre cheuir 

que li couigne son droit seignor foir, 

adonques primes vos vodra il venir: 

car de deu croire a il moult grant desir.” 
“Naymes” dist Karles, “ne me celez noient. 

auez veu la Sarrazine gent. 

que vos en semble? dites vostre talent. 

porront li nostre endurer lor content?” 

“oil voir, sire; ne sunt c’un pou de gent.” 

si dist em bas, que li roi ne l’entent, 

“par ceu seigner & qui li munt apent, 

ä chacun Franc sunt bien Sarrazin cent. 

mes ge nes pris mie si fetement. 

je vos dirai et por coi et comment. 

quant paien murent ä ce conquerement, 

par haute mer vindrent moult fierement; 

si arriueirent tres toz & lor talent. 

or ont tel tens qu’i n’ont pain ne forment; 

si est lor oz encheree forment: 

car li cheual maiuent li auquant. 


le roman d’ Aspremont. b) 


afame& sunt plusors veraiement; 

et qui fain a, que vaut son hardement? 

se vos venez ä eus au chaplement, 

petit vaudra tot lor eflorcement. 

ge quenois bien et vi a lor semblant 

que li plusors se vont moult esmaiant. 

cheuauche, rois; ne te ua atariant. 

se lant puet fere ta mesnie et ta gent 

qu’il les tornent de fier aiostement, 

tant troueront roge or et blanc argent, 

riche en seront vostre poure parent. 
Riche rois sire,” ce dist Naymon li ber, 

“ge vos dirai par ou porron passer. 

ge saı la voie; bien vos sarai mener 

jusqu’ä la tor qu’Agolant fist fermer. 

la est l’entree; la porron nos passer. 

Agolant la commandee ä garder 

son fil Hiaumont, o lui cent mil escler, 

toz esleuz, que il li a fet liurer. 

Hiaumont n’est mie meins fiers que un cengler. 

qui sainz les autres porroit A& lui joster, 

bien les porroit legierement mater. 

si est tant fiers (bien l’ai oi conter), 

ne deigneroit aide & l’ost mander. 

qui de cent mil le porroit deliurer, 

meins en feroit li autre A redoter.” 

adone fist Karles toz ses barons mander, 

ses rois, ses princes, maint baron et maint per, 

et l’apostoile, qui viegne ä lui parler. 

li rois meismes les print & apeler. 

“baron” dist ıl, “fetes moi escouter. 

il nos conuient le malinet errer.” 
Karles apele Fagon et Aubelin, 

le duc Sanson et le bon duc Elin 

et Salemon et li roı Tyorin, 

Jeban de Nantes et Giffroi l’Angeuin, 

Huon du Mans et d’Elbois Anquetin. 

168° aronend ist 

u re ileuuentABedom‘?.”) 
Li rois apele li bon duc Neuelon, 

le conte Autihaume, le Poiteuin Droon, 

et auec eus furent li Borguengon. 


“x mil nouel que vos soiez par non, 

errez ä destre, quant nos cheuaucheron ; 

et ä senestre ira li dus Grifon, 

et auec lui son enffant Guenelon. 

si iert o vos Gondebuef le Frison. 

errez soef, si que nos vos voion. 

nostre hernois par deuant nos metıon, 

chars et charetes, escuier et garcon, 

et la vitalle de coi nos nos viuron. 

et au malın, se dieu plest, combatron.” 
Au malinet, quant vint ä l’aiornee, 

lx mil, chascun la teste armee 

o l’auangarde fierement atornee, 

d’aubers et d’hiaumes fierement atornee, 

de totes armes garnie et conree. 

quant l’auantgarde fu tres bien apreslee, 

sonent les cors: et le vos arotee. 

puis cheuauchierent le fonz d’une valee. 

le pais ont et la terre passee. 

Karles apres a sa grant ost menee, 

tiex cent milier qui sunt de grant poruee. 

la veissiez tante lance leuee 

et tant enseigne ä fin or estelee: 

einz ne veistes forest lant dru plantee 

con sunt les lances l’une en l’autre meslee. 

tant vet li ost le pui et la valee, 

desus une iaue s’est ires tote arestee, 

pres de la tor a demie loee 

qu’Agolant out et baslie et fermee. 

enuiron uoient la contree gastee 

qui n’i trouerent vailliant une derree 

de nes un bien dont el soit gouernee, 

se il ne l’ont auec eus aportee : 

car Sarrazin ont la terre robee. 

Karles le voit; mainte lerme a ploree. 
Quant logie furent Alemant et Baiuier, 

Bret et Normant, Frison et Pohier 

et Loheren et Braibencon li fier, 

tot coiement, quant vint & l’anuitier, 

de l’ost Karlon, le noble iostisier, 

se departirent coiement, sanz noisier, 

bien xır contes qui sunt goflanonier, 


*) S. Fierabras S. 170b. 


6 BEXKER: 


qui l’auangarde auoient A ballier; 

ensemble o lui xxx mil soudoier. 

tuit sunt arme et noble guerroier. 

la veissiez lant escu de quartier 

et tant bon hiaume, tant espee d’acier. 

droit & la tor prennent & cheuauchier. 

en un angarde, de soz un oliuier, 

la s’arresterent de soz l’ombre en ramier: 

car il voudront Sarrazin esmaier, » 

qui lor loi uolent cliner et abessier. 
Francois s’esturent de soz les oliuiers, 

escuz as cous, en lor poinz lor espiez. 

tot coi se tesenl; sont lor conroi rengier. 

il se regardent. parmi un pui plenier 

voient venir moult merueillios pondrier. 

estoit Hiaumunt, le fort voi guerroier, 

qui reparoit de garder ses foriers. 

demore ot quatorze iors entiers. 

citez ot prises et maint chastel brisiez, 

et maint fıane homme i out ost& les chies, 

et les mameles ostees des molliers; 

et des puceles, filles ä cheualiers, 

plus de xx mil (ce raconte li bries) 

orent liurees deuant as pauloniers, 

si acoplees con fussent li anuers. 

celes s’escrient, don grant fu li tempiers, 

“he Karles sire: car nos venez aidıers.” 

Hiaumont l’entent, li fort roi enforciez. 

partot commande serianz et escuiers 

que chascun France soit bien estroit liez, 

et des puceles facent tot lor daintiez. 

Yun uent A l’autre A or.et & deniers. 
Hiaumunt li rois, li preuz et li membrez, 

A cent mil Turs fu de l'ost retornez. 

quatorze iors ı ourent demorez; 


168 viles ont prises, chastiaus et fermetez, 


” et homes morz et eflanz decoupez. 

prisons en meinent, qu’il ont enchaennez, 
affanz et dames qu’il ont enchaennez. 
assez en ont el morz el desmenbrez. 

cil erient haut qu'il ont einsi menez 

“he Karles sires, tant nos as oubliez. 

que fetes vos que ne nos secorez ?" 

paien responent "de folie parlez. 

ia par Karlon voir secors n'i arez, 

qui n'est pas tius qui soit vers nos lornez. 


foiz s’en est; james ne le verrez.” 

einsi disoit li pueples desfaes. 

chascun venoit et chargiez et trossez. 

vitalle aportent et pain et char et blez. 

lor quatre diex ont auece eus portez. 

sor les chastiaus fu chascun d’eus leuez. 

tot orent les flans et les costez, 

beent les gueules; chascun semble ınafez. 

et Sarrazın les ont moult enclinez, 

treschent et balent; s’ont les tabors sonez. 

estrangement sunt grandes lor fiertez, 

et chascun s’est haulement escriez 

“he Mahon sire, por coi vos arestez 

que pieca n’estes de si qu’ä Romme alez? 

saint pere fust de son mostier ielez. 

illec fussiez hautement coronnez.” 

dist Hiaumunt “ia ne vos en hastez. 

ia en Aufiique n’ere mes retornez. 

si aurai France tot A ma volentez: 

si n’i ruis plus de tres toz mes barnez 

fors vos cent mil, qui auec moi venez. 

quant vos aurai outre les monz passez, 

de beles armes voir chascun trouerez: 

lx ou xxx voir chascun en aurez. 

tvop vos dorrai auoir et richetez, 

toz les tressors que Frans ont amassez, 

et ver et gris el hermin angollez, 

or et argent el destriers seiornez. 

Mahon sera richement honorez.” 

Hiaumunt parloit issi con vos oez. 

li xxır contes les ont moult regardez, 

qui lä estoient as oliuiers mellez. 

oent Je duel de leur enchaenez. 

si lor ennuie, ia mar le demandez. 

dist un & l’autre “baron, or esgardez. 

diex nos ameine lol ce que vos veez. 

qui les lera aler a sauuelez, 

ia neu consoit li roi de maiestez.” 
Affiiquant vienent de forrer liement; 

assez ameinent de forrer bele gent, 

de dras de soie et or fin el argent. 

ei chetif pleurent qui sunt en grant torment. 

Hiaumont lor dit “cheuauchiez belement: 

car de uitaille auons A remanent. 

nos aurons France, ie saı A escient: 

car Karlemaine vient contre nos moult lent. 


le roman d’ Aspremont. 


foiz s’en est, ie sai A escient. 

ä Romme irai ä mon coronement.” 

en dementiers qu’i dient son talent, 

li xır per oent le parlement. 

Huet du Mans parla premierement. 

“baron” dist il, “or errez sagement. 

vez ci Hiaunont o grant eflorcement, 

qui moult se peine de destruire no gent. 

li Sarrazın sunt chargi& moult forment: 

s’or sunt feru auques apertement, 

tost torneront a grant destorbement. 

corons lor sus tost et isnelement; 

tolons ce pain, ce vin et ce forment. 

m nos fet diex hui cest ior biau present. 

qui ci endroit penra son finement, 

por amor dieu pregne le liement. 

li xxx mil respondent erranment 

“nos i ferrons au dieu commandement. 

il sunt ııı tanz mon escient de gent: 

mes ia por ce ne lesserons noient.” 

ä ces paroles s’eslessent fierement ; 

ves Sarrazin s’en vont ireement. 

qui ot bon arc, isnelement le tent; 

qui bone enseigne, si la desploie ä vent; 

qui ot destrier, sin broche et destent. 

Hiaumont d’Aufrique la bruiere en entent. 

il ot la noise que funt li Aufriquant; 

dit a ses hommes “qui sont or cele gent? 

ne se se c'est mes oncles Moisant, 

rois Mahargons, ne li rois Esperchant. 

contre nos vienent par esbanoiement: 

car nos sauons de uoir cerlainement 

qu'il ont en l’ost besoing gıant de forment.” 

et dist Justins, un paien d’Orient, 

“par Mahomet, ce ne sunt il noient. 
169paien si ne vont mie eisi fetierement; 
"ne portent mie oeus tan ganement. 
ce sont Francois: bien voi lor herement. 
defflendon nos: ne nos aiment noient. 
c'est des genz Karle: je le sai veraiment. 
n'est mie loign: jeu voi bien et entent. 
bataille aurons par le mien escient.” 

Li rois Hiaument qui la teste out armee, 
quant vit venir no gent si ascesmee 
et tant enseigne contre le vent leuee 
et tant brun hiaume, tanle targe doree, 


-T 


Hector apele, li roi de Valpenee, 
cut il auoit s’oriflamble liuree. 
“Hector” dist il, auez vos esgardee 
icete gent qui ci nos vienl armee? 
ne sai qui’] sont, ne quex est lor pensee.” 
et dist Hector “ia ne vos iert celee. 
c'est de l’ost Karle l’auangarde montee. 
cest l’olifant sonez e la menee. 
vegnent repare qu’ele soit assemblee: 
car nos arons et bataille et meslee.” 
“voir” dist Hiaumont “onques n’oi em pensee 
que por tel gent con voi ci assemblee 
deignase fere de ma bouche cornee. 
trop en seroit nostre loi auilee.” 
Hiaumont fu forz et fier, emperial: 
se il creust en deu l’esperital, 
miudre de lui ne monta sus cheual. 
il regarda deuant lui contreual. 
les xır contes vit venir le costal, 
et maint destrier et maint autre cheual. 
il en apele Mauduit le Pinceval. 
“or m’entendez, france homme natural. 
eit ne sunt mie de nostre general: 
einz sunt Francois. bien vont querant lor mal, 
et il auront encui un fort iornal. 
rengiez les tuit; si lor liurez estal. 
poi en i voi; genes redot un al. 
n’en remeront ne armes ne cheual.” 
N’est pas merueille se Hiaumont fu forz et fiers. 
ensemble o lui out cent mil forrier, 
ne sunt li nostre nemes xxx cheualier. 
“yoir” dist Hiaumont “moult m’a Mahomet chier, 
qui plus me donne que ge ne li requier. 
moult auions ore de ces armes ınestier, 
et cit en ont: il lor couient lessier. 
va, si lor di, facessen despollier; 
et s’il me font les armes empirier, 
il i leront les testes de loier.” 
et cil monta; si lor uoit anoncier. 
de si qu’as Frans ne se uout alarier. 
quant il vint pres, si commence a hutier. 
“baron Francois, ne vos chaut d’airier. 
Hiaumont vos mande, qui le corage a fier: 
toles vos armes vos couient ä lessier 
sanz contredit et sanz point detrier. 
ou se ce non, as espees d’acier 


169 fjert sor Francois par merueillios air. 


2». 


b) BEKKER: 


vos couendra les membre detrenchier.” 
Dist li paien “or me festes entendre. 


Hiaumont vos mande d’Aufrique et d’Alixandre, 


li miudre rois qui puist espee ceindre. 
par tel couent uoudra vos armes prendre 
qu’en sa merci vos venez tres loz rendre. 
ne vos vaudra enuers lui le deffendre. 
ne vos voudra, ce dit de plus, raembre, 
ne mes les cous de soz l’espee tendre.” 
dient Francois “voudra se donc deflendre. 
pechiez le fet nostre bataille atendre. 
sempres sera qui nous sous acox rendre. 
ce li redites et li fetes enlendre: 
se il iert pris, nos le feromes pendre.” 

Li mes retorne, que diex puist maleir. 
dist ä Hiamont “ia pensez du ferir. 


Francois vos mandent: bien m’en poez creir: 


pas ne se ueolent des armes dessesir. 

ne il n’ont cure, ce dient, de foir. 
bataille aurez; bien ı uoudront ferir. 
cel olifant vos conuendra tentir.” 
Hiamont respont, qui fu de grant ahır, 
“Mahom mes diex me puist don maleir.” 
ses hommes fet arıner et fer vestir. 

e vos Francois quis vienent assallır. 

A lassembler oissiez cors bondir. 

par de soz eus font la terre bondir. 

la veissiez tant ruiste coup ferir 

el tant escu el trouer et partir 

el tant clauen fauser et desertir 

et lant vasax trebuchier et chair 

et tant destrier parmi ces rens foir, 
tant Sarrazin et Lranchie et morir. 
Hiamont les voit; le sanc cuide merir. 
wet Durendart qui moult fet ä cherir, 


cui il consuit, ne puel de mort garir; 

cui il ataint, ne puet de lui ioir. 

si con il vet, fet toz les rens fremır. 

qui fu el champ, adone se puet garir. 
Cil primerain qui assemblent au roi, 

c'est Anquetin et Hues et Gieflvoi. 

ııt mil hommes mena chascun 0 soi. 

Anquetin broche contreval le sablei. 


sor son escu fiert Pinceval un roı. 


tot le porfent, et armes et conroi, 
qu’il l’abat mort soz un arbre tot coi. 
A la retrete refiert Malsapinoi, 
un Sarrazin qui iert de male loi. 
tot le porfent entre ci qu  baudroi. 
Hue du Mans rabatı Galefroi, 
cosins Hiaumont, ol moult out grant bofloi. 
el cors li fer deslacier un espoi; 
mort le trebuche de lez un brueroi. 
vet le li rois; grant ire en out en soi. 
tint Durendart & la regne d’or froi. 
le chief li fiert; si l’abatı tot coi. 
et puis rocit Emorant de Sapoi, 
Guerin d’Orlieus et Garin et Eloy. 
Francois le voient; s’en sunt en grant!effroi. 
li plus hardi en ont esmai en soi, 
et ne quierent b ... . tindret le chaploi. 
lä veissiez commencier tel tornoi 
don vır milier en reinaitrent tot coıi. 
En l’autre eschiele furent v mil baron. 
iceus conduit li riche dus Sanson, 
quens de Poitiers; moult estoit nobles hon; 
et ses conduit Gondoin le baron. 
la poissiez veoir tant goflanon, 
tant hiaume A or, tant escu A lion. 
cil se refierent en l’estor & bandon. 
la veissiez fiere de foloison, 
dars et saieles voler ä grant foison. 
rois Gondebuef va ferir Gardion, 
un roi paien: d’outre Gafarnaon ; 
et Sanses fiert Otemant l’Aragon. 
ces deus paien i font tel liuroison : 


mort les trebuchent, qui qu’en poist ne qui non. 


lä veissiez une fiere tencon, 

et sor ces hiaumes tele marteloison : 

qui la chai, einz puis n’out garison. 
Fors fu li chaples et meruellios li huz. 

la veissiez maint, ruiste cop feruz, 

escuz perciez, maint hiaume porfenduz, 

tant Sarrazin contre terre chauz. 

ne fu meruelle se n’i out des perduz. 

tant en ia parmi les cors feruz, 

escuz perciez, les hiaumes porfenduz. 

et tant destrier vont les regnes rumpuz, 

qui vont fuiant parmi les puiz aguz, 


le roman d’Aspremont. 


dont li seignor gisent morz es paluz. 
mes lant i ot des paien mescreuz: 
contre un des noz en i a quatre ou plus. 
s’or ne fet diex por Crestiens vertuz, 
jamais un seul n'iert par Charlon veuz. 
Fier sunt li eri et li estor mortal. 
l’enseigne Hiaumont si fu el fonz d’un val. 
Hector la porte, un paien desloial. 
de nostre gent i torne moult a mal. 
Francois adrecent; la ot estor mortal. 
evos Hiaumont deseur un noir cheual: 
dex le confonde, le pere esperital. 
tint en som poign l’espee Durendal. 
enmi la presse lor rent si fort estal, 
lasche la regne, lait aler le cheual. 
Garin encontre, un Francois moult loial. 
si le feri li paien desloial: 
l’escu li fent et troue et met ä& mal. 
ä l’autre cop fiert en l’iaume ä cristal. 
tot Je porfent iusqu’as denz contreual. 
i point auant, lint trete Durendal. 
ceus qu’il encontre, fet trere mau iornal. 
fiert mainte targe tres parmi le bouglal, 
seles, estrieus; si coupe maint cheual. 
tuit Je maudient de deu l’esperital. 
Fier sunt li cri et li estor pesant. 
tant par i out de la gent mescreant: 
contre un des noz i out quatre Persant, 
que nostre gent se vet moult esmaiant. 
Jesu reclaiment, le pere roinant; 
batent lor coupes, ä deu se vont rendant. 
et paien prient Mahon et Tervagant 
que il lor soit vers Crestiens ardant. 
lor conroi vont noslre gent vremuant. 
sı sunt serre et ensemble tenant: 
se gelissiez sor lor hiaumes un gant, 
ne fust ä terre d’une ruee grant. 


o evous Hiaumont, o lui li Aufriquant. 


la recommencent un estor si pesant, 
dont orfelin remeistrent maint effant. 
Fort fu l’estor, ruistes li fereiz. 
par la bataille uint Gieffroi de Paris, 
grise gonnele, un duc de moult grant pris, 
l’espee trete, couert de l’escu bis. 
fiert un paien qui ot non Escriuis, 
qui nos Francois auoit moult mauballis. 


Philos.-histor. Kl. 1847. 


l’iaume li trenche et li front iusqu'au uis. 
tres deuant lui l’abati el aris. 

l’ame emporteirent Pilate et Antecris 
droit en enfer, ou remaindra tos dis. 
adonc commence et la noise et ]i cris. 
la n’out mestier ne li uers ne li gris; 
po i ualut pourpre ne sebelins. 

lä ueissiez les couars esmarriz 

et les hardiz fierement esbaudiz. 

en cui dex ot le riche cuer asis, 

cil pout auoir mestier A ses amis. 

Fier sunt Ii cri et riche li cembel. 
par la bataille es Huun le Mansel. 
l’espee trete, tint l’escu en chantel. 
en tote France n’out cheualier plus bel. 
einz puis le tens Assalon et Abel 
nus plus biaus hons n’afubla de mantel. 
fiert Rondoin le fiz au roi Cadel. 
tot le porfent entre ci qu’au ceruel. 
apres celui rocist un domoisel, 
cosin germain au roı Salatiel. 
fiert et refiert con feiures de martel. 

x en a mort tres enmi le prael. 

paient trebuchent; grant en sunt li maisel. 
Hiamont le voit; ne li fu mie bel. 
quant voit sa gent torner ä tiu maisel, 
il en iura Mahon et Jupitel 

que il fera Crestiens mauchaudel. 

tint Durendart, dont trenche li coutel. 
tres enmi eus demeine tel reuel: 

l’un fiert eu col et l’autre eu haterel. 
de Durendart Jor donne maint bendel. 
par deuant lui en chient li boel. 

ausi les tue con bouchier fet pourcel. 
nes puet garir ne hiaume ne clauel. 

Fort fu l’estor, moult fist ä redoter. 
et Salemon, un roi tentiux et ber, 
(Bretaigne tint par de deuers la mer), 
icil ala & Bedoin ioster. 
roi Julien grant terre out a garder. 
l’escu li perce et fet outre passer. 
tant con tint hainste, le fet mort grauenter. 
Monioie crie por sa gent conforter, 
don bien i uint cing cens por lui garder. 
qui lor ueist Sarrazin decoper, 

ä grant merueille fu lions prinz et ber 


B 


10 BEKKER: 


qui les osast voir ni esgarder. 

Parmi l’estor euos un roi moult fier. 
Hector out non; si fu goffanonnier ; 
Hiamont ]i ot fet s’enseigne ballier. 
moult se penoit de no grant damagier. 
maint en a mort deuant lui en l’erbier. 
quant le percoit li bons vasax Richier, 
don Karlemaine fist ia son messagier, 
cele part torne li vasax son destrier. 
parmi paien commence ä chaploier ; 
fiert ca et la, n’a soign de l’esparnier. 
ne semble pas as cos donner lanier. 
et voit Hector nostre gent mehaignier. 
ä lui mesmes s’en prent & consellier 
qu’or ieir maues, s’il ne les vet vengier. 
point le cheual as esperons d’ormier, 
et va ferir le felon pautonier. 
sor son escu apia son espier. 
tot le porfent, l’aubere li fet percier; 
parmi le cors li fet le fer percier. 
si bien l’empaint li vassax droiturier 
qui li a fet les deus arcons vuidier. 
mort Je trebuche enmi le sablonnier. 
l’enseigne Hiamont couient ius trebuchier. 
h vos le cri qui cuida redrecier, 
quant d’autre part i paruint Berengier, 
Droes de Petou A l’'iaume le pohier, 
et Tiorins et Fagon et Reignier 
et bien des nos plus de quatre millier. 
ou uielle ou non, Hiamont se tret arier; 
par droite force le champ li font vidier. 
don veissiez Sarrazin desrengier, 
de totes pars la place aclaroier. 
chascun s’en fuit por sa vie aloignier. 
lor quatre dieu remestrent estraier. 
Hiamont mesmes, quant voit l’encombrier, 
de lui garir pense de l’auancier. 


170 Richier l’enchauce, qui ne le uout lessier. 


v. 


souent li crie “retornez, cheualier.” 
Hiaumont l’entent; se sens cuide changier. 
moult volentiers i retornast arier 
por son damage restorer et vengier, 
quant sor lui vinent des nos tes trois millier, 
qui l’enbatirent ä force en un viuler. 

Fort fu l’estor et fiere la tencon 
et forz li criz; maint grant coup i fier on. 


evos Richier poignant ä esperon; 
moult fierrement a enchaucie Hiaumon. 
Affriquant voient chaer lor goffanon ; 
en fuie tornent senz nule arestoison. 
Teruagan lessent, Apollin et Mahon. 
lor quatre diex lessierent el sablon. 
soi tierz de rois s’en uet fuiant Hiamon. 
Richier l!’enchauce, et maint autre baron, 
qui ne demandent ä dieu nul autre don 
fors qu’il puissent retenir l’Esclauon. 
Va s’en Hiamon, perdu a son espoir. 
il euidoit bien tot Je monde ualoir. 
ia reuerroiz orgueil et non sauoir 
que l’un ou l’autre n’estuise remanoir, 
le queque soit estuisse remanoir. 
vint A la tor qu'il ferma l’autre soir. 
quant il en puet le pont a senz voeir, 
onques ne fu si liez por nul auoir. 
Richier l’enchauce et sieut par estoueir. 
quant voit li ber qu'i l’estuet remanoir, 
ne qu’il ne puet acomplir son voloir, 
l’espie tresmoie par merueillios sauoir, 
estent son braz de trez tot son poier 
qu’einz eu chies li cuida assoer. 
parmi la crope feri le cheual noir. 
de l’autre part li fist le fer peroir. 
s’or i poist un petil receuoir, 
perdu eust rois Agolan son oir. 
La bataille est uencue et li estris. 
paien s’en vont matd et desconfis. 
li xxx mil ont le ior feru si, 
li forrier sunt par force departis. 
deuant la tor out un merueillos cris. 
quant rois Hiamon de son cheual chais, 
poor ot grant que il ne fust choisi. 
cil de la tor sunt encontre sallı. 
Hiaumont abessent le grant pont torneiz. 
leenz le meinent; puis si l’ont desgarniz 
des pesanz armes, qui li pesoient sis. 
du chief li ostent le bons hiaume burniz; 
puis li desceignent Durendart le forbi. 
du dos li traient l’aubere qu'il ot vesti. 
don li escrient ensemble si amı. 
“sire” font il, “moult vos prisent si vi 
ci Crestien, cil gloton enemi.” 
“voire” dist il “mi diu m’i ont fallı. 


le roman d' Aspremont. 


la sunt remes el champ tot estordi. 

tuit mi parent sunt par eus desconfi. 

qui en eus croit, moult a le sens maıri.” 
Bien ont feru no cheualier vailliant 

quant . il Hiamont le riche roi puissant. 

par uiue force le font aler auant; 

et s’ ont conquis Mahon et Teruagant, 

leurs dieus, Jupin Apollin le p .. ant. 

conquis ront roge or et blanc argent; 

totes leur vies en seront mes manant. 


Francois reparent, qui vencu ont l’estor; 


einz tant de gent ne soflrirent greignor. 
cele nuit iurent tres toz ä la froidor, 
et l’endemain endroit prime du ior 
vint Karlemaine, lor natural seignor. 
li ague passerent li gentil poignoior. 
ä la fontaine par dedenz la... or 
ilec tendirent le tref l’empereor, 
et tote l’ost s’est trauee entor. 
A la fontaine qui cort par le chanal 
se herberia Karles l’emperial. 
son tref li tendent ilec li mareschal. 
sor le pont d’or cele ä cristal 
fu l’egle d’or pose an son estal, 
qui reluisoit con estoile iornal. 
li douze contes, qui sunt preu et loial, 
arrier reparent du grant estor champal. 
perdu i ont maint homme et maint cheual. 
o lor eschec descendent du rochal. 
Mahon ameinent trainant contreual, 
les quatre diex qui moult sunt . . tal. 
les flans lor batent et roillent de maint pal, 
ausi con fussent quatre barons ... tral. 
onc n’aresterent de si qu’au tref roial. 
lä descendirent lı baron natural. 
Descenduz est Droes lı Poiteuin 
et Salemons et li roi Tiorin, 
Hoiaus et Hues et Gieffroi l’ Angeuin 
171et Anquetin et Richier et Helin 
” et tuit li autre qui ne sunt pas frarin, 
qui ont Hiamont ocis maint Sarrazin. 
descendu sunt deuant le fiz Pepın; 
si li presentent Mahon et Apollin 


*) S. Fierabras S. 184b. 


et Teruagant et lor compaign Jupin. 
puis li eserient tuit ensemble & un brin 
“ne t’esmoier, Karles o le cuer fin. 
ier matinet fumes Hiamont voisin. 

la merci dieu, nostre pere deuin, 
auques auon abatu de lor brin. 

de cent mil Turs l’auon fet orphelin. 
foiz s’en est et toz mis au chemin. 
venduz vos fust en vostre tref samin, 
ne fust la tor que firent Sarrazin. 
mais loteuoies, ce sachiez, en la fin 
nos est remeis et le pain et le vin 

et vingt sommiers auec de lor or fin. 
ces t'amenons A ioie et A hustin.” 

Dient Francois “sire, soiez ioianz. 
iostE auons ä l’ost roi Agolant. 
ne fust la tor qui siet au derrubant, 
iames Hiamon ne fust alez auant. 
mes sommiers vint de l’or au mescreanz 
vos amenons por fere vo talent, 
et lor vitaille, lor pain et lor forment, 
les quatre diex ou paien sont ereant.” 

Karlon.lientenb, Area a 

222... 0U que vos le metez.” *) 

En Karlemaine n’auoit qu'esleecier. 
quant voit les diex que paien ont tant chier, 
ä maus de fer et ä picois d’acier 
les quemanda li rois ä depecier. 
adonc i vient corant cil escuier. 
mainte coignie aportent, maint leuier. 
la veissiez toz les diex debruisier. 
n’ont tel vertu qu’il se puissent aidier. 
a ses barons donne Karles l’ormier. 
un braz en done Droes le berruier, 

1 iol Salemon le coste senestrier, 

et Anquetin la cuisse o le braier. 

la destre espaulle a done Berengier, 

et la senestre ä Huan le guerrier. 

la teste en donne au bon vasal Richier 
pour l’oriflambe qu’il fist ius trebuchier 
et pour Hiaumont qu’il osa enchaucier. 
apres si furent destrosse le sommier. 
tes tot l’auoir en fist Karles ballier 


11 


12 
ä ses barons qui l’orent gaaignier; 
einz n’en retint vaillissant un denier. 
departi sunt li maues dieu lanier. 
c’est une chose qui Hiaumont fera irier. 
en l’ost Karlon out assez ä mangier. 
tex quatre pains donon por un denier: 
en l’un en out assez trois cheualier. 
et por deus sols a l’en un buef entier. 
il n’a en lor si affam& destrier 
qui n’ait aueine assez por un denier. 
et Sarrazin si n'ourent que manger. 
en l’ost Hiaumont out tens si tres chier 
qu'un pain i uent xv sols de denier, 
et de moton vaut v... . quartier. 
Hiaumont atendent, qui lor deuoit aidier. 
mais or porront par leisir baallier. 
d’icest conquest n’aront il recourier : 
c’or le mainent Alemant et Baiuier 
et la grant ost Karlemaine au uis fier. 
Seigner baron, or vos doi acointier. 
de duc Girart vos redoi acointier, 
qui de Viane se departi l’autrier 
et qui s’esploite de damledieu vengier. 
en sa compaigne sunt einquante millier 
de bones genz, qui ne sont pas lanier. 
ä nueues targes ni a ceul n’ait destrier. 
Bueues et Qlaires et Hernaut et Renier 
de l’oriflambe furent goffanonier, 
ı7Let douze contes, qui moult font ä proisier, 
” qui de lor terre sont A Girart renlier, 
et il le seruent quant il en a mestier. 
Girart parla con nobile princier. 
“Baron” dist il, “des or seroit mestier 
que nos pensons de damledieu vengier, 


qu’en Aspremont puissons monter premier. 


s’einz i est Karles, trop seromes lanier. 
la deuez vos vostre pris essaucier.” 

Li dus Girart durement se hasta 
ä tant de gent, comme li frans hons a. 
cincante mil auec lui amena. 
tant fist li vieus et tant fort esploita 
qu'il et sa gent en Aspremont puia. 
a une lieue, ce dist cil qui l’esma, 
de la grant tor que Agolant ferma, 
Girart du Frate la nuit se herberia. 
et dist li vies que ia ne se moura 


BEKKER: 


se... par forceene...edeli: 

mes Agolan, ce dit, i atendra. 

li rois Hiamon forment se dementa. 
grant duel demeine et tendrement plora 
de la uilte qui desbarete l’a 

crestiente que il onques n’ama. 

tant fist li rois et tant se porchaca 

que moult grant gent ensemble rauna. 
Mahomet iure qu’encor se combatra, 

ne ia son pere Agolant nu sara. 


Hiaumon cheuauche; o luisunt moult grant gent. 


einz ne fu hons tant eust hardement, 

se il creust en dieu omnipotent. 

il et si homme cheuauche fierement. 

encor se cuide vengier moult fierement. 

et dan Girart ne s’ataria noient, 

li uiez du Frate, qui moult ot hardement. 

Clairon apele, et Bouon ensement, 

Hernaut, Renier tost et isnelement. 

et dist Girart “or m’entendez, eflant. 

vez ci Hiamont par le mien escient, 

qui moult se peine de destruire no gent. 

issiez vos en tost et isnelement.” 

et dist Girart “or entendez, enflant, 

et con g’emploi en vos mon chasement.” 

et cil responnent “tot ä vostre commant.” 

pregnent les armes tost et isnelement; 

es cheuax montent, qui ne sunt mie lent. 

lor s’en issirent arm& moult noblement. 

la veissiez maint riche garnement 

encontre Fiaumont cheuauchier fjierement. 

a l’asembler i out fier noisement; 

de dars, de lances moult fier aiostement; 

maint escu fraint et maint hauberc sanglent; 

de brans d’acier si fier chaploiement. 

moult les reculent nos Francois asprement. 

saietes volent, quarriaus espessement 
Grant fu la noise, l’estor et la tencon. 

moult fierement iosteirent Borgueingnon. 

deuant les autres evos poignant Claron. 

l’espie drecie, destort le gonfanon, 

fiert Pinaprant le conseiller Hiaumont. 

Vescu li perce, l’auberc et l’auqueton ; 

le cuer li fent, le foie et le pomon. 

mort le trebuche tres enmi le sablon. 

et puis rocist Fauel et Glorion 


le roman d’ Aspremont. 13 


et Phodiant le fiz au roi Pharon. 
sept en a mort tres tot en un randon. 
Boues rebroche;; s’ala ferir Margon, 
un Sarrazin d’otre Guapharnaon. 
einz li clauen ne li fist garison: 
le cuer du uentre li fent et le reignon. 
puis tret l’espee qui li pent au giron, 
et fiert Griant, un Sarrazin felon. 
tot le porfent de ci qu’es el pomon. 
paien i uienent & grant destrucion ; 
dix en a mort tres enmi le sablon. 
apres rocist Fantrou de Val grifon. 
nez fu d’Aufrique; si estoit moult gentis hon. 
mort le trebuche; ne li uaut riens poison. 
puis ra ocis Pharoc, un Turc felon, 
qui fiz estoit au roi Dagolion. 
tant en out mort, n’est se merueille non. 
mout le font bien li quatre compaignon. 
Hiaumon le voit; si tint le chief en bron. 
moult dolent fu; sı apela Mahon 
et Teruagant et son dieu Baratıon. 
“he maues diex, ne ualez un boton, 
quant vos soffrez si grant destrucion, 
con ci me font Francois et Borgueingnon. 
mais c'est por ce qu’estes en la prison 
roi Karlemaine: par tant le uos pardon.” 
Renier, le mendre fiz Girart le baron, 
point le cheual qui li cort de randon, 
172et voit ferir le roi Matefelon. 
” mort le trebuche deuant les piez Hiaumont. 
quant il le vit, si dolent ne fu hon, 
que seneschaux estoit de sa meson. 
onques anfant puis le tens Salemon 
si bien nu firent con Boues et Olaron. 
Hernaut Renier moult sunt bon enflancon. 
Girart en rit, li vieus ä rox guernon. 
ses cheualiers les mostra enyiron. 
“diex” dist li dus, “con gentius norricon. 
cil les garisse qui souflri passion.” 
Quant Girart voit l’estor einsi melle, 
il en apele Anseis faucheble 
et Heriueus et Soufre maure 
et les barons qui la sunt assemble. 


“seignor” dist il, “auez uos esgarde 

se ie ai tant de mon tens afıne? 

cit mien eflant m’ont tot regenere, 

que j'ai norri docement et soef. 

secoron les por sainte charite.” 

ainceis que Girart eust ä ceus parle, 

s’escrie Hiamon, qui ot le cuer enfflle, 

“que fetes vos, Sarrazin et Escler? 

vengiez vos diex qui sunt emble, 

et vos amis qui ci sunt mort gete.” 

A ice mot sunt tot resuigore. 

fierent auant; si ont le cri leue. 

adonc a Ülaires et Boues recule. 

lor quatre mil, qui lor furent liure, 

dusqu’ & Girart ne se sunt areste. 

quant Girart voit qu’i furent refuse, 

Claron apele; si l’a moult ramporne. 

“biau sire nies, or est bien merci de. 

un des biaus estes de la crestiente. 

mes ne puet estre, dex ne l’a commande, 

que proece ait la ou il a biaute. 

fiz A putain, maues garcon enfle, 

onques ne fustes de mon frere engendre, 

le duc Milon, qu’en a forment loe. 

mauesement l’auez hui resemble. 

einz ne deigna foir en son ae. 

adone ra son fil Claron troue 

en la bataille ou il iert assemble.” 

A ice mot s’est Girart tant ire 

qu’il deschauca son esperon dore; 

sı la Claron envers le uis gete. 

li ber guenchi; moult s’en est uergonde. 

lors acuilli hardement et firte. 

dist A Bauon “il a droit, en non de: 

maueserment nos i somes proue. 

qui mes fuira, donc ait ıl mau deh£.” 

adonc retornent; moult furent aire. 

es Turs se fierent par moult ruiste fierte. 
Grant fu la noise et li cri sunt hautor. 

In dutGirante se: A 

ser: entre cing cens des lor. *) 

“Eufrate” crie o fiere voiz hautor: 

“ferez, baron: dex vos olroit honor, 


*) S. Fierabras S.M84b. 


14 BEKKER: 


einz que ci viegne Karlon l’empereor, 
en cui voudroit sor vos auoir l’enhor. 
se poons tant ferir en cet estor 
que nos puissons melre entr’ eus et la tor, 
lor s’en fuiront li grant et li menor, 
que il aroit perdu tot lor retor.” 
Girart du Frate fu nobile vassax. 
ses gens en guie par delez un costal 
grant aleure le pendant lez un val, 
qu’einz ne le sorent li paien desloial. 
si fu Girart si pres de lor chasal, 
il et sı homme, parmi le fonz d’un val, 
qu’entre la tor et le grant batestal 
crient Eufrate plus de sept mil vasal. 
se Hiaumon veut prendre ä la tor son estal, 
trouer i puet un felon seneschal. 
Moult sot Girart d’estor et de tencon ; 
ne sourent mot li Sarrazin felon. 
si fu Girart tot droit au tref Hiaumon, 
il et si homme, qui ont maint cheual bon 
et armes bones & plenie, ä foison. 
Girart du Fra, qui euer out de lyon, 
le tref abat, il et si compaignon. 
ceus que il troue, n’i orent garison; 
toz les ocient a grant destrucion. 
puis sunt mont& enz en la tor Hiaumon. 
la fet Girart drecier son gofanon, 


172la ville enseigne qui fu au duc Boison. 


" cete est A or; si Juit comme charbon. 
Hiaumon le voit; s’en out au cuer frison. 
si le mostra au roi Dagolion. 

“or esgardez” dist li rois, “par Mahon. 
perdu auons nostre mestre donien. 

veez vos lä ce mestre gofanon? 

il ne est mie de nostre region. 

c’est la tor ol james n’enterron.” 


Quant Hiamon voit l’enseigne & uız Givart 


desus la tor, qui reflamboie et art, 

perdue l’a: n’i a mes nul regart. 

par mal talent empoigna Durendart; 

si fiert un Franc qu’en deus moitiez le part. 
et puis ra mort Acelin et Benart 

et Rocelin Guielin et Guichart 

et Euroin et Robert et Richart. 

quant qu’Hiamon fiert, qui a cuer de lipart, 
ne puet garir que de mort n’ait sa part. 


voit Je Renier, un domoisel gueilliart, 
qui moult iert fel: fil fu au due Girart. 
par mautalent iure saint Lienart 
“eit Sarrazin est moult de male part. 
se il vit auques, donc me tien pour musart.” 
ä ice mot point auant le liart. 
s’or nel requiert et ne vet cele part, 
Girart ses peres le tendra por musart. 
Renier le mendre fu vyailliant cheualier. 
quant voit Hiamon, si lui ueut manoier. 
forment l’en poise; n’out en lui qu’airier. 
il iure dieu, ne se prise un denier 
se il ne fet son pooir du vengier. 
ä ice mot point auant le destrier, 
et vet ferir le gloton pautonier. 
tel cop li done de son trenchant espier 
que il en fist Je vermeu sanc raier. 
mes einz ne pout remuer l’auresier. 
Hiamon tres torne, ou il n’out qu’airier. 
ferir le cuide sor son hiaume d’ormier: 
mes i guenchi; si consiut le destrier. 
le col li trenche; mort l’abat sur l’erbier. 
s’or i peust autre cop emploier, 
bien i cuidast son damage vengier. 
A grant merueille fu Hiamon orguellos, 
du fiz Girart occire couoilos, 
quant i soruint Boues, Clares li ros, 
Girart et Guis et Hiantiaume li pros, 
et auec eus plus de quarante dous. 
cil ont Renier ä grant force rescous: 
car Hiamon iert forment cheualeros, 
fiers et hardiz et de mal enartos. 
Durendart tint, dont il fiert ä estvos 
parmi ces hiaumes qui erent painz & flors. 
ausi les fent comme coutel fet tros. 
de nostre gent i fet maint doleros. 
Hiamon voit bien qu’i n’ira autrement: 
desconfiz iert il et sa grante gent. 
fuiant s’en vet parmi un desrumbant, 
a tant de Turs con a de remanant. 
remet el fuerre Durendart la trenchant, 
maudit ses diex Mahon et Teruagant 
et Apollin et Jupiter le grant ; 
ne les croit mais, tuit les tient recreant. 
se il eust sone son olıfant, 
venuz i fust tot ä tens Agolant. 


le roman d’' Aspremont. 


Va s’en Hiamon dolenz et corecous. 
Girart du Frate est retornez li prous. 
il et si homme se sunt tres bien rescous: 
auoir em portlent et fier et merueillios; 
que l’ont conquis comme bon fereors. 
Hiamon s’en vet dolenz......... 
lc ENOLUENFSHNEL ESS) 
173 Va s’en Hiamont forment ä grant ahan. 
” “ha las,” dist il, “entre sui en mal an.” 
il en apele et Barre et Butran 
et Salmaquin, son neueu Lanudan. 
“alez A l’ost, que nu sache Agolan; 
et si me dites mon seneschal Gorhan 
qu’il me secore et son pere Balan, 
Triamodes et le roi Hesperan, 
li roi Cador et li roı Moisan, 
Salatiel et li vroı Boidan. 
bien lor contez la honte et le mehaign, 
que i'ai perdu Mahon et Teruagan.” 
“Baron” dist il, “n’alez mie tariant; 
a ceus de l’ost alez hastiuement. 
si lor contez tot le destorbement, 
que i’ai perdu Mahon et Teruagant, 
ma tor perdue que n’i ai mais naient. 
de toz mes hommes i a mais pou viuant. 
dites lor bien, ne lor alez celant, 
c’or me secorent tost et isnelement. 
en sor que tout n’alez mie obliant 
(moult vos em pri, et si Je uos commant) 
que ia nu sache mes pere Agolant.” 
et cil responent “tot A vostre commant.” 
Chascus des mes est montez ä cheual. 
passent li pui et li mont et li val, 
vienent A l’ost de la gent desloial. 
descendu sunt au tref le seneschal. 
et quant les voient cele gent desloial, 
petit et grant lor corent communal; 
de Hiıamont demandent, le nobile vasal. 
“est il encore deuale contreual?” 
cil lor acontent le damage mortal, 
tot ce qu’Hiaumont chai de son cheual; 
naiez dut estre en une augue coral. 
si a perdu sa grant tor principal; 


*) S. Fierabras S. 184a. 


tuit si paien i sunt tornd A mal. 

“secors vos mande; que il n’en puet fere al, 
si que nu sache Agolant le roial. 

nos quatre diex i ont tret fort iornal, 
sachiez en fu et ä ioie et A bal 

par Aspremont traine contreual, 

ausi con fussent quatre baron mortral. 
Hiamon fet doel, iames ne verrez tal.” 
paien l’entendent; si font grant batestal. 
ilecques ont derompu maint cendal. 

et dist Gorhan “por coi prenois estal? 

car secorons tot le melier vasal 

qui portast lance ne qui mont sor cheual.”” 
paien l’entendent; si s’arment communal. 
grant noise meinent destrier mul et cheual. 
lors s’en vet l’ost et A mont et ä val. 

quatre mil cors, qui toz sunt de metal, 
parmi le tref i sonent contreual. 


chargent lor armes, el mainent maint cort gal, 


haubers et lances et maint escu boglal. 

et enselerent le ior maint bon cheual. 

issent des tres cele gent desloial. 

par sept foies sunt cent mil en estal. 
Paien seufment si ont lessie Ii tre. 

par sept foies sunt sept mil Turs arme. 

serr&e cheuauchent, et se sont moult haste. 

lı vrois Balan a un conroi mene. 

ıx mil sunt de ferir apreste, 

preuz et hardi, de mal entalente. 

or ait dex Karlon et son barne: 

bataille aura ä grant estor chapl£. 

li rois Balan a sa gent regarde, 

et dist en bas qu’en ne l’a escoute. 

“diex” dist il, “sire, qui me feistes ne, 

si con vos iestes la sus en maeste 

et estes dieus verais en trinile, 

vos requier ge par la vostre bonte, 

ne soit mes cors de l'’ame deseur& 

tant que ge soie en fonz regenere.” 
Triamodes cheuauche empres Balant. 

moult ot o lui de Sarrazine gent; 

soixante mil sunt bien li mescreant. 

en cel conroi out tant bel garnement 


16 


et tant clauen et tant hiaume luisant 
et tant ensengne A or reflamboiant. 
Triamodes parla tot en oiant. 
“esploities vos, fran cheualier vailliant. 
vengiez vos diex Mahon et Teruagant, 
qu’en fist mener Karles en trainant. 
moult en deuez tres tuil estre dolent. 
se tant pouons esploitier en auant 


que nos puissons uenir ou sunt li Franc, 


n’en estortront li petit ne li grant. 

Karlon meisme, li felon souduiant, 

en merron nos contreval trainant.” 
Li tierz conroi fu Boidan liurez. 


173Salatiel fu o lui aiostez. 


2». 


soixante mil en i out aprestez. 

la veissiez tant bon hiaume gemez, 

et maint espie fu, maint penon fermez. 
des hiaumes bruns i est une tel clartez, 
la terre en luist enuiron de tot lez. 

li dui roi vindrent chascun moult airez. 
desus Mahon ont ambedui ıure, 

s’en la bataille est Karles encontre, 
qu’il en sera contreval trainez. 


La quarte eschiele conduit li voi Cador 


et Aniaudras li roi de Tintagor; 
c’est une terre ou ior ne prent essor. 
si les conduit Lamas le fiz Octor. 


en lor compaigne furent Persant et Mor, 


li Agolaflve et tuit li Licanor. 
soixante mil furent el premier cor. 
lä veissiez maint destrier baı et sor. 
Karlon manacent et dient bien encor 
que le prendront de soz un eicamor, 
feront li honte et le dure du cor. 


La quinte eschiele conduient dou vasal: 


c'est Rodoans et Butran l’amiral. 
soixante mil sont bien lı desloial. 

la veissiez maint paien A cheual 

et tant escu et tant hiaume aesmal 

et tant enseigne de paile et de cendal. 
Karlon menacent, li roi emperial, 
qu'i le feront trainer a cheual; 

si li toudront France son herital. 


BExKKER: 


La siste eschiele conduient dou baron, 
rois Esperant et li rois Maragon. 
ce sunt dou roi orguellios et felon. 
en lor compaigne soixante mil baron. 
cil ont el dos maint riche gamboison 
et maint cler hiaume, qui reluist enuiron, 
et mainte lance portant maint gonfanon, 
et mainte espee, mainte mace de plon. 
et cil conduient l’estandart roı Huan. 
la fleche est d’or, qui vet en contremon; 
et tot en son out fichie un Mahon. 
par nigremance et par enchantoison 
li font huchier A moult haute reson 
“car cheuauchiez, franc cheualier baron.” 
lä ueissiez aler maint compaignon. 
entre les Frans sunt enclos enuiron. 

“or sachiez bien qu’en prendrai vengoison 
et Karlemaine vous rendrai ge prison; 
A saint Denis coronerai Hiaumon.” 

Tant cheuauchierent les oz A grant destroit 
qu’ Hiamont encontrent, qui forment fu destroit 
et courouciez et en son cuer estroit. 
quant voit ses hommes, ses princes et ses rois, 
tos em plorant les bese trois et trois, 
et puis lor conte ses deus et ses ennois, 
que li ont fet Borgueingnon et Francois. 
descomfit l’ont em bataille trois fois, 
mes hommes mors et tolu mon henois. 
si m’ont tolue ma tor et mes destrois. 
or passera Karlon tot a son chois.”” 
dient paien “or ne vos esmaois, 
que tot le vostre en cort terme raurois.”" 

Hiaumon sospire, «.. rec... 

>... . d’esperuier, ne d’ostor.” *) 
paien responent “ne soiez en error: 
car einz demain que vos voiez le ior, 
vos aurons Karle mis en si grant freior, 
ne li lerons ne chastiaus nı honor.” 

Ce dit Hiaumon, ou i n’out qu'airer. 
“quant vi mes diex trebuchier et verser, 
tant m’enchaucierent lı gloton pautonier 
qu’ez en un augue firent mon cors pligier. 
einz ne croi mon pere A iostisier, 


*) 5. Fierabras S. 184a. 


le roman d' Aspremont. 17 


qui me loa les bons asso haucier 

et les prodommes amer et tenir chier. 
174einz ai norri maint gloton pautonier, 
z qui por lor bordes moult fet moult abessier. 
mes s’en Aufrique puis jamais reparier, 
ie les ferai destruire et essillier, 
ou ies ferai de ma terre chacier.” 

Si con Hiamon ot tant sa gent menee 
de l’ost Girart ä demie loee, 
Borgueingnon oent la noise et la criee 
des Sarrazin, qui sonent la menee. 
au vielz Girart est Ja nouele alee. 

“sire Girart, frans hons, chiere menbree, 
Hiaumon reuient. tel gent a recouree, 
n'a bomme el siecle qui ia l’eust nonbree. 
dos liues pleines est la terre pueplee; 
de totes parz en coure la contree. 

oiez quel noise et con fete criee. 

or sachiez bien, nostre mort est iuree. 
tant en i uient, c’est verit€ prouee, 

se nostre gent iert cuite et bien salee, 
les mangeroient eus en une disnee.” 

et dist Givart (ne l’a pas redoutee) 
“frans cheualier, vez la chose prouee. 
de Paradis est ouerte l’entree. 

dex nos apele en sa ioie honoree. 

or sunt venuz A la inte jornee. 

qui dix aura li la mort destinee, 

de moult bon hore fu sa char engendree. 
et qui morra, c'est verile prouee, 

si grant honor li iert abandoncee, 

tele ne fu veue ne trouee. 

se dex me meine ariere en ma contree, 
ma riche chanbre lı sera deffermee, 
qui a toz iors nous seut estre fermee. 
de haute dame, de gent afere nee, 

vos en sera l’amor abandonnee. 

tele ne fu veue ne trouce. 

mollier auroiz tot si con uos agree. 
grans garison iert A chascun donee.” 
Borgueingnon l’oent; si li font escriee. 
puis li eserient & moult grant alenee 
“sire Girart, vez vo genz aprestee 

de vos aidier au trenchant de l’espee.” 
adon s’armeirent sanz nule demoree. 


la veissiez mainte targe doree, 


Philos.-histor. Kl. 1847. 


et tante lance, riche enseigne fermee, 
et tant destrier ä& la crope tiulee. 

li dus Girart a sa gent ordenee. 
paien entendent el fonz de la valee. 

Girart du Frate fu moult gentis et ber; 
einz ne deigna Sarrazin redoter. 
tote sa gent fist par rens ordener. 
de saint Morise fist l’enseigne fermer. 
ce se ne fie, puisqu'il la fet mostrer, 
qu’i ne conuiegne A bataille assembler. 
mes A& Charlon doi hui mes retorner. 
ne fu tius rois, iu prince ne tiu ber, 
qui miez seust sa terre gouerner. 
la soe gent auoit fet ordener. 

Ogier les baille et Naymon ä garder. 
“alez” dist il; “Jesu vos puist sauuer. 
secorrai vos sanz plus de demoreır. ” 
et cil responent “ce fait ä graanter.” 

As auangardes ä riche roi Karlon 
soixante mil Francois i a par non. 
Naymes ı fu, Ogier et Salemon 
et Tiorins, le seneschal Fagon. 
douze roi furent el Iıs roi, ce sauon. 
lä veissiez maint riche gofanon. 
bien sunt arme con nobile baron ; 

A plein cheuauchent ä coite d’esperon. 
Givart choisisent par de lez Aspremont, 
qui s’apareile d’aler encontre Hiamont. 
voient maint hiaume et maint riche penon ; 
cuident ce soient li Sarrazin felon. 

dist l’un & l’autre “voir la bataille auron.” 
li couart dient “si voist en A Karlon, 

qu’il nos face secors et garison.” 

“geu vos otroi,” ce dist roi Salemon. 

Dist Saleınon “car i alez, Richier. 
ge n’i sai homme que li rois ait plus cher. 
por diu li dites qu’il penst de l’esploitier, 
que maintenant face l’ost herbergier : 
car Hiamon vient, l'orgueillios et le fier: 
sor nos ameine moult merueillos tı .. ier 
de Sarrazin, cui diex doinst encombvrier. 
batallie aura, s’ıl ose commencier.” 
Richier respont “ne sui pas nouelier. 
se ie pert l’ame por le cors esparnier, 
don me puis ge mauesement proisier. 

o les apostres me veil hui herbergier, 


C 


18 BExKKER: 


en Paradis, oü bon fet delicier. 
querez un autre qui i voist por noncier. 

174foi que doi vous, ia n'en irai arier.” 
2 Roi Salemons apela Amauri, 
un ckeualier qui quens iert de Berri, 
qui moult iert preuz ; si out le cor hardıi. 
“alez ä Karle, sire, ge vos em pri; 
et si li dites qu’Hiaumon est pres de cı. 
de l’ost qu’il meine, et que ıl a basti, 
sunt ia li mont et li val reuesti.” 
“je n’ivai pas” li quens li respondi; 
“ge ne veoil pas mon cors aucir gari, 
ancois le uoeil por deu auoir affli 
et ledengie si comme i l’out por mıi. 
s’auraı mon chief em Paradis flori 
o les apostres qui bien ont dieu serui, 
ou toz iors a ioie [este et deli. 
qui que i voist, je remaindvat icı.” 

Roi Salemons apela Godeffroi, 
un cheualier otı moult out de boufloi ; 
quens de Boloigne estoit, si con ge croi. 
“car alez, sire, A Karlon nostre roi, 
et li dites, por deu ge vos em proi, 
que Hiaumon ameine sor nos moult grant conroı. 
viegne li rois; s’ameint sa gent o sol: 
car nos aurons, ce cuit. aspre conroi.” 
li quens respont “non ferai par ma foi. 

es ai bones et cheual et conroi: 

si ne ferai que granz cox ni emploi, 
et rendrai deu tot ce que ge li doi. 
l’ame et mon cors quitement li otvoi. 
por lui morrai: car i morut por moi. 
m . vos. . volez prendre corroi, 
dont i alez qui auez tel effroi.” 

Roi Salemons apela a estrous 
le due Antiaume qui fu sire de cors. 
“car alez, sire, por nos por le secors 
de Karlemaine, le fort roi coraious.” 
et cil respont “trop iestes peuros. 
ie n'ire pas par la foi que doi vos. 
ne place deu, qui nos gouerne los, 
que ie ja aje les fies ne les honors, 
de coi je uiue entre mes pers hontos. 
ge ne sui ge ä Karlon ne & vos, 
einz sui ä dieu le pere glorious, 


qui le suen cors mist por moi a dolors; 


et ie le mien metrai por lui toz iors. 

se de la mort volez estre rescous, 

dont i alez qui si estes doutos.” 

dist l’arceuesque “ge irai por vos tous 

moult volentiers. ne soiez si irous.” 
Li arceuesque enlendi la reson, 

que de l’aler s’airent li baron. 

il s’en torna A coile d’esperon. 

einz n’aresta, ne A val neä mon, 

deciqu’il vint deuant le roi Karlon. 

il le troua sor un paile grifon ; 

en une lance fermait un gofanon. 

et l’arceuesque l’en a mis ä reson. 

“dex beneie l’empereor Karlon. ” 

li rois respont par sens con yentius hon 

“sire arcevesque, dex vos face pardon. 

cil destrier a en vos mau compaignon ; 

sanglent li voi les costez enuiron. 

dites, biau sire, que font don mi baron 

et m’auangarde que deuant enuoion?” 

“par foi, biau sire, veu auons Hiaumon. 

tant a paien, n'est se merueille non. 

sor Aspremont en sunt 1a li penon. 

bataille aurez; ne uos en mentiron. ” 

et respont Karles “damledieu la nos don. 

tolir nos cuident ce que de deu tenon: 

mes par mon chief nos lor contrediron, 

ge veu ä dieu et son glorios non. 

feles soner mes granz cors de laton,, 


si ssarme l’ost entor et enuiron.” 


Chales quemande que l’ost soit tost armee; 


et il sı furent sanz nule demorce. 
quatre mil grelles i sonent la menee. 
la veissiez mainte broigne endosee, 
sor maint vert hiaume la uentaille fermee, 
maint haut baron ceindre sa bone espee. 
ä maint destrier fu la sele cenglee. 

li connoistable l’out moult bien ordenee. 
li roı sallı en la sele doree. 

li fiuz d'un duc a s’enseigne portee. 

son seneschal a tote l’ost liuree. 

einz roi de France n’out mes tele aunee. 
preng l'oriflambe que Lant ior as gardee.” 
tot em picant li a li roi donee. 


dist Fagon “sire, honor m’auez portee. 


Fagon” dist Karles,” voiz con riche asemblee:: 


le roman d’ Aspremont. 1 


or m’otroit diex qu’ele soil bien gardee. " 
175 Tant cheuaucha li bon roi Karlemaigne; 
” enuiron lui li baron de son regne 
et li Breton et la gent de Toroine, 
de Normendie, de Flandres, de Louiene, 
de Loherenne et de ceus d’Alemaine. 
cent mil furent A une vert enseigne. 
tant chenachierent le pui et la montaigne 
qu'a Salemon s’asembla la compaigne. 
Tant cheuaucha Karles l’empereor, 
ensemble o Jui maint bon conbateor, 
qu’ä Salemon assembleirent le ior. 
de l'ost parti Karles sanz nul demor. 
o lui auoit maint moult bon pognoior 
et li dus Naymes, son bon conseilleor. 
eing en i out, qui tot furent contor. 
Barlessnezarnd eg Er re 
EEE, vers la gen paienor. *) 
n’en connuit nul; s’en out eu pouer. 
“baron” dist Karles, “or n’i a autre tor. 
Sarrazin vienent; ie voi ia lä des lor.” 
Challes apele et Naymon et Ogier, 
le duc Fiauent et le duc Berengier. 
“seignor” fist ıl, “celer ni a mestier. 
vez ci paien; ge nel vos puis noier. 
bien sai que Hiaumon ne uoudra pas lessier 
qu'il ne viegne ses quatre diex vengier. 
vez le la ia seur ces tertres puier. 
sachiez de Hiaumont con voudra esploitier. ” 
lors veissiez ces Francois eslessier, 
les forz escuz contre les piez drecier. 
Girart du Frate les apereut premier. 
Clairon et Boeues em prist a aresnier 
et ses dos fiz et Hernaut et Renier. 
“baron” dist il, “des or seroit mestier 
que nos pensons de damledeu vengier. 
se vos ces quatire poez descheuauchier, 
estrangement vos em poez prisier. ” 
et cil responent “ce fet ä otroier.” 
ä ice mot lor vont A l’encontrier. 
Li quatre poignent ä ce sine fierement, 
contre Francois moult orguelliosement. 
Ogier choisi Clairon premierement, 


deuant les autres plus qu’un ar ne destent. 
vint l!’un & l’autre assembler fierement. 
Ogier feri Claron premierement: 
Vescu li perce ä la bougle d’argent. 
sa lance bruise; li trons volent A vent. 
et Claires fiert Ogier plus hautement 
sor son escu, qu’i li perce et porfent. 
fort fu laubere que mallie n’en desment, 
et rede fu la lance dont ıl fist leprient. 
et li cheual ne furent mie lent. 
ge ne di mie qu’Ögier chaut souent: 
mais A cele hore auint si fetement 
que ses cheuax glacha; n’en pout noient. 
Ogiers chai; ses cheuax ensement. 
et li duc Boeues qui moult out hardement, 
ala ferir le preu conte Flauent; 
et Flauent lui referi durement. 
ci dui chairent tres tol communement. 
Bueues reliue {res tot premierement, 
l'’espee trete o le pommel d’argent, 
et son escu par les enarmes prent. 
Flauent feri sor l’iaume durement. 
l’espee qu'il .. auques li porfent; 
si Je naura el chief moult durement, 
einz puis en l’ost ne porta garnement. 
puis en dura le hain longuement. 
Boeue en fu mort et ocis voirement, 
et tote France en fu puis en torment, 
el mainte dame em perdi son anflant. 
Naymes brocha, et li dus Berengier. 
Yun fiert Hernaut et Ii autre Renier. 
cil s’ entrefierent; n’ont soign de l’esparnier. 
granz cous se donent: car preu sunt et legier. 
tuit quatre chient lı vasal droiturier. 
cil qui aincois pensa du redrecier. 
adonc est Claires descendu contre Ogier, 
et lez Hernaut fu li quens Berengier, 
et li duc Naymes se tint apres Renier. 
la veissiez un estor commencier 
qui dut torner a mortel encombrier. 
Se lä fusiez Je ior sor Aspremont, 
deuant la tor que Girart li frans hon 
auoit tolue au riche roi Hiaumont. 


°) S. Fierabras S.1SAb. 


C2 


20 
li un escrie “Monioie la Charlon,” 
li autre escrie “Monioie Borguegnon.” 
IB Ogier apele li preu uasal Clairon, 
et dıst li dus “vasal, comme auez non?” 
“sire” dist il, “pas ne vos celeron. 
Claires ai non; fiz sui au duc Milon, 
nies sui Girart du Frate le baron. 
por dieu vengier en cest pais venon. 
et vos qui estes? dites moi vostre non.” 
“ge ai non Ögier; eisi m’apele en non, 
et sui hon Karle, li roi de Moulaon, 
qui m’a norriz toz iorz en sa meson, 
tres donques fui moult petit valleton.” 
Claires l’entent; si l’encline en parfon. 
Li dus Naymes, qui moult fit a proisier, 
son compaignon a apele Renier; 
et dist li dus “qui estes, cheualier? 
bien sez ioster; de ce te puez proisier.” 
“sire” dist il, “aceler neu vos quier. 
fiz sui Girart; si m’apele Renier, 
celui du Frate, l’orgueillios et li fier. 
vez la mon pere sus ce tertre puier, 
ou il atent Hiaumont et son empier, 
qui tant ameine de la gent lauresier. 
dieu ne fist home qui nes puist resogner.” 
“he diex” dist Naymes, “qui tot as ä ballier, 
glorios peres, toi pui ge gracier. 
de cist secors auions bien mestier.” 
lors se corurent acoler et besier. 
Soz Aspremontg. FuEa in. 
an: ..... en a maues matin.” *) 
Girart et Karles quant or sunt aprochiez, 
Lot li barnages en fu merueilles liez. 
et dist Girart “sire roi, cheuauchiez, 
et si soiez moult seurs et liez: 
car de soixante mil hommes haubergiez 
as noeues targes el A coranz destriers, 
de tant sera vostre criz eflorciez.” 
Karles respont, qui bien fu enseigniez, 
“sire Girart, ganz merciz en aiez.” 
Ce dist Girart li uiuz au peul mesl®. 
“sire emperere, trop auez demore. 
je vous ai ia Hiaumont desbaret£, 


BEKKER: 


et la tor ai par force conquest£. 
par lä irons: car ge l’ai esyarde., 
Sarrazin vienent; trop auons demore. 
Karles respont “se ge ere escoute, 
je vos diroie auques de mon pense. 
de plusors terres somes ci assemble. 
se uos n’ iesles lol por moi aune, 
si estes vos venus por amor d£. 
por ce le di; ne m’en saciez mau gre; 
que vos faciez de moi vostre auoe, 
tant que aiez ce iornel trespasse.” 
Girart respont “que mal n’i ait pense. 
ge l’otroi bien endroit moi de bou gre.” 

li roi l’entent: si l’en a mercie. 

Karles descent soz un arbre rame. 

isnelement a son cors adoube. 

il vest l’aubere qui fu roi Macabre, 

que il conquist de soz Tolose el pre. 

tote iert la maille de fin acier trempe, 
176 qu’ele ne crient dart ne branc acere; 
” tves tuit li pan en sunt sorargente. 

en son chief a un tel hiaume ferme: 

pieres i a qui ont tel poeste, 

ia qui le porte en champ o liu male, 

ne crient coup d’arme un denier monee, 

ne si n’a garde qu'il soit en champ naure. 

puis ceint Joiose au seneslre cosle, 

li pont est d’or; sil’ out on seel& 

de saint Denis et de saint Honore. 

qui l’a sor lui, ia mar ara doute 

c’on l’ait en champ honni ne uergonde. 

et puis li ont son escu aporte; 

la guige en fu de paile d'or roe. 

et Karlemaine l’a ä son col gete. 

le blane destrier li a l’en amene, 

que Balan ot par Naymon present£. 

Francois li ont richement atorne. 

frein ot a or richement Iresgele ; 

et li poitrax fu ä or estele, 

enuiron d’escheletes oure. 

quant li cheuax a un petit ale, 

l’or relenlist et a un son gelte: 

ne geu ne harpe n'i fusent escoul£. 


*) S. Fierabras S. 1735. 


le roman d’ Aspremont. 


et fu tres tot de fer acouete. 

eisi garni et eisi apreste 

ont il Karlon baillie et presente. 

li rois i monte, en cui ot grant firte. 

a son estriu rot cing rois encline. 

et puis li ont son roit espie liure; 

il fu de frene; si ot fer acere. 

evos li roi richement atorne. 

anges resemble du ciel ius deuale; 

ne semble pas cheualier emprunte. 

tuit li baron l’ont forment regarde. 

Girart apele Anseis faucheble 

et Herneis et son freire Maure 

et les barons qui lä sunt assembl£. 

“baron” dist il, “auez vos esgarde&? 

bien doit ci estre roi de crestiente.” 

dont a li rois dan Girart apele, 

et il s’en est tot droit & lui ale. 

moult belement l’en a Karle apele. 

“sire Girart, or est bien merci de. 

Agolans est en mon reaume entre, 

qui a mon regne essillie et gaste. 

puisque ge sui en mon cheual monte 

et en mon chief ai mon hiaume ferme&, 

si cit ior nez nos estoit eschapez, 

g’en deuroie estre escharni et gabez.” 

dist Girart “sire, vos dites verile.” 
“Droiz emperere,” ce dit Givart. li ber, 

“vez ci Hiaumont qui moult fet ä douter. 

tant a paien que nus nu puet nonbrer; 

que lot en voi cest regune acoueler. 

ge les voi ia de ce tertre aualer. 

il nos couient moult sagement ourer, 


qu'il ne nos puissent de ce champ eschaper. 


vostre auantgarde fetes hui mes crier 
et asprement ferir et assenbler. 

et vos apres n’aiez soin d’arester ; 

et ge irai ma gent reconforter. 

parmi ce val les en voudrai meneı; 
par de de lä ueul & eus assembler. 

se de dos parz les poons eserier, 

puis les ferons esmaier et douter, 

et ses porrons moult miuz desbareter. 


*) S. Fierabras S.185 a. 


qui & honor porroit ce ior passer, 
ja en sa vie nu deuroit oblier.” 
distPapostoile. Want 2 else 
een ner en. jderbienkferiniu) 
“baron” dist Karles, “trop poomes soffrir. 
ge voi paien aprochier et venir. 
alez encontre par le seint esperir.” 
“Baron” dist Karles, “or tot de maintenant. 
vez ci paien qui nos vont aprochant. 
deuisez moi mes eschieles deuant, 
que l’une ira apres l’autre ferant.” 
et il si fiert tost et isnelement. 
sept millier furent en corroi par deuant. 
rois Salemons les vet moult pres guiant 
a dos enseignes de paile flamboiant. 
en .iii. semblant vet li dragons maschant, 
et cil n’en font ne chiere ne semblant 
quil...a de retorner talent. 
En l’autre eschiele sunt quatorze baron. 
iceus conduit lı riche dus Milon, 
quens de Poitiers; moult estoit riches hon. 
et ses conduit Gondebues le Frison. 
la poissiez voir maint goffanon 
et maint hauberc et maint hiaume roont 
et mainte espee, maint escu & lion. 
or sache bien Agolant et Hiamont, 
ja n’auront France tant con ci dureron. 
La tierce eschiele fist moult ä resoignier, 
quant sunt arme; bien sunt quinze milier. 
si les conduit dus Naymes de Bauier, 
ensemble o lui li bons Danois Ogier, 
et auec eus li bons vasax Richier, 
don Karlemaigne fist ia son messagier. 
la veissiez maint hauberc doublier, 
tant hiaume ä or, tant espee d’acier. 
moult cuida bien Agolant esploitier 
qu’il passa mer por France chalengier. 
einz qu'il la puist A son eons desrenier, 
i morra tiex qui i fist commencier. 
La quarte eschiele cheuauche tot un val. 
Garin li bons, un fianc quens natural, 
li quens Antiaumes du chastel de Niual, 
rois Anseis la conduit tot un val. 


22 


vingt milier sunt li nobile vasal. 
lä veissiez maint mul et maint cheual 
et tant espee, lant escu Aa cristal. 
rois Agolant n’out mie bon consal, 
qui veut Karlon tolir son herital. 
mieuz lı venist, einz qu’il eust plus mal, 
qu’il retornast ä sa gent desloial. 
mes se diex plest, le pere esperital, 
hui en treront un doleros iornal. 
Vinte cınc mil furent el quint corroi; 
sı ot dos contes et un duc et un roı. 
lä veissiez maint bon hiaume ä paroi 
et mainte enseigne de poile et de bloi. 
trop par pensa Agolant grant desroi, 
qui cuida Karle desheriter, no roi: 
einz en girront soixanle mil tot coi. 
La siste eschiele ot trente mil escuz; 
li ro Drouns en fu guerre et dus 
li rois Brimox, qui est de Hongrie issus. 
trois rois ı oul des melliors esleus. 
li veissiez maint blanc hauberc vestus, 
et tant espee el tant hiaumes agus, 
tant bon destrier sor et baucein quernus. 
ci li ferront as brans d’acier loz nus. 
einz qu’Agolant soit a Paris venus, 
Hiamont ses fius, qui tant a de vertus, 
i aura tant des mors et des chaus, 
jamais n'iert jor qu'i n’ en soit irascus. 
La seme eschiele firent cıl d’Alemaine, 
de Loherene, de Pulle, de Romaine. 
roi Desier porta le ior l’enseigne, 
li dus Fagon l'oriflambe soueine; 
et auec eus furent ceus de Toraine 
et li Lombart et toz ceus de Toscane. 
soixante mil sunt en icele compaigne. 
177 c'est la bataille au fort roi Karlemaigne. 
\ Quant Karlemaigne out deuise sa gent, 
point par les rens; ses va reconfortant. 
moult belement les va aseurant. 
“or cheuauchiez, Francois et Alemant, 
Flamenc et Fris et Englois et Normant, 
cil de Tolouse et tot li Lohereut, 
li Angeuin, li Mansel, li Torant: 
car diex et ge vos serai bon garant, 
et vos espees, don bien trenche lı branc. 


vez ci les oz Hiamont et Agolant. 


BEKKER: 


tant een ia, et de diuers semblant, 

qu'il n'est homme qui les alast nombrant. 
mes ne soiez de riens redoutant. 
cheualier dieu soiez hui combatant: 

car ä tort vont nos honors chalengant.” 
ä tant s’en vet Karlemaigne plorant. 

et l’apostoile, par l’ost esperonant, 

le braz saint Jorge lor vet ä toz mostrant, 
enuolepe en un chier boguerant. 

de renc en renc en voit no gent seignant. 
“bon cheualier, or cheuauchiez auant, 
el si solez seur et conbatant. 

Paradis est ouert des l’aiornant; 

la nos atendent li anges en chantant. 
contre vos ames vont grant ioie menant.” 
adonc s’en vont Francois resbaudisant, 
et vont le pas l’un ä l’autre prenant. 

par ce seront lor ames ä garant. 

de roges croiz se vont tres tuit croisant: 
par ce ira l’un l’autre connoisant. 

lors demanderent lor eseuz aitant; 

les grosses lJauces vont contremont leuant. 
ä ces paroles lor vient Auffriquant, 
soixante mil el premier chief deuant 

A bones armes et A maint arc tralant. 
cors et tabors et timbres vont sonant. 
une tel noise uont entr’eus demenant, 
n'i oistent nes damledeu torant. 

deuant les guie li riche roi Balant. 

en son escu ot tel reconnoissant. 

troi lions d’or; petit est li plus grant, 

li quart des rois de la gent mescreant. 
des que les oz se uont entraprochant, 
l’or et l’azur en vet resplendissant. 

n’en i a nul tant orguellios Persant, 

ne tant hardi, ne de si grant bonbant, 
qui de poor ne remut son talent. 

hui mes orez un iornel moult pesant, 
don puis remestrent orphelin maint anflant. 
fir sunt li cri de la paiene gent; 

ä l’assembler i out grant noisement. 
sonent ci grelle plus de mil et sept cent. 
li set millier de la paiene gent 

murent tot droit vers la Francoise gent. 
c’est Anquetin qui les conduit deuant, 
Gieffroi et Hues. or lor soit dex aidant. 


le roman d’ Aspremoni. 23 


cit assemblerent tres tot premierement. 
destrier ont bon, qui ne uont mie lent, 
haubere et hiaume A or et ä argent. 

li troi baron poignent moult fierement, 

et li baron uienent moult durement. 

l’un uint vers l’autre moult orgueillosement, 
et nos Francois les hurtent asprement. 
maint en abalent et occient uiument. 
Balan feri si Huon de clauent 

qu'il l’abatı contre terre sanglent. 

ne l’ocit mie: car dex ne le consent. 

lieue la noise; si fremisse lı dent. 

la veissiez mortel encombrement, 

et tant paien contre terre sanglent, 

et tant vasal affoler cruelment, 

don mainte dame out puis son euer dolent; 
de dars, de lances itel aiostement, 

et des espees si dur chaploiement: 

einz ne uil on si dolereus torment. 

Grant fu la noise. or commence l'estor. 
de totes parz i uienent poigneior, 
bruisent ces lances sor ces escuz A or, 
vuident ces seles, vuident ces misoudour. 
la trebuchierent cheualier et contor, 
et moult i muert de la gent paenor. 

ä lor espiez fierent de tel vigor, 
pou en ı out au besoign nul mellior. 

Sor Aspremont fu moult grant lab... ıe, 
ou la bataille des Turs fu commencee. 
Crestien fierent de sus la gent haie. 
cil hiaume fendent, et cil clauen d’orbree. 
tant en ı chiet, n'est nus qui le vos die. 
se ne fust ce que des ars est garnie, 
tote fust morte la pute gent haie. 
mainte saiete ot sor Frans decochie 

ul . . . destriers ferue et estachie 

ER es tornast A la folie 

. . t une eschiele que Jesu beneie, 
qui bien eroent dieu, le fiz sainte Marie, 
que Karles out en sa terre norrie, 
vint assembler ä la gent paenie. 
A l’aioster l’out si bien envaie, 
paiene gent reculent une archie. 
ıa eussent Ja champaine yuidie, 
quant ci Balan les chaele et guie. 
sona un cor, les conforte et ralıe. 


Grant fu la noise et li eriz et li huz. 
Girart du Frate ne s’est mie arestuz. 
soixante mil de vasax esleuz 
auoit li ber as lances, as escuz, 

a bons destriers, A blans haubers vestuz. 
de sor le pui est & val descenduz, 
par deuers destre lor est sore coruz: 


ne remaindra qu’i n'i ait abatuz. 


Grant fu la noise et merueillos li ton, 
quant Girart vint en l’estor & bandon. . 
versent paien et tumbent el sablon. 
demie liue guenchisent li felon. 

Boeues et Claire lor meine tel tencon, 

quant qu'il encontrent, abatent u sablon. 
Claire feri li roi Dangolion. 

rois iert d’Aufrique; moult i out mal gloton. 
parmi le cors li mist le gofanon. 

mort le trebuche, qui qu’en poist ne qui non. 
Boeues rocist l’amarant Malaton. 

de deuant eus vuidierent maint arcen. 

et puis seescrie “or i ferez, baron. 

li droiz est nostre. se diex plest, si ueintron.” 

Boeues s’escrie, qui en dieu se fia. 
parmi l’estor forment esperona. 
fiert Nabugant roi que il encontra. 
rois iert d’Asbiesme, une terre de la. 

li rois Hiamont, qui durement l’ama, 
tote Borgoingne a uenir li donna. 

evos Girart qui la chalengera. 
brandist la lance et au deuant li ua. 

si le feri li dus et asena 

que son escu li fendi et perca, 

et le clauen li rompi et desmeilla. 
parmi li cors son espie li baigna. 

mort le trebuche, et puis s’en retorna. 
dist A ses hommes “ne vos esmaiez 1a. 
cent dehez ait qui james vos faudra. 
ge sui Girart, qui bien vos aidera, 

et damledeu bon garant nos sera. 

cil iert gariz qui en cest champ morra ; 
trop sera riches qui en eschapera. ” 

et cıl responnent “ne vos esmailez 1a. 
cent dehez ait qui jamais vos faudra.” 

Soz Aspremont, el fonz d’une valee, 
la commenca cele dure meslee. 


des le matin, que prime fu sonee, 


24 


desiqu’& none, que ele fu chantee, 

que li soleuz reuint & la vespree, 

don& i out mainte pesant colee. 

li chaus dura du lonc d’une loee. 

terre deliure ne fust pas tant trouee 
ol une mule peust estre establee, 
n’eust hauberc ou escu ou espee 

ou homme mort ou teste ensanglentee. 
Hiamont cuidoit France auoir conqueslee, 
mais einz qu'il l’ait asson eus aiostee, 
ne que sa teste en soit d’or coronee, 
de cele gent qu’ il i a amenee 

poi en ira en la soe contree; 

et nostre gent l’aura si comperee, 

po ot en France duchee ne contee 

ne remasist de seignor esgaree. 

a ceus des bers fu la terre aclınce. 

tant fort dura ceste pesme iornee 

que ior lor faut; se reuint la uespree. 
la bataille est par itant deseuree. 
paien s’en Lrestent loign une arbalestee; 
entr’eus et Frans out une grant cauee. 
Sarrazin ont lor ost eschargailee, 

et Crestien ausi la lor gardee. 

la nuit fu bele, et la lune est leuee. 
de nostre gent i ot moult de nauree, 
et de la lor occise et malmenee. 


En l’ost des Frans out cele nuit granz plors. 


li naurez getent granz criz et merueillios. 
li sain en font un sospirs angoissos 

por lor amis, dont morz i a plusors. 

li paien meinent d’autre part grant dolors. 
li auquant ont les braz et les mains ronz. 
dist l!’un A l’autre des Turs maleuros 

“he Agolan, trop fustes couoitos, 


173 qui voliez des Francois les honors. 


7”° mes li Francois ne sunt pas pereceos. 

einz qu'aiez France ne teigniez deuers uos, 

reseroiz vos de secors angoissos. 

ne puet remaindre, ne solez corecos: 

car Francois sunt de conbatre airox.” 
Entre les oz n’auoit c’un plein. 

n’en i out nul, ne cortois ne vilain, 

c’onques la nuıt maniast ne char ne pain, 

ne li cheual ne d’orge ne de fain. 

cil vassal gissent et trauellie et vain. 


BEKKER: 


li auquant tienent lor cheuax par le frein 
et tote nuit l’espee en l’autre main. 
Soz Aspremont, enz u fonz contre val, 
la nuit i gisent maint nobile vassal, 
qui par le frein tenoient lor cheual. 
li mort i gisent et A mont et & val. 
grant duel en meinent li baron natural; 
moult lor ennuie desiqu'ä l’eniornal. 
bien poez croire, n’i ot. ne iu ne bal. 
Cele nuit ont no Crestien vellie. 
li uiz Girart ot l’ost eschargaitie. 
n’i ol un seul, tant se fust aaisie, 
qui la nuit ait ne beu ne mangie, 
ne son escu de son col despendie. 
li naure sunt auques afebloie. 
lor cheuax n'ont ne beu ne mangie. 
Hiamon d’Aufrique ni a riens gaaigne: 
car de sa gent ii est si alegie, 
el champ en gist bien plus de la moilie, 
qu'ocis que morz, que naurd que plaie. 
et li sain sunt ia si fort esmaie, 
james el champ ne remetront le pie, 
se il n’i sunt par force rachacıe. 
Hiamon le voit: & poi n'est esragie. 
ses paien a toz ensemble aresnice. 
“fiz A putein, com m’auez engingnic. 
par vo conseil ai ge cetu meschie, 
don iames n’ere en cest siecle haitie.” 
don s’est Balant vers Hiamont aprochie, 
a son seignor errament respondie. 
“n’est pas meruelle, sire, s’esles irie. 
quant vos m’eustes A Karlon enuoie 
et ge ä vos fui arier reperie, 
lors m’ourent il en vo cort si iugie, 
a par un poi, li gloton renoie, 
que il ne m’ourent en vo cort foriugie; 
et lot auoient cest pais gaaignie. 
s’or en esloient un pelilet proie, 
a poi de uent l’auroient il lessie.' 
et dit Hiamon “tart m’en sui chaslıe. 
ce qui fet est, ne puet estre lessi£. 
se ge vif tant, bien en serai vengie. 
il et lor hoir seront desheritie 
et a grant honte de ma terre chacie.” 
A grant meruellie fu corecies Hiamon, 
quant voit tant Turs moız gesir el sablon. 


le roman d' Aspremont. 


dist a Balant “mai esploiti& auon. 

perdu auon Jupiter et Noiron 

et toz les diex en cui nos croion. 

se en cest ior recourer nes poon, 

ia en nul ior recourer nes poron, 

ne a nul ior Francois ne conqueron.” 

et dist Balan “ce ont fet li gloton. 

bien vos contai le message Karlon. 

se vos dis voir, or endroit le trouon. 

jamais la mer, ce cuil, ne passeron. 

loign est Aflrique; iamais n’i enteron, 

et ci Francois n’atendent se nos non.” 
La nuit trespase, et le ior aprocha. 

l’aube est creuee, et li soleuz leua. 

grems fu Hiamon, et forment s’aira. 

toz ses paien durement conforta: 

plus lor pramet que il ne lor dorra. 

ses granz eschieles li rois aparella: 

vingt mil en out lä ou il meins en a. 

sonent lor grelles, et Hiamon s’escria 

“car cheuauchiez; ne vos atargiez ia. 

vengiez vos diex, que ceus ont par de la.” 

et Crestien, qui furent par de ca. 

et Karlemaigne par l’ost esperona. 

toz les barons en deu reconforta, 

et ses conroiz l’emperere renia. 

prametent dieu, qui vif en estortra, 

ia en sa vie mes pech& ne fera; 

et sil le fel, penitance en prendra. 

a ces paroles Karles lor commanda 

qu’il esperonent; et il si feront ja. 

moult ot grant noise la ol ce rassembla. 
Francois cheuauchent contre la gent grifaigne. 

au commencier i out fiere bargaine; 

iamais n’iert ior que France ne s’em plaigne. 


175la veissiez une fiere compaigne 


v. 


et tel batallie qui fu fiere et estraigne. 
percent escuz et maint cheual de graine. 
ce ior 1 out perciee mainle entraigne. 

du sanc des cors est couerte la plaingne. 
heuos Hiamont sor un cheual d’Espaigne. 
il ot haubere de l’ueure de mitaigne, 

et hiaume A or, ol ot ueure soulaine. 


ID 
ou 


pierres i ot qui bien valent Bretaigne. 
espiez fresnin, el si ot grant enseine. 
de lui vengier ne qui pas qui se feingne. 
deuant paien vint tres tot une plaigne, 
et fiert un duc Antiaume d’Alemaigne. 
n’a si bone arme qui son cop li destraigne. 
parmi le cors son roit espie li baigne. 
mort le trebuche; ne li chaut qui le plaigne. 
empres rocist un moult riche chastaigne. 
tant i feri le Turc de pute cheigne: 
parmi le cors son roit espie li baigne. 
Triamodes vint poignant l’auancele. 
bien fu armez el destrier de Chastele, 
et vet ferir Gieffroi grise gonnele. 
l’escu li fause et l’aubere desclauele. 
l’espie li met tres parmi la mamele. 
mort le trebuche parmi outre la sele. 
Hiamon meismes, ä la targe nouele, 
tint Durendart, don trenche la lemele. 
sinos amort Garnier de la Tornele 
et Herneis et Renaut d Orbendele. 
li rois Brimox qui les Ongrois chaele, 
ä icel mot le grant duel renouele. 
“dix” dist Ogier,” con ci paien reuele. 
s’or nu requier, ne vail une cenele.” 
Ogier fu preuz; : 
ee que charbon en brasier.” *) 
a la retrete sı va ferir Ögier, 
a mont en l’iaume le cuida essier. 
li fers fu listes; si eschiua l’acıer. 
ne l’empoira, qui l’estut ius glacier. 
l’arcon deuant et le col du destrier 
a tot coupe au brant qui fu d’acier, 
que i couint li Danois trebuchier. 
Ogier saut sus, qui se uoudra vengier; 
et Anquetin, qui moult fist ä proisier, 
point cele part; le Danois uout vengier. 
mes Boidan lı uint & l’encontrier. 
li ber le fiert (n’out soign de l’esparnier) 
A ses deus mains d’une hache d’acier. 
tot le porfent desiqu’el chapelier. 
estor son cop; siu fet ius trebuchier. 
fiert ca et la en guise d’homme fier. 


*) S. Fierabras S.17Sb. 
Philos.- histor. Kl. 1847. 


236 BERKER: 


en cele eschiele n’out mellior cheualier. 
la gent Hiamont fet moult aclaroier. 

En Anquelin out moult hardı Normant. 
quant voit Hiamont et Ogier en estant, 
aidier li va; sı ferı Boidant. 
tot le porfent desiqu’es denz deuant. 
prent le cheual, Ogier vet escriant 
“montez, Danois; ne vos alez tariant”. 
et Ögier viut; si saut en l’auferrant. 
et Hiamont tint Durendart la trenchant. 
de sor son hiaume fiert le conte Elinant; 
iuqu’es arcons le va tot porfendant. 
isnelement salli en l’aufferrant ; 
puis suit Ogier A esperons brochant. 

179]a rasemblassent andui de maintenant, 
quant une fole se fiert entr’eus poignant. 
les departi: car la presse fu grant. 
garde lez lui; si vit un Alemant. 
onques nule arme ne li valut un gant: 
tot le fendi desiqu’es denz deuant. 
puis regarda son homme Boidant. 
en son language va Mahon creantant, 
ne croira mes lossengier souduiant, 
ne homme nus qui trop se voist vantant. 

Soz Aspremont, en la valee grant, 
Karlon i pert des melliors de sa gent, 
don damledieu fist son quemandement. 
erestiente ı perdi durement, 
etä Hiaumont reua moult malement; 
qu’ä chascun homme que il a or viuant, 
i gisent mort trois ou quatre el pendant. 
une loee tienent li mort gesant. 

n'i a de terre vuide demi arpent, 

n’ait Sarrazin ou Creslien gesant, 

hiaume ou escu ou espee trenchant 

ou bon destrier qui son seignor atent. 

Hiamon le voit; ä pou d'ire ne fent. 

tint Durendart qui si trenche forment. 

qui il consuit, de sa vie est noient; 

mort est enfin sor qui il la descent: 

car li paien a trop d’efforeement, 

et Durendart trenche trop malement. 

se rois Hiamon puet viure longuement, 
ocestra France, se diex ne la deflent. 

Grant fu l’estor; onques tel ne vit hon. 
conte vos ai du riche roi Hiamon, 


qui en l’estor fet tel destrucion. 

mes or oez de Girart le baron, 

qui se conbat d’aulre part en un mon. 

Beoues et Claires et Renier l’enffancon, 

ä grant merueille i fierent Borguengnon. 

ınes tant i out de la geste Mahon, 

contre un des nos sunt bien quatre gloton. 

voit le Girart; si s’apuie A l’arcon. 

de sa main destre s’apuie a son menton. 

de chaudes lermes li molle le guernon, 

et de sa bouche ambedui Iı forcon. 

“dex” dist Girart, “par lon sainlisme non, 

je vinge, sire, par vos en Aspremon. 

de tant france homme i a fet norricon, 

don je vos fis ier matin liuroison. 

ne vos en sai traire plus lonc sarmon. 

por nos morustes, et nos por vos morron. 

frans cheualiers, des or nos eflforcon. 

rendons ä dieu tot ce que li deuon.” 

et cil responnent “volentiers le feron. 

iln’ia plus, mes, or nos quemandon 

ä ceu seigneur qui soflri passion, 

qu'il nos garise de mort et de prison.” 
Girart cheuauche par le champ dolerous, 

cincante mil o lui de fereors. 

lä ou il tornent, font paien dolerox. 

mais qui soit liez ne qui que soit ioiox, 

Karles est moult dolenz et corecoux 

por ses amis qu’il voit des chies blox. 

plus de quatorze entre dux et contors 

ä lui acuerent alquant et li plus hors, 

qui li demandent “sire, que feronos? 

se or n’en pense Jesu le glorios, 

perdue iert France; mes n’i aurons recors.” 

moult en fu Karles dolenz et corecous. 

ne ia n’eust enuers paien secors, 

se ne fust dex et dan Girart le rous. 
Grant fu la noise, et li estor fu fier, 

et Crestien prennent ä esmaier: 

car la leur gent voient si empoirier, 

les eriz chaoir et la noise abessier ; 

et si s’en fuient par les chans estraier, 

ca dix ca vingt; n’i a homme en estrier. 

par deuant Karle evos le duc Gaifier 

de Lohereine, li enforcier Garnier, 

li dus Antoines et Sanses et Renier. 


le roman d’ Aspremont. 7: 


n'i a celui, tant se seust gailier, 

qui n’ait perdu son escu de quartier, 
son hiaume fraint, et coupe son espie. 
ne vienent pas, sachiez, de donoier, 
mes de l’estor de damledieu vengier. 
Karles les voit de l’estor reperier. 

lors a tel duel, le sens cuide changier. 
des euz du chief commence & lermoier. 
qui don l'oist a damledieu tenchier. 
“glorios dex” dist Karles au vis fier, 
“qui m’as done ce people ä iostisier, 

que ge voi ci deuant moi detrenchier 

a cete gent qui point ne vos ont chier, 
qui ne se veolent leuer et baptizier 

ne vostre non aorer ne proier. 

quant ge les pert par si grant enconbrier, 
moult vos deuroit, sire diex, ennoier.”” 
a ces paroles evos poignant Ögier, 

einc fers de lance el col de son destrier. 
l’escu qu'il porte, ne fu pas si entier 
qu’a nul france homme eust james mestier. 
ses hiames brun iert au brans detrenchier 
deuers senestre, fause l’aubere doublier. 
le sanc vermel en couint ä raier, 

que l’esperon en couint & mollier. 

en son poign destre Cortain son bran d’acier. 
dient Francois Alemant et Baiuier 

“en cetui a nobile cheualier.” 

Ogier parole, ou il n’out qu’airier. 

“he Karles sire, pensez de l'esploitier. 
or einz prismes un paien latinuer, 

qui lor couine nos sot bien acoilier. 
Hiamon ne deigne por son pere enuoier: 
ainz se leroit toz les menbres trenchier. 
et Sarrazin se ueolent esmaier. 

enuoiez tost au tref un messagier; 

n'i lessiez qui se puist aidier. 

vienent as chans por lor amis aidier: 
car s'il nos voient un petit esploitier, 

ja lor verrez la fuie commencier.” 
“Ogier” dist Karles, “bien fet & otrier; 
hastiuement 1 couint enuoier.” 

Par le conseil Ogier le fiz Gaufroi 
.ra.. .Karles Droon et Andefroi. 
“alez ä l’ost, seignor A grant esploi. 
dites lor tot que il viegnent ä moi. 


qui n’a destrier, si mont em palefroi, 
ou acore ä pie tot le sabloi.” 
et cil responnent “biau sire, & vostre otroi.’” 
a tant s’en tornent par le quemant li roi, 
et l’emperere cheuache o son corroi, 
a vingt mil homme, qu'i mena auee soi. 
Hiamon regarde parmi un brueroi; 
si a choisi l’oriflambe li roi 
et toz ses hommes qu’il auoit auec soi. 
dist li paien “trop grant meruelle voi. 
trop a en Karle orguel et grant desroi, 
qu’ä tant de gent se veut conbatre ä moi. 
trop me dist bien Balan ce que ge voi. 
fel soie ge, se james le mescroi.” 
Nostre emperere out moult le cuer dolent 
de sa mesnie que il voit mort el champ. 
a vingt mil hommes vint en l’estor poignant. 
fiert un paien qui ot non Moridant. 
V’escu li perce et le clauent li fent. 
parmi le cors li mist l’espi& trenchant. 
Karles trestorne; si referi Morant, 
un aumacor; cosin fu Agolant. 
el cors li bruise son escu en botant. 
puis tret Joios; ne sai plus riche brant 
fors Durendart; cele m& ge deuant. 
deuers Affiique rocit un Aflriquant. 
crie Monioie hautement en oiant. 
“or i ferez, france cheualier vailliant. 
defend& uos vers la gent mescreant, 
que nostre honor nos vont si chalengant.” 
Naymes le voit, li hardi conbatant, 
si l’a mostre Anquetin le Normant, 
Fagon li preu, Gaudin et Helinant, 
et as barons qui la ierent estant. 
“vez noslre roi, con il se va mostrant: 
ce poise moi qu’il se met si auant. 
se le perdons, nos n'i arons garant 
que nous ocient Sarrazin et Persant.” 
Ogiers et Naymes vindrent au roi poignant. 
moult belement le vont aresonant. 
“droiz emperere, por dieu le roi amant, 
ne vos metez huimes si en auant. 
se vos perdons, tiop remaindrons dolent. 
tant seron nos hardi et conbatant 
con nos sarons le vostre cors viuant.” 
Karles respont “de ce n’i a noient. 


D2 


28 


ja ne ruis viure tant con solez morant: 
car ensement m’ociroient Persant. 

ne place dieu, li roi de Belleent, 

que je eschape, se vos iestes failliant.” 


dont vet dus Naymes moult tendrement plorant., 


il et li autre, qui moult furent dolent, 
lors s’en tornerent d’ilueques maintenant. 
puis se refierent es Turs par mautalent. 
de ce dix mil n’i a nul seiornant. 
vingt mil paien ocient maintenant, 
qui tuit crioient Mahon et Teruagant. 
jusqu’a Hiameont s’en fuient tel sept cent. 
li plus en vont lor boiaus trainant. 
lor seignor voient; si li vont escriant 

A he Hiamont sire, veci no finement. 

 Atoi uenons: car nos soiez garant.” 
Hiamon l’entent; & poi d’ire ne fent. 
tint Durendart sa entese le brant 
tote mollie de si au poign de sanc. 
par la batalle vet tost esperonnant. 
fiert Anquelin, un preu conte vallian: 
Karles n’ot homme gueres miuz conbalant. 
li rois Hiamon le fiert par tel semblant, 
onques de l’iaume ne pout auoir garant; 
coife de fer ne li valut un gant. 
iuqu’as espaules le vet tot porfendant. 
oez merueille por dieu le roi amant. 
li cors chai; tant ala tornoiant 
que il reuint ariere en son soiant, 
ses mains tendues au ciel vers oriant. 
l’ame emporterent li ange en chantant. 
Karles le voit, qui bien fu dieu creant. 
he diex, que duel il en voit demenant. 
Dolenz fu Karles (onques mes ne fu si), 

quant il vil mort Anquetin qui chai. 
il le regrete. “tant mar fustes, amı. 
he sire dus, vos m’eustes norri, 
quant tot Ji mont A estros me fallı. 
por vos m’out en A Romme reculli. 
la vostre terre a la moie verti. 
onques nul homme mieuz autre ne serui. 
se onques diex de nule rien m’ oi, 
don li proi ge qu'il ait de toi merci.” 
don brocha Karles. un Sarrazin feri, 
por Anquetin iuqu’es denz le fendı. 
“Monioie” escrie; “cheualiers, ferez i.” 


BEKKER: 


et il si firent quant il l’ont entroi. 

li iosters fu de tot mis en oubli; 

as brans d’acier sunt li chaple verti. 

s’un pelitet se tensisent issi, 

Sarrazin fussent iusqu’ä poi departi. 
Grant fu l’estor, moult fist ä vesoignier. 

mes des messages vos redoi acomlier, 

qui sunt ale lor message noncier. 

vienent as tres, commencent A noncier. 

“or tost, seignor, venez Karlon aidier. 

soz Aspremont est en grant destorbier. 

et vostre ami en ont si grant mestier: 

se tost ne fetes, nient est du reperier. 

qui au besoign ne li uiendra edier, 

Karles li rois le fera detrenchier.” 

quant cil l’oirent, n’i voudrent atargier. 

as armes cuerent seriant et escuier, 

grant et petit, et vallet et huissier. 

nes li naure& vont lor plaies lier. 

es palefroi monta qui n’out destrier 

chascun s’arma qui miuz poist esploitier. 

qui n’a espee, baston quiert ou leuier, 

pesant machue ou grant d’acier, 

perches de isier 

coupent et tendent doblier 

goffanon font por paien esmaier. 

en Rollandin ne fu 

Haton apele G et Berengier 

“baron” dist il, “pensez de l’esploitier. 

or verrai ge certes qui m’ara chier.” 

Rollans saut sus en un sommier; 

ä son col prist un grant pel de quartier. 

cort aval l’ost; si commence A huchier. 

“or tost, baron, pensez de l’esploitier. 

ge serai hui vostre goflanonier.” 

dist !’un A l’autre “eist hon sera moult fier 

et orguellos por estor commencier.” 

du tref s’en issent tel quarante millier. 

toz sunt meschin et bachelier legier. 

ne faudront Karle por les menbres trenchier. 

et Rollandis tot tens el chief premier; 

de ioste lui Haton et Berengier. 

diex, con il pensent d’errer et d’esploitier. 

Hiamon d’Aufrique cuida bien esploitier, 

qui lor cuida deu fere renoier 

et Mahomet et orer et proisier, 


+ 


le roman d’Aspremont. 239 


qui ne vaut mie le monte d'un denier. 

en cest message ne me weil plus targier. 

de la bataille vos doı bien acomter, 

de la grant noise et du grant destorbier, 

et de Girart la chancon commencier, 

celui du Frate, l’orguellios et le fier. 
Or fetes pes, seignor, por dieu amor: 

Je dan Girart dirai, le poignoior, 

celui du Frate, le bon tornoior. 

n’asembla mie as gens l’empereor; 

mes ou Hiamont fist tenir s’oriflor, 

lä vint Girart; o lui maint poignoior. 

cine mil estoient ensemble d'un ator. 

180 dıx mil estoient de la gent paienor. 
” ]i dus Girart les assalli le ior. 

diex le maintiengne, le pere criator, 

que l’estandart conquist par sa valor. 
Girart se fiert einz el conroi Hiamon. 

soixante mil sunt o lui Borgueingnon, 

li Griuoudain entor et enuiron. 

or le gart diex par son saintisme non 

que ne l’ocient li Sarrazin felon. 

Girart parla et cria & haut ton. 

“or m’entendez, et Claires et Beouon, 

Renier, Hernaut et tres tot mı baron. 

ne sommes mie lA ou nos solion. 

s’un mien uoisin mouoit vers moi tencon, 

tant aloit l’eure que nos racordion, 

ou geu metoie, ou il moi, em prison. 

si m’achacoit ä coite d’esperon, 

ge reuenoie la nuit a ma meson. 

mes ci paien olı nos nos conbaton, 

se il nos chacent, dites ou nos fuiron. 

nos sommes pris quel part que nos tornon. 

iln’i a plus, mes or nos commandon 

a ceu seignor cui baptesme tenon, 

qui toz nos fist quant encor n’estion. 

si vraiement con sofl'i passion, 

nos defen hui de mort et de prison.” 

ä ice mot que ci nos vos dison, 

li dus Girart a brochie l’Aragon, 

brandist la lance destor le gonfanon, 

fiert un paien qui Maucabre out non. 

Vescu li perce et l’aubere fremillon ; 

en deus li part le foie et le poumon. 

entre paien l’abat mort de l’arcon. 


“Eufrate” crie, “or i ferez, baron. 
li droiz est nostre: se diex plest, si veintron. ” 

Girart du Frate s’est en haut escriez. 
“ferez, seignor; onques n’i arestez. 
un don vos ruis; ge veil queu me donez: 
cel estandart Hiamont car mer rendez. 
geu veoil auoir: tex est ma volentez. 
se vos ne fetes, ves vos desheritez.” 
dient si homme “est no sire deuez. 
ce nos demande ou n’auons poestez. 
se dex nu fet par se saintes bontez, 
encor sera cist plet A mal tornez: 
car tant i a de Sarrazin armez 
qu’ä moult grant paine les aroit en nonbrez. 
plus de cent mil en i a d’aprestez.” 

Et dist Girart “Claires, alez auant, 
Beuoue, Renier et Hernaut, mi enflant. 
cel estandart vos requier maintenant. 
se vos ne fetes, dirai vos mon semblant. 
se ge en Borgoigne sui iamais reperant, 
de toz vos fiez ne vos lerai plein gant. 
desheritez en ierent vostre anflant.” 
dient si homme “Girart se va desuant, 
et nequendent fere estuet son commant. 
sonnent ci grelle, et rehurtent auant. 
tant ont feru et ariere et auant 
que l’estandart vont si aprochant 
qu’en ı porroit d’iluec geter un gant. 
rois Maragons et li rois Esperant, 
qui l’estandart auoient en commant, 
quant voient, Frans les vont si aprochant, 
grant poor ont quant les vont perceuant. 
li uns ä l’autre le vet soef mostrant. 


“bien nos dist voir li message Balant 


que Crestien ierent preu et vailliant 

et en bataille hardı et conquerant. 

trop est Hiamon orgnellios et proisant, 
qui se conbat sanz son pere Agolant. 
on tel outrage ne fist mes tel enflant. 
fust ci lı roi o tot le remanant, 

vencuz fust Karles; ia n’en alast auant. 
France eusons tot A nostre commant. 

ja ne verra einz vif soleil cochant ; 

de son orgueil porra voir semblant. 
cete folie nos iert aperissant. 

moult nos deuons tenir por non sachant 


30 BEKKER: 


qu’ä l’estandart auons demore tant. 
que feson nos que n’en alon fuiant?” 

A l’estandart sunt paien esperdu, 
quant ont Girart le viel aperceu, 
tote sa gent qu’apres Jui sunt venu. 
dist !un & l’autre “trop auons atendu. 
vez l’estandart iuqu’ä petit perdu.” 
Girart du Frate li hardı conneu 
a vois s’escrie “nies Claire, que fes tu? 
Beuoue et Renier et Hernaut, ou es tu? 
et mi baron qui 0 moi sunt venu. 
se ne m’auez cel estandart rendu, 
ne vos doi mes amistiez ne salu. 
131! ne ja par moi, foi que je doi Jesu, 
* ne seroiz mes en estor maintenu.” 
quant Borgueingnon ont Girart entendu, 
dedenz se fierent; n’i ont plus atendu. 
as brans d’acier i ont maint cop feru, 
qu’&a une lance en sunt ia pres uenu. 


Grant fu la noise; les prez font retentir. 


li Borgueignon s’i font tres bien oir. 
lestandart veolent as Sarrazin tolir: 
s’il le poient enuers eus retinir, 

petit porroient puis Sarrazin garir 

ne la bataille endurer ne soffvir, 

que iuqu’ä pou nes estuise fuir. 

lä veissiez fier estor maintenir, 

paien verser, trebuchier et chair. 

les genz Girart sorent tres bien ferir. 
tant ont feru que pres sunt du sesir. 
einz Sarrazin ne se pourent tenir. 

la veissiez maint hauberc desartir, 
maint Sarrazin parmi le cors ferir, 

et maint cheual sanz son seignor foir. 
Girart escrie por sa gent esbaudir. 

“ mi france baron, or pensez du souffrir. 
se ci morez, vous seroiz tuit marlır. 
auec ses sainz vos fera diex seruir, 

en Paradis coroner et florir. 

illec arez tres tot vostre desir.” 

dist Esperans et Maargons de Tir 
“nos ne porrons plus l’estandart tenir. 
vez le perdu; nos en couient fuir. 
Hiamon no sire nos met el couenir. 
tant puet li hons son seignor chier tenir 
que il i pers quant vient au departir.” 


ä ice mol ne pourent plus soffrir. 

tornent les regnes; si pensent de fuir. 
Fir sunt li criz, et li estor pesant. 

Girart s’escrie “"Borguengnon, or auant. 

li Griuodain mar iront detriant. 

cil de Cosence, qu’alez vos demorant? 

li Auernat mar alez deloiant. 

cel estandart me rendez maintenant.” 

et cil responnent “vos l’aurez, sire, esrant.” 

lors se refierent as Sarrazin auant. 

rois Maargon et li rois Esperant, 

qui l’estandart auoient en commant, 

tornent les regnes, et si s’en vont fuiant; 

l’estandart lesent en mi le pre estant. 

li Borguengnon l’ont sesi maintenant. 

li duc Girart i meinent pie estant, 

et si neueu l’ont desarme& errant. 

“sire” font il, “or auez uo talent.” 

Girart respont “grant merciz, bel anfant. 

or ne plain mie que vos ai norri tant. 

j'ai este fel: mes or vos ferai tant 

por ce seruise, se sommes reperant, 

tot mon tresor vos irai deliurant.” 

Girart fu las qu'il out conbatu tant; 

parmi le nes li vet le sanc reant. 

plourent si homme, et le vont regretant. 

et dist Girart "ja n’en alez plorant. 

ce est por deu que nos soffrommes tant. 

remontez tost, et si ferous auant. 

querons Hiamont que ge miez ne demant. 

Jesu de gloire, li roi de Bialiant, 

nos iert A toz huimes ior bon garant. 

le cuer me dit que nos veintrons le champ.” 
Grant fu la noise, l’estrif et le content. 

l’estandart out Girart tot voirement. 

grant noise i a et grant bateclement. 

Karles l’oi; si regarda sa gent. 

Ogier apele, et Naymon ensement. 

“j’oi moult grant noise en ce tornoiement. 

li viel Givart se conbat moult forment. 

se ge le pert, moult remaindrai dolent.” 

et dan Girart ne s’ataria noient: 

il en apele des suens desiqu’ä cent. 


“cel estandart prenez isnelement. 


ä Charlemaigne, enuers qui France apent, 
de moie part li fetes un present. 


le roman d’ Aspremont. 31 


et si li dites qu'il ne s’esmait noient: 
car ci paien vont moult afebloiant.” 
et cıl responent “tol A vosti'e commant.” 

Cil s’en tornerent ä coilte d’esperon 
qui de Girart ont la quemandoison ; 
vienent A Karle le pas et le troton. 
salue l’ont; si l’ont mis & reson. 

“diex beneie l’empereor Karlon. 

de part Girart un present li feson 

de l’estandart au riche roı Hiamon. 
paien affoiblent; nos n’auon se bien non.” 
“he dex” dist Karles, “par ta beneicon 
gardez Girart de mort "et de prison. 
baron” dist Karles, “entendez ma reson. 
saluez moi Girart le Borguengnon, 

et si li dites que nos l’en mercion. 

se dex ce donne par sa beneicon 

que ge repaire en France ä Monloon, 
ge l’en rendrai tres bien le guerredon.” 
li mes l’entendent; merueilles li fu bon. 
“sire” font il, “a vo conge iron.” 
“affant” dit Karles, “a dieu beneicon, 
qu’i vos garise el Girart le baron.” 

et cil retornent ariere A& la tencon, 

ou Hiamont iert A la deffension. 

de l’estandart ne seit ne ce ne non: 
quant le saura, moult iert en grant fricon. 
Durendart tint, et fet grant marvison. 
fiert sor Francois en guise de felon; 
tant en ocit, n'est se merueille non. 

ce ior a fet dolent maint bon baron. 

par la batalle vet poignant de randon. 
un Franc encontre, qui fu ne de Loon. 
de Durendart, don ä or est li pont, 

l’a porfendu desiqu'einz el menton. 

fiert ca et la si comme deuez hon. 

eui il consuit, n’a mestier de poison. 

A grant meruelle fu Hiamon bien armez; 
tint Durendart, don li pont fu dorez. 
Triamodes l’en a aresone. 

“par foi, Hiamont, trop par as mal erre 
quant sanz ton pere les A Karlon melle. 
ä moult grant blame voir vos sera torne: 
car ci Francois ne sunt mie emprute. 
bien nos chalengent la lor grant herite. 
ia ci damages n'en iert mes reslore. 


perdu auez du mieuz de vo barne. 

et car soit ore vostre olifant sone. 

li rois l'orra A Rise la cite; 

secora vos: la n’en iert Lrestorne. 

ou se ce non, mal sommes atorne.” 
Hiamont l’entent; si l’en a regarde. 
“Triamodes” respont par grant fierte, 
“par Mahon, oncles, il est bien auer& 
quant que Balant m’a dit et deuise. 
vos vos solez vauter em mon regne, 
qui vos auroit outre la mer passe, 

se vos trouiez Karlon en champ mesle, 
por vo cor seul le m’auriez liure. 
mauuesement le m’auez auere, 

qui dites qu’aie mon olifant sone. 

vos et li autre m’auez mal enchante, 
qui prametez ou n’auez poeste. 

mes s’en Aufrique sui james retorne, 
et vos et il seront desherite. 

j’ai pieca A Mahomet voe, 

ja por Francois n'i ara cor sone. 

ia voir n'istra mon ami reproue 
qu’on en ma uie aie fet mauestE.” 

es un paien cerant tot abriue. 

de son escu out un quartier cop&, 

de son hauberc ot un pan descire. 

le sanc li iest tres parmi le coste. 

sa regne est route et le fust troncone. 
forment pert bien qu’en estor out este. 
ou voit Hiamont, si l’en a escrie. 
“que vos diroie? tuit sunt desbarete. 
vostre estandart en ont 0 eus men&, 
et si l'’ont ia & Karlon presente.” 
Hiamon l’entent;; si l’en a regarde; 
de mautalent a tot le sens mu£. 

“tes toi” dit il, “lechierres nature. 

ce n’est pas voir que tu m’as ci conle, 
que Francois aient si fetlement oure: 
car s’il estoient de fin acier trempe, 
n’auroient il enuers moi poest£. 

eil A qui (’ai mon estandart liure, 

le me rendront par Mahomet mon de.” 
et cil respont “c'est Lres tot trespase; 
de l’estandart vos ont il deliure. 

rois Maargons s’en est fuiant torne, 
ei Esperans est en apres ale.” 


32 


Hiamon l’entent; por poi qu’il n’est desue. 
moult dolenz s’en est desconforte. 
tint Durendart, son riche brant letre ; 
por lui venger est en l’estor entre. 
Mahomet iure c’or iert guerredone. 
fiert Priuorant, un cheualier membre 
de la mesnie Salemon le barbe. 
ä mont en l’iaume l’a sı bien asene, 
tot li trencha quant qu'il a encontre. 
jusqu’en la sele a Durendart cole. 
se li destriers ne se fust trestorne, 
Hiamont l’eust tres par miliu cope. 
li tierz fendi iuqu’en mi le baudre. 
152 de nostre gent a tel essart mene, 
r. 
devant lui fuient: car moult l’ont redote. 
A voiz escrient “Karles, ou es al&?” 
se ci deables vit longues par a6, 
tuit serons mort; ia n’en iert trestorne. 
France iert perdue ä tres tot nosire ae.” 
A ice mot, que il out tant crie, 
evos Ogier, qui ce out regard&, 
de Danemarche le preuz et le sene. 
conbateor out en lui esproud; 
ıniudre de lui ne fu adonc troue. 
tint un espid trenchant et afıle. 
“dex” dist li dus, “par la toe bont£. 
cist Sarrazin nos a hui tant greue. 
une autre foiz l’ai ge hui encontre. 
se nu requier, done aie mau dehe.” 
point le cheual; si l’a esperon&, 
et fiert Hiamont qui ne s’en a garde. 
sor son escu li a tel cop done 
qui tot enuers le trebucha el pre. 
hauberc a bon, quant ne l’a dessafre ; 
que Durendart li a du poign cole. 
Ogier saut ius du destrier abrieue; 
prendre la cuide. mais Hiamon l’a haste; 
reprent s’espee, Ogier a escrie. 
“par mon chief, gloz” dist Hiamon le fae, 
“de vo cheual mar iestes desmonte.” 

A grant merueille fu coreciez FHiamon, 
quant voit tant Ture mort gesir el sablon. 
reprent s’espee, lieue soi contr’e mon. 


BEKKER: 


dist A Ögier “or te tien por bricon, 

qui contre moi te mez si a bandon. 

or est bien droiz que aies gueredon.” 

il passe auant ä icete reson, 

et fiert Ogier sor son hiaume reon. 

li dus guenchi; li cous va par enson, 

ne l’empira vallissant un boton. 

mes de l’escu li coupa un cornon, 

reist li Ja chauce moult pres de l’esperon. 
Ogierifuiprenzs ll 

ee. ienifornes’abitasee.iH) 

Ögier fu fier; out la chiere membree. 

estent le brant; si l’a 4 mont leuee, 

et fiert Hiamont. tele li a donnee 

ä mont en l’iaume, en la cercle doree: 

se Hiamont n’eust la teste trestornee, 

jamais & Karle n’eust ior fet iornee. 

sor son escu est l’espee colee. 

tot li trencha si comme ele est alee; 

mainte grant bende de fer en a coupee. 

pres de la jambe de la chauce doree 

en a cent mailes de l’espee copee. 

desiqu’ä terre en est ä val alee. 

s’ele fust longue, ja i fust bien entree. 

Hiamont la voit; si l’a moult redotee. 

dist ä Ogier “bone m’auez donee. 

bien te connois A cele corte espee. 

toz soit honiz qui tele l!’a trempee. 

une autre foiz fui o toi A meslee. 

tu ies prodon, ne te ferai celee. 

se moi et toi volions l’acordee, 

que tu lessasses la loi crestienee, 

de Femenie t’estroit l’enor donee; 

roi te ferai, corone el chief fermee, 

quant ge aurai tote France aquitee. ” 

“voir” dist Ogier, “onques n’en oi pensee. 

en moi et vos n’aura ia deseuree; 

si aura l’un einz la teste copee. 

se ge i mur, ferai bone iornee: 

em Paradis sera ma vie posee. 

mes se tu muers, la toe estra dampnee: 

car li tuen dex ne vaut une derree.” 

“voir” dist Hiamont, “or est ta mort ıuree.” 


*) S. Fierabras S.179a. 


1 


le roman d' Aspremont. 


Que que Hiamont vet Ogier manecant 


et il estoient illeques pie estant, 
evos Naymon et Salemon poignant, 
le duc Fagon, Gaudin et Elinant, 


en lor compaignes mil hommes conbatant. 


Ogier rescoustrent, le preuz conte vailliant ; 


82 si li ameinent son destrier afferrant. 
de totes pars vont Hiamont auironant. 
il li demandent. .... 

. tot li .mont apendant. *) 

mes Karlemaine la me vee et deffent. 


si ne fust honte ä moi el ä ma gent, 
mande euse & Rise lä deuant 

tot le secors qui lä vet seiornant. 

il sunt moult plus par le mien escient 
que amenai auec moi en cest champ.” 
dient Francois “dex, soiez nos aidant. 


qui cest riche homme auroit en son commant, 


bien en poroit Karlon fere present; 
n’estroit nul ior que n’en fussons auant.” 
a ice mot leissent Jor parlement. 
Hiamont assaillent et deriere et deuant. 
mes li paien a moult le cors puissant. 
entre ij euz pleine paume tenant 


tret Durendart don bien trenche li brant. 


eui il consuit, ne puet aler auant. 
et ne porquant ne li vausist naient, 
ne fust Aufrique qu'il va escriant. 
auant i uint roi Moisant poignant, 
Salatiel un moult riche amirant, 
Cador d’Egypte li percreuz li grant, 
Triamodes et li forz roi Balant, 

et Sarrazin plus de mil et sept cent. 
la veissiez un estor moult pesant. 


Hiamont rescostrent: car il en i out tant. 


et son destrier li liurent maintenant. 
A la rescosse du riche roi Hiamon 

vindrent li roi brochant ä esperon. 

Triamodes vint & la cortencon 

et fiert du Miles sor l’escu ä lion, 

que il li perce l’auberc et l’auqueion 

et ses samnis et l’ermin pelicon. 

par mi le cors li mist le gofanon, 


183 


Tr 


que la boele en chit einz u sablon. 
Triamodes se mist el reperier. 

qui li veist sa lance paumoier, 

qui ne pooit ne fendrre ne ploier ; 

iusqu’as espalles l’out fet en sanc baignier. 

le duc Milon nos a mort el grauier. 

a voiz s’escrie et commence ä huchier. 

“he Hiamont sire, pense de toi vengier. 

james ci dus ne nos merra dangier, 

ne ne vendra contre toi guerreier.” 

a tant evos apoignant Berengier. 

troue son freire gisant mort seur l’erbier, 

li dus Milon qui tant fist & proisier. 

quant il le voit, le sens cuide changier:: 

s’or ne le venge, iamais ne s’ aura chier. 

qui le veist l!’escu au piz sachier, 

la grosse hanste tenir el paumoier. 

Triamodes feri & l’encontrier. 

einz li paien ne se sout si gaitier 

que son espie ne li face baignier 

par mi le cors et derrier essauier. 

lant con tint lance, la fet mort trrebuchier. 

outre dist il “dex te donst encombrier. 

mort m’as mon freire: or en as ton loier.” 
Triamodes gist, mort en mi le champ. 

Hiamont le voit; s’en out le cuer dolent. 

en son langage le vet moult regretant; 

des elz du chief le pleure tendrement. 

li alquant uont de sor le cors pasmant ; 

entre lor braz le portent trainant. 

es desrengiez et Richier et Morant. 

l’un sist el bai et l’autre el baucant. 

Morant fiert Macre d’outre Jerusalant. 

parmi le cors li mist l’espie trenchant; 

mort le trebuche deuant lui el pendant 

et Cibrichier et..... 

cosin Hiaımon et neueu Agolant 

lesemalipier- gg 

d...äpieli fer trespasse ... ant 


montant, 
. aubere iazerant 


que la poitrine fiert le poign et le gant. 
estort son cop, mort l’abat maintenant. 
puis lor a mort Cador et Modulant. 
sept en a mort Lres tot en un tenant. 


*) S. Fierabras S. 171a. 
Philos.- histor. Kl. 1847. 


E 


34 


el Vapostoile, qui bien fu dex creant, 
quant voit Richier vet si Turs grauentant, 
leua sa men, de deu le ua seignant. 


“dex” dist il, “peres, cest homme vos quemant. 


garissiez le: car mestier nos a grant.” 


Quant Hiamont voit ses bons amis morir 


et voit des suens la champaigne courir, 

tel duel en a, le sanc cuide marir. 

dist A Balan “ que porron deuenir? 

moult voi no gent mater et dechair; 

la s Karlon ne la porrons garir. 

ceus qui me firent hors de ma terre issir, 

par qui cuidai ma bessoigne fornir, 

voi deuant moi detrenchier et morir.” 

“voir” dıst Balan “merueilles puis oir 

que ge vos voi de si poi esmarir. 

rois qui tant tient con vos deuez tenir, 

et qui volez Karlon France tolır, 

ia de gaaign ne deuez esbaudir, 

ne de grant perte ne deuez esbahir. 

celi deuez tot vos conseil gehir 

qui ast vostre terre A tenir. 

ge fui en France vo bessoigne fornir. 

bien m’apercui aincois le reuenir 

que Francois n’ierent mie gent por matir 

et qu'il estoient de merueillos air. 

il n’erent mie gent por espeourir. 

ou ci viuront ou cı voudront morir. 

vostre olifant ne deignastes tentir. 

tart en irons sempres au par issir.” 

Hiamont l’entent; si a fet un sospir. 

prent l'olifant, ne puet mes consentir ; 

sı l’a son& par merueillos air. 

Rise fu loign, ne le puet en oir: 

mes il a fet les fuianz reuertir, 

quant l’olifant oirent retentir. 

don commenca la noise A renforcir 

et la bataille du tot A veuenir. 

se dex 

li Crestien cui dex plust garantır. 

contre un des noz, ce saciez sans menlir, 

sunt bien cine Turs de Damas et de Tir. 
Hiamont fu grius et soupris de dolor. 

son olifant sona par tel vigor. 

trop fu loign Rise, la grant cite maior: 

neu puet oir Agolant l’aumacor, 


BEKKER: 


ne les grahz oz qui lä ierent entor. 
mes li fuiant pristrent tres tuit relor. 

ä l’assemblee i out si grant dolor, 
onques nul hon ne vit tel A nul ior. 
moult en i chiet et des noz et des lor. 
sonent ci grelle, ci cor et ci tabor. 
grant noise meinent cheual et nussoudor. 
et l’apostoile va criant par l’estor 
“tenez vos bien, nobile gent Francor. 
rendez vos tuit & dieu le criator, 

qui nos trest hors de la grant tenebror. 
qui en cest champ sera bon fereor, 

toz si pech&, le grant et li menor, 
soient sor moi: car or sommes au ior." 

Grant fu la noise et meruellios li hu. 
evos Ogier d'une batalle issu 
d’entre paien, ou moult s’out conbatu. 
il sist u bai qui de Chastele fu, 
que il auoit l’amuafle tolu, 
sa lance frainte et tolu son escu. 
sans et poudriere l’ont si desqueneu 
que nus nu voit qui l’ait reconneu. 
et Sarrazin l’ont si pres porseu 
qu’il ne seuent se il eroit en Jesu 
por Crestiens don esloigni se fu. 

Li dus Ogier cheuauche fierement, 
par la bataille s’espee paumoıant. 
Salatiel voit venir chaploiant 
par la bataille et nos genz domaiant; 
et tenoil l’arc de cor moult bien traiant. 
ves ses saieles n’a nul homme garant. 
morz est enfin de cui il en tret sanc. 
“dex” dist Ogier, “biaus peres, roi amant, 
con ai grant duel que ci glout dure tant.” 
il s’abessa, prist un espie trenchant 
en mi sa voie, ou le troua gisant. 
encontre mont leva le fer luisant. 
au Sarrazin est venu par deuant. 
l’eseu li perce et l’aubere iazerant; 
par mi le cors li mist l’espie trenchant. 
mort le trebuche du destrier remuant. 

Par mi l’estor e Nayme de Baiuier. 
bien fu armez sor Morian son destrier. 
n’a beste en l’ost plus fort ä estanchier, 
ne cheualier, meins se sache esmaier. 
fiert un paien, ne uout mie espernier. 


le roman d’ Aspremont. 35 


de soz la bougle li fet l’escu percier, 

le blanc haubere rompre et desmeillier. 
par mi le cors li fist le fer glacier; 
mort le trebuche de l’auferant destrier. 
don commenca li criz A enforcier 

et la bataille du tot A commencier. 

Grant fu la noise et li cri et li brin, 
quant ä l’estor reuindrent Sarrazin. 
tuit s’esbahirent, Francois et Sarrazin 
et Loheren, Normant et li Morin. 

Karles meismes en tint le chief enclin ; 
tenca ä dieu si con fust son voisin. 

“he dix” dist Karles, “qui d’eue feis vin 
et conuerlis saint Pol et saint Fermin, 
souflervez vos de vo gent tel train 

que vostre loi soit ä paien enclin? 

se de ce champ traien paien & fin, 
iamais en France n’orra messe A matin, 
einz m’ocirai A mon brant acerin.” 
adonc plorent maint riche palain. 

au duel qu'il meinent et au pesant hutin 
es Andefroi apoignant le chemin. 

ou qu'il voit Karle, si s’escrie & haut brin 
“que te dementes, Karles le fiz Pepin? 
ne t’esmoier de la gent Apollin. 

secors le vient, mes n'est mie frarin, 
en un conroi quaranle mil meschin. 

n'i a un seul tant poure miserin 

qui n’ait enseigne ou de soie ou de lin. 
el premier chief ton neueu Rollandin 
et Berengier, Haton et ton norin. 

ceus conperront li cuuer Bedoin.” 

Quant Karlemaigne Andefroi en entent, 
qu’ä lui secore venoient si anflant, 
quarante mil arme en un tenant 
ä peis ä armes et ä maint arc traiant 
(coutiaus et haches et pestraus vont portant. 
et de venir se vont forment hastant), 
deu en mercie, nostre pere puissant. 
greignor merueille out Karles de Rollant, 
de Berengier, de Hatonet l’effant. 

“he dex’ dist Karles, “biau pere, roi amant, 
ge les euidoie en France lä deuant. 

quex bon eurs les va ca conduisant.” 

Karles esgarde; si les voit aitant 

d'une valee, moult grant noise fesant. 


du bruit qu’il maineut, et ge la noise grant, 

en retentissent li pui et li pendant. 

Karles l’entent; s’en’out le cuer joiant. 

leua sa main, de dieu les va seignant. 
Tant cheuaucherent li gentil escuier _ 

et li message et tuit li chamberier, 

que Karles out lessie au tref derrier, 

qu’en Aspremont commencent & puier. 

lor gofanons n’eirent mie trop chier; 

li plus en sunt de toile et de doublier. 

qui les veist quant vint ä l’aprochier, 

a grant merueille se puist d’eus seignier. 

l’un porte pel, et li autre leuier, 

l’autre macue qu'il prist el cuisinier. 

li alquant portent grant maches d’alier, 

que il ont fet de dos parz aguisier ; 

li alquant maces et granz coutiax d’acier. 

ce semble deels, ce soit un bois entier., 

Rollant soeit le ior sor un sommier; 

n'i out poitral ne cengle ni estrier. 

ne ne seit tant ferir ne manecier 

que il le puist de som pas efforcier. 

ce fet Rollan desuer et marvoier, 

qui moult se peine de son bon oncle aidier. 

puis i out il le ior maint bon destrier. 

Droes d’Estampes iert lor gofanonier. 

vienent au champ ou out grant destorbier. 

Rollandis garde; s’a veu un destrier. 

son somier lesse; si saut sus par l’estrier. 

un paien mort vait l’aubere despollier. 

du dos li tret; si s’en vet haubergier. 

un hiaume d’or troua en un senlier: 

cel hiaume fist ä la teste lacier. 

espee nule n’i uout onques ballier: 

car il n’ert mie encore cheualier. 

mes il sesist A deus mains un leuier. 

sept foreins homnıes en feissent leuier. 

Rollant iert ieones, mes fort estoit et fier. 

ensement s’arment Hates et Berengier 

et tuit li autre qu’armes puent ballier ; 

qu’assez en trouent el auant et arrier, 


2 dont lı seignor gisent mort en l'erbier. 


quant sunt arm&, Rollan prent & huchier. 
“pensez hui mes, baron, de l’esploitier. 

chascun tant vaille con s’il iert cheualier. 
querez vos peres par ce grant destorbier. 


E2 


36 


s’il ont besoign, bien lor deuez edier. 

en l’enor dieu qui tot a ä iugier, 

ferrai paien por eus ä domagier.” 

vint en la presse; si commence ä maillier. 
fiert sor ces hiaumes ä deus mains du leuier. 
dedenz les froise; si embarre l’acier. 
vont lor les testes et les cos par derier. 
deuant lui fet paien aclaroier. 

dient paien “mai ait ce charpentier. 

par Mahomet, moult fet a resoignier.” 
Rollan retorne vers les anffanz arrier. 
“Monioie” crie. “ferez, france cheualier. 
mes oncles Karles dorra chascun mollier. 
lä veissiez tant meschin eslessier 

et sor paien ferir et chaploier, 

et tant hauberc derompre et desmellier, 
tant Sarrazin morir et trebuchier. 

a ice poindre en chiet quatre millier, 
qui n’auront iames de redrechier. 

paien esgardent, voient l'ost espoissier, 
la gent Karlon acroistre et aloignier. 
dist l’un A l’autrre “confort u’i a mestier. 
mande a Karles son riere ban arier. 

ne nos i vaut ne ferir ne lancier. 

fuions arier: car n’auons d’el mestier. 
Hiamont no rois mar i uint tornoier. 
bien nos dist voir Balan le messagier 
que Karles iert trop posteis et fier. 

soe estra France; nus ne l’en puet chacier. 
n’auons nul droit de se honor porchacier.” 
a ice mot prennent ä desrengier; 

fuiant s’en vont li gloton pautonier. 
Hiamont regarde et auant et arier, 

et voit des suens la place aclaroier 

et les batalles refuser et plessier, 

ca dix ca vingt foir et esloignier. 

de mautalent cuide vis esragier. 

il point auant por sa honte uengier, 


et crie Affrique, et fet moult grant tempier: 


car il cuidoit ses hommes ralier, 

quant sor lui print Girart a cheuauchier, 
Beoues et Ulaires et plus de vingt milier 
de bone gent qui moult font ä proisier. 


Hiamont d’Aufrique fu moult hardiz et os, 


fort et puisant; assez out pris et los. 
quant voit sa gent si fuiant et desclos, 


BERKER: 


voit bien que Frans l’ont en toz lieus enclos, 
et ses amis voit par le champ toz mors. 
tel duel en a, ne puet auoir repos. 
tint Durendart dont li brant fu mignos. 
fir Anseis, un duc de grant conplos. 
le chief li trenche et la char et les os. 
deuant les piez en chai ius li cors. 
mes n’i li vaul; ia n’ı aura confors, 
qu’au dos le sieut Renier Qlaires et Bos 
et tant maint aulre A rotes et & flos 
et Karlemaigne ä tres tout son eflors. 
se il le tienent, mal sera ses depors; 
le chief perdra, ce sera ses escos. 
Va s’ent Hiamont corecous et dolent, 
enz en sa main sa lance paumeant, 
quant voil sa gent de totes pars fuiant. 
por un petit ne s’ocit o son brant. 
destrier out bon isnel et remuant: 
il n’out mellior desiqu’en oriant. 
lez une roche s’en vet Hiamont fuiant, 
ä soi meisme meruellios duel fesant. 
n’enmeine o lui ne mes le roi Balant 
et Sinagon et li fort roi Gorhant. 
“Balant” dist il, “ge cuidai valoir tant. 
maluesement m’est hui aparissant, 
a moult grant tort aloie ceus blasmant 
qui desloerent A mon pere Agolant 
que coronez ne fuse en son uiuant, 
fox est li hons qui trop croit son anfant.” 
Balant respont hautement en oiant 
“he Hiamont sire, que te vas dementant? 
estes vos dame qui plaigne son anfant?” 
Va s’en Hiamont (n’i a que corecier) 
soi quart de rois qui moult l’auoient chier. 
qui li veist sa lance paumoier, 
qui ne pooit ne fendre ne ploier. 
souent s’apue al col de son destrier ; 
ploroit ses hommes que morz lessoit arier. 
de son grant duel neu seit nul conseillier. 
Karles le suit et li Danois Ögier, 
li dus Girart et Naymes de Baiuier 
her Rollandis et tuit li escuier. 
“ “baron” dist Karles, “nobile cheualier, 
vez la Hiamont et cel escu d’or mier. 
soi quart de rois en cuide reperier. 
s’or nos eschape, poi nos poons proisier. 


le roman d' Aspremont. 37 


or tost apres pensez de l’enchaucier. 

et ge meismes vos voudrai ge edier.” 
lors l’aeuillirent; si lieuent le poudrier. 
et li sıır roi n’ont soign de l’atargier. 
Hiamont meismes pense moult de coitier. 
soz Synagon estanche son destrier. 

“he Hiamont sire: car me venez edier.” 
et dit Hiamont “ne me sai consellier. 
Synagon voi son cheual estanchier. 

mes meslres est; si me norri premier. 
se ge le les, gi aurai reprouier. 

. „. „ Francois nos siuent par derrier. 
loign sunt li autıe le tret ä un archier. 
car les alons ore descheuauchier. 
se poions un cheual gaaignier, 

& Synagon poist auoir mestier.” 

et dist Balant “n'i yaut riens li pledier. 
lessiez ester; pensez tost de coilier. 

se il i uienent, n'i aurez en pallier. 

ne vos couiegne morir ä lor chacier. 

il n’em prendroient ne argent ne or mier.” 
Hiamont nes uoul par seul itant lessier. 
brandist la hanste et broche le destrier, 
et voit ferir du Naymon de Baiuier 

einz en la targe, el primerain quartier. 
desoz la bougle li fet fendre et pereier. 
fort fu lauberc; ne le pout empoirier, 
neu pout en char ferir ni empoirier. 
mais il li fist les deus arcons vuidier. 
Naymes le voit; le sens cuide changier. 
il saut en piez, bien se cuide vengier, 

et tret le brant que li dus out tant chier. 
fiert Synagon qu'il encontra premier, 


& mont en l'iaume qui reluist d’argent mier. 


coife ne broigne ne li vaut un denier; 

le chief li fet voler en mi l’erbier. 
Quant Ögier voit le duc Naymon chau, 

de duel et d’ire a le cuer esmeu. 

le cheual broche, brandist l’espie molu, 

et fiert Gorban ä mont en son escu. 

desoz la boucle li a fraint et fendu 

et le haubere desmellie et rompu. 

par mi le cors li a l’espie costu. 

mort le trebuche en mi le pre herbu. 

quant voit Hiamont que si est auenu, 

son seneschal et son mestre a perdu, 


de grant dolor a le sanc commeu. 
Durendart tint, ä Ogier est venu. 
“ glot” dist Hiamont, “ailliors Vai hui veu; 
tant m’auras hui greue et confondu. 
moult sui dolent quant ge nu t’ai rendu.” 
Durendart hauce ä moult par grant vertu; 
ferir le cuide par mi le hiaume agu. 
Ogier guenchi, qu’il ni a pas feru. 
sor son arcon est li branz descendu ; 
au cheual coupe le chief deuant le bu. 
Ogier descent, du cheual est issu. 
se Hiamont l’eust bien ä plein consiu, 
la mort Gorhan lı eust chier vendu. 
Quant Balant voit cete dolor mortal, 

son fiz Gorhan voit mort sor le terral, 
A cuer en out un deol issi coral, 
ne puet mot dire, einz broche le cheual, 
brandist la lance au fer oriental, 
fiert Karlemaine l’empereor roial. 
l’escu li perce: mais il out auberec tal 
qu'il ne crient arme ne acier ne metal. 
et l’emperere referi le vasal. 
n’en pout tenir ne cengle ne poitral. 
de son destrier l’abat el sablonal; 
terrox en out son bon hiaume ä esmal. 
puis siut Hiamon parmi le fonz d’un val. 
porcoi le fist nostre roi natural? 
ne reuendra; si aura tret fort iornal. 

Or fu Balant chau de son estrier. 
il saut em piez, n'i ot que corecier, 
qui se cuida reprendre a son estrier. 
mais li dus Naymes li vint ä l’encontrier. 
V’espee trete, li ala chalengier. 
li rois Balan retret Je brant d’acier, 
qui se cuida vers le duc ostagier, 
quant i soruint li bons Danois Ogier, 
Estoz li enfes, Haton et Berengier. 
et Rollandis out brisie son leuier; 
encor en out un Lroncon tot entier. 
ä Karlemaine aura encui mestier. 
Balant voit bien, ne s’i povra edier. 
dist ä Naymon “estez, dan cheualier. 
que porviez en ma mort gaaignier? 


185 se ge trouase duc Nayme de Baiuier, 
r L, AR 
ge me feise leuer et baptizier. 


ge sai moult bien que li dus m’a tant chier 


38 


qu'il me feist A ma mort respiter.” 

et dist due Naymes “qui es tu, cheualier?” 

“sire, ge sui Balant li messagier, 

qui fui en France le message noncier.” 

“diex” dist dus Naymes, “toi puise gracier. 

Ogier” dist Naymes, “por dieu ne le tocier: 

onques nus hons ne m’out si grant mestier.” 
Et dist du Naymes “ies tu ce don Balant 

qui si m’ edas vers le roi Agolant, 

ou me iugoient Sarrazin et Persant ? 

tu m’en tresis, la toe merei grant, 

et me deis que cres en deu creant. 

voudras tu deu tenir son couenant?” 

“oil voir, sire, de cele ore en auant.” 

et Rollandin par mi le champ poignant. 

tant out coru le destrier aflervant, 

ne puet aler, soz lui va recreant. 

treue Morel le suen le a tant. 

monlez i est: car mieuz cort et destent. 

son oncle suit ä esperon brochant, 

qui vet Hiamont ä grant esles chacant. 
“Damledeu pere” dist Naymes de Bauier, 

“com mar vi ainz cest estor commencier. 

perdu i ai mon seignor droiturier, 

et auec lui Morel mon bon destrier. 

se deu n’en pense, le pere iustisier, 

au departir i aura enconbrier.” 

Naymes s’asist par de lez un rochier; 

tot li viaires li commence ä changier. 
Li dus Ogier a lez destre garde. 

voit son escu qui vit en mi le pre, 

que Hiamont a tres par mi tronchone, 

et son cheual qui iert par mi coupe, 

et soi meisme moult durement naure. 

de mautalent a un sospir gele. 

ou voit Naymon, sil’en a apele. 

“que feron nos, france cheualier membre? 

vesci Balant, qui s’est uers nous torne. 

bien croit en dieu que Juis ont pene. 

veistes vos de ce des 

du roi Hiamon qui resenble maufe. 

moult m’out hui tot mon fort escu ... . 

et mon cheual par milieu troncone. 


185 


2. 


BEKKER: 


ne s’en vait mie esgare, 
la lance el traltre et l’escu acole. 
et nostre rois le suit tot arole. 
s'il l’apercoit, ia n’en iert trestorne, 
juque li uns iert & l’autre ajoste. 
et s’il assemblent, ia n’iert trestorne 
juque li uns aura le chief coupe. 
alons apres por deu de maest£. 
vez le cheual Balant tot apreste, 
et Berengier m’a le suen presente.” 
einz plus ni out de lor bouche parle; 
sont li baron sus les cheuax monte. 
mes ainz qu'il l’aient ne veu ne trou&, 
sera il si de son cors agreue, 
ne voudroit estre por tote serite. 

Karlon cheuauche, ...2........ 
. . calorze piez auant. *) 
de lez un tertre, soz un rochier pendant, 
choisi d’Hiamont le vert hiaume luisant, 
qui s’en aloit ä esperon brochant. 

Vet s’en Hiamont, ou n’out que corecier. 
change est l’ore de si con el fu ier. 
hier matinet, quant vint ä l’esclerier, 
auoit Hiamont soz lui ä iustisier 
par sept foies cent mil Turs & ballier ; 
et or n’enmeine le peor escuier. 
o il sunt mort, ou il sunt prisonier. 
foi s’en sunt li sain et lı entier. 
Karles cheuauche, mes il nu puet ballier. 
li rois en iure li pere droiturier 
qu’i ne lera en nul leu l’auersier 
qui tant baron li a fet martirier. 
por coi le fist, biau pere droiturier? 
encui en iert en si grant destorbier: 
se dex neu fet, n’en porra reperier. 
et Rollandis le suit par de derier; 
son bon parent doit en auoir moult chier. 
va s’en Hiamont; si auale un rochier. 
el fonz d’un val, desoz un oliuier, 
sort la fontaine. moult i ot bel grauier. 
Hiamont la voit, prent la & couoilier; 
ne cuida mes qu’en le doie chacier. 
bien a Lroi iors, ne se pout aaisier : 


*) S. Fierabras S.178b. 


le roman d’Aspremont. 39 


tant entendi toz tens & tornoier 

que ne li lut ne boiure ne mangier. 

en mi le pre va sa lance atachier, 

a l’oliuier son escu apoier. 

lors descendi; s’aregna son destrier, 

mist ius son hiaume s’espee et son espier. 

a la fontaine s’est ale apoier. 

lı rois en but, qui en ot grant dessirier. 

einz que du tot se peust razasier, 

evos Karlon, qui descent du rochier. 

entre les armes se mist et le destrier. 

mes einz Hiamont ne se sout tant coitier 

que ıl tant face que puise reperier 

& son cheual ne ses armes baillier. 

de ce se prist Hiamont ä vergoignier. 

“paien” dist Karles, “ne te chaut d’esmoier 

que hons soupris ait par moi enconbrier. 

or pren tes armes; si monte en ton destvier: 

car la fontaine te vien ge chalengier. 

mar en beustes; vos le comperrez chier.” 

Hiamont l’entent; n’i ot qu’esleechier, 

quant ä ses armes puet auoir recourier. 

errant les prent; n’a soign de l’atargier, 

V’escu, l’espee et le trenchant espier. 

de pleine terre est salliz el destrier; 

puis commenca l’escu ä enbracier. 

ou voit Karlon, seu prent ä esregnier. 
“Certes” dist Karles, “ci a fiere bargaigne; 

soef a terre qui issi la gaaigne. 

ne puet fallir que li plet si remaigne, 

li quex que soit, au partir ne s’em plaigne”. 
Challes parole o le viaire cler. 

“vassax” dist il, “ge te veul coniurer 

par ce seignor que tu doiz aorer, 

qui te dona tel empire & garder 

con te vi ier en ce camp amener? 

par sept foies les fis cent mil armer.” 

et dist Hiamont “ge nu vos quier celeır. 

rois Agolant mes peres, qui est ber, 

qui a cincante reaumes A garder, 

et ge li doi son pueple en ost mener. 

il est mes peres; si me fist coroner.” 

“vassax” dist Karles, “moult es gentil et ber. 

ber, car te f& baptizier et leuer. 

eroi en celui qui se lessa pener 

einz en la croiz por son pueple sauuer ; 


qui fist la terre et le ciel et la mer 

et les estoiles et les oisiaux voler. 

moult par auras grant honor ä garder. " 

Hiamont l’entent; sel prist ä regarder, 

qui plus fu fiers que lieparz ne sengler. » 

“dan roi” dist il, “bien sauez sarmoner. 

il vos parra encui au deseurer. 

se issi poez sanz meschief eschaper, 

quant a vostre ost en puissiez retorner, 

icelui dieu don ge vos oi parler, 

saurez moult bien seruir et enhorer.” 
“Rois” distHiamont, “moultas fole membrance, 

qui de tes diex me fez ci ramembrance. 

par Mahomet, qui tres toz biens auance, 

qui me dorroit tot le mont en balance, 

ne guerpiroie mes diex ne ma craance. 

mes d’une chose puis fere ma vantance. 

riche present m’as aport& de France, 

tes cleires armes, ol mout a de boubance. 

se nes conquier par escu et par lance, 

ia nu frans hons n’ai ia en moi fiance. ” 

Karles parla, qui en dieu a fiance. 

“he diex” dist il, “qui par tot as puissance, 

car me donnez de ce paien veniance, 

qui m’a ocis par grant desmesurance 

maint gentil hon, dont ai au cuer pesance.” 

torne sa main, lieue sa connoissance; 

et rois Hiamont encontre lui s’auance. 
“Par Mahomet’ dist il, “dan cheualier, 

pechie vos fist cele eure commencier. 

ne sui pas homme qui on doie chacier. 

tıop vos poez fier en vo destrier, 

qui vos a fet vo gent si esloignier. 

n'es pas arme en guise de fornier: 

car moult auez riche haubere doblier, 

et en cel hiaume voi verdoier l’acier. 

tu ne fus onques enfes A pautonier. 

gentix hons ies; ne me pues pas noier. 

je sai tres bien des que vi l’aprochier, 

que sanz mes armes ne me deignas tochier, 

einz me lessas monter sor mon destrier. 

tu m’as serui; or l’aura ia mestier. 

ge ten lerai sain et sauf reperier, 

mes que les armes te couendra lessier. 

et se voloies le tuen dieu renoier 

et Mahomet aorer et prier, 


40 


ge te voudroie moult richement paier: 

tot tes lignages i auroit recourier. ” 

dist l’emperere “fort est A commencier. 

trop volez ore por noient gaaignier 

mes cleres armes et mon corant destrier. 

moult me cuidiez soutement engingnier.” 

“con as lu non” dist Hiamont, “cheualier?" 

Karles respont “ge neu te doi noier; 

par un paien n’iere ia mencongier. 

ge ai non Karle; si ai France & baillier; 

si sunt 4 moi el Normant et Pohier 

et Loheren, Mansel et Berruier 

et Alemant et Frison et Bauier 

et Braibencon et tuit li Hernoier. 

de si qu’ä Rome ai tot ä iustisier. 

venu lä sui contre toi ostagier.” 

Hiamont l’entent; n’i ot qu’esleecier. 

dist A Charlon “or ai ce que ge quier. 

tote ma perte ne pris mes un denier. 

tres tot mon duel voudrai sor toi vengier.” 
Et dist Hiamont “ies tu ce Karlemaigne 

qui m’as tolu tante riche compaigne, 

tant riche roi et tant riche chastaine 

et tant riche hom de la terre loigntaigne? 

or te deffent sanz nule demoraigne. 

sor toi chaleign et Calabre et Romaine 

et Lombardie, Baiuiere et Alemaigne, 

Borgoigne France Normendie et Bretaigne, 

Poitou Gascoigne et jusqu’as porz d’Espaigne.” 
“ Vassax’” dist Karles li rois emperial, 

““  » damledeu le pere esperital 

et de mon cors le chalon herital 

ne doi tenir de nul homme charnal 

ne mes de deu le pere esperital. 

ge vos defi quant vos ne dites al.” 

lors s’entreuient ambedui li vasal. 

lances beissies, as fers poiteuinal 

granz cous se donent communal. 

les escuz percent par desus le bouglal. 

tant roidement corurent lı cheual, 

et tant sunt fort li dui roi par igal, 

que de lor seles vuidierent lor estal. 

ne les retint ne cengle ne poitval 

que li dui hiaume fichent el sablonnal. 

tuit sunt terrox de si qu'es el nasal. 

Hiamont saut sus; si a tret Durendal, 


BExKKER: 


et l’emperere Joiouse la roial. 
bien se requierent li dui roi natural. 

Li dui roi sunt orgueillios et puissant, 
de grant richece orgueillios et manant, 
fier et hardı et bien entreprenant. 
tant con la nue et |ı ciel vet corant, 
ne sunt dui roi qui tant soient puissant. 
li uns est sires par deuers occident, 

li autres est rois par deuers oriant. 

entre ces deus a un orgueil si grant 

que tot li pires ne prise l’autre un gant. 
Hiamont escrie “Karlemaigne, or entent. 
es tu mes hons? di moi seen as talent. 
rendras tu France? car me di ton talent. 
et croiras tu en mon deu Teruagant?” 
“neni” dist Karles; “ne m’en vigne talent.” 
a ces paroles resaut Hiamont auant; 

fiert Karlemaigne un ruiste cop pesant 

a mont en l'iaume el premier cop deuant. 
se ce fust autre, ia ni eust garant 

que duqu’as denz ne l’alast porfendant. 
mais l’iaume Karle estoit fort et tenant. 
une pierre out sel nasal par deuant, 

que dex auoit done vertu si grant, 

ne dotoit homme un denier valissant. 
Karles li rois, qui douce France apent, 
vefiert Hiamont (nu vet mie espargniant) 
ä mont sor l’jaume (nu va pas esparnant) 
que flors et pierres en vet ius grauentant. 


186... es li brant vet A ual esclicant 


2. 


par mi l’escu qu’il out & or luisant, 

que un quartier li ala ius raiant. 

se or n’alast l’espee en esclichant, 

feru eust Hiamont le pie deuant. 

selonc la iambe en vet le cuir rasant, 

que de la chauce n’i out onques garant. 

li sanc en ist soz l’erbe verdoiant. 

jusqu’ä la terre vet le brant ius colant. 
Greins fu Hiamont; si out la chiere marrie. 

quant voit son sanc, de mautalent formie. 

tint Durendal qui toz iors est forbie. 

fiert Charlemaine & dos lez de l'oie. 

pieres ı out des le tens Geremie, 

qui nostre sires dona tel seignorie 

que ia par arme ne sera emporie. 

le hiaume Karle ne maimast d’une alie. 


le roman d' Aspremont. 41 


Hiamont le voit, n’a talent que il rie. 
tret soi ariere, s’espee a ledengie. 

“he Durendal, mar fustes vos forgie. 
porte uos ai los ten grant seignorie. 
de vos pris lo... e de ma cheualerie. 
puis n’en feri nul homme en ma uie 
qui deuant vos em poist ... . ure mie. 
einz mes n’ oi ge mestier de vostre aie, 
et or vos voi si forment redoisie 

ne trenchiez mes ne qu’une coignie.” 


Hiamont et Karles se tindrent en la pree; 


espees tretes se tindrent d’une alee. 


l’un saut A l’autre; moult i out grant meslee. 


li rois de France Lint Joiose leuee; 
enuers Hiamont l’a par trois foiz getee. 
la mellior broiyne li a ront et fausee. 
en ij lius a Hiamont la char copee. 
voit leli tin... . mie ne li agree. 
Hiamont li a Durendal regetee. 

refiert en l’iaume mainte dure colee; 
ne l’enpoira vailliant une derree: 

car dedenz l’iaume auoit enscelee 

une grant piere, que dex out tant amee, 
ä cui dex out tant de vertu donnee: 
tant con el soit el cercle enseelee, 
niert empoirie valliant une derree 
l’iaume Karlon a la cercle doree. 
vegarde Hıamont; s’a la pierre visee, 
que dex auoit la grant vertu donnee. 
tost la quenut, mais paint ne li agree. 
puis dist en bas, ä parole serree, 

“he Durendal, A tort vos ai blasmee: 
n'est pas merueille s’estes si redoisee.” 


Moult est Hiamont dolenz et plein d'air, 


quant ıl ne puet le hiaume desconfir 

et Durendal voit arıer resortir. 

ne puet Karlon son corage courir, 

que par sa boche ne li yoist tot gehir. 
“rois Orestiens, moult par ai grant desir 
que ge te puisse de l’iaume dessesir. 

tant con ces pierres puissent desus gesir, 
ne te puis ge empoirier ne ledir. 

mes s’or te puis a mes dos poinz tenir, 
ge te ferai de male mort morir.” 

or ot bien Karles se en le puet ballır. 
s’or ne le garde dex et le saint espir, 


Philos. -histor. Kl. 1847. 


james en France ne porra reuenir. 
Hiamont voit bien que plus ne li vaudra:: 
con plus en l’iaume Karlemaigne ferra, 
et Durendal plus li resortira. 
mes se il puet, iuqu’ä pou li toudra. 
“Karles” dist il, “ne vos celerai ia. 
par Mahomet, merueilles vos ama 
qui de cel hiaume les pierres vos dona. 
moult valent mieuz, certes teles i a, 
que le harnois que ge amenai ca. 
ne puet morir nus hons qui sor lui j’a. 
mais par Mahon, il ne vos demorra.” 
Karles respont “se dex plest, si fera.” 
A la fontaine, soz l’oliuier follu, 
sunt li dui roi fierement conbatu. 
einz par dos rois ci grant estor ne fu. 
Hiamont fu forz et de moult grant vertu. 
Karles le fiert du brant d’acier molu. 
son hauberc a fause et desrumpu; 
endroit les costes l’a naurd et feru, 
qu’en quatre lieus en est le sanc issu. 
Hiamont le voit; si n’a plus atendu 
qu’i li ait le hiaume as dos mains esıneu. 
Mahon en iure, ne se prise un festu 
se de la pierre qui a si granl vertu 
n’a Karlemaigne maintenant desuestu. 
Hiamont aiert Karlon & poil quernu, 
et l’emperere retint lui par le bu. 
moult ruistement se sunt des poinz feru. 
tant a l’un l’autre sachie et estendu 
17 Que li paien a li hiaume tenu..... 
z. et poure gent destruire et violer. 
cil ne doit mie corone demander.” 
dist Papostoile “ce doit on escouter. 
qui sens veut querre, ici le puet trouer. 
li emperere me fist por vos aler. 
une merueille vos veut li rois mostrer. 
onques nus hons n’oi de tel paller.” 
Li apostoiles et Karles et Girart 
et auec eus estoit Balan li quart; 
mais nus des autres ne sauoit de cel art. 
ä quatre foiz tant con l’en tret d’un arc 
de l’ost s’en issent ensemble ä une part. 
dist l’apostoile “entendez ca, Girart. 
soz ce pomel, ou cel escharbougle art, 
poez voer la merueille du fart, 


F 


42 


mainte galie, mainte nef, maint chalart, 
et l’ost d’Aufiique, qui de Rise se part. 
quatre batailles estre lor estandart. 

se damedieu ne prent de nos regart, 

nos i perdrons einz que li Giu depart.” 


Dist l’emperere, qui moult ot le cuer noir, 


“Balan, biau frere, f& moi aperceuoir 
que lor estoire puisse de ci voer; 

car volentiers saroie Jor poier.” 
“volentiers, sire, solonc le mien espoir: 
car volentiers veil lor perte voer. 

ge qu’en diroie? einz que voiez le soir, 
le porrez bien ä vos dos euz voer.” 

Et dıst Balan “sire rois, entendez. 
se vos auoir cete terre volez, 
si cheuauchiez, ne vos asseurez. 

o se ce non, la terre deliurez. 

il la prendront, se vos vos en fuiez.” 
quant ce oi Karles, tot fu resuigorez. 
li rois li a les braz au col getez. 

apres li dist “se issı vos lenez 

que nostre loi ne froisiez ne lausez, 

toz iors seroiz mes druz el mes priuez.” 

Li duc Girart commenca ä parler. 
“baron” dist il, “fetes moi escoter. 
le mien conseil ne vos doi pas celer, 
tot le mellior qu’en moi porroi trouer. 
fetes, biau sire, parmi cel ost crier, 
viegnent auant li legier bachelier, 
que nous solons escuier apeler 
as seles metre, as cheuax conreer, 
ceus qui porront en champ armes porter, 
l’iaume lacier et l’auberc endoser. 
res toz les fetes cheualiers adober. 
se damlediu nos done retorner, 
vos lor ferez tant de terre doner 
dont il porront lor haubere gouerner. 
et ge iral ma gent reconforter: 
car d’autel chose les veil aresoner.” 
et dist li rois “bien le veil craanter.” 
quatrre serianz fist maintenant monter, 
qui vont par l’ost les noueles conter. 

Li seriant montent, n’i ol qu'esleecier, 
qui vont par l’ost les noueles noncier. 
viegnent auant li bacheler legier, 
cil de coisine, seneschax, boteiller 


BExKKER: 


et damoisel iugleor et princier, 
et tres tuit cil qui se puent edier. 
en cest bessoign seront tuit cheualier. 
se dex en France les lese repairier, 
Karles li rois lor fera tant ballier, 
toz lor lignages i aura recourier. 
qui done oist vallez esleecier, 
ces escuiers iurer et afıchier 
que tuit sunt mort ci cuuert pautonier. 

Par tote l’ost est la nouele alee; 
quatre serianz l’ont mainlenant criee. 
cil qui vendront o Karle en la mellee, 
l’aubere vestu, la ventalle fermee, 
se dex l’enmeine en France sa contree, 
sa grant richece lor iert abandonee, 
que lor lignie en iert tote aleuee. 
he dex, quel ioie il en ont demenee. 
dont i fist lä le soir mainte criee 
les uns as autres consellier A celee 
que Sarrazin ont fet male iornee. 
Rollandin a la nouele escoutee: 
Estoz li a et Berengier contee. 

Grant fu li bruz, onques tel ne vit hon, 
que font paien li encrieme felon. 
Estoz de Leugres, Berengier et Haton 
A Rollandin dient qu'il la feron. 
“li rois nos lient longuement em prison ; 
en l’ost gison pourement con garcon. 
n’a en cest ost escuier ne geldon 
ne damoisel ne poure valleton, 
se il veut armes, que il n’en ait le don. 
alons sauoir s’ausi nos les auron. 


s’i nu veut faire, si nos porchaceron.” 


137 Rollant respont “a dieu beneicon.” 


Rollant monta moult aireement; 
son conpaignon auec lui ensement. 
li roi trouerent moult escheriement 
for seul du Nayme Ogier et Graalent. 
li rois sospire moult angoissosement. 
l’eue du cuer li monte es euz deuant; 
a val la face contre val lı descent. 
Naymes li dist soef et belement 
“sire, lessiez cest descofortement. 
n'afiert A roi de si grant tenement 
que ıl demeint si fet dolosement. 
tost porriez desconforter vo gent, 


le roman d' Aspremont. 43 


et en duel fere ne gaaigniez noient. 
ei vez ici les vassax em present 

qui armes voelent auoir nouelement. 
vos lor donez tost et deliurement. 

se dex lor done proece et hardement, 
vengeront vos de la gent mescreant.” 


““Naymes” dist Karles, “vos dites vos talent. 
quant nos venimes el champ premierement, 
que rois, que dus, que contes ensement, 
que de hauz princes de fier contenement 


auons perdu sor la paiene gent. 


bien douze contes et princes iusqu’ä cent, 


don dex a fet le suen commandement. 
or me couient reuerlir ä tel gent 

qui seolent estre en coisine souent, 

li mangier fere et estre chanbellenc. 
par un petit que li euers ne me fent.” 
et Rollandin el pauellon descent. 


ou voit du Nayme, par le mantel le prent 


et le Danois par noel d’argent. 

puis lor a dit tres tot cortoisement 
“que dit li rois, et qu’a il en talent? 
tendra nos il em prison longuement? 
en l’ost venismes o lui si powrement. 
ge cheuauchai un cheual dur et lent; 
dedans ma boche n’a une sole dent 
qui ne me duelle moult dolerosement:: 
tant ont hurte ensemble durement. 

et en cest host n’a si poure dolent, 
s'il veut auoir armes et garnement, 
que l’emperere ne li doist liement. 

se il A nos ne vet fere ensement, 

bien le sachiez tres tot cerlainement 
que ne serons mie o Jui longuement.” 
et li Danois par les faces les prent; 
ses a besiez soef et docement. 
“seignor” dist il, “or ne dotez noient. 
vos aurez armes tost el isnelement. ” 


Entre du Naymes...... ISO 


Bee Ah lo; le vet sus redrecier. *) 
Li emperere a fet par l’ost crier 

que le malin, sanz plus de demorer, 

chascuns se face baignier et conreer. 


or redirons de dan Girart le ber, 

qui ä ses hommes s’en prist ä retorner. 
Va s’en a cort Girart le fiz Boson. 

il descendi au mestre pauellon. 

contre lui vindrent-si prince et si baron, 

qui li demandent du riche roi Challon. 

respont li dus “ıl ne fet se bien non. 


155] n’a en lost escuier ne garcon 
Tr 
ne damoisel ne vallet ne guiton, 


se il veut armes, qu’il n’en ait le don. 
tot aulresi veil ge que nos facon.” 
et cil responnent “ä dieu beneicon.” 
Or entendez con Girart esploita. 
ses dos neueuz et ses fiz apela, 
et ses barons, tant con o lui mena. 
“seignors” dist il, “qui nos conseillera? 
conseil nos donst qui doner le sara. 
nos ne sauons que Agolant fera, 
se il s’en fuit ou s’il nos atendra. 
cheualier soit qui estre le voudra. 
il aura terre, quant cheualier sera, 
se dex me meine arrier ou ge fui ia.” 
quant cil oirent que terre lor dorra, 
dist l’un & l’autre “dex quel seignor ci a. 
toz soil honi qui ia ior li faudra.” 
li viel Girart tant en aparella: 
quatre cens furent le ior qu’il adouba. 
Au tref Hiamont fu Karles li membrez. 
moult ot le ior de vallez adobez. 
li uns as autres consellierent assez. 
moult par est Karles et cremuz et dotez, 
qui tant barons a eci assemblez. 
mes einz que eussent les quatre iors passez 
ot Agolant si grant ost assemblez, 
que, se tuit cil estoient assemblez 
et que il ot auec lui amenez 
fussent tres Luit et pain et char et ble, 
n’eusent pas lant vitalle d’assez 
dont chascun Tur peust estre disnez. 
Al tref Hiamont ot Karles grant barnage, 
et cheualier i ot de maint lignage, 
par cui il fet proesce et vasselage. 
onques n’ı ot aconte nul parage; 


°) S. Fierabras S.151b. 


44 BEKKER: 


et s'il est sers, quites iert de seruage. 
mes ne dorra, ne lui ne son lignage, 
ne par sa lerre ne treu ne passage. 
Karles les claime quites de treuage ; 
deu et saint pere lor en done en ostage. 
“assemblez vos ä cele grant sauage.” 
et cil responent “nos lor feron hontage. 
voiant vos euz en feron tel cheuage 
don ia n’aront restor& lor damage”. 

Or ’fetes pesi. 1.0.0.0. &: 

2.2... du fort roi Agolant *). 
ses rois manda, et il vindrent auant. 


“Baron” dist il, “moult me vois merueilliant. 


li fet Hiamon semblent estre d’enfant. 
par ııı foies s’est conbatuz em champ 
qu’einz n’en oimes ne mes ne contremant. 
tolu li ont Mahon et Teruagant 
et Apollin et Jupiter le grant. 
destruit a Karles de la nostre gent tant: 
ja restor€ n’iert en nostre viuant.” 
Emipiezisiendxecenrer. ee. 
OO OR . comment veut esploitier. **) 
oez que fist Karles o le vis fier, 
qui ses batailles ot fetes arengier. 
ses nies Rollant fu el conroi premier ; 
Ogier le duc out & gonfanonier, 
et auec euls furent bien sept millier, 
tres tuit jeone homme et bacheler legier. 
Vne autre eschiele fist li rois Salemon, 
et Angeuin et Mansel et Breton. 
et en la tierce mist on li roi Droon 
ıs9de Normendie..... antetB. ou. 
“ serre cheuauchent senz noise et senz tencon. 
La quarte eschiele fist Desier de Pauie 
et li quens et li dus Geremie. 
Richart li preuz fu en lor compaignie, 
qui les paien durement contralie. 
einz nule eschiele ne fu plus esbaudie. 
paien manacent; nes asseurent mie. 
En la quintaine est Naymes de Baiuier, 
Richart li preuz, qui moult fist & proisier. 
et l’apostoile ne se vout atargier 


de ceus qu'il ot sor lui & iostisier. 


einz n’i remest ne que ne botellier, 
ne chambrier, senescal, ne usier, 
clerc, ne chanoine, ne prestres de mostier, 
por coi fust tex qu'il se peust edier, 
don l’apostoile ne feist cheualier. 
ja se il puet, n’i aura reprouier 
que il ne voist el grant estor plenier. 

La siste eschiele fist Girart o ses fiz, 
et Gondebues et Mienz de ses norriz. 
et li Englois et Normant s’i sunt mis. 
et l’emperere a un bastoncel pris; 
s’a ses batailles et ses conroiz assis. 

Or vet li rois sa gent aparellier, 

unes et unes ses batailles rengier; 
en sa main tient un baston de pomier. 
et li message n’ont pas soign d’atargier. 
Galindres porte un ramsel d’oliuier; 
ce senefie qu'il estoit messagier. 
soz le mantel auoit le bran d’acier. 
ses crus ot fet menuement trenchier, 
qui li batoient iuqu’ä l’arcon premier. 
sor les espaulles les ot fet arengier. 
Ulien sist el vos liart destrier. 
ses pesanz d’or nu peust esligier. 
soz ciel n’a dame, tant feist ä prisier, 
por qui | amast un pelit le mestier, 
ne si deust soflrir A donoier. 

Or vet li rois ses batailles vengant; 
unes A unes les vet amonestant. 
einz ne fina; si vint A renc deuant. 
Ogier apele hautement en oiant. 
“Ogier” dist il, “tenez moi conuenant 
de mon neuou, por ce quel sai enfant: 
car nule rien n’aime ge atretant.” 
et dist Ogier “sire, ce dit Rollant: 
ia en se vie n’ara Je cuer ioiant, 
se il ne ua le premier cop donant.” 
“par foı” dist Karles, “ge l’otroi et creant. 
ä damledieu et ä toi le quemant.”” 
li rois le seigne; si Iı dist en plorant. 
et li message ne se vont areslant; 
un et un vont les conroiz Lrespassant. 
einz ne finerent iusqu’au conroi plus grant. 


°) S. Fierabras S. 152. 
*) S. Fierabras S. 180b. 


le roman d’ Aspremoni. 


li vies Galindres parla premierement; 

ou voit li roi, siu va aresonant. 

“cheualier freire sor ce cheuai ferant, 

mostrez moi Karle l’empereor puissant. 

je nu quenois; por ce le vos demant.” 

il rois respont hautement en oiant 

“voi me ci, freire; ne me va plus querant.” 

dist li paien “assez en voi semblant. 

ne vos salu, que ge ne vos pris tant. 

a vos m’envoie li fort roi Agolant. 

envoiez li Mahon et Teruagant 

et Apollin et Jupiter le grant, 

se volez viure seinz nul terme prenant.” 

“amis” dist Karles, “atempre ton talent.” 

Li mes parolent, ne se volent Largier, 

a Karlemaigne qui France a & ballier. 

et dist Galindres “nos sommes messagier ; 

si vos venons un message noncier. 

nos quatre dex nos fetes tost ballier ; 

mar les veistes; vos le comperroiz chier. 

et si nos fetes cent sommiers caballier, 

d’or et d’argent tres bien aparellier.! 
aulant puceles, que ia n'i ait mollier, 

qui por puceles se puissent derengnier ; 

qu’il enmerra por sa terre aaingier, 

si que chascune soit fille & cheualier. 

nus piez, en langes vos couient despollier : 

si aiderez le treu ä chargier. 

n’ı poez mie la corone lessier.” 

Karles respont “ci a moult dur mestier ; 

d’aler ä pie me se petit edier.” 

“Tor et largent ce vos couient lessier, 

nostre loi prendre et la vostre lessier. 

Agolant a entor lui tant princier, 

tant aumacor et lant roi droiturier, 

qui si vos voient enuers lui souploier, 

que tuit iront A Agolant prier 

que il vos voille la corone lessier.” 

“par foı” dist Karles, “de noient vos oi pledier. 
> l’or et l’argent vos couient ä lessier. 
ja s@ ge, puis n’en arez un denier, 
einz l’aront cil qui l’osent gaaignier. 
et des puceles ira si grant dangier, 
soz ciel n’a home qui les poist porchacier. 
les quatre diex metrons en resploilier. 
a mes barons en fis tot l’or ballier ; 


en 
© 


n'i remest teste ne membres ä trenchier.” 

qui dont oist Galindres manecier, 

le raım d’oliue estreindre et embracier, 

et Uliens les soreis abessier. 

ses veissiez es estrius afıchier 

que tot en font le cuirien aloignier. 

par un petit n’en font le fer bruisier. 
Moult furent fier (nu mescreez vos ia) 

li dui message qu’Agolant enuoia 

& Karlemaine por oir qu’il dira. 

l’un a parle, li autre pallera. 

dist Uliens “dan roi, entendez ca. 

rois Agolant qui ä vos m’enuoia, 

soe est Affrique, cele terre de la. 

en cest pais, quant il i ariua, 

Hiamont son fiz deuant lui enuoia. 

ses quatre dex ensemble o lui porta. 

un mois tot plein enfuerre demora. 

vos li tolites, quant il s’en retorna. 

rendez les lui: li rois le nos manda. 

et le treu si con le mand6& a. 

se vos nu fetes, sauez qu’en auendra. 

pres sui: querez qui vos en defendra 

que vostre lois la nostre aclinera. 

vois Agolant forment iurd en a 

qui vos querra tant qu’i vos trouera. 

tot droit a Rome batant vos enmerra; 

Hiamont son fil ilec coronera ; 

vostre corone sor le chief li metra." 

“certes” dist Karles, “se dex plest, nu fera. 

l'or et l’argent tres tot nos remandra; 

et des puceles sauez qu’en auendra? 

A nestre sunt celes que il aura. 

ses fiz Hiament est coronez pieca 

a la fontaine ou Rollant le lessa. ” 
Respont Galindres “sire rois, enten moı. 

auez vos gent fors ce que ci er voi? 

moult en voi poi en cest premier conroı. 

par Mahomet, que ge aor et proi, 

les arınes furent as genz de nostre loı. 

Mandaquins est nies Agolant le roı: 

il a vingt mille de bone gent o soı; 

partiz des autres Jes meine en son conroi. 

s’il vos encontre, fera vos grant desroi: 

tuit seroiz pris con oiselet em broi.” 


Li dui message furent moult espris d’ire. 


2 


46 


dist Uliens “dan roi, lessiez moi dire; 
tot soauel en atemprez vostre ire. 


voir vos vienent trois cent et soixante mile. 


mes au riuage auon lessie l’empire, 

qui le tresor gardent et le nauire, 

et ä garder la plus bele roine, 

qui noche d’or portast a sa poitrine. 

en cest Jeu vient por vostre loi destruire. 

volant vos euz les verroiz toz ocire. 

mes li rois veut que lant vos lest en viure 

que de ses mains relenreiz le martire.” 
Li emperere n’i vout plus demorer. 

let l’apostoile et dan Girart mander, 

et ses neueuz et ses fiz amener, 

le due Ogier et Salemon le ber. 

A une part du champ les auet fet torner. 

“baron” dist Karles, “fetes moi escouter. 

vez les messages Agolant d’outre mer. 

etä dieu etä vos ne veoil de luı clamer. 

Jor quatre dex me vienent demander; 

et cent sommiers lor facon aprester, 

et autre tant puceles assembler, 

si que puceles les puisse l’en prouer, 

prestes, garnies de cheualiers amer. 

et en Auffrique m’en veut o lui mener.” 

li baron l’oent; n’out en eus qu’airer. 
Li emperere et tuit si cheualier 


des mes se prennent entre eus ä merueillier. 


li viel Girart ne s’i vout alargier. 

en haut parla: car moult ot le euer fier. 
“bharon” dist il, “ne vos doit ennuier 

se ge parol deuant vos tot premier. 
soixante anz ai des l’entrer de feurier, 
que ge soi primies mon hiame deslacier. 
envoiez tot de soz cel oliuier 

ou vos feistes le roı Hiamont lessier. 

le braz li fetes et la teste trenchier. 

itel treu li fetes enuoier. 

soz ciel n’a homme qui tant face ä prisier, 
ne se deust durement ennuier, 

ne se deust durement corecier. 

ıgoquant le saront li Sarrazin guerrier, 

” il entendront lor grant duel amener. 
itant vos di, bien le puis afichier. 
chascun de vos entende ä soı vengier. 
puis cheuauchons sanz point de deloier, 


BEKKER: 


s’as primerain nos poons affichier. 
cent dehez ait ijamais querroit mangier, 
boiure de vin, dormir ne sommellier. 
si les arens tres toz mis au frapier.” 
il i enuoient et Bernart et Richier. 
et cil monterent ; ne voudrent detrier. 
“auez vos fet vo treu aparellier?” 
“amis” dist Karles, “ge fez aparellier.’” 

Li dui baron sunt einz el pui mont£, 
a cui li rois l’ot dit et commande. 
Hiamont vont querre, qui tant ot de fierte. 
soz l’oliuier la ont lı ro: troue. 
tot maintenant li ont le chief cope; 
einz ne li orent le hiaume deferme&. 
le braz lı trenchent IA ou l’auoit casse. 
ne lı ont mie l’anel du doit oste, 
ne son escu changie ne remu£. 
il ont le braz ioste le chief pose. 
don l’a Bernart A duc Richier mostre£. 
ambedui montent; si s’en sunt retorne. 
il ont les rens durement trespasse. 
onc ne finerent de ci au mestre tre. 
et li message auoient lant este 
et ä Karlon et tencie et parle. 

Li dui vasal sunt A pie descendu. 
deuant li roi s’estoient arestu, 
ou li message auoient tant estu. 
li vieuz Galindres les a as euz ueuz, 
le chief et !iaume son seignor conneu. 
deuant parlerent: or sunt tesant et mu. 
quant Ulien a le hiaume veu, 
le grant anel enz el doi coneu. 
einsi tres fort l’auoit Rollan feru 
que li dui oil sunt de son chief eissu. 
dist Ulien “Mahomet, que fez tu? 
quant tu ne fez miracles et vertu.” 
dist Karlemaigne “par foi, tu l’as perdu. 
ier matin furent mes soudoiers rendu. 
ä maux de fer et ä picois agu 
orent les cors depeciez et rompu. 
qui plus en out, poi en ont retenu. 
manece m’as; ge l’ai bien entendu. 
ge qu’en diroie? voi en ci le treu 
que vos m’auez hui tant ameteu, 
la teste Hiamont, son braz et son escu, 
qui par orgueil s’ iert sor nos embatu: 


le roman d' Aspremont. 


car ia n’aura certes autre treu. 

quant tu l’aras & ton seignor rendu 

et ıl aura ce present receu, 

don li demande s’i s’est aperceu 

que folement est de sa terre issu.” 
“Tlien frere’ dist Karles le vailliant, 

“vos et Galindres m’aliez deloiant. 

ce me diroiz au fort rei Agolant, 

que le treu que il vet demandant, 

les quatre diex qui erent d’or luisant, 

l’or et l’argent et li sommier amblant, 

et les puceles dont domages fust grant 

qui em putage fusent tot lor viuant, 

et ma corone qui est d’or flamboiant, 

ja ne l’aura (por voir le vos craant) 

tant con ge puise feriv de mon nu brant. 

ses quatre dex que i va demandant, 

mes soudoiers les deliurai errant, 

qui lor bruisierent le costez et le flanc. 

tres parmi l’ost les menerent batantı. 

en lot mon regne ne sai un paisant 

qui sı vile ait sa femme et son enfant 

qu’i la liurast ä paien tan ne quant, 

par nul auoir, par le mien escient. 

mes le treu portez isnelement, 

que France enuoient au fort roi Agolant, 

l’escu et l’iaume et le chef son enfant, 

et le braz destre et l’anel flamboiant. 

ia ne uerrai einz nuit soleil cochant 

de lui meismes en fere autretant.” 

Ulien sist el ros liart ferant, 

le veil Galindres sor un mulet amblant. 

la teste vont lor seignor regardant. 

par en son hiaume li vet li sanc issant; 

si oil li gisent sor la face deuant; 

par les orelles li ceruiax li espant. 

Ulien plore; moult le va regretant. 

droit a Karlon en est venuz ervrant; 

si li a dıt hautement en oiant 


“tenez mon gage mainlenant em present 


ver le miudre homme qui soit en dieu creant.” 


“amis” dist Karles, “atempre ton talent. 


tu perz bien estre preudons A ton semblant. 


1900r me diras au fort roi Agolant 


v 


“ que Hiamont a ce quiil aloit querant. 
ge ai le cors le cheual et le brant 


que ge ai done ä mon neueu Rollant. 

or me diras au roi que ge li mant. 

ge li enuoi le chief de son enfant, 

le destre braz des le cote en auant. 

s'auques l’amoit, le cuer aura dolant.” 
Uliens a la targe regardee, 

que Hiamont auoit en l’estor aportee. 

jouste le braz vit la teste posee, 

et vit la face teinte et descoloree. 

trois foiz sospire; s’a la targe miree. 

puis dist em bas, & parole serree, 

“Hiamont Hiamont, ci a male iornee.” 

dist a Karlon “d’ou te vint tel pornee? 

tu n’as pas gent auec toi amenee, 

de coi la nostre puist estre disnee, 

se ele estoit por mangier conreee. 

vostre grant joie ert a grant duel tornee. 

ne vos lerons iuque ä la mer betee.” 

“par foi” dist Karles “tieus iert la destinee. 

a Agolant soit la teste portee; 

ele n’iert mes A Rome coronee. 

il a & tort sor moi la mer passee 

et ma terre a essilid et gastee. 

ja Agolant ne verrva la vespree: 

ne porra pas fallir ä la meslee. 

li quieus que soit en receura colee. ” 

ä icest mot est la reson finee, 

et li message ne font plus arestee. 

la teste Hiamont ont prise ensanglentee; 

si l’ont cochiee en la targe doree, 

et le braz ont lez la teste posee. 

puis s’en tornerent parmi une valee. 

tistre et dolant mainte lerme ont ploree. 

l’ost Karlemaine se fu lors conreee, 

et l’une eschiele a Fautre deuisee. 

soixante grelles ı sonent la menee. 

le pelit pas out l’angarde montee. 

et quant il vindrent dedenz l’autre valee, 

voient la terre de totes parz comblee 

de Sarrazins, cele gent defaee. 

tant i en out par verild prouee 

que ne poust estre par Crestiens nonbree. 

n'i a Francois qui tant ait ioie amee, 

ne qui tant l’ait dedenz son cuer plantee 


que la poor ne l’en ait tote ostee. 


Li mes cheuaucent sanz nes un demorıer, 


47 


48 Berker: le roman d’ Aspremont. 


tant con il puent esrer ni esploitier. 
einz ne finerent iusqu’au conroi premier 
que Agolant lor auoit fet rengier. 

don Mandaquins estoit gofanonier. 

il auoit fet sa gent aparellier 

et ses batalles moult tres bien arengier. 
ce fu icıl qui apercut premier. 

por les noueles lor vint ä l’encontrier. 
tot lor a dit, ainz ne vout detrier. 
“bien soiez vos venuz, dan cheualier. 
con se contient Karles o le vis fier? 

a vos i fet nos quatre dex ballier? 

il nes osast de noient empirier, 

et le treu fet li acharoier.” 


Galindres l’ot; n’out en lui qu’airier. 
“Mandaquins sire, tu me fez ervagier. 
as soudoiers ont fet nos dex ballier ; 

ä max de fer les ont fet pecoier. 

n’i remest teste ne membre A trenchier. 
moult auions en eus mal recourier, 
qui nos donoient quant qu’auions mestier.” 
dist Mandaquins “ce poez bien lessier. 
de tel parole ne soiez nouelier. 

soz ciel n’a home qui tant face a prisier, 
qui roi Hiamont osast par mal touchier.” 
respont Galindres “ce poez bien lessier. 
lixcorsiengeistaege Mens EU ken 

sa 6 Tee qu’auions A garant. *) 


*) S. Fierabras S.170b. 


N — 


Über 
die, durch die griechischen und lateinischen Rhetoren 
angewendete, Methode der Auswahl und Benutzung 
von Beispielen römisch -rechtlichen Inhalts. 


Vor 
HH... E=BERKSEHIN; 


annnnnnnnnNNANN 


[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 1. Juli 1847.] 


D. frühesten Versuche der Forscher auf dem Gebiete der römischen 
Rechtskunde, welche der Zusammenstellung der Materialien für die Ge- 
schichte des Vor-Justinianischen Rechts, und insbesondere der Auffindung 
von Überresten alter römischer Gesetze in den Schriften der nichtjuristischen 
Classiker (!) zugewendet wurden, lassen nicht verkennen dass durch dieselben 
die Glaubwürdigkeit der benutzten Gewährsmänner, und die Verlässlichkeit 
der verschiedenen Gattungen ihrer Berichte, kaum ernstlich in Frage ge- 
stellt worden sei. Am auffallendsten findet man dies bethätigt in der Be- 
nutzung der bei den lateinischen Rhetoren, zumal bei jenen der späteren 
: Zeit, anzutreffenden juristischen Notizen, gleichwie in der Ausbeutung der 
rhetorischen Elemente, welche in der Darstellung der römischen Geschicht- 
schreiber zu Tage liegen. Denn an eine Sonderung der, auf die Institutio- 
nen verschiedener Zeitalter bezüglichen, Angaben ist um so weniger gedacht 
worden, da man sogar der ungleich dringenderen Aufforderung nicht genügt 
hat, die Berichte über einheimisches Recht der Römer von den Beziehungen 
auf Recht und Sitte anderer Nationen zu trennen, oder die Andeutungen 
über bestehende Regulative und einzelne gegebene Rechtsfälle nicht zu ver- 
mengen mit den Postulaten von phantastischen juristischen Festsetzungen 


und Anwendungen. 


(') Es darf hier verwiesen werden auf die, überall zugängliche, Literatur der Samm- 
lungen von Gesetzes-Fragmenten der R. Könige und der XII Tafeln. 


Philos.- histor. Kl. 1847. G 


50 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


Die Ergebnisse späterer Zeitabschnitte der juristischen Literatur- 
Geschichte lassen freilich den gedeihlichen Einfluss der historischen Kritik 
auf die Untersuchungen der römischen Rechtshistoriker überall gewahr wer- 
den. Gleichwohl ist auch noch jetzt auf diesem Gebiete ein grosser Spiel- 
raum geblieben für die Thätigkeit des Kritikers. Denn selbst in denjenigen 
Abschnitten der Werke einiger römischer Geschichtschreiber, welche nicht 
unbedingt unter der Herrschaft der rhetorischen Form der Darstellung stehn, 
hat bisweilen die Einwirkung der Überlieferungen von Rhetoren sich gel- 
tend gemacht. Und von besonderem Interesse ist es, durch eine Vergleichung 
der Darstellung der nämlichen Gegenstände, denen man bei den lateinischen 
Rhetoren sowie bei den classischen Juristen begegnet, die eigenthümliche 
Methode anschaulich zu machen, nach welcher beide Gattungen von Schrift- 
stellern den Stoff ihrer Behandlung wählen und auffassen. Gleichzeitig wird 
dann auch sich herausstellen, welchen Einfluss die römischen Rechtsgelehr- 
ten auf die Rhetoren geäussert haben, und ob vielleicht wiederum eine Rück- 
wirkung dieser auf jene vorauszusetzen sei. Wir versuchen es, Andeutungen 
zur Lösung dieser Aufgabe in dem folgenden mitzutheilen. 


L 


Die lateinischen Rhetoren selbst haben es wahrlich nicht verschuldet, 
dass es nicht allen Lesern ihrer Schriften gelungen ist, die Verschiedenheit des 
Masstabes historischer Glaubwürdigkeit für die, den rhetorischen Übungen 
der Schule überwiesenen Stoffe, gegenüber den, auf den Ernst der gericht- 
lichen Verhandlungen bezüglichen und aus den Erlebnissen des öffentlichen 
Verkehrs geschöpften Mittheilungen, gehörig zu würdigen. Cicero hat in 
seinen verschiedenen rhetorischen Schriften, theils in eigener Person sprechend 
theils mittels Äusserungen, die er den namhaftesten römischen Rednern der 
Vorzeit und der Gegenwart in den Mund legt, wiederholt hingewiesen auf 
die Nothwendigkeit, den Übungen in den Rhetoren-Schulen hinsichtlich der 
Zwrichtung und Behandlung der Stoffe eine Freiheit zu gestatten, deren An- 
wendung bei den Verhandlungen vor Gericht eben so unpassend erscheinen 


als verderblich ausschlagen würde. (2) Auch ist damit leicht zu vereinigen 


(?) De oratore. II. 24. Verum ut aliquando ad causas deducamus illum, quem institui- 


mus, el eas quidem, in quibus plusculum negotii est, iudieiorum atque litinm, — hoc ei 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 51 


seine strenge Rüge der Methode geschwätziger griechischer Rhetoren. (3) 
So partheiisch nämlich Cicero die Verdienste der einheimischen Redner in 
Schutz nimmt, (*) so verfehlt er gleichwohl nicht die Griechen überall als 
die oratorischen und rhetorischen Vorbilder der Römer anzuerkennen. (3) 
Und wenn er die gleichzeitigen griechischen Lehrer der Rhetorik, deren 
Unterricht der künftige gerichtliche Redner in Rom anvertraut wurde, oder 
auch wohl in der Heimat der namhaftesten Redner und Philosophen Grie- 
chenlands denselben aufsuchte, der Anwendung einer frivolen Methode der 
Unterweisung beschuldigt, (%) so gilt eine solche Anklage lediglich dem 
Misbrauche jener Freiheit des Disputirens und dem nachtheiligen Einflusse, 
den derselbe auf die Erziehung der Zöglinge für das Leben äussern musste. 
Über den Gegensatz der Quaestiones in scholis und der in /oro tractatae 
verbreiten sich nicht minder die öfter wiederkehrenden kategorischen Äus- 
serungen Quinctilian’s, (7) in denen man auch der Bezeichnung des in 


primum praecipiemus, quascunque causas erit acturus, ut eas diligenter penitusque cogno- 
seat. Hoc in ludo non praecipitur, faciles enim causae ad pueros deferuntur. Lex pere- 
grinum vetat in murum adscendere; adscendit, hostes repulit, accusatur. Nihil est negotii 
huiusmodi causam cognoscere. Recte igitur nihil de causa discenda praecipiunt; haec est 
enim in ludo causarum fere formula. At vero in foro tabulae, testimonia, pacta conventa, 
stipulationes, cognationes, adfınitates, decreta, responsa, vita denique eorum, qui in causa 
versantur, tota cognoscenda est; quarum rerum negligentia plerasque causas — videmus 
amitti. Vergl. Orator. c.11.sq. c.15. c. 34. sq. c. 42. 

(*) De oratore. I. 23. Quem tu, inquit, mihi Mucius, Staseam, quem peripateticum 
narras? gerendus est tibi mos adolescentibus, Crasse; qui non graeci alicuius quotidianam 
loquacitatem sine usu, neque ex scholis cantilenam requirunt, sed ex homine omnium sa- 
pientissimo atque eloquentissimo, atque ex eo qui non in libellis sed in maximis causis, 
et in hoc domicilio imperii et gloriae sit consilio linguaque princeps. Vergl. c. 11. c. 19. 
sq. e. 22. ec. 24. sq. c. 44. sq. c.59. II. 3. sq. 7. sq. 18. sq. 30. sq. 36. sq. 84. III. 14. 18. sq. 
21. 24. 28. sq. 32. sq. 36. Orator. c. 34. sq. c. 42. 

(*) De oratore. I. 4. 6. 21. II. 1. sq. 28. III. 1. sq. 4. 9. Orator. c.4. sq. c.30. in Bruto. 
c. 36. sq. Dialog. de caus. corr. eloqu. c. 22. 

(°) De invent. rhet. I. 5. sq. 9. sq. 11. 35. 51. De opt. gen. orat. c. 2. sq. .De oratore. I. 
4. 6. 54. II. 38. II. 7. 9. 32. 34. 56. sq. 82. sq. Orator. c. 7. sq. c. 31 sq. in Bruto. c. 7. sq. 
c. 82. sq. 

(°) Ebendas. c. 31. c. 90. sq. De oratore. II. 3. sq. 5. 7. sq. 18. sq. 30. 

(7) Inst. orat. V.13. $8. 36. 42. 44. sq. VII. 2. 88. 24. 54. sq. VII. 3. 8.20. VII 6. $.1. 
VII. 3. 88.22. sq. IX. 2. 88. 67. 74. 80. sq. X.1. 8.36. X. 5. 8$. 14. sq. 17. q. X.7. 8. 
20. sq. XI. 1. 88. 38. 55. sq. 81.sq. XII. 2. $.8. XII. 11. $$.15.sq. In dem Dialog. de 

G2 


52 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


Frage stehenden Unterschiedes durch die Ausdrücke ficta und vera rerum 
quaestio begegnet. (°) Es ist aber das Zeugnis dieses Gewährsmannes nicht 
als eine blosse Wiederholung der entsprechenden Andeutungen Cicero’s zu 
betrachten. Vielmehr beruft sich derselbe bei dieser Gelegenheit ausdrück- 
lich auf die Autorität von Rhetoren aus der Regierungsperiode des K.Nero, 
(?) nämlich auf A. Corn. Celsus und Seneca, (!") von welchem letzteren 
übereinstimmende Auslassungen uns überliefert sind. (!!) Auch darf die 
weiter unten zu besprechende Thatsache schon hier geltend gemacht wer- 
den, dass Quinctilian vielfach auf die Erfahrungen aus der Zeit seiner eige- 
nen Thätigkeit als gerichtlicher Redner Bezug genommen hat, (1?) zur Unter- 
stützung der Selbstständigkeit seines Urtheils über den Confliet der An- 
sprüche, welche Schule und Leben an den Redner richteten. Nicht weniger 
begegnet man bei Corn. Fronto ('?) und Jul. Vietor ('*) gleichartigen 
Andeutungen. Dagegen mögen die auf den hier besprochenen Gegenstand 
bezüglichen Äusserungen der späteren Rhetoren (15) unbeachtet bleiben, da 
in ihnen weder eine eigene Ansicht der Verfasser noch eine Hinweisung auf 
die von denselben benutzten Quellen zu ermitteln ist. (1°) 

Ungleich belangreicher als diese allgemeinen Auslassungen erscheinen 
die bestimmten Anweisungen der Rhetoren über den Gebrauch der Freiheit, 


caus. corr. eloqu. e.14. ist in entsprechender Weise das dec/amatorium studium den foren- 
sia negotia entgegengesetzt. 


(®) a.a. O. VII. 4. SS.10. sq. VIII. 5. $. 22. 

(°) Vergl. J. C. F. Bähr Gesch. d. R. Literat. $$. 261. 263. 

(‘%) a.a. ©. VII. 2. 88.19. sq. IX. 2. 8.42. 

('') Nämlich in dessen Libb. controversiar. I. Prooem. I. 2. a. E. II. 11. III. in Prooem. 
47. 21. a. E. IV. in Prooem. 28. a. E. 29. V. in Prooem. 


12) Hier mag nur verwiesen werden auf diejenigen Stellen, an denen er das Verfahren 

( 8 Js 
der Rbetoren-Schulen seiner Zeit, namentlich der griechischen, tadelt. Ebds. XI. 3. 88. 57. 
103. 160. 

(®) z.B. in der Einleitung zu den Zaudes fumi et pulveris. (Reliquiae C. Frontonis. 
Ed. B. G. Niebuhr. p. 254. sq. Berol. 1816. 8.) 

(') S. dessen Ars rhetorica. (Juris civ. et Symmachi oration. partes. C. Julii Vi- 
ctoris ars rhetor. etc. cur. A. Maio. Rom. 1823. 8.) 

('’) z.B. Jul. Severianus in Syntomat. s. praecept. art. rhetor. (Antiqui rhetor. lat. 
ed. Cl. Capperonerii. p. 331. Argent. 1756. 4.) S. Bähr a. a. O. $. 270. 

('%) Ders. S$. 261. fg. 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 53 


zu,den Disputir- Übungen der Schule fingirte Stoffe zu wählen, oder ge- 
schichtliche Vorfälle zur bequemen Benutzung für diesen Zweck zuzustutzen. 
Diese Regeln sind meistens durch hinzugefügte Beispiele anschaulich ge- 
macht: vornehmlich aber dient zu ihrer Unterstützung die Vergleichung der 
uns erhaltenen Überreste von solchen in den Rhetorenschulen veranstalteten 
Disputationen. (!7) 

Cicero verficht wiederholt die Ansicht, dass für die Wahl passender 
Beispiele zu den Lehrsätzen der Rhetorik, und mehr noch bei der Be- 
grenzung der Stoffe für die schulgemässen Redeübungen, der Gebrauch er- 
dichteter Vorfälle und Rechtsregeln dem Rhetor nicht versagt werden dür- 
fe. (1%) Auch sind andere namhafte Autoritäten als Vertreter derselben Über- 
zeugung bei ihm genannt. ('?) In entsprechender Weise lässt Quinetilian 
über diesen Gegenstand sich vernehmen; (?°) allein er hat nicht unterlassen 
vor den Misbrauch jener Freiheit zu warnen, welche in seinen Tagen schran- 
kenloser geübt zu sein scheint als es nöthig und rathsam war; (?!) wozu die 
Nachahmung griechischer Vorbilder mag verleitet haben. (?) Besonders 
nachdrücklich bekämpft er diese Verirrung, die den Redeübungen zu unter- 
legenden fingirten Begebenheiten so unnatürlich und schaudererregend als 
möglich auszuprägen. Eine solche Übertreibung, sagt er, schwäche noth- 
wendig den Eindruck auf die Zuhörer, indem sie Ekel erregend wirke, wel- 
chen Erfolg der gerichtliche Redner vor allem zu meiden habe (2°). 


(‘”) Dahin gehören die Suasoriae und Controversiae des älteren Seneca, gleichwie die 
Declamationen des Quinctilian. S. Bähr a. a. O. $$. 261. 266. Über das Zeitalter die- 
ses Declamators Quinctilianus, und über die apocryphischen Bestandtheile der Samm- 
lung von dessen Declamationen, ist zu vergleichen Trebell. Pollio in XXX tyrann. c. 4. 


('*) De invent. rhet. I. 40. Deinde erit demonstrandum, — nos quod dicamus, facile 
et commode transigi posse: ut in hac lege, (nihil enim prohibet fictam exempli loco ponere, 
quo facilius res intelligatur,) „Meretrix coronam auream ne habeto; si habuerit, publica 
esto!” Vergl. c.19. sqq. ce. 29. sqq. c. 42. 

('’) In Bruto e.11. At ille (sc. Brutus) ridens: „‚Tuo vero, inquit arbitratu; quoniam 
quidern concessum est rhetoribus emenliri in historüs, ut aliquid dicere possint argutius.” 

(°) Inst. orat. III. 8. S$. 55. sq. V. 13. S$. 36. 42. 44. VIL. 1. S$. 14. sq. 21. 37. sq. VO. 
8. 8.2. VIII. 5 8.22. IX. 2. SS. 42. 67. 85. sqq. X. 1. 8. 71. 


(*) Inst. orat. IV. 2. 88. 97. sq. VI. 5. $. 22. IX. 2. 88. 67. 79. sqg. XI. 1. $$. 78. sq. 
82. sq. Vergl. Dialog. de caus. corr. eloqu. c. 35. sq. 


54 Dınksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


Der Einfluss griechischer Muster auf die Darstellung der römischen 
Rhetoren, hinsichtlich der Auswahl fingirter sowie bei der Behandlung 
mythischer und historischer Stoffe, zum Behufe der Bildung von Beispielen 
und Disputations-Objecten, ist schon in Cicero’s Schriften nicht zu ver- 
kennen. (2) Es beschränkt sich dies jedoch auf vereinzelte Anwendungs- 
fälle und tritt gewöhnlich nur da hervor, wo die Eigenheiten der Darstellung 
berühmter griechischer Redner geschildert sind, (*°) oder wo auf die be- 
kannten Redeübungen der Rhetoren dieses Volkes verwiesen werden sollte. 
(2°) Sonst ist das Bestreben Cicero’s entschieden darauf gerichtet, in seinen 
dogmatisch -rhetorischen Schriften, dem für die gerichtliche Beredsamkeit 
auszubildenden Zöglinge vorzugsweis Beispiele aus dem einheimischen Recht 
und Ereignisse der vaterländischen Geschichte vor Augen zu stellen. Ab- 
gesehen von der Topik, die einem bekannten Rechtsgelehrten seiner Zeit 
gewidmet war, (27) begegnen wir dieser Erscheinung auch in den übrigen 
von seinen genannten Schriften. Bisweilen geschieht darin der fremdländi- 
schen Institute nur Erwähnung, um das Verdienst der in der Heimat gel- 
tenden Einrichtungen desto entschiedener hervortreten zu lassen. (*) An 
andern Orten wurde die Bezugnahme auf fremdes Recht durch den be- 
sprochenen Gegenstand geboten, z.B. bei Fragen auf dem Gebiete des See- 
rechts die Hinweisung auf die Seegesetze der Rhodier. (°°) Überall aber, 
wo fremdländische oder auch wohl fingirte Beispiele herbeigezogen sind, 
fehlt es nicht an der Andeutung für den Leser, dass die Darstellung auf 
einem andern Boden als dem gewöhnlichen sich bewege. (°") Dagegen sind 
die Thatsachen der römischen Geschichte, gleichwie die Niittberlungt von 


er) Dan wiederum sein Verfahren den späteren Ridoen als Muster gedient hat, Met 
zu Tage. Man kann auch die Worte Quinetilian’s (ebds. IX. 4. 8.79. „Et quidem Ci- 
ceronem sequar, nam is eminentissimos Graecorum est secutus.”) ee anwenden, obgleich 
dieselben in der vorstehenden Verbindung auf einen andern Gegenstand Bezug nehmen. 


() z.B. De invent. rhet. I. 31. II.29. De opt. gen. orat. c.7. 


) 


(°) So wenn er von einer causa, quae apud Graecos est pervagata, spricht. De invent. 
rhet. T. 33. 38. sq. vergl. 8.13. sq. 22. 49. Tadelnde Äusserungen über griechische Rheto- 
ren findet man: De oratore I. 11. 19. sq. 44. sq. 51. 


(?) Nänlich dem C. Trebatius Testa. S. Topic. c.1. c.19. c. 26. 
(°®) z. B. Orator. partition. c. 34. 

(°) De invent. rhet. II. 32. vergl. I. 30. 

(°°) z. B. ebendas. II. 23. 29. 31. 49. 51. 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 55 


Regeln des einheimischen Rechts, fast ohne Ausnahme mit gewissenhafter 
Treue und ohne die Zugabe rhetorischer Ausschmückung wiedergegeben.(°') 
Es fehlt auch nicht an der Verweisung auf einzelne berüchtigte Rechtsfälle, 
juristische Responsen und gerichtliche Entscheidungen, (°*) von denen einige, 
als der Gegenwart angehörend und die Interessen der redend eingeführten 
Personen nahe berührend, sogar als bannale Beispiele öfter wiederkehren.(°°) 

Ein verschiedenes Resultat gewinnt man aus den Mittheilungen der 
auf Cicero folgenden lateinischen Rhetoren, (**) bei denen der überwiegende 
Einfluss der durch ihre griechischen Vorbilder befolgten Methode nicht zu 
verkennen ist. Quinctilian ist freilich vorzugsweis den Spuren Cicero’s 
gefolgt, (*°) auf dessen Reden er überall verweist und aus dessen rhetori- 
schen Werken er nicht blos die gangbarsten Beispiele entlehnt, sondern zum 
Theil längere Auszüge von Textesstellen mitgetheilt hat. (°) Auch findet 
man bei ihm Ereignisse aus der römischen Geschichte mit Genauigkeit an- 
geführt und beiläufig Erfahrungen aus dem Bereiche seiner eigenen Thätig- 
keit als gerichtlicher Redner besprochen. (?7) Dennoch tritt in den Einzel- 
heiten seiner Darstellung der Einfluss der Methode antiker und moderner 
griechischer Rhetoren fühlbar hervor. Er nennt nicht blos die griechischen 
Autoritäten neben Cicero, (°°) er bedient sich auch regelmässig der, den 
früheren sowie den gleichzeitigen Rhetoren, zumal dem Seneca (°*) ent- 
lehnten, Beispiele griechischer Institutionen in der Übertragung auf die Pra- 


() z.B. die causa Curiana, ebendas. I. 39. II. 6. 32. 54. Topic. c. 10. de invent. rhet. 
II. 42. in Bruto c. 52. sq. 

(*) Seneca controversiar. I. Prooem. II. Prooem. hat deren Namen verzeichnet und 
eine Übersicht ihrer Thätigkeit gegeben. 

(°°) Man stölst in Quinctilian’s Inst. orat. bei jedem Schritte auf Stellen, welche 
das überschwänglichste Lob Cicero’s aussprechen. (Vergl. V. 3. $. 52. VIIL. 3. $. 64. VIIL 
4. 88.4. 28. IX. 3. 88.89. sq. IX. 4. 8.79. X.1. 88.105. sq.) 

() Ebendas. V. 11. 8.11. IX. 1. 88. 25. sq. 37. sq. IX. 3. 88.29. sq. IX. 4. 8.14. XL. 3. 
88.162. sq. XI. 4. 8.14. 


(7) a.a. 0. II. 5. 88.11.13. II. 6. 88.76. 84. III. 8. 88. 5.19. IV. 2. 8.7. VIL. 1. $$. 
1 
N 


9.12. VII. 2. $.24. VO. 6. 88.9. sq. IX. 2. 88.73. sq. XII. 4. 


(’”) In dessen Libri controversiar. 


56 Dimxsen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


xis der Gegenwart; gleichwie er, nach denselben Vorbildern, (*°) den la- 
teinischen Bezeichnungen einheimischer Rechtsgeschäfte den, durch griechi- 
sche Rhetoren in den Schulen seiner Zeit verbreiteten, fremdländischen 
Sprachgebrauch substituirt hat. (*') ‘Was aber bei ihm als die Ausnahme 
und als ein unwillkührlicher Verstoss gegen die Überlieferungen der heimi- 
schen Doctrin und Praxis betrachtet werden darf, das erscheint mit Bewusst- 
sein angewendet und zur vollendeten Regel ansgebildet bei den Zeitgenossen 
des älteren Seneca und den mit Quinctilian gleichzeitigen Rhetoren, sowie 
bei jenen der späteren Zeit. Dieselben berufen sich nicht blos ausdrücklich 
und mit einiger Ostentation auf ihre griechischen Führer; (*) sie haben 
auch deren Methode sich angeeignet in der Wahl und Behandlung von Stof- 
fen der Disputation und von Beispielen für ihre Lehrsätze. (*”) Die pro- 
ponirten Rechtsfälle gehören regelmässig der Fiction an und verfolgen in 
ermüdender Weise eine gleichförmige Richtung. Für deren Beurtheilung 
wird entweder eine Rechtsregel ohne alle locale Färbung postulirt, (**) oder 


(“°%) Ebds. z.B. 1.1.4. sq. I. 9. 

() a.a. 0. II. 6. SS. 25. 74.77. V. 10. $$. 36. 97.107. VII. 2. 88.17. 25. sq. VII 3. 
31.sq. VII. 4. SS. 4. > sq. 24. VII. 8. SS- 2.sq. VII.'9. 88. 88. sq. IX. 2. 8.79. XI. 1. 
82. sq. Besonders kommt die folgende Äusserung in Ehen: VI. ® 8.11. „Qui- 


bus similia etiam in vera rerum quaestione tractantur. Nam quae in scholis addicatorum, 


un 52 


SS- 
Ss: 


haec in foro exheredatorum a parentibus et bona apud Gentumviros repetentium ratio est; 
quae illic malae tractationis, hie rei uxoriae, cum quaeritur „utrius culpa divortium factum 
quae illie dementiae, hie petendi curatoris.” Vergl. $$.10. 24. sqg- 35. IV. 2. 8.30. 
XI. 1. 8.58. Seneca controvers. II. 9. 11. V. 32. Cur. Fortunatianus Art. rhetor. I. 


Se ERET, 
p. 67. Suidas v. Kazwsews dien. 


29 


sit! 


() z.B. Sulpie. Victor. Institution. orat. p.279. (Lat. rhetor. ed. Capperon.) 
Aur. Augustini Princip. rhetor. p. 318. sq. p. 328. ebds. Suidas v. ’Agyn Foyrızy. 


() Der Liber suasoriarum des älteren Seneca enthält zahlreiche Belege dafür. Nicht 
minder dessen Lidri controversiarum. Hier ist es bisweilen ausdrücklich hervorgehoben, wie 
die den griechischen Rhetoren entlehnten oder nachgebildeten bannalen Stoffe durch die 
Zusätze verschiedener lateinischer Declamatoren erweitert worden sind. Vergl. Conzrovo. I. 1. 
2.a.E. 4. II. 9. sqg. 12. sq. II. 16. sq. 20. a. E. 22. IV. 27. V. 30. 33. 


(‘) So in dem vielfach besprochenen Beispiel des Verbotes, die Stadtmauern zu über- 
steigen, oder zur Nachtzeit Waffen zu tragen. Cur. Fortunatian. Art. rhrtor. schol. I. 
p- 58. 68. Sulpic. Vietor. a.a. O. p.296. Andere Beispiele liefern Seneca a. a. O. I. 
5.sq. II. 11. III. 19. 23. Quinctilian. Declamat. 357. sq. Fortunatian. a. a. O. p. 58. 
sg. 69. 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 57 


aus den Überlieferungen griechischer Volkssitte hergeleitet. (#) Freilich 
kommen daneben auch wohl Begebenheiten aus der römischen Geschichte, 
und Berichte über die Entscheidung von Fragen nach einheimischen Rechts- 
regeln zur Erörterung. Allein die Auswahl solcher Stoffe hält sich mit Vor- 
liebe an das ausserordentliche und nicht naturgemässe der Ereignisse ; (*6) 
abgesehen davon dass die Einzelheiten der Berichte, über die Thatsachen 
gleichwie über die Entscheidungsregeln, grossentheils der historischen Treue 
entbehren. (7) Diese Theorie der Rhetorik entsprach aber wiederum der 
gleichzeitigen oratorischen Praxis, welche schon von dem Rhetor Seneca (*%) 
und von dem Verfasser des Dialoges über die Ursachen des Verfalles der 
gerichtlichen Beredsamkeit (*?) geschildert wird, als im Dienste der Frivolität 
stehend und des schlechten Geschmackes. (°°) Von nicht geringerer Bedeut- 
samkeit ist die uns erhaltene (°') Mittheilung des jungen Marc- Antonin an 
seinen Lehrer Fronto über den gleichzeitigen berühmten Rhetor Pole- 
mon. Er tadelt nämlich an diesem die Richtung der Vorträge auf das Practi- 


(*) z.B. die, auf die praemia tyrannicidarum gestützten, Rechtsfragen. Seneca con- 
trov. I. 7. 1.13. IV.27. Quinctil. declam. 382. Fortunatian. a. a. O. p. 57. 66. Sul- 
pie. Victor. ebds. p.258. Ferner die auf die abdicatio liberorum bezüglichen Erörterungen. 
Seneca das. I. 1. 4. sq. 8. IT. 9. 12. III. 18. V. 31. Fortunatian. das. p. 54. 56. 58. sq. 
60. 66. Sulpic. Victor. das. p. 295. Dialog. de caus. corr. eloqu. c. 35. Vergl. des Verf. 
Versuche z. Krit. u. Ausl. d. R. Rs. S. 62. fg. 

(“*) Dahin gehört die Mehrzahl der, in den Conzroversiae des Seneca (z.B. 1. 2. 4. 6. 
sqg. II. 9. sq. III. 16. sqq. 21.sq. IV. 24. 26. sq. V. 30. sq.) und in den Declamation. des 
Quinctilian (z. B. Decl. 3. 5. sq. 8. 14. sqq. 247. 253. sqq. 269. sqq. 281.sq. 289. 297. 305. 
sg. 313. 317. 321. 328. 344. 348. 374.) behandelten Stoffe. Ausserdem auch die bei Sul- 
pic. Victor (ebds. p. 269. sqq. 274. sq. 281. sq. 286. 288. sq. 291.) und Marian. Capella 
(De rhetor. p. 418. ebds.) verzeichneten Beispiele. Vergl. überhaupt Dial. de c. corr. eloqu. 
a.a.O. und Schol. ad Juvenal. Satyr. VII. 168. X. 166. sq. (A. G. Cramer in Juvenal. sat. 
comm. vet. p. 299. 400. Hamb. 1823. 8.) 

(*”) Vergl. Seneca controy. III. 17. IV. 25. Quinctil. decl. 264. Fortunatian. 
a. a. O0. p. 63. Emporius de deliberat. spec. p. 316. Priscian. de praeex. rhetor. p. 361. 
Capperon. 

(*) z. B. Suasor. 1. a.E. 3. a. E. Controvers. I. Prooem. 4. II. Prooem. 9. 12. I. 16. 
20. IV. Prooem. 26. V. Prooem. 


(“) Dialog. de c. corr. eloqu. c. 20. sq. c. 26. sq. c. 31. sq. 


(°%) Über die Einmischung der Frauen bei öffentlichen oratorischen Übungen. S. Schol. 
ad Juvenal. sat. VI. 434. 445. 


(°‘) In des Corn. Fronto epist. ad Marc. Caes. II. 3. 4. p. 50. sq. ed. Niebuhr. 
Philos.- histor. Kl. 1847. H 


58 Diesen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


sche, indem er das Bestreben schmerzlich vermifst, den Schmuck der Rede 
zu befördern und den Sinnen der Zuhörer zu schmeicheln: welche Ansicht 
freilich von seinem Lehrer zum Theil bekämpft wird; während Fronto’s 
Äusserungen über seine eigene Reden und über jene seines fürstlichen Zög- 
linges im wesentlichen damit zusammentreffen. (°?) Hier ist überall die 
Kunst des Redeausdruckes als die Hauptsache betrachtet, und allerdings 
war der Geschmack des Zeitalters ganz geeignet, um die schwülstige Form 
des Ausdruckes in Schrift und Rede zu begünstigen. (°°) 


IL, 


Nunmehr können wir der Prüfung der oben aufgestellten Frage näher 
treten: ob Spuren des Einflusses der Methode griechischer und römischer 
Rhetoren, hinsichtlich der Behandlung historischer Thatsachen, nachgewie- 
sen werden können in der Darstellung römischer Geschichtschreiber, und 
zwar in solchen Abschnitten ihrer Werke, welche die geschichtlichen Er- 
eignisse lediglich berichten, ohne dieselben durch künstlich redigirte Reden 
der auftretenden Personen zu commentiren? Hier ist vorzugsweis des Dio- 
nys von Halicarnass und des Plutarch zu gedenken, denen das Prä- 
dicat von Rhetoren neben jenem als Historiker unbestritten gebührt. (°*) 
Allein die in des Dionysius Geschichtwerk zu Tage liegende Einwirkung 
rhetorischer Elemente auf die historische Kritik der Thatsachen beschränkt 
sich grossentheils auf die, den einzelnen römischen Königen beigelegten, öf- 
fentlichen Einrichtungen; (°°) und in diesem Zusammenhange ist derselben 
bereits an einem andern Orte (°°) gedacht Dasselbe gilt von der 


= ilenkad II. N und in En ist. de PR s 
C) p P- gg- 


(°°) Die allgemeinen Andeutungen, über das Erfordernis von Ernst und Würde für 
die gerichtliche Beredsamkeit, (z. B. in Epist. de eloquentia. p. 83. sq.) sind mit diesen 
Thatsachen schwer zu vereinigen. 


(*) Über Plutarch’s Stellung als Lehrer der Philosophie und Rhetorik liegen dessen 
eigene Äusserungen vor in Demosth. c.2.sq. und De curiositat. ec. 15. 

(°) Der Zusammenhang der Berichte des Dionys mit der Kritik einzelner Sätze der 
X Viral-Gesetzgebung ist nicht ganz zu leugnen, obwohl nicht eben hoch zu veranschlagen. 
S. des Verf. Kritik d. XII Tafel Fragmente. S. 227. fg. 271. fg. 427. 605. Leipz. 1824. 8. 

(5%) Vergl. des Verf. Übsicht d. Krit. d. Gesetze d. R. Könige. (In dessen Versuchen 
u. s. w. S. 234. fgg.) 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 59 


Vergleichung, welche Plutarch, in den Lebensbeschreibungen der beiden 
ersten römischen Könige, zwischen den Resultaten von deren Gesetzgebung 
und jener des Solon und Lycurg veranstaltet hat. Dagegen bleibt hier zu 
untersuchen, ob in den Quaestiones romanae des nämlichen Historikers die 
Einwirkung rhetorischer Motive, nicht blos auf die Beurtheilung sondern 
auch auf die Ermittelung geschichtlicher Thatsachen, nachgewiesen werden 
kann. 

In dem genannten Werke hat Plutarch, ungleich sorgfältiger als in 
seinen Biographieen, bei den einzelnen Fragestücken und den mannichfachen 
Versuchen zu deren Deutung, die Gewährsmänner namhaft gemacht, denen 
er gefolgt ist. Es sind dies meistens römische Namen von gutem Klange, (57) 
und nur ausnahmsweis begegnet man unbestimmten Bezeichnungen von Hi- 
storikern überhaupt sowie von andern Berichterstattern. (%°) Nichtsdesto- 
weniger dürfte an einzelnen, nach diesen Vorgängern behandelten, Beispie- 
len es wahrscheinlich gemacht werden können, dass Plutarch bei der Ab- 
leitung und Verknüpfung von Thatsachen der römischen Geschichte biswei- 
len der Verlockung nicht hat widerstehen können, die rhetorischen Motive 
auf Kosten der historischen Kritik zu begünstigen. 

Zunächst ist derjenigen Berichte zu gedenken, welche die einfachsten 
naturgemässen Erscheinungen im gesellschaftlichen Verkehr als charakteristi- 
sche Einrichtungen der Römer postuliren, zu deren Begründung zum Theil 
die künstlichsten, den Disputir-Übungen der Rhetoren-Schulen abgeborgten, 
Motive herbeigezogen sind. Wir erinnern an den Versuch, die unverfäng- 
liche Thatsache zu deuten, dass die von einer Reise heimkehrenden Ehe- 
männer es nie unterlassen haben sollen, von dem Zeitpunkt ihres Eintref- 
fens die zurückgebliebene Ehefrau zuvor in Kenntnis zu setzen, anstatt die- 
selbe durch eine unvorhergesehene Ankunft zu überraschen. (°°) In gleicher 
Weise ist die Sitte, dass die Brautnacht unter dem Schleier der Dunkelheit 
gefeiert ward, als etwas den Römern eigenthümliches und sogar als ein Pro- 


(°”) Am häufigsten benutzt ist Varro; (c.2. c.4.sq. e.14. c. 27. c. 90. c.101.) dann 
der ältere Cato; (c. 39. c.49.) auch Cicero und Livius, (c. 25. c. 34.) Antist. La- 
beo und Capito. (ec. 46. c. 50.) 

(®) S. c. 31. vergl. c. 6. c. 45. ec. 51. c. 56. c. 61. c. 69. c. 86. c.106. c. 112. 

(CD) E60 

H2 


60 Dinsen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


duct ihrer Gesetzgebung dargestellt, obwohl es dieser Voraussetzung an je- 
der Begründung mangelt. Es geschah dies wohl nur zu dem Ende, um an 
die analoge Vorschrift des Solonischen Gesetzes zu erinnern, dass die Jung- 
frau, bevor sie das Brautgemach betrete, eine wohlriechende Frucht ge- 
niessen solle, um durch das Aroma ihres Athems dem Manne angenehm zu 
werden. (°°) Sodann ist auf solche Erzählungen aufmerksam zu machen, 
welche für wirklich ächte Resultate römischer Sitte die Rechtfertigung nicht 
in alt-italischem Herkommen suchen, sondern nach der leichtfertigen Me- 
thode griechischer Rhetoren, aus unverbürgten und zum Theil entschieden 
fingirten Thatsachen eine künstliche Erklärung auferbauen. 

So wie die, bei Sklavenhaltenden Völkern von selbst sich einfindende 
Sitte, dass die freien Frauen mit der Arbeit an der Mühle und dem Küchen- 
heerde verschont blieben, nicht als eine ursprüngliche Einrichtung in Rom 
geschildert, sondern als das Ergebnis eines ausdrücklichen Vorbehaltes, den 
die Sabiner in das mit den Römern vollzogene Bündnis, zu Gunsten der an 
dieselben überlassenen Landsmänninnen, hatten aufnehmen lassen. (°') Für 
die Thatsache, dass die Römer von Alters her die Züchtigkeit der Frauen 
nicht durch deren äusserliche Absperrung befördert wissen wollten, und 
denselben unbedenklich gestatteten auch ausserhalb des Hauses an den ge- 
eigneten Orten unverschleiert sich zu zeigen, (°) hätte auf eine jede Recht- 
fertigung verzichtet werden können. Allein durch Plutarch (°) ist die be- 
kannte Erzählung von den ersten Ehescheidungen in Rom damit in Ver- 
bindung gebracht worden. Der erste Römer, der von seiner Frau sich ge- 
schieden, auf Grund ihrer Unfruchtbarkeit, sei Sp. Carvilius gewesen; das 
zweite Beispiel der Ehescheidung habe Sulp. Gallus geliefert, der seine 
Frau verstossen, weil sie beim Vorübergehen fremder Personen ihr Haupt 
mit dem Gewande verdeckt hatte um unerkannt zu bleiben; die dritte 
Scheidung endlich sei gegen die Ehefrau des P. Sempronius vollzogen wor- 


(°%) Ebds. c. 65. 


(°) Das. c. 85. Vergl. denselben in Romulo. c.18. sqq. (Aus dieser Quelle ist die ent- 
sprechende Notiz des Zonaras Ann. VII. 4. geflossen.) 

(°®) Nur die christlichen Frauen in Rom erschienen öffentlich mit verschleiertem Haupte; 
welche Sitte indess durch ein Ediet des K. Decius abgeschafft wurde. S. G. Cedrenus 
Histor. comp. p. 258. (ed. J. Becker. V.I. p. 453. Bonn. 1838. 8.) 

(©) Ebds. c.14: 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 61 


den, die bei einer Leichenfeier als Zuschauerin der öffentlichen Kampfspiele 
zugegen gewesen war. Die unrichtige Deutung der causa divortü Carviliani (°*) 
mag hier unangefochten bleiben, da sie mit dem zu besprechenden Gegen- 
stande nicht in unmittelbarem Zusammenhange steht und überdem bereits 
durch andere (°) zur Genüge kritisch beleuchtet ist. Was aber die beiden 
anderen Fälle anbelangt, so liegt zu Tage dass dieselben zu dem Ursprunge 
der Sitte, den Frauen das unverschleierte Auftreten ausserhalb des Hauses 
zu verstatten, in gar keiner Beziehung stehen. Denn Sulp. Gallus machte 
als Scheidungsgrund gegen seine Frau geltend den Verdacht unehrbaren 
Lebenswandels, den der bezeichnete Vorfall unterstützte, indem eine unbe- 
scholtene Frau der Verschleierung gegenüber Fremden nicht zu bedürfen 
schien; dagegen P. Sempronius bediente sich eines Trennungsgrundes, der 
noch im späteren römischen Recht als zureichend anerkannt ist, (°°) nämlich 
dieser Thatsache, dass die Ehefrau ohne die Genehmigung ihres Mannes (7) 
den öffentlichen Schauspielen beigewohnt hatte. Nur in den Augen des Rhe- 
tors konnte der einfache Zusammenhang dieser Vorfälle als ungenügend er- 
scheinen, so dass er einen künstlichen Anknüpfungs-Punkt dafür glaubte 
suchen zu müssen. 

Am entschiedensten aber werden wir über den rhetorischen Stand- 
punkt Plutarch’s in dem fraglichen Werke durch ein anderes Beispiel un- 
terrichtet. Die bekannte, und in unsern Tagen auch von römischen Rechts- 
historikern (°°) vielfach besprochene Ausführung in Cap. 6. der Quaestiones 
romanae, dass die Sitte der römischen Frauen, ihre Blutsverwandten bei 
der Begrüssung mit einem Kusse zu empfangen, sich auf die Cognaten der 
nächsten Grade beschränkt habe, mit welchen die Eingehung gesetzlich gül- 
tiger Geschlechtsverbindungen nicht verstattet war, schliesst mit einer an- 


(°) Auf diesen Sp. Carvilius Ruga und dessen Freigelassenen, der die erste Schule 
zu Rom eröffnet haben soll, kommt Plutarch noch mehrmals zurück. Vergl. ebds. c. 54. 
c. 99. 

(©) S. Savigny in d. Zeitschr. f. gesch. RsW. V.7. 

(°) Obwohl damals, durch den Einfluss der Lehren des Christenthums, ein solches 
Verfahren der Frauen noch anstössiger erschien. Tertullian. de spectac. c.17.sq. ce. 21. 
sq. c. 26. 

(°) Mit des Mannes Zustimmung durfte die römische Ehefrau solche Besuche unge- 
straft sich erlauben. Vergl. Schol. in Juvenal. sat. XI. 199. 


(°) Klenze’s Abhdlg: Die Cognaten u. Affinen. (Zeitschr. f. gesch. RsW. VI. 1.) 


62 Dieksen über die durch die gr. u. lat. ‚Rihetoren angewendete Methode 


geblichen historischen Nachweisung über den Ursprung der Zulassung von 
Heiraten der Geschwisterkinder bei den Römern. Es sei, so heisst es, ein 
gewisser, bei dem Volke in hoher Gunst stehender, Römer mit einer Cou- 
sine, die ihm dem dürftigen ein reiches Heiratsgut zugebracht hatte, ehelich 
verbunden gewesen. Da nun aber diese Vereinigung eine gesetzwidrige war, 
so sei derselbe deshalb öffentlich angeklagt worden. Das Volk jedoch, ohne 
dessen Vertheidigung entgegen zu nehmen, habe ihn sofort freigesprochen 
und nicht allein sein Ehebündnis für ein rechtmässiges erklärt, sondern 
gleichzeitig auch alle Heiraten der Seitenverwandten vom vierten Grade ab- 
wärts für die Zukunft genehmigt. Dieser Bericht bietet Blössen von ganz 
ungewöhnlicher Beschaffenheit. Unberührt mag es bleiben, dass Tacitus (°) 
bei der Schilderung der Verhandlungen des röm. Senates, auf Veranlassung 
der Heirat des K. Claudius und der Agrippina, über die Freigebung der Ehe 
des Oheims und der Bruderstochter, dem Kaiser selbst die Worte in den 
Mund gelegt hat, es sei die Geschlechtsverbindung solcher nahen Seiten- 
verwandten zwar lange Zeit hindurch den Römern unbekannt geblieben, 
während die Sitten anderer Völker dieselbe gestatteten; allein im Laufe der 
Zeiten habe auch in Rom die Sitte das Vorurtheil besiegt. Man könnte ein- 
wenden, dieser Historiker gebe nur eine Notiz aus seinem rhetorischen Ap- 
parat. Allein es bleibt zu beachten, dass Taeitus hier allem Anschein nach 
aus den Senatsacten geschöpft hat; und die Persönlichkeit des K. Claudius 
lässt voraussetzen, dass derselbe bei dieser Veranlassung die Präcedenz je- 
nes, bei Plutarch gemeldeten, angeblichen Actes der Volks- Souveränität 


schwerlich würde unbeachtet gelassen haben, wenn davon auch nur eine 


schwankende Tradition denen bekannt gewesen wäre. Eben so wenig 
soll Gewicht darauf gelegt werden, dafs Plutarch an andern Stellen sei- 
nes Werkes, wo des römisch -rechtlichen Verbotes blutschänderischer Ge- 
schlechtsverbindungen gedacht ist, von jener seltsamen Begebenheit nichts 
zu berichten gewusst hat. (7°) Endlich wird es genügen nur beiläufig hin- 


zuweisen auf die handgreiflichen Widersprüche, aus denen die in Frage 


(°) Annal. XII. 6. At enim nova nobis in fratrum filias coniugia, sed aliis gentibus 
solemnia, nec lege ulla prohibita. Et sobrinarum diu ignorata, tempore addito percre- 
buisse; morem accommodari prout conducat, et fore hoc quoque in his, quae mox usur- 


pentur. 


(°) a.a. 0. c.108. 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 63 


stehende Darstellung Plutarch’s zusammengesetzt ist. Zeitalter und Namen 
des Helden sind darin nicht einmal angedeutet; noch weniger die Art sei- 
ner Gelangung zur höchsten Gunst des Volkes. Und dennoch würde selbst 
das unbestreitbarste Verdienst um den Staat einen solchen tumultuarischen 
Act der öffentlichen Verhandlung, wie diesen jene Erzählung mittels der 
Verbindung von Gerichts- und Gesetzgebungs-Comitien voraussetzt, kaum 
haben rechtfertigen können. Dagegen dürfen wir die sichtbaren Spuren der 
Einwirkung rhetorischer Motive auf den Bericht Plutarch’s nicht unbeachtei 
lassen. Quinctilian (”!) bespricht gelegentlich die den Griechen geläufigen 
Stoffe für rhetorische Disputationen und berührt dabei unter andern diese 
Frage: Ob ein Krieger jeden Lohn ausgezeichneter Tapferkeit vom Staate 
ansprechen dürfe, auch einen solchen der nicht ohne die Verletzung der 
heiligsten Rechte einzelner Staatsbürger zu gewähren sei, z. B. die Bewil- 
ligung einer fremden Ehefrau zur Heirat? Daran knüpft sich der Bericht 
eines späteren Rhetors, (7?) welcher die nach griechischen Vorbildern redi- 
girten Stoffe für Redeübungen mit Vorliebe herbeizuziehen pflegt. Derselbe 
stellt die folgende Aufgabe zur Disputation. Ein Feldherr fordert als Be- 
lohnung seiner Tapferkeit, dass die Frau eines bestimmten Bürgers ihm 
selbst zur Ehe überlassen werde. Dies wird ihm zugestanden, allein in der 
Hochzeitnacht stirbt angeblich die Frau und wird als eine scheinbare Leiche 
zu ihrem früheren Ehemanne gebracht. Dieser veranstaltet Versuche zur 
Wiederbelebung der Scheintodten, welche gelingen, und darauf sprechen 
gleichzeitig beide Männer die Gereitete an. (”°) Nicht minder widernatür- 


(€) Inst. orat. VII. 10. $.6. Nisi forte satis erit dividendi peritus, qui controversiam 
in haec deduxerit: An omne praemium viro forti dandum sit? an ex privato? an nuptiae! 
an ea, quae nupta sit? an haec? 


(?) Cur. Fortunatian. art. rhet. I. p. 65. Capperon. 


(°°) Entsprechenden abentheuerlichen Wendungen begegnet man auch in anderen Bei- 
spielen der Rhetoren, z. B. in dem von Seneca controv. I. 3. behandelten Fall der un- 
keuschen Vestalin, welche die Vollziehung der Todesstrafe überlebt hat und gegen die Er- 
neuerung der Strafvollstreckung protestirt. Oder da, wo eine Frau durch die Nachricht 
von dem Tode ihres Mannes getäuscht den Versuch macht, sich selbst das Leben zu neh- 
men, allein vom Untergange gerettet wird; worauf der Hausvater ihr die Wahl stellt 
zwischen der Trennung von ihrem Ehemanne und der Verstossung aus dem väterlichen Hause. 
Ebendas. II. 10. Vergl. Excerpt. controv. VIII. 1. 


64 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


lich ist die in den sg. kleinen Declamationen Quinctilian’s (7*) behan- 
delte Aufgabe redigirt, wo ein von den Eltern ausgesetzter Sohn später als 
Lohn für seine Kriegsthaten die Heirat derjenigen Frau begehrt, die als 
seine Mutter sich ausweist. (7°) Was hier überall als übertriebene, die Sitt- 
lichkeit verhöhnende, Schilderung unser Gefühl verletzt, ist von Plutarch 
als ein fügsamer Stoff benutzt worden, um die sittliche Versöhnung, ja so- 
gar die gesetzliche Ausgleichung gesellschaftlicher Confliete daran zu knü- 
pfen. Unser Berichterstatter lässt den tapfern Mann nicht die Frau eines 
dritten vom Staate begehren; derselbe hat vielmehr ein lediges Frauen- 
zimmer schon früher geehelicht und zwar unter dem begünstigenden Sach- 
verhältnis, dass ihr Reichthum seiner Armuth zu Hülfe gekommen ist. Al- 
lein das Gesetz untersagt ihm die Verbindung mit dieser nahen Blutsver- 
wandten, und deshalb unter Anklage gestellt hat er zu gewärtigen, dass er 
nicht blos die Frau zusammt dem Heiratsgute verliere, sondern dass ihn 
auch die Strafe des Verbrechens der Blutschande erreiche. Der also ge- 
schürzte Knoten wird nunmehr gelöst durch die Dankbarkeit des Volkes, 
welches, mit Umgehung aller herkömmlichen Formen der öffentlichen Ver- 
handlung, höchst summarisch den Pflichten der Dankbarkeit des Vaterlandes 
und gleichzeitig den Forderungen der Gerechtigkeit genügt, indem es in 
einem Athem den Angeklagten freispricht und dem unpassenden Gesetz, 
über die blutschänderische Verbindung der Geschwisterkinder, eine weisere 
Verordnung substituirt. Auch dem blödesten Auge kann es nicht entgehen, 
dass hier ein entschieden unhistorischer Stoff aus der Schule griechischer 
Rhetoren auf den Boden römischer Rechtsbegriffe verpflanzt worden ist. 
Die künstliche Verknüpfung der Einzelheiten dieses Berichtes vermag gleich- 
wohl nicht die innere Unwahrheit des Ganzen zu verdecken. Nur ein Rhe- 
tor konnte etwas so durchaus unglaubliches erfinden; und ohne die Priori- 
tät einer solchen Erfindung für Plutarch selbst in Anspruch zu nehmen, 
glauben wir denselben jedenfalls verantwortlich machen zu dürfen dafür, 
dass er die ganze Frage nicht, wie unsere Civilisten glauben, die das ius 
osculi für eine willkommene römisch-rechtliche Eroberung halten, ' vom 


(*) N. 306. 


(°) Noch ein anderes Beispiel findet man in des Calpurn. Flaccus Excerpt. X rhe- 


tor. minor. no. 22. 29. 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 65 


Standpunkte des Historikers aufgefasst hat, sondern ausschliesslich von je- 
nem des Rhetors. 


IM. 


Schwieriger als bei den römischen Geschichtschreibern ist die Nach- 
weisung des Einflusses der Methode der Rhetoren, juristische Stoffe zu be- 
handeln, auf die Form der Darstellung in den Schriftwerken der römischen 
Rechtsgelehrten. Die allgemeinen Äusserungen der römischen Qlassiker 
über diesen Gegenstand, auf die man sich berufen kann und zum Theil auch 
wirklich berufen hat, sei es um das Vorhandensein oder um die Abwesen- 
heit einer solchen Einwirkung dadurch zu unterstützen, sind nichts weniger 
als entscheidend. Cicero (?°) bezeugt freilich die Verschiedenheit des Ver- 
fahrens der Rhetoren und der Rechtsgelehrten seiner Zeit, in Beziehung auf 
die Aufstellung fingirter Beispiele. Allein daraus würde noch nichts folgen 
für die Behandlung historischer Fälle; gleichwie überhaupt das über die ju- 
ristischen Zeitgenossen Cicero’s geäusserte nicht ohne weiteres als Beweis 
für die Darstellung der älteren Juristen geltend gemacht werden könnte. 
Man (7) beruft sich ferner auf die von Pomponius (7°) angedeutete Ver- 
gleichung der durch Labeo und Capito gebildeten Juristen-Schulen, mit den 
Schulen der Philosophen. Indess der Einfluss der Lehrsätze griechischer 
Philosophie auf die Darstellung der römischen Rechtsgelehrten tritt in for- 
meller Beziehung, hinsichtlich der allgemeinen Rechtsbegriffe, und der Er- 
kenntnisquellen der geltenden Rechtsregeln, erst bei einzelnen juristischen 
Classikern aus der Regierungs-Periode der Severe (’?) entschieden hervor, 
mithin zu einer Zeit, wo die Rechtswissenschaft den Einfluss der Schul- 
Controversen schon überwunden hatte, und wo jedenfalls die Selbstständig- 


(°) Topie. c.10. Ficta etiam exempla similitudinis habent vim, sed ea oratoria magis 
sunt quam vestra, (dies geht auf die Juristen, da C. Trebatius, einer von diesen, hier 
apostrophirt ist,) quamquam uti etiam vos soletis, sed hoc modo: „Finge mancipio ali- 
quem dedisse ete.” 

(”) S. Puchta Curs. d. Institution. Bd.1. $. 98. S. 437. Ausg. 2. 

(°°) Fr. 2. 8.47. D. de orig. iur. 1.2. Hi duo (sc. Ateius Capito et Antistius Labeo) 
primum veluti diversas sectas fecerunt. 

(?) Dies beweisen die, in Justinian’s Pandekten (Lib. 1. Titt.1. 3.) und Institutionen 
(Lib.1. Titt.1. 2.) aufgenommenen, Auszüge aus Ulpian’s und Marcian’s Libri institu- 
tionum. S. die Parallelstellen in Schrader’s Ausg. d. Justinian. Institution. a. a. O. 


Philos.- histor. Kl. 1847. I 


66 Dirksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


keit derselben durch die Einwirkung der Methode einer gesunkenen Rhe- 
torik schwerlich beeinträchtigt werden konnte. Will man daher über die 
Möglichkeit eines Einflusses der Darstellungsweise der Rhetoren auf jene 
der röm. Rechtsgelehrten ein unbefangenes Urtheil vorbereiten, so muss 
man die einzelnen juristischen Beispiele, welche von beiden Gattungen der 
Referenten behandelt sind, genauer prüfen und bei jedem derselben die 
Eigenthümlichkeit der Methode von deren Auffassung zu ermitteln suchen. 

Die vergleichende Zusammenstellung solcher Beispiele kann freilich 
nur in unzureichender Weise zur Ausführung gebracht werden, indem von 
den juristischen Schriften des Zeitraumes vor August nichts als unbedeu- 
tende Bruchstücke erhalten sind. Indess auch die bloss beiläufigen Referate 
von. Ausführungen der Feteres, gleichwie von jenen der Rechtsgelehrten 
aus der Regierungszeit der ersten römischen Kaiser, denen man in den 
reichlich vorhandenen Überresten der juristischen Olassiker aus der Periode 
der Antonine und der Severe begegnet, genügen zur Begründung der Über- 
zeugung dass, sowohl bei der Aufstellung fingirter Beispiele als auch bei der 
Behandlung historischer Stoffe, das Verfahren der römischen Juristen von 
jenem der Rhetoren, welche mehr das Bedürfnis der Schule als wie das 
der Gerichtshöfe vor Augen hatten, dem Principe nach verschieden gewe- 
sen sei. Denn die Rhetoren liessen überall die Berechnung vorwalten, dass 
bei der Begrenzung des Gegenstandes der Disputation und bei der Wahl 
der Beweisgründe vor allem die Wirkung zu veranschlagen sei, welche von 
der Erregung der Leidenschaften einer gemischten Zuhörer-Menge erwartet 
werden durfte. Daher das Bestreben derselben, das ungewöhnliche und 
übertriebene herbeizuziehen: unbekümmert ob der Stoff irgend eine Be- 
ziehung zur Wirklichkeit hatte, wenn nur die Einwirkung auf das Gefühl 
auch des ungebildeten Theils der Zuhörerschaft gesichert zu sein schien. 
Anders musste der Rechtskundige verfahren, der in der Rechtswissenschaft 
gleichwie im Leben einem Kreise von Personen sich gegenüber gestellt sah, 
welche innerhalb des Gebietes der Wirklichkeit und der täglichen Erfahrung 
belehrt, nicht aber darüber hinaus in frivoler Weise unterhalten sein woll- 
ten. Hier musste daher bei der Bildung fingirter Beispiele das Einhalten 
des rechten Masses, und bei der Benutzung geschichtlicher Ereignisse die 
Beobachtung der historischen Treue als unverbrüchliches Gesetz empfohlen 
werden. Man darf jedoch nicht glauben, dass dieses natürliche Ergebnis 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 67 


der verschiedenen Stellung von Rhetoren und Rechtsgelehrten jede weitere 
Beweisführung der Existenz und Anerkennung derselben als überflüssig er- 
scheinen lasse. Denn in der früheren Zeit Roms hatte das Vorkommen der 
häufigen Verbindung von Rechtskunde und gerichtlicher Beredsamkeit in 
derselben Person, für die schriftstellerische Thätigkeit ausgezeichneter Juri- 
sten, z.B. des Qu. Mucius Scävola und Servius Sulpieius Rufus, die Ver- 
suchung im Gefolge gehabt, gerade bei der Auswahl populärer Beispiele und 
Argumente unwillkührlich die Dexterität des Rhetors walten zu lassen. Und 
noch in den spätesten Zeitabschnitten der römischen Rechtsbildung sehen 
wir, für den Zögling der Rechtskunde, zu dem Kreise der vorbereitenden 
Disciplinen auch dessen Unterweisung in der Rhetorik gezählt; so dass der- 
selbe aus den Händen des griechischen Pädagogen in die des griechischen 
Rhetors überliefert wurde. (°°) 

Von der Frivolität, mit welcher griechische und römische Rhetoren 
die geschichtlichen Thatsachen zu Vorwürfen für ihre Disputationen umzu- 
gestalten pflegten, ist schon zuvor die Rede gewesen. Indem wir jetzt die 
entgegengesetzte Methode der römischen Rechtsgelehrten, hinsichtlich der 
Behandlung historischer Stoffe, zur Sprache bringen, glauben wir ganz ab- 
sehn zu müssen von solchen Stellen juristischer Schriften, an denen die 
Verfasser auf vereinzelte Ereignisse der Vorzeit zurückgehen, um dieselben 
als Antecedentien für das zu ihrer Zeit geltende Recht zu benutzen; ($t) 
oder wo sie einen früheren Vorfall besprechen, der als die Grundlage einer 
ergangenen kaiserlichen Entscheidung, oder einer gerichtlichen Aburtheilung, 
(*°) ihr Interesse in Anspruch nimmt. Wir beschränken uns hier auf die 
Fälle einer blossen facultativen Benutzung historischer Begebenheiten für 
die Zwecke juristitcher Erörterung. 

Innerhalb dieser Begrenzung sind die Beispiele eines unkritischen 


8 
Verfahrens der juristischen Classiker, in Beziehung auf die Behandlung ge- 


(°°) Vergl. Dialog. de caus. corr. eloqu. c. 29. fg. c. 35. Symmachus Ep. X. 25. 

() Fr. 3. D. de term. moto. 47.21. Fr.8. D. ad L. Jul. mai. 48. 8. Fr. 4. pr. D. de re 
mil. 49. 16. 

(6?) Fr. 28. 8.3. Fr.39. D. de poen. 48.19. Am sichtbarsten ist dies Verfahren in sol- 
chen juristischen Monographieen, die nach ihrem Plane dergleichen Entscheidungen aus- 
schliesslich oder vorzugsweis zu beachten hatten, z. B. die Zidri deeretorum, de cognitioni- 
bus u. s. w. die Schriften über Gegenstände des fiscalischen Rechts, oder über den Ge- 
schäftskreis bestimmter Beamten. 

12 


68 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methodo 


schichtlicher Stoffe, blos scheinbar. In den gangbaren Ausgaben der Pan- 
dekten Justinian’s findet man einem Fragmente aus Ulpian’s Commentar 
zum Edict, (°) welches die einfache Bemerkung enthält, dass die ordent- 
liche Strafe der Lex Julia peculatus auch denjenigen erreiche, der die 
Mauern eines Tempels durchbrochen, oder aus demselben etwas entwendet 
hat, einen Nachtrag in griechischer Sprache hinzugefügt. Darin ist kate- 
gorisch vorgeschrieben, dass wer aus dem Heiligthume ein Stück des Tem- 
pelgutes bei Tage oder zur Nachtzeit entwende, die Strafe der Blendung 
erleiden solle; während jener, der aus dem übrigen Tempelraume einen 
Gegenstand hinwegnehme, gestäupt und mit geschorenem Haupte in die 
Verbannung geschickt werde. Diese Sanction weicht zwar nicht in dem 
Masse der verhängten Strafe, wohl aber hinsichtlich der ungewöhnlichen 
Form derselben, durchaus ab von den Berichten der classischen röm. Juri- 
sten über die Ahndung des Tempelraubes zu ihrer Zeit. (°*) Dagegen er- 
innert eben diese Form an ähnliche Beispiele von fingirten Gesetzen, denen 
man in den Schriften der Rhetoren begegnet. Allein der Zusammenhang 
dieses Referates ist ein ganz anderer. Die griechisch redigirte Zugabe zu 
dem lateinischen Texte Ulpian’s bewährt sich als durchaus apocryphisch. 
Man findet dieselbe überall nicht handschriftlich beglaubigt, vielmehr haben 
die Herausgeber sie erst aus den Basiliken herbeigezogen, (“°) wo sie denn 
auch vollkommen am Platze ist, als ein Produkt des byzantinischen Rechts 
der Nach -Justinianischen Zeit. Dagegen geht in den Pandekten jenem äch- 
ten lateinischen Bruchstücke Ulpian’s unmittelbar voran ein hinreichend 
verbürgtes Fragment des Juristen Marcianus, (°°) welches über den selt- 
samen Fall berichtet, wo ein den höheren Rangelassen angehörender junger 
Mann überführt worden war, in einen Tempel eine Kiste geschafft zu ha- 
ben, welche einen Sklaven verbarg, der angewiesen war nach der Schliessung 
des Tempels seinen Versteck zu verlassen, um die leicht zu bergenden kost- 
baren Gegenstände aus dem Schatze des Heiligthums (°7) zu entwenden und 


(@) Fr.11.D. ad L. Jul. pecul. 48. 13. 

(&) , Fr. 3. Fr. 6. Fr. 9. pr. D. eod. 48.13. Paul. R. S. V. 19. 

(°°) Basilicor. LX. 45. 11. 

(5). Er. 10./8.4..D2121248: 13. 

(°) Einige dieser Tempel bargen freilich Privat-Deposita von Geld und Kostbarkeiten, 
die einer daselbst stationirten Arca publica anvertraut waren. S. die Ausleger zu Juve- 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 69 


mit denselben wieder in den Verschluss sich zurückzuziehen. Diese Mit- 
theilung könnte vielleicht den Verdacht einer rhetorischen Erdichtung er- 
wecken, wenn nicht hinzugefügt wäre, dass die Kaiser Sever und Cara- 
calla diesen Rechtsfall dahin entschieden hätten: es solle der Schuldige 
mit der, für die Verbrecher seines Standes festgestellten, ordentlichen Strafe, 
nämlich mit der Deportation, belegt werden. (?°) Noch weniger Bedenken 
erregt die aus Labeo’s Schriften gezogene Erzählung (°°) von einem durch 
Räuber entwendeten Sklaven, der hinterher in die Gewalt der feindlichen 
Germanen gerathen, und nach deren Besiegung mit der übrigen Kriegsbeute 
veräussert worden war. Freilich werden im allgemeinen Germanen und Par- 
ther, als die gewöhnlichen Feinde der Römer, auch in den erdichteten Bei- 
spielen der classischen Juristen herbeigezogen ; (°°) allein in dem vorstehen- 
den Fall ist die zwischen Trebatius, Ofilius und Labeo verhandelte 
Rechtsfrage so conceret gefasst, mittels Zurückführung auf die Behauptung 
des vollendeten Verjährungs-Besitzes, dass der dagegen erhobene Einwand, 
es habe an diesem geraubten Sklaven überhaupt nicht Eigenthums - Ver- 
jährung eintreten können, mit Zuversicht voraussetzen lässt, es sei die frag- 
liche Erörterung auf die Erledigung eines bestimmten practischen Falles be- 
bezogen worden. Entschieden auf dem Boden der Geschichte bewegen sich 
die, in der Lehre vom Postliminium durch die römischen Juristen vielfach 
besprochenen Beispiele: von der Auslieferung des Hostilius Mancinus 
an die Numantiner; (9!) von der Absendung des kriegsgefangenen Atilius 
Regulus durch die Carthager nach Rom; sowie von dem Dolmetscher 
Menander, der durch die Römer aus der Kriegsgefangenschaft entlassen 
war und hinterher im Gefolge einer Gesandschaft das Gebiet seines Vater- 
landes wieder betreten hatte. (°) Die Art, in welcher die beiden Mucii 
Scaevolae und der Jurist Brutus die genannten Fälle auf den richtigen 
Standpunkt der rechtlichen Beurtheilung zu versetzen wussten, ergiebt zur 


nal’s Satyr. X. 24. XIV. 261. (A. G. Cramer in Juvenal. satyr. comm. vet. p. 381. sq. 530. 
Hamb. 1823. 8.) 

(°) Fr. 6. pr. D. eod. 48.13. Fr.10. Fr. 16. $.3. Fr. 28. D. de poen. 48. 19. 

(@) Fr. 27. D. de captiv. 49.15. 

(°°) Fr. 24. D. eod. 49. 15. 

(') Fr.17. D. de legationib. 50.7. 

() Fr.4. Fr. 5.8.3. D. de captiv. 49.15. 


70 Diesen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


Genüge, dass ihnen das Verfahren gleichzeitiger und späterer Rhetoren 
durchaus fremd geblieben sei, welche die nämlichen Fälle wiederholt be- 
sprochen haben, ohne denselben ein wirkliches Interesse abzugewinnen. (°') 
Dem bisher ausgeführten widerspricht ferner nicht die bekannte Mittheilung 
Ulpian’s (°*) über den Sklaven, der seinem Herrn entlaufen war und nichts- 
destoweniger in Rom zum Amte eines Prätors gelangte. Es ist an einem an- 
dern Orte (°5) ausgeführt worden, dass der angebliche Namen des Sklaven 
(Barbarius Philippus) und die unterlassene Bezeichnung der Chrono- 
logie des ganzen seltsamen Vorfalls gegründete Einwendungen gegen die 
Genauigkeit der einzelnen Angaben aufkommen lassen, dass gleichwohl der 
Kern dieser, auch durch andere Gewährsmänner (°°) berichteten, Thatsache 
als ächt anzusprechen sei, wenn auch immerhin ausgeschmückt durch eine 
schwankende Tradition. Ulpian, oder vielmehr der von diesem benutzte 
Masurius Sabinus, durfte bei der Feststellung der Einzelheiten des That- 
bestandes hier abstrahiren von der Anwendung der historischen Kritik. Denn 
der allgemein zugestandene Inhalt der fraglichen Begebenheit reichte voll- 
kommen aus, um die daran geknüpfte Rechtsfrage: ob man ein Individuum 
ohne rechtliche Persönlichkeit, in Folge eines ihm förmlich übertragenen 
Staatsamtes, als einen rechtmässigen Beamten zu betrachten, und die durch 
dasselbe vollzogenen öffentlichen Verhandlungen als gültige Rechtsacte auf- 
zufassen habe? als eine für die gerichtliche Praxis bedeutsame zu recht- 
fertigen. 

In noch auffallenderer Weise, als bei der Behandlung geschicht- 
licher Thatsachen, gehen die Richtungen der Rechtsgelehrten und der 
Rhetoren aus einander in Beziehung auf die Methode der Bildung und Be- 
nutzung fingirter Beispiele. Denn während jene Darsteller auch hier 
den Boden der Erfahrung niemals verlassen und die Anwendung der Rechts- 
regel auf den gegebenen Fall jederzeit im Auge behalten, suchen diese vor- 
weg den Gegenstand der Erörterung in so phantastischer Weise zu be- 


(°°) Diese Ausstellung trifft jedoch nicht Cicero’s Schriften, weder die rhetorischen 
noch die oratorischen. 


(*) Fr. 3. D. de off. Praetor. 1. 14. 


(®) Vergl. des Verf. Abhdlg: Über einige, von Plutarch und Suidas berichtete, Rechts- 
fälle. N. II. 


(°) Dio Cass. Hist. R. XLVIH. 34. Suidas v. Bagßıos Bırrmmızos. 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 71 


grenzen, dass der Umfang der, zur Unterstützung sowie zur Anfechtung der 
Aufgabe verfügbaren, Gründe kaum mehr übersehen werden kann. Aus der 
Fülle von Beispielen mögen hier nur einige der auffallendsten besprochen 
werden. 

In der Anleitung zur Rhetorik hat Quinctilian unter den fingirten 
Aufgaben zu Redeübungen wiederholt (°7) dies Thema ausgezeichnet: wenn 
jemand, der sich das Leben nehmen will, die Gründe des Selbstmordes 
vor der Behörde zu rechtfertigen versucht. Und allerdings mag dies ein, so- 
wohl von den Philosophen als auch von den Rhetoren vielfach besprochener 
Stoff gewesen sein. Dies bezeugen die Ausführung 


5 
welche eine solche Verhandlung vor den Senat verweisen und gleichzeitig 


en der Declamatoren, (°°) 


das Vorhandensein eines Gesetzes postuliren, welches vorschreibe, dass der 
Leichnam eines nicht gerechtfertigten Selbstmörders unbeerdigt bleiben 
solle. Die röm. Juristen haben mehrfach Veranlassung gefunden, von der 
Untersuchung der Ursachen des Selbstmordes zu sprechen; allein sie be- 
schränken dies auf die wenigen Fälle, wo die Handhabung der militärischen 
Diseiplin, oder der Anspruch des Fiscus auf das, wegen früherer Verbrechen 
des Selbstmörders dem Staate verfallene, Vermögen desselben in Frage 
kam. Ein selbstständiges Verbot des positiven Rechts für den Selbstmord 
ist ihnen unbekannt. (°°) Und auch andere nichtjuristische Referenten (!"°) 
behandeln den Selbstmord in gleicher Weise als eine nach römischem Recht 
gestattete Verfügung über das eigene Leben. 

Sowohl in Beziehung auf das so eben besprochene Beispiel, ('%') als 
auch bei anderen Veranlassungen, (!°*) hat Quinctilian die Rhetoren aus- 
drücklich angewiesen, bei der Begrenzung erdichteter Rechtsfälle das juristi- 
sche Interesse der zu behandelnden Frage neben dem rednerischen unver- 


(°”) Inst. orat. VII. 4. 8.39. XI. 1. $. 55. 
(°®) S. ebendas. $.55.1. Seneca excerpt. controv. VIII.4. Quinctilian. declam. 4. 337. 


(°?) Über die einschlagenden Beweisstellen und deren Auslegung vergl. €. A. Fabro- 


tus Exereitation. no. V. (in E. Otto’s Thesaur. J. R. T. II. p. 1187. sq.) Bynkershoek 
Obss. J. R. IV. 4. und über die neuere Literatur $. Rein Crim. R. d. Röm. S. 883. fg. 
Leipz. 1844. 8. 

(°) S. Florus Epit. rer. rom. IV. 2.7.a.E. 

(‘°') Inst. orat. VII. 4. 8. 39. 

('°) Ebds. III. 10. S$. 1. sg. 


72 Diesen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


rückt im Auge zu behalten. Allein diese Empfehlung scheint eben so wenig 
wie eine entsprechende Warnung Cicero’s (!"°) von Erfolg gewesen zu 
sein. Wir finden wenigstens bei den späteren Rhetoren, auch da wo die- 
selben entschieden von Prämissen des römischen Rechts ausgehn, in den 
künstlich redigirten Rechisfällen keine Spur des Bestrebens, dem bald sehr 
gewöhnlichen bald bis zur Unnatur verrenkten Sachverhältnis die Merkmale 
innerer Wahrheit, ganz abgesehen von den Zeichen äusserer Wahrschein- 
lichkeit, zu sichern. So bewegen sich ihre Rechtsfragen vorzugsweis auf 
dem Gebiete der Verbrechen, gleichwie der Polizeivergehen und Privat- 
delicte; wobei es nicht an einer mehr oder minder bestimmten Hinweisung 
fehlt auf den Inhalt der einzelnen Strafgesetze (1°*) und auf das Mass der 
angedrohten Strafe. (1%) Allein auch der, für die Bethätigung oratorischen 
Talents noch so fruchtbare, Stoff wird von jenen Rhetoren entweder in 
ganz unzulänglicher Weise ausgebeutet, während die juristischen Classiker 
denselben nach allen Richtungen in schlagenden Anwendungsfällen zur Er- 
örterung gezogen haben; oder man findet daraus lediglich Veranlassung ge- 


Oo 


nommen zur Bekundung 


sagte tritt anschaulich hervor an dem Beispiel des, durch Rhetoren und De- 


eines falschen rhetorischen Pathos. Das zuerst ge- 


clamatoren vielfach besprochenen, im Julischen Gesetz über den Ehebruch 
ausdrücklich anerkannten, obwohl nur dem Vater vorbehaltenen Rechts, 
die Ehebrecherin nebst ihrem Buhlen zu tödten; (1°) ferner bei der durch 
die XII Tafeln für straflos erklärten Tödtung des nächtlichen so wie des 
bewaffneten Diebes; (17) endlich bei den scheinbaren Anwendungsfällen 


(CD) Akopie. tes141a.7E. Ic 2cHlA: 
('%) Vergl. z.B. die, in Quinctilian’s Declam. 13. enthaltene, Hinweisung auf den 
Wortausdruck des Cornelischen Gesetzes über Tödtungen. (Fr. 1. 8.1. Fr. 3. 88.1.2. D. 
ad L. Corn. de sicar. 48. 8.) Andere, aus des C. Jul. Victor Ars rhetor. (oben Anm. 14.) 
gezogene, Beispiele findet man zusammengestellt durch E. Schrader (Krit. Zeitschr. f. 
RsW. Bd.1. H.2. S.143. fg. Tübing. 1826. 8.) 

('®) z.B. über die poena quadrupli für den fur manifestus. Quinctilian. Inst. orat. 
VII. 6. 8.2. Cur. Fortunatian. a.a. O. p. 61. 

('%) S. Quinctilian. ebds. IX. 2. 88. 79. sq. vergl. III. 6. $.17. V. 10. $.39. VII. 1. 
.7. Fortunatian. das. p.97. Seneca controy. I. 4. II. 9. a.E. Quinctilian. declam. 
73. 277. 279. 284. 291. 335. 347. C. Jul. Victor. a. a. O. c.4. 8.11. c. 6. 8.1. Ed. A. 
Maii. (S. oben Anm. 14.) 

('7) Quinctil. Inst. orat. VI. 6. 8.8. 


< 


td 227% 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 73 


des Sacrilegium. (!%) Den Beweis für den andern Fall liefert das Beispiel 
der Injurien-Klage gegen den Reichen, der dem Standbilde seines armen 
Feindes Peitschenhiebe versetzt hatte; (1%) welches als ein Überbieten des, 
in einer entsprechenden Rechtsfrage der röm. Juristen vorausgesetzten, (119) 
Falles angesehen werden darf. Sodann gehört hierher die Declamation des 
Anwaltes eines armen Grundbesitzers gegen den reichen Nachbar, der die 
Blumen des eigenen Gartens vergiftet hatte, um dadurch die Bienen des an- 
dern zu tödten. (1!!!) In einer ähnlichen Übertreibung sind die Rhetoren be- 
fangen, indem sie innerhalb der Grenzen des Privatrechts Fälle postuliren, 
die entweder eines jeden juristischen Interesses entbehren, (!!?) oder deren 
Entscheidung nach dem Standpunkte der gleichzeitigen Rechtsdoctrin nicht 
zweifelhaft erscheinen konnte. (!!) 

Zur Entgegenstellung des durchaus abweichenden Verfahrens der röm. 
Juristen können nur Beispiele aus den Schriften der älteren Rechtsgelehrten 
benutzt werden, die noch im Zeitalter der Republik oder unter den ersten 
Kaisern geblüht haben. Denn bei diesen würde noch am ehesten eine Ein- 
wirkung rhetorischer Elemente auf ihre wissenschaftliche Beweisführung und 
schriftliche Darstellung vorausgesetzt werden können, indem zu ihrer Zeit 
die wissenschaftliche Begründung der Rechtskunde noch in der Entwicke- 
lung begriffen war und namhafte Rechtsgelehrte gieichzeitig als gerichtliche 
Redner sich auszeichneten. Indess wenn auch die von den Veteres, ('!*) 


('%) Ebds. V.10. $$. 36. 39. VII. 3. 8.21. Sulp. Victor inst. orat. p. 280. Capperon. 
CzJul Victor a, 2: 050,.6.,8.4. 

(‘°) Ders. II. 3. Quinctilian a. a. O. IV. 2. 8.100. Andere Beispiele bei Seneca 
controv. V. 30. 35. 

('%) Fr. 27. D. de iniur. 47. 10. Paul. lib. 27. ad Edict. Si statua patris tui in monu- 
mento posita saxis caesa est, sepuleri violati agi non posse, iniuriarum posse Labeo scribit. 
Vergl. Schrader a.a. O. S. 144. 

('‘) Quinctilian. declam. 13. 

(''?) Ders. no. 268. 325. vergl. Quinctil. Inst. orat. VII. 4. 8.39. P. Rutil. Rufus 
de figur. sententiar. I. p. 2. sq. Capperon. 

('®) z.B. Quinctilian. Declam. 265. 308. 318. 320. 341. 346. Fortunatian. a. a. 
O. p. 65. 

(''%) Fr. 51. pr. $$.1sq. D. adL. Aqu. 9. 2. Fr. 66. $. 2. D. de furt. 47.2. Fr. 13. 8.7. 
D. de iniur. 47. 10. 

Philos.- histor. Kl. 1847. K 


74 Dirxsen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


und zum Theil von einzelnen Juristen der Augusteischen Zeit, (115) aufge- 
stellten fingirten Rechtsfälle nicht eben eine reiche Erfindungsgabe, wohl 
aber den Hang zum Festhalten an überlieferten bannalen Formen der Vor- 
zeit verrathen, so lässt doch die durchaus practische Methode, das juristische 
Interesse der Erörterung zu bestimmen und die Anwendung allgemeiner 
Rechtsregeln auf den concreten Fall anschaulich zu machen, keinen Vergleich 
zu mit dem Verfahren der Rhetoren. Denn selbst da, wo jene den Rechts- 
fall ähnlich wie diese in einer minutiösen Weise begrenzen, verstehen sie es 
jederzeit der Beziehung auf das Leben ihr Recht angedeihen zu lassen. (!!°) 

Als Bestätigung des zuvor behaupteten mag noch eine eigenthümliche 
Ausführung des Rhetors Corn. Fronto hier herbeigezogen werden, in wel- 
cher das richtige Verhältnis der juristischen Elemente der Beurtheilung zu 
der durchaus rednerischen Darstellung nicht auf den ersten Blick zu erken- 
nen ist. Es handelt sich nämlich von dem, in das zweite Buch des Brief- 
wechsels von Fronto und M. Antonin gestellten (117) Fragment, welchem 
A. Mai die Bezeichnung einer Oratio de testamentis transmarinis vorgesetzt 
hat. Niebuhr glaubt gleichfalls das Bruchstück einer Rede darin gewahr 
zu werden; (1!3) allein er bekämpft nichtsdestoweniger die Voraussetzung, 
als ob dies die Urkunde einer vor dem Thronfolger gehaltenen amtlichen 
Rede sei, indem er annimmt, es liege vielmehr eine Partheischrift vor, wel- 
che Corn. Fronto als Patron der Cilicier, in der vereinzelten Erbschafts- 
Angelegenheit eines Angehörigen dieser Provinz, dem K. Antoninus Pius 
überreicht und hinterher seinem fürstlichen Zöglinge Marcus (!!?) als ein 
oratorisches Musterstück zur Kenntnisnahme mitgetheilt habe. Wichtiger 


('®) z.B. Alfenus Varus, Ofilius, Labeo, Fabius Mela. Fr. 52. D. adL. Aqu. 
9. 2. Fr. 23. Fr. 31. $.1. Fr.52. 88.7. sq. Fr. 57. Fr. 90. pr. D. de furt. 47. 2. Fr. 2. 8.20. 
D. vi bon. rapt. 47.8. Fr. 7. S$.1.sq. Fr. 15. pr. Fr. 17. $.1. Fr. 27. Fr. 44. D. de iniur. 47.10. 

(6) z. B. über die Tödtung fremder Bienen durch Räucherungen. Collat. LL. Mos. et 
R. XI. 7. $. 10. Fr. 27. 8. 12. Fr. 49. pr. D. ad L. Aqu. 9. 2. 

(*'7) Epistolar. ad Marcum Caes. II. 15. p. 70. sq. (Reliquiae M. C. Frontonis. Ed. B. G. 
Niebuhr. Berol. 1816. 8.) 

(''#) Diesem ist H. Meyer orat. R. fragmta. p. 609. sq. Turici. 1842. 8. nicht beigetreten. 

(*'?) Er pflegte regelmäfsig die von Fronto gehaltenen Reden demselben abzufordern. 
S. Epist. ad Marcum Anton. Aug. No. 3. 4. 6. p. 99. sq- 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 75 


als die Erörterung dieser Äusserlichkeiten ('2°) ist die Prüfung der Frage: 
von welcher Beschaffenheit war der vorstehende Rechtsfall, und welche 
Entschliessung des Kaisers wollte der Redner hervorrufen‘? Der Eingang des 
uns überlieferten Bruchstückes bespricht in der emphatischen Weise älterer 
und späterer Panegyriker ('?!) den hohen Beruf des Staatsoberhauptes, nicht 
blos gleich dem Fatum über die Schicksale der einzelnen Menschen zu ver- 
fügen, vielmehr durch die Bekanntmachung allgemeiner Verordnungen die 
Angelegenheiten sämmtlicher Untergebenen der römischen Weltherrschaft 
in übereinstimmender Weise zu leiten. Dann wird des in Frage stehenden 
decretum proconsulare tadelnd gedacht und der Wunsch ausgesprochen, dass 
der Kaiser daraus Veranlassung nehmen möge, ein auf die Rechtsfälle der 
bezüglichen Gattung gerichtetes, umfassendes Regulativ für alle Provinzen 
zu erlassen. Man sieht sich aber vergeblich um nach der Bezeichnung des 
Inhaltes jenes Decrets. Zwar überlässt sich der Redner einer phrasenreichen 
Schilderung der Unzuträglichkeit des Verfahrens, wenn Testamente aus den 
überseeischen Provinzen erst nach Rom befördert würden, und auch der 
Testamentserbe die Reise dahin antreten müsse, was zu unvermeidlichen 
und zum Theil frivolen Zögerungen der Betheiligten Anlass gebe, jedenfalls 
aber der Nachlassmasse Schaden drohe. Indess nur beiläufig ist angedeutet, 
dass diese Besorgnis auch in dem fraglichen Rechtsfall begründet gewesen 
sei, ohne dass man von den Ursachen etwas erfährt, durch welche der Pro- 
vinzial-Statthalter sich bewogen fühlen konnte, die Entscheidung über die 
auf das Testament gestützten Ansprüche der Erbberechtigten nach Rom zu 
verweisen, anstatt die Erledigung der Sache in die eigene Hand zu nehmen. 

Niebuhr hält es für unzweifelhaft, dass der Statthalter dem gesetz- 
lichen Erben die Einweisung in den Nachlass nach Prätorischem Recht be- 


(‘”) Sie erscheinen nicht eben belangreich, sobald man erwägt, dass die oratorischen 
und epistolographischen Bestandtheile der Überreste von Fronto’s Schriften einander durch- 
kreuzen, und dass in ihnen die rhetorische Form der Darstellung überall vorherrscht. 

('”') Vergl. z. B. das Prooem. zu des Valerius Max. Dict. et fact. memorab. (S. des 
Verf. Abhdlg.: Üb. Valer. Max. S.15. In dem Jahrg. 1845. dieser Abhdlgg.) und des Sym- 
machus laudes in Valentinian. I. (im Anhge. d. Ausg. des Corn. Fronto v. Niebuhr. p. 5.) 
wo es heisst: „„Similior Princeps est deo, pariter universa cernenti, qui cunctas partes 
novit imperil.” 


K2 


76 Dinksen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


willigt und gleichzeitig die Absendung der verschlossenen Testaments - Ur- 
kunde nach Rom verfügt gehabt habe, um dem Kaiser die Entscheidung 
über den Vorzug der concurrirenden Prätorischen Testaments- und Intestat- 
Erben anheimzustellen. Kenner des römischen Rechtes mögen jedoch sich 
wohl vorsehen, diese Deutung zu billigen. Des Einwandes mag gar nicht 
einmal gedacht werden, dass wenn Fronto wirklich den Rechtsanspruch 
eines Clienten aus Cilicien vertheidigt hätte, dessen Legitimation, als eines 
Provincialen, zur Erbberechtigung für den Nachlass eines römischen Bürgers 
im Zeitalter Antonin’s mehr als zweifelhaft erschienen sein würde. Auch 
mag hier nicht weiter der Umstand gerügt werden, dass der Proconsul, wenn 
die Entscheidung des Rechtsfalles sein Bedenken erregt hätte, in herkömm- 
licher Form an den Kaiser umständlich darüber zu berichten und diesem den 
Inhalt des Testaments, nicht aber dessen verschlossene Urkunde, mitzuthei- 
len gehabt hätte. Dagegen ist diese Bemerkung mit Nachdruck geltend zu 
machen, dass der Statthalter der Provinz gegen die leitenden Grundsätze 
des Prätorischen Erbfolge-Rechts verstossen haben würde, wenn er bei dem 
Vorhandensein eines Testaments dasselbe uneröffnet gelassen und ohne wei- 
teres die Prätorischen Intestat- Erben in den Besitz der Verlassenschaft ein- 
gewiesen, oder die früher eingewiesenen im Genuss des Erbrechts belassen 
hätte. Dazu kommt, dass nach der Festsetzung der Lex Papia Poppaea ('”?) 
der Termin des Anfalles unbedingter Vermächtnisse auf den Tag der Testa- 
ments-Eröffnung vorgerückt war, um das Anspruchsrecht der Staatscasse 
auf die caduca zu begünstigen; dieses aber setzte die Nothwendigkeit voraus, 
die Eröffnung letztwilliger Verfügungen an jedem Orte zu bewirken, wo es 
an einer Controlle durch die, mit der Wahrnehmung der Interessen des 
Schatzes beauftragten, Behörden nicht fehlte. Wir glauben vielmehr den in 
Frage stehenden Rechtsfall also formuliren zu dürfen. Der Erblasser hatte 
in der Provinz civile Intestat-Erben hinterlassen, die sofort ihr Erb- 
folgerecht nach Civil-Recht aussergerichtlich geltend machten. Darauf 
deuten die durch den Redner angeführten Beispiele von Intestat-Erben, (1”°) 


(‘?) Vlpiani Fragmta. XXIV. 31. 
(*?°) Ebendas. p- 71. „Quid igitur eveniet? Illud scilicet, ut testamenta omnia ex lon- 
ginquis transmarinis provinciis Romam ad cognitionem tuam deferantur. Filius exhereda- 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 77 


unter denen man vorzugsweis agnatische Verwandte bezeichnet findet. 
Es war aber hinterher ein angeblicher Testaments-Erbe vor Gericht aufge- 
treten, mit einer Testaments-Urkunde, die zwar den Formen des Prätori- 
schen Rechts entsprach, d. h. schriftlich vor sieben Zeugen vollzogen war, 
allein die Merkmale des Rituals der Mancipation nicht an sich trug, und mit- 
hin den Erfordernissen eivilrechtlicher Testamente nicht genügte. Diesen 
letzten Willen perhorrescirten die Civil-Erben mittels des Einwandes, dass 
das Civilrecht dem testamentarischen Erben vor dem gesetzlichen nur als- 
dann den Vorzug gewähre, wenn ein nach dem Ritus des Civil-Rechts voll- 
zogenes Testament vorliege. Und auch der Proconsul glaubte, das Gesuch 
des Prätorischen Erben um Bewilligung der Bonorum possessio secundum 
tabulas testamenti als unbegründet nach dem geltenden Recht ablehnen zu 
müssen. Dies konnte mittels eines Decrets geschehn, und so blieb die Te- 
staments - Urkunde in der Provinz uneröffnet, während dem Testaments - Er- 
ben es überlassen wurde, durch eine Beschwerde bei dem Kaiser Abhülfe 
auszuwirken. Diese unsere Voraussetzung findet genügende Unterstützung 
in dem Bericht des Gaius, (!**) nach welchem erst durch ein rescriptum 
Imp. Antonini dem Prätorischen Testaments-Erben die Befugnis zugestan- 
den wurde, auch gegenüber den civilen Intestat-Erben den Nachlass sich 
anzueignen, obwohl das Testament ohne die Mancipations-Solennien, blos 
schriftlich vor sieben Zeugen vollzogen worden war. Nach der Bezeichnungs- 
form der Kaiser in diesem Werke des Gaius hat man an dieser Stelle nicht 
eben an Marc. Antonin, sondern an Pius, zu denken. (!%) Dass nun 


tum se suspicabitur: postulabit ne patris tabulae aperiantur. Idem filia postulabit, nepos, 
abnepos, frater, consobrinus, patruus, avunculus, amita, matertera; omnia necessitudinum 
nomina hoc privilegium invadent, ut tabulas aperiri vetent, ipsi possessione iure sanguinis 
fruantur. Vergl. Gaius inst. II. 119. Schon A. Cramer (in den Nachträgen zu Niebuhr’s 
Ausg. des Fronto p. 295.) hat auf die Zusammenstellung agnatischer Verwandten in den 
vorstehenden Textesworten hingewiesen. Allein seine Angabe von einer gänzlichen Aus- 
schliessung der Cognaten ist nicht genau, und sein Ausruf der Verwunderung (Quod mirum!) 
ist hervorgegangen aus der unrichtigen Voraussetzung, dass das Postulat Niebuhr’s von einer 
vorgekommenen Bonorum possessio intestati Fundament habe. 


(‘”*) Inst. comm. II. 120. vergl. 119. 121. sq. 
(‘”) S. Zimmern Gesch. d. R. Pr. Rs. Bd. 1. $.93. Anm. 30. fg. 


78 Dinesen über die durch die gr. u. lat. Rhetoren angewendete Methode 


Fronto einen Rechtsfall von gleicher Beschaffenheit wie den, welcher das 
Rescript des K. Antoninus hervorgerufen hatte, (1°) vor Augen gehabt 
habe, ist sehr wahrscheinlich, wiewohl wir nicht zu entscheiden wagen, 
ob die vorliegende Rede die unmittelbare Veranlassung jenes Rescriptes 
gewesen sei; denn nur dies steht fest, dass sie nicht später als dasselbe 
verfasst sein kann. Es würde aber auch kein Hindernis sein, wenn Ga- 
ius an Marcus gedacht hätte. Denn die Frage: ob Fronto den Zeit- 
punkt der Alleinherrschaft Mare- Antonin’s erlebt habe? darf kaum als 
zweifelhaft erscheinen, da einzelne seiner Briefe an diesen Kaiser mit 
Sicherheit in diese Zeit zu setzen sein dürften. (17) 

Abgesehen aber von allem diesem, hat Fronto seine oratorische 
Aufgabe in der fraglichen Angelegenheit sehr unzulänglich gelöst. An- 
statt die Rechtsfrage gehörig zu begrenzen, hat er es sich bequemer zu 
machen geglaubt, indem er mittels übertriebener Argumentation das Bild 
der Thatsachen verzerrte und die Zuhörer glauben machte, es handele 
sich hier lediglich von der Form der Testaments-Eröffnung. Wie lächer- 
lich übertreibt er die Schilderung der Zögerungen und Gefahren einer 
Seereise! Die damals allgemein übliche Vorsichtsmassregel, von einem 
schriftlichen Testament verschiedene Exemplare anfertigen zu lassen, hat 
er gar nicht berücksichtigt. Und aus allem diesem geht hervor, dass 
Fronto auch als gerichtlicher Redner nur ein Declamator war, so 
dass seine juristischen Äusserungen kaum ein dürftiges Verständnis ge- 
währen, durchaus aber nicht als selbsständige rechtliche Autoritäten figu- 
riren können. 

Zum Schlusse unserer Betrachtung, über die Stellung der römi- 
schen Rechtsquellen zu den Organen der Rhetorik, nur noch diese Be- 
merkung. In den Überresten des Constitutionen-Rechts der R. Kaiser 
tritt ungleich mehr als in jenen des elassischen Juristen-Rechts das rhe- 


(2°) Gaius hat diesen Fall nicht näher bezeichnet, so dass man nicht weiss, ob der- 
selbe mit den Testamenten bevormundeter Frauen, bei welchen er des Rescriptes gedenkt, 
zusammengehangen habe. 


(7) S. die Epist. ad M. Antonin. Aug. p. 97. sq. Niebuhr; und besonders Epist. de ora- 
tionib. no. 4. $. 3. p. 130. Vergl. H. Meyer orat. R. for. 1. 1. 


der Auswahl und Benutzung von Beispielen römisch-rechtlichen Inhalts. 79 


torische Element der Darstellung hervor. Allein es gilt dies nur von 
den Constitutionen der späteren, namentlich der christlichen Zeit. Und 
auch bei diesen kann blos die Rede sein von der Einwirkung der dama- 
ligen entarteten griechischen Rhetorik. Dies aber im Zusammenhange 
auszuführen und durch Beispiele zu belegen, liegt der vorstehenden Auf- 
gabe viel zu fern. 


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Die Composition der Polygnotischen Gemälde in 
der Lesche zu Delphi. 


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[Vorgelegt der Akademie der Wissenschaften am 26. April 1847.] 


BE, allen Gemälden Polygnots scheinen die der Lesche im gröfsten Ruf 
und Ansehn gestanden zu haben. Ein Scholion zu Platons Gorgias, wo dieser 
Maler als der Bruder Aristophons ohne den Namen erwähnt ist, erinnert 
statt alles Andern an die bewundernswerthen Gemälde (Savuarrn ygapn) in 
Delphi mit dem bekannten Epigramm darauf. Plutarch spricht in Bezug auf 
dieseiben von dem Ruhm Polygnots. (1) Plinius führt nur kurz an: hic Del- 
phis aedem pin«it, d.i. cixnue, Saal: aber Philostratus erwähnt Polygnots Ge- 
mälde unter den berühmtesten Weihgeschenken in Delphi (V.A. VI, 11), und 
dafs Pausanias sie ganze sieben Kapitel seines zehnten Buchs hindurch be- 
schreibt, verdanken wir nicht allein ihrem reichen Inhalt, denn die Worte, 
womit er schliefst, sind bedeutsam in seinem Munde durch das Lob hoher 
Schönheit, (?) so wenig er auch das malerische Verdienst im Einzelnen her- 
aushebt. Der Kassandra des zweiten Gemäldes gedenkt Lucian als eines be- 
rühmten Meisterwerks der Malerei. Da ein Gemäldesaal in Delphi, der neben 
dieser Halle genannt werden könnte, nicht erwähnt wird, so ist zu vermuthen, 
dafs unter dem Gemäldeschatz in Delphi (rivaruv Snrauges), wovon Polemon 
bei Gelegenheit zweier marmornen Jünglinge darin sprach, (?) eben nur die 


(') De def. orac. 47. er oliv 6 PovAousvos emreoSar TS ÜRırys ayAs, Inrav de za d- 
daszuv r& maSyuare zur ras neraßords &s EL uySeloe ivwaris Lay za Eravı (arAıcs, 
adaıgeire znv roü HuAuyvurou doEav; 

©) Torayry ev mAnSIos zul eÜmgemEIaG 25 Toroürdv Errıv Yaovsa ı mod Ousıiou Ygadn. 

(°) Athen. XII. p. 606. a. 

Philos.- histor. Kl. 1847. L 


82 Weucker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


Lesche selbst zu verstehn sei. (*) Zu Polemons Zeit hatte der Gebrauch des 
Gebäudes als Lesche im eigentlichen Sinn vermuthlich längst aufgehört, da 
Pausanias sagt, dafs man vor Alters dort zum Sprechen zusammengekommen 
sei: daher durfte auch der Name mit einem allgemeineren vertauscht werden. 
So hat man den Saal neben den Propyläen in Athen, das cixnua, wie es bei 
Pausanias heifst, auch Pinakothek genannt. Auf diese Art ist auch Plutarch, 
der von den Thüren der Lesche der Knidier spricht, (°) mit der Vorstellung 
dafs die Leschen im Allgemeinen ohne Thüren waren, (°) vereinbarlich: 
denn es ist nicht unwahrscheinlich, dafs man den Thesauros der alten Ge- 
mälde, der, wenn er auch für Jedermann zugänglich war, doch nicht eigent- 
lich zur Lesche mehr diente, durch Gitterthüren, vielleicht schon sehr frühe 
verwahrt hatte. 

Der Saal (cixnua) mit den von den Knidiern dem Apollon geweihten 
Gemälden, der von den Delphern fortwährend Lesche genannt wurde weil er 
ehemals ihre Lesche gewesen war, befand sich über der Quelle Kassotis, (7) 
und der verstorbene Ulrichs glaubte in einem alten Fufsboden in einem Heu- 
magazin oberhalb dieser Quelle den der Lesche zu entdecken. Wenn man 
aus dem Tempel kommend sich links wandte, kam man zu dem Grab des 
Neoptolemos, umgeben mit einer Einfassung, an welchem die Delpher jähr- 
lich eine Todtenfeier begiengen: von da aufwärts war der Stein des Kronos 
und wenn man von diesem wieder nach dem Tempel zugieng die Kassotis. (°) 
Die Lesche also, über der Kassotis, war dem Tempel ungefähr gegenüber. 
In dem ersten Gemälde kam Neoptolemos vor noch allein von den Hellenen 
im Morden begriffen, wobei Pausanias bemerkt, diefs sei darum, weil das 
ganze Gemälde (worunter beide Wände verstanden werden) über das Grab 


(*) Wieseler in den Götting. Anz. 1841 S.1844. R. Rochette Peint. ant. p. 113 
versteht irgend eine andre Pinakothek in Verbindung mit dem Tempel, wie man denn 
wohl allgemein gethan hat. 

(°) De def. orac. 6. Non ÖE mus amd rol ve moolovres em rais Sugaıs r7s Kridiwv Ac- 
syns Eysyoveıev. Dals diels nur Eingang bedeuten sollte, ist nicht wohl glaublich. Was 
Demosthenes sagt Phil. IV p. 140 Reisk. ö &rı rais Sugaıs Eyyüs ourwrt alEavonevos, ist 
verschieden. 

(°) Schol. Odyss. XVII, 329. ons aTVewrov. 

(7) Pausan.' X, 25,1. 

(2) Id. 24,5. 


in der Lesche zu Delphi. 83 


des Neoptolemos sein, darauf sich beziehen sollte. (?) Diese Wahl des Ge- 
genstandes zu Ehren des Neoptolemos ist auch nicht zu bezweifeln, obgleich 
Polygnot auch ohne das in einer Lliupersis den Neoptolemos nicht anders 
als einen andern Achilleus in dem Abschnitt des Kriegs nach dem Tode des 
ersten, als den blutigsten der Helden hätte darstellen können. Auch dafs 
in der mit dem Felde der Zerstörung verbundnen Unterwelt Achilleus eine 
hervorragende Stellung einnimmt, war durch die Odyssee, durch die ganze 
Poesie dieses Kreises vorgezeichnet, indem es zugleich der örtlichen Bestim- 
mung dieser Darstellung diente. Übrigens hat dieser örtliche Bezug, der die 
Wahl des Gegenstandes bestimmte, den tief denkenden Künstler nicht ver- 
leitet in der Behandlung so grofser Stoffe, worin er alte berühmte Dichtun- 
gen zu Vorbildern hatte, von deren Bedeutung und Bestimmung in ihrem 
Ganzen, ihrem Zusammenhang und ihrer Einheit abzusehn und im Charakter 
der Personen und Verhältnisse oder in der Anordnung irgend etwas zu erfin- 
den, das die freie Gestaltung der allgemein gültigen Sage und die reine Zu- 
sammenstimmung aller aus ihr ergriffnen Bestandtheile stören könnte. Irrige 
Vorstellungen über die Abhängigkeit der ersten Composition von Neopto- 
lemos, der andern von Odysseus haben, nächst einer mangelhaften Auffas- 
sung des Zusammenhangs der alten Poesie, vorzüglich beigetragen zur Ver- 
kennung des Plans und künstlerischer Absichten, die fast durchgängig sich 
verständlich und deutlich aussprechen. 

Von einheitlicher Composition eines grofsen, vieltheiligen dichteri- 
schen Ganzen bietet Polygnot in der Malerei durch die Beschreibung des 
Pausanias das früheste bis dahin bekannte Beispiel dar. Zu vermuthen ist 
sie auch in den Werken grofser Zeitgenossen von ihm, in dem Krieg der 
Sieben gegen Thebä von Onatas im Tempel der Athene zu Platäa, in Mikons 
Argonauten und seinen beiden Gemälden des Sieges des Theseus über die 
Amazonen in Athen, in der Marathonischen Schlacht von Panänos. Nur die 
noch nicht bekannt gemachte von Herrn Francois ausgegrabene grofse Vase 
in Florenz zeigt uns eine weit ältere Kunst schon auf demselben Wege, eine 
Composition, die zu den Kyprien in ähnlichem Verhältnisse steht wie die 
eine des Polygnot zur Kleinen Ilias. Noch zählt man darauf 115 beigeschrie- 


u \ er . .. ... 
C) 26,1 — orı ümeo roü Neomrorsmou rov Focbov (eigner Gebrauch der Präposition) 4 
year NETE EluenAev Ur yerysesSar. 


L2 


84 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


bene Namen. Iliupersiden waren aufser der des Lesches von Arktinos und 
von Stesichoros vorhanden; Nekyien enthielten aufser der Odyssee die No- 
sten und die Minyas als Episoden, und die der letzteren hat Polygnot in 
Einigem vor Augen gehabt, während die Homerische seine Erfindung haupt- 
sächlich leitete und bestimmte. Die ausführliche Beschreibung dieser beiden 
Gemälde ist daher für den Kreis der Poesie und den der Kunst gleich wich- 
tig. Das Prineip der symmetrischen Composition zeigen sie in gröfserem 
Umfang und schöner durchgeführt, die malerische Dichtung im epischen 
Stoff erfinderischer und reicher als irgend ein andres Werk der alten Ma- 
lerei; sie sind ein Höchstes in ihrer Art, nicht weniger als in andrer Compo- 
sitionsweise die Giebelgruppen des Parthenon. 

Die Untersuchung dieser Compositionen hatte ich in der Zeit, als ich 
mit den Gemälden des Philostratus beschäftigt war, mir angelegen sein lassen 
und sie auf engem Raum nach Abtheilungen in Feldern, mit Gruppen von 
Buchstaben statt der Figuren nachgebildet, die Gründe auseinandergesetzt, 
Alles in allem Wesentlichen so wie ich sie jetzo vorzulegen im Begriff bin. (!°) 
Jacobs, dem ich unter den Arbeiten, die wir damals untereinander zur Her- 
ausgabe des Philostratus austauschten, das erste Gemälde mitgetheilt hatte, 
schrieb mir (24. Mai 1824), es scheine ihm die Darlegung der Ordnung so 
klar und dem symmetrischen Geiste der alten Malerei so angemessen, dafs 
er Einwendungen dagegen kaum für möglich halte. Auch schickte er mir 
bald nachher unaufgefordert zur Benutzung bei der Bekanntmachung der 
Arbeit, die er voraussetzte, fortlaufende Anmerkungen zu dem einschlägigen 
Texte des Pausanias, die er ehmals aus Anlafs von Böttigers Behandlung der 
Sache in der Archäologie der Malerei niedergeschrieben hatte und woraus 
ich mir zur Pflicht mache, bei dieser Gelegenheit endlich spät noch aus Er- 
kenntlichkeit, alles die Sachen Betreffende an seinem Ort mitzutheilen. (1!) 


(‘%) Philostr. Imagg. p. 485. Aeschyl. Tril. S. 442. 512, wo auch das Princip der gan- 
zen Anordnung ausgesprochen ist, so dals, wer diesem einigermalsen vertraute, mit dem 
Nachweis meiner eignen Anordnung mir hätte zuvorkommen können, zumal da auch die 
Hauptsache aus dem ersten Gemälde, die Eidscene als Mittelgruppe der sieben Abtheilun- 
gen unten, in einer mit Recht nicht unbekannt gebliebenen Dissertation von König de 
Pausaniae fide et auctoritate, Bonnae 1832 p. 48 aus meinen Vorlesungen angeführt war. 

(') Sie füllen in der Abschrift einen Bogen. Nicht wenige, die gegen Böttigers Ver- 
muthungen gerichtet sind oder Einzelheiten des Ausdrucks angehn, sind durch die Aus- 


in der Lesche zu Delphi. 35 


Der Bekanntmachung aber stand entgegen die Schwierigkeit einen Künstler 
zu finden, der nach den Bemerkungen eines Erklärers das Werk der Auf- 
zeichnung hätte unternehmen können, der talentvoll und erfinderisch genug, 
zugleich in den uns fremdartigen Geist dieser älteren Kunst eingeweiht, mit 
ihren Werken vertraut und dabei zu der innigen Hingebung bereit gewesen 
wäre, durch die eine Kunst des Übersetzens unter uns möglich geworden ist. 
In dieser höchsten Art der Übersetzung, die zu ihrer Darstellung die Züge 
aus zerstreuten und schwer nur herauszufindenden Kunstwerken zusammen- 
suchen mülfste und allein den Gedankeninhalt sich gegeben sähe, zugleich 
die gröfste Treue und Abhängigkeit zu bewahren, ist keine gewöhnliche Auf- 
gabe, und ein Künstler, der diese Bedingungen vereinigte, lebt vermuthlich 
auch jetzt nicht, obgleich unter Umständen das Ziel auf eine Art erreicht 
werden könnte; die einen Kreis besonders unterrichteter Beschauer in freu- 
diges Erstaunen setzen würde. Zwei befreundete grofse Künstler, Corne- 
lius und Rauch, die in jener Zeit durch die ihnen vorgelegte Probe archi- 
tektonischer Composition sich angesprochen fühlten, äufserten einige Hoff- 
nung unter ihren Schülern einen oder den andern zu finden, der sich zu 
dem Unternehmen eignete; die Sache blieb ruhen, obgleich ich wohl ein- 
sehn mufste, dafs sie, wenn begründet, im Zusammenhang der Kunstge- 
schichte und bei der Würdigung anderer Kunstwerke manchen Aufschlufs 
geben würde. Erst ein wiederholter Aufenthalt in Rom in den letzten Jah- 
ren hat Anlafs gegeben den alten Versuch wieder hervorzuziehen, welcher 
dadurch nicht überflüssig geworden sein wird, dafs seit jener Zeit immer 
mehr alle Blicke sich auf die früher vernachlässigte Composition in den alten 
Bildwerken richten und dafs viele seitdem gefundne wichtige Werke das 
Verständnifs derselben gar sehr erleichtern. In Rom traf ich nemlich mit 


gabe von Walz und Schubart nun überflüssig geworden. Nur einige Verbesserungen will 
ich ausheben, die auch in dieser gemacht sind, wo auch c. 25,2 9 zu: “EAvyv für zu oder 
evSc«, aus Jacobs zum Achilles Tatius aufgenommen ist. Nemlich c. 26,1 suveSyze für 
o0z &Syze. Ib. schlielst auch Jacobs das wiederholte "Odysseus aus, denkt auch an Esr7zev 
evösduzus Sugar für Zr, dagegen wird ib. 'Ayxıareis mit Recht beibehalten und die von 
Pausanias gegebene Erklärung des Namens Neorrcrsuos mit der von "ArrueveZ verglichen. 
c. 28,4 5 de "Olnaov moimsıs % 25 Odvsser mit Recht gefordert, c. 29, 2 TE oVv ToÜ ovov 
&s ro "Ozvov zyv yuvaize vorgeschlagen, c. 29,3 das ausgefallene ya vermuthet, was 
Schubart aus einer Handschrift aufnahm, c. 30,2 sehr wohl geschrieben zu: "Iasevs. yavsınv 


od: © Ey, für 68. 


86 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


dem noch lebenden der beiden Brüder wieder zusammen, die in Jugendjah- 
ren dort meine Freunde geworden waren und die für die Gemälde der Lesche 
mehr und schwierigeres geleistet haben als irgend Jemand geleistet hat, noch 
auch, selbst wenn er ihr Werk in mehr als einer Richtung sehr zu vervoll- 
kommnen im Stande wäre, künftig je für sie thun kann. Beide Brüder hat- 
ten, als der jüngere, noch lebende nur sechszehn Jahre alt war, ihre ersten 
Zeichnungen des ersten Gemäldes, noch ohne Grundrifs des Ganzen, zur 
Weimarischen Kunstausstellung an Göthe geschickt und diesen dadurch im 
Jahr 1803, nicht zu einer Preisaufgabe, sondern zu der eignen Arbeit über 
beide Gemälde veranlafst, die in der Jenaischen Litteraturzeitung von 1804 
erschien und sich im 44. Bande seiner Werke befindet. (1?) Sie selbst liefsen 
die Zerstörung Ilions in 15 Blättern in Göttingen 1805, mit Erläuterungen 
von Chr. Schlosser erscheinen, worauf ihrem nun hinzugefügten Grundrifs 
des Ganzen in der Jen. Litter. Zeit. 1805 Jul. von den Weimarischen Kunst- 
freunden, gröfstentheils mit Beibehaltung ihrer Gruppen, ein andrer Plan 
entgegengestellt wurde, worin, was in dem ihrigen vermifst würde, ein Hü- 
ben und Drüben, Gegensatz und Gleichgewicht und durchlaufende Linien 
eingeführt sind. ('?) Ihre Arbeit trat nachher 1826 in verbesserter Gestalt 
in 18, zugleich mit dem zweiten Gemälde in 20 grofsen Kupfertafeln ans 
Licht (mit neuem Titel 1829). In Rom also besprach ich mit Joh. Riepen- 
hausen den Gegenstand und es gelang mir den an eignen sinnigen und an- 
muthigen Werken unausgesetzt thätigen Künstler zur Entwerfung beider 
Compositionen nach meiner Erklärung zu bestimmen. Es galt dabei nicht, 
nach Mafsgabe der seitdem möglich gewordnen bestimmteren Begriffe über 
Charakter der Polygnotischen Zeichnung und ihr Verhältnifs zu gewissen 
uns erhaltenen Kunstdenkmälern, den Styl oder auch die Composition der 
einzelnen Figuren und Gruppen im Allgemeinen umzugestalten, sondern nur 
eine neue Anordnung der Gruppen aufzustellen und Einzelnes nach andrer 
Auslegung des Pausanias zu berichtigen, so dafs diese Entwürfe dem grofsen 
Werke beigelegt, das, abgesehn von Polygnots wahrscheinlichem Styl und 


('?) Göthes Entwürfe beider Gemälde durch Buchstaben sind auch in der Übersetzung 
des Pausanias von Wiedasch 1830 wiederholt Bd. 4 S. 544. 

() Diesen Grundrils fügte Siebelis dem 3. Theile seines Commentars bei, indem er 
verschiedene von ihm getroffene Veränderungen durch einen Zeichenlehrer ausführen liels 
(p. XXIM. 237.). 


in der Lesche zu Delphi. 87 


seinem Ausdruck in Stellungen und Charakteren, durch sein eigenthünli- 
ches künstlerisches Verdienst so sehr ausgezeichnet ist, diesem, das ohnehin 
in Deutschland weniger verbreitet ist als es zu sein verdient, gewissermafsen 
als Einleitung zu einer zweiten Ausgabe dienen könnten. Ist nemlich durch 
eine kunstgemäfsere, übersichtlichere, an klaren Bezügen reichere Anord- 
nung für die Schätzung der beiden Werke etwas gewonnen, so mufs hier- 
durch auch der Belang aller einzelnen Theile, wie sie auf einzelnen Blättern 
gröfser dargestellt sind, für den Kunstfreund gesteigert werden. Es ist be- 
kannt, wie schwer es ist sich von selbstgefafsten und öffentlich dargelegten 
Ansichten und Combinationen zu trennen und in fremde einzugehn, und ich 
mufs daher dem trefflichen Künstler doppelt dankbar dafür sein, dafs er aus 
Freundschaft für mich so viele und grofse Änderungen in seinen eignen frü- 
heren Entwürfen vorgenommen hat. Dem wirklichen Styl der Polygnoti- 
schen Zeit, den ich auf Anlafs eines merkwürdigen Vasengemäldes im 2. 
Bande der Annalen des Archäologischen Instituts, französischer Section, 
genauer zu bestimmen gesucht habe, durch tiefes Studium ausgewählter Va- 
sengemälde sich zu nähern, obgleich nur sehr wenige einzelne Darstellungen 
unmittelbar benutzt und fast übergetragen werden könnten, möchte einem 
Andern leichter fallen als dem, der sich so lang und viel beschäftigt hat nach 
eignen Ideen die Gemälde der Lesche blofs aus Pausanias und nach einer 
unter Malern seltnen Kenntnifs der alten Bildhauerwerke herzustellen, und 
der Mühe haben würde, für dieselben Gegenstände in einem verschiedenen 
Styl zum andernmal Gestalt und Charakter zu erfinden. Aber die Künstler 
sind gewils nicht über den Standpunkt auch der besten Übersetzer früherer 
Zeit hinaus, die es nicht lassen konnten, wie es die ausländischen auch jetzt 
nur selten lassen können, ihren eignen Geist und Geschmack in die Nach- 
bildung zu legen und die Treue und Selbstentäufserung für sklavisch anzu- 
sehn, die doch mit der gröfsten Freiheit verbunden sein können, wenn die 
Höhe der Aufgabe richtig gefafst wird. 

Die Vertheilung der Bilder an den Wänden in drei Reihen der Figuren 
über einander, ohne Linienabtheilung, wie sie sich aus der Beschreibung er- 
giebt, ist eine uns aus vielen Vasengemälden, deren Vorbilder wir uns zum 
Theil in grofsen Wandgemälden denken dürfen, bekannte Einrichtung. ('*) 


(‘‘) Millin Vases de Canosa und Peint. de Vases I,49. R. Rochette Mon. ined. pl. 
35. Mon. d. Instit. archeol. II, 49. 50 und häufig. 


88 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


Die im Alterthum überhaupt so weit reichende Dreitheilung herrscht auch 
an den Wänden in Pompeji in so fern als diese gewöhnlich drei horizontale 
Abtheilungen in der Grundfarbe haben, der Sockel schwarz oder doch der 
dunkelste Theil, der mittlere Theil der Wand, der gröfste, fast immer in 
lebhaften Farben, und der obere der hellste, der indessen zuweilen von 
dem mittleren nicht geschieden ist. 


Die Zerstörung Ilions. 
Der Inhalt genau nach Pausanias. 


Wenn man in das Gebäude eingetreten ist, so ist alles zusammen von 
dem Gemälde, was man zur Rechten hat, das eingenommene lion und die 
Abfahrt der Hellenen. 

1. Dem Menelaos werden die Anstalten zur Rückkehr gemacht, ein 
Schiff ist gemalt und darinnen Schiffsleute, Männer und Jungen ('?) unter 
einander; in der Mitte des Schiffs ist Phrontis, zwei Stangen haltend und un- 
ter ihm ein Ithämenes, welcher Gewänder oder Decken trägt und Echöax 
geht die Schiffstreppe herab mit einem Wasserkrug aus Erz. 

2. Auch brechen die Feldhütte des Menelaus nicht weit von dem 
Schiff Polites, Strophios und Alphios ab und eine andere löst Am- 
phialos auf; unter den Füfsen des Amphialos aber sitzt ein Bursche, der 
keine Überschrift hat, und Bart hat allein Phrontis. 

3. Briseis, welche stehend, und Diomede über ihr und Iphis vor 
beiden sehen aus wie betrachtend die Schönheit der Helena. Helena aber 
sitzt so wie ihr nahe auch Eurybates, vermuthlich der Herold des Odys- 
seus, obgleich er noch keinen Bart hat. Dienerinnen Elektra und Pan- 
thalis, diese neben der Helena stehend, (1%) Elektra der Herrin den Schuh 
anbindend. 


('”) aides, nicht Knaben, Kinder des Lagers von neun bis zehn Jahren (Böttiger S. 
317), sondern Schiffsjungen: c. 25,2 Zriyganıa de oix Eorı rw madı, yevsız de movw TW 
®govridı. Die an das Schiff angelegte Treppe sieht man an der schönen Cista des Kir- 
cherschen Museums mit den Argonauten und an dem Sarkophag mit der Entführung der 
Iphigenia aus Tauri. Mon. ined. 149. 

('‘) Gewils nicht mit Spiegel oder Schmuckkästchen, wie Böttiger S. 318 meint, son- 
dern müfsig dastehend, wie die Riepenhausen sie zeichneten. 


in der Lesche zu Delphi. 89 


4. Über der Helena sitzt ein Mann in ein purpurnes Himation ein- 
gehüllt und auf das Äufserste niedergeschlagen, in welchem man Helenos, 
des Priamos Sohn, vermuthet noch ehe man die Überschrift gelesen. Nahe 
dem Helenos ist Meges, welcher in den Arm verwundet ist, und gemalt ist 
auch bei dem Meges Kreons Sohn Lykomedes, der eine Wunde auf dem 
Handgelenk hat, dazu eine am Knöchel und eine dritte auf dem Kopf; und 
verwundet auch Euryalos am Kopf und am Handgelenk. Diese sind höher 
als Helena in dem Gemälde. 

3. Verbunden mit der Helena sind die Mutter des Theseus, kahl 
geschoren, und von den Söhnen des Theseus Demophon, nachdenkend so 
viel aus der Stellung sich ergiebt, ob es ihm gelingen wird die Äthra zu be- 
freien. Denn Lescheos Aa über sie, dafs sie, so bald Ilion eingenom- 
men war, entwich und in das Lager der Hellenen kam und von den Söhnen 
des Theseus erkannt wurde und dafs Demophon sie von Agamemnon erbat, 
dieser aber jenem zwar gefällig sein wollte, aber erklärte, es nicht thun zu 
können ohne zuvor Helena dazu zu bewegen: da er denn einen Herold sandte, 
that ihm Helena den Gefallen. Nun scheint der Eurybates im Gemälde zur 
Helena gekommen zu sein der Äthra wegen und den Auftrag des Agamem- 
non auszurichten. 

5. Die Troerinnen dann gleichen Gefangenen und Wehklagenden; es 
ist gemalt Andromache, vor welcher der Knabe steht und ihr die Brust er- 
greift, und Medesikaste, eine der unehlichen Töchter des Priamos, beide 
mit Schleiern verhüllt; Polyxena aber hat nach der Jungfrauen Weise die 
Haare auf dem Kopf aufgeflochten. 

6. Dann hat er auch den Nestor gemalt mit einem Hut auf dem Kopf 
und zwei Lanzen in der Hand und sein Rofs in der Gestalt als wenn es sich 
eben wälzen wollte. 

Bis zu dem Rofs ist Ufer und darin Steinchen sichtbar, von da an 
aber ist nicht mehr See zu erkennen. 

7. Über den Weibern zwischen Äthra und Nestor in der Höhe sind 
ebenfalls Gefangne, Klymene, Kreusa, Aristomache und Xenodike 
(zwischen Äthra und Nestor, nicht zwischen Demophon und Nestor, so dafs 
also jene aufserhalb, Demophon nach der Helena zu stehen scheint.) 

S. Über diesen sind auf einem Ruhbett gemalt Deinome, Metioche, 
Peisis und Kleodike. 

Philos.-histor. Kl. 1847. M 


90 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


9. Dann ist gemalt Epeios nackt, die Mauer der Troer auf den Bo- 
den niederwerfend, über welche allein der Kopf des hölzernen Pferdes her- 
vorragt. (!7) 

10. Polypötes des Pirithoos Sohn, den Kopf mit einer Tänia um- 
wunden, ('%) und neben ihm Akamas der Sohn des Theseus den Kopf mit 
einem Helm bedeckt, auf dem Helm ein Busch; und Odysseus mit einem 
Panzer angethan, Ajas aber des Oileus Sohn, der einen Schild hat, steht 
bei dem Altar und schwört über das Erkühnen gegen Kassandra. Kassandra 
sitzt zur Erde und hält das Bild der Athena, da sie ja das Xoanon vom Ge- 
stell wegrifs als Ajas sie von der Zufluchtstätte fortzog: gemalt sind dann 
auch die Söhne des Atreus, auch diese behelmt, und Menelaos hat auf 
dem Schild einen Drachen des in Aulis bei dem Opfer erschienenen Zeiehens 
wegen: (1?) durch diese wird dem Ajas der Eid abgenommen. (?°) 

11. Gegenüber dem Pferde bei dem Nestor ist Neoptolemos, der 
den Elasos getödtet hat, welcher Elasos einem nur noch wenig Athmenden 
ähnlich ist; den Astyonoos, der auf das Knie gesunken ist, (?!) haut Ne- 
optolemos mit dem Schwerdt. 

12. Ferner ist ein Altar gemalt und ein kleiner Knabe, der aus 


() Für dm aörav, das mit Bezug auf Towwv gesetzt worden war, vermuthete Siebe- 
lis, wie auch Jacobs, und setzten Walz und Schubert und L. Dindorf ürsg «öre. Böttiger 
S. 326 versteht, das Rols werde hereingezogen: aber die Zerstörung ist ja schon erfolgt, 
nachdem die Männer ausgestiegen sind. 


('°) Der Grund dieses Schmucks läfst sich nicht angeben: denn auf den Sieg des Po- 
Iypötes in den Leichenspielen Il. XXIII, 844 allein bezog er sich gewils nicht, und an ein 
erotisches Zeichen ist in diesem Kreis und in dieser Zeit schwerlich zu denken. 


() Meyer zu Winckelmann Th. 2 S. 720 deutet diese Schlange als Wappen von 
Sparta. Vgl. Heynes Antiqu. Aufs. I S. 90 Not. Zeitschr. für a. K. S. 575. Auf der 
Weimarischen Vase mit dem Raub der Kassandra hat Ajas den Drachen und er führt bei 
Philostratus Her. VIII, 11 einen zahmen Drachen bei sich. 

(9) Emı rovras Tov Alkvre EEogzoürı. Jacobs: his adstantibus. Malles utique ovror aut 
mivre o0roı. Nemo tamen tam violento remedio uti volet. Unde autem Boettigerus noverat, 
Ulyssem stare aversum, cum Polypoete colloquentem? Siebelis erklärt richtig propter, de: 
Zmı rovros geht zurück auf das Vergehn und eZogzoös: geht auf die fünf Heroen. Durch 
die falsche Erklärung prope, post illos waren auch die Riepenhausen verleitet worden, die 
Eidabnahme den Atriden allein zu geben, wie auch Bötliger S. 326 thut. 

(*') Nicht flehend, sondern überwältigt, wie Aesch. Ag. 63 yovaros zeviasw Eperdens- 
vov, vgl. die Stellen bei Blomtield. 


in der Lesche zu Delphi. 91 


Furcht den Altar erfafst, und auf dem Altar liegt ein eherner Panzer von 
einer Gestalt, die zu meiner Zeit selten ist, vor Alters aber trugen sie solche. 
Es waren eherne Stücke, das eine der Brust und der Gegend um den Leib 
angepafst, das andre zur Bedeckung des Rückens und man nannte sie Gyala, 
legte das eine vorn, das andre hinten an und fügte sie nachher mit Spangen 
aneinander. Auf der andern Seite des Altars hat Polygnot die Laodike ste- 
hend gemalt. (2?) Nächst der Laodike ist ein Untersatz von Stein und ein 
ehernes Badbecken darauf und Medusa sitzt auf dem Boden mit beiden Ar- 
men den steinernen Fufs umfassend. Neben der Medusa aber ist eine kahl 
geschorne Alte oder ein Eunuch mit einem nackten Knäblein auf dem 
Schoofse, welches aus Furcht die Hand vor den Augen hält. 

13. Todte dann, Pelis mit Namen nackt auf den Rücken geworfen, 
unter dem Pelis liegen Eioneus und Admetos noch mit den Panzern an- 
gethan. 

14. Andere höher als diese, über dem Badegefäfs Leokritos des Po- 
Iydamas Sohn, der durch Odysseus umgekommen, über dem Eioneus und 
Admetos aber Koröbos des Mygdon Sohn, der um Kassandra freite. 

15. Ferner sind über dem Koröbos noch Priamos, Axion und 
Agenor. 

16. Die Leiche des Laomedon tragen Sinon, Freund des Odysseus, 
und Anchialos weg. 

14. Noch ein andrer Todter ist gemalt Namens Eresos. 

17. Ferner das Haus des Antenor und ein Pardelfell über dem 
Eingang aufgehängt als ein Zeichen für die Hellenen, sich des Hauses des 
Antenor zu enthalten. Gemalt sind Theano und ihre Söhne sitzend, Glau- 
kos auf einem aus Brust- und Rückenstücken zusammengefügten Panzer, 
Eurymachos auf einem Felsstück. Neben ihm steht Antenor und zu- 
nächst Antenors Tochter Krino, welche ein kleines Kind trägt. Der Aus- 
druck der Gesichter ist bei allen ihrem Geschick gemäfs. 


(*”) Böttigers Emendation in Betreff der Laodike S. 334 beruht auf offenbarem Mils- 
verständnils. Den Panzer aus zwei Stücken hatte Pausanias in einem Gemälde des Kalli- 
phon von Ephesos im dortigen Artemistempel gesehn, wo er dem Patroklos von Mädchen 
angelegt wurde. Zugleich führt er die Stelle der Ilias XVII, 314 an. Mehr über die 
yvar.c bei Böttiger Vasengem. II $S.73, Bröndsted Bronzen von Siris $.24. Hr. Ritt- 
meister Maler in Baden besitzt in seiner merkwürdigen Sammlung antiker Rüstungsstücke 


und Waffen auch die beiden Hm Tongerzice eines solchen Panzers. 


M2 


92 Weucker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


18. Einen Kasten und andres Geräthe laden Diener auf einen Esel: 
auf dem Esel sitzt auch ein kleines Kind. (°°) 


Die Absicht des Pausanias, wie man aus dem Zusammenhang und der 
ganzen Beschaffenheit seiner Beschreibung schliefsen mufs, war weniger auf 
das Gemälde als ein Werk der Kunst gerichtet wie auf den Inhalt oder das, 
was es ihm zur Bereicherung der heroischen Mythologie darbot. So sehr ist 
diefs der Fall, dafs man sich eher wundern mufs, warum er so häufig Nach- 
richt über das Räumliche der Figuren giebt, indem alle diese Nachrichten, 
wie sie vorliegen, nicht dazu führen von der Composition des Gemäldes eine 
Vorstellung und Übersicht zu verschaffen. Hätte er diese bezweckt, so 
durfte er nicht in so vielen Fällen als geschehn ist die Angabe der Stelle der 
Figuren unterlassen, und so konnte er durch ein-paar Worte über die Rei- 
hen und die Eintheilung der Gemälde im Allgemeinen, über den Mittel- 
punkt, die Enden, die Zahlen der Figuren einzelner Abtheilungen oder im 
Ganzen den Leser so bedeutend fördern, dafs nun auch die Bestimmungen 
über einzelne Figuren ihm überall fafslich und fruchtbar sein würden. Aber 
vermuthlich waren die Gesichtspunkte der Erfindung und der Anordnung, 
die wir jetzt aus einem Kunstwerk entwickeln, ihm fremd und unbekannt, 
da auch seine sonstigen Schilderungen nicht verrathen, dafs er auf diese Ge- 
heimnisse der Kunst einzugehen vorbereitet oder gestimmt war. So konnte 
es nicht anders geschehen als dafs die Entwürfe der Compositionen, wobei 
man sich blofs an die Worte des Pausanias hielt, nicht blofs keine Ähnlich- 
keit mit der aus so vielen Kunstwerken bekannten Art der Composition über- 
haupt verrathen, sondern auch unter sich in solchem Grade verschieden sind 
wie es der Fall ist. 

Aber wenn aus den Worten des Pausanias unmittelbar die Compo- 
sition nicht durchgängig gefafst und bestimmt werden kann, so schöpfen wir 
doch dadurch aus ihnen hinlänglichen Aufschlufs, dafs sie uns bestimmte 
Gruppen und die Personen in ihrer Vollständigkeit überliefern. Es stellen 
sich nemlich in diesen Gruppen und Personen der prüfenden Untersuchung 
Bezüge, Gegensätze und in gröfserer Bestimmtheit nach ihrer ganzen Aus- 


(©) Böttiger S. 329 bezieht mit Unrecht auf diesen Esel den sprichwörtlich geworde- 
nen IHoruyvwrcu cvov im Anakeion in Athen. Hesych. s. v. 


in der Lesche zu Delphi. 93 


dehnung Reihen heraus, worin die von Pausanias nicht ausgesprochnen, ent- 
weder nicht geahnten oder nicht beachteten Gedanken und Absichten des 
Malers selbst deutlich und entschieden zu erkennen sind. Diese aus dem 
Innern der Darstellung hervorgehenden Zeichen, die im Sinn der Gruppen 
und Figuren und ihrer Verhältnisse untereinander liegenden Winke haben 
wir mit den ausdrücklichen Ortsbezeichnungen zu verbinden um der Wahr- 
heit näher zu kommen: auf diesem Prineip beruht die neue Darlegung der 
Composition. Es versteht sich, dafs man an den Wortlaut der Beschreibung 
sich genau zu binden hat, wenn man die Composition des Polygnot sucht 
und nicht seine eigene an die Stelle zu setzen Lust hat. Aber keineswegs 
ist Pausanias der einzige Führer und Gewährsmann: sondern die malerischen 
Bedingungen überhaupt, die wir durch die Gesammtheit der alten Kunst- 
werke zu fassen im Stande sind, der aus beiden grofsen Gemälden erkenn- 
bare Geist des Meisters und die Natur des vorliegenden Gegenstandes, nach 
allen Seiten und Beziehungen betrachtet, kurz eigene anderswoher als aus 
Pausanias geschöpfte Kenntnifs mufs uns leiten bei allem demjenigen, wo 
die Unbestimmtheit seines Ausdrucks uns volle Freiheit läfst. Die Vorstel- 
lung von den Verhältnissen des Bildes darf nicht in Widerspruch mit seinen 
Formeln sein, es müfsten denn sehr starke Gründe uns überzeugen dafs er 
ein oder das andremal sich in ihnen: vergriffen habe: aber diefs Negative 
reicht nicht zu, sondern um die Vorstellung auszubilden müssen Motive be- 
rücksichtigt werden, die ganz aufser dem Gesichtskreis des Pausanias lagen, 
indem es ihm nur ankam auf eine Aufzählung und Erklärung der Personen 
nach ihren Reihefolgen über einander. Hätte er auf die Composition Rück- 
sicht genommen, so mulfste er wenigstens die Zahl der Reihen der Figuren 
übereinander im Allgemeinen und bestimmt angeben: die ganze Beschrei- 
bung würde eine andre geworden sein. Was er über die Personen berichtet, 
ist schätzbar, wenn auch für uns in Bezug 


5 
gleichgültig. Völlig überflüssige Anmerkungen, wie über den Vogel Oknos 


auf das Gemälde gröfstentheils 


im zweiten, über Dionysos im ersten Gemälde, dafs Theseus bei den Ar- 
geiern auch einen Sohn Melanippos habe, wo er eben so gut auch Iphigenia 
als die Tochter des T’heseus und der Helena in Argos und andre Fabeln hätte 
anführen dürfen, und mehr dergleichen enthüllt uns nur zu sehr seinen an- 
tiquarischen Standpunkt, von dem aus die einleuchtendsten und die merk- 
würdigsten künstlerisch - poetischen Motive und Verhältnisse der Compo- 


94 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


sition ihm entgiengen. Das Hypothetische also, wenn wir das aus dem all- 
gemeinen künstlerischen Brauch und innerer Nothwendigkeit Abgeleitete so 
nennen wollen, soll nirgends die gegebenen Bestimmungen aufheben, beu- 
gen oder beeinträchtigen, sondern nur da, wo sie fehlen und die Vorstel- 
lung frei gelassen ist, sie ersetzen und im Falle der Unbestimmtheit oder 
Ungewifsheit ihres Verständnisses und ihrer Anwendung uns leiten. Da z.B. 
über (ürsg, ohne Unterschied des Genitivs und Accusativs) eben so wohl 
von einer höheren Stellung in derselben Gruppe als von der Stellung in der 
höheren Reihe gebraucht ist, so steht es der höheren als der blofs wörtli- 
chen Auslegung zu, es in dem einen oder dem andern Sinne zu nehmen, 
und da x«rw nicht das Senkrechte einschliefst, so ist erlaubt anzunehmen, 
dafs hier und da die damit bezeichnete Figur schräg in unterer Linie gestan- 
den habe; eben so da ner& nicht die F olge in derselben Reihe (e&pe£As) ein- 
schliefst, darf es auch auf die untere bezogen werden, was im zweiten Ge- 
mälde zweimal geschehen mulfs. 

Der versuchte Entwurf der Gemälde geht demnach, worauf zur rich- 
tigen Beurtheilung des Versuchs Alles ankommt, zurn Theil aus Gegebenem, 
zum Theil aus Errathenem hervor, aus der einträchtigen Verbindung und 
innerlichen Verschmelzung sicherer Angaben und als nothwendig erkannter 
Annahmen. Zur Anstellung der Probe ist beides auseinanderzuhalten, es 
dient aber zur Abkürzung wenn ich mit dem Plan und dem Gedanken, die 
dem Gemälde zu Grunde liegen, den Anfang mache. Dafs die beigegebene 
Zeichnung sich hinlänglich den ausdrücklichen Angaben des Pausanias an- 
schliefse, um nach ihm diese Gedanken entwickeln zu dürfen, wird nachher 
aus der Zusammenstellung dieser Angaben und ihrer Vergleichung sich leicht 
ergeben und die bis dahin auf dem Gerüste dieser Voraussetzung beruhen- 
den Bemerkungen werden hierin ihren festen Schlufs erhalten, es wird die 
Anordnung auch in Bezug auf den Text sich rechtfertigen. 

Zuerst fällt in die Augen die Eintheilung des Ganzen in Schiffslager, 
Burg und Stadt, und dafs die Abtheilungen zur Seite der Akropolis einander 
in der Ausdehnung und in den Massen entsprechen. Die eine kann man die 
Seite der Achäer nennen, und diese war durch Ufersteinchen bis zu dem 
Rofs des Nestor (einschliefslich) als Seeküste bestimmt unterschieden, die 
man auf diese Art auch in Vasengemälden angedeutet zu sehn gewohnt ist, 
die andre war die Seite der Troer. Auf jener sind zunächst der Burg im 


in der Lesche zu Delphi. 95 


Lager die gefangnen Troerinnen zur Beutevertheilung, auf der Stadtseite un- 
ten auch Troerinnen, welche die Schrecken der eingenommenen Stadt aus- 
drücken, in verzweiflungsvollen Geberden, indem über ihnen die Leichen 
ihrer Männer sichtbar sind. Weiterhin auf der Seite der Achäer Helena im 
Glanze der Schönheit und fürstlicher Hoheit, wieder erobert, ein lebendiges 
Triumphzeichen, und auf der andern Seite im vollsten Contrast nur Leichen 
der Männer, die in der Stadt überfallen, niedergemetzelt oder im Kampf 
überwältigt worden sind. Kein einziger Troer erscheint mehr lebend aufser 
weiterhin Antenor, der Gastfreund der Achäer, dem das Leben erhalten 
wird; denn Neoptolemos, der letzte und einzige, der noch als Rächer und 
Würger thätig ist, scheint auch den letzten der Feinde zu tödten. Endlich 
im Lager fröhlicher Abbruch der für die Kriegszeit errichteten Hütten, die 
Jeder gern mit der Heimath vertauscht, und Rüstung der nach der Ilias (XTV, 
35) auf das Land gezogenen Schiffe, die durch eines bezeichnet werden, zur 
Abfahrt; dort der unfreiwillige Auszug des Antenor aus seiner Wohnung, 
der einzigen die verschont worden war, und Aufpacken zur Auswanderung 
aus der Stätte einer vollständigen Zerstörung. Besonders die offenbar nicht 
zufällige Übereinstimmung der beiden Enden durch Lagerhütte und Haus, 
die verlassen, Schiff und Lastthier, die zur Reise beladen werden, mufs 
nächst der Abtheilung in eine Mitte und zwei durch die Burg geschiedene 
gleich grofse Flügel die Aufmerksamkeit auf ein Gesetz der Symmetrie in 
dem Ganzen sogleich erwecken. 

Einen eben so bestimmten Gegensatz erblickt man ferner in Neopto- 
lemos und Nestor, dem jüngsten und dem ältesten der Heroen, dem Helden 
neuen Anwuchses und dem Greis aus früheren Geschlechtern, Neoptolemos 
der einzige, der in der Stadt noch mordet, und Nestor der einzige von den 
Heroen der auf der andern Seite der Akropolis jenem gegenüber, der Ra- 
che schon müde, schon gerüstet zur Abreise erscheint: denn diefs bedeutet 
doch der Hut, den er auf hat, und das Pferd neben ihm als irredauss, das 
sich zu wälzen im Begriff ist, dient zum Bilde vollbrachter grofser Anstren- 
gung und der Erholung, der man sich nun überlassen wird. Vielleicht gab 
zu dieser schönen Gegenüberstellung die Odyssee Anlafs (X1,510): auch 
der Sophist Hippias fafst bei Platon den Gegensatz zwischen beiden Heroen 


in das Auge (p. 286 a). (?*) Die übrigen in die Darstellung gezogenen Achäer- 


(@*) K. 0. Müller Archäol. $. 134,3 sieht einen interessanten Gegensatz in dem uner- 


9 Werrcker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


fürsten sind noch in der Akropolis beschäftigt dem Oiliden Ajas den Eid 
abzunehmen, der sich auf die Spitze der Zerstörungsgreuel bezieht, Demo- 
phon aber ist der Äthra wegen ins Lager vorausgegangen, wo aus demselben 
Anlafs auch der Herold Eurybates verweilt. Die so beschäftigten Heroen 
ausgenommen ist zur Abreise Nestor allein voran, der sich schon zu ihr wen- 
det als wenn er voraussähe, dafs der Eid, welcher jetzt abgelegt wird, die 
Sache endigen werde, so wie Neoptolemos, der noch bis zum letzten Augen- 
blick das Morden fortsetzt, nach der Stellung die er einnimmt, allein noch 
zurückgeblieben ist. Ob man die Zwischengruppen des Nestor mit seinem 
Rofs und des Neoptolemos mit den beiden Troern zur Burg ziehen will, an 
welche sie stofsen, oder an die ersten Unterabtheilungen des Lagers und 
der Stadt anschliefsen, ist gleichgültig. 

Das Absichtliche wird man eben so wenig verkennen in der Anord- 
nung, dafs die Eidscene, bestehend aus der gröfsten selbständigen Gruppe 
von allen, aus sieben und zwar den hervorstehendsten Personen, aufserdem 
in der letzten noch übriggelassenen Handlung, gegen welche die Anstalten 
zum Abzug nach beiden Seiten als Handlung untergeordnet erscheinen, in 
die Mitte gelegt ist. Gerade über ihr der Abbruch der Mauern Ilions, das 
fürder nicht bewohnt werden soll, worauf auch der Abzug des Antenor 
deutet, dem ja sonst gestattet sein würde seine Wohnung auf dem heimi- 
schen Boden beizubehalten. 

Wo in einer Composition so viele entschiedene Bezüge der Gegen- 
stände auf einander und auf solchen das Ganze befassenden und bestimmen- 
den Punkten sind wie wir sie bis jetzt schon vorgefunden haben, läfst es 
sich nicht anders erwarten als dafs auch das Übrige in denselben Plan aufge- 
nommen und auf gleiche Weise behandelt und berechnet sein werde. Und 
so zeigt es sich denn auch in der That. Es zeigt sich sogleich darin, dafs 
zunächst neben Nestor im Lager drei edle Troerinnen sind, Andromache 
und die zwei Töchter des Priamos Medesikaste und Polyxene, und zunächst 
dem Neoptolemos in der Stadt drei andre Frauen oder zwei und ein Eunuch 


müdlichen Bluträcher Neoptolemos und dem sanften Menelaos, der nur die schöne Beute 
fortzubringen suche. Aber das Letztere ist nicht gegründet, Menelaos ist mit Agamemnon 
und andern Heerfürsten in Thätigkeit: und um die Rüstung zur Abfahrt vorzustellen, 
mulste sein Schiff vor andern gewählt werden weil er der That nach vorangeeilt ist. Zu- 
fällig war dieser Umstand zugleich günstig in Bezug auf Helena. 


in der Lesche zu Delphi. 97 


mit einem verwaisten Kind auf dem Schoofse, und darin dafs über diesen 
Gruppen, also auf beiden Seiten der Pergama, noch zwei andre, um die Mitte 
des Bildes also eine dritte Reihe von Figuren war, bis oder fast bis zu der 
Höhe des Rosses, in der anstofsenden Unterabtheilung aber auf beiden Sei- 
ten nur in der zweiten Reihe noch Figuren erschienen und die letzte Unter- 
abtheilung in der untersten Reihe allein auslief, die Abzugsanstalten ohne 
Figuren darüber. So werden auch äufserlich die Flügel oder die Abstufung 
der Gegenstände in einer, zwei und drei Reihen von Figuren in je drei Ab- 
theilungen gesondert, die auch durch ihren Inhalt nicht blofs die Theilung 
bestätigen, sondern auch eine gegenseitige oder gegensätzliche Entsprechung 
verrathen. Denn so sind über den genannten drei vornehmsten gefangnen 
Troerinnen vier andre in zweiter und noch vier in dritter Reihe; über der 
Gruppe aber der verzweiflungsvollen Frauen und unglücklichen Kinder in 
der Stadt sind über einander zwei Gruppen todter Männer. Aus Leichen 
der Troer bestehn auch die zwei Gruppen übereinander, die auf dieser 
Seite folgen, nur dafs in der einen die Leiche wie zur Bestattung wegge- 
tragen wird. Diefs ist eine schöne Andeutung, dafs diese Leichen über- 
haupt nicht den Vögeln und Hunden Preis gegeben sein werden, sondern 
von den Achäern Beerdigung gestattet ist. Diese beginnt so gleichsam und 
zwar vermittelt durch Sinon, dem sie Dank schuldig waren, so dafs auch 
kein Schein der Unwahrscheinlichkeit auf dieser Milde haftet und der An- 
blick blutiger Leichen wenigstens nicht noch durch üble Vorstellungen, die 
sich an sie knüpfen könnten, verdüstert werden sollte. Auf der entgegen- 
gesetzten Seite aber folgt auf die Troerinnen als Kriegsbeute Helena mit Um- 
gebung und über ihr Helenos des Priamos Sohn, der das Unglück seiner 
Vaterstadt durch erzwungnen Seherspruch selbst hatte bewerkstelligen müs- 
sen, mit drei in der Nachtschlacht verwundeten Achäern. 

Sehr sinnreich ist die Gruppe der Helena erfunden. Indessen sie mit 
ihrem Anzug auch hier beschäftigt ist, betrachten ihre Schönheit Briseis, 
die als die reizendste unter den Troerinnen zu denken ist, und die schöne 
Lesbierin nebst der Skyrerin, die in der Ilias (IX, 665) das Lager des Achil- 
leus und des Patroklos schmücken; selbst schön, bewundern sie die über 
allen Neid erhabene Schönheit, betrachten mit Vergnügen die, welche auch 
ihres eigenen Unglücks Ursache ist, durch die auch Achilleus ihnen entris- 
sen war, so dafs hierdurch Polygnot die Troischen Greise auf der Mauer, 


Philos.- histor. Kl. 1847. N 


98 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


die sich von der Schönheit der Helena verblenden lassen, noch überbietet: 
bei Euripides in den Troerinnen und in der Hekabe schelten und verwün- 
schen die Helena die gefangnen Troerinnen. Gehoben wird die schöne Ver- 
rätherin aufserdem durch Äthra, die von den Dioskuren geraubte und in 
ihren Dienst gegebene Königin, vor welcher jetzt ihr Enkel, der hohe The- 
seide, steht, noch in Erwartung ob Helena geruhen werde sie, als ihr Eigen- 
thum, auf Agamemnons Antrag ihm abzutreten. Dafs der Herold Euryba- 
tes Platz genommen hat, kann auch nicht ohne Grund sein, ist wenigstens 
verschieden davon, dafs Phönix und Ajas, als sie bei Achilleus als Abge- 
sandte ankommen, sitzen geheifsen werden (IX,200). Dafs der Herold den 
Auftrag ausrichte, wie Pausanias sich ausdrückt, ist nicht genau richtig: 
denn er würde stehn wenn er spräche. Er sitzt entweder um anzudeuten, 
wie die Freigebung der Äthra nur von Helenas Entscheidung abhänge, auf 
welche sie warten lafse, oder dafs auch er, von diesem Anblick gefesselt, 
die Rückkehr nicht beeile, und zu diesem Motiv würde es passen, dafs er 
unbärtig ist, da im Allgemeinen die Herolde älter sind. () Der, an wel- 
chen Pausanias denkt, der Herold des Odysseus, älter als er (XIX, 244), 
kommt in einer erdichteten Erzählung vor und hat also den Namen nur als 
einen, der für einen Herold überhaupt geschickt ist: aber auch in der Ilias 
ist ein Herold Eurybates (IX,170). Auch ohne dafs man die obere Gruppe 
mit der andern in Beziehung bringt, so dafs der Helena wegen diese Wun- 
den bluten und der Troische Seher in Trauer versenkt wäre, ist ihre Person 
und das Verhältnifs genugsam hervorgehoben, die Schönheit, vor deren An- 
blick dem erzürnten Gemal das Schwerdt der Rache entfallen war und die 
Herstellung in alle ihre Rechte, welche Agamemnons rücksichtsvolles Ver- 
fahren gegen sie andeutet. 

Bei so viel Ordnung im Eintheilen und so viel Abgewogenheit und 
Beziehung in den Figuren und Gruppen fehlt es, wie auf dieser Stufe der 
Kunst es nicht anders sein könnte, keineswegs an einer gewissen Freiheit 
und an Unterschieden und Ausweichungen von der Regel im Einzelnen, wie 
z.B. wenn Helena mit ihren zwei Dienerinnen auf der einen Seite zwar drei 
Personen neben sich hat, auf der andern aber nur zwei, Demophon und 


() Daher erregte ein jugendlicher Herold auf dem sogenannten Schilde des Scipio 


Verwunderung. 


in der Lesche zu Delphi. 99 


Äthra; oder wenn zwei Feinde, die Neoptolemos tödtet, und das sich wäl- 
zende Pferd des Nestor gegen einander aufgehn. Auch Kinder, die nicht 
mitzählen, wie man an den Vasen von Canosa und sehr häufig zu bemerken 
Gelegenheit hat, und Nebendinge, wie Altar, Badegefäfs, befördern die 
freie Manigfaltigkeit und helfen die Regel zu verstecken, den Schein des 
Zwangs und der Steifheit fern zu halten. Die auffallendste Ungleichheit be- 
steht in der Anzahl der Leichen, welche die der Lebenden im gleichen 
Raume nicht ganz aufwiegt: und auch für diese Ausnahme läfst sich ein 
Grund denken, der dafs die Gestalten des Todes, wenn nicht im Schauder- 
haften Kunst gesucht werden soll, einer so grofsen Manigfaltigkeit als die le- 
bendig bewegten nicht fähig sind, und dafs, wenn ein gewisser Raum der 
Wand dem Bilde der in der Nachtschlacht ausgerotteten Troischen Mann- 
schaft eingeräumt war, dieses Feld des Todes seine Bedeutung im Ganzen 
deutlich genug aussprach um einer volleren Ausführung im Einzelnen ent- 
behren zu können. 

Nach dieser Übersicht wird es leicht sein die Ortsbestimmungen des 
Pausanias zu prüfen. Die Beschreibung beginnt am äufsersten Ende und mit 
der unteren Reihe, in welcher Schiff und Lagerhütte sich befinden (1.2) und 
geht, ohne diefs ausdrücklich zu bemerken, in dieser Linie fort zur Gruppe 
der Helena (3). Höher als diese (@vwregw) ist die von Helenos und den drei 
Verwundeten (4). Von derselben Linie bedient sich Pausanias zugleich der 
bei diesem Gegenstande sehr relativen oder zweideutigen Präposition über 
(Ursg ruv 'Erevyv, eben so wie dvwregw reurwv, ümtg ro Acuragiov 12), welche 
vorher und sonst öfter nur eine etwas höhere Stellung in derselben Gruppe 
ausdrückt. Denn wenn Diomede über der Briseis, vor beiden aber Iphis 
steht, indem sie zusammen die Helena betrachten (3), so kann da ür&o un- 
möglich einen grolsen Unterschied der Stellung betreffen; eben so sind 
Phrontis im Schiff und Ithämenes unter ihm (i7 avrev) durch keinen Zwi- 
schenraum getrennt, der bei avwregw angenommen werden darf und mufs. Von 
der Gruppe des Helenos, welche eine obere Linie einnimmt (4), springt die 
Beschreibung auf die untere zurück, indem sie zunächst der Helena (&pe&4s 
1 'Erevy, d.i. neben, wie es mehrmals mit age in derselben Gruppe ab- 
wechselt 12.17) die Athra und den Demophon hinzufügt, durch welche die 
Gruppe der Helena erst vollständig wird; denn dafs sie die Mitte einnehme 
zwischen den drei sie betrachtenden Schönen und jenem Paar ist an sich an- 


N2 


100 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


gemessen, da der Platz in einer Mitte immer auszeichnet*und hervorhebt, 
und hier mufs diese Anordnung um so bestimmter angenommen werden, da 
Demophon nicht von dem Herold, der neben der Helena sitzt, getrennt wer- 
den konnte. Von hier aus schreitet die Beschreibung zu den wehklagenden 
Troerinnen (5) und Nestor (6) in derselben Linie fort, indem sie diefs so 
wenig wie bei dem Übergang von dem Schiff zu den Zelten, von diesen zur 
Briseis ausdrücklich angiebt. Hingegen ist die Gruppe der vier Gefangnen (7) 
in der oberen Reihe (&vwSev) über der der drei Figuren zwischen Äthra und 
Nestor; und vier andre sind wieder über den ersten vier auf dem Ruhbett 
liegend (8), und hier gilt uns ür£9 so viel wie @vwregw, in einer noch höheren 
dritten Reihe. Den vier Stehenden oder auf dem Boden Sitzenden konnte 
das Ruhbett nicht auf die Köpfe gesetzt sein: ein Zwischenraum ist also mit 
Sicherheit anzunehmen. (2%) Dann bricht Epeios an der Mauer ab, über 
welche das Pferd mit dem Kopf hervorragt (9). Diefs gehört der Natur der 
Sache nach der obersten Region an, und die Beschreibung bleibt also auch 
hier, wo sie ohne Angabe des Raums fortschreitet, in derselben Linie. Un- 
erwartet nach ihrer bisherigen Art ist es, dafs sie den Ort der nun folgenden 
Eidscene (10) im Gemälde nicht angiebt, die also nach ihrem Verhältnifs zu 
dem Übrigen oder nach Gründen aus der Sache selbst anzusetzen war. In- 
nerhalb der Burg ist die Handlung natürlich zu denken, deren Grenze durch 
den vorangestellten Nestor bezeichnet ist, gewils nicht aufserhalb der Mau- 
ern; und unterhalb des hölzernen Pferdes, nicht neben ihm, was eine selt- 
same, für das Pferd und die Handlung gleich störende Zusammenstellung 
abgeben würde. Aber es konnte auch unmöglich die untere Linie an der 
am meisten in die Augen fallenden Stelle, in der mittleren Abtheilung, die 
durch Übereinstimmungen in den beiden andern so deutlich herausgestellt 
ist, leer bleiben. Setzen wir diese Reihe von sieben Personen auf den Grund 
und Boden der Burg, wie es sich dem Pausanias wohl von selbst zu verste- 


() Böttiger S. 312 und 324 nimmt hier Umso ravres, wegen der nur ein wenig hö- 
her stehenden oder hervorragenden Diomede (Bazyis Errar« za Arouyöy re Umsg aurys) in 
derselben Bedeutung, „auf derselben Linie; aber die Sitzenden ragen nur etwa in schie- 
fer Richtung etwas über den Stehenden hervor, vgl. ec. 27,1 wo dvwrsgw und Urs von 
demselben Gegenstande gebraucht werden” (&r.01 ds dvwregw Tourwv, Ümsp wev To Acurmguov 
Aswzgıres EoTI, Um 8 Se ’Hicvex rs zer "Adurrov Koo goros.) Die se Stelle ben eist das Gegen- 
theil, und wenn Ureg für avarisw stehn kann, so gilt nicht zugleich das Umgekehrte. 


in der Lesche zu Delphi. 101 


hen schien, so geht er von hier nun folgerecht wieder ohne Ortsangabe auf 
den Neoptolemos über (11). Und indem er von diesem bemerkt, dafs er 
dem Nestor gegenüber sei (zareuSu roV Immeu eV maga 79 Nerrog), (27) ver- 
räth er zum ersten und einzigenmal, dafs er auf einen Bezug zweier Grup- 
pen unter einander aufmerksam geworden ist. Zugleich sieht man aus die- 
sem Wort, dafs wir mit Recht die Eidscene gerade in die untere Reihe ge- 
stellt haben. Denn wäre sie höher im Raum der Burg angebracht gewesen, 
so standen Nestor, den wir in die Hauptlinie zu setzen veranlafst waren, und 
Neoptolemos neben, wenn auch nicht nahe neben einander: das gegenüber 
erhält seinen rechten Sinn erst durch den Zwischenraum, durch die zwischen 
ihnen stehende Gruppe und in der Bedeutung eines Bezuges: denn wie viele 
der Figuren würden sonst einander gegenüber stehn. (?°) So aber wie es zu 
verstehen ist stehn das Schiff und der Esel, die Lagerhütten und das Haus 
und durchgängig je zwei Gruppen einander gegenüber. Den auf den Neop- 
tolemos folgenden Gruppen von Weibern und Kindern und von Todten 
(12.13) ist wieder in fortlaufender Linie ihre Stellung gegeben weil darüber 
Pausanias nichts sagt (nur yeygarraı d& — vergei de): hingegen liegen höher als 
diese Todten andre («Arc de dvwregw rourwv) Leokritos und Koröbos (14) und 
über dem Koröbos (ravw), wofür in der entsprechenden Gruppe von Ge- 
fangenen (8) ürsg gebraucht war, drei andre Todte (15); (°”) eine Leiche 
wird von zwei Trägern geschleppt, eine Gruppe für sich (16), mit welcher 
nicht die Leiche des Eresos verbunden werden darf (wie von O. Jahn S. 23 
geschieht), nach derselben Seite hin, aber tiefer, wie wir annehmen dürfen, 
und wir gewinnen dadurch in der zweitletzten Stelle eine Gruppe über der 


(©) Böttiger S. 334 hat (wie Focius) das hölzerne Pferd verstehn und danach rag« =W 
Nesrog: streichen wollen, den Neoptolemos aber S. 331 in das Innere der Burg versetzt. 
Jacobs: Seribendum autem ol Inrcv roÜ magc zw N. nec audiendus Boettigerus p. 394. 

(©) Siebelis ist sehr im Irrthum p. 248: neque z«rsuSü, quum indefinitae sit potestatis, 
necesse est ut de eadem linea accipiamus. Er setzt nemlich den Neoptolem in der zwei- 
ten Reihe, gegenüber den vier Gefangnen (7), neben der Gruppe mit Altar und Badege- 
fäls (12), und schräg unter ihm den Nestor. Bei Göthe sind Neoptolemos und Nestor in 
den zwei verschiedenen Gemälden getrennt von einander. 

(°”) Böttiger S. 332. „Nun ein Haufen von fünf erschlagnen Trojanischen Helden. Sie 
liegen in verschiedener Direction unter und über dem Badegefäls — die Riepenhausen- 
sche Zeichnung ist den Worten nicht treu — zerstreut.” Untreuer könnte man mit den 
Worten des Pausanias nicht umgehn. 


102 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


unteren wie es auf der andern Seite geordnet ist. Endlich ist noch ein ein- 
zelner Todter genannt, Eresos der zu Leokritos und Koröbos (14) hinzuge- 
bracht, so wie die Personen der Gruppe der Helena nicht vollständig auf 
einmal angeführt wurden, die Gruppe vervollständigt, da er vereinzelt für 
sich doch auf keinen Fall bleiben dürfte. Indem darauf das Haus des Ante- 
nor, darauf die Bepackung des Esels angegeben wird (17.18 &rrı ö& oizia, zı- 
Rwrev de), ist nicht bemerkt, dafs diese nicht neben dem zuletzt genannten 
Todten, sondern auf der Hauptlinie ständen, wie es doch von den letzten 
Gegenständen eben so gewils ist, als dafs sie die letzten sind, was auch nicht 
besonders ausgedrückt wird. Dafür heifst es, dafs in dieser Gegend des Ge- 
mäldes — vermuthlich über, nicht unter dem Haus und dem Esel — das 
Distichon von Simonides sich befand: 
Toave Horyyvwres, Oarıos Yevos, ’AyAaobwvros 
vies megSoneunv IAkv ürgomoAw. 

So scheint der Entwurf ohne irgend einen Zwang der Auslegung mit 
den Worten des Textes sich zu vertragen: wir folgen der Beschreibung in 
derselben Linie bis sie uns durch dvwregw in eine höhere, durch &ravw in 
eine noch höhere Reihe verweist, und wir finden dann im Überblick, dafs 
die Gruppen der beiden oberen Reihen auf beiden Seiten einander entspre- 
chen, so dafs zunächst der Mitte oder der Burg in drei, dann in zwei Reihen 
über einander Gruppen gemalt waren, an beiden Enden aber nur die unter- 
ste Reihe eingenommen war. Durch die einfache Regelmäfsigkeit dieser 
Abstufung stellen sich die Abtheilungen, die auch nach ihrem Inhalte sich 
sondern und Bezüglichkeit verrathen, noch bestimmter heraus. Wir kön- 
nen sie bezeichnen als 1. Rüstung zur Abfahrt des Menelaos, 2. Helenas 
Triumph, 3. die Troerinnen als Kriegsbeute, diese drei auf der Seite des La- 
gers oder der Achäer, 4. die Akropolis; dann auf der Seite der Stadt oder 
Troer, 5. Weiber und Kinder, Todte, 6. nur Leichname, 7. Abzug des 
Antenor. 

Dafs der Maler zusammengehörige Gruppen bilden, unterscheiden 
und in ein Verhältnifs unter einander bringen wollte, kann nach dem Bishe- 
rigen unmöglich zweifelhaft sein, obgleich Pausanias kein Wort davon sagt. 
Das Prineip malerischer Ordnung zeigt sich aber hier und da auch in ein- 
zelnen Gruppen, wo Pausanias durch kleine Willkürlichkeiten, die von sei- 
nem Standpunkte der Betrachtung aus durchaus gleichgültig waren, sie uns 


in der Lesche zu Delphi. 103 


einigermafsen versteckt hat. So bei der Eidscene (10). Sie besteht aus 
sieben Personen, sechs männlichen stehenden und Kassandra, welche sitzt: 
wer also, der alte Bildwerke kennt, kann zweifeln, dafs Kassandra nebst 
dem Altar, an welchem sie safs, die Mitte einnahm? Pausanias aber nennt 
nach den drei Heroen der einen Seite zuerst den Ajas jenseits des Altars, 
dann diesen und mit ihm Kassandra. Das Verhältnifs zwischen den gewähl- 
ten Heroen zu beiden Seiten bestätigt unsre Annahme. Denn dem schwö- 
renden Ajas steht gegenüber Odysseus, ohne Zweifel als unmittelbar thätig, 
als der Sprecher bei der Abnahme des Eides, er der in allen grofsen Ange- 
legenheiten voran war und darum nothwendig des Freylers Feind, der auch 
zuvor auf die Steinigung des Ajas angetragen hatte, und der auch in der 
Unterwelt, wie Pausanias bemerkt, absichtlich mit den andern Feinden des 
Oiliden zusammengestellt war. Er ist mit dem Harnisch angethan, nicht 
wegen des noch fortdauernden Krieges, sondern um ihn auch dadurch 
als den thätigsten Krieger im Heer auszuzeichnen. Hinter dem Ajas stehn 
die zween Atriden, hinter dem Odysseus die zween Epigonen des Theseus 


und seines Freundes Peirithoos. Die letzteren sind hervor gezogen und 


den Atriden gegenübergestellt aus Liebe zu Athen, weil Palyehot Athener 
durch Aufenthalt und Ertheilung des Bürgerrechts war. Aus dem Rofs 
auf der Akropolis in Athen sah man nur Athener herausschauen, Mene- 
stheus, die beiden Söhne des Theseus und Teukros. (?°) Bei einer Hand- 
lung der Gottesfurcht mufste der Athener, da Athen seine Frömmigkeit sehr 
hoch hielt, den Akamas und Polypötes (der hier als der beste Freund den 
im Lager abwesenden Demophon ersetzt) besonders gern betheiligt sehn: es 
ist nicht einmal zufällig, dafs diese beiden neben dem Odysseus stehn, wo- 
durch vielmehr ihr besondrer Eifer den Frevel zur Sühne zu bringen sich 
ausdrückt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch zu betrachten, dafs Po- 
lygnot dieselbe Scene auch in Athen in der Pökile gemalt hatte. (*') In dem 
Opfer der Iphigenia an dem schönen Marmorkrater in Florenz, (*”) der mit 
dieser Eidscene im Ganzen so sehr übereinstimmt, dafs die Riepenhausen 


(°) Pausan. I, 23, 10. 
(') Pausan. 1, 15,3. 
() Galeria di Firenze tav. 157. Millin Gal. mythol. pl. CLV. 


104 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


schon in ihrem früheren Werk die am Altare sitzende Iphigenia berücksich- 
tigt haben, ist auffallenderweise auf der einen Seite des Altars mit dem Göt- 
terbilde darauf und Iphigenia, die daran sitzt, ein vierter Heros zugesetzt. 
An der Kassandra übrigens in der Lesche zu Delphi zeichnet Lucian (*°) die 
würdevollen Augenbrauen und die gerötheten Wangen, nebst dem Haar der 
Here von Euphranor, den feinen, wo es sein mufs sich anschliefsenden, 
meist aber flatternden Gewändern des Polygnot und dem nackten Leibe der 
Pankaste von Apelles als etwas Vollkommnes aus, indem er diefs alles im 
Bilde seiner Panthea vereint wünscht. Die Gruppe nach dem Neoptolemos 
(12) besteht aus drei Erwachsnen, Laodike, Medusa und der Alten oder 
dem Eunuchen und zwei Kindern, wovon das eine, das aus Angst vor dem 
mordenden Neoptolemos den Altar als Schutzstätte umfafst, auf der einen 
Aufsenseite, das andre auf der andern sich befindet, im Schoofse des Eunu- 
chen geborgen, so viel hier Schoofs oder Altar schützen können. (%*) Doch 
ist wahrscheinlicher die Gruppe abgeschlossen mit den drei Erwachsnen und 
dem Badegefäfs in der Mitte; und das Kind am Altar etwas entfernter (rei 
Buusd de Emerewa Aaodınnv Eygaev Erräcav) ist als Beiwerk mitten unter den 
Gruppen genommen und nicht ohne Bedeutung vereinzelt. Denn beide 
Kinder stellen verlassene Waisen vor, die in einer solchen Zerstörung auch 
nicht fehlen durften, eben so das im Schoofse gehaltene wie das durch sei- 
nen Schrecken zum Altar getriebene: eine Mutter ist es auf keinen Fall, die 
Pausanias durch Alte oder Eunuch bezeichnet. Einen Eunuchen im Hause 
des Priamos, in Nachahmung Persischen Gebrauchs, hatte auch Sophokles 
im Troilos. Medusa, die sich in der Bestürzung unter das Badegefäfs ver- 
kriecht als ob sie hier sich bergen könnte, umklammert mit derselben Ver- 
zweiflung den kalten Stein, da keine lebendige Brust mehr ist, an die sie 
schutzsuchend sich werfen könnte; ein höchst ausdrucksvoller Zug, den wir 


auch bei Virgil finden (H, 489): 


33 - 5 r Rn \ \ ee Sue>. a} 
(23) Imag. (. obgumv FO EmImgemes zu mageıWlv vo EWEgEUNES. 


(*) Böttiger S.331 will den Knaben an der von dem mordenden Neoptolemos, vor 
dem er sich flüchte, abgewandten Seite anbringen. Aber der Knabe sucht nicht hinter 
dem Altar sich zu verbergen, sondern umfalst ihn als die Rettungsstätte, welche das 
Schwerdt verschont und Pausanias sagt roü Aunou d2 Zmsizswae Acodizyv Eyganev Errärav, 


. . .. "fr .. x m ’ 
wo er denn wenigstens, um genau zu sein, hätte beifügen müssen za 00 madıov. 


in der Lesche zu Delphi. 105 


Tum pavidae tectis matres ingentibus errant, 
amplexaeque tenent postes atque oscula figunt. (°°) 

Auch der Nebenzug, dafs auf den Altar statt des friedlichen Opfers ein von 
einem der Feinde erbeuteter Panzer, nicht ohne Entweihung, hingeworfen 
ist, war gewifs nicht ohne Bedeutung. — Erwägt man solche Rücksichten 
in der Gruppirung recht, so darf man wohl auch vermuthen, dafs von den 
drei Figuren Briseis, Diomede, Iphis (3) und Andromache, Medesikaste, 
Polyxene (5) sowohl Briseis als Andromache mit ihrem Knaben (°°) als die 
berühmtere oder wichtigere Person nach dem Kunstgebrauch in die Mitte 
gestellt war, während aus demselben Grunde Pausanias sie vor den beiden 
Seitenfiguren genannt hat. 

In der Handlung im Ganzen sind, wie in der Anlage äufserlich drei 
Theile, so drei Momente oder Stufen, der letzte gemeinsame Act der 
Achäer, ferner der Zustand welcher im Lager und welcher in der Stadt 
durch die Entscheidung des Kriegs eingetreten ist, endlich Abzug freudig 
und trauervoll. Von der Mitte aus nimmt das Ergreifende und Gewaltige der 
Gegenstände nach beiden Seiten gleichmäfsig ab, wie in einer Trilogie des 
Aeschylus. Die Zerstörung ist dargestellt als vollbracht, wie auch Simoni- 
des ausdrückt, nicht wie sie ausgeführt wird, wie ein Aeschylus sie malt im 
zweiten Chorliede der Sieben, all das Elend der Menschen, deren Veste ge- 
nommen ist: 

Wie man die Männer erschlägt und die Stadt mit Flammen verwüstet 
Auch die Kinder entführt und die tiefgegürteten Weiber: 

den &ArnIucs, die Suyargas &Axn9eiras. Dies liefse sich nicht ohne Verwir- 
rung darstellen und könnte nur eine gräuliche Wirkung hervorbringen: die 
Folgen der furchtbarsten Gewalt liefsen sich eher zum geordneten Überblick 
bringen. Priamus und sein Haus sind todt oder in den Händen der Sieger; 


der letzte schauderhafte Abschlufs der Rache, das Opfer der Polyxena und 


(C?) Jacobs: Sententiam Pausaniae vix recte expressit Riepenhausen, quum Medusam 
utroque brachio basi illa marmorea nixam repraesentavit. Doloris significationem illum ge- 
stum habuisse, nullus dubito. Sic etiam Boettigerus p. 332 rem videtur accepisse. Schmerz 
sagt nicht genug. 

(°°%) Böttiger S.337 vergleicht die Stellung und Stimmung der Andromache in des 
Euripides Troerinnen 570 ff. Aber die Tragiker sind in Behandlung dieses Gegenstandes 
sehr verschieden von Polygnot. 


Philos.- histor. Kl. 1847. 0) 


106 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


die Ermordung des Astyanax durch Neoptolemos, der noch im Morden der 
Männer begriffen ist, sind schonend übergangen: auch sind noch nicht alle 
Steine der Mauer niedergeworfen, nicht schlechthin vollbracht ist das Werk, 
aber beinah und auf hinlänglich entschiedene Weise, und mit bewunderns- 
werthem Verstand ist grade dieser Augenblick gewählt. Der Idee nach ist 
der Meineid, welchen Ajas schwört, der Mittelpunkt, das Herz der Com- 
position. Durch Hintansetzung der Göttin in der Priesterin und dem heili- 
gen Schutz des Altars hat der Siegsmuth die Schranken durchbrochen, mit 
dem Untergang der Troer verknüpft sich so der Grund und Keim grofsen 
Unheils der Sieger selbst; das Verderben der Einen und das der Andern 
läuft in diesem Punkt wie Ende und Anfang zusammen. Die Tabula Hiaca 
drückt durch diese einzige Gruppe die Zerstörung der Stadt aus. 

Malerisch betrachtet ist demnach Neoptolemos, wenngleich der Ge- 
genstand seinetwegen für die Lesche gewählt ward, nicht der Mittelpunkt. (°7) 
Dafs er allein noch den letzten lebenden Troer in der Stadt niedermetzelt, 
erhebt ihn nicht über den Nestor ihm gegenüber, der sich zur Abreise wen- 
det. Die Personen alle, die ihn angehn, sind so zerstreut im Gemälde und 
seine Beziehungen zu ihnen so gar nicht ausgedrückt, dafs diese als nicht in 
die Darstellung fallend auch seine Person nicht über alle andern herausstel- 
len. Priamos, den er getödtet hat, liegt unter andern Leichen (15), Po- 
Iyxena, die er bei den Dichtern am Altare schlachtet und Astyanax, den er 
umbringt, sind im Lager (5), so wie Helenos, der mit der Andromache ihm 
zum Ehrentheil von der Beute zufallen wird (4). Äneas, welchen er eben- 
falls erhielt, kommt nicht einmal vor. Polygnot hat in der Stellung die er 
dem Neoptolemos giebt, der die er in der Poesie einnimmt und dem äufse- 
ren Anlals, aus welchem die Zerstörung Ilions gemalt wurde, genug gethan 
ohne der Reinheit seiner künstlerischen Conception in der Behandlung eines 
solchen Ganzen das Mindeste zu vergeben. Eben so wenig kann Helena als 
Mittelpunkt angesehn werden, woran Andre gedacht haben; (°°) noch auch 
geben beide zusammen, der mordende Neoptolem innerhalb und die sich 
schmückende Helena aufserhalb der Stadt, die Brennpunkte der Handlung 
ab, von denen Tod und Verzweiflung auf der einen und Heiterkeit und Hei- 


(”) Wie Böttiger annimmt S. 330 £. vgl. 301 ff. 337. 
(°) Jacobs. 


in der Lesche zu Delphi. 107 


mathslust auf der andern Seite ausströmen. (°?) Diese sind auf keiner Seite 
ungemischt zu sehen und der Gesichtspunkt für das Ganze wird auf diese 
Weise verfehlt. Auch die Auffassung kann ich nicht für genau richtig hal- 
ten, dafs, wie in des Panänos Schlacht von Marathon Beginn, Fortgang und 
Ende des Kampfes und überhaupt häufig in Gemälden und Reliefen Fort- 
schritt und eine Vervielfältigung des Augenblicks zu erkennen ist, so auch 
hier Streit in der Stadt, Gericht des Ajas und Beutevertheilung wie in einer 
Folge dargestellt seien. Sondern es vereinigt sich vielmehr in dieser wun- 
derbaren Composition Alles auch in der Einheit der Zeit zu einer um so 
gröfseren Gesammtwirkung. Zu gleicher Zeit schwört Ajas, bricht Epeios 
den Rest der Mauer ab, mordet Neoptolemos und bricht Nestor auf, stehn 
die Troerinnen Todesangst aus und jammern als Gefangne, schlafen die Ilier 
den Todesschlaf und werden begraben und wird Helena bewundert und um 
Freilassung der Äthra gebeten, rüsten die Schiffsleute und Knechte des Me- 
nelaos und Familie und Gesinde des Antenor den Abzug. Nicht richtig giebt 
auch Pausanias selbst den Gegenstand an, indem er sagt Ilions Einnahme 
und die Abfahrt der Hellenen: nur Simonides fafst ihn genau und bestimmt 
und Philostratus (V. A. VI,11 p.114 Kays.) rav dAirzouevnv TAtov üngsmeiw. 
So gut wie die Abfahrt der Hellenen war auch die Auswanderung des Ante- 
nor ein Theil des Bildes; beides folgte aus der Zerstörung und war in die 
Einheit des Bildes eingeschlossen. Etwas lächerlich aber ist es, wenn man 
auf den Grund eines zwar künstlerisch genommen nicht genauen, aber sehr 
verzeihlichen Ausdrucks des Pausanias dem Polygnot vom Katheder herab 
den Kanon der Kunsteinheit vorgehalten, eine schlechte Verbindung ver- 
schiedenartiger Dinge vorgeworfen sieht: (*°) denn es stellt sich so der höch- 
sten Kraft sinnreicher Erfindung Flachheit und Beschränktheit mit possier- 
licher Keckheit gegenüber. 

Ganz verschieden war Göthes Ansicht, der auf der rechten Wand 
zwei verschiedene Gemälde erblickte, die Eroberung Trojas und die Ver- 
herrlichung der Helena, welche beide mit dem dritten auf der andern Wand 
unter sich ein Ganzes bilden, bestehend in der Erfüllung der Ilias, in dem 


(°’) So der Erklärer des Riepenhausenschen Gemäldes 1805 Chr. Schlosser S. 42 ff. 
(‘) Torkil Baden de arte ac judicio FI. Philostrati in deser. imag. 1792 p.32. Juncta 


argumenta a Polygnoto non me offendunt; male juncta offendunt. 


02 


108 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


bedeutendsten Punkte der Rückkehr der Griechischen Helden, da dasSchick- 
sal der Helena die wichtigste Frage abgab, und in dem Abschlufs durch Odys- 
seus, und das Bild der gefallenen Griechen und Trojaner. Einheit einer 
reichen Composition spricht Göthe dabei dem Polygnot ab. Dafs das ange- 
nommene zweite Gemälde nicht die Helena allein angehe, konnte schon der 
Umstand verrathen, dafs neben dem des Menelaos „Anchialos ein anderes 
Gezelt abbricht.” Den Erläuterungen Göthes über Sinn und Absicht des 
Künstlers, allgemeine Anordnung, Situation der Gruppen u.s.w. pflichtet 
Meyer noch in seiner Kunstgeschiche mit voller Überzeugung bei, und es 
macht keinen Unterschied, dafs er anstatt von zwei Bildern, von zwei Ab- 
theilungen, zwei verschiedenen Vorstellungen der rechten Wand spricht (I 
S. 132 £.). 

Auffallender als das hingeworfene Urtheil des Dänischen Gelehrten ist 
das Mifsverständnifs in einer genauen Untersuchung des ganzen Gegenstandes 
wie die Böttigers ist. Denn auch er läfst das Ganze in zwei Theile zerfallen, 
welche symbolisch durch ein Stück Mauer getrennt erscheinen sollen, Ab- 
fahrt und Ilions Zerstörung, wovon aber immer der zweite Theil die Haupt- 
sache bleibe, weil hier die Rache des Neoptolemos eintrete (S. 314.309). 
Den zweiten Haupttheil nennt er auch die Burg (S.325). Aber überhaupt 
ist diese Untersuchung unglücklich ausgefallen, sie ist schwankend, unklar 
und voll von irrigen Einfällen. Da mag man der Linien über einander „wohl 
drei” annehmen, wovon die zweite immer durch avwSev, die dritte durch 
dvwregw bezeichnet werde, was unrichtig ist (S.312); dann ist von einer zwei- 
ten oder dritten Linie die Rede (S. 324) und zuletzt heifst es: „eravw, weiter 
oben und also wohl in der dritten Linie, wenn diese wirklich da war” (S. 
333). So ist unaufhörlich von der unverkennbaren symmetrischen Anord- 
nung die Rede, sie ist aber nirgends, mit Ausnahme der Endscenen (8.335), 
nachgewiesen; sondern da ist z.B. Nestor „auf der untersten Linie von 
aussen” (S.323), Neoptolemos aber „auf der zweiten oder oberen, zwischen 
Schrecknissen und Leichenhaufen, als die Hauptperson, welcher eigentlich 
das ganze Gemälde nur zur Einfassung diente, die Rache des Neoptolemos” 
(S. 330), „im Innern der Burg? (S. 324). Unbegreiflich ist die Eidscene ver- 
dreht, wie schon Siebelis hinlänglich gezeigt hat, der überhaupt manche die- 
ser Irrthümer berichtigt. 


in der Lesche zu Delphi. 109 


Zwei Abtheilungen sind endlich auch angenommen in dem neuesten 
Versuch von OÖ. Jahn über die Gemälde Polygnots in der Lesche (Kiel 1841), 
das eroberte Ilion und die Abfahrt, die aber, „obgleich deutlich geschieden, 
doch in jeder Hinsicht sich genau auf einander bezogen und ein Ganzes aus- 
machten.” Für dieses Ganze werden hier nur zwei Hauptlinien angenommen 
und in jeder von beiden eine symmetrische Ordnung der Gruppen entwickelt. 
Es würde weitläufig sein nachzuweisen, warum in vielen Fällen die den Wor- 
ten des Pausanias in Bezug auf diese Anordnung gegebene Deutung, obgleich 
der gelehrte und der alten Kunstwerke wohl kundige Verfasser ihn mit Ge- 
wissenhaftigkeit zu benutzen bemüht ist, sich bezweifeln, warum viele der 
vorausgesetzten Bezüge unter Figuren und Gruppen, wie z.B. Helena und 
Helenos, Helenos und Kassandra, viele der untergelegten Motive sich als 
hinfällig, gesucht oder nicht begründet im alten Dichtergebrauch ansehen 
lassen. Dagegen will ich nicht versäumen über die auf solche Art gewonne- 
nen Reihen wenigstens einige Bedenken darzulegen, wonach sie gegen die 
Bräuche, die wir übereinstimmend in Compositionen verwandter Art beo- 
bachtet sehen, vielfach verstofsen. Die unterste Reihe besteht nämlich aus 
neun Gruppen, was an sich recht schön wäre. Die Mitte, also (5), ist Nes- 
tor, gerade unter Epeios. Aber die Mitte müfste doch die Hauptfigur ein- 
nehmen in einer Reihe worin vier Paare von Gruppen auf jeder Seite vom 
Mittelpunkt aus in Beziehung zu einander, jede Gruppe mit der andern des 
Paars in der entsprechenden Stelle gesetzt sind. Die Hauptfigur ist Nestor 
gewifs nicht; auch ist er nicht aufser aller besondern Beziehung wie das höl- 
zerne Rofs und Epeios, die auch in so fern für die Mitte geeignet sind. Da- 
gegen wird sein Gegenmann, obgleich neben ihm (nicht gegenüber) stehend 
in (6) wie von ihm getrennt, indem er in (4) mit Polyxena, Medisikaste und 
Andromache sich verbindet. Gegen die übrigen Bezüge, (7) Laodike, Me- 
dusa unter der Badewanne, Alte oder Eunuch mit dem Kind, und (3) He- 
lena mit Umgebung, ferner (8) drei Todte und (2) Briseis und ihre zwei 
Genossen, so wie (9) und (1), Rüstung zum Abzug nach beiden Seiten, wäre 
nichts zu erinnern. Die obere weit kürzere Reihe besteht nur aus fünf Ab- 
theilungen, das hölzerne Rofs in der mittelsten. Bei den andern vieren hat 
sich der Verfasser erlaubt, statt (1) und (5) und (2) und (4) zu paaren, (1) 
und (4) und (2) und (5) auf einander zu beziehen. Diefs ist aber nicht blofs 
gegen allen, so tausendfach durchgebildeten Gebrauch, sondern auch gegen 


110 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


die Natur der bilateralen Symmetrie an sich. Wie die Gruppen gestellt 
sind, so entsprechen die Eidscene in (4) den gefangnen Troerinnen in (2), 
und Helenos mit den drei verwundeten Griechen in (1) den Leichen der 
Troer in (5). Die Vereinfachung der Gruppen entsteht daraus, dafs bei den 
gefangnen Troerinnen aus zwei und bei den Leichen aus drei Gruppen (nach 
Böttigers Vorgang) je eine gebildet wird, was für sich betrachtet bestimmt 
unannehmbar ist, indem wohl eine einzelne Figur oder auch zwei in einer 
Gruppe etwas über die andern hervorragen können, bei Gruppen von vier 
und vier, drei und drei Personen aber Umso gewils auch eine Absonderung 
im Raum ausdrückt, da sonst die Figuren sich zum Theil decken müfsten; 
was aber hier zugleich den grofsen Mifsstand herbeiführt, dafs diese Dop- 
pelgruppen nun nicht die entsprechenden Stellen, sondern die zweite und 
die fünfte einnehmen, woraus für das Auge, die Symmetrie als Princip an- 
genommen, eine starke Mifsform entsteht. Das vorher (S.4) angekündigte 
Ganze wird wieder aufgelöst wenn der Verfasser nach der Musterung seiner 
Tafel sagt (5.24), es zeige sich, dafs die Mitte des Gemäldes wohl der 
Scheidepunkt für die beiden sich entsprechenden Hälften, nicht aber der 
eigentliche Mittelpunkt der ganzen Composition sei: der Maler habe also die 
beiden Gemälde nur neben einander gestellt, anstatt sie zu einem Ganzen 
zu vereinigen, zu einem gemeinsamen Gentral- und Culminationspunkt zu 
führen, was Hr. Jahn selbst um so auffallender findet wenn er sich die ge- 
wifs nicht späteren Äginetischen Giebelgruppen vergegenwärtige. 

Mehr als irgend ein einzelnes Bildwerk giebt die vorliegende Compo- 
sition Aufschlufs über die Verbindung symbolischen Ausdrucks mit dem 
Wirklichen in der Darstellung und über die ideelle BehandInng des Räum- 
lichen, die der perspectivischen Wahrheit und Wirklichkeit nicht blos ent- 
behrt, sondern ihr eigentlich widerstreitet. Aus der Darstellung durch han- 
delnde Figuren allein, mit blofser Andeutung der Orte, folgt das Aufgeben 
perspectivischer Nachahmung als eines völlig verschiedenen Kunstprincips. 
Lager, Burg und Stadt sind neben einander in eine Reihe gestellt, wie sie 
zum Bilde nach einer angenommenen Art malerischer Anordnung sich schi- 
cken; die wirkliche Lage ist gänzlich aufgegeben, von der in einem Gemälde 
bei dem jüngeren Philostratus wenigstens so viel beibehalten und nachge- 
ahmt war, dafs man Stadt und Burg auf der einen Seite, das Lager mit dem 
Hellespont auf der andern und in der Mitte die Ebene sah, getheilt durch 


in der Lesche zu Delphi. 111 


den Xanthos zwischen dem Achäischen und dem Troischen Heere, wovon 
nur die Myrmidonen und die Myser in Bewegung waren als Zuschauer des 
Zweikampfs zwischen Neoptolemos und Eurypylos. In Polygnots Gemälde 
aber schliefst sich die Meeresküste in gerader Linie an die Stadt an, queer 
in das Land hinein, und die Stadt, hinter welcher in Wirklichkeit die Burg 
lag, ist hier auf die eine Seite von dieser geschoben und erstreckt sich in 
gleicher Linie mit dem Seestrande. Einige Ähnlichkeit hat hiermit die Vor- 
aussetzung im Theater, dafs rechts von dem Gebäude der Mitte das Land, 
links die Stadt liege. In der Stadt sind keine Häuser, nur Todte und Ver- 
zweifelnde, so wie der Strand nur durch Steinchen, das Lager durch He- 
lena und die Gefangnen darin angedeutet ist: das einzige Haus des Antenor 
ist sichtbar weil es nothwendig war um dessen Geschick und Handeln darzu- 
stellen. Gerade nur so viel Räumliches ist überhaupt angegeben, als erfor- 
derlich war um die Lagen und das Thun der Personen anschaulich zu ma- 
chen. Die Räume, Naturgegenstände und Menschenwerke selbst auszudrü- 
cken unternimmt die Kunst erst später: und auch dann behauptet die künst- 
lerische Anordnung noch so viel Gewalt über die Wirklichkeit wie man z. B. 
aus der freien Nachbildung der sieben Äolischen Inseln bei Philostratus im 
ge um die 


5 
von den Achäern beschlossene Schleifung der Veste auszudrücken war da- 


Vergleich mit der natürlichen Lage wahrnimmt. Nur als Bedingun 


her ausnahmsweise ein Stück der Mauer von Pergama hingezeichnet, deren 
grofse Quadersteine Epeios ausbricht oder herabwälzt: nur so viel ist noch 
übrig, alles Andre schon niedergerissen. Man dürfte die abgebrochene Sei- 
tenmauer der Cella des Parthenon, auf deren treppenartig über einander 
hervorspringenden Quadern man auf den westlichen Giebel hinaufklettert, 
zeichnen um dem Werk des Epeios eine gröfsere Wahrscheinlichkeit zu ge- 
ben. So könnte man auch ein Stück Mauer ganz nach noch erhaltenen 
Griechischen Stadtmauern mit ihren Thürmen in leichtem Umrifs hinzeich- 
nen. Vollständiger dürfte die Mauer nicht sein; es müfsten sonst das Lager 
der Achäer und die Strafsen der Stadt ebenfalls abgebildet sein. Dafs diefs 
nicht gewesen, kann man dem Schweigen des Pausanias um so mehr glau- 
ben, als die einzigen Lagerhütten und das einzige Haus, die er anführt, an 
den Enden des Gemäldes sich befinden, welchen denn in der Mitte des Gan- 
zen und in dessen oberstem Strich diefs andere Bauwerk entsprach. Ein 
paar geschwungne Linien zeigen in Vasengemälden einen Berg an, ein Baum 


112 Weucxer: ‚Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


dazu die Bewaldung. (*') Der Zimmrer des Rosses ist gewählt die Mauer 
abzubrechen, weil er dadurch gewissermafsen sein eignes Werk vollendet; 
der eine Mann legt dazu Hand an, wie ein Schiff die Flotte, zwei Hütten 
das Lager vorstellen, ein Esel für den Hausrath und die Familie des Antenor 
genügt, eine weggetragene Leiche die Bestattung der Leichen überhaupt, 
ein an den Altar sich anklammerndes Kind die vielen verwaisten Kinder an- 
deutet. Wie Bauten, so sind auch kleinere Gegenstände einzig nur da, wo 
sie die Lage der Lebendigen zu schildern dienen, der eben erwähnte Altar, 
das Badegefäfs, und diese darum auch an der beliebigen Stelle. In das La- 
ger ist ein Ruhbett versetzt, ohne Zweifel um den vornehmen Stand der 
Gefangenen auszudrücken. (*?) 

Auf den Ausdruck und Charakter, für dessen Maler Polygnot vor- 
zugsweise gilt, weist Pausanias nur zweimal besonders hin, wo er sagt, dafs 
die Troerinnen ausdrücken schon in kläglicher Gefangenschaft zu sein (4) 
und wo er die ihre Vaterstadt in Blut und Trümmern und ihr Haus verlas- 
sende Familie des Antenor beschreibt (17). Für Kassandra zeugt die Bewun- 
derung Lucians, und für sich selbst spricht die Erfindung, durch welche in 
der Medusa (12) das Entsetzliche des Augenblicks auf rührende und schöne 
Art zur Anschauung gelangte. Auch dafs Astyanax aus Angst die Mutterbrust 
erfafst, zeugt für die scharfe und ausgedehnte Naturbeobachtung des Malers, 
der als Ethographos berühmt ist. Den Elasos sah man die letzten Athem- 
züge thun. 

Der weite und helle Blick des Meisters verräth sich auch in der Art 
wie er die Poesie angewandt und im Einzelnen sich zu seinen Vorgängern oder 
zur dichterischen Sage gestellt hat. Freilich müfsten wir, um in dieser Hin- 
sicht die Composition vollkommen würdigen zu können, die epischen Iliu- 
persiden in allen Einzelheiten kennen; denn im Ausheben aus dem grofsen 
Vorrath und im Zusammenfügen des Gewählten nach den Bedingungen der 
Kunst und der nächsten Aufgabe bestand das Verdienst der malerischen Er- 
findung, so wie im Neuen und Manigfaltigen das der Dichter. Pausanias hat 
richtig wahrgenommen, dafs Polygnot zur besondern Quelle die Kleine Ilias 


(*) So bei Millingen Anc. uned. Mon. pl. 10 eine Linie einen Felsen beschreibend 
und ein Baum für die Felsen und Waldungen des Pelion. 
(C) Jacobs: emı #Alvys nescio utrum sedeant, an jaceant. Et zn in littore et habitus 


mulierum habet quod me moretur. 


in der Lesche zu Delphi. 113 


des Lescheos oder Lesches, Sohnes des Äschylenos in Pyrrha auf Lesbos, 
gehabt habe. Er schliefst daraus, dafs im Gemälde Meges am Arm und Ly- 
komedes im Handgelenk Wunden hatten (4), da gerade diese Verwundun- 
gen beider während der Nachtschlacht in dem Gedichte des Lesches vorka- 
men, dafs der Maler es gelesen habe, und zeigt durch vielerlei Umstände 
bei fortgesetzter Vergleichung, dafs es in dem Gemälde besonders berück- 
sichtigt sei. Was den Neoptolemos betrifft, dem zu Ehren die Lesche mit 
den Gemälden geschmückt wurde, so war er eigentlich nicht der Held die- 
ses Epos, so wie auch Polygnots Composition, wie schon bemerkt, nicht 
auf ihn als ihren Mittelpunkt sich bezieht. In der Kleinen Dias hatten die 
Listen des Odysseus den gröfsten Belang, aber Neoptolemos war, in Über- 
einstimmung mit der Odyssee, der furchtbarste, blutigste der Helden; der 
Geist des Vaters wüthet in ihm, diesen zu rächen ist er angetrieben und übt 
das Werk der Zerstörung eifriger als irgend ein Andrer. Odysseus holt ihn 
von Skyros ab, schenkt ihm grofsmüthig seinen eignen Ehrenpreis, die Waf- 
fen des Achilleus, dessen Geist dem Sohn erscheint; Neoptolemos besiegt 
dann den Eurypylos, Sohn des Telephos, der den Achilleus sammt den 
Achäern aus Mysien vertrieben hatte; bei der Zerstörung ist er es, der den 
Priamos von dem Heiligthum seines Hausaltars weggerissen an der Pforte 
seines Hauses schlachtet, den Knaben Astyanax aus eigner Bewegung und 
nicht nach Beschlufs der Hellenen, wie bei Arktinos, von einem der Mau- 
erthürme herabschleudert, auch die Polyxena dem Geiste des Achilleus op- 
fert, und er führt als Beute die vornehmste der Gefangnen, Andromache, 
und als Ehrenpreis vor allen Achäern den Äneas mit sich heim. Wohl also 
war Polygnot veranlafst bei einem auf das Grab des Neoptolemos bezügli- 
chen Gemälde an dieses Epos sich vorzugsweise zu halten. Dafs er irgend 
etwas aus Arktinos entlehnt habe, ist nicht sichtbar. Manche Hauptumstände 
hatte freilich Lesches mit den älteren Dichtern gemein, die Einnahmen der 
Stadt durch das Rofs mit der Odyssee und Arktinos, mit beiden auch dafs 
Menelaos das Haus des letzten Gemals der Helena Deiphobos erstürmt und 
sie dem Achäerlager zuführt. Allein in der Kleinen Ilias war das auch in 
der Odyssee vorkommende Mährchen, dafs die kluge Helena, um das Rofs 
herumgehend, die darin eingeschlossnen Helden alle durch die nachgeahm- 
ten Stimmen ihrer Frauen äffte, ausgeführt und ihre Schönheit besonders 
auch dadurch gefeiert, dafs Menelaos bei dem Anblick ihres entblöfsten Bu- 
Philos.- histor. Kl. 1847. pP 


114 Weucker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


sens das schon gegen sie gezückte Schwerdt wegwarf. Hiervon hat Polygnot, 
was Pausanias nicht anmerkt, den Anlafs hergenommen Helena in grofsem 
Glanze strahlen zu lassen, was er freilich auf sehr eigenthümliche sinnreiche 
Art bewerkstelligte. Auch nach Arktinos führten die Söhne des Theseus 
ihre Grofsmutter mit sich fort; aus Lesches ist, dafs Agamemnon die Er- 
laubnifs dazu von der Einwilligung der Helena abhängig macht und darum 
den Herold an diese schickte. Diefs nahm Polygnot an der rechten Stelle 
auf (3) und Pausanias weist den Zusammenhang dieser Sendung, die aus 
dem Bilde schwer zu errathen gewesen wäre, glücklicherweise aus Lesches 
nach. Aus diesem war sodann auch die Auswanderung des Antenor und 
die Sicherung seines Hauses als Gastfreunds des Menelaos und Odysseus, 
die Antenor auch nach der Ilias in seinem Haus aufnahm (17.18). Diefs giebt 
zwar Pausanias nicht ausdrücklich an; aber es folgt aus dem Tadel der Fol- 
gewidrigkeit, den er über Polygnot ausspricht, welcher die Swiegertochter 
des Antenor Laodike unter die Gefangnen gestellt habe (12), da doch bei 
Lesches Odysseus ihren Gatten Helikaon, als er in der Nachtschlacht ihn er- 
kannte, lebend fortführte. Was er dabei von der Vorsorge des Menelaos 
und Odysseus für Antenors Haus bemerkt, geht auf Polygnot mit, der auch 
das alle Feindseligkeit abwehrende Zeichen der Pantherhaut ohne Zweifel 
aus dem Dichter beibehalten hatte, so wie es Sophokles im Lokrischen Ajas 
that. In Ansehung der Laodike thut wahrscheinlich Pausanias dem Maler 
Unrecht, indem dieser die Sage, dafs Laodike, nach Homer die schönste der 
Töchter des Priamos, Akamas den Sohn des schönen Theseus (und wohl 
auch so unwiderstehlich für die Schönen als dieser in vielen Sagen) früher 
geliebt, von ihm den Munichos oder Munitos geboren, diesen der Äthra 
aufzuziehen gegeben und den Vater bei der Einnahme vor Troja wiederer- 
kannt habe, im Auge gehabt haben könnte. Dafs Pausanias bemerkt: Eupo- 
giwv de dung XaAnıdevs vüv oldeyi einorı Ta &s Thy Aaodianv Eroinrev, scheint eben 
durch eine Meinung der Exegeten veranlalst, die er mit Unrecht verwirft. 
Dafs Euphorion die ebengedachte Geschichte von der Laodike erzählte, wis- 
sen wir auch aus Tzetzes zum Lykophron (495); auch Parthenius erzählt sie 
(16) aus Hegesipps Liebesgeschichten: Plutarch nennt im Theseus (34) statt 
des Akamas dessen Bruder Demophon. Der Grund aber irgend ein Ver- 
hältnifs zwischen Laodike und Akamas, das die aus unsern Quellen bekannte 
Gestalt erst weit später erhalten haben könnte, bei Polygnot glaublich zu 


in der Lesche zu Delphi. 115 


finden, ist, dafs dieser auch in dem Gemälde in der Pökile zu Athen, wel- 
ches nach Pausanias (1, 15,3) die wegen der Frevelthat des Ajas versammel- 
ten Fürsten und Kassandra nebst andern gefangnen Troerinnen darstellte 
(also eine von der Eidabnahme durchaus verschiedene Composition), wie- 
derum diese Laodike und zwar, wie aus Plutarchs Kimon (4) bekannt ist, 
unter den Zügen der Elpinike, der er einst huldigte, gemalt hatte. Wenn 
nun hierbei Heyne (Apollod. II. p.302) an die Liebe der Laodike zu dem 
Eponymen der Akamantischen Phyle dachte, so ist dazu weit mehr Grund 
dort, wo Laodike gerade nicht unter den Gefangnen ist, wie Pausanias vor- 
aussetzt, von den Atriden also kein Leides erfährt, sondern unter den Un- 
glücklichen, man darf denken, ruhig, freiwillig noch zurückbleibend dasteht, 
weil Akamas in der Nähe ist. Helenos (4) war in der Kleinen Ilias von 
Odysseus gefangen eingebracht worden, was Pausanias gleichfalls nicht an- 
führt. Aus dieser waren auch nach Pausanias mehrere Namen gefallener 
Troer, so Astynoos, der eine der beiden welche Neoptolemos mordet (11), 
Eioneus und Admetos unter den Leichen (14), auch Axion der Priamide und 
Agenor (13), Koröbos, dessen Tod von Andern anders erzählt wurde, viel- 
leicht auch Leokritos (15). Von den gefangnen Troerinnen scheint bei Les- 
ches nur wenig die Rede gewesen zu sein. Drei fand Pausanias bei Stesi- 
choros, die Klymene, die Aristomache, Tochter des Priamos (7) und Me- 
dusa, ebenfalls Tochter des Priamos (12). Drei führt er mit Recht nicht 
auf den Lesches insbesondre zurück, Andromache, Medesikaste, schon bei 
Homer, und Polyxena (5). Die Hekabe scheint Polygnot aus Rücksicht auch 
auf Stesichoros weggelassen zu haben, der sie durch Apollon nach Lykien 
versetzen liefs, und diefs scheint auch Pausanias zu meinen indem er diesen 
Umstand anführt, was auch Siebelis (p.252) und O. Jahn (S.17) eben so 
angesehn haben: die poetischen Urkunden galten damals wie in unsrer älte- 
ren Malerei die heilige Tradition. (*”) Kreusa war ein bekannter Name der 


(*) Böttiger vermuthet S. 334 unter den Todten (15) Hekabe, indem er nach Hgr«os 
einschiebt z«: "Ez«ßr, die doch unter den Leichen der Männer durchaus unschicklich wäre. 
Dals Pausanias im Gleichfolgenden ihrer neben dem Priamos gedenkt, hat nur darin sei- 
nen Grund, dals frühere Tradition von späterer über beide abwich. Indem er diefs hin- 
sichtlich des Priamos bemerkt, fügt er es auch von Hekabe bei. Eben so wenig ist die 
andre Vermuthung Böttigers, dafs Hekabe in der kahl geschornen Alten oder dem Eunu- 
chen gemalt sein könne, wie sie in den Troerinnen des Euripides mit kahl geschornem 


P2 


116 Werxerer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


Gattin des Äneas, wofür aber Lesches und die Kypria Eurydike setzten: 
jedenfalls hatte Polygnot diesen Namen aus der Überlieferung. Auch die 
von der Ilias abweichenden Namen der beiden Dienerinnen der Helena (3) 
waren vielleicht aus Lesches genommen, obgleich Pausanias nur bemerkt, 
dafs es nicht die in der Ilias (III, 143) seien. Dagegen kam Xenodike bei 
keinem Dichter noch Prosaiker vor (7), und Metioche, Peisis, Kleodike 
nahm Pausanias für angenommene, von dem Maler selbst gebildete Namen, 
während nur die erste in dieser Gruppe, Deinome, in der Kleinen Ilias vor- 
kam (8). Bei der Mehrzahl der Gefangnen konnte es dem Maler eben nur 
auf die Zahl ankommen, da er nur ihre Lage allgemein, nicht ihre Fami- 
lienverhältnisse auszudrücken hatte: es mit diesen Namen durchhin genau zu 
nehmen, wäre pedantisch gewesen. So war der von Neoptolemos gemor- 
dete Elassos unbekannt (11), so der Todte Eresos und Laomedon, dessen 
Leiche von Sinon, dem Freunde des Odysseus (wie Pausanias ihn vermuth- 
lich nach Lesches nennt), und Anchialos weggetragen wird (16). Ist es zu 
verwundern wenn der Maler auch bei dem Schiff und den Zelten aufser dem 
Steuermann Phrontis, den er aus der Odyssee kannte, gleichgültigen Per- 
sonen, welche Decken und Wasser in das Schiff tragen, Ithämenes und 
Echoiax (Haltesteuer), die Zelte abbrechen, Polites (Bürger), Strophios 
(Wendicht), Alphios (Nährsam) und Amphialos (Amufer), selbstgewählte 
Namen, wie Pausanias auch hier vermuthet, beilegt, unbekannte, um die 
Aufmerksamkeit nicht aufzuhalten, und dafs er folgerecht einigen Schiffern 
und Schiffsjungen, wie den Knechten des Antenor, gar keinen Namen 
setzt? (**) So bindet er sich auch in andern gleichgültigen Dingen nicht an 


Haupt vorkommt, zulässig. Polygnot hätte nicht diesen Namen allein unter so vielen der 
namhaften Personen nicht beigeschrieben, oder sollte er allein erloschen gewesen sein? 
Auch wäre wohl der noch lebenden Hekabe im Gemälde eine andre Stelle zugekommen, 
wenn auch im wirklichen Untergang der Könige Loos sich oft mit dem der Andern ver- 
mischt. 

(*) Wüllner de cyclo epico p. 40 hat hinsichtlich der nicht in Poesieen vorkommen- 
den Namen im Gemälde die irrige Vorstellung, als dürfe der Maler gar nicht selbst be- 
stimmen, da er doch theils gleichgültige Personen, wo er sie nach malerischen Gründen 
braucht, setzen, theils nach Motiven des Orts und der gegenwärtigen Verhältnisse neue 
und fremde einmischen konnte, so gut als es die neuen Dichter thaten. Dals die dem 
Pausanias unbekannte Quelle für jene Namen Arktinos gewesen sei, wie Wüllner meint, 
ist auch darum irrig, weil Polygnot durch nichts verräth diesen gekannt oder berücksich- 


in der Lesche zu Delphi. 117 


die Bücher der Dichter. Den Herold Eurybates malt er, nicht ohne ein 
besondres Motiv, ohne Bart; dem bei Lesches am Handgelenk verwundeten 
Lykomedes fügt er noch Wunden am Knöchel und Kopf hinzu, vermuthlich 
weil eine leicht übersehn werden konnte oder um den Ausdruck eines an 
Verwundung Leidenden mehr Kraft geben zu dürfen, und den beiden Ver- 
wundeten aus Lesches setzt er einen dritten, Euryalos hinzu (4), von des- 
sen Person übrigens die Ilias weils; so zwei Todten aus Lesches einen drit- 
ten, Pelis (Erdmann), dessen Namen er vermuthlich auch selbst gemacht 
hat (13). Auf die bevorstehende Ermordung des Knäbchens Astyanax ist 
dadurch hingedeutet, dafs es in Todesangst die Mutterbrust erfafst (5). Die 
bedeutende Scene, in welcher die Geschichte des Kriegs als in ihrer Spitze 
auslauft und die Composition ihren Mittelpunkt hat, Kassandra mit dem 
verletzten Xoanon der Pallas inmitten des Achäerausschusses, kam nicht bei 
Arktinos vor, ob bei Lesches ist ungewils, da man erwarten sollte, dafs Pau- 
sanias, wenn dieser sie enthielt, auf ihn verwiesen haben würde. Dafs diese 
Entwicklung, von der eine frühere Urkunde als Polygnots Gemälde hier und 
in Athen und der Lokrische Ajas des Sophokles nicht bekannt ist, aus älte- 
rer Poesie geschöpft sei, läfst sich nicht bezweifeln: aber ein Meisterzug liegt 
in der Art wie sie in der Lesche benutzt ist, höher anzuschlagen als irgend 
eine Geschicklichkeit in sinnreicher Behandlung der einzelnen Gruppen, des 
Abzugs der Achäer oder der auswandernden edlen Troerfamilie, der Gefan- 
genen oder der Leichen. 


Die Unterwelt. 


In der Aufzeichnung ist angenommen, dafs Pausanias, der gleich vom 
Eintritt anfieng auf der Wand rechter Seite die Bilder zu sehn und zu be- 
schreiben, als er ans Ende gekommen war, ohne zurückzugehn die Gemälde 
an der andern Wand auf der entgegengesetzten Seite zu betrachten fort- 


fuhr. (*) 


tigt zu haben. Die Vasenmalereien enthalten unendlich viel, das mit dem Verhältnifs des 
Polygnot zu den Personen und Namen in der Poesie übereintrifft, und Polygnots Ver- 
fahren zeigt uns, wie manche Erscheinungen an den Vasen zu deuten und zu beurthei- 
len sind. 


() Göthe XLIV, 95 setzt umgekehrt voraus, dals er nach Beschreibung der Scenen 


118 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


Wörtlicher Auszug aus Pausanias. 

Der andre Theil des Gemäldes, der zur linken Hand, ist Odysseus 
hinabgestiegen in den sogenannten Hades, um die Seele des Tiresias über 
seine Rettung in die Heimath zu fragen und die Malerei verhält sich so. 

1. Wasser scheint ein Flufs zu sein, offenbar der Acheron, darin 
ist Rohr gewachsen und die Fische so schwach ausgedrückt, dafs sie mehr 
Schatten von Fischen als Fischen gleichen. Auf dem Flufs ist ein Schiff und 
der Fährmann an den Rudern. Es folgte aber Polygnot, wie mir scheint, 
der Minyas, worin bei Theseus und Peirithoos die todtenbeladene Barke 
Fährmann Charon führt. (*) Die das Schiff bestiegen haben, Tellis, 
offenbar im Alter eines Epheben, und Kleoböa, noch Jungfrau und mit 
einem Kasten auf dem Schoofse wie es Brauch ist, sie der Demeter zu ma- 
chen, sind hinsichtlich ihrer Herkunft nicht durchaus klar oder sicher: (*7) 
in Bezug auf den Tellis habe ich so viel gehört, dafs der Dichter Archilo- 
chos im dritten Grad von ihm abstamme, von der Kleoböa aber sagt man, 
dafs sie zuerst die Orgien der Demeter von Paros nach Thasos gebracht habe. 

2. An dem Ufer des Acheron, gerade unter dem Schiff des Charon 
wird ein Mann, der an seinem Vater nicht recht gethan, von dem Vater er- 
würgt. 

3. Nahe bei dem, der im Hades Leiden erduldet weil er den Vater 
mifshandelte, leidet ein Tempelräuber Strafe und das Weib, das ihn be- 
straft, versteht sich auf Kräuter überhaupt und auch auf solche, die zur 
Schändung, Entstellung der Menschen dienen. (Pharmakis also, diefs 
ist der Sinn der gesuchten, gezierten Worte, reichte dem Missethäter einen 


in und bei Troja zum Eingang zurückgekehrt sei, sich auf die linke Seite des Gebäudes 
gewendet und von der Linken zur Rechten beschrieben habe. 

(*%) Charons usrayzgozos Sewgis bei Äschylus. 

(*”) Unter andern falschen Erklärungen dieser Stelle ist die, worin Amasäus, Clavier, 
Siebelis, L. Dindorf im Wesentlichen übereinstimmen hier abzuwenden, weil auch die 
Riepenhausen Schatten aufser dem Tellis und der Kleoböa in das Schiff gesetzt haben. 
Pausanias, dem es vor Allem auf das Geschichtliche der Personen ankommt, setzt mit Be- 
zug allein auf Tellis und Kleoböa, deren Namen ohne Zweifel beigeschrieben waren, die 
Bemerkung voran: ci d8 Em@eßnzirss IS veug oVx erubaveis zig drav ei os mgosyaoUSL, 
und führt diels, nachdem er die Zrı@e@rzer«s genannt hat, dahin aus, dafs von Tellis das 
Geschlecht nur oberwärts angegeben werden konnte von der Kleoböa die Familie über- 
haupt nicht oder doch nicht sicher bekannt war. 


in der Lesche zu Delphi. 119 


Trank, dessen Wirkung durch Scheufslichkeit der Züge, wie wir sie im 
Phobos, in der Eris in älteren Werken finden, vielleicht auch der Gestalt, 
sichtbar war. Merkwürdig ist diese Art die Abscheulichkeit des äussersten 
Frevels zu strafen; der Schönheitssinn des ganzen Volks und sein starker Wi- 
derwille gegen das Häfsliche leuchtet aus dieser Erfindung hervor.) (*°) 

4. Höher als die Genannten ist Eurynomos, von dem die Delphi- 
schen Exegeten sagen, dafs er ein Dämon im Hades sei und dafs er den Tod- 
ten das Fleisch abfresse und ihnen allein die Knochen lasse. Die Odyssee 
und die Minyas und die Nosten, denn auch in diesen kommt der Hades und 
seine Schrecknisse vor, kennen keinen Dämon Eurynomos. Die Farbe des 
Eurynomos ist zwischen dunkelblau und schwarz wie die der Schmeifsfliegen; 
dabei zeigt er die Zähne und sitzt auf einer untergebreiteten Geierhaut. 

5. Unmittelbar nach dem Eurynomos ist die Arkadische Auge, Mut- 
ter des Telephos von Herakles und Gattin des Teuthras in Mysien, und Iphi- 
medeia die von den Karern in Mylasa verehrt wurde. 

6. Oberhalb der schon Genannten sind Opferthiere tragend die Ge- 
fährten des Odysseus Perimedes und Eurylochos; die Opferthiere sind 
schwarze Schafböcke. 

7. Nach ihnen ist ein sitzender Mann, welchen die Überschrift Ok- 
nos nennt: er flicht ein Seil und eine Eselin steht neben ihm, die immer 
fort das Geflochtene verzehrt. Dieser Oknos sagen sie sei ein arbeitlieben- 
der Mann gewesen und habe ein verschwenderisches Weib gehabt, von wel- 
chem, soviel er durch Arbeit zusammenbrachte, bald nachher verzehrt 
wurde. Die Geschichte des Oknos also deutete, wie sie meinen (die Exe- 
geten), Polygnot auf diese Art an. Mir ist bekannt, dafs von den Ioniern 


(*) Jacobs: Boettigerus p.351 Howiv intelligit, fungentem officio roü Önmiov et sacrilego 
cicutaım porrigentem. At cicutam porrigat ei, qui jam mortuus est? aut quid aliud cicuta 
effecerit quam mortem eamque lenissimam? Scire velim etiam, unde appareat, ilam mulie- 
rem praeter alia venena etiam 25 «izi«v parare potiones. Molesta est hoc loco ut in multis 
aliis verborum parcitas, qua scriptor hic in descriptionibus saepenumero utitur. Siebelis ver- 
muthet dreierlei Unwahrscheinliches. Die «:zi« kann nicht in Schmerzen innerlich bestehn, 
sondern muls nothwendig äufserlich erscheinen, wie durch Schläge, worauf die aiz«s dt 
sich bezog, wie im Axiochos c.21 die gepeitschten Missethäter der Unterwelt Syası TrE- 
gerıyjasimevor zo Aalamasıv erınovnG mUGOUMEVOL Howsv za m&rav air alzıdonsvor alas Ti- 
Iwgteis rouygvren. Die Entstellung, welche das magische Gift von innen heraus zur Strafe 


wirkte, läfst sich wohl nur als Verzerrung und Scheufslichkeit denken. 


120 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


gesagt wird, dieser Mann dreht das Seil des Oknos, wenn sie einen sehen, 
der an etwas zu keinem Nutzen Führenden sich abmüht. 

8. Gemalt ist ferner Tityos, nicht mehr in Bestrafung (nemlich ohne 
die zwei Geier Homers, die von beiden Seiten an seiner Leber zehrten), 
sondern von der beständigen Strafe schon gänzlich aufgerieben, ein unkla- 
res und nicht vollständiges Eidolon. 

9. Wenn man der Reihe nach die Vorstellungen des Gemäldes ver- 
folgt, so ist zunächst dem das Seil drehenden Ariadne. Sie sitzt auf einem 
Stein und blickt auf ihre Schwester Phädra, die mit dem übrigen Körper 
in einem Seil hängt und mit den Händen sich auf beiden Seiten an das Seil 
hält. Diese Figur läfst, auch auf die gefälligere Art ausgeführt wie sie ist, 
auf das Ende der Phädra schliefsen. 

40. Unter der Phädra ist Chloris angelehnt auf dem Schoofs der 
Thyia. Wer sagt, dafs Freundschaft unter ihnen war als sie lebten, wird 
nicht fehlen: denn sie waren die eine aus Orchomenos (die andre aus der 
Nachbarschaft des Parnasses). (*”) Es wird von ihnen gesagt, dafs Poseidon 
der Thyia beigewohnt habe, Chloris aber mit Poseidons Sohn Neleus ver- 
mält gewesen sei. Neben der Thyia steht Prokris des Erechtheus Tochter 
und nach ihr Klymene und Klymene wendet den Rücken. Es ist nemlich 
in den Nosten gedichtet, dafs Klymene des Minyas Tochter mit Kephalos 
Deions Sohn verheirathet und ihnen ein Sohn Iphiklos geboren war: was 
aber die Prokris selbst betrifft, so singen Alle, dafs sie vor der Klymene 
mit Kephalos vermält war und auf welche Weise sie durch ihren Gatten um- 
kam. Einwärts von der Klymene sieht man die Megara aus Theben, welche 
Herakles zur Gattin hatte und als ihm Unglück bringend verstiefs, da er der 
ihm von ihr gebornen Kinder beraubt worden war. 

41. Über dem Kopf der genannten Frauen ist die Tochter des Sal- 
moneus (Tyro) auf einem Stein sitzend und Eriphyle neben ihr stehend, 
die unter dem Chiton die Fingerspitzen nach dem Hals emporhält, und aus 
den Händen ist zu schliefsen, dafs sie in den Falten des Chiton jenes Hals- 
band hatte. (°°) 


(*”) Meine Vermuthung, dafs in diesem Sinn die Lücke auszufüllen sei (Sappho 1816 
S.17), wird auch durch das 5 ö& xwges einiger Handschriften gerechtfertigt. S. Schubart 
T.II p.XH. 


” m \ m J. > ’ m 23 > 67 7 „ 
(°°) Jacobs: roU Xıravos de rois zoAaıs zizareıs Fmv YeıgWv Erelvov Tev opmov ExXew. Hlecte 


in der Lesche zu Delphi. 421 


12. Über der Eriphyle hat er den Elpenor gemalt und Odysseus 
niedergekaucht auf den Fülsen, über die Grube das Schwerdt haltend; der 
Seher Tiresias geht hervor an die Grube, nach dem Tiresias ist auf einem 
Stein die Mutter des Odysseus Antikleia. Elpenor hat den aus Binsen ge- 
flochtnen Phormos, den die Schiffer gewöhnlich tragen, statt Gewandes um- 
gehängt. 

13. Niedriger als Odysseus sitzen auf Thronen Theseus, welcher 
sowohl des Peirithoos als sein eignes Schwerdt mit beiden Händen hält, und 
Peirithoos, der auf die Schwerdter blickt; vermuthlich betrübt er sich 
über die Schwerdter, dafs sie unzeitig und ihnen ohne Nutzen zu ihrem küh- 
nen Unternehmen gewesen sind. Panyasis aber hat gedichtet, dafs Theseus 
und Peirithoos nicht als Gefangne (gefesselt) auf Stühlen sitzen, sondern statt 
der Fesseln mit der Haut an den Felsen angewachsen seien. Die Freund- 
schaft des Theseus und Peirithoos hat Homer in beiden Gedichten ver- 
kündigt. 

14. Weiter (der Reihe nach) hat Polygnot die Töchter des Panda- 
reos gemalt, von welchen Homer erzählt. Polygnot hat die Jungfrauen ge- 
malt mit Blumen bekränzt und mit Astragalen spielend: ihre Namen sind 
Kamiro und Klytie. 

15. Nach den Töchtern des Pandareos ist Antilochos, den einen 
Fufs auf einen Stein setzend und Gesicht und Kopf auf beide Hände haltend. 
Agamemnon, nach dem Antilochos, auf das Scepter unter der linken Ach- 


Boettigerus p. 358 haesit in r&v Ysıgdv, et haec verba tollenda existimat. Fortasse post ö«- 
zrUroug debent collocari. Gewils ist die Übersetzung von Amasäus manibus eam occultare 
falsch. Vermuthlich erlaubte sich Pausanias die Präposition ©, @r6 auszulassen: denn un- 
ter dem Gewand waren wohl das Halsband selbst und die Finger nicht bestimmt zu un- 
terscheiden, aus der Haltung der Hände aber sah man, dals Eriphyle etwas falste, was 
nichts anders sein konnte als das Halsband. Siebelis und Buttmann wollen zu Yıravos 
einschieben zuros, so dals xeıgwv von reis zeircıs abhienge: aber so hält man Wasser, nicht 
ein Halsband in der Hand. Böttiger S. 358 nimmt mit Caylus an, Eriphyle verberge den 
Schmuck; so auch H. Meyer Kunstg. II S. 140: „denn die Art, wie sie denselben erwarb, 
macht wenig Ehre; aber sie hat ihn doch lieb. Wie fein!” Sie wäre dann nicht mehr 
Eriphyle. Eher bestand wohl die Feinheit in der Malerei, die unter dem Gewand das 
Halsband und wie es gehalten wurde erkennen liels. Die Hand aber war ganz, nicht bis 
auf ein paar Finger „im Mantel versteckt”. In der angehängten Zeichnung ist demnach 
Polygnots Zeichnung auch nicht genau ausgedrückt, was auch so im Kleinen und ohne 
Farben nicht einmal möglich wäre. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Q 


122 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


sel gestützt und mit den Händen einen Stab dazu in die Höhe haltend. Pro- 
tesilaos schaut auf Achilleus, welcher sitzt: über dem Achilleus aber ist 
Patroklos stehend. Diese haben aufser dem Agamemnon keinen Bart. 

16. Über ihnen ist Phokos gemalt im Alter eines Jünglings und Ia- 
seus. Dieser hat starken Bart und nimmt einen Ring von der linken Hand 
des Phokos ab wegen folgender Geschichte. Als des Äakos Sohn Phokos 
aus Ägina in das jetzt sogenannte Phokis überzog und die Herrschaft über 
die Menschen dieses Landes erwerben und hier seinen Wohnsitz gründen 
wollte, kam Iaseus in grofse Freundschaft mit ihm und schenkte ihm unter 
andern angemefsnen Geschenken einen Siegelstein in Gold gefafst. — Defs- 
wegen will im Gemälde zur Erinnerung jener Freundschaft Iaseus den Sie- 
gelring beschauen und Phokos giebt ihn hin um ihn zu nehmen. 

17. Über diesen ist Mära auf einem Stein sitzend, die nach den No- 
sten schon als Jungfrau aus dem Leben schied und eine Tochter des Prötos, 
des Sohns des Thersandros, des Sohns des Sisyphos war. Auf Mära fol- 
gend ist Aktäon des Aristäos Sohn und Aktäons Mutter, die ein Reh in den 
Händen halten und auf einer Hirschhaut sitzen, und ein Jagdhund liegt ne- 
ben ihnen wegen der Lebensweise und der Todesart des Aktäon. (°!) 

18. Wenn man wieder auf den untern Theil des Gemäldes blickt, so 
ist unmittelbar nach dem Patroklos wie auf einem Hügel sitzend Orpheus: 
er fafst mit der Linken die Kithara an und berührt mit der andern Hand die 
Zweige des Weidenbaums, an welchen er gelehnt ist: es scheint der Hain 
der Persephone zu sein, wo Pappeln und Weiden nach der Meinung Homers 
wachsen. Die Tracht des Orpheus ist Hellenisch und weder das Gewand 
noch die Kopfbedeckung Thrakisch. An den Weidenbaum ist auf der an- 
dern Seite angelehnt Promedon. — Hier auch Schedios, der Führer der 
Phokier vor Troja, der ein Schwerdt hält und mit Agrostis bekränzt ist, und 
nach diesem Pelias, auf einem Sessel sitzend, den Bart und das Haupt glei- 
cherweise weilsgrau, der auf den Orpheus schaut. Thamyris, welcher dem 
Pelias nahe sitzt, hat die Augen zerstört und ein niedriges Aussehn überhaupt, 
dichtes Haar auf dem Haupt und im Bart, die Laute ist weggeworfen zu den 
Füfsen, zerbrochen die Griffe über dem Steg und die Saiten zerrissen. 


(') Ein Jagdhund zeichnet den Aktäon auf einem Jagdgemälde mit Tydeus, Aktäon 
(AKTA®N), Kastor und Theseus aus. Millingen Uned. Mon. ], 18. 


in der Lesche zu Delphi. 123 


19: Über diesem (dem Thamyris) ist auf einem Stein sitzend Marsyas 
und Olympos neben ihm in der Gestalt eines schönen Knaben, der flötbla- 
sen gelehrt wird. 

20. Wenn man wieder auf den oberen Theil des Gemäldes sieht, so 
ist zunächst nach dem Aktäon Ajas der Salaminier und Palamedes und 
Thersites Würfel spielend, die Erfindung des Palamedes. Der andre 
Ajas aber schaut auf die Spielenden. Dieser Ajas hat die Farbe wie sie ein 
Schiffbrüchiger bekommt wenn ihm noch das Meersalz auf der Haut sitzt. 
Absichtlich hat Polygnotos die Feinde des Odysseus zusammengebracht, und 
in seine Feindschaft ist der Oilide gerathen weil Odysseus den Hellenen rieth 
den Ajas wegen des Frevels gegen Kassandra zu steinigen: Palamedes aber 
wurde ertränkt als er auf den Fischfang gieng und Diomedes und Odysseus 
waren die Ertränkenden, wie ich aus dem Lesen der Kypria weils. (Das 
Bekanntere dafs Thersites von Odysseus geschlagen worden war und von 
Ajas dem Telamoniden, der in der Nekyia der Odyssee sich von Odysseus 
zornig abwendet ohne ihm Antwort zu geben, ist übergangen.) Höher im 
Gemälde als Ajas des Oileus Sohn ist Meleagros, der auf den Ajas schaut. 
Diese haben alle aufser Palamedes Bärte. 

21. Im untern Theil des Gemäldes sind nach dem Thraker Thamyris 
Hekitor, sitzend und beide Hände um das linke Knie haltend, in der Ge- 
stalt des Bekümmerten, (%*) nach ihm Memnon auf einem Stein sitzend und 
Sarpedon an den Memnon stofsend. Sarpedon hat das Gesicht auf beide 
Hände gestützt und die eine Hand des Memnon liegt auf der Schulter des 
Sarpedon: sie alle haben Bärte, auf Memnons Chlamys sind auch Vögel ge- 
stickt, die Memnonischen Vögel mit Namen, die nach der Sage der Helles- 
spontier an bestimmten Tagen zu dem Grabe des Memnon kommen und so 
viel von dem Denkmal von Bäumen oder Gras frei ist kehren und mit den 
im Wasser des Äsepos genetzten Flügeln sprengen. Bei dem Memnon ist 
auch ein nackter Athiopenknabe gemalt weil Memnon König des Athiopen- 
geschlechts war. — Uber dem Sarpedon und Memnon ist Paris, der kei- 
nen Bart hat und mit den Händen klatscht, wie das Klatschen der Landleute 
ist, und man mufs denken, dafs er durch das Geräusch der Hände Penthe- 
silea zu sich rufe: Penthesilea blickt auch auf den Paris, scheint aber 


(?) Siebelis zu X,31 p. 272. 


Q 
©) 


124 Weucker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


nach dem Nicken des Gesichts über ihn wegzusehn und ihn für nichts zu 
achten. Penthesilea ist eine Jungfrau mit einem dem Skythischen ähnlichen 
Bogen und einem Pardelfell auf den Schultern. 

22. Die über der Penthesilea tragen Wasser in zerbrochnen Gefäfsen, 
die eine noch blühend von Gestalt, die andre schon vorgerückt im Alter. 
Besondre Inschriften sind bei keiner, über beiden gemeinschaftlich aber, 
dafs sie zu den Nichteingeweihten gehören (AMYETOL.) 

23. Höher als diese Frauen ist Lykaons Tochter Kallisto, Nomia 
und des Neleus (und der Chloris) Tochter Pero, der zur Weibgabe für sie 
die Rinder des Iphiklos foderte. Kallisto hat statt Decke zur Unterlage eine 
Bärenhaut, ihre Füfse läfst sie rnhen im Schoofse der Nomia, die nach der 
Sage der Arkader eine bei ihnen heimische Nymphe ist und von den Nym- 
phen sagen die Dichter, dafs sie eine grofse Zahl Jahre leben, aber keines- 
wegs gänzlich vom Tode befreit seien. 

24. Nach der Kallisto und den Frauen mit ihr ist ein Abhang und des 
Äolos Sohn Sisyphos, der sich anstrengt den Felsen auf den Abhang hin- 
aufzutreiben. 

25. Auch ist ein Fafs in dem Gemälde und ein alter Mann und 
ein Jüngling und (zwei) Frauen, eine junge unter dem Felsen (des Si- 
syphos) und bei dem Alten eine die ihm an Jahren gleicht. (°) Die andern 


(°) Ich lese wie Siebelis vex statt 2&v (eine Conjectur, auf die auch ich selbst einst 
durch die Sache geführt worden bin) und ändre ferner emı N meroc in Uno, so wie gleich 
nachher steht Urs rovrw ru mw. Der Stein des Sisyphos ist gewöhnlich der, den er 
wälzt; hier ist mergw für den enMVvos gesetzt. Die falsche Emendation lag nah, da em mE- 
Tas, erı mETEg im Vorhergehenden so häufig vorkommt. Dabei aber wurde übersehn, dals 
des Artikels wegen, da ein Sitz dieser Person noch nicht genannt war, auf sie auch merace 
nicht bezogen werden darf, wie Clavier verbindet: dont ?une jeune etait sur une pierre, 
so wie auch dafs das Sitzen mit dem vergeblichen Bemühen, das hier dargestellt wird, 
sich nicht verträgt. Wenn hingegen !r: übersetzt wird prope Sisyphi saxum, so ist diels 
gegen den Gebrauch der Präposition, wenn auch m: Sar«ssn bei Pausanias selbst III, 20, 
6 vorkommt. Jacobs: Totus hie locus misere corruptus et turbatus. Recte vidit Böttigerus 
p. 364, mulieres illas cum sene et puero occupatas esse in haurienda aqua. Sed quod sus- 
picatur legendum esse ZravrAoücaı &s Tov mıSov ferri non potest, praesertim quum sequatur 
oi ev @AA0r degovres Udwa. Fortasse lenissima mutatione seribendum: za: Yuvalzes eviaı 
nv Em m mergg (so Nibby parecchie donne assise sopra il sasso — Porson ver) — mu- 
lieres cum aliae circa rupem, unde aqua scaturit; alia (supple Ay, Me, 715) Juxta senem 


ıllum, cui aelate est similis. 


in der Lesche zu Delphi. 135 


tragen Wasser, der Alten aber ist, wie zu schliefsen, die Hydria zerbrochen 
und so viel von dem Wasser in dem irdnen Gefäfs noch übrig ist giefst sie 
wieder in das Fafls aus. Wir vermuthen, dafs auch diese von den die Cäre- 
monien in Eleusis Geringschätzenden seien: denn die älteren Hellenen hiel- 
ten die Eleusinische Feier von Allem, was zur Frömmigkeit gehört, um so 
viel mehr in Ehren als sie die Götter vor die Heroen setzten. 

26. Unter diesem Fafs aber ist Tantalos, der alle andern Plagen 
erduldet, die Homer von ihm gedichtet hat, und zu diesen die Angst vor 
dem aufgehängten Stein, worin Polygnot offenbar der Erzählung des Archi- 
lochos folgte. 


In der Anordnung der Bilder mufs man eine allgemeine Übereinstim- 
mung mit dem Gemälde gegenüber voraussetzen und ist daher nicht wenig 
befremdet über die grofsen Schwierigkeiten, auf die man stöfst wenn man 
die Composition herauszufinden sucht. Öfter als sich leicht Jemand vorstellt 
kann man diesen Versuch auf die verschiedenste Weise anstellen und dennoch 
über manches Einzelne, jaüber Hauptumstände im Zweifel bleiben, so dafs 
man zuweilen an der Lösung einer Aufgabe verzweifelt, die man doch immer 
wieder aufnimmt, weil andrerseits so vieles sich nach befriedigender Wahr- 
scheinlichkeit ordnet und weil das andre Gemälde zu verbürgen scheint, dafs 
auch in diesem eine durchgreifende Regelmäfsigkeit statt gefunden habe. 

H. Meyer nimmt an, dafs das zweite Gemälde keine Hauptabthei- 
lungen wahrnehmen lasse, sondern der Bedeutung nach ein Ganzes war, wie- 
wohl für uns nicht alle seine Beziehungen klar seien. Doch ist ihm so viel 
völlig klar, dafs die Figuren und Gruppen in drei Reihen über einander an- 
geordnet waren (°*). Böttiger zweifelt nicht, dafs auch hier in der ganzen 
Anordnung alles auf Symmetrie und Gegensätze ankam und hält es für sehr 
wahrscheinlich dafs auch hier alle Figuren in drei übereinanderlaufenden Li- 
nien aufgestellt waren (S. 346), macht aber, da eine Perlustration im Einzel- 
nen, wie er sagt, ihn zu weit führen würde, nur allgemeine Bemerkungen 
über die Manier des Malers. Nicht ohne Grund bittet Siebelis sich Beweise 
aus für die drei Linien und zählt viele Ungewifsheiten und Dunkelheiten 
auf, die ihm in dieser Hinsicht blieben (p.279). O. Jahn ist der Ansicht, 


(°*) Kunstgesch. 1824. II, 138. 


126 Wercxker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


dafs im zweiten Gemälde ein strenger Parallelismus, wie er ihn im ersten 
nachgewiesen habe, sich nicht zu finden scheine; doch erkennt er denselben 
Geist in der Anordnung, sowohl was die Verbindung durch äufsere Symme- 
trie als durch innere Bedeutsamkeit anlangt (5.25 f.). Es zerfällt ihm nicht 
wie das erste in zwei Hälften, wefshalb nicht zu erwarten sei, dafs die ein- 
zelnen Glieder der Composition sich darin eben so streng einander entspre- 
chen wie im ersten; es zeigt nach ihm ein ganz verschiedenes Prineip der An- 
ordnung, nemlich eine bei weitem gröfsere Anzahl übereinander geordneter 
Linien, deren keine die ganze Länge des Bildes einnehme, indem die untere 
stets durch die obere fortgesetzt werde, mit einem beständigen Streben in 
die Höhe. Allerdings sei es befremdend, bei diesen beiden Gemälden, wel- 
che sich auf den gegenüberliegenden Wänden befanden und also zur Ver- 
gleichung von selbst einluden, eine verschiedene Anordnung befolgt zu se- 
hen; allein sie trete aus Pausanias, unserer einzigen Quelle, ganz deutlich 
hervor. Es sei wohl weniger die Absicht des Malers gewesen, ein Gemälde 
zu liefern, das die Strahlen von allen Seiten her in einen Mittelpunkt ver- 
einigte, alle Einzelheiten auf einen Culminationspunkt hinführte, als viel- 
mehr eine Reihe von Scenen auf eine Weise zu vereinigen, dafs jede einzelne 
in sich abgerundet, und mit den andern wiederum in die manigfaltigste und 
engste Verbindung gesetzt werde, sowohl durch die inwohnende Bedeut- 
samkeit als die stellenweise bis zu strengem Parallelismus gesteigerte Sym- 
metrie der Anordnung (S.40-42). Die Tafel der demgemäfs aufgezeichne- 
ten Gruppen stellt viel zu eigenthümliche Verhältnisse dar und die Gegen- 
stände sind viel zu sehr verwickelt als dafs darüber in der Kürze sich ein 
Urtheil abgeben liefse. 

Den Gegenstand des zweiten Gemäldes an der linken Seitenwand der 
Lesche hat Polygnot aus der Nekyia der Odyssee geschöpft, den Niedergang 
des Odysseus zum Hades, (%) um den Tiresias über die Heimkehr zu befra- 
gen. Der Dichter läfst uns nur den Eingang erblicken von dem wüsten 
Hause des Hades, am jenseitigen Ufer des Okeanos, wo im ewigen Dunkel 
die Kimmerier hausen (X1,14), wo das niedere Gestad und Persephones 
Haine, hohe Pappeln und unfruchtbare Weiden, die wüste Behausung des 


55) Pausan. X, 28,1 ’Odusseis zaraßsßyzwus Es rov Alöyv. Odyss. X, 512 aüres 0° zic 
5) 9 1 ( y ’ 


DA ’ ’ - Er kam .h/ 
Aldew ievaı Öolov SÜOWETE, XT, 474 zus Erans "Aldosbe zarei Teer; 


in der Lesche zu Delphi. 127 


_Hades, wo in den Acheron der Pyriphlegethon und Kokytos fliefsen (X, 
508-145). Dort macht sich der Held nah heran (xgıu$Seis veras 516), gräbt 
eine Grube eine Elle lang auf allen Seiten, giefst Spende hinein für alle 
Todten, von Meth, Wein und Wasser, worauf weifses Mehl gestreut wird, 
gelobt ihnen in Ithaka eine unfruchtbare Kuh, dem Tiresias entfernt davon 
ein schwarzes Schaf zu opfern, schlachtet dann ein männlich Schaf und ein 
weibliches schwarzes (das andre ohne Zweifel auch schwarz), und läfst ihr 
Blut in die Grube fliefsen, indem er selbst umgewandt sich nach dem Okea- 
nos kehrt (X,527), hält dann sein Schwerdt gezogen um die Seelen vom 
Blut so lang abzuwehren bis er zuvor den Tiresias gefragt hat. Es kommen 
zuerst die Seelen des durch jugendlichen Leichtsinn vor der Abfahrt vom 
Lande der Kirke verunglückten Elpenor, der um ein Grab fleht, und der 
eigenen Mutter Antikleia, die nicht zum Blute gelassen werden, worauf Ti- 
resias kommt und, nachdem er Blut getrunken, dem Odysseus über die 
Heimfahrt Wahrheit verkündigt. Dann sammeln sich die Seelen der Heroi- 
nen um das Blut und werden eine nach der andern zugelassen und befragt. 
Nachdem Persephone diese wieder zerstreut hat, kommen die Heroen. Wie 
der tiefsinnigste der Künstler diese Erzählung in ein Gemälde verwandelt 
und wie er den gegebenen Stoff, den er in allem Wesentlichen ausdrückt, 
mit Bestandtheilen einer späteren und eigner Erfindung bereichert hat, ist 
der Betrachtung nicht unwerth. 

Für eine symmetrische Anordnung der Unterwelt sprechen zuvörderst 
folgende Umstände. Es entsprechen sich offenbar die beiden Enden. Wie 
auf der einen Seite Tityos noch weiter in das Innre des Hades hineinreicht, 
so auch auf der andern noch ein Paar Bülserinnen, die Wasser tragen; jener 
zwar unten, diese oben im Bilde, aber vielleicht absichtlich die alten und 
die neueren Sünder gemischt, so auf beiden Seiten, wie untereinander an 
beiden Enden. Unter den übrigen Hadesbewohnern finden wir keine Bü- 
fsenden mehr, „aufser etwa Theseus und Peirithoos als Gefangne, obgleich 
die Schwächen, die manche im Leben begleiteten, ihnen im Hades verblei- 
ben, oder das Leid, welches sie ihnen dort zuzogen, angedeutet ist. Sodann 
ist auffallend das Zahlverhältnifs der verschiedenen Klassen von Bewohnern 
des Hades, die entweder Reihen oder Gruppen bilden, wie sich weiterhin 
ergeben wird. Bestimmte Abtheilungen nach dem Inhalt, selbst nach Gegen- 
sätzen desselben, wie im andern Gemälde, sind hier nicht wahrzunehmen. 


128 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


In den unbekannten Wohnungen der Todten giengen die Gruppen in min- 
der bestimmten Absonderungen und Verhältnissen in einander, und Ruhe 
und Einfachheit in der Stellung herrschen hier vor wie dort Bewegung und 
Handlung. 

Zur Rechtfertigung der getroffenen Anordnung der Gruppen in Bezug 
auf Pausanias bemerken wir folgendes. 

Mit dem Kahn des Charon beginnt die Beschreibung, obgleich er nicht 
dem untersten Plan angehört, weil er der Gegenstand der Unterwelt ist der 
gewöhnlich zuerst genannt wird. Auffallend ist in mancher Hinsicht, dafs 
der Kahn diese Stelle einnimmt; doch ist die Stellung der ersten Höllenstrafe 
Karıora Ümo rev Xaguvos ryv vadv (2) zu bestimmt, um einen Ausweg zu lassen. 
Der Tempelräuber (3) ist dem Vatermörder nah (revrou rAyziev), in dersel- 
ben Linie. Eurynomos (4) ist dvwrsgu r&v nareıreyuevwv, unter welchen Cha- 
ron mitzuverstehn sein möchte, weil die Verwesung, die Eurynomos bedeu- 
tet, auf der Oberfläche der Erde ist und er den ganzen Hades angeht. So 
gleicht sich auch dieses Ende mit dem andern, wo ebenfalls in allen drei Li- 
nien Figuren sind, aus und es kommen gerade die Verwesung dem Sisyphos, 
der den Stein der Weisheit wälzt, dem sich vergeblich abmühenden Men- 
schengeist, und Tellis und Kleoböa den Uneingeweihten gegenüber zu stehn. 
Von Auge und Iphimedeia (5) sagt Pausanias, dafs sie der Reihe nach, gleich 
nach Eurynomos stehn (&pe£fs ver« rev E.), was sonst immer von demselben 
Plan gilt, hier aber von dem nächsten Plan, also von einem Angränzen in 
schräger Linie verstanden werden mufs, wegen der gleichfolgenden Bestim- 
mung über Perimedes und Eurylochos (6) rwv ö& 101 neı KUTEINEYUEVWV Eiriv 
dvwregoı rourwv. Denn wenn diese über die Genannten hinaufgerückt würden, 
so stünden sie ganz allein auf einem vierten Plan, vereinzelt und wie aufser 
dem Bilde. Oder will man den Eurynomos zwischen das Schiff und Auge und 
Iphimedeia legen, indem die Verwesung nach dem Übergang in den Hades 
erfolgt? dafs die Vorstellungen gegenüber (24-26) weniger übereinstimmen 
würden, dürfte nicht abhalten: aber die Figuren der mittleren Reihe häufen 
alsdann sich allzusehr. Die beiden Träger der Widder sind mit Odysseus in 
derselben Linie, damit ihr Bezug zu ihm in die Augen falle, aber etwas ent- 
fernt von ihm, da sie etwas Früheres, die Anstalt zum Opfer ausdrücken. 
Wo diefs erfolgt ist (Vorhof des Hades möchte ich diesen Ort so wenig nen- 
nen als den wo die Träger sich befinden) und Odysseus über der Grube 


in der Lesche zu Delphi. 129 


huckt, waren höchst wahrscheinlich die Köpfe der Opferthiere gemalt wie in 
dem vortrefflichen Vasenbild, welches diese Scene vorstellt. Oknos (7) ist 
nach den zwei Gefährten des Odysseus (uer« aurcus), was wieder nicht von 
der Reihe, sondern vom Fortschritt im Ganzen des Gemäldes genommen 
werden kann (wie auch Wiedasch zur Übersetzung des Pausanias bemerkt): 
denn es ist nicht glaublich, dafs ein Paar der Schatten, getrennt von den 
Bewohnern des Hades, zwischen den Opferthieren und dem Opfer selbst, 
gleichsam aufser dem Hades auf der Oberfläche gemalt gewesen sei: dann ist 
auch dem Oknos ganz nah Ariadne mit Phädra, die man nicht auch mit hin- 
aufziehen wollen wird. Wie Pausanias in dieser Gegend des Bildes mit ge- 
s und Bestimmtheit in seiner Beschreibung verfährt als in 


5 ) 
allen übrigen, zeigt sich am meisten daran, dafs er von Tityos (8) die Stelle 


ringerer Ordnun 


gar nicht angiebt, sondern nur sagt yeygarraı d& zaı Tırucs: ich glaube indes- 
sen nicht zu irren, wenn ich ihn neben die andern Büfsenden in die unterste 
Reihe bringe. (Siebelis setzt ihn in derselben Linie mit den Gefährten des 
Odysseus, dem Oknos und der Ariadne und Phädra. Die Riepenhausen hin- 
gegen hatten ihn unten neben den Tempelräuber gelegt.) Klar ist dagegen 
die Nebeneinanderstellung der Phädra (9) in der Reihe des Oknos: £rwvrı 
ÖE EbeENs Ta &v TH ygadh Eorw Eyyurarw Ted orgebovros. Unter der Phädra (öro 
ray ®.) sind Chloris und Thyia (10), nach ihrer Beziehung zu den drei fol- 
genden Figuren wohl auch nicht gerade senkrecht darunter, sondern nur un- 
gefähr, ein wenig mehr rechts. Neben der Thyia (rag) Prokris, nach dieser 
(ser«) Klymene, und weiter einwärts (&rwregw), was für nera gesagt ist (nicht 
sur un plan plus eleve, wie Olavier übersetzt, oder darüber, wie auch O.Jahn 
versteht) Megara. 'T'yro und Eriphyle (11), über den genannten Frauen (yv- 
varkav TÜV HaTsIReyuEvWV ümeg 775 aebaAys), mufs es erlaubt sein über den zwei 
zuerst von diesen fünfen genannten zu setzen. Diefs pafst auch zu dem Fol- 
genden, dafs über der Eriphyle (üreg rs 'E.) Elpenor (12) gemalt sei: denn 
so breitet sich die Gruppe des Odysseus, wozu dieser gehört, so aus, dafs 
darunter neben der Eriphyle noch Platz für andre Figuren übrig bleibt. Und 
wirklich sitzen tiefer als Odysseus (zarwregw ro0 ’O.) Theseus und Peirithoos 
(13). Gleich dabei (ede&4s, hier wieder von derselben Reihe gebraucht) sind 
die Töchter des Pandareos (14). Nach diesen aber (uer«) folgt Antilochos, 
nach diesem uer« Agamemnon; dann Protesilaos, Achilleus, Patroklos (15), 
die offenbar zu einander gehören, und ich mufs eben so sehr mit Rücksicht 


Philos.- histor. Kl. 1847. R 


130 Wercxker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


auf die mittlere als auf die untere Reihe annehmen, dafs Pausanias hier ver- 
gessen hat beizufügen, was er bei der Gruppe 18 bemerkt: «roßrebarrı ö 
audi: Es ra narw 7A Ygapys (Evrı uer« Ted Havdapew Tas nogas), oder dafs ner« 
auch hier wie bei Oknos, den Fortschritt in einer unteren Reihe angeht (was 
auch hier Wiedasch erinnert); nur wenn &de£4s hinzukommt, ist dieselbe Reihe 
nothwendig zu verstehn. Wie so gar nicht Pausanias die Gruppen beachtet, 
zeigt sich auffallend daran, dafs er so unmittelbar hinter einander sagt: ner« 
Tel Iavdagew Tas nogus ’AvriAoy,os und ’Ayaneuvwv de HEr@ Fov ’Avriloy,ov, so als 
ob kein Unterschied zwischen diesen Personen wäre. So auch gebraucht er 
hier wieder wie im ersten Gemälde Gruppe 3 ürsg von einer etwas erhöhten 
Stellung in derselben Gruppe: denn dafs Patroklos über dem Achilleus ste- 
hend dennoch zu derselben Gruppe gehöre, läfst sich doch nicht bezweifeln: 
er steht vielleicht nur über ihm in so fern Achilleus sitzt und er daher über 
ihn hervorragt indem er steht. Dagegen sind gleich darauf über diesen (Ureo 
aürcus) Phokos und Iaseus in einer oberen Reihe (16), und über diesen (ürtg 
rourcus) in der dritten Reihe Mära und bei ihr (&peZns) Aktäon (17). Dann 
ist so bestimmt als man nur wünschen kann angegeben von Orpheus (18): 
üroßrcbavrı 68 auSıs & ra zarw is yoadns Eotw Edeens Hera Tov HargoxAov, so 
dafs an die Gruppe der Achäerhelden sich die der Musiker (18) auf der un- 
tersten Linie anschliefst. Anstatt aber diese als zusammengehörig ins Auge 
zu fassen oder einfach an einander zu reihen, sagt Pausanias mit der Ziererei, 
die seinen Styl so sehr entstellt, nachdem er den Orpheus und Promedon 
genannt hat: zara reüro Ns ygabns Zxediss, dann zaı ner& roürov Ilerias, der 
auf den Orpheus hinsieht, und Oanvgidı Eyyus Te nadelonevw ToV TeAlov x. 7.2. 
Uber dem Thamyris (üreg reurev) Marsyas und Olympos (19) und in der 
obersten Reihe (ei ö& arıdas rar is ro avw 75 Ygadns) sind neben dem Ak- 
täon (&defrs 70 ’A.) die Würfelspieler (20), und hier ist die höhere Stellung 
in der Gruppe, wie sonst einigemal durch Umeg, ausgedrückt durch dvwregw 
(A 5 rev ’Oirews Alas), was sonst immer von einer höheren Reihe gebraucht 
wird. Hierauf springt die Beschreibung wieder von der dritten in die un- 
terste Reihe herab, &v reis zarw r7s Years uEera rev Ogera Ocuupw, auf Hek- 
tor, nach dem Hektor (uer«) ist Memnon, Sarpedon (suveyns), über beiden 
(ureg Fev Zapmndova re »uı Meuvova, was ich abermals blofs von der Gruppe 
verstehe) Paris und Penthesilea (21). Uber der Penthesilea (ürsg yv I.) 
zwei Wasserträgerinnen (22) und höher als diese (r@v yuvarzav dvwregw Tou- 


in der Lesche zu Delphi. 131 


rwv), also in der dritten Reihe, Kallisto, Nomia und Pero (23). Nach der 
Kallisto (uer@ av K.), in der obersten Reihe nemlich, da hier kein Grund 
ist eine Ausnahme zu vermuthen, Sisyphos (24), unter dem Felsen des Si- 
syphos (Ur0 sy wergg, wie ich für Ei sicher herzustellen glaube) das Fafs mit 
vier Wasserträgern, die so sich pafslich genug an die zwei andern derselben 
Reihe (22) anreihen (25), und schliefslich unter dieser Gruppe (Urs reirw 
75 mıSw) Tantalos (26). Die Bestimmung ür> r} rerge zeigt nicht blofs die 
Stelle unter dem Sisyphos, sondern auch die am Rande des Biides an, was 
mit der Gegenüberstellung der Figuren paarweise wohl zusammentrifft. 

Ehe ich das Verhältnifs der Gruppen unter einander erläutere, sind 
über einzelne Darstellungen für sich Erklärungen zu geben. 

1. Charon in der Barke an zwei Attischen Lekythen, abgebildet in Sta- 
ckelbergs Gräbern Taf. 47.48, an einem Basrelief im Mus. Pioclem. IV, 35, 
immer nur mit Einem Ruder, so dafs auch bei Pausanias ri rais zwraıs nicht 
buchstäblich zu nehmen sein wird. 

3. Zwei Pharmakiden waren am Kasten des Kypselos, Kräuter oder 
Wurzeln, welche die Pharmakiden besonders gruben (Dio Or.58 p. 302), im 
Mörser stofsend (Pausan. V,18,1); andre auch in einem sehr alten Basrelief 
in Theben, die von der Here zur kreisenden Alkmene gesandt waren (Paus. 
IX „11, 9). 

4. Die Dichtung des Dämon Eurynomos des weit- oder vielfressenden, 
der das Fleisch abweidet, schliefst sich der vom Felsen Leukas an, welchen 
am Eingang des Hades schon die der Odyssee als eine Fortsetzung angehängte 
Nekyia nennt (XXTV,11, in der Odyssee selbst nur rergn X, 515); denn 
diese Klippe Leukas hat wohl ihren Grund in der epischen Formel Aeux örrea. 
Gemalt hätte das Schauerliche, das in dem Namen liegt, sich nicht genug 
ausgedrückt: wahrscheinlich erfand Polygnot selbst das symbolische Bild. 
Eurynomos hat die Haut eines Geiers zur Unterlage, nicht wie die Schmeifs- 
fliege sich auf das Aas setzt, sondern zur Andeutnng gleicher Natur (da der 
Geier eben so wie die Schmeifsfliege der Leichenfeind ist, wie Aelian sich 
ausdrückt), so wie zur Erinnerung an ihre Verwandlung in diese Thiere Ak- 
täon und seine Mutter auf der Haut eines Hirsches (17), Kallisto auf der 
eines Bären sitzen (23). In der nordischen Mythologie saugt Nidhugper die 
Leichen der Abgeschiedenen aus. Eurynomos ist weder als ein Qualdämon 


R2 


132 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


zu denken (5°), noch soll er diejenigen schrecken, welche die eilige Bestat- 
tung versäumten (°7). Er bedeutet entschieden die Verwesung; die Zähne, 
die Farbe in Verbindung mit der Natur des Geiers sind sprechend genug. 

7. Den Oknos im Hades ein Seil flechtend, das der Esel auffrifst, 
hatte auch (°°) Kratinos (vielleicht in den Chironen) erwähnt, ob vor oder nach 
dem Gemälde, läfst sich nicht sagen. Dafs Polygnot es dabei auf die Frau 
nicht weniger absah als auf den Oknos, der zwar arbeitet, aber unachtsam 
ist, sich nicht umsieht noch Aufsicht hält (piger bei Plinius) (°°), zeigt sich 
auch an der Stelle, die Oknos zwischen Heroinen einnimmt, und es mag bei 
der Erfindung des Bildes des Iambendichters Simonides Frau aus der Eselin, 
die mit der des Oknos grofse Ähnlichkeit hat, (60) mit im Spiel gewesen sein. 
Freilich hat auch der natürliche Esel Sinn in der Fabel, nicht blos die sym- 
bolische Eselin, und so setzen Plinius bei dem Oknos eines Malers Sokrates 
und Properz (IV,3,22) asellus; dafs es auch Kratinos so meinte, ist weniger 
zu glauben als dafs im Citat InAcıe zu cvos ausgelassen sein möge. Ganz ver- 


(°) K. O. Müllers Orchomenos S. 18. 


(°) Stackelberg Gräber der Hellenen S.13, der dagegen den Hund an der Pforte des 
Hades, welcher Wache hält, der Gefräfsigkeit des Hundes wegen zum Sinnbilde der Ver- 
wesung macht S. 12. Cavedoni vermuthete in gewissen schreckbaren, auf dem Boden 
verschiedener in Vulci gefundener 'Trinkschalen gemalten Masken, die an Medusa durch die 
herausgestreckte Zunge und die Zähne erinnern, wegen ihres Barts auch für Deimos oder 
Phobos genommen worden sind, Eurynomos vorgestellt, was sehr unwahrscheinlich ist. 
Bullett. d. Inst. archeol. 1844 p. 154. 


(°°) Meineke Fragm. Comic. II p. 203. 


(°°) Jacobs irrt hier auffallend: Gezerum suspicor, Ocnum Polygnoti demum invento de- 
bere hoc quod mythologicis Inferi civibus annumeratur. Certe allusio ad ejus conjugem ad- 
modum insulsa esset, nisi Ocnus, homo laboriosissimus, sed conjugis prodigae culpa pauper- 
tate laborans, omnibus tum temporis fuisset notus. Vel ipsum hominis nomen, N RUroV Dı- 
Asoyie contrarium, docet de persona mere allegorica cogitari non posse. Plutarch de anımi 
tranquill. p. 473 macht eine Anwendung von dem Oknos, den (noch immer) die Maler 
im Hades malten, auf die Thörichten, die sich nicht um das Gegenwärtige kümmern, son- 
dern nur das Künftige denken. 

(°) wegi yuvaızav 43-49. In dem Sinn, welchen wir annehmen, scheint Oknos auch 
gefalst in dem Wandgemälde eines noch nicht edirten Columbarium der Villa Pamfili in 
Rom, woraus zwanzig Bilder in Copie sich in München in den Vereinigten Sammlungen 
befinden. Oknos sitzt nemlich vor seinem Gehöfte auf einem Stein, bärtig, der Mantel 
vom Kopf abfallend; dem Esel, der auf den Beinen gelagert das Seil bequem abfrilst, hält 
er es selber lässig hin. 


in der Lesche zu Delphi. 133 


schieden ist der lahme Esel in der Unterwelt des Appulejus (Metam. IV 
p- 130 Bipont.), welcher Holz trägt, mit einem gleichen Eseltreiber, der den 
Ankommenden die herabgefallenen Holzstückchen aufzuheben bittet, an dem 
dieser aber stumm vorbeigehn soll: und doch nennt Müller diesen lahmen 
Eseltreiber auch Oknos und bezieht ihn und demnach auch den Polygnoti- 
schen auf Mysterien. (°') 

8. Dafs Polygnot dem Tityos statt der neun Joche (»?eSg«) bei Ho- 
mer wenigstens eine ungewöhnliche Länge gegeben habe, möchte wohl an- 
zunehmen sein. So auch dafs er auf dem Boden (&v darsdw) ziemlich strack 
ausgereckt war, was auch nach malerischem Geschmack dagegen zu erinnern 
wäre. Das Unvollständige des Schattenbildes konnte nicht wohl darin be- 
stehn, dafs es stellenweise nicht ausgezeichnet war, als ob Theile ganz ein- 
geschwunden wären; sondern in Verfallenheit der Gestalt, wobei sie im 
Ganzen doch im Ungeheuren erhaben sein konnte. 

9. Da Ariadne auf ihre Schwester Phädra blickte, so war sie ver- 
muthlich nicht in eigne Trauer versenkt. Welcher Grund wäre auch gewe- 
sen sie gerade in der Bestürzung darzustellen, die sie bei dem Erwachen 
nach der treulosen Flucht des Theseus empfand? (°) Phädra mag in ihrer 


(°') Archäol. $.391 Anm. 9. 397 Anm.1. Die Geschichten von dem Fals und dem 
von einem Mann geflochtenen, von andern Männern aufgelösten Seil bei einem Feste der 
Akanthier in Ägypten bei Diod. 1,97 würden von den Danaiden und Oknos verschieden 
sein, auch wenn sie ebenfalls ein Sinnbild vergeblichen Thuns wären: die Ägypter ver- 
mischten gern einheimische und Hellenische Sagen und Gebräuche: sie beziehn sich aber 
wie Schwenck Agypt. Mythol. S. 248 f. zeigt, auf das Jahr und seine Tage. Auch in 
den Ann. d. Inst. archeol. V p. 319 ist übrigens auf diesen Anlals dem Oknos ein von 
Pausanias angeblich nur verschwiegner mystischer Sinn beigelegt. Die Danaiden und Ok- 
nos sind zusammengestellt Mus. Pioclem. IV, 36, da sie in der Fruchtlosigkeit ihrer Ar- 
beit einander gleichen und könnten daher auch gemeinschaftlich auf das r220s der Myste- 
rien hindeuten. So auch ist von einem meist zerstörten Architravfries aus Stuck in einem 
Grabe zu Rom Oknos und noch erhalten eine Danaide neben ihm, am andern Ende Ker- 
boros; und hier hält Oknos, ruhend auf einem Knie vor dem Esel, ihm das Geflecht wie 
zum Futter hin, so dals man in Gedanken ergänzen muls, dals er wenn dies Geschäft ab- 
gethan ist, von neuem zu flechten haben wird. Cav. P. Campana Due sepoleri Romanı 
1840 tav. II C und VIIB p. 10. 


(°°) R. Rochette Peint. de Pompei p. 31-33, wo diels angenommen wird, um der 
Ariadne (der sogenannten Agrippina in Dresden) in Polygnots Gemälde ein Vorbild zu 


geben. 


134 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


Schaukel, die sicher ohne allen Bezug auf einen heiligen Gebrauch war, da 
dieser hier keinen Sinn haben würde, sich nicht so munter geschwenkt ha- 
ben wie das Spiel an sich in Vasengemälden aussieht. (%) Doch dürfte von 
der Vase des Hrn. Sam. Rogers die Figur der Geschaukelten, vom Eros der 
sie schaukelt getrennt, der Haltung nach sich vollkommen zur Polygnoti- 
schen Phädra eignen. So wie in diesen spätern Gemälden nur die Schau- 
kel, nicht die Art sie zu befestigen ausgedrückt ist, so darf sie sicher auch 
bei Polygnot nicht als an einem Baum hängend gedacht werden. So löb- 
lich es ist, dafs Polygnot das Erhängen nicht darstellen wollte, so hat doch 
diese Umwandlung in das Schönere, wie Pausanias sagt, die blofse Andeu- 
tung durch die Stricke einer Schaukel, eben weil diese auch im eigentlichen 
Sinn genommen werden könnte, etwas gar Treuherziges. Doch leitete auch 
die Attische Legende das der Erigone gewidmete Schaukeln zur Sühne und 
das Schaukeln überhaupt davon her, dafs Erigone sich erhängt habe: (°*) 
so nahe lag die Vergleichung des Aufhängens mit dem Hängen zum Hinund- 
herschweben. Phädra (FEDPA) unter den sechs tragischen Heldinnen in 
Wandgemälden aus Tor Maranciano, jetzt im Vatican, hält den Strick in 
der Hand; (°%) auch keine üble Art das Erhängen selbst zu umgehen. 

10. Chloris und Thyia sind als Flora und Aura sehr befreundet und 
so bleiben sie es auch im Mythus, der sie in geschichtliche Personen umwan- 


(%) Ein Mädchen läfst von einem andern sich schaukeln Millingen Ane. uned. mon. 
pl. 30. Gerhard Ant. Bildw. 1,55. Eros schaukelt eine Schöne, ein Hündchen bellt dazu, 
eine Begleiterin beschaut sich im Spiegel, an einer Vase des Hrn. Sam. Rogers b. Ger- 
hard das. Taf. 54. Dafs diefs nicht auf Reinigung durch Luft gehe, sondern auf das täg- 
liche Leben, giebt der Ausdruck bestimmt zu erkennen. An einer kleinen Vase Cande- 
lorı schaukelt unter einem Myrtenbaum IIAIAIA (die wieder auf einer bei Stackelberg 
Gräber Taf. 29 unter der Umgebung der Aphrodite sich befindet) den EP2E. Bullett. d. 
inst. archeol. 1829 p.78. Sehr falsch Böttiger S. 358: „Phädra hat sich erhangen, hält 
aber den Strick mit beiden Händen.” Eben so irrt Meyer in der Anzeige der Unterwelt 
Polygnots von den Brüdern Riepenhausen in Göthes Kunst und Alt. 1827 VI S.293 sehr 
wenn er meint Polygnot habe zart darauf anspielen wollen, dals Phädra sich selbst er- 


hieng, und sie darum an einem mit beiden Händen gehaltenen Strick schwebend, nicht 


5 
wie auf einer Schaukel sitzend dargestellt. 


(°) Hygin P. A. II, 4, wo nicht zu übersehn ist: izaque et privatim et publice faciunt; 
denn das erste ist nicht als eine religiöse Cäremonie zu denken. Die Todesart des Er- 
hängens ist informis. Virgil. Aen. XII, 603. 

(®) R. Rochette Peint. ant. pl. 5. 


in der Lesche zu Delphi. 135 


delt. Diese Doppelnatur ist häufig genug: die Sage kehrt nur zuweilen auch 
die Sache um, wie z.B. bei dem Marsyas (19) Pausanias bemerkt, dafs die 
Phryger in Kelänä behaupteten, der Flufs Marsyas, der durch ihre Stadt 
fliefse, sei einst der Flötner Marsyas gewesen. Die Thyia denkt man sich 
gern in den Schoofs der Chloris gelehnt ähnlich wie Pandrosos in den der 
Herse in der Gruppe der drei Thauschwestern im vorderen Giebelfelde des 
Parthenon, die statt der Mören mit guten Gründen anzunehmen sind: zu- 
gleich würde, wenn man in der Zeichnung diefs herrliche Vorbild benutzt, 
die mehr ausgestreckte Figur der Thyia mehr hervortreten, so dafs die Fünf- 
zahl der Gruppe besser in das Auge fiele. Klymene kehrt der zweiten Gattin 
ihres Gemahls den Rücken. Philolaos und Diokles, die von Korinth nach 
Theben ansgewandert waren, Diokles aus Verdrufs, Philolaos aus Liebe zu 
ihm, liefsen ihre Grabhügel so einrichten, dafs von beiden freier Ausblick 
auf einander war, dabei aber so, dafs man von dem des Diokles nicht, von 
dem des Philolaos wohl nach Korinth hinschauen konnte. (°°) Diokles wandte 
also noch im Grabe sich von Korinth ab, womit er unzufrieden zu sein Ur- 
sache gehabt hatte. 

12. Dafs der Schatten des Tiresias eben zur Grube aufsteige, ist im 
Wort selbst (mgssıurıw Emı rev RcSgov) gegeben und bestätigt sich durch die zwar 
im Übrigen ganz anders eingerichtete Darstellung dieser Scene an einer vor 
wenigen Jahren entdeckten und bereits edirten Vase aus Basilicata, die ein 
Meisterwerk ist; (°7) und ich mag gern glauben, dafs auch Polygnot von dem 
Schatten nur eben das zurückgebogene Haupt sichtbar sein liefs, weil diefs 
unstreitig die meiste Wirkung macht, und dafs er diesem einen ähnlichen 
geisterhaften Ausdruck gegeben habe. Dafs er dabei vermuthlich auch ne- 
ben dem über der Grube huckenden Odysseus die zwei Widderköpfe gemalt 
hatte, wie es dort ist, wurde schon oben bemerkt. Der Vortheil für die 
Gruppe, dafs nun nur drei Personen erscheinen, Elpenor auf der einen, 


(°°%) Aristoteles Polit. II, 9. 


(°”) Bullett. Napolet. T. I tav. 6 p. 100. Mon. d. Inst. archeol. IV, 19. Beide Dar- 
stellungen sind auseinandergesetzt und verglichen Annali XVII p. 211-17. Dals der Schat- 
ten des Tiresias so besser als in der Riepenhausischen Zeichnung aufsteige, ist auch daraus 
klar, dals nach Pausanias Odysseus das Schwerdt über die Gruppe hält, aus welcher der 
Schatten hervorgeht. Dieser durfte also nicht entfernt von Odysseus sein. Auch verliert 
die Rundheit der aus drei Personen bestehenden Gruppe durch die Halbfiıgur des Tiresias. 


136 Wercker: Die Composilion der Polygnotischen Gemälde 


Antikleia auf der andern Seite des Odysseus, ist unverkennbar. Nicht im 
Sinne Polygnots ist was Göthe annimmt, dafs Antikleia ihren Sohn noch 
nicht gewahre, weiter zurücksitzend als Tiresias. Es scheint vielmehr die 
Härte der epischen Sage, dafs selbst die Mutter nicht zum Blute gelassen 
wird bevor Tiresias getrunken, dem Gedanken Platz gemacht zu haben, dafs 
die Mutter um den Sohn wiederzusehn sich Allen vorangedrängt hat. 

13. Theseus und Pirithoos nicht als Heroen (deren hier viele stehen) 
sitzend, wie Böttiger (8.347 f.) annimmt, sondern nach der vollkommen 
wahrscheinlichen Vorstellung des Pausanias angebunden an die Thronen oder 
als Gefangne: nur der Zauberbann auf die Stühle oder die Angewachsenheit 
war dem ungefähr gleichzeitigen Panyasis eigen. Da diese der Maler nicht 
ausdrücken konnte, so läfst sich nicht sagen, dafs er auch hier mildere. 
Merkwürdig aber sticht von ihm das unten (Not. 81) erwähnte späte Vasen- 
gemälde einer ganz andern Unterwelt auch hierin ab, eine Vase der Samm- 
lung S. Angelo, wo hinter dem Pluton Pirithoos gefesselt sitzt und von einer 
Furie mit dem Schwerdte bewacht wird. Noch grausamer erscheint die Fes- 
selung von beiden Freunden durch eine Furie, Angesichts des Pluton (nicht 
Minos, Bullett. Napol. 1846 p.75) und der Persephone an einer Vase Jatta 
in Gerhards Archäol. Zeitung Taf. XV 5.227. Ein geschnittner Stein hin- 
gegen in den Mon. ined. 101 stellt den Theseus vor sitzend in Trauer, das 
Schwerdt unter dem Sitz. 

14. Die Erzählung der Odyssee (XX, 66-78) von den Töchtern des 
Pandareos wird durch das, was Pausanias von ihm als Geschichte anführt, 
nicht aufgeklärt. (°%) Die Götter nahmen der Kamiro und Klytie ihre El- 
tern hinweg und sie blieben als Waisen im Hause; Aphrodite pflegte sie auf 
o und lieblichem Wein und von andern Göttinnen 


5 
empfiengen sie deren eigenthümliche Gaben, von Here Verstand und Schön- 


mit Käse und süfsem Honi 


(°°) Jacobs: Ceterum fabula de Pandareo ejusque filiabus nondum satis videtur illustrata. 
Certe nec hoc, quod Camiro et Clytia talis ludunt, sine reconditiore quadam causa videtur 
fieri. Die Fabel von Äedon als Tochter des Pandareos Odyss. XIX, 518 ist eine von die- 
ser gänzlich verschiedene: indessen zählen die Scholiasten, wie es geschieht, diese mit den 
beiden andern, die sie Merope und Kleothera nennen, zusammen. Diese beiden Namen 
sind vermuthlich später als die Polygnotischen, so wie auch, was sie von dem Frevel des 
Pandareos erzählen, verschieden sein kann von dem, was der Dichter meinte. Doch scheint 


. - m nr x mm ’ 
dieser auf einen Frevel zu deuten: rfrı rox7as nv HIisav Seor. 


in. der Lesche zu Delphi. 137 


heit, von Artemis hohe Gestalt, von Athene die Kunst weiblicher Arbeiten. 
Aphrodite geht in den Himmel, um von Zeus eine glückliche Heirath für sie 
zu erlangen, unterdessen aber werden sie von den Harpyien geraubt und 
den Erinnyen übergeben. Davon scheint der Sinn zu sein, dafs die weibliche 
Jugend bei den schönsten Anlagen und Gaben der Natur und wie sehr sie 
auch für das Glück der Liebe und der Ehe geschaffen scheine, ohne elter- 
liche Aufsicht zu leicht ein Raub des Verderbens werde. Von den Har- 
pyien geraubt werden drückt schon allein plötzlichen Untergang aus und hier 
verstärken die Erinnyen diese Bedeutung. Wenn Polygnot die Fabel eben- 
falls so verstand, wie wir im Geiste mancher andern alten Fabeln sie zu deu- 
ten uns berechtigt halten, so drückt er sie glücklich und fein mit den Mitteln 
seiner Kunst aus. Denn Blumenkranz und Knöchelspiel, die der Spindel, der 
Laute, dem Webstuhl entgegengesetzt werden können, deuten auf die bevor- 
stehenden Harpyien, auf die Gefahren des fröhlichen, zwanglosen Lebens, 
welche die schönen Waisenkinder liefen. Die gröfste bestand in der Schön- 
heit selbst nach der allgemeinen Ansicht, welche Ennius ausdrückt, (°%) dafs 
die Frauen von mäfsiger Schönheit der Tugend treu bleiben. Polygnot aber, 
der den Tod der Phädra mit einem Spiel, die Verwandlung der Kalisto und 
des Aktäon in den Bären, den Hirsch mit der Unterbreitung des Bärenfells 
und der Hirschhaut vertauscht, mochte natürlich nicht darstellen wie die bei- 
den Schwestern von den Harpyien entrafft wurden, sondern indem er im an- 
muthigsten Bilde die dem vorausgehende Lage mit ihrem täuschenden heite- 
ren Schein vergegenwärtigt, vermeidet er die unter den Büfsenden darzustel- 
len, deren Schuld so viel Entschuldidung und Mitleid verdient. Hätte man 
an diese Bedeutung gedacht, so wären auch die Archäologen nicht so hart- 
herzig gewesen an dem alten Grabmal aus Xanthos vier Töchter des Panda- 
reos anzunehmen, die sämmtlich von den Harpyien davon getragen würden 
um den Erinnyen überliefert zu werden, wozu sie freilich auch ohne das 
aus mancherlei Gründen nicht befugt waren. 

15. Die Trauer des Antilochos bezieht sich wohl nicht auf seinen eig- 
nen frühen Tod, wie Böttiger (S.355) meint, da wohl auf das Unglück der 
Besiegten durch den Schmerz des Hektor, des Sarpedon (21) aufmerksam 
gemacht werden mochte, nicht so auf das der Sieger. Aber auch die Trauer 


() Gell. V,12. 
Philos.- histor. Kl. 1847. Ss 


138 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


hier fortzusetzen, womit er in der Ilias dem Achilleus den Tod des Patroklos 
meldet, wäre ein unnatürliches Motiv, da dieser Schmerz des Achilleus selbst 
längst erloschen war. Nein dafs auch Achilleus selbst zu früh zu den Schat- 
ten wandern mufste, ist der Kummer des hingebenden Antilochos, so wie 
auch in der Stellung des Patroklos vermuthlich seine Ergebenheit gegen 
Achilleus ausgedrückt war. Auf Achilleus bezieht sich hier nemlich Alles, wie 
er auch in der Odyssee (XI, 183) der König der Schatten ist; keineswegs ist 
Agamemnon die Hauptperson wie man geglaubt hat. Auf den Achilleus 
blickt Protesilaos, dieser liebevolle Antheil ist nur gesteigert im Antilochos. 
Patroklos und Antilochos sind ihm zur Seite auch in der andern Nekyia der 
Odyssee (XXIV,15). Drum ist auch Achilleus, der Besieger des Hektor, 
der Panthesilea und des Memnon in einer nahen Gruppe, durch einen Sitz 
in der Mitte der vier Stehenden ausgezeichnet; denn dafs in der Zeichnung 
Protesilaos auch sitzend angegeben ist, halte ich nicht für richtig. Und wer 
könnte zweifeln, dafs der Sitzende, dafs Achilleus die Mitte einnahm? Pau- 
sanias nennt zwar Antilochos, Agamemnon, dann Protesilaos schauend auf 
den sitzenden Achilleus; er hätte sagen sollen, dann auf den Achilleus schau- 
end Protesilaos: zuletzt Patroklos, so dafs die zwei Geliebten des Achilleus 
sich an den Enden und Agamemnon und Protesilaos zunächst bei Achilleus 
gegenüberstanden: Patroklos ist über dem Achilleus stehend, d.h. er steht 
etwas höher, so dafs er den Achilleus über den Protesilaos weg ebenfalls an- 
sehn kann, und diefs anzudeuten heifst es ürsg rov "Ayındea anstatt Ursg rov 
Howresiraov. Das Anblicken des Achilleus hebt Pausanias bei Protesilaos 
noch besonders hervor. (7°) Diese Gruppe aber, in deren Mitte Achilleus 
sitzt unter Stehenden, nimmt gerade die Mitte des Gemäldes ein, so dafs nun 
durch die Verherrlichung des Achilleus die des Neoptolemos auf der andern 
Seite, der in der Unterwelt nicht aufgenommen werden konnte da er zur 
Zeit, da Odysseus zu ihr vordrang, noch lebte, gewissermafsen fortgesetzt 
wird. Agamemnon hält ein Stäbchen (emavexwv da@de), wie er an der Dod- 
wellschen uralten Korinthischen Vase mit einem Kerykeion, dabei aber ohne 


(29) za 6 Ilwresiraos FoLoUrov TagEy,erau syrue. Jacobs: Kuhnü correctio a Facio pro- 
bata nec per se probabilis, nec difficultatem loci tollit. WVidetur aliquid excidisse post SYnıt, 
quo quale illud synac fuerit significatum sit. Siebelis will za Segonevov einschieben, was 
die Gruppe zerstören und zu dem stehenden Agamemnon am wenigsten passen würde, 
und doch ist es so natürlich syyu« auf &s 'Ayxınrea dibogg zu beziehen. 


in der Lesche zu Delphi. 139 


Scepter vorkommt. Eins ist unaufgeklärt wie das Andre; denn Ba@des, als 
Zeichen des Kampfrichters, der wohl rhetorisch in weiterem Sinn genom- 
men werden kann, ist in der Hand von Herrschern und Anführern sonst 
nicht bekannt. 

16. Der Ring, welchen Iaseus dem Phokos geschenkt hat, ist wahr- 
scheinlich eine Erfindung des Malers, der ein Zeichen suchte, um die be- 
rühmte Freundschaft des alten Landesheros gegen den neuen auszudrücken. 
Das Geschenk eines Siegelrings als Zeichen der Freundschaft gegen Angehö- 
rige kommt bei Plutarch im Artaxerxes vor (18). Pharao steckt seinen Fin- 
gerring dem Joseph an als er ihn zum Statthalter macht (Genes. 41): mög- 
lich, dafs auch dort der geschenkte Ring auf ähnliche Art eine bestimmtere 
Bedeutung hatte, Abtretung des Landes, Übertragung der Gewalt u. dgl. 

18. Der Hügel, worauf Orpheus safs, war keineswegs mit Bäumen, 
Pappeln und Weiden umgeben, wie Siebelis sagt; sondern Orpheus safs wie 
auf einem Hügel (ei« &mı Acdev rıwcs), der Hügel war also, wie auch in den 
späteren Vasengemälden, nur durch eine Linie angedeutet oder nicht einmal 
diefs, sondern nur nach der Figur und ihrem Verhältnifs zu den andern der 
Reihe vorauszusetzen. Ein Weidenbaum war gemalt, mehr nicht, und die- 
ser galt für den Hain der Persephone, der in der Odyssee (X,510) aus ho- 
hen Pappeln und unfruchtbaren Weiden besteht (76 @Aros Eaızev var). Sche- 
dios der Anführer der Phokier vor Troja, gekränzt mit Agrostis, als einer 
auf dem Parnafs nachweislich häufigen Pflanze, ist ihnen zu Ehren, also mit 
Rücksicht auf Delphi, in dieser Gesellschaft; das Schwerdt, das ihn aus- 
zeichnet, war vermuthlich eines von denen, die rxzdi« hiefsen, um auf den 
Namen Schedios anzuspielen, wie Siebelis bemerkt hat: denn auch darin, 
dafs Pelias als voAıos, mit weifsgrauem Haupt und Bart, gemalt war, lag eine 
ähnliche Anspielung. Der Grund den alten Iolkischen Pelias mit Orpheus 
oder mit Schedios zu verbinden, liegt nicht zu Tage. Orpheus sitzt an die 
Weide gelehnt und fafst ihre Zweige mit der Hand an. Diefs ist sicher nicht 
zufällig, sondern bedeutet Trauer. Die unfruchtbare Weide (WAerinagmos, 
Jrugiperda) schickt sich für den Hades wie der Asphodelos, der sich über 
unfruchtbare Strecken verbreitet, bei grofsen Stengeln und Blättern und 
vielen blafsfarbigen Blüthen keine Nahrung, aufser höchstens eine elende 
und ungesunde durch seine Knollen, abgiebt (so dafs der aufmerksame Rei- 
sende noch eh er weils, dafs er Asphodelos sieht, aus einem sprechend sym- 


52 


140 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


bolischen Ausdruck die Frucht des Hades erräth) und eben so wird das un- 
fruchtbare Rind den Schatten geopfert (Odyss. X,522). Auch im alteng- 
lischen Volkslied drückt Weide, Weide die Trauer aus. Nun hatte Or- 
pheus durch Unbedachtsamkeit und Übereilung seine Gattin Eurydike ver- 
scherzt. (”') An derselben Weide angelehnt, also von Orpheus abgewandt, 
sitzt Promedon und ich mufs glauben, dafs diese Person das Anrühren der 
Weide erst erklärt oder die Ursache der Trauer, dafs die Trauer nemlich 
wirklich die Eurydike angehe, hinzufügt. Promedon kann eben so gut wie 
Prometheus Vorbedacht ausdrücken, welchem gegenüber Epimedon Orpheus 
um sein verlornes Gut trauert. (??) Dafs die Griechen gerade dieses Zeital- 
ters und späterhin eine grofse, aus dem Einflufs ihrer reichen und sinnigen 
Mythologie sehr erklärliche Neigung hatten änigmatische Andeutungen in er- 
dichtete Personen und Namen zu legen, ist aus mehr Beispielen als zusam- 
menzustellen leicht wäre bekannt. Hiermit mafse ich mir freilich an die Ein- 
falt bildlicher Sprache besser zu verstehn als die Exegeten der Lesche selbst. 
Denn diese meinten zum Theil, dafs Promedons Name zuerst von Polygnot 
eingeführt worden sei, (7?) und für diese war er, scheint es, nur ein Name 
ohne Bedeutung, durch Polygnot erfuhren sie über ihn nichts und kein An- 


= 

(') Jacobs: Causam hujus gestus Boettigerus p. 354 quaerit in epitheto salici tributo w.e- 
Fi2gmoS, quoniam Eurydice immatura morte sit extincta. Quod longius petitum. Salix Pro- 
serpinae sacra tangit itaque Orpheus salicem ut indicet, se ob musicam, quam ziSoegee signi- 
ficat, perüsse. Aber diese Ursache seines Todes ist nicht bekannt. Freilich nicht im Bei- 
wort wAssizegros ist eine Beziehung auf Orpheus oder den frühen Tod der Eurydike zu 
suchen, wie Böttiger sie darin setzt, dals Orpheus durch den von ihm verschuldeten Ver- 
lust der Gattin auch die Hoffnung Kinder zu bekommen verloren habe. 

(°”) Die Unklugheit des Orpheus in diesem Falle schadet natürlich dem Ansehn seiner 
Weisheit im Allgemeinen nicht. An diese ist gedacht wenn ein Abkömmling von ihm 
Mirwv genannt wird, Plutarch. Qu. Gr. XI. 

() Eis nv 04 08 vonilousı za Iarep es zone Erasay,Ser Too Ilgonzdovros Ovone Umo 
ToU Tloruyvurov. Jacobs: Obscura verba: sensus tamen vix alius esse potest guam Prome- 
dontis nomen a Polygnoto esse inventum. Sed quid est zaSamep? Cap. 32 de Archilochi fa- 
bula de Tantali Saxo auctore legimus: eire zur aUros eis FrV molyeıv EISyveyzaro. Recte; 
poeta enim Archilochus. Sed h.l. de tabula pieta agitur. Fortasse verba zu Scemep es mom- 
sw ex ipso illo de Archilocho loco interpretationis causa margini adscripta in textum vene- 
runt. Aber was erklärt dieser Zusatz? Es scheint vielmehr nach z«S«rsg ausgefallen zu 
sein za: @?A« rıw& oder etwas dergleichen. So war unter den Troerinnen c. 26,1 Xeno- 
dike weder in Gedichten noch Prosa genannt, 26,2 von vier Gefangnen nur Ayivauy, in 


. . 67 El > N \y m In x 7 ’ 
der Kleinen Ilias genannt, s&v 6° arAuv zwar dozeiv auveSyze ra övonare 6 oruyvwros, eben 


in der Lesche zu Delphi. 141 


drer hatte von ihm gesprochen. Andre aber hatten gesagt, so führten, wie 
es scheint, die Exegeten an, Promedon sei ein Hellene gewesen, der sowohl 
alle andre Musik, als besonders den Gesang des Orpheus sehr gern hörte. 
Diefs kann nur Vermuthung gewesen sein, weil die andern Exegeten, die 
ehrlicheren, nicht gesagt hätten, man wisse nichts von Promedon, wenn sich 
irgend eine Angabe über ihn nachweisen liefs, die ja den Antiquaren des 
Orts willkommen genug hätte sein müssen. Aber die Vermuthung ist auch 
bestimmt falsch; denn man setzt sich überhaupt nicht beim Zuhören von 
dem Sänger abgewandt (dafs in der Zeichnung Promedon den Kopf umdreht, 
als ob er zuhören wolle, ist nach irriger Voraussetzung aus der früheren 
Composition, worin mir auch der allzugrofse Baum nicht eben Polygnotisch 
zu sein scheint, zu meinem Bedauern übergegangen), und bei Polygnot ins- 
besondre, welcher Klymene der Prokris den Rücken wenden läfst (10) und 
überhaupt in Stellungen und Zeichen die bestimmteste Bedeutung legt, ist 
irgend ein Gegensatz darin zu suchen, dafs Promedon nach der entgegenge- 
setzten Seite sitzt, so dafs er den Orpheus nicht sehen kann, sondern dessen 
Rücken mit dem seinigen berühren würde wenn der Weidenstamm nicht 
zwischen ihnen wäre. Ist bei Orpheus der Fehler oder das Unglück, das 
für ihn aus einem Fehler folgte, nur schonend angedeutet, so ist des Tha- 
myris weit gröfsere Verschuldung in ihren harten Folgen unmittelbar darge- 
stellt. Demnach kann ich K. O. Müllers Meinung nicht billigen, (*) dafs 
Orpheus hier in Beziehung stehe zu den Achäischen und Troischen Kämpfern, 
die friedlich um ihn vereint seien, und dafs der Gram der vorzeitig gefallenen 
Helden durch die erhabenen Lieder des Orpheus besänftigt und als eben in 
stille Ruhe und Hoffnung übergehend zu denken sei, da nach der Meinung 


so 25,3 nur Phrontis aus der Odyssee, sechs Andern, die bei dem Schiff und den Hüt- 
ten beschäftigt waren, hatte er selbst die Namen erfunden. 

(‘) Götting. Anz. 1827 S.1312 ff. Archäol. $.134,3. Dafs auch Oknos auf Myste- 
rien bezogen worden sei, ist Not. 61 schon bemerkt worden: und die ganze Ansicht ist 
unter Oknos in die Hallische Encyklopädie durch Rathgeber verpfllanzt worden. O. Jahn 
hingegen macht gegen Müllers Ansicht wohl begründete Einwendungen 8.40 f. Übri- 
gens meinte auch Stackelberg Gräber S.13, dals dem Leierspiel des Orpheus als Lehrers 
der Bacchischen Weihen Einige (nicht die Gruppen der Helden) zuhörten, mit dem Ge- 
gensatze des erblindeten Thamyris. Dafs keine Spur von höherer Belohnung der Schat- 
ten sich finde, verkannte er dabei nicht. 


142 Wercxer: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


der Zeit diese Lieder von dem jenseitigen Leben die erheiterndste Vorstel- 
lung gegeben hätten. Es sollen nemlich die fünf Griechischen Heroen auf 
der einen Seite und auf der andern fünf Troische „beide um Orpheus her- 
um sitzen”: allein die Gruppen sind zwar auf gleichem Plan neben einander, 
aber abgesondert jede für sich und die Heroen zunächst dem Orpheus sind 
in beiden mit dem Rücken nach ihm gewandt, wie um jedes Mifsverständ- 
nils als ob dieser sie angehe abzuwenden. Promedon scheint Müllern ein 
Orphiker und Oknos, welchen er dem Sisyphos gegenüber links oben, mit 
Tityos neben ihm, setzt, während Eurynomos vor dem Nachen des Charon 
liege, ein Verdammter, weil unschlüssiges Zaudern der Seligkeit eben so 
hinderlich sei wie Leidenschaft. (7%) Orpheus berührt zwar mit der einen 
Hand die Laute, aber es scheint nicht, dafs er sie spielte: wenigstens trauert 
er zugleich für sich selbst, wie das Anfassen der Weide zeigt, und diefs er- 
laubt nicht seinen Gesang mit andern in Verbindung zu bringen. Aber an- 


(5) Auf einen übleren Weg die Composition zu ergründen als diesen konnte Müller 
nicht gerathen. Denn wie er in den hier berührten Fällen auf die Angaben des Pausa- 
nias, als ob sie völlig unglaubhaft wären, gar keine Rücksicht nimmt, so beachtet er ihn 
auch in andern nicht, wie wenn er z.B. sagt: „die Heroen und Heroinen waren im Gan- 
zen so gestellt, dals sich die letztern links, die erstern rechts vom Odysseus befanden,” 
was eine etwas starke Behauptung ist. So stellt er die Widderträger in die Ecke der 
obersten Reihe, wo sie wie ein Proömium auf die Hauptdarstellung aufmerksam machen 
sollen. Dabei erklärt er (S. 1311) aus der Symmetrie und den (von mir angegebenen) 
harmonischen Zahlverhältnissen nicht den Nutzen gezogen zu haben wie aus der Beach- 
tung eines dritten Hülfsmittels (denn das erste besteht im Texte des Pausanias), nemlich 
„der innern, so zu sagen geistigen Construction des Gemäldes, d. h. der Gedanken, wel- 
che Polygnot bei der Wahl gerade dieser Figuren zur Bevölkerung seines Hades leite- 
ten.” Mehrerer Figuren geschieht keine Erwähnung, „weil über ihren Platz sich noch 
keine Erklärung geben lasse.” Aber greift denn in einer solchen Composition nicht Al- 
les ineinander ein? Und müssen nicht Text, Symmetrie und Gedanke mit einander auf 
allen Punkten übereinstimmen und liegt nicht in der bewirkten Zusammenstimmung aller 
drei die einzige Bedingung uns Zutrauen in die aufgestellten Muthmalsungen zu gewäh- 
ren? Willkürlich und mit aller Erfahrung streitend ist es ferner wenn angenommen wird, 
dafs Polygnot, um die Aufstellung meist in drei Streifen, aber auch mit manchen Figuren, 
besonders auf der linken Seite, zwischen den Reihen gestellt, zu motiviren, sich vielleicht 
einiger Andeutungen einer Berglandschaft bedient habe. Die rergeı, worauf Tyro, Mar- 
syas, Mära salsen, waren daher blofs einzelne Steine, wie sie der Griechische Boden als 
natürliche Stühle so häufig hervorbringt, so dals der Boden der Unterwelt dem oberen 
treuherzig nachgebildet war, wie man ihn mitten in den Dörfern und Städtchen auch heute 
noch sieht, und in die Klippe des Sisyphos lief sicher nicht ein Gebirg aus. 


in der Lesche zu Delphi. 143 


genommen, dafs er spielte, auch dafs er für Zuhörer spielte, so müfsten 
doch gerade die Heroen des Troischen Kriegs ihre Natur völlig verleugnen 
um mit Orphikern in die geringste Gemeinschaft zu treten. Auch ist keine 
Spur in dem Gemälde von allem Heil, was die Eleusinischen Mysterien den 
Verstorbenen im Hades bereiten, die sich dort mit Lauten ergötzen, wie 
Pindar sagt, oder nach Sophokles aus Bechern ohne Fufs trinken, während 
die Nichteingeweihten im Schlamm waten; keine Spur von einer Belohnung. 
Und an die Eleusinien konnte auch Polygnot nicht denken, da er an die Pa- 
risch- Thasischen Weisen erinnert. 

20. Bei den Spielern sind die beiden Ajas auch bei Euripides in der 
Iphigenia in Aulis (195), der des Polygnot sich dabei erinnern mochte. Der 
eine der Lokrische, schaute ihnen zu, der andre also nicht, für dessen fin- 
stern Ernst es nicht passend gewesen wäre. Der Telamonide hat seine Stelle 
unter den Feinden des Odysseus erhalten, um in dieser Gruppe die fünfte 
Figur abzugeben, da er sonst auch in die des Achilleus gepafst hätte, die 
ohne ihn aus eben so vielen besteht. Warum-Meleagros auf den Lokrischen 
Ajas blickt, ist nicht klar. Übrigens sind die Lautenspieler, die Flötner und 
die Würfelspieler übereinander in derselben Abtheilung. 

21. In der Gruppe der Troischen Helden zählt mit Fug Penthesilea 
mit. Der Äthiopenknabe neben dem Memnon war vermuthlich nach kleine- 
rem Maafsstabe, und ohne Zweifel schwarz, um auf den Namen des Volks 
anzuspielen. So hat auf einer Vase Memnon zur Bezeichnung einen Mohren 
auf seinem Schild. (7°) Die Doppelbedeutung des Worts, Äthiope und Mohr, 
wurde benutzt; denn dafs später auch die Äthiopen selbst als Mohren gebil- 
det worden sind, kommt hier nicht in Betracht. Der Mohrenknabe zählt, 
wie nicht selten kleinere Nebenfiguren, nicht mit. Die Memnonischen Vögel 
waren nicht blofs am Rande der Chlamys wie in der Zeichnung, sondern 
über das Gewand selbst ausgestreut. Paris war keineswegs hier als Hirte ge- 
malt, wie Böttiger behauptet (S.357): das Schlagen in die Hand, (7) wo- 
durch er die Penthesilea zu sich ruft, ein bäurischer Gebrauch zur Zeit des 
Pausanias freilich und längst vorher, kann entweder der heroischen Einfach- 
heit oder dreister Zutraulichkeit zugeschrieben werden. Dafs der Gebrauch 


(°%) Mon. del Inst. archeol. I tav. 39. 
(2) dmozgorn AG, Strab. XIV p. 672. 


144 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


sich in Griechenland erhalten habe, wo man z.B. in Ermangelung einer Klin- 
gel durch Klatschen den Diener in das Zimmer ruft, ist schon zum Pausanias 
angemerkt worden. 

22. 25. Unklar ist, wie die Jugendliche und die Altere, die mit zer- 
brochnen Gefäfsen Wasser tragen, und die Alte in der andern Gruppe, wel- 
cher, während die drei andern Personen Wasser tragen, die Hydria zerbro- 
chen ist, so also als ob ihre zerbrochene Hydria ihr diefs nicht mehr erlaube, 
von den dreien aber im Gegensatz anzunehmen sei, dafs ihre Hydrien nicht 
durchlöchert waren, sich zu einander verhalten. Auch die Worte von der 
Alten exygousa Errıv auSıs &s rov miSov vermehren die Undeutlichkeit. Aber 
vermuthlich ist alSıs bedeutungslos, auch diefsmal, wie man fort und fort 
eingofs. Es scheint, dafs nur die doppelt vergebliche Mühe, ein durchlö- 
chertes Fafs mit durchlöcherten Gefäfsen zu füllen, die aus Platons Gorgias 
bekannte Strafe der Uneingeweihten, die nur im Sinnlichen, Vergänglichen 
leben, auch von Polygnot gemeint war, dafs aber zur Vermeidung der Ein- 
förmigkeit nicht an allen Hydrien gleich sichtbar war, dafs sie das Wasser 
nicht hielten. Auch in der Stellung des ersten Paars näher den Heroinen 
der andern Gruppe in der Nachbarschaft des Sisyphos und Tantalos ist da- 
rum kein gültiger Unterschied in der Strafwürdigkeit zu finden, da sie beide 
doch neben einander sind. 

Auch die Gesellschaft der Polygnotischen Unterwelt im Allgemeinen 
verdient als solche eine vergleichende Betrachtung ehe wir deren Anordnung 
im Ganzen prüfen. Von den Heroinen der Odyssee sind nur Antiope, Alk- 
mene, Epikaste und Lede ausgelassen, von ihren Heroen Minos, Orion und 
das Scheinbild (wie nachher Stesichoros eines von der Helena angenommen 
hat) des Herakles, welcher in Homers Unterwelt nicht fehlen sollte, obgleich 
der Glaube der Zeit ihn schon in den Olymp erhöht hatte. Hinzugefügt hin- 
gegen hat Polygnot Auge zur Iphimedeia, Thyia zur Chloris, die zwei Töch- 
ter des Pandareos, die Kallisto, Nomia, Pero; von Heroen den Phokos und 
laseus, den Aktäon, begleitet von seiner Mutter, den Meleagros, den Or- 
pheus nebst Promedon, den Thamynis, den Schedios und Pelias, den Mar- 
syas und Olympos, den Palamedes und Thersites, den Lokrischen Ajas, 
Hektor und Paris, und die drei Anführer Troischer Hülfsheere Memnon, 
Sarpedon, die sonst beide von Göttern entrückt werden nachdem sie gefal- 
len waren, und Penthesilea. 


in der Lesche zu Delphi. 145 


Was nun die Heroinen betrifft, so sind Antiope und Epikaste, die 
Mutter des Ödipus, vermuthlich aus demselben Grund ans dem auch von 
den hochberühmten Helden des Thebischen Liederkreises nicht einer auf- 
genommen ist, übergangen, aus Ungunst der Athener, wozu Polygnot sich 
zählte, gegen Theben, während Pindar, der Theber, desto mehr aus die- 
sem Kreise geschöpft hat. Doch hätten Heroen des Thebischen Kriegs auch 
dem Übergewicht des Achilleus und der Achäer in diesem Ganzen Abtrag ge- 
than. Die Alkmene, als Mutter eines Gottes, die in alten Gemälden gleich 
der Semele auch selbst in den Olymp eingeführt wird, liefs Polygnot ver- 
muthlich, so wie den Herakles selbst und auch die Mutter der Dioskuren, 
die jetzt für mehr als Heroen galten, aus heiliger Scheu weg. Sehn wir auf 
die Heroen, so standen Minos und Orion sowohl nach örtlicher Beziehung 
als nach dem mythischen und ethischen Charakter der ganzen Dichtung ent- 
fernter. Dafür zog der sie dichtende Maler andre Personen hinzu, bei de- 
ren keiner es ihm gewifs an irgend einem Motiv fehlte: nur dafs es uns nicht 
überall zusteht es errathen zu wollen, so wie es auch eher störend als för- 
derlich ist allzuviele, zu unsichere Bezüge, Ähnlichkeiten, Contraste unter 
den Personen auszuklügeln. Bei einigen dieser Personen ist indessen der 
Grund, warum sie gewählt wurden, klar oder wahrscheinlich genug. Im 
Theseus und Peirithoos hatte Polygnot den Vorgang der Minyas; denn dafs 
sie in der Nekyia der Odyssee (632) erst unter Pisistratus den Athenern zu 
Gefallen eingeschoben worden, dürfen wir dem Megarer Hereas glauben: (7°) 
nach dem Prachtstück Herakles mufste die Erzählung sich entweder von 
neuem erheben oder in die allgemeine Erwähnung der Menge auslaufen, wie 
sie es auch bei den Heroinen thut. Aus der Nekyia der Minyas waren auch 
Meleagros und Thamyris. Dem Attischen Mythus gehören aufserdem die 
aus Homer und zum Theil wenigstens auch aus den Nosten beibehaltenen 
Ariadne und Phädra, Prokris und Klymene an. Delphi zu Ehren sind auf- 
genommen Phokos und Iaseus und Schedios. In Tellis und Kleoböa feiert 
Polygnot das Andenken seiner Vaterstadt, wie es Phidias in der Wahl der 
Gegenstände zu Olympia und andre Attische Künstler anderwärts gethan ha- 
ben. Von Archilochos, dem Abkömmling des Tellis und der selbst auch 
einen Hymnus auf Demeter gemacht und aus den Volksjamben ihrer Feste 


(°°) Plutarch. Thes. 20. 
Philos.- histor. Kl. 1847. T 


146 Wercker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


eine Kunstgattung geschaffen hat, entlehnte Polygnot die den alten Strafen 
des Tantalos noch hinzugefügte neue. Kleoböa kommt sehr wahrscheinlich 
auch auf den Münzen von Paros vor. (??) Arkadien gehören an Iphimedeia, 
Auge, Kallisto, Nomia, denen die Nachbarin Pero sich anschliefst. Zwischen 
der vornehmen Gesellschaft des Hades, unter der es auch an Unglücklichen, 
die es durch ihre Schuld geworden sind, wie Phädra, Aktäon, nicht fehlt, 
und den büfsenden Frevlern in der Mitte sehn wir Beispiele menschlicher 
Schwachheiten in Oknos und den schönen Waisenkindern Kamiro und Klytie. 
Nicht zu verwundern ist, dafs auch die Musiker in den Kreis gezogen sind, 
da die musikalische Kunst seit Homer nur immer höheres Ansehn erlangt 
hatte. Aber wie in der Minyas Amphion und Thamyris in der Unterwelt, 
dieser seinen Kunststolz, jener seine Selbstüberhebung gegen Leto und die 
Zwillingsgötter büfsten, ($%) so behielt Polygnot aus ihr den gedemüthigten 
Thamyris bei und stellte dazu den Orpheus dar im Kummer über sein wegen 
einer so rührenden Übereilung ihm entrissenes Glück. Der Athener, der 
eingeweiht war, konnte bei diesen beiden an den Athenischen Musäos, den 
Sänger der Mysterien, dem kein Unheil begegnet war, sich erinnern. Die 
späteren Vasengemälde, worin der Palast des Pluton und der Kora die Mitte 
einnimmt, Orpheus vor ihnen die Laute spielt u.s.w. haben mit einer Ne- 
kyia nach den epischen Dichtern nichts gemein als einige Höllenstrafen. Sie 
schliefsen in ihrer Composition sich an die unendlich häufige, gleichsam ste- 
hende Form von Vasengemälden an, die, vermuthlich nicht ohne Einflufs 
der herrschenden Einrichtung der tragischen Bühne, sich um die Fronte ei- 


nes Palastes reihen. (°') Aus der Nekyia der Minyas ist auch der Kahn des 


(°°) Mionnet Description II p. 321. Thiersch, Bayr. Akad. philos. philolog. Klasse 1835 
I S. 592. 

(°°) Pausan. IX,5,4. Auf dem Helikon eine Statue des Thamyris blind und mit zer- 
brochner Laute (Paus. IX, 30,2), wie er in der Tragödie des Sophokles sie selbst zer- 
brach. 

(*') Besonders reichhaltig eine Vase aus Ruvo, jetzt im Museum zu Carlsruh, Mon. d. 
Inst. archeol. II, 49, die aber nicht in manchen Gruppen, wie in den Annali IX p. 221 
ff. behauptet ist, mit der Beschreibung des Pausanias übereinstimmt. Die gänzliche Ver- 
schiedenheit liegt vor Augen, wie sehr man auch sie anzuerkennen zögern möchte. S. 
Gerhards Archäol. Zeit. 1843 S.147 ff. Eine andre, jetzt in München, edirt von Millin 
in den Tombeaux de Canosa pl.3. Beschränkter ist die im Musce Blacas pl. 7. Eine bei 
Pacileo in Neapel in Gerhards Mysterienbildern Taf. 1-3 und eine Vase Taf. 4 vgl. des- 


in der Lesche zu Delphi. 147 


Charon. Den ’altberühmten Höllenstrafen aber fügte der Maler die gröfsten 
Verbrecher der Neuzeit hinzu, die welche die ersten Gebote des Griechi- 
schen Alterthums, die beiden ersten von den dreien des Triptolemos oder 
den Eleusinischen (wie Böttiger S.359 erinnert hat), ehre Vater und Mutter, 
verehre die Götter, übertreten haben: und so stehn diese mit den Einge- 
weihten im Kahn des Charon in einem stärkeren Gegensatz als die Uneinge- 
weihten auf der andern Seite, die zwar auch zu den Büfsern gehören, aber 
doch nicht gleich arge Pein leiden als jene, sondern eigentlich nur das nich- 
tige Treiben ihres vergeblichen Erdenlebens (ohne r&?ss) bildlich im Hades 
fortsetzen. (°”) Dieser grofse Unterschied der beiden Klassen ist ausgedrückt: 
darüber hinaus verleugnet in nichts das Gemälde den Charakter der alten 
epischen Nekyien, worin Stand, Beschäftigung, Sinnesart der aus der Ober- 
welt Abgeschiedenen im Hades fortdauern, demnach auch die Trauer, wie 
wir es hier an Antilochos, Hektor, Sarpedon, Orpheus sehen. Indem Tellis 
und Kleoböa auf dem Kahn, der Alle dahinträgt, in die grofse Genossen- 
schaft eingehn, tragen sie in der Cista das Pfand, dafs sie nicht zum Wasser- 
tragen bestimmt sind; aber dafs ihnen eine besondre Freude winke oder Or- 
phische Lieder entgegen klingen, werden wir nicht gewahr. Neben dem 
Acheron, da wo der Vatermörder und der Tempelräuber büfsen, ist viel- 
leicht der Schlamm zu denken, wovon wir in den Fröschen und bei Platon 
lesen. (°°) Statt der Sünder in Person setzten die Maler in den Nekyien spä- 
terhin den personificirten Fluch, Neid, Streit, Verläumdung, Empörung, 


sen Archäol. Zeit. 1843 S. 190, wo auch S.191 noch eine aus Armento in der Sammlung 
S. Angelo beschrieben ist. Mehrere von diesen sind hier auch Taf. XI-XIV von neuem 
abgebildet. Hier hat Orpheus auch nicht die Hellenische, sondern die Asiatische "Tracht, 
wie bei Philostr. jun. 6, Callistr. 7, Plat. Sympos. p. 179, auf einer Vase, wo ihn einige 
Musen begleiten, Neapels Ant. Bildw. S.379, in Mosaiken u.s.w. bald die Tiara mit dem 
langen Kitharödengewand verbunden, bald der ganze Anzug Phrygisch. Den Hellenischen 
sieht man an der angeführten Vase Blacas, auch in dem schönen Basrelief mit Orpheus, 
Eurydike und Hermes, wo nur einiges Fremde mit dem Hellenischen verbunden ist, und 
vielleicht sonst hier und da. Nach diesen beiden Vorstellungen des Orpheus ist die unsrer 
Zeichnung der Tracht nach eher zu modificiren als nach denen der andern Vasengemälde. 

(°) Axiochos 241 &vSe YRpos arelav zur Auvalduv Üzier arereis. Die Wasserträgerin- 
nen Zredavat, Proverb. Vatic. Append. III, 31. 

(®) Ast ad Plat. Polit. p. 402. 


12 


148 Wecker: Die Composition der Polygnotischen Gemälde 


u.s.w. zu, wie eine Stelle des Demosthenes bezeugt. (%*) Nur darin unter- 
schied sich vermuthlich nach einer nothwendigen malerischen Freiheit das 
Gemälde wesentlich von der alten Poesie, dafs es nicht Schatten (eidwd« zu- 
novrwv, duevyv& zagyva), sondern leibhafte Gestalten, in aller Bestimmtheit 
kräftiger Bewegung und durch Gesichtsfarbe und farbige Gewänder belebt 
und charakteristisch unterschieden darstellte, so wie das Eidolon des Aeetes 
bei dem Tode der Kreusa durch Medea auf der Vase von Canosa in der ge- 
wöhnlichen Tracht Asiatischer Herrscher, von den lebenden Figuren nicht 
verschieden erscheint: so dafs also die Todten von Odysseus und seinen Ge- 
fährten nicht grell oder gar nicht abgestochen haben möchten. Diefs foderte 
das Auge; dem Gedanken war dafür Genugthuung gegeben durch die feine 
Andeutung, dafs die Fische im Wasser des Acheron, das demnach sehr klar 
gewesen sein mufs, schattenartig aussahen. 

Dafs die Namen durchgehends bis auf wenige Ausnahmen auch hier 
beigeschrieben waren, versteht sich von selbst. Ausdrücklich bemerkt ist 
es bei Oknos, Promedon und den zwei Wasserträgerinnen, über denen 
AMYETOI stand. Bei den Andern derselben Klasse war diefs nicht wieder- 
holt indem Pausanias nur aus der Vorstellung schliefst, dafs sie zu derselben 
gehörten; und wenn sie, wie es sich uns ergab, in derselben Reihe folgten, 
so war auch die doppelte Inschrift unnöthig. Diese durchgängige schriftliche 
Bezeichnung der mythischen Personen, die auch Onatas nach Pausanias (IX, 
5,5,), vermuthlich auch Mikon und Panänos, von denen es nicht bezeugt ist, 
beobachteten, kommt bekanntlich auch noch in Gemälden eines nachpoly- 
gnotischen Styls voll der höchsten Anmuth an Gefäfsen aus Vulei vor, de- 
ren Zeichnung 


©? 
sie wollen, wenigstens bewundernswerth ist: ich will nur an die grofse Ko- 


sie mögen sich übrigens zu der Polygnotischen verhalten wie 


drosschale und an einen kleineren noch unedirten Kantharos mit den Namen 
Agamemnon, Achilleus, Kymothea, Ukalegon und Antilochos, Patroklos, 
Nestor, Thetis erinnern. 

Was nun endlich die Composition der Unterwelt im Ganzen betrifft, 
so ist es gewifs nicht zufällig, dafs auf dem untersten Plan vier in sich abge- 
schlossene Gruppen von je fünf Personen vorkommen, so dafs nur statt einer 


() Ic. Aristog. p. 489 (786): neS’ wv 8’ 0 Swygadar soüs areßeis Ev Aldov yacdbovsı, 


q ’ ) ©) Er \ ’ x a, \ [2 \ ’ ’ 
MErE Tovrwv, Mer Agas zu Brashrmas za Povov zur Sraseus zur Neizous TELLEIY ET. 


in der Lesche zu Delphi. 449 


fünften solchen Gruppe auf unsrer linken Seite zwei Büfsende, der Tempelräu- 
ber und Tityos, mehr in das Innere vorgerückt erscheinen, indem dann andre 
Büfser an beiden Enden abschliefsen. Eben so wenig ist es zufällig, wie schon 
vorher bemerkt wurde, dafs die mittelste Abtheilung von der Gruppe des 
Achilleus, des Königs der Schatten, des Vaters des Neoptolemos, mit Achil- 
leus selbst in ihrer Mitte eingenommen wird. Die Gruppe der Musiker 
trennt ihn schicklich von der der von ihm besiegten Feinde, zur andern Seite 
hat er fünf Heroinnen. Die Todtenbeschwörung des Odysseus, welche Gö- 
the und Meyer, die Riepenhausen, O. Jahn (5.58) für den Mittelpunkt des 
Ganzen in der obersten Reihe ansehn, Böttiger (5.347) auf die wunderlich- 
ste Weise sogar als den Mittelpunkt auf der mittleren Linie selbst setzt, bin 
ich durch Pausanias und alle aus ihm selbst abgeleiteten Verhältnisse genö- 
thigt worden auf die Seite zu schieben in die dritte, statt in die vierte Abthei- 
lung, so dafs dann für die vereinigten Feinde des Odysseus in der fünften, 
die mit der dritten in Bezug steht gerade die rechte Stelle sich ergiebt. Wa- 
rum sollte aber die Handlung des Odysseus gerade das Ganze beherrschen? 
Daraus, dafs Polygnot aus der Odyssee, statt etwa aus der Minyas oder ei- 
nem andern Gedicht, Anlafs und Umstände entlehnte um eine Nekyia zu ma- 
len, folgte nicht, dafs er den Odysseus zur Hauptperson im Gemälde selbst 
machte. Der Zeitpunkt, worin die Schau verlegt ist, pafste zur Zerstörung 
Ilions, die des Neoptolemos wegen gemalt wurde, wiewohl darum auch in 
dieser nicht einmal Neoptolemos malerisch den Mittelpunkt abgab; und ge- 
rade diese Nekyia mufste gewählt werden, weil sie die Homerischen Helden, 
den Achilleus insbesondre in den Vorgrund zu stellen Gelegenheit gab. Sollte 
diefs geschehn, so durfte nicht die Schattenbeschwörung als die einzige Hand- 


lung eines Lebenden im Gemälde, die für Delphi nicht wesentlich war und 


d 
nur der Odyssee oder des Zusammenhangs mit dem andern Gemälde wegen 
überhaupt dargestellt ist, die Stelle einnehmen, wo sie als die Hauptsache, 
als der eigentliche Gegenstand erschienen wäre. In der Voraussetzung, dafs 
sie diefs sei, betrachtet Göthe z.B. den Antilochos, Agamemnon, Protesilaos, 
Achilleus und Patroklos als die Freunde des Odysseus, die also mit Bezug 
auf ihn zusammengestellt oder überhaupt da wären, und fügt hinzu: „sie 
dürfen sich nur in den freien Raum, der über ihnen gelassen ist, erheben 
und sie befinden sich mit dem Odysseus auf einer Linie.” Durch die Ver- 
rückung des Odysseus aus der Mitte auf die linke Seite wird nun auch das 


150 Wecker: Die Composilion der Polygnotischen Gemälde 


sonst unerklärliche Übergewicht in der Zahl der Figuren oberster Ordnung 
auf der rechten Seite von der Mitte über die auf der andern bedeutend ge- 
mindert. Denn es bleibt so nur noch der Unterschied, auf welchen in der 
That nichts ankommt, dafs den beiden Begleitern des Odysseus (6) zwischen 
ihm (12) und Eurynomos (4) eine Gruppe von drei Figuren (23) gegenüber 
steht. Für die mittlere Reihe entspringt aus der gewonnenen Anordnung 
die ganz neue Erscheinung, dafs sie mit Ausnahme der Barke des Charon 
am einen Ende und der sechs Uneingeweihten am andern (22. 25) von lau- 
ter paarweise verbundnen Figuren eingenommen wird, wobei Oknos sich ge- 
fallen lassen mufs mit seiner bösen Frau als Eselin gepaart zu sein. Es sind 
dieser Paare in den fünf Abtheilungen neun, die daher mit einer gewissen 
Freiheit vertheilt gewesen sein mögen. Auch ist in der Abwechslung der 
weiblichen und der männlichen Paare keine Symmetrie beobachtet; aber es 
möchte nicht zufällig sein, dafs Theseus und Pirithoos unter den neun Paa- 
ren das fünfte sind, der Attische Heros also durch den Platz in der Mitte, 
den er einnimmt, ausgezeichnet ist: eine Beziehung des Theseus auf den 
Odysseus, unter welchem er sitzt, ein Contrast zwischen beiden, welchen 
mit Göthe O. Jahn (S. 28) annimmt, ist mir sehr unwahrscheinlich. Im 
Ganzen der Anordnung ergiebt sich auch auf dieser Wand anstatt der Ein- 
heit für die sinnliche Anschauung, die aus der dramatischen und perspecti- 
vischen Compositionsweise und der Alles umfassenden Farbenharmonie ent- 
springt, eine andre, die durch das innere Verständnifs auch für das Auge 
und das Gefühl vermittelt wird, sich anschaulich darstellt, sobald man alle 
Symmetrieen wahrgenommen und in ihren innern Motiven verstanden hat. 
Ob die auf die Zahl sieben gegründete Gestaltung des Stoffs und der sym- 
metrischen Theile, die aus beiden Gemälden ungezwungen und unverkenn- 
bar hervorgeht, blofs zufällig als die diesem Stoff und der Ausdehnung des 
Raums gemäfse sich ergeben habe, oder zugleich als eine gefällige Anspie- 
lung auf die im Apollodienst überhaupt geheiligte und vielfach angewandte 
Siebenzahl (°°) festgehalten und von den Besuchern der Lesche genommen 
worden sein möge, diese Frage wird sich schwerlich entschieden beantwor- 
ten lassen. 


5) S. Die Gruppirung der Niobe und ihrer Kinder im Rhein. Mus. 1856 IV S. 
PF 5 


259 -98. 


in der Lesche zu Delphi. 151 


Nachträgliche Bemerkungen zu den Zeichnungen. 


Wenn die nachgewiesenen Verhältnisse der beiden Compositionen im Ganzen 
richtig sind, so würde die Darstellung derselben offenbar sehr viel gewinnen durch ein 
leichtes Mittel, nemlich durch Verwendung eines etwas gröfseren Raums, so dals die 
Gruppen, in einer verhältnilsmälsigen Absondrung gehalten, ihre Zahlbezüge und andre, 
die sie unter einander haben, deutlicher und auch ohne alles nähere Eingehn schon von 
selbst für das Auge darstellten, die inneren Verhältnisse klarer herausträten und durch das 
Ebenmafs des Raums die Gleichheit hergestellt würde wo sie hier oder dort in den Fi- 
guren ihrer Masse nach sich vermissen lälst, wie Taf. I zwischen der Gruppe der Helena 
N.3 und der der Todten N.13 an sich kein vollkommnes Gleichgewicht besteht. Wie 
ganz anders würde auf Taf. II der Inhalt selbst uns entgegengetreten wenn die vier Jüng- 
lingsgruppen der untersten Reihe sich gehörig von einander ablösten und dabei die, deren 
Mittelpunkt Achilleus und welche selbst den Mittelpunkt des Ganzen macht, mehr heraus- 
gestellt wäre, wie es dem Gutdünken der nachbildenden Hand von der Beschreibung 
durchaus freigelassen ist. Bei einem etwas freieren Schalten mit dem Raum würde sich 
auch hier und da eine noch strengere Übereinstimmung mit den Worten des Pausanıas 
erzielen lassen, wie z.B. Taf. II N. 14 Antilochos ‚‚nach den Töchtern des Pandareos” 
ist, also von 14 zu 15 eine schräge Linie zu ziehen sein mülste, oder dafs Chloris N. 10 
mehr gerade unter die Phädra N.9 kommen würde, oder Oknos N.7 weiter ab von den 
Widderträgern N. 6. ‚‚nach ihnen”. 

ö Das sicherste Mittel der wahrscheinlichen wirklichen Darstellung im Einzelnen sich 
zu nähern, die Nachahmung noch vorhandner Bilder derselben Gegenstände, ist in der Ab- 
handlung berücksichtigt durch Anführung verschiedener Monumente. Andre, die zu Rathe 
zu ziehen wären, sind leicht aufzufinden, wie Taf. II N. 24 Sisyphos, wie N. 18 das ver- 
wilderte Haar des Thamyris nach dem Baton des alten Reliefs Mon. d. Inst. IV, 5 gege- 
ben werden dürfte, Marsyas und Olympos N. 19 nach Pitt. d’Ercol. I,9 u.s. w. 


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“ Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 
und die alte Glosse der Turiner Institutionen- 


Handschrift. 


H==AIPAE-DIRKSEN: 


ANAAAAADUNUU 


[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 28. October 1847.] 


Ir Kunde von dem Zustande des öffentlichen Lehrunterrichts für die 
Studirenden des römischen Rechts, unter den unmittelbaren Vorgängern 
Justinian’s und beim Beginne der Regierung dieses Kaisers, so wie die Schil- 
derung der Umgestaltung jener Lehrmethode auf Veranlassung der Bekannt- 
machung der Justinianischen Rechtsbücher, verdanken wir dem eigenen Be- 
richte Justinian’s. Man findet denselben in dem bekannten Gesetze, (!) 
welches bestimmt war die neu redigirten Sammlungen von Institutionen und 
 Pandekten als Rechtsbücher den Lehrern des Rechts zu überweisen, und 
deren Behandlung für den Lehrunterricht zu reguliren. Diese Überliefer- 
ung, insoweit sie mit der Darstellung des früheren Cyelus der juristischen 
Lehrvorträge sich beschäftigt, mag dem Vorwurfe der Ungenauigkeit und 
Partheilichkeit (?) nicht ganz entgehn; allein die darin hervorgehobenen 
Thatsachen ist man berechtigt als verbürgt gelten zu lassen, indem es den- 
selben an anderweiter Unterstützung nicht durchaus gebricht. Das Ergeb- 
nis dieser Mittheilung ist nun das folgende. Bis auf Justinian bildete, zum 
Theil nicht einmal vollständig, der Inhalt von nur wenigen juristischen 
Schriftwerken, unter denen die Institutionen nebst einigen Monographieen 
des Gaius, gleichwie die Responsen von Papinian und Paulus nament- 
lich hervorgehoben sind, und ausserdem ein beschränkter Abschnitt des 


(') Die Const. Omnem reipubl. Ad antecessores; (vor den Pandekten Justinian’s, in 
den Ausgaben des Corp iur. civ.) 
(?) Vergl. Zimmern Gesch. d. röm. Priv. Rs. Bd.1. $. 70. Heidlb. 1826. 8. 
Philos.- histor. Kl. 1847. U 


154 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


Edictes, den alleinigen Gegenstand der Vorträge während des fünfjährigen 
Lehreursus für die Studirenden des Rechts. (?) Es ist nicht unwahrschein- 
lich, dafs ausser den genannten Handbüchern noch einige andere, z.B. die 
libri sententiarum des Paulus, die ldri digestorum des Julian (*) und die 
libri quaestionum Papinian’s, zugleich die vornehmsten selbstständigen ju- 
ristischen Werke mögen gewesen sein, die dem Bedürfnis der damaligen 
Rechtspraxis genügten. Denn die Benutzung der übrigen Organe des Ju- 
ristenrechts scheint seit den sg. Citir- Gesetzen Constantin’s und Valenti- 
nian’s III. immer mehr vermittelt worden zu sein durch die zahlreichen 
sen aus den Schriften 


5 
der juristischen Classiker. Solche Sammlungen schlossen sich zum Theil 


Compilationen von reinen so wie von gemischten Auszü 


dem Rechtssysteme des prätorischen Edictes an, wie z.B. Hermogenian’s 
libri iuris epitomarum; oder sie überwiesen eigene Abschnitte ihres Systems 
der Besprechung des Inhaltes von einzelnen der vornehmsten Volksgesetze 
und kaiserlichen Constitutionen, wie dies einigermassen aus dem Zuschnitte 
der Yaticana fragmenta gefolgert werden darf; so dafs der, gleichzeitig mit 
der Wissenschaft mehr und mehr versinkenden Praxis des einheimischen 
Rechts in solchen Compilationen eine Aushülfe geboten zu sein schien für 
das mühsame Studium der Originale jener excerpirten Commentare zum 
Ediet und zu den einzelnen Leges. Freilich kann hier die Rede nur sein 
von demjenigen literarischen Apparate, der als ein Gemeingut der Rechts- 
lehrer und Rechtspracticanten jener Zeit angesehn werden darf. An Bei- 
spielen vereinzelter Ausnahmen fehlt es nicht durchaus. Um die Mitte des 
fünften Jahrhunderts n. Chr. werden von einem gleichzeitigen Berichterstat- 
ter (°) Vorträge eines Rechtsgelehrten über das Zwölftafelgesetz mit Aus- 
zeichnung erwähnt. Und dafs noch im Zeitalter Justinian’s die Originale 
der Werke classischer Juristen, deren unmittelbare Benutzung in der Praxis 
so gut wie ganz aufgehört hatte, nicht blos in den öffentlichen Bibliotheken 
sondern auch in den Privat-Sammlungen gelehrter Practiker anzutreffen 


(°) Vergl. die angeführte Const. ad antecessores. $.1. 
(*) Burchardi Staats- u. Rechts Gesch. d. Röm. (Lehrb. d. R. Rs. Th. 1.) S. 149. 
Anm. 8. Stutg. 1841. 8. 


(°) Sidonius Apollinar. carm. 23. v. 446. sqq. Vergl. Bach Histor. iurispr. rom. 
III. 4. sect.3. $. 4. not. *. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 155 


waren, erhält eine ausdrückliche Bestätigung durch die Meldung Justinian’s 
von dem, was die Beflissenheit Tribonian’s für die Herbeischaffung des rei- 
chen Materials zu der von diesem geleiteten Redaction der Pandekten gelei- 
stet habe. (°) 

Justinian’s Verordnungen über die neue Einrichtung des juristischen 
Lehrunterrichts, (7) und über die Behandlung seiner eigenen Rechtscompi- 
lationen durch die Männer der Wissenschaft gleichwie durch jene der Pra- 
xis, (°) nämlich die Beschränkung auf die Benutzung der Rechtsbücher des 
Kaisers, mit Hintansetzung jeder Berücksichtigung solcher älterer Rechts- 
organe, aus denen das compilirte Material der neuen offieiellen Sammlungen 
entlehnt worden war; sodann das ausdrückliche Verbot aller schriftstelleri- 
schen Versuche zur Erläuterung der Texte dieser kaiserlichen Compilatio- 
nen, — mögen durch den damaligen Zustand der Rechtspraxis entschuldigt 
werden. Zu rechtfertigen dürften dieselben gleichwohl nicht sein, auch 
wenn man überhaupt das Postulat einer, von jeder wissenschaftlichen Richt- 
ung unabhängigen, Rechtspraxis für ausführbar halten wollte; oder wenn 
man in Justinian’s Rechtsschulen blofse Anstalten zur Abrichtung für die 
Candidatur von richterlichen Ämtern gewahr werden und geneigt sein möchte, 
auf den schon lange vor Justinian’s Regierung zur wissenschaftlichen Nich- 
tigkeit herabgesunkenen Zustand der einheimischen Rechtskunde zu verwei- 
sen, der auch abgesehen von solchen beschränkenden Verfügungen die Bild- 
ung einer neuen selbstständigen Rechtsdoctrin als etwas hoffnungsloses 
würde haben erscheinen lassen. 

Unter den Nachfolgern Justinian’s konnte an eine Rückkehr zu den, 
durch diesen Kaiser geflissentlich der Vergessenheit übergebenen, Quellen 
des älteren römischen Rechts überall nicht gedacht werden. Die Lehrer 


(°) Const. Tanta. De confirmat. Digestor. $. 17. Dals nichtsdestoweniger manche 
Schriften, selbst der namhaftesten Rechtsgelehrten, nicht mehr vollständig durch Justinian’s 
Compilatoren ermittelt werden konnten, erhellet aus dem Vermerk des Index Florent. Pan- 
dectar., dals von des Gaius Comm. ad Edict. urbie. nur zehn Bücher vorgefunden wor- 
den seien. Vergl. A. Augustinus de nomin. propr. Pand. p. 95. not. a. (in E. Otto 
Thesaur. I. €. T.I.) 

(’) Vergl. oben Anm. 1. 


(°) Const. Deo auctore. (De concept. Dig.) SS. 2.4. sq. Const. Tanta. (De confirm. 
Dig.) S$- 12 sq. 
U2 


156 Dırxksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


des byzantinischen Rechts fanden hinreichende Beschäftigung bei der Erle- 
digung dieser Aufgabe, die für die Praxis ihrer Zeit noch anwendbaren Be- 
stimmungen aus den vereinzelten Überlieferungen der Gesetzgebung Justi- 
nian’s, gegenüber den abändernden Verfügungen späterer Kaiser und den 
modificirenden Vorschriften der kirchlichen Disciplin und Gesetzgebung, 
übersichtlich zusammenzustellen, zugleich auch deren Sprache und Inhalt 
dem Verständnis der Zeitgenossen näher zu bringen. Aus diesen Bestreb- 
ungen gingen hervor zunächst die, zum Theil noch erhaltenen, Leistungen 
der Scholiasten für die Texte der Justinianischen Gesetzgebung, gleichwie 
die Abfassung verschiedener Rechtsbücher; ferner das umfassende Unter- 
nehmen der Basiliken-Compilation, an welche wiederum die späteren Scho- 
lien und Handbücher des geltenden Rechts sich schlossen. (?) Alle diese 
Versuche ruhen auf der breiten Grundlage der Gesetzgebung Justinian’s, (1°) 
so dafs nicht nur die Rechtspracticanten angewiesen waren, zum Verständnis 
der Basiliken und der verschiedenen Rechtshandbücher Belehrung aus der 
Compilation des genannten Kaisers zu schöpfen, sondern dafs auch die ge- 
sammte Rechtskunde der Juristen des Nach -Justinianischen Zeitalters nicht 
hinaus reichte über den Apparat, dessen Mittelpunkt das umfangreiche Ma- 
terial der Legislation Justinian’s bildete. 

Diese Andeutungen mögen genügen, um das Verfahren derjenigen 
Ausleger als ein höchst bedenkliches erscheinen zu lassen, welche aus den, 
bei den juristischen Zeitgenossen Justinian’s oder in den griechischen und 
lateinischen Schriftwerken der rechtskundigen Referenten des Nach - Justi- 
nianischen Zeitalters vorkommenden, Meldungen über Gegenstände des äl- 
teren römischen Rechts zu folgern geneigt sind, dafs denselben eine unmit- 
telbare Benutzung Vor-Justinianischer Rechtsqueilen, und zwar unter’ den 
Organen des klassischen Juristenrechts vorzugsweis jene der Institutionen 
des Gaius, zu Grunde gelegen habe. Uns will es vielmehr bedünken, dafs 
die Zeitgenossen Justinian’s, die im Bereiche der byzantinischen Herrschaft 


(°) Vergl. C.'G. E. Heimbach de Basilicor. orig. fontib. ete. Lips. 1825. 8. C. E. 
Zachariae Hist. iur. graeco rom. delineat. Heidelb. 1839. 8. Böcking’s Institutionen. 
S. 95. fg. 

(‘%) S. C. Witte Üb. einige byzant. R’s Compendien. (Rhein. Museum f. Jurisprdz. 
Jahrg. 2. S. 275. fg. Jahrg. 3. S. 23. fg.) 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 157 


lebten, (1!) namentlich Theophilus, zwar Kunde hatten von den, dem 
früheren Lehrunterricht und dem Gebrauche der älteren Praxis geläufig ge- 
wesenen, Schriften der juristischen Classiker, z. B. des Gaius; dafs sie 
jedoch nur denjenigen Gebrauch davon zu machen wagten, der nicht in of- 
fenen Confliet gerieth mit dem Verbote des Kaisers, andere Organe der 
Rechtskunde als die Resultate seiner eigenen Gesetzgebung zu benutzen. 
Sie waren nämlich bemüht, die aus jenen Juristenwerken entlehnten Notizen 
den Mittheilungen der Justinianischen Rechtsbücher über dieselben Gegen- 
stände nicht blos äusserlich unterzuordnen, sondern auch durch künstliche 
Verknüpfung und Deutung in scheinbaren Einklang damit zu bringen. Da- 
gegen bei den Berichterstattern aus dem umfangreichen Zeitraum der byzan- 
tinischen Rechtsbildung nach Justinian dürfte überall nicht an eine unmittel- 
bare, wenn auch noch so sehr beschränkte, Handhabung Vor-Justinianischer 
Rechtsquellen zu denken sein. Die von diesen Gewährsmännern benutzten, 
auf das ältere Recht bezüglichen, Quellen überschreiten kaum irgendwo das 
Gebiet der Justinianischen Compilation und den Kreis der an dieselbe sich 
schliessenden Ausleger. Freilich mochte auch solchen Führern manche 
werthvolle Überlieferung zu entnehmen sein, allein nur gar zu leicht wurde 
deren historische Treue verdächtig gemacht durch die unkritische Benutzung 
und Deutung abseiten eines Epitomators der späteren Zeit. 


1. 


Um die so eben aufgestellte Behauptung in Beziehung auf die Insti- 
tutionen-Paraphrase des Theophilus, gleichwie mit Rücksicht auf die 
Arbeiten der griechischen Scholiasten und Epitomatoren späterer Zeit ge- 
hörig zu begründen, würde eine selbstständige umfassende Untersuchung 
unerlässlich sein. Nicht um eine solche zu ersetzen, sondern nur um die 
Ergiebigkeit derselben durch ein vereinzeltes Beispiel anzudeuten, mögen 
die folgenden Bemerkungen hier eine Stelle finden. 

Das verdienstliche Bestreben neuerer Civilisten, den Gewinn anschau- 


('') Begreiflich ist hier nicht die Rede von denjenigen Theilen des ehemaligen römi- 
schen Oceidents, die der byzantinischen Herrschaft fremd blieben und in denen Justinian’s 
Gesetzgebung keine Geltung hatte. 


155 Dinksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


lich zu machen, den das Studium des Justinianischen Rechts aus der Be- 
nutzung der uns überlieferten griechischen Bearbeitungen der Organe dieses 
Rechtseyclus zu schöpfen vermag, ist nicht frei von Übertreibung geblieben. 
Vor allem hat man die historische Glaubwürdigkeit der griechischen Insti- 
tutionen-Paraphrase des Theophilus gegen jede Verdächtigung ihrer An- 
gaben in Schutz genommen, auch da wo es sich um Einzelheiten des alten 
römischen Staatsrechts handelt, und wo entschieden das Institutionen-Werk 
des Gaius als Führer nicht benutzt sein konnte. Dies gilt besonders 
von der folgenden Erzählung des Theophilus. (!?) Auf Veranlassung des 
erneuerten Ausbruches jenes alten Streites der Patrieier und Plebejer Roms 
hinsichtlich der Frage: ob die Plebiscite ausser den Plebejern auch die Pa- 
tricier, und ob die Senatsbeschlüsse die Mitglieder jenes so wie dieses Stan- 
des als allgemein geltende Gesetze verpflichten sollten? habe ein Patriot Na- 
mens Hortensius das versammelte Volk durch die beredte Schilderung 
der, aus einem solchen Zerwürfnis der Stände zu besorgenden Gefahr für 
das Staatswohl, zu dem Übereinkommen vermocht, dafs hinfort sowohl den 
Beschlüssen der Plebs als auch jenen des Senates die Geltung allgemeiner 
Landesgesetze zu gewähren sei. Die Einzelheiten dieses Berichtes kommen 
scheinbar überein mit der, durch classische Zeugen (1?) verbürgten That- 
sache, dafs die schon durch frühere Gesetze beglaubigte Gleichstellung der 
scita plebis und populi schliesslich durch die Lex Hortensia eine, von jeder 
ferneren Anfechtung frei gebliebene, Anerkennung erhalten habe und dafs 
diese Sanction durch den Dictator Hortensius, bei Gelegenheit einer se- 
cessio plebis, zu Stande gekommen sei. Es haben daher neuere Historiker (!*) 
kein Bedenken getragen, den Zusatz in der Darstellung des Theophilus 
für beglaubigt zu halten, als ob gleichzeitig mit den Plebisciten auch den 
Senatusconsulten die Autorität allgemeiner Volksbeschlüsse zu Theil gewor- 
den sei. Allein hier treten dem unbefangenen Kritiker die erheblichsten 
Bedenken entgegen. Wir wollen nicht aufmerksam machen auf den drin- 


(2) Baraphr. I. 2 

(®) A. Gellius N. A. XV. 27. Plinius H. N. XV1. 10. Gaius inst. comm. 1.2-4. 
Fr.2. 8.8. D. de orig. iur. 42 

(*) Niebuhr röm. Gesch. III. 490. fg. Puchta Gursus d. Institution. 'Thl. 4. $. 75. 
Böcking Institutionen. S. 22. Anm. 2. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 159 


genden Verdacht eines leichtsinnigen Spiels mit geschichtlichen Thatsachen, 
dem der vorstehende Bericht unsers Paraphrasten an dieser Stelle unterliegt, 
wo die Beredsamkeit des Hortensius auf eine Weise geschildert ist, so 
dafs man unwillkührlich an den Inhalt der bekannten Rede des Menenius 
Agrippa bei der ersten secessio plebis erinnert wird. ('**) Auch mag nicht 
hingewiesen werden auf die Spur einer, an einem andern Orte derselben 
Schrift (1%) sichtbaren, geschichtlichen Fälschung. Es ist nämlich der Ur- 
sprung des Aquilischen Gesetzes, über die Bestrafung der widerrechtli- 
chen Beschädigung fremden Eigenthums, hergeleitet aus einem zwischen der 
Plebs und dem Senate entstandenen Streit; obwohl zu einer solchen Vor- 
aussetzung gar kein Grund vorliegt. (1%) Dagegen glauben wir auf die fol- 
genden Einwendungen Gewicht legen zu dürfen. Zunächst erscheint es dem 
Zeitalter des Hortensischen Gesetzes nicht mehr angemessen, die Körper- 
schaft des römischen Senates als identisch mit dem Stande der Patricier auf- 
zufassen, und ebensowenig dürfte die Identificirung der Senatoren mit der 
Parthei der Optimaten (!7) dem politischen Glaubensbekenntnis jener Zeit 
beizulegen sein. Dagegen als ein Product des Zeitalters von Justinian darf 
man die Verwechslung der Begriffe von Patriciern und Senatoren, oder viel- 
mehr die formelle Gleichstellung derselben nach den äusseren Verhältnissen 
des Ranges, für gerechtfertigt halten. (1%) Ferner ist zu bedenken, dafs kei- 
ner der classischen Referenten, welche des Inhaltes der Lex Hortensia ge- 
denken, irgend eine Hinweisung auf die Geltung der Senatsbeschlüsse in 
Verbindung damit gebracht hat. Dies Schweigen mufs besonders bei 


) 
Gaius, da wo derselbe von der Gesetzeskraft der Senatusconsulte handelt, 


('*) Man könnte dies als eine Präcedenz der masslosen Parachronismen gelten lassen, 
denen man in den Geschichtswerken der späteren Byzantiner begegnet. Vergl. unten 
P $ se: 5 
Anm. 61. 


(ER IOAEV RS 


('%) Man darf es kaum für möglich halten, dafs Theophilus durch eine plumpe Mis- 
deutung der entsprechenden Ausdrücke in dem Texte der Institutionen Justinian’s (nam 
plebem romanam, quae Aquilio tribuno interrogante hanc legem tulit, contentam fuisse 
quod prima parte eo verbo |sc. plurimi] usa esset,) zur Annahme einer solchen Voraus- 


setzung sei verleitet worden. 


(') Die zuletzt genannte Beziehung wird von Puchta a.a.O. geltend gemacht. 


('°) Vergl. $.4. I. de iure nat. 1.2. und Theophilus ebendas. 


160 Dırksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


als vollkommen unbegreiflich erscheinen. Man hat daher (1%) in der folgen- 
den Äusserung desselben (I. 4. $. C. est, quod Senatus iubet atque conslituit; 
idque legis vicem oblinet, gquamvis fuerit quaesitum.) eine indirecte An- 
deutung der, bei einer Differenz der Stände oder der politischen Partheien 
erfolgten, Anerkennung dieser Rechtsquelle gewahr werden wollen. Allein 
es wurde dabei übersehn, dafs eine solche Auslegung dem Sprachgebrauche 
der classischen Juristen nicht zusagt, der den Ausdruck quaerere bei Rechts- 
fragen nur auf doctrinäre Erörterungen bezieht, nicht auf politische. Dane- 
ben hat man ganz ausser Acht gelassen, dafs Gaius an jener Stelle, im Ge- 
gensatz zu dem unmittelbar zuvor über die Plebiseite und unmittelbar hin- 
terher über die kaiserlichen Oonstitutionen berichteten, aufmerksam darauf 
machen wollte, dafs die factische Geltung der Senatsbeschlüsse nicht auf 
der Anerkennung durch ein ausdrückliches Gesetz beruhe, und daher auch 
nicht der Anzweifelung ihrer Rechtmässigkeit habe entgehn können. (2°) Nur 
darin mag man recht haben, dafs Theophilus selbst in den Ausdrücken 
des Gaius eine Hinweisung auf politische Motive gewahr geworden sei. Und 
ein solches Postulat ist muthmasslich die Quelle der historischen Verunstalt- 
ung geworden, die seinem Berichte zur Last fällt. Er glaubte nämlich, seiner 
Umschreibung des Justinianischen Institutionen Textes, der die Worte des 
Gaius verkürzt wiedergiebt, zugleich aber die dem Juristen Pomponius(?!) 
entlehnte Nachricht hinzufügt über diese, am Anfange der Kaiserregierung 
eingetretene, Neuerung, dafs die factische Ausübung der allgemeinen Ge- 
setzgebung dem Volke entzogen und auf den Senat übertragen worden sei, 
einen künstlichen Zusammenhang und eine scheinbare Begründung zuwenden 
zu müssen. Der zuletzt genannte Jurist hat in dem bezüglichen Pandekten- 
Fragment diese Reform mit dem Ursprunge der Senatsgesetze überhaupt in 
Verbindung gebracht, nachdem er unmittelbar zuvor von der Geltung der 
Plebiseite in Gemässheit der, durch eine secessio plebis hervorgerufenen, Lex 
Hortensia gehandelt hatte. Eine flüchtige Verknüpfung aller dieser verschie- 
denartigen Referate scheint nun eben die Quelle jener wunderlich redigirten 


('”) Nämlich Puchta a.a. O. S. 291. Anm. c. Aufl. 2. 


() Dem Ausdruck in $. 4. quamvis fuerit quaesitum, entspricht in $. 5. die Bezeich- 
nung des Gegensatzes: nec unguam dubitatum est; so wie die Terminologie Ulpian’s 
(Dig. 1.3. Fr. 9. 1.4. Fr. 1. SS. 1.2. non ambigitur, und constat. 


CO) Er. 2.8.92 vergl. 8.8. D. 1.1.1.2. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 161 


Darstellung des Theophilus geworden zu sein. Man ist nicht berechtigt, 
dieselbe als die treue Copie der Mittheilungen eines vereinzelten classischen 
Gewährsmannes anzusprechen; vielmehr stellt sie sich dar als das Ergebnis 
des Versuches, die historischen Referate der Institutionen Justinian’s aus den 
scheinbar entsprechenden Ausführungen anderer Stellen der Rechtsbücher 
desselben Kaisers zu ergänzen. (?'°) 

Neben Theophilus mag noch der griechischen Epitome legum eines 
Ungenannten hier gedacht werden, welche selbst das Jahr 920. n. Chr. als 
den Zeitpunkt ihrer Abfassung verzeichnet enthält. (?) In derselben ist 
mehr, als in den gleichzeitigen und späteren Redactionen von gleichartigen 
Materialien, neben dem unmittelbar practischen Recht auch auf die Ge- 
schichte des älteren römischen Rechts Rücksicht genommen. (2?) Allein es 
beschränkt sich dies auf einen dürftigen und ungenauen Auszug des bekannten 
Pandekten-Fragments aus des Pomponius ber singularis enchiridü. (*) 
Als Einleitung desselben ist die rhetorische Phrase vorangestellt, wie die rö- 
mischen Herrscher stets von dem Bestreben geleitet worden seien, ihre Feinde, 
nachdem sie dieselben durch die Gewalt der Waffen bezwungen, auch durch 
die Wohlihaten einer weisen Gesetzgebung zu beglücken. Diese bannale 
Formel, der man in verschiedenen Erlassen Justinian’s (2°) begegnet, ist hier 
einem ungenannten Weisen beigelegt. Darauf folgt ein Auszug der einleiten- 
den Bemerkung aus dem, in Justinian’s Pandekten vor jenem Excerpt des 
Pomponius figurirenden, Fragment des AH Tafel Commentars von Gaius, (2°) 
worin das Bedürfnis einer historischen Übersicht für die Prüfung der Bil- 
dung des römischeu Staats und Rechts besprochen ist. Und daran ist die 
Äusserung geknüpft, dafs von den Rechtsgelehrten zuerst zu nennen sei Ga- 


(°'°) Entsprechend ist das unkritische Verfahren des Jos. Lydus, eines Zeitgenossen 
von Theophilus. Vergl. des Verf. Vermischt. Schriften. Th. 1. no. 3. S. 50. fg. Berl. 
1841. 8. i 

() Man findet einen Abdruck des kritisch berichtigten Textes in dem Anhange zum 
Prochiron Basilii, p. 287. sqq. ed. Zachariae. Heidlb. 1837. 8. und in den Heidelberg. 
Jahrbüchern, Jahrg. 1842. no. 45. S. 709. Vergl. dessen Hist. iur. gr. rom. $. 37. p. 61. sq. 

(®) Vergl. das in $. 4. dieser Epitome bemerkte. 

(23), ZB 2, Dgl21222 

() Dies hat schon Zachariae nachgewiesen, in dem Prochir. Basilii. p- 288. not. 9. 

CHE Er21.2DeodsAe. 

Philos. - histor. Kl. 1847. x 


162 Dinzsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


ius, dann aber Pomponius; denn dieser habe von der dem Romulus zuge- 
schriebenen Eintheilung des Volkes in Curien gehandelt, imgleichen von 
der Gesetzgebung der XII Tafeln, und von den andern Ereignissen bis zur 
Alleinherrschaft August’s. Esliegtnun zu Tage, dafs Gaius und Pompo- 
nius hier blos deshalb neben einander genannt sind, weil die beiden Aus- 
züge aus deren Schriften ausschliesslich den Inhalt des bekannten Abschnittes 
der Justinianischen Pandekten bilden, welcher mit der Geschichte des älte- 
ren römischen Rechts sich beschäftigt. Der darauf folgende Auszug aus den 
einzelnen Mittheilungen des Pomponius ist gleichfalls nicht frei geblieben 
von dem Einflusse monströser Misverständnisse. Die Autorschaft der Lex 
Tribunieia, über die Ausschliessung der königlichen Herrschaft und über die 
Vertreibung der Tarquinier, welche Pomponius selbst (°”) dem Jun. Brutus 
beigelegt hat, ist durch unsern Epitomator für den König Tarquinius in An- 
spruch genommen. Und was am Schlusse, über die Plebiscite, Senatuscon- 
sulte und K. Constitutionen, aus den verschiedenen Äusserungen des Pom- 
ponius (2?) zusammengetragen worden, verschafft keine klare Anschauung 
der älteren historischen Zustände, und erinnert an das zuvor von uns gerügte 
Verfahren des Theophilus bei einer gleichen Veranlassung. 

Den Anhang zu diesem Auszuge aus dem Fragment des Pomponius 
bildet eine kurze Bemerkung über die Redaction des prätorischen Edietes 
unter Hadrian’s Regierung und über die Compilation der Justinianischen Pan- 
dekten, nebst einer summarischen Bezeichnung der, durch K. Leo’s Veran- 
staltung zu Stande gekommenen, Abfassung der Basiliken. (??) Die Notiz über 
die Redigirung des Edietum perpetuum erinnert, durch ihre Zusammenstell- 
ung mit Justinian’s Pandekten-Compilation, an die Ausführung des nämli- 
chen Gegenstandes in dem Publications- Patent der Pandekten (°°) so sehr 
dafs man berechtigt ist, dieselbe als die dort unmittelbar benutzte Quelle 
anzusprechen. Nur die vereinzelte Angabe unsers Epitomators, dafs ausser 
Salv. Julianus auch noch ein gewisser Servius Cornelius durch Hadrian 


(@) Fr. 2. 88.15. sq. eod. 1.2. 

Cöschr: SS. 8. bis 12. eod. 1.2. 

(@°) S. 88.2.3. der Epit. (p. 292. sq. bei Zachariae a.a. O.) 

(°) Const. Tanta. (De confirm. Dig.) $$. 17. sq. Vergl. Puchta a.a. O. $. 114. S.553. 
Anm. u. 


D WS 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen - Handschrift. 163 


bei der Redaction des Edictes beschäftigt worden sei, kann nicht aus dieser 
Überlieferung geflossen sein, da sie derselben vollkommen fremd ist. Nichts- 
destoweniger wird gerade diese Nachricht von vielen (°!) für verlässlich ge- 
halten und auf die Benutzung einer unbekannten Vor-Justinianischen Rechts- 
quelle zurückgeführt; obwohl ein Rechtskundiger Namens Cornelius nicht 
unter den Zeitgenossen Julian’s, sondern unter jenen des mit Cicero gleich- 
alterigen Servius Sulpieius Rufus genannt wird. (°?) Es will uns bedün- 
ken, dafs die zuvor besprochenen Beispiele des entschieden unkritischen Ver- 
fahrens unsers Epitomators die Voraussetzung als ganz überflüssig erscheinen 
lassen, es möge nur in der Rechtschreibung des Namens Servius Corne- 
lius ein Versehen untergelaufen sein. (°*) Wir sind vielmehr berechtigt, 
den fraglichen Zusatz in dem Berichte des Compilators als einen irrthünli- 
chen (*°°) zu bezeichnen und über dessen Ursprung die folgende Vermuthung 
aufzustellen. Des Pomponius Mittheilungen über den geschichtlichen Bil- 
dungsgang der Organe des römischen Rechts schliefsen mit der Namhaftma- 
chung des Juristen Salvius Julianus, ohne dafs die Rede ist von dessen 
Betheiligung bei der Redaction des Pr. Edietes. Nun mochte der Epitoma- 
tor vielleicht sich erinnern, bei demselben Pomponius kurz zuvor dem Namen 
des Rechtsgelehrten Servius Sulpicius begegnet zu sein, welchem ein frü- 
herer Versuch zur Bearbeitung der Edieta Prätorum zugeschrieben wird. (°*) 
Indem er nun die ungleichzeitigen Unternehmungen von Servius und Julian 
bezüglich des prätorischen Edictes verknüpfte, überdem aber aus den von 


(‘) Vergl ausser Zachariae selbst, (z.B. in d. Heidelberg. Jahrbch. 1842. no. 45. 
S. 710. fg.) Burchardi a.a. ©. $. 111. F. Walter Gesch. d. R. Rs. Thl. 2. $. 418. 
Anm. 16. Aufl.2. Böcking’s Institutionen. Bd.1. S. 30. Anm. 11. S. auch Puchtaa.a. O. 

(?) In Fr. 16. pr. D. de instr. leg, 33.7. Es dürfte dieser identisch sein mit dem, 
in Fr. 2. 8.45. D. de O. I. 1.2. genannten Cornelius Maximus. $. Gr. Maian- 
sius comm. in XXX. I. Ctor. Frr. T. II. p. 127. sq. Genev. 1764. 4. Zimmern a.a.O. 
$. 80. z. Anf. 

(°°) Man könnte vielleicht an Valerius Severus denken, (Zimmern cebds. $. 90. 
Anm. 6. fg.) der als ein Zeitgenosse Julian’s und als Ausleger des Edieis erwähnt wird. 
Fr. 8. pr. D. de procur. 3.3. Fr. 30. de neg. gest. 3.5. 

(°°) Denn weder das über die Stellung Hadrian’s zu dieser Redaction angedeutete, 
noch auch das über die systematische Anordnung der Compilation ausdrücklich gesagte ist 
geeignet, Vertrauen zu erwecken zu den benutzten Quellen und zu deren Auslegung. 

@) Fr. 2.8.4& D. eod.'1.2. 

x2 


164 Dirxsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


Pomponius angeführten gleichzeitigen beiden Juristen Cornelius Maximus 
und Servius Sulpicius eine einzige Person construirte, (°°) machte er kei- 
nes grösseren Verstosses gegen die Chronologie sich schuldig, als er bereits 
in dem vorangestellten Abschnitte seiner Darstellung gethan hatte. 


1. 


Die beiden bis hierher besprochenen Proben einer kritiklosen Behand- 
lung Vor-Justinianischer Rechtsquellen, welche absichtlich aus dem Bereiche 
der Regierung Justinian’s und aus dem Kreise eines ungleich späteren Zeital- 
ters der byzantinischen Herrschaft entlehnt worden sind, sollten nur als Vor- 
bereitung dienen für die Erledigung unserer eigentlichen Aufgabe. Diese 
besteht darin, die allgemein verbreitete Ansicht von dem hohen, vielleicht 
bis auf die Tage Justinian’s zurückgehenden, Alter der sg. Turiner Insti- 
tutionen-Glosse einer sorgfältigen Kritik zu unterwerfen, und daneben die 
Stellung zu prüfen, welche eines der jüngsten, nichtsdestoweniger aber das 
bedeutendste der auf uns gekommenen, Handbücher des byzantinisch - römi- 
schen Rechts, nämlich der Hexabiblus d.h. das in sechs Bücher abgetheilte 
TIgox.ıgov vouwv des ConstantinusHarmenopulus, gegenüber der Gesetz- 
gebung Justinian’s und den Quellen des Vor-Justinianischen Rechts, ein- 
nimmt. (°) 

Wir beginnen mit dem zuletzt genannten Rechtsbuche, dessen Chro- 
nologie durch die Aussage eines glaubwürdigen Zeugen (°7) festgestellt ist, 
welcher die Abfassung desselben in das Jahr 1345. n. Ch. unter die Regie- 
rung des K. Johannes Palaeologus verlegt und den Verfasser als kaiser- 
lichen Archivarius und Präfeeten der Stadt Thessalonich bezeichnet. Über 
den Plan seines Unternehmens hat Harmenopulus selbst, in der dem Werke 


(°) Vergl. zuvor Anm. 32. 

(°°%) Die Literaturgeschichte dieses Unternehmens (vergl. darüber Heimbach a.a. O. 
Sect.1. c. 6. 88.8.9. p. 132. sqq. und Zachariae Hist. iur. gr. rom. $.49.) liegt uns 
hier ganz fern. 

(7) Dals dies Philotheus, Patriarch von Constantinopel, gewesen sei, scheint auf 
einer blossen Vermuthung zu beruhen. Vergl. G. O. Reitz, in der Praefat. seiner Aus- 


gabe des Harmenopulus. p. V. (in dem Supplement. zu Meerman’s Thesaur. nov. iur. civ. 
et can.) Heimbach a.a. O. p.133. Zachariae a.a. ©. $.49. p. 79. not. 68. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen - Handschrift. 165 


vorangestellten IIgoSewgie, (3?) bestimmt genug sich ausgesprochen. Er sei, 
so sagt er, durch Zufall zu der Lecture des Rechtshandbuches der Kaiser 
Basilius, Constantinus und Leo gelangt, und durch die der Schrift vorausge- 
schickte Ankündigung der Absicht dieser erlauchten Verfasser, eine vollstän- 
dige Übersicht aller für die Praxis der Gegenwart brauchbaren Rechtsregeln 
in summarischer Redaction herzustellen, (°”) in hohem Grade angesprochen 
worden. Allein die Prüfung des Inhaltes des fraglichen Werkes habe ihm 
bald zu der Überzeugung verholfen, dafs die Ausführung weit zurückgeblie- 
ben sei hinter dem ursprünglichen Plane, indem es derselben sowohl an Voll- 
ständigkeit des Materials gebreche als auch an Genauigkeit der Redaction. 
Er selbst habe daher durch die Wiederholung des Versuches das nämliche 
Ziel mit besserem Erfolge zu erreichen sich bemüht. Auch er beabsichtige 
nur, ein Handbuch zu liefern zu einer summarischen Übersicht der noch gel- 
tenden Rechtsregeln. Allein das Material für dasselbe sei nicht blos aus den 
Texten der officiellen Rechtssammlung und der Novellen der späteren Kai- 
ser, sondern auch aus den Edieten der Präfecten gleichwie aus verschiedenen 
juristischen Handbüchern, sorgfältig zusammengetragen und nach einem um- 
fassenden System geordnet worden. 

Die Ausstellungen des Harmenopulus gegen das Prochiron der genann- 
ten Kaiser sind, von seinem Standpunkte aufgefasst, nicht für übertrieben 
zu erachten. Man kann daher des, zur Vermittelung vorgeschlagenen, (*°) 
Postulates füglich entrathen, als ob unser Jurist nicht jenes vervollständigte 
Prochiron, sondern blos die Ecloge von Leo und Constantin in Hän- 
den gehabt habe. (*') Die Bestätigung des, über die Einrichtung seiner eige- 
nen Arbeit gesagten, finden wir theils in anderen beiläufigen Ausserungen 
des Verfassers, (*°) theils in den Einzelheiten der Ausführungen desselben. 
Eine solche Zusammenstellung ergiebt, dafs Harmenopulus ausser den, durch 


(°) Reitz a.a.O. p.6.sq. Vergl. Witte a.a.O. Bd.2. S.285. Bd. 3. S. 39. fg. S.59. fgg. 

(°°) Damit stimmt überein die Erklärung dieser Kaiser in dem Prochiron auctum, Prooem. 
SS. 1.2. (ec. 8. $.20. p. CLXVI. sq. ed. Zachariae.) 

(%) Heimbach a.a.0. Sect.1. c. 5. 8.7. p. 113.sgq. 

(*) Vergl. Zachariae’s Ausg. des Prochiron. c.1. $.4. c.2. $.5. p. XVII. sqq. 


() z.B. in der Bemerkung am Schlusse einer Ausführung, (IV. 6. $.42.) es sei das 
vorstehende ein Auszug aus den geltenden Gesetzen, mit Berücksichtigung des, für die 
Rechtspraxis der Gegenwart noch anwendbaren Bestandtheiles ihres Inhalts. 


166 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


ihn namentlich bezeichneten, Organen des weltlichen Rechts auch von den 
Quellen des Kirchenrechts seiner Zeit, nämlich von den Canones Apo- 
stolorum (*) und von den Beschlüssen einzelner Synoden, (*) Gebrauch 
gemacht hat für diese Compilation. Die in seinem Vorberichte angekündigte 
Benutzung der Ediete der Präfecten hat ihren Mittelpunkt in dem Abschnitte, 
der von der Bebauung und Nutzung der Grundstücke handelt, (*) wo man 
einer Kette von Auszügen begegnet aus dergleichen Verordnungen, welche 
ausser der Baupolizei auch mit den auf dieselbe bezüglichen Gegenständen 
der Gewerbepolizei sich befassen. Von den Rechtsbüchern anderer Verfas- 
ser hat Harmenopulus, ausser den Werken einiger nicht näher bezeichneter 
Autoren, (46) mit Auszeichnung genannt die Arbeiten des Patricius (*”) und 
7& "Punaina rev Mayiorgov Acyoneva. (*9) Über die Identität des zuerst genann- 
ten Juristen, der noch vor und unter Justinian’s Regierung lebte und in den 
Rechtsquellen der Periode nach Justinian als eine bedeutende Autorität her- 
vortritt, (4?) ist kein Streit; während bei dem zweiten sowohl die Ächtheit 
des Namens als auch dessen Zeitalter vielfach in Frage gestellt wird. (°°) Es 
erscheint indess die Vermuthung (°!) als wohl begründet, dafs derselbe nach 
der Zeit der Basiliken-Compilation geblüht, und in seinen Schriften ein aner- 
kennenswerthes Studium der Justinianischen Rechtsbücher bethätigt habe. 
Unter den Werken der nicht näher bezeichneten Rechtsgelehrten hat Har- 
menopulus von dem bekannten Handbuche des Michael Attaliata (°) zwar 
Kenntnis genommen, jedoch nur hinsichtlich der in der Einleitung desselben 
enthaltenen geschichtlichen Notizen, und nicht in Beziehung auf den dogma- 
tischen Bestandtheil von dessen Inhalt. Denn hier weichen beide Rechts- 


(?) z.B. III. 6. 8.7. 

(“)  Vergl. IV. 6. 88.16. 20. fgg. 43. IV. 7. 8.32. IV.12. $.7. 

(*) Lib. II. Tit. 4. SS. 12. - 56. 

() z.B. III.8. SS. 3. fgg. 

(7) 1.3.8.58. 1.4. 8.69. II. 10. 8.43. II. 5. 8.88. TV. 12. 8.10. 

(5) 1.6.8.8. 1.13. 8.33. IL. 10. $. 12. IM. 3. $8. 7.411. 118. II. 5. 8. 32. IV.8. 8-45. 
Iv.9. 8.21. V.8. 8.16. V.9. 88.11.19. V. 10. 8.18. VI.2. 8.15. 

(*) Heimbach a.a. O. Sect.1. c.4. $.2. Zachariae a.a.0. c.2. $.14. p. 21. 

(°) Cuiacius Obss. VI. 10. Heimbach ebds. c. 6. $. 8. p. 134. sq. 

(') Derselbe, a. a. O. 


(°°) Vergl. unten Anm. 62. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 167 


bücher, in der Begrenzung gleichwie in der Handhabung ihres Stoffes, er- 
heblich von einander ab. 

Die in jener Übersicht der benutzten Quellen von Harmenopulus an- 
gewendete Bezeichnung des Corpus der Gesetzes- Texte ist von der Basili- 
ken-Compilation zu deuten, wie sowohl aus der hinzugefügten Erwähnung 
der sg. Synopsis minor, (70 wıngov nara Frorysio,) als aus der Umschreibung 
der moaynareia von sechszig Büchern gesetzlicher Texte, am Schlusse jener 
mgoIenpia, abgenommen werden kann. Auch kommt damit überein nicht 
nur die, in dem Texte unserer Compilation bisweilen anzutreffende, aus- 
drückliche Verweisung auf einzelne Stellen der Basiliken (°*) und der Syn- 
opsis minor, (?°) sondern mehr noch die, dem Vorbilde der Basiliken-Com- 
pilation angepasste, Methode der Behandlung und Bezeichnung des redigir- 
ten Materials. Harmenopulus hat den Auszügen aus Justinian’s Constitutio- 
nen gleichfalls nicht die Namensangabe der Verfasser vorangesetzt, und ist 
auch bei den Inhaltsangaben der Verordnungen früherer Kaiser ebenso ver- 
fahren; denn die wenigen Ausnahmen, auf die man stösst, (°°) sind fast nur 
als zufällige Abweichungen zu betrachten. Ausserdem finden wir bei den 
Mittheilungen aus dem Juristen-Recht die, sogar in den Basiliken beobach- 
tete, Nachweisung der Namen der Verfasser unterdrückt; welches Verfahren 
manche Unzuträglichkeiten für die Form der Darstellung erzeugt hat. (°”) Da- 
gegen andere Verschiedenheiten der Methode des Compilirens bei Harmeno- 
pulus, gegenüber jener in den Basiliken, sind zum Theil nur scheinbar und 
lassen sich in Übereinstimmung bringen mit dem Plane, den der Verfssser in 
der mgoSewpie seines Werkes verzeichnet hat. Denn getreu dem Vorsatze, 


(°) Zachariae a.a.O. 8.47. p.75. 

6) z.B. IV.6.8.2. 

(°) das. 1.18. 88.23.26. 

6%) z.B. 1.18. 8.29. II. 4. 8$. 46.51. III.3. 8.83. V.9. 88.14. sq. 


(°”) Dafs für Lehrsätze des Juristenrechts und für Vorschriften des Constitutionen - 
Rechts dieselbe Bezeichnung gebraucht ist, (4 Swere&ıs,) mag hingehn. Auffallend aber 
erscheint es, wenn bei dem Referate aus einem kaiserlichen Gesetze man plötzlich den 
durchgängigen Gebrauch der plurativen Form des Redeausdruckes wahrnimmt, oder wenn 
in der wörtlichen Übertragung eines Pandekten- Textes verschiedene Juristennamen er- 
wähnt werden, ohne dals zuvor der als redend eingeführte Verfasser des Fragments na- 
mentlich bezeichnet ist; z.B. II. 3. $. 92. 


168 Dırksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


eine möglich vollständige Übersicht der für die Praxis der Gegenwart noch 
gültigen Rechtsregeln zu geben, verschmähte er es ebensowenig auf gewohn- 
heitsrechtliche Neuerungen Rücksicht zu nehmen, (°°) und den Edicten der 
Präfeeten Aufmerksamkeit zuzuwenden, (°?) als er darüber sich hinwegsetzen 
zu dürfen glaubte, manches aus Justinian’s Rechtsbüchern herbeizuziehen, 
was die Basiliken entweder ganz übergangen oder nur unvollständig epito- 
mirt hatten, und vornehmlich umfassende Nachträge aufzunehmen aus den 
abändernden Verfügungen der, erst nach der Bekanntmachung der Basiliken- 
Compilation erlassenen, kaiserlichen Gesetze. Die Auszüge der zuletzt er- 
wähnten Gattung begreifen von allen andern die Acte der Gesetzgebung K. 
Leo’s, gegen deren umfangreiche Benutzung die blosse sporadische Erwähn- 
ung vereinzelter Novellen der späteren Kaiser auffallend zurücktritt. (°°) 
Am wenigsten aber darf man durch den Schein sich täuschen lassen, als ob 
Harmenopulus, neben der vorherrschenden practischen Richtung seines Un- 
ternehmens, die Berücksichtigung der Geschichte der römischen Rechtsbild- 
ung nicht durchaus abgelehnt, und zu diesem Ende muthmasslich auch von 
einzelnen Stücken der Vor-Justinianischen Rechtsquellen für seine Compi- 
lation Gebrauch gemacht habe. Die folgenden Bemerkungen werden hin- 
reichen, das Trügliche einer solchen Voraussetzung überzeugend darzuthun. 

Der erste, von den Quellen des einheimischen Rechts handelnde, Ab- 
schnitt des Werkes giebt eine kurze, ebenso unvollständige als ungenaue, 
Übersicht der Organe der Rechtsbildung für die Zeiträume vor und unter, 
gleichwie nach Justinian’s Herrschaft. Der zu Grunde gelegte Bericht des 
Pomponius, in dem mehrfach besprochenen Pandekten-Fragment, und Ju- 
stinian’s Mittheilungen in den Conceptions- und Publications-Patenten seiner 
Rechtsbücher sind hier nur theilweis benutzt, überdem auch nicht aus der 
ersten Hand. Man begegnet nämlich in dieser Compilation derselben flüch- 
tigen und unkritischen Methode der Behandlung historischer Referate, welche 
wir in der oben betrachteten Epitome legum kennen gelernt haben. Nur dafs 
die Irrthümer hier fast noch zahlreicher und handgreiflicher hervortreten als 


(°®) Vergl. 1.13. $. 33. 
(°) S. oben Anm. 45. 


(°%) Die Belege findet man in dem Index nominum propriorum, im Anhange der ange- 
führten Ausgabe des Harmenopulus von Reitz. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 169 


wie dort; ähnlich wie bei den byzantinischen Geschichtschreibern der spä- 
testen Zeit, sobald sie über Thatsachen aus der frühesten Geschichte Roms 
berichten. (°!) Und dafs unser Compilator nicht den Führern jenes Epito- 
mators gefolgt sein kann, ist nicht blos zu vermuthen wegen der Verschie- 
denheit in den Gegenständen des Misverstehens bekannter Zustände, sondern 
kann auch äusserlich beglaubigt werden. (°*) 

Harmenopulus hat der XII Tafel-Gesetzgebung etwas umständlicher 
gedacht und die Geschichte der Gesetzgebung Justinian’s unmittelbar daran 
geknüpft, indem zur Vermittelung des Überganges hervorgehoben ist die, 
von demselben Kaiser ausdrücklich angedeutete, Parallele zwischen der äus- 
seren Abtheilung der Decemviral-Gesetze und seiner eigenen Constitutio- 
nen-Sammlung. Dafs Harmenopulus ferner, gleich der Epitome legum, un- 
ter den röm. Rechtsgelehrten nur des Gaius gedenkt, erklärt sich zur Genüge 
aus dem Vorgange seines Gewährsmannes Attaliata, ohne dafs man zu einer 
künstlichen Deutung zu greifen braucht. (6) Ähnlich verhält es sich mit der 
Angabe, dafs Justinian zuerst die Bekanntmachung der drei Constitutionen- 
Sammlungen, nämlich der Gregorianischen, Hermogenianischen und Theo- 
dosianischen besorgt, hinterher aber aus allen diesen eine einzige, mit seinem 
Namen belegte, Sammlung redigirt habe. Dies ist freilich von dem Zusatze 
begleitet, dafs nach andern Berichterstattern jene drei Constitutionen - Codi- 
ces vor dem Zeitalter Justinian’s an’s Licht getreten seien. In Verbindung 


(°') So verlegt z.B. G. Cedrenus Histor. comp. p. 216. (ed. J. Becker. Vol.1I. p. 
378. Bonn. 1838. 8.) die Thaten des L. Quinctius Cincinnatus in die Regierung des K. 
Nero. Derselbe berichtet freilich auch, (p.295. Becker p. 518. sq.) dals das vergoldete 
Standbild Constantin’s, welches dieser Kaiser auf einer Säule zu Byzanz hatte errichten 
lassen, ein aus Athen entführtes Kunstwerk des Phidias gewesen sei. Allein dies schliesst 
die vermittelnde Deutung nicht aus, dals der Kaiser blos einem alterthümlichen Bildwerke 
seinen Namen habe beigelegt wissen wollen. Gleichwie auch anderer, nach Constantino- 
pel entführter, Werke des Phidias von demselben Referenten Meldung geschieht. S. ebendas. 


299 


p- 322. sq. (p. 564. sq. ed. Becker.) 


(°) Schon O. Reitz a.a. O. 1.1. 8.4. not. 5.10. 12.18. hat aufmerksam gemacht auf 
die wörtliche Übereinstimmung dieser Ausführung des Harmenopulus mit dem Prooem. 
zu des M. Attaliata Horse vouzdv (S. Leunclavius IJus graeco -rom, II pefäsg. 
Fref. 1597. F.) 

(°) z.B. zu dem, bei O. Reitz in der Ausgabe unsers Autors I. 1. $. 3. not. 12. vor- 
geschlagenen Postulate, als sei hier nicht an den bekannten Gaius zu denken, sondern 
an einen der Aelii, den Ausleger der XII Tafeln. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Y 


170 Dirxsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


damit wird erinnert, (°*) dafs Tribonian diesem Kaiser besonders bei der 
Abfassung der Novellen hülfreich gewesen sei, und bei diesem Geschäft so- 
wohl der Bestechung als auch der Fälschung sich schuldig gemacht habe. 
Zu allen diesen, die Ansprüche der historischen Kritik durchaus verhöhnen- 
den, Resultaten hätte Harmenopul’s Darstellung nimmermehr gelangen kön- 
nen, wenn derselben eine auch nur flüchtige Einsicht der amtlichen Verfü- 
gungen Justinian’s, über die Abfassung und Bestätigung seiner Rechtsbücher, 


8 
vorangegangen wäre. 

Und wenn unser Compilator überhaupt es nicht der Mühe werth er- 
achtete, zum Behuf der Aufklärung geschichtlicher Thatsachen auf die Ori- 
ginal-Quellen der Justinianischen Gesetzgebung zurückzugehn, so darf um 
so weniger vorausgesetzt werden, dafs er sich könnte bewogen gefühlt haben, 
von den Vor-Justinianischen Rechtsquellen im Interesse der Geschichte des 
älteren Rechts irgend Gebrauch zu machen. Die scheinbaren Ausnahmen 
lassen sich ohne Mühe mit dieser Behauptung vereinigen. Zwar erinnert eine 
Notiz über die pacta publica (°°) an eine ähnliche Mittheilung in des Gaius 
Institutionen, (°°) über die Verträge zwischen römischen Feldherren und 
feindlichen Heerführern. Allein bei genauerer Prüfung erkennt man darin 
den Text eines, in Justinian’s Pandekten übertragenen, (7) Fragmentes von 
Ulpian, das auch in den Scholien der Basiliken (°%) genügend ausgebeutet 
ist, und eben durch diese Vermittelung dem Harmenopulus zugänglich ge- 
worden sein dürfte. Noch weniger kann es Bedenken erregen, dafs der in 
unserer Compilation (°°) bezeichnete Inhalt einer Constitution von M. Anto- 
ninus und Commodus, über das beschränkte Vindicationsrecht des Eigen- 
thümers einer vom Fiscus ohne allen Rechtsgrund veräufserten Sache, ledig- 
lich aus der Mittheilung der Institutionen Justinian’s (7°) über denselben Ge- 


(°) Auch dies ist einfach dem Attaliata nachgeschrieben, und nicht etwa aus Suidas 
v. Torißwwievös Mazedovievod geschöpft, oder wohl gar aus Gedrenus a.a. 0. p. 368. (p. 
646. Beck.) 


(DA gTSIEIS 

(°°) Comm. inst. III. 94. 

() Fr.5. D. de pact. 2. 14. 

(°) Basilic. XT.1. 8.5. (Vol. I. p. 557. sq. ed. Heimbach. Lips. 1833. 4.) 
() 1.3. 8.83. 


() 8.14. J. de usucap. 2. 6. Dals daneben auch von der Ausführung des Theo- 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 171 


genstand entlehnt ist. Endlich die Angabe, ("!) es sei an einer Stelle des 
dritten Buches von Papinian’s (Juästionen ausgeführt, dafs niemand seinen 
Nachbarhäusern die Aussicht nach den Bergen verbauen dürfe, giebt schon 
in der Form des Berichtes ihre Abstammung genügend zu erkennen. Es ist 
nämlich dieses Citat eines, auf anderm Wege uns nicht überlieferten, Frag- 
ments der Schriften Papinian’s ausdrücklich als Bestandtheil des Inhaltes eines 
der daselbst epitomirten Edicte von Präfecten bezeichnet, welche Excerpte 
Harmenopulus überdem nicht aus den Originalen geschöpft, sondern nur 
aus der zweiten Hand mitgetheilt hat, nämlich aus der Compilation eines 
Baukundigen von Ascalon, Namens Julianus. (?) Da nun dieser Compi- 
lator an anderen Stellen manches hat einfliessen lassen, was zu dem selbst- 
ständigen Inhalt der epitomirten Edicte kaum zu zählen sein dürfte, (73) so 
mag auch die Genauigkeit, nicht des Citates selbst wohl aber jene der mit- 
getheilten Einzelheiten des Inhaltes der Äusserung Papinian’s, nicht ohne 
Grund in Frage gestellt bleiben. 


IM. 


Wir wenden uns nunmehr zu der sg. Turiner Institutionen- 
Glosse, deren Bekanntmachung dem berühmten Verfasser der Geschichte 
des römischen Rechts im Mittelalter (7*) zum besondern Verdienst gereicht. 
Der Herausgeber ist nicht der Ansicht Niebuhr’s (?°) beigetreten, der diese 
Scholien der Justinianischen Institutionen zu den wissenschaftlichen Bearbei- 
tungen römischer Rechtstexte zählt, die dem griechischen Italien angehören, 


philus zu dieser Stelle Gebrauch gemacht sei, ist nicht zu erweisen. Um so weniger 
kann an die Berücksichtigung der späteren byzantinischen Geschichtschreiber gedacht wer- 
den, welche von dem nämlichen Rechtsgrundsatz sprechen, allein blos in der Anwendung 
auf Geschenke des Kaisers. S. Zonaras Annal. XII. 26. 


a) GEL Sl 

(2) Ebendas. $. 12. 

(°) Vergl. des Verf. Abhdlg: Das Polizeigesetz des K. Zeno u. s. w. (In diesen Ab- 
halgg. d. K. Akademie. Jahrg. 1844. Philos. Histor. Cl. S. 85.) 

(') Savigny Gesch. d. R. Rs. im M. A. Bd. 2. Anhg. I.B. S. 429. fgg. Ausg. 2. 


() Man findet dessen Argumente theils bei Savigny a.a. O. S. 203. fg. Anm. f. ent- 
wickelt, theils ausführlicher verzeichnet in Niebuhr’s Lebensnachrichten. Bd. 2. S. 491, 


v2 


172 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


und dieselben nicht später als um das Jahr 640. n. Chr. gesetzt wissen will. 
Er geht vielmehr noch ungleich weiter zurück, indem er den Verfasser der 
vorstehenden Glosse zu einem Zeitgenossen Justinian’s erhebt. (”°) Das An- 
sehn dieser beiden gewichtigen Stimmführer hat bei unsern Zeitgenossen 
überall sich geltend gemacht, so jedoch dafs nur wenige bei der Zeitbe- 
stimmung Niebuhr's sich begnügen, (77) während die Mehrzahl sich darin 
gefällt, die Chronologie der fraglichen Glosse bis auf das Zeitalter Justinian’s 
zurückzuleiten. (?°) Gleichwohl dürfte die, aus den Einzelheiten des Inhal- 
tes dieser Glosse zu construirende, Beweisführung des muthmafslichen Zeit- 
punktes ihrer Entstehung erhebliche Einwendungen gegen die Genauigkeit 
jener beiden postulirten Zeitbestimmungen herausstellen. 

Zur Unterstützung der behaupteten Ableitung des Ursprunges unserer 
Glosse aus der Örtlichkeit des enge begrenzten Bezirkes der Herrschaft der 
griechischen Kaiser in Italien, und aus dem Zeitraum von der Mitte des 
sechsten bis zum Anfange des siebenten Jahrhunderts n. Chr., würde vor 
allen Dingen der Versuch nicht zu vernachlässigen gewesen sein, aus dem all- 
gemeinen Charakter der Darstellung, gleichwie aus den Formen der Sprache, 
Beweisgründe für jenes Postulat zu ermitteln. Dieser Voraussetzung ist 
gleichwohl bisher nicht genügend entsprochen, und mehr als billig auf die 
sogleich weiter zu berührenden Einzelheiten des Inhaltes der Glosse alles 
Gewicht gelegt worden. (7?) Und dennoch liegt es zu Tage, dafs die Wür- 
digung eben dieses Inhaltes durchaus abhängig erscheint von der Stellung, in 
welche der referirende Glossator sich selbst gegenüber den mitgetheilten ju- 
ristischen Referaten, versetzt hat. 

Es hat freilich den Anschein, als ob der Verfasser unserer Glosse 
überall in eigener Person spreche und daher als ein Berichterstatter über 
Zustände, die er selbst erlebte, geschätzt werden dürfe, sobald seine Mit- 
theilungen etwas als der Gegenwart angehörend darstellen. Allein diese Vor- 


(°°%) Savigny ebendas. $$. 69. 71. S. 195. 199. fg. 
(”) Puchta Curs. d. Inst. Bd.1. $.144. Biener Gesch. d. Novell. Justin. S. 228. 


(®) z.B. E. Schrader Prodrom. Corp. I. C. ed. p. 229.sq. Berol. 1823. 8. Zim- 
mern a.a. 0. Bd.1. $.49. Anm. 3. Falck Jurist. Encyclopäd. $. 78. u.a. m. 

(°) Vergl. die folgende Äusserung in Niebuhr’s Lebensnachrichten a.a. O. „Dals 
diese (Glosse) unter den Exarchen geschrieben ist, wie man übrigens der ganzen 
Schrift am Gesicht ansehn kann, erhellet klar aus No. 9. u. s. w.” 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 173 


aussetzung bewährt sich bei näherer Prüfung als eine entschieden trügerische. 
Vielmehr ist Justinian selbst durch unsern Glossator nicht blos als der un- 
mittelbare Verfasser jedes einzelnen Bestandtheiles des Institutionen - Textes 
aufgefasst worden, sondern mit Bezug auf dessen Zeitalter sind in der Regel 
auch die verschiedenen Sach- und Wort-Erklärungen gegeben, gleichwie 
Unterscheidungen von Vergangenheit und Gegenwart angedeutet. (®°) Dies 
tritt sowohl an den Stellen hervor, wo Justinian’s Autorschaft ausdrücklich 
erkennbar gemacht ist, (°!) als es auch in den ungleich zahlreicheren Fälien 
nicht verkannt werden mag, wo unbestimmt in der dritten Person von dem- 
selben gesprochen wird. (°*) Dabei ist noch zu bemerken, dafs sämmtliche 
Bestandtheile der Justinianischen Gesetzgebung als ein Ganzes aufgefasst er- 
scheinen, so dafs Texte der Pandekten und des Constitutionen- Codex bis- 
weilen, ohne die Andeutung eines Quellen -Citates, zum Behuf der Ausleg- 
ung von Worten der Institutionen epitomirt sind. (8) Ähnlich ist zum Theil 
auch mit den beigebrachten Beweisstellen anderer Institutionen- Texte ver- 
fahren. (°*) Ausnahmsweis spricht der Verfasser der Glosse wohl in eigener 
Person; allein gerade dann bewährt er keineswegs diejenige Kenntnis römi- 
scher Einrichtungen und des Sprachgebrauches römischer Rechtsquellen, 
welche bei einem rechtserfahrenen Zeitgenossen Justinian’s mit Grund dürfte 
vorausgesetzt werden. (°°) Überdem kann man einzelne Äusserungen dessel- 
ben nur dahin deuten, dafs die politischen Institutionen, welche der Praxis 


() z.B. No.43. Semenstria sunt codex, in quo legislationes per VI menses prolatae 
in unum redigebantur. No.126. Ideo inter adquisitiones posita est donatio, quia inzer ve- 
teres non aliter robur accipiebat nisi traditio sequeretur, quae est dominii adquisitio. No. 
398. Talis enim stipulatio in dotibus erat etc. Vergl. No.7. No. 135. 

(') z.B. No. 180. No. 212. N. 215. No. 272. No. 281. 

(°”) Dahin gehören die stets wiederkehrenden Phrasen: Ideo dixit. Bene dixit, s. addi- 
dit, Recte incipit. Caute hoc posuit. Ita disputavit etc. 


(®) z.B. No. 90. No. 115. No. 130. No. 171. No. 315. No. 350. No. 425. 

(°°) Vergl. No. 268. 

(®) z.B. No. 95. Hominem abusive posuit, tantum enim servus debet intelligi. No. 104. 
Servitutes tribus modis fiunt: pactionibus, stipulationibus et per testamenta. Pactionibus 
hoc modo: si quis habens duas domus, et eo pacto donet ut onera vieini sui suscipiat; 
stipulationibus ita, ut si quis ita domum vendat et ab emtore servitutes suscipiat; testa- 


mento, veluti si quis heredem suum damnet, ne vicini lumina aedificio suo tollat. Vergl. 


No. 101. 


174 Dıirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


Justinian’s noch geläufig waren, im Zeitalter unsers Glossators als bereits 
veraltet erschienen sein müssen. (°°) 

Hinsichtlich der Schriftform ist durch den Herausgeber der Glosse (37) 
nur dies erinnert worden, dafs die in der Handschrift vorkommende sg. kryp- 
tographische Stellen nicht besondere Beachtung verdienen, obwohl sie in 
andern Manuscripten als Seltenheiten hervortreten. Ungleich bedeutender 
als diese nicht zu bestreitende Bemerkung (°®) ist dagegen die Wahrnehmung, 
wie die Rechtschreibung unserer Handschrift keine Spur der gräcissirenden 
Formen der Latinität aufzuweisen hat, von denen sonst die unter dem Exar- 
chate verfassten oder auch nur copirten lateinischen Schriften nicht frei zu 
sein pflegen. (#°°) Und das gleiche gilt auch von der Sprache unsers Glos- 
sators. Es fehlt zwar nicht an ungewöhnlichen Ausdrucksformen und Wort- 


(°°%) No.343. Ius civitatis romanae fuerat, ut quicunque adversus quemlibet aliquam pe- 
titionem haberet, in reclamatione, qua obligatus fuerat, legis necessitate solvi oportebat 
id, quo obligatus fuerat. 

() Savigny a.a. O. S. 202. 

(#) Denn diese Stellen enthalten nicht etwa corrumpirte griechische Textesworte. Es 
sind vielmehr (vergl. No. 136. No. 139. No. 244. No. 418.) lediglich Wiederholungen der 
voranstehenden lateinischen Ausdrücke, mit einer grillenhaften obwohl consequenten Ver- 
setzung der einzelnen Lautzeichen. Unzweifelhaft ist diese Schreibform zu dem umfas- 
senden Gattungsbegriff der Kryptographen zu zählen, (S. Eneyelopedie francaise. T. TV. 
v. Cryptographie. Par. 1754. F. U. F. Kopp palaeographia cerit. T. III. $. 223. p. 268. 
sg. Manh. 1829. 4.) Das eigenthümliche des vorstehenden Falles besteht nur in der Zu- 
sammenstellung der regelmässigen Schriftform und der nachträglichen Copie desselben Re- 
desatzes mittels kryptographischer Zeichen; nicht aber in der Eigenthümlichkeit dieser 
Schriftzeichen, welche vielmehr genau übereinkommen mit den durch die Benedictiner in 
mittelalterlichen Handschriften nachgewiesenen Formen. (S. L. de Wailly Elements de 
palöographie. T.I. p. 425. not. 1. Par. 1838. Fol.) Es ist nämlich in unserm Manuscript 
neben den richtigen Buchstaben als Consonanten, für die Vocale das unmittelbar vorher- 
gehende, oder auch das unmittelbar folgende Lautzeichen gesetzt. Nur an der zuletzt 
genannten Stelle sind die Vocale durch verschieden gruppirte Punkte ausgedrückt. 


(8°) Aus welchen Zügen des durchfurchten „Antlitzes” unserer Glosse Niebuhr (8. 
oben Anm. 79.) das Exarchat als die Heimat desselben zu erkennen geglaubt hat, vermö- 
gen wir nicht zu errathen. Schwerlich wird die, auf Unkunde des sachlichen Verhältnis- 
ses beruhende, Form des Ausdruckes: Juridieia, (S. unten Anm. 126.) als ein Erkennungs- 
zeichen griechischer Umbildung lateinischer Ausdrücke angesprochen werden, indem die 
den Griechen geläufige Bezeichnung dizcucderrs für den Juridieus eine Verschmelzung mit 
dem römischen Sprachgebrauch nicht verstattete. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen - Handschrift. 175 


bedeutungen bei ihm, (°°) allein keines von diesen Beispielen weist mit Ent- 
schiedenheit auf einen Zusammenhang mit dem Gebiete der byzantinischen 
Herrschaft, obwohl die in diesem Werke im allgemeinen sichtbare Reinheit 
der lateinischen Sprache (*°) nicht verstattet, die Abfassung desselben ausser- 
halb der Grenzen Italiens zu verlegen. Selbst dies scheinbare Argument, 
dafs einmal die Benennung legislatores auf die Rechtsgelehrten angewendet 
ist, und ein anderes mal (*!) die ergangenen Verfügungen der Kaiser durch 
die Umschreibung legislationes bezeichnet sind, entscheidet nicht für die Ab- 
stammung aus dem Exarchate. Man hat darin nur die Nachahmung des, in 
dem Constitutionen-Recht der christlichen röm. Kaiser zu Tage liegenden, 
Sprachgebrauches wahrzunehmen. (°) 

Da das Turiner Manuscript des Institutionen-Textes gleichzeitig mit 
dem der in Frage stehenden Glosse aufgezeichnet ist, und die Schriftzüge bei- 
der Texte auf das zehnte Jahrhundert hinweisen, (°°) so ergiebt sich von 
selbst die Unabhängigkeit dieser unserer Scholien von dem Einflusse der, erst 


(°) Es ist hier begreiflich nur die Rede von der ursprünglichen alten Glosse, nicht 
aber von den späteren Zusätzen zu derselben, die zum Theil als Interlinear-Glossen auf- 
ireten. Vergl. Böcking’s Institutionen. Bd.T. S. 116. fg. Anm. 18. In jener heilst es: 
No. 77. „Electrum, aurum et argentum commixtum, quod aurum palliolum dicitur.” Diese 
Form des lateinischen Ausdruckes kommt zwar sonst nicht vor; allein die Wurzel dersel- 
ben ist kaum zu verkennen in dem Zeitwort palliare, welches für vestire, tegere, schon von 
Appuleius gebraucht ist, (S. Forcellini, v. Pallio.) und später auch in der abgeleite- 
ten Bedeutung von fingere, simulare, angetroffen wird. (Vergl. Du Cange glossar. med. 
et inf. lat. v. Palliare.) Ausserdem ist aufmerksam zu machen auf den Sprachgebrauch: 
Excerpere, und Surripere (ex textu,) für: „eine Deutung ableiten, eine Folgerung ziehen.” 
Auch Sudseriptio, für Desceriptio, (No. 438.) ist sonst ungewöhnlich. Minder auffallend 
erscheint die Bedeutung von Status, (No. 337. Plus est szazus, quam reszitutio.) sowie die 
Phrase: verbdis et litteris formulatis; (No. 416.) und secundum esse. (No. 345.) 

() Freilich fehlt es derselben nicht durchaus an Anklängen der im Mittelalter aufge- 
kommenen italischen Ausdrucksformen. (z.B. No.260. Adverbium loci est [se. uitro ci- 
troque] et componitur ex ultro et que et citro; ultro i.e. de la, citro de cia. Vergl. Sa- 
vigny a.a.0. S.204. Dagegen gehört nicht hierher No. 304. [zu $.3. I. de suce. li- 
bert. 3. 7. v. pro omni notione.]) .... i. e. cognoscimentu; denn dies ist eine spätere 
Glosse. Vergl. des Verf. System d. jurist. Lexicographie. S.22. fg. Lpz. 1834. 8. 

(') S. No.13. und No. 43. 

(°) Vergl. des Verf. Manuale latinitat. v. Legislator. $. 2. 


93) Savigny a.a0. S.199. fg. Schrader a.a. ©. p. 57. not. 47. 
50) 5 P 


176 Dırksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


mit dem zwölften Jahrhundert beginnenden, (°*) Glossatoren-Schule in Bo- 
logna. Und dafs diese Unabhängigkeit auch schon in der Form der Citate 
aus den Justinianischen Rechtsquellen nicht zu verkennen sei, ist durch den 
Herausgeber (°°) umständlich nachgewiesen worden. Man kann freilich nicht 
in Abrede stellen, dafs die vorstehende Glosse, gleich andern römisch-recht- 
lichen Compilationen aus der Periode vor den Glossatoren in Bologna, die 
einzelnen Beweisstellen aus den Rechtsbüchern Justinian’s nach den Zahlen 
der Bücher, Titel, Fragmente, und jene aus den Pandekten wohl gar nach 
den Inscriptionen der einzelnen Bruchstücke bezeichnet hat, ohne sich der 
regelmässigen Citir-Methode der spätern Zeit zu bedienen, nämlich der 
Bezeichnung nach den Anfangsworten des einzelnen Fragments, so wie der 
Titelrubrik unter welcher dieses in Justinian’s Compilation figurirt. Indess 
jenes Verfahren ist keineswegs überall so genau zur Anwendung gebracht, 
dafs nicht mehrfache unrichtige Zahlenangaben vorkämen; obwohl die schein- 
baren Ausnahmen, welche eine Annäherung an die Citir-Methode der Glos- 
satoren verrathen, (°°) nicht dem ursprünglichen Text unserer Scholien an- 
gehören, sondern den Nachträgen zu demselben. (°”) Dafs die ungenaue 
Bezeichnuug der Novellen-Citate grosse Vorsicht erheische, um bei der Ent- 
scheidung der Frage benutzt zu werden, ob die vorstehende Glosse den Ori- 
ginal-Text Justinian’s benutzt habe, oder nur den Novellen-Auszug Julian’s? 
ist schon von andern (°°) erinnert worden. Es würde daher ganz unstatthaft 
sein, wenn man aus der Glosse zu $. 10. I. de gradib. cogn. 3.6., in welcher, 
(No.297.) mit Bezugnahme auf die, im Text besprochene Verordnung Ju- 
stinian’s (d.i. c.4. de bon. libert. 6.4.) bemerkt ist: Divisionem de his posi- 
tam qualis est, invenies post Codicem constit. XNXAIT. ibi invenies scriptum 
etc. folgern wollte dafs, weil hier (ähnlich wie No.272.) sofort auf das No- 


vellen-Recht (Nov. Just. 84. c.1. $.1.) übergegangen ist, die genannte, in 


(*) Savigny ebendas. Bd. 4. S. 13. fg. 

(”) Ders. Bd. 2. S. 201. fgg. 

(°%) Dahin gehören, abgesehn von No. 180. (S. Biener a.a. O. S. 228.) die folgenden 
Stellen: No. 404. No. 424. No. 433. (Savigny das. S. 204.) 


(°) In dieser späteren Glosse sind auch einzelne Namen angedeutet, (vergl. Savigny 
ebendas. S. 204.) während die alte Glosse blos allgemeine Verweisungen enthält: z. B. 
No. 113. Aliquanti quaesierunt etc. Vergl. No. 125. No. 302. No. 403. No. 448. 

7 7 ke) 

() S. Biener 2.2.0. 


und die alie Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 477 


den uns überlieferten Handschriften des Constitutionen - Codex fehlende und 
erst aus den Basiliken restituirte, (°) Constitution von unserm Glossator nicht 
benutzt worden sei und mithin demselben ein vollständiges Exemplar jenes 
Justinianischen Rechtsbuches nicht vorgelegen habe. Eine solche übereilte 
Folgerung würde um so weniger gerechtfertigt werden können, da in dem 
Verlaufe der nämlichen Glosse entschieden auf Einzelheiten des Inhaltes je- 
ner fraglichen Constitution Bezug genommen ist. (1°) 

Und die gleiche Vorsicht erscheint wünschenswerth hinsichtlich des 
Postulates, das man aus dem, in diesen Scholien vorkommenden, ungenauen 
Citate einer Stelle desselben Constitutionen-Codex abgeleitet hat. Es ist 
dies die Äufserung, welche als Beweis dafür gelten soll, dafs unser Glossa- 
tor eine sebstständige Sammlung der 50 Decisionen Justinian’s benutzt 
habe. Die Prüfung dieser Behauptung bildet einfach den Übergang zur Er- 
örterung der Einzelheiten des Inhaltes unserer Glosse, indem man die 
in Frage stehende Notiz zugleich als ein Hauptargument für das postulirte 
hohe Alter dieser Turiner Institutionen-Glosse benutzt hat. 

Zum $. 2. J. de hered. qu. ab int. 3. 1. giebt unser Scholiast die fol- 
gende Erläuterung: No. 241. „Hie adoptivi generaliter dixit, i. e. sive trans- 
eant in potestatem sive non; nam ii, qui non transeunt in potestatem, in 
hereditatem succedunt patribus adoptivis, sieut Libro L. constitulionum. inve- 
nies” Da nun hier, nach dem Vorgange des commentirten Textes, ausdrück- 
lich Bezug genommen ist auf die bekannte c. 10. de adopt. 8. 48., welche 
entschieden zu den 50 Deecisionen Justinian’s gehört, so scheint auf den er- 
sten Blick kein Zweifel übrig zu bleiben, dafs in den Schlussworten der an- 
geführten Glosse ausdrücklich hingewiesen sei auf eine allgemein bekannte 
Sammlung der genannten Decisionen. Auch ist dies von unsern Zeitge- 
nossen ohne Ausnahme als eine verbürgte historische Thatsache anerkannt 
worden, (!°!) um so mehr da schon früher durch vereinzelte Äufserungen 


() K. Witte: Die Leges restitutae des Justin. Cod. S. 193. fg. Bresl. 1830. 8. 

('%) Vergl. c.4. $$.10.sq. 1.1.6.4. Biener und Heimbach Beiträge zur Revision 
des Justinian. God. S.157. fg. Berl. 1833. 8. 

(‘) Ausser Niebuhr a.a.O. und Savigny a.a. O. S. 201. fg. mögen hier nur ge- 
nannt werden: Biener Gesch. d. Novell. Justin. S.5. Anm. 11. Zimmern a.a. 0. Bd. 
1. 8.49. Anm. 3. Falck a.a.0. 8.78. Mühlenbruch Institutt. d. R. Rs. 8.6. S.7. 
Puchta a.a. ©. Thl.1. 8.139. S.677. Anm. e. Böcking Institutionen. $. 614. Anm. 32. 


Philos.- histor. Kl. 1847. 7 


178 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


Justinian’s (10) der Beweis gesichert zu sein schien, als habe es an der Exi-, 
stenz einer solchen, freilich später durch die Redaction des Codex repetitae 
praelectionis entbehrlich gewordenen, amtlichen Sammlung jener Decisionen 
nicht gefehlt. Nichtsdestoweniger dürfte diese Voraussetzung, gegenüber 
den Einwendungen einer unbefangenen Kritik, durchaus nicht als stichhaltig 
sich bewähren. Selbst wenn man das Vorhandensein einer solchen Deeisio- 
nen-Sammlung nicht weiter in Zweifel ziehen wollte, würden doch die nach- 
benannten Widersprüche jener Theorie kaum entfernt werden können. Die 
Bezeichnung: Liber L. constitutionum, darf überall nicht als der amtliche Ti- 
tel einer solchen Sammlung angesprochen werden, da Justinian selbst diesen 
Verordnungen, sobald er ihrer im Ganzen gedenkt, (10%) das Prädicat Deei- 
siones beigelegt und sie von seinen übrigen Constitutiones ausdrücklich un- 
terschieden hat. (!%*) Ferner da dieser Kaiser, bei der Bekanntmachung sei- 
ner zweiten Constitutionen-Sammlung, (1°) es namentlich untersagte, zum 
Behufe der Benutzung des Textes seiner Deeisionen, auf deren Originale zu- 
rückzugehn, indem er lediglich der, in dem Codex repetitae praelectionis 
vorliegenden, neuen Überarbeitung derselben practische Geltung zugestan- 
den wissen wollte; so würde es unerklärlich bleiben, wie noch in der folgen- 
den Zeit (1%) der Gebrauch einer älteren Decisionen-Sammlung sich hätte 
erhalten können, zumal im Occident. (10) Und als ob einer jeden Misdeut- 


('”) Man findet diese Stellen zusammengetragen und in der angegebenen Art gedeu- 
tet bei E. Merillius: exposition. in L. Decisiones Justiniani. Prooem. $. 3. (Opp. P. II. 
p- 3. Neap. 1720. 4.) 

('®) 8. 8.16. T. de oblig. qu. ex del. 4.1. c.1. $.10. Just. Cod. de caduc. toll. 6. 
51. Da, wo von dem Inhalte einer einzelnen Decision die Rede ist, (z.B. 8.2. I. de 
adopt. 1.11. $.5. I. de usu et habit. 2.5. $.3. I. de donat. 2.7.) wechseln freilich die 
Bezeichnungen: decisio und consziztutio. In der Const. Cordi nobis est. (De emend. Cod.) 
ist zuerst in $.1. der Ausdruck Constitutiones für die Decisionen gebraucht; allein sofort 
in $$.2. und 5. wird der genauere Sprachgebrauch befolgt und die Trennung der Deei- 
siones von den Constitutiones beobachtet. 


(') _Vergl. den Schlufs der vorhergehenden Anmerkg. 

('®) In $.5. derselben Const. Cordi nobis est. 

('°) Denn unser Glossator kannte die Novellen Justinian’s, auf welche er mehrmals 
verwiesen hat. S. Biener a.a. O. S. 228. 

(') Zwar behauptet Puchta a. a. O., dals die Existenz einer solchen Decisionen - 
Sammlung auch durch das Zeugnis des Theophilus festgestellt sei, wodurch zugleich 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 179 


ung habe vorgebaut werden sollen, so dient eine andere Stelle unserer 
Glosse, (1%%) wo eine Decision Justinian’s als ein Bestandtheil des neuen 
Constitutionen-Codex angeführt ist, als ein beredtes Zeugnis dafür, dafs un- 
ser Glossator von jener Vorschrift des Kaisers hinsichtlich der Benutzung des 
Textes der Decisionen nicht abgewichen sei. Überdem entbehrt das oben an- 
gedeutete Postulat jeder Begründung, dafs die Existenz einer amtlichen De- 
eisionen -Sammlung durch una eigene Äusserungen unterstützt werde. 
Denn weit gefehlt, dafs dessen Hinweisung auf seine Decisionen über- 
haupt (1%) von einer Sammlung derselben zu verstehen wäre, so ergiebt 
sich vielmehr das Gegentheil aus der bestimmten Äusserung dieses Kai- 
sers, (110) es sei das Bedürfnis einer Ersetzung der ersten Constitutionen - 
Sammlung durch den Codex repetitae praelectionis vornehmlich hervorge- 
rufen ER durch die Wahrnehmung, dafs sowohl die Decisionen als auch 
die übrigen später erlassenen Constitutionen in jener ersten officiellen Samm- 
lung fehlten. Und was unmittelbar hinzugefügt ist über das decerpere der 
genannten Constitutionen, das bezieht sich entschieden auf die den Compi- 
latoren ertheilte Anweisung, den mannichfaltigen Inhalt einzelner Gesetze zu 
theilen und demnach stückweise in den entsprechenden Abschnitten des Sy- 


deren Bekanntschaft im Oriente als gesichert erscheinen würde. Allein er hat keine Stelle 
der griechischen Institutionen-Paraphrase dafür anzuführen vermocht. Und an den Orten, 
wo Theophilus auf einzelne Decisionen Justinian’s zu sprechen kommt, (z.B. I. 11. 
8.2. 1.5. 8.5. 1.7. 8.3. IV.1. 8.16.) hat er nicht einmal den Ausdruck Decisio ge- 
braucht, vielweniger auf eine selbstständige Sammlung dieser Decisionen verwiesen. 


(®) No.480. (8.16. I. de obl. qu. ex del. 4.1.) Quasi rem commodatam marito uxor 
rapuerit, ei qui commodatum dedit. Contra uxorem non competit actio, sed tantum con- 
tra maritum; nam hoc me legitur Zidro sexto Codieis, titulo de furtis, const. ultima. 
Dies ist c. 22. 8.4. de furt. 6.2. welche zu Justinian’s Decisionen gehört. S. E. Me- 
rillius a.a. O. no. XII. p. 31. sggq. 


(422) Vergl. die beiden Beweisstellen oben zu Anfang von Anm. 103. Die c.1. C. de 
caduc. toll. 6. 51. ist vom 1t. Junius 534., mithin zu einer Zeit redigirt, als die (um die 
Mitte Novembers des nämlichen Jahres veröffentlichte,) Umarbeitung der Justinianischen 
Constitutionen-Sammlung sicherlich schon begonnen hatte. Dadurch wird die Voraus- 
setzung widerlegt, dals der Kaiser damals ohne Vorbehalt auf eine selbstständige Deci- 
sionen-Sammlung, auch wenn eine solche vorhanden gewesen wäre, werde Bezug ge- 
nommen haben. 

(9%) Const. Cordi nobis est. $.2. 


Z2 


180 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


stems unterzubringen. Ähnlich wie das hinterher (111) über die congregatio 
der künftig zu erlassenden novellae leges angedeutete nicht von einer amtli- 
chen Novellen-Sammlung aufzufassen ist, sondern lediglich von der Auf- 
nahme der neuen Gesetze in die Register der acta publica. (!!?) Ziehen wir 
nunmehr das Resultat, so dürfte die Behauptung kaum noch als gewagt er- 
scheinen, es sei in der Phrase unserer Glosse: sicut Libro L. constitutionum 
invenies, durchaus nicht die Hinweisung auf eine selbstständige Deeisionen - 
Sammlung enthalten, sondern lediglich die minder genaue Bezeichnung eines 
Citates aus dem Codex repetitae praelectionis, in welchem die vereinzelte in 
Frage stehende Decision (c.10. de adopt. 8. 48.) ihre Stelle gefunden hat. 
Erwägt man nämlich, dafs in dem vorliegenden Texte der Institutionen von 
dem Inhalte dieser Decision Justinian’s nicht im Zusammenhange gehandelt, 
sondern nur auf die Wirkungen derselben bezüglich des gesetzlichen Erbfol- 
gerechts der Adoptivkinder hingedeutet werden sollte, so erscheint eine all- 
gemeine Verweisung des Glossators auf die neueste durch das Constitutio- 
nen-Recht bewirkte Reform genügend gerechtfertigt; zumal da ähnliche 
Verweisungen auch an andern Stellen unserer Glosse (!!?) anzutreffen sind. 
Es steht demnach zu vermuthen, dafs jene Worte: in libro L. constitutionum, 
nicht einmal der Kritik bedürfen, z.B. der Veränderung: in ibro VIII. con- 
stitutionum; sondern dafs sie einfach also hergestellt werden können: in li- 
bris constitutionum, oder in libro C. (d.i. Caesarear., oder: J.d.i. Imperial- 
ium) conslitulionum. 

Von ungleich geringerer Beweiskraft, für die postulirte Abstammung 
der Turiner Institutionen-Glosse aus dem Zeitalter Justinian’s, ist die bei- 
läufige Bezeichnung einer Verfügung dieses Kaisers als constitutio domini no- 


(''') Ebendas. $. 4. 

(2) S. Biener a.a.O. S.38. fg. der entsprechende Äusserungen aus einzelnen No- 
vellen Justinian’s zusammengestellt hat. 

(') No. 272. (8.3. I. de S. C. Tertull. 3. 3.) Bene dixit. — — Post Codicem autem 
constitutionum haec omnia mutavit. Auch in Beziehung auf einzelne reformirende Con- 
stitutionen der Vorgänger Justinian’s kommen dergleichen allgemeine Verweisungen vor; 
z.B. No. 301. ($.12. I. de grad. cogn. 3.6.) Plerurnque dixit; propter sororis filios, quos 
inter agnatos ad successionem vocans aliis agnatis inferioris gradus praeponit vel Anastasii 
constitutio fratres emancipatos. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 181 


stri. (1'%) Es findet diese Ausdrucksweise ihre vollständige Erledigung in der 
oben versuchten Ausführung, dafs unser Glossator überall den Standpunkt 
Justinian’s in’s Auge gefasst und die Anschauungsweise dieses Kaisers sich 
selbst anzueignen gesucht habe. Dies geht so weit, dafs in dem Bericht über 
einzelne, durch Justinian’s Gesetzgebung bewirkte, Reformen der Scholiast 
bisweilen den Redeausdruck so redigirt hat, als ob der Zeitpunkt der erlas- 
senen abändernden Verfügung zusammengefallen sei mit dem Zeitalter des 
Referenten. (1%) Die ausdrückliche Bezeichnung dominus noster für den 
genannten Kaiser erklärt sich daher eben so einfach als wie die, durch alle 
Theile der Glosse hindurchgehende, Apostrophirung Justinian’s in der dritten 
Person. (1!%) Für die Chronologie des Ursprunges dieser Scholien kann aus 
solchen Prämissen kein bündiger Schluss abgeleitet werden. 

Und in derselben Weise sind auch die vielbesprochenen Mittheilungen 
des Glossators über die Patrieiü, (117) gleichwie über den Juridicus Ale- 
xandriae ('!°) aufzufassen; nämlich als angepasst den Staatseinrichtungen im 
Zeitalter Justinian’s, und nicht als hervorgegangen aus der eigenen unmittel- 
baren Anschauung des Verfassers dieser Scholien. 

Dafs in der zuerst genannteu Stelle von dem Exarchen zu Ravenna 
die Rede sei, (11%) beruht auf einer durchaus unerweislichen Voraussetzung. 
Es wird vielmehr in dieser Glosse, nach dem Vorgange des commentirten 
Institutionen- Textes, von der, bis auf Justinian gültig gewesenen und auch 


('°) No.12. (8.5. I. de Atil. tut. 1.20.) Id est rem salvam pupillo fore, per tabel- 
lionem vel officium. Sed et cautionem per constitutionem domini nostri coguntur emittere. 

(''?) No. 215. (8.3. I. de legat. 2. 20.) Hoc deerat legatis, quia legata etc. — Merito 
nunc exaequanda sunt, quia legata quibuscunque verbis possunt sicuti fideicommissa di- 
mitti, et fideicommissa necessitatem in se continent legatorum. 

(1%) S. oben Anm. 82. 

(7) No.9. ($-4. I. de Atil. tut. 1. 20.) Iurisdictio eorum est haec: ut puta a patri- 
ciis usque ad illustres praefectus praetorio tutores dat; ab illustribus usque ad inferiores 
praetor; in provineiis autem praesides ex inquisitione, quam superius diximus, tutores dant. 
Sciendum est autem, quia et patricii (l. pazriciis) dare possunt tutores in provinciis, quia 
in novellis dicitur, praesides vicem imperatoris obtinent. 

(''®) No. 11. (8. 5. I. eod. 1.20.) Iuridicia apud Alexandriam certa dignitas est, qui 
etiam privilegiis utuntur. 


119) Vergl. Savieny a.a.0©. S. 203. 
5) 5 Bay 


182 Dirksen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


an andern Stellen der röm. Rechtsquellen (!?°) berührten, Regel gehandelt, 
dafs in der Hauptstadt des gesammten Reiches (in dem neuen Rom,) die 
Competenz des prätorianischen Präfecten für die Ernennung obrigkeitlicher 
Vormünder, gegenüber jener des Prätors, nach dem Standes-und Rang-Ver- 
hältnis der Mündel begrenzt war, während in den Provinzen die äusserliche 
Stellung der Mündel nicht den Ausschlag gab, vielmehr der Praeses pro- 
vinciae eigentlich überall für eine solche Bestellung von Vormündern als 
competent erschien und lediglich bei unbemittelten Pupillen die Localbe- 
hörden zur Aushülfe ermächtigt waren, jenes Geschäft sich anzueignen. Auf 
diese Entgegenstellung der Kaiserstadt und der Provinzen hat die Glosse ent- 
schieden Rücksicht genommen, ohne gleichwohl denselben in directer Re- 
deform hervorzuheben. Sie erinnert nämlich bei den zu bevormundenden 
Descendenten der Patricü, dafs dieselben, gleich den Mündeln niederen Ran- 
ges, einen obrigkeitlichen Vormund durch den Statthalter der Provinz bei- 
geordnet erhalten, sobald sie in dieser Provinz ihren Wohnsitz haben. Dafs 
die Glosse ihren Bericht so abgefasst hat, als schildere sie nur das zu ihrer 
Zeit in der Praxis geltende Recht, — auf welche Wahrnehmung Niebuhr 
seine Hypothese gestützt hat, es sei diese Darstellung als ein treues Gemälde 
der im Zeitalter des Exarchates gültig gewesenen römisch -rechtlichen Praxis 
anzusprechen, — erklärt sich aus der knechtischen Nachahmung der in dem 
commentirten Institutionen-Text hervortretenden Formen des Redeausdrucks. 
Denn ganz entsprechend lautet die Mittheilung in $.4.J.1.1.20., nur dafs 
hinterher (in $.5. eod.) auch noch der Veränderung gedacht ist, welche Ju- 
stinian’s Gesetzgebung ('?') in Beziehung auf die Competenz der Localbehör- 
den in den Provinzen herbeigeführt hatte. Auch die Äusserung des Scholia- 
sten: quia in novellis dieitur, für welche man eine dem Inhalt entsprechende 
Verfügung in Justinian’s Novellen zu ermitteln vergeblich bemüht gewesen 
ist, (122) erscheint dem Sprachgebrauche der Rechtsbücher Justinian’s nach- 
gebildet. Denn gleichwie in diesen (123) das ältere Recht mit dem Oollectiv- 


('?%) Theod. Cod. IH. 17. e.3. de tutor. et cur. creand. (ec. 1. Just. Cod. de tutor. 
v. cur. illustr. 9. 33.) 


(*'!) c.30. €. de episc. aud. 1. 4. 
() Biener a.a.O. S, 228. 
(>) c.1. GC. 1.9.88: 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 183 


Namen der veteres, s. antiquae leges bezeichnet ist, so glaubte der Glossator 
den Ausdruck norellae leges für das zur Zeit Justinian’s überhaupt geltende 
Recht, d.h. für das neuere Oonstitutionen-Recht, an diesem Orte gebrau- 
chen zu dürfen, wie er dies auch an einer andern Stelle, (!**) nach dem Vor- 
gange Jnstinian’s, versucht hat. 

Nicht minder unerweislich ist es, wenn Niebuhr in der zweiten oben 
eitirten Glosse eine Schilderung gewahr werden will von dem Zustande Äeyp- 
tens zur Zeit der Abfassung unserer Scholien, und daraus folgert dafs deren 
Redaction vor dem Untergange der byzantinischen Herrschaft in Alexandrien, 
d.h. vor dem Jahre 640. n. Chr. zu Stande gekommen sein müsse. Wir wer- 
den in dieser Mittheilung vielmehr nur die Wiederholung des oben bespro- 
chenen Verfahrens unsers Glossators anzuerkennen haben, Dunkelheiten des 
Institutionen- Textes aus dem Inhalte von Parallelstellen anderer Rechtsbü- 
cher Justinian’s aufzuklären. So ist hier Gebrauch gemacht von einem Frag- 
mente Ulpian’s (!”°) in dem einschlagenden Abschnitt der Justinianischen 
Pandekten. Die kurzgefasste Äusserung dieses Juristen lässt freilich keinen 
Zweifel über den Begriff des fraglichen Beamten, allein sie nimmt auf die 
Competenz desselben nur in einer vereinzelten Richtung von dessen Amts- 
thätigkeit Bezug. Daher ist der ungeschickte Zusatz in die Glosse gerathen: 
gewöhnliche Form 


ie) 
des Ausdruckes: Juridicia, für Juridicatus, (1°) zu der Folgerung, dafs 


qui eliam privilegüs utuntur. Überdem berechtigt die un 


unser Glossator hier einen Gegenstand behandelt habe, welcher dem Kreise 
der Vorstellungen seines Zeitalters bereits entrückt war. 

Endlich hat man bei der Bestimmung der Chronologie für die Turiner 
Institutionen-Glosse den Umstand geltend gemacht, dafs darin vereinzelte 
Spuren zu erkennen seien von einer unmittelbaren Benutzung der Institutio- 
nen des Gaius. Es ist nämlich zu diesem Behuf auf den Bericht der Glosse 


(”) No. 281. (8-2. J. de S. C. Orphit. 3. 4. Propter illam regulam, qua novae he- 
reditates legitimae capitis deminutione non pereunt etc. Novas appellat, quas hie noviter 
emendavit; qui per antiquam expellebantur, modo veniunt, i.e. nepotes. Vergl. No. 178. 
(8. 5. J. de exher. liber. 2.13.) No. 421. (Pr. J. de emt. 3. 23.) 

(‘) Fr. 2. D. de off. Jurid. 1.20. Ulpianus lib. 39. ad Sabin. Juridico, qui Alexan- 
driae agit, datio tutoris constitutione D. Marei concessa est. 


('*) S. oben Anm. 88a. Vergl. des Verf. Scriptores Histor. Aug. S. 96. Anm. 31. 
Lpzg. 1842. 8. 


184 Dinxsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus 


über die nuncupatio beim Maneipations- Testament, (177) und über das fur- 
tum lance et licio conceplum, ('?°) verwiesen worden. Denn daran hat man 
die Behauptung geknüpft, jene erste Notiz könne deshalb nicht aus dem ent- 
sprechenden Berichte des Isidorus (!??) geflossen sein, weil dieser Glossa- 
tor nicht nöthig gehabt habe zu einer so trüben Quelle seine Zuflucht zu 
nehmen; die andere Mittheilung aber lasse sich nicht auf die conforme Aus- 
sage des Epitomators von Festus (!°) zurückführen, indem sie augenschein- 
lich mehr enthalte als diese. Gleichwohl dürfte die Ableitung der zuerst 
genannten Glosse aus dem Texte Isidor’s kaum einem ernstlichen Bedenken 
unterliegen. Die Wahl und Folge der Ausdrücke, insoweit beide von dem 
Original- Text des Gaius abweichen, ist bei unserm Scholiasten genau die- 
selbe wie in dem Referate des Bischofs von Sevilla; und da eine solche Über- 


einstimmung unmöglich das Werk des blossen Zufalls sein kann, so bleibt 


(7) No.199. (Pr. J. Qu. mod. testam. infirm. 2. 17.) Nuncupatio est, quam in tabu- 
lis cerisque testator recitat dicens: „Haec ut in his tabulis cerisque scripta sunt, ita dico, 
ita lego, itaque vos, cives romani, testimonium mihi praebete.” Et hoc dieitur nuncupa- 
tio; nuncupare est enim palam nominare, confirmare. Vergl. Niebuhr a.a.O. Savigny 
ebds. S. 203. 

(') No.466. ($.4. J. de oblig. qu. ex del. 4.1.) Ita enim fiebat ut is, qui in alie- 
nam domum introibat ad requirendam rem furtivam, nudus ingrediebatur, discum fietile in 
capite portans, utrisque manibus detentus (l. detentis.) Vergl. Savigny ebends. und A. 
a Vangerow D. de furto concepto ex L. XII Tabular. p. 14. sq. Heidelb. 1845. 4. 


(Dr Isidori origin. V.24. Nuncupatio est, quam in tabulis cerisque testator recitat, 
dicens: „Haec ut in his tabulis cerisque scripta sunt, ita dico, ita lego, itaque vos cives 
romani testimonium mihi perhibete. Et hoc dieitur nuncupatio; nuncupare enim est pa- 
lam nominare et confirmare. Das benutzte Original lautet aber also. Gaius inst. comm. 
II. 104. Deinde testator tabulas testamenti tenens ila dieit: „„Haec ita ut in his tabulis 
cerisque scripta sunt, ita do, ita lego, ita testor, itaque vos (uirites testimonium mihi 
perhibetote!” Et hoc dieitur nuncupatio; nuncupare est enim palam nominare. Über die 
Voraussetzung, dals des Gaius Institutionen vielmehr nur in einer späteren Compilation 
dem Isidor zugänglich gewesen seien, vergl. des Verf. Abhandlg: Üb. d. durch Isidor 
benutzten Quellen d. R. Rs. 

(°°) Paulus ap. Festum v. Lance et licio dicebatur apud antiquos, quia qui furtum 
ibat quaerere in domo aliena, licio einetus intrabat, lancemque ante oculos tenebat, prop- 
ter matrumfamiliae aut virginum praesentiam. Vergl. Gaius a.a. O. III. 192. Lex autem 
eo nomine nullam poenam constituit; hoc solum praecipit ut, qui quaerere velit nudus 
quaerat, linteo cinctus, lancem habens: qui si quid invenerit, iubet lex furtum manifestum 


esse. 


und die alte Glosse der Turiner Institutionen- Handschrift. 185 


nur die Wahl, die Darstellung der Glosse als die Copie der Ausführung Isi- 
dor’s gelten zu lassen, oder diesen als den Nachtreter unsers Scholiasten 
anzuerkennen, indem die Voraussetzung einer andern, von beiden gemein- 
schaftlich benutzten Compilation durchaus unerweislich erscheint. In dem 
zweiten Artikel ist die Epitome des Festus durch den Glossator zwar nicht 
buchstäblich copirt, wohl aber frei paraphrasirt worden. Die Bezeichnung 
des, die Haussuchung nach dem gestohlenen Gute leitenden, Individuums 
als eines Unbekleideten findet man genügend charakterisirt in der Angabe je- 
ner Epitome, dafs die in Frage stehende Person das Gesicht verhüllt gehabt 
habe, um von den weiblichen Hausbewohnern nicht erkannt zu werden. 
Und der Zusatz des Glossators, es habe der Suchende ein irdenes Gefäss 
auf dem Haupte getragen, ist ebensowenig aus Festus wie aus Gaius ent- 
lehnt, sondern vielleicht aus der eigenen Deutung eines unbekannten Com- 
pilators späterer Zeit, den der Glossator hier benutzt haben mag, hervor- 
gegangen. 

Die vorstehende Untersuchung dürfte einen Beitrag liefern zur Ent- 
kräftung der herrschenden Ansicht von dem hohen Alterthum der sg. Turiner 
Institutionen -Glosse und von der Benutzung Vor-Justinianischer Rechts- 
quellen durch dieselbe. Unserer Überzeugung nach ist die Redaction dieser 
Glosse nicht erheblich früher als das Zeitalter zu setzen, welchem jene Tu- 
riner Institutionen-Handschrift selbst angehört, d.h. vor dem neunten oder 
zehnten Jahrhundert. Denn da das Ganze aus einem ursprünglichen Text 
und aus Nachträgen zu demselben besteht, so kann freilich der Gesammt- 
Apparat dieser Scholien nicht durchaus gleichzeitig mit der Entstehung der 
Turiner Institutionen-Handschrift verfasst sein. Der Zustand der Kunde des 
römischen Rechts in Italien während des bezeichneten Zeitraumes (131) ver- 
stattete gar wohl das Zustandekommen einer solchen Arbeit, wie die in Frage 
stehende, und die durch den Glossator benutzten Compilationen des Isi- 
dorus, gleichwie des Epitomators von Festus, (!°?) waren in den Händen 


der damaligen Gelehrten; wie deren Benutzung in ähnlichen auf uns gekom- 


(®') Vergl. Savigny a.a.O. Bd. 4. Cap. 26. fg. 


(2) Vergl. des Verf. Abhdlg: Über die Collat. LL. Mos. Im Anbhange. (Jahrg. 1846. 
der Abhdlgg. d. K. Akad. d. W.) 


Philos. - histor. Kl. 1847. Aa 


186 Dinxsen: Das Rechtsbuch des Constantin. Harmenopulus u.s.w. 


menen Redactionen römischrechtlicher Materialien für die juristische Termi- 
nologie, die dem Mittelalter angehören, nicht zu verkennen ist. (1°?) 


(?) S. E. Schrader Prodrom. Corp. iur. civ. edendi. p. 46. sq. not. 6. Berol. 1823. 
8. und des Verf. System d. jurist. Lexicographie. S. 20. fg. Lpz. 1834. 8. 


—— aa huu—— 


ÜBER DAS PEDANTISCHE IN DER 
DEUTSCHEN SPRACHE 


von herrn JACOB GRIMM. 


unnmnnnnnaa 


[gelesen in der öffentlichen sitzung vom 21 october 1847.] 


\ Ver gelobt hat darf auch einmal schelten. ich war von jugend an auf 
die ehre unsrer sprache beflissen, und wie, um mich eines platonischen gleich- 
nisses zu bedienen, die hirten hungerndem vieh einen grünen laubzweig vor- 
halten und es damit leiten wohin sie wollen, hätte man mich mit einem alt- 
deutschen buch durch das land locken können. Als es mir hernach gelang 
einige vormals verkannte tugenden dieser sprache, da sie von natur blöde ist, 
aufzudecken, und ihr den rang wieder zu sichern, auf welchen sie unter den 
übrigen von rechtswegen anspruch hat; so konnte es nicht fehlen, dafs ich 
auch vielerlei schaden kennen lernte, an dem sie offen und geheim leidet. 
Es scheint nun aller mühe werth uns über solche gebrechen nichts zu ver- 
hehlen, denn wenn sie schon nicht ganz zu heben sind, beginnt doch ein ern- 
stes gemüt von seiner angewöhnung abzuweichen und sich liebevoll auf den 
besseren pfad zu kehren, der ihm gezeigt worden ist; ernst und liebe stehn 
uns Deutschen, nach dem dichter, wol, ach die so manches enistellt. 

Erwäge ich die schwächen unsrer sprache, von denen sie am meisten 
gedrückt ist, nicht blofs im einzelnen sondern allgemeinen, so stellt sich mir 
eine ihrer eigenschaften heraus, die ich heute zum gegenstand näherer be- 
trachtung machen will und nicht anders bezeichnen kann, als es am eingang 
geschehen ist. 

Da die innersten vorzüge und mängel der sprachen stärker als man 
wähnt und sogar mehr als andere besitzthümer mit der sinnlichen wie geisti- 
gen natur und anlage der völker, welchen sie gehören, zusammenhängen, so 
kann es nicht befremden, dafs ich in der art und weise der Deutschen über- 
haupt oft schon die richtung wieder finde, die ich im begrif stehe zu schil- 
dern. sie greift, von der bessern seite genommen, ein in unsere bedächtige 
genauigkeit und treue, und es würde schwer halten sie mit stumpf und stil 


Aa? 


188 J. Gxzımm 


auszurotten, ohne diesen treflichen grundzug unseres characters mit zu ver- 
letzen. Das pedantische aber, glaube ich, wenn es früher noch gar nicht 
vorhanden gewesen wäre, würden die Deutschen zuerst erfunden haben. 
Man versetze sich in einen kreis von diplomaten, denen es obliegt in ver- 
wickelter lage die geschicke der länder zu wägen, und forsche, von welcher 
seite aus in kleinigkeiten hundert anstände und schwierigkeiten erhoben wer- 
den, in der hauptsache der verhandlung leichtestes nachgeben und ablassen 
eintrete; es kann keine andere als die der deutschen gesandten sein, und un- 
sere nachbarn haben ihren vortheil daraus zu ziehen lange schon verstanden. 
eben das ist pedanterei, im geringfügigen eigensinnig zu widerstreben und 
nicht zu gewahren, dafs uns daneben ein grofser gewinn entschlüpft, daher 
auch im lustspiel der pedant jedesmal der braut, um die er geworben hat, 
verlustig geht. er hat für das neue keinen enthusiasmus, nur krittelei, für 
das hergekommne taube beschönigungen, ohne allen trieb ihm auf den grund 
zu sehn. 

In der sprache aber heifst pedantisch, sich wie ein schulmeister auf 
die gelehrte, wie ein schulknabe auf die gelernte regel alles einbilden und 
vor lauter bäumen den wald nicht sehn; entweder an der oberfläche jener 
regel kleben und von den sie lebendig einschränkenden ausnahmen nichts 
wissen, oder die hinter vorgedrungnen ausnahmen still blickende regel gar 
nicht ahnen. alle grammatischen ausnahmen scheinen mir nachzügler alter 
regeln, die noch hier und da zucken, oder vorboten neuer regeln, die über 
kurz oder lang einbrechen werden. die pedantische ansicht der grammatik 
schaut über die schranke der sie befangenden gegenwart weder zurück, noch 
hinaus, mit gleich verstockter beharrlichkeit lehnt sie sich auf wider alles in 
der sprache veraltende, das sie nicht länger fafst, und wider die keime einer 
künftigen entfaltung, die sie in ihrer seichten gewohnheit stören. 

Es würde mir nun leicht sein, wenn ich blofs ins einzelne gehn wollte, 
beispiele zu greifen, die das bild des pedanten keinen augenblick verkennen 
lassen. er schreibt mogte für mochte, weil nach mögen blickend er vom 
schönen uralten wandel der consonanten nichts weils und sich weder auf 
macht, noch das lateinische agere actus besinnt. das richtige muste für sein 
mufste oder gar musste läfst er sich von keinem sterblichen einreden. ein 
Engländer oder Franzose würde lachen, geschähe ihnen anmutung deminutif 


I) 
und deminutive zuschreiben; aber der Deutsche meint sich schämen zu müssen 


über das pedantische in der deutschen sprache. 189 


x 


wollte er länger di für de behalten, seit ihm die philologen eingebildet haben, 
nur de im lateinischen worte sei recht. überhaupt entstellt der pedant ungern 
fremde wörter, und möchte wie Tataren für Tartaren, Petrarca für Petrarch, 
chamomille für kamille wieder einführen; zur hauptangelegenheit aber wird es 
ihm teutsch für deutsch zu schreiben, weil es heifse Teutonen, da doch das lat. 
T gerade der schlagendste grund für das deutsche D in diesem wort ist und 
niemand darauf verfällt Tietrich an die stelle von Dietrich, worin dieselbe 
wurzel steckt, zu setzen. Am allermeisten in seinem wesen fühlt er sich, 
wenn sachkenntnisse ihn ermächtigen die sprache zu bessern; er wird seiner 
schwindsüchtigen frau nicht eselsmilch (?), nur eselinnenmilch zu trinken an- 
rathen, und selbst den unschuldigen namen der euphorbia cyparissus, wolfs- 
milch, wäre er nach solcher analogie zu berichtigen versucht, obgleich auch 
die wölfin ihre milch nicht gegeben hat, als dies kraut erschaffen wurde. 
Zeichenlehrer, rechenmeister kommen dem pedant höchst albern vor und wer- 
den durch zeichnenlehrer, rechnenmeister ersetzt, als dürfte unsre sprache ir- 
gend in eine zusammensetzung den baaren infinitiv aufnehmen. “am ersten mai’ 
zu setzen vermeidet er, es müsse heilsen ‘am ersten des mais’, nemlich tage. In 
der syntax sind ihm unterschiede nahe liegender constructionen zuwider, wie 
zwischen wein trinken und weines trinken, zwischen was hilft mich? und was 
hilft mir? dort soll blofs der accusativ, hier blofs der dativ gerecht sein. 
Keine einzige aller europäischen sprachen hat so ungebärdige schlecht be- 
holfne übertragungen technischer und grammatischer ausdrücke hervorge- 
gebracht, vom zeugefall, klagefall und ruffall an bis zur anzeigenden und be- 
dingenden art herab, wie sie in deutschen büchern stehn. 

Man sollte glauben, dafs bei dem schönen ihr eignen hang zu schmuck- 
loser einfachheit unsere sprache vorzugsweise für übersetzungen geschickt 
sei; und bis auf einen gewissen grad gibt sie sich auch gern dazu her. Es 
heifst jedoch den werth dieser unter uns allzusehr eingerissenen unersättli- 
chen verdeutschungen fast jedes fremden werkes von ruf übertreiben, wenn 
sogar behauptet worden ist, einzelne derselben seien so gelungen, dafs sich 
aus ihnen der urtext, wenn er abhanden käme, herstellen lassen würde. Ich 
wenigstens bekenne, keinen begrif davon zu haben, dafs selbst aus Schlegels 


. . «e .% A . . 
(‘) wie der Grieche ö und 7 ovos, sagte auch der Gothe sa und sö asilus und beide 

= « = & ® - e ‚ 
bilden den gen. asilaus. goth. wäre also asilaus miluks so genau wie das gr. immouoryos. 


190 J. Grimm 


oder Vossens worten ein Shakspeare oder Homer auferstehn sollte, so ge- 
waltig wie der englische und griechische in ihrer wunderbaren schönheit. 
Was übersetzen auf sich habe, läfst sich mit demselben wort, dessen accent 
ich blofs zu ändern brauche, deutlich machen: übersetzen ist übersetzen, 
traducere navem. wer nun zur seefart aufgelegt, ein schif bemannen und mit 
vollem segel an das gestade jenseits führen kann, mufs dennoch landen, wo 
andrer boden ist und andre luft streicht. wir übertragen treu, weil wir uns 
in alle eigenheiten der fremden zunge einsaugen und uns das herz fassen sie 
nachzuahmen, aber allzutreu, weil sich form und gehalt der wörter in zwei 
sprachen niemals genau decken können und was jene gewinnt dieser einbüfst. 
während also die freien übersetzungen blofs den gedanken erreichen wollen 
und die schönheit des gewandes daran geben, mühen sich die strengen das 
gewand nachzuweben pedantisch ab und bleiben hinter dem urtext stehn, 
dessen form und inhalt ungesucht und natürlich zusammenstimmen. Nach- 
ahmung lateinischer oder griechischer verse zwingt uns die deutschen worte 
zu drängen, auf die gefahr hin dem sinn gewalt anzuthun; übertragne prosa 
pflegt alsogleich breiter zu gerathen, wie beim hinzuhalten des originals in 
die augen fällt. vordem, eh die treuen übersetzungen aufkamen, kann man 
beinah als regel annehmen, dafs zwei lateinische oder griechische verse zu 
vier deutschen zeilen wurden; so sehr versagte sich unsere sprache gedrung- 
nem, gedankenschwerem ausdruck. Es wäre undankbar die grofse wirksam- 
keit unumgänglicher übersetzungen in der geschichte unsrer sprache, deren 
älteste denkmäler geradezu darauf beruhen, herabsetzen zu wollen; ich finde 
dafs der Gothe Ulfilas, der vom fufse des Haemus her deutschen laut auf 
ewige zeiten erschallen liefs, mit bewunderungswerther treue und fast fessel- 
los sich den formen des urtextes anschlofs; aber schon die frühsten unvol- 
lendeten versuche in hochdeutscher mundart reichen ihm lange nicht das 
wasser. 

Dieser standpunkt der deutschen sprache gegenüber den werken frem- 
der zunge fiel zu allererst ins auge; ich will aber noch weiter ins allgemeine 
vorschreiten und aus unserer sprache selbst einzelne züge hervorheben, die 
mir zugleich von der sitte und gewohnheit unseres volks unzertrennbar schei- 
nen und desto mehr zu statten kommen. Wie vermögen wir in übersetzun- 
gen die volle einfachheit der alten zu erreichen, wenn uns in unsrer täglichen 
ausdrucksweise, unbesiegbare und fast persönliche hindernisse im weg stehn? 


über das pedantische in der deutschen sprache. 191 


wir sind dann genöthigt doppelter sprache zu 'pflegen, einer für das buch, 
einer andern im leben, und können die gröfsere wärme des lebens nicht un- 
mittelbar dem ausdruck des buchs lassen angedeihen. persönlich darf ich 
vor allem nennen, was die bezeichnung der person in der rede selbst angeht. 

Oft habe ich mir die frage gestellt, wie ein volk, das durch sein auf- 
treten den lebendigen hauch der fast erstorbnen freiheit in Europa anfachte, 
ein volk dessen rohe kraft noch frisch und ungekünstelt war, allmälich den 
unnatürlichsten und verschrobensten formen der rede verfallen konnte? Die 
thatsache selbst, wie gleichgültig sie uns heute trift, ist so ungeheuer und so 
vielfach mit unsrer lebensart verwachsen, dafs die betrachtung nicht unter- 
lassen mag darauf zurück zu lenken. unsere sprache verwischt den von der 
natur selbst eingeprägten unterschied der person und der einheit auf thö- 
richte weise. den einzelnen, der uns gegenüber steht, reden wir unter die 
augen nicht mit dem ihm gebührenden du an, sondern gebärden uns als sei 
er in zwei oder mehr theile gespalten und müsse mit dem pronomen der 
mehrzahl angesprochen werden. dem gemäfs wird nun zwar auch das zu 
dem pronomen gehörige verbum in den pluralis gesetzt, allein das attribu- 
tive oder praedieierende adjeetivum im singularis gelassen, einem grundsatz 
der grammatik zum trotz, welcher gleichen numerus für subject, praedicat 
und verbum erfordert. 

Zur entschuldigung dieses unvernünftigen gebrauchs, auf dessen ur- 
sprung ich hernach zurück kommen werde, läfst sich allerdings anführen, 
dafs die ganze neue welt willig ähnliche bürde trägt und z.b. in der franzö- 
sischen sprache, deren adjectivflexion für das praedicat besser erhalten ist, 
als die unsrige, jenes grammatische gleichmafs ebenso verhöhnt wird, da es 
heifst vous etes bon, vous &tes bonne, also neben dem pluralis des verbums 
des singularis des adjectivs eintritt. Was scheint unpassender als zu sagen: 
unglücklicher, ihr seid verloren, statt des einfachen: miser periisti! Es ist 
die schwüle luft galanter höflichkeit in der ganz Europa seinen natürlichen 
ausdruck preisgab; wir Deutschen aber sind nicht dabei stehn geblieben, son- 
dern haben den widersinn dadurch pedantisch gesteigert, dafs wir nicht ein- 
mal die zweite person in ihrem recht, sondern dafür die dritte eintreten las- 
sen, wozu wiederum das begleitende verbum in die tertia pluralis gestellt 
wird, während das adj. den sg. beibehält. also statt des ursprünglichen, 
allein rechtfertigen du bist gut verwöhnten wir uns erst: ihr seid gut und end- 


192 J. Grimm 


lich zu sagen: sie sind gut, gleichsam als sei eine dritte gar nicht anwesende 
und nicht die angeredete person gemeint. Welche zweideutigkeiten aus die- 
ser verstellung der formen allenthalben hervorgehn können, welche verwir- 
rung des possessivums verursacht wird, da die pluralform aller geschlechter 
der weiblichen des sg. begegnet, leuchtet von selbst ein. nur das habe ich 
beizufügen, dafs die dritte statt der zweiten person im pluralis gerade eine 
beklagenswerthe eigenheit der herschenden hochdeutschen mundart ist, in- 
dem die übrigen bis auf geringe anflüge des verderbnisses wenigstens die. 
zweite person in ihrem natürlichen recht ungekränkt lassen. 

Ein kleiner oder grofser trost, zugleich die volle verurtheilung des 
misbrauchs, bleibt uns der, dafs die alles läuternde und gern lauter in sich 
aufnehmende poesie fortwährend den gebrauch des herzlichen einfachen du 
in der anrede geheiligt, ja verlangt hat, und könnte uns von irgendher eine 
rückkehr zu dem weg der natur gezeigt werden, so müste es durch sie ge- 
schehn. Auch bedient sich noch heute die zutrauliche, jener falschen zier 
müde rede und sogar die feierliche anrufung gottes des edeln du, das der alte 
Franke ebenso festgemut seinem könige zurief, wenn er ein: heil wis chu- 
ninc(!)! heil dü herro, liobo truhtin, edil Franko! erschallen liefs. 

Die steigerung schwer zu sättigender höflichkeit ist freilich nicht 
aus dem volk, das sich zulängst dawider sträubte, hervorgegangen, sondern 
ihm von oben, durch die vornehmen stände zugebracht worden. Als unsere 
könige und fürsten, schmuckloser einfalt ihres alterthums uneingedenk, by- 
zantinische pracht und den schauprunk verderbter kaiserzeit annahmen von 
sich selbst ein majestätisches wir gebrauchend, muste ihnen auch mit ihr er- 
wiedert werden, und wenn andern ständen nachahmung des wir nicht ver- 
stattet war, blieb es unverwehrt in der anrede und antwort jedem höheren 
mit ihr zu schmeicheln; einem lauffeuer gleich verbreitete sich unter den ge- 
bildeten des volks diese abweichung von der gesunden regel. Ich habe ihre 
unermüdlichen stufen anderwärts nachgewiesen und dargethan, dafs das am 
meisten zu verwünschende "sie’ aus einer verstärkung der dritten person des 
singularis, doch nicht viel länger als seit hundert und funfzig jahren unter 
uns in Deutschland entsprossen ist. Welch ein geringes alter gegenüber dem 


5 
hohen unserer sprache insgemein, und welch ein ursprung zur unseligsten 


(‘) der Angelsachse: väs häl cyning! 


über das pedantische in der deutschen sprache. 193 


zeit, die auf den dreifsigjährigen krieg, Deutschlands innerste schmach 
folgte, als beinahe jedes gefühl der würde unserer sprache und nation erlo- 
schen war. 

Weil aber das widernatürliche an der stelle wo es begonnen hat selten 
einzuhalten pflegt, sondern um sich zu greifen trachtet, so ist auch allmälich 
unter uns für die anrede unserer fürsten und könige eine aufgedunsene aus- 
drucksweise der höflinge und geschäftsleute eingerissen, wie sie kein einziges 
anderes volk in Europa angenommen hat. Mit einführung griechischer oder 
römischer ceremonie schien für die mächtigen der welt die letzte staffel auf 
der leiter solcher äufserlichen ehre lange noch nicht erreicht; anfangs walte- 
ten alle titel der majestät blofs in lateinischer canzleisprache, die zum volk 
nicht so schnell vordringen konnte. Bei den dichtern unseres mittelalters 
bis ins dreizehnte, vierzehnte jahrhundert hinab ist noch keine spur, dafs 
einem könig oder fürsten, so häufig sie angeredet werden, jemals der name 
majestät oder durchlaucht beigelegt wäre. diese titel waren und klangen zu 
undeutsch, wie gangbar schon lange zeit der ausdruck durhliohtan für trans- 
lucere, durhliuhtie für illustris gewesen war. Erst die an sich heilsame ver- 
wendung deutscher sprache für urkunden, welche im dreizehnten Jh. hin und 
wieder begann, im vierzehnten und funfzehnten allgemein ward, scheint das 
übersetzen lateinischer canzleiformen nach sich gezogen und dem hergebrach- 
ten deutschen ausdruck gewalt angethan zu haben. An Carl des vierten, 
wenn ich nicht irre, wenigstens Friedrich des dritten hof mochte sich der 
deutsche titel majestät volksmälsig festsetzen; zu Maximilians tagen begeg- 
nen wir ihm allenthalben, und für den kaiser, als den ansehnlichsten aller 
europäischen fürsten, pflegte man den superlativ gnädigster und durchlauch- 
tigster, der an sich schon die volle potenz dieser begriffe erreicht, noch durch 
voraussendung des gen. pl. aller d. i. omnium zu erhöhen, wie wir von alters 
her auch allerliebst, allertheuerst, allerletzt sagen. Von dieser zeit an findet 
sich allerdurchlauchtigster in der anrede des kaisers, und bald auf die der kö- 
nige erstreckt, jetzt auch auf die der übrigen fürsten, welche ohne könige zu 
heifsen königliche ehre in anspruch nehmen, so dafs der einschränkende begrif 
des worts durch seine ausgedehnte anwendung in sich aufgehoben scheint. 
Seit der mitte des vorigen Jahrhunderts that nun die höfische sprache noch 
einen schritt, indem sie neben dieser anrede und nicht blofs in der anrede 

Philos.- histor. Kl. 1847. Bb 


194 J. Grimm 


sondern auch wenn von dritter person gesprochen und erzählt wird(1), das 
einfache persönliche und relative pronomen, wo es sich auf fürsten bezieht, 
zu gebrauchen scheut, ohne es mit dem vorsatz höchst und allerhöchst zu 
verbinden (?) und gleichsam dadurch zu verschleiern; pedantischeres und 
steiferes kann es nichts geben. unsere hof und geschäftssprache ist dahin ge- 
bracht, dafs sie im angesicht und im kreis der fürsten nirgend mehr natürlich 
reden darf, sondern ihre worte erst in die verschlingenden fäden unablässig 
wiederholter und schon darum nichtssagender praefixe und superlative einzu- 
wickeln gezwungen ist. alle daraus entspringenden redensarten wären gera- 
dezu unübersetzbar in die französische und italienische sprache, welche nach- 
dem einmal die majestät angeredet ist, immer einfaches elle oder ella folgen 
lassen; das kann uns den prüfstein für unsern misbrauch abgeben. Sonst in 
Europa haben lediglich die vom deutschen ceremoniell abhängigen oder an- 
gesteckten höfe in Holland, Dänemark und Schweden, mehr oder weniger 
genau, ein hoogstdezelve, allerhöjstdensamme, allernädigst nachgeahmt. Ge- 
wis aber würde die weisheit des fürsten gepriesen werden, der seine auf- 
merksamkeit auf den ursprung und zweck dieses leeren, seiner selbst wie 
unseres sprachgenius unwürdigen, eher chinesischen als deutschen geprän- 
ges richtend, es auf immer verabschiedet und die treuherzigen anreden und 
grüfse unserer vorzeit, so viel es noch angeht, zurückholt(°). 


(‘) im mittelalter, wenn von kaiser oder könig die rede war, in dessen hand und 
würde die gewalt des deutschen reichs lag, pflegte man diese auch durch den einfachen 
ausdruck ‘daz riche’ zu bezeichnen. “si zeemen wol dem riche’ will so viel sagen als dem 
könige; von einer schönen jungfrau sagt Hartmann von Aue 

si was ouch sö genxme 
daz sı wol gezme 
ze kinde deme riche 
an ir weetliche, 
sie hätte fräulein an des königs hofe sein können. 


(°) Berliner zeitungen aus den jahren 1750-1770 gewähren von Friedrich dem gro- 
fsen redend gewöhnlich noch einfaches Sie und Dero. 


(°) solch ein beispiel würde auch darum wolthat sein, weil es von oben herab wir- 
kend die in endloser abstufung gültigen, eitlen höflichkeiten unter allen andern ständen 
abschaffen und der einfachen sprache wieder luft machen könnte; wie ist der heutige 
briefstil durch die unnützesten ausdrücke der ergebenheit und des gehorsams, durch un- 
ablässiges anmuten der geneigt-, hochgeneigt- und hochgeneigiestheit allenthalben an- 
geschwellt, und in dieser übeln sitte thun wir Deutschen es wieder allen übrigen völ- 


über das pedantische in der deutschen sprache. 195 


Ich erlaube mir noch eine bemerkung über die heutige form des na- 
mens majestät beizufügen, worin, wie in vielen ähnlichen substantiven, der 
ausgang TÄT, gegenüber dem lateinischen TAT befremdet. ä kann hier 
unmöglich auf dem wege des umlauts entsprungen sein, wozu gar kein anlafs 
denkbar wäre. Erwägt man die mhd. gestalt solcher wörter (denn ein ahd. 
beispiel würde unerhört sein), so zeigen trinität, nativität langes ä, wie es 
dem überlieferten romanischen oder lateinischen vocal angemessen war, und 
diese richtige form majestat herscht auch in allen hochdeutschen urkunden 
bis zum 16. 17 jh. herab; sie wird bestätigt durch das schwäbische au in 
majestaut. Luther hingegen, Fischart und andere schriftsteller des 16 jh. 
schrieben majestet, antiquitet mit e, nicht mit ä, welches erst im 17 jh. feh- 
lerhaft an jenes stelle eingeführt wurde. Wie aber ist das e selbst zu erklä- 
ren? ich zweifle nicht, dafs es niederdeutschen ursprungs war und aus dem 
niederrheinischen und niederländischen ei hervorgieng, wofür schon morali- 
teit Trist. 8012. 8023, auctoriteit Ls.1,83 altes zeugnis ablegen. die Nie- 
derländer schrieben TEIT (z. b. diviniteit im Partonopeus 21,5, universiteit 
Rose 10845), sie schreiben und sprechen bis auf heute majesteit, autoriteit, 
qualiteit, und ihr ei wechselt auch anderwärts mit langem €. 

Da sich unser blick zu dem pronomen gewandt hat, mag noch eine 
vergleichung des deutschen artikels mit dem romanischen zeigen, in welchem 
nachtheil auch hier unsre sprache steht. 

Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, dafs fast alle heutigen spra- 
chen und schon einige der älteren sich des artikels bedienen, der ursprüng- 
lich, wie sein name andeutet (der griechische ausdruck ist dafür @99gev) die 
wirkung eines gelenkes hat, das die demonstration des einen mit der relation 
eines andern satzes verbindet. er sollte die begriffe und noch nicht die fle- 
xion bestimmen helfen. als sich aber diese in den neueren sprachen abzu- 
stumpfen begann, pflegte sie ihn gleichsam zu ihrem beistande heranzurufen 
und wie zugezogne hilfsvölker sich der festung, die sie blofs mitwehren soll- 
ten, endlich selbst bemeistern, geschah es, dafs der artikel allmälich für die 
erlöschende oder erloschne flexion unentbehrlich wurde, wenn er auch, nä- 
her angesehn, niemals ganz in ihren begrif übergieng. 


kern zuvor. viel schöner ist, wenn es darauf ankommt, wirklich ergeben zu sein und zu 
gehorchen, als die gesinnung immer nur im munde oder in der feder zu führen. 


Bb2 


196 J. Grimm 


Die romanische sprache schlug aber hier einen von der deutschen ver- 
schiedenen, und wie mich dünkt, glücklicheren weg ein. sie erkor sich zum 
artikel nicht das erste strengere demonstrativum, sondern mit vortheilhaftem 
grif das zweite gelindere. der romanische artikel stammt aus dem lateini- 
schen ille illa, dessen liquider laut jeder verwandlung und verschmelzung 
der form aufserordentlich günstig war. Der deutsche, gleich dem griechi- 
schen artikel besitzt dagegen den eigentlich demonstrativen stummen lingual- 
laut, der schon an sich unfügsamer als jene liquida erscheinen muste. dazu 
trat noch eine andere ungunst. alle deutschen sprachen erfuhren lautver- 
schiebung, wodurch die griechische tenuis in gothische oder sächische aspi- 
rata gewandelt wurde, was dem artikel dieser sprachen eine gewisse schwer- 
fälligkeit verlieh, die zwar in der althochdeutschen, wo media an die stelle 
der asp. kam, wieder aufhörte. Wer gothisch oder angelsächsisch ausspre- 
chen lernt, wird sich am meisten bei der allenthalben begegnenden aspiration 
des artikels verlegen fühlen. 

Während nun im romanischen das gelenke, sich leicht an die praepo- 
sitionen a und de schmiegende L durch die bank wollautige und gedrungne 
formen zeugte, welche den untergegangnen casus umschreiben und das alte 
suffix der flexion durch ein neues praefix ersetzen halfen, blieb der deutsche 
artikel meistentheils unbeholfen. Aus seinem D, wenn es sich frühzeitig zur 
anlehnung und elision dargegeben hätte, wäre noch vortheil zu ziehen ge- 
wesen; allein der pedantische hang zu voller deutlicher form widerstrebte, 
und es sind eigensinnig nur ausnahmsweise die formen: am, im, zum, beim, 
zur, für an dem, in dem, zu dem, bei dem, zu der verstattet geblieben, da 
doch die ältere sprache noch einige mehr, wie zen für ze den zulässig fand, 
was sich unbedenklich in die heutige gestalt zun hätte wandeln mögen; wa- 
rum wäre nicht ar für an der, gleich dem zur, und anderes mehr willkom- 
men gewesen? die ahd. und mhd. dichter hatten noch einige günstige an- 
lehnungen des gekürzten artikels an die praepositionen eingeführt, mochte 
der artikel von diesen selbst abhängen oder einem zwischentretenden genitiv 
gehören, wie zes für ze des, enents für enent des, jenseit des, welchen allen 
die jüngere sprache überbedächtig wieder entsagte, das sind keine geringen 
dinge, vielmehr solche, die unmittelbar jeden satz behend oder schleppend 
machen können. man halte unserm deutschen der mann, des mannes, dem 
manne das ital. luomo, de luomo, al uomo, oder das franz. Ihomme, de 


über das pedantische in der deutschen sprache. 197 


Ihomme, ä Ihomme entgegen; wir haben hier sogar voraus, dafs unsere fle- 
xion noch zureicht und uns keine praeposition zu helfen braucht. Der Ro- 
mane hat diese nicht gescheut, sondern in seinen gewinn verwandt, und del 
al, die genau übersetzt von dem, zu dem enthalten, sind ihm zu wollaut und 
deutlicher kürze ausgeschlagen. hinzugenommen den bewundernswerth ein- 
fachen hebel der provenzalischen und altfranzösischen declination, der die 
meisten nomina blofs damit lenkt, dafs er dem nom. sg. die obliquen plural- 
casus, dem nom. pl. aber die obliquen singularcasus gleichstellt (in welchem 
gesetz ich noch einen nachhall keltischer spracheigenheit zu spüren meine); 
so mufs man den practischen blick dieser sprachen anerkennen, die freilich 
nachher ihren vortheil fast wieder aus der hand liefsen. ich gebe immer 
noch nicht die ehrwürdigen überreste unserer uralten flexion dafür hin, aber 
diese hätten wir weit mehr zu unserm nutzen handhaben können. 

Ist unsere heutige nomialflexion abgewichen von ihrer ehmaligen fülle 
und bedeutung, so hat sich dagegen die herrliche und dauerhafte natur des 
deutschen verbums fast nicht verwüsten lassen, und von ihr gehn unzerstör- 
bar klang und klarheit in unsere sprache ein. Die grammatiker, welche ihre 
sprachkunde auf der oberfläche, nicht in der tiefe schöpften, haben zwar al- 
les gethan, um dem ablaut, der die edelste regel deutscher conjugation bil- 
det, als ausnahme, die unvollkommene flexion als regel darzustellen, so dafs 
dieser der rang und das recht zustehe jene allmälich einzuschränken, wo nicht 
gar aufzuheben. fühlt man aber nicht, dafs es schöner und deutscher klinge 
zu sagen buk wob boll (früher noch besser wab ball) als backte webte bellte, 
und dafs zu jener form die participia gebacken gewoben gebollen stimmen? 
Im gesetze des ablauts gewahre ich eben, was vorhin bei dem von der neuern 
declination eingeschlagnen weg vermist werden konnte, den ewig schaffenden 
wachsamen sprachgeist, der aus einer anfänglich nur phonetisch wirksamen 
regel mit dem heilsamsten wurf eine neue dynamische gewalt entfaltete, die 
unserer sprache reizenden wechsel der laute und formen zuführte. es ist 
sicher alles daran gelegen ihn zu behaupten und fortwährend schalten zu 
lassen. 

Mit dem ablaut eng zusammen steht ein anderes gesetz von geringem 
umfang, doch in das höchste alterthum aufreichend. gleich der lateinischen 
und zumal griechischen besitzt unsere sprache gewisse verba, deren form ver- 
gangenheit, deren begrif gegenwart ausdrückt, weilin ihnen das gegenwärtige 


198 J. Grimm 


unmittelber auf das vergangne gegründet, so zu sagen, aus ihm erworben ist. 
wenn es heifst ich weils, so gibt diese form ein praeteritum kund, am sicht- 
barsten dadurch, dafs die dritte person den ausgang T nicht annimmt, der 
zur form des praesens erfordert wird, wie umgekehrt alle praeterita ihn nicht 
haben. ich weifs, will eigentlich sagen: ich habe gesehn und entspricht dem 
lat. vidi, gr. oida wie wissen dem lat. videre, gr. ideiv. auf solche weise läfst 
sich die allmälich sehr beschränkte zahl anderer wörter dieser classe gleich- 
falls auslegen und da sie fast alle aushelfen d. h. die meisten auxiliaria her- 
geben, folglich in der rede oft wiederkehren, so verleihen sie, abgesehn von 
ihrer sinnigen gestalt, dem ausdruck wiederum angenehmen wechsel. sie 
sind als wahre perlen der sprache zu betrachten, und der verlust eines ein- 
zigen von ihnen zieht empfindlichen schaden nach sich. nun sind aber, wie 
ich sagte, mehrere von ihnen heute ganz aufgegeben, andere in ihrer eigen- 
heit angetastet worden. dahin gehört z. b. das wort taugen, welches der 
älteren sprache gemäfs flectieren sollte taug taugst taug und im grunde aus- 
sagt: ich habe mich geltend gemacht, dargethan, dafs ich vermag. noch 
Opitz, Christian Weise und manche spätere schreiben das richtige taug, nicht 
taugt, auf welches sich unmittelbar anwenden läfst, dafs es ein taugnichts sei, 
wenn schon ein ziemlich alter, da ihn bereits einzelne schreiber des vierzehn- 
ten jh. einschwärzen(!). den sprachpedanten war aber taug mit seinem der 
verdichtung entgangnen diphthong ein greuel, wie ihnen darf, mag und soll 
unbegreiflich sind, und sie haben wirklich ihr taugt, etwa nach der analogie 
von brauchen braucht, saugen saugt durchgesetzt, wie man auch bei den sonst 
aufgeweckten Schwaben zu hören bekommt er weifst statt er weifs, oder uns 
allen gönnt das edlere gan verdrängt hat. 

Kaum in einem andern theil unsrer grammatik würde was ich hier 
tadle greller vortreten, als in der syntax, und beispiele liegen auf der hand. 
es sei blofs erinnert an das lästige häufen der hilfswörter, wenn passivum, 
praeteritum und futurum umschrieben werden, an das noch peinlichere tren- 
nen des hilfsworts vom dazu gehörigen partieipium, was französischen hö- 
rern den verzweifelnden ausruf “J’attends le verbe’ abnöthigt. solch eine 
scheidewand, wäre es blofs thunlich sie zu ziehen, nicht nothwendig, könnte 
der rede abwechslung verleihen; dafs sie fast nirgends unterbleibt, bringt 


(') Weingartner liederhandschrift s. 167: minne tovgt niht aine; und öfter. 


über das pedantische in der deutschen sprache. 199 


den ausdruck um raschheit und frische. Noch empfindlicher ist mir die auf- 
gegebne alte einfache negation, der in unserer früheren sprache ihr natürli- 
cher platz unmittelbar vor dem verbum zustand, das verneint werden soll. 
anstatt des goth. ni ist, ahd. nist, mhd. en ist haben wir ein “ist nicht, d.h. 
dies nicht aus einer hinzutretenden blofsen, eigentlich nihil aussagenden, ver- 
stärkung zur förmlichen negation erhoben, die in den meisten fällen dem ver- 
bum nachschleift. schwerlich konnte der sprache etwas ungelegneres wider- 
fahren, da die behende fliefsende partikel schwand und durch eine mit ihr 
selbst schon zusammengesetzte gröbere ersetzt wurde, die nicht länger im 
stand war, da wo sie in der rede erwartet werden mufs, zu erscheinen. der 
gestiftete schade leuchtet ein, sobald wir die alte ausdrucksweise zur neuen 
halten, das goth. ni gret ist #9 »Aaie, ni karös ne cures, ahd. ni churi statt. 
unsers weine nicht, sorge nicht; wie kurz ist das ahd. ni ruochat, mhd. en 
ruochet nolite, sorget nicht, wo wir den eindruck der verneinung immer erst 
hinten fühlbar werden lassen. auf die frage, bist du hie? folgt mhd. die ant- 
wort: ich en bin, heute mufs sie lauten: ich bin nicht hier, weil wir antwor- 
tend zugleich das adverb des fragenden zu wiederholen pflegen, für acht jetzt 
funfzehn buchstaben, statt des leichtrollenden bluts trägeren pulsschlag. kurz 
über dem pedantischen hervorholen eines sparsam angewendet, die vernei- 
nung stärkenden worts ist uns die einfache, fast allen andern sprachen zu ge- 
bot stehende negation wie ein vogel aus dem käfıg entflogen, und wir haben 
nur das nachsehn. 

Es wird aber fruchten von diesen aus flexion und syntax geschöpften 
beispielen fortzuschreiten zu solchen, die bei der wortbildung aufgesucht 
werden können, wo sich die praxis der deutschen sprache im verhältnis zu 
benachbarten fremden noch deutlicher kund thut. 

Man hat im überschwank den reichthum und die überlegenheit unsrer 
sprache hervorgehoben, wenn von dem manigfalten ausdruck ihrer wortab- 
leitungen und zusammensetzungen die rede ist. ich vermag lange nicht in 
dies lob einzustimmen, sondern mufs oft unsere armut in ableitungsmitteln, 
unsern misbrauch im zusammensetzen beklagen. 

Eine menge unserer einfachsten und schönsten ableitungen ist verlo- 
ren gegangen, oder sieht sich so eingeschränkt, dafs die analogie ihrer fort- 
bildung beinahe versiegt. einige fremde völlig undeutsche bildungen haben 
dagegen unmäfsig gewuchert, das ist ein deutliches zeichen für den abgang 


200 J. Grimm 


eigner, deren stelle jene vertreten. Ich wüst ekein gelegneres beispiel zu wäh- 
len als das der zahllosen verba auf IEREN, die von den regierenden oben 
bis zu den buchstabierenden und liniierenden schülern hinab wie schlingkraut 
den ebnen boden unsrer rede überziehen. Eine nähere wegen ihres ur- 
sprungs gepflogne untersuchung mag hier als excurs oder auslauf vorgelegt 
werden; sie liefert ungefähr hundert mhd. wörter dieser art und leicht mö- 
gen ihrer noch zwanzig zugefügt werden können; es ergibt sich, dafs man 
vor der zweiten hälfte des zwölften Jahrhunderts nicht das geringste in Deutsch- 
land von dergleichen wörtern wuste und dafs sie erst mit der höfischen, auf 
romanische quelle hingewiesnen poesie eingebracht, man mufs aber gestehn, 
recht pedantisch eingebracht worden. denn bei entlehnung fremder wörter 
versteht sich doch von selbst, dafs man sich blofs des wortes zu bemächtigen 
suche und seine fremde flexion fahren lasse. das R war nun hier baare ro- 
manische form des lateinischen infinitivs(!), die aufser ihm in jedem andern 
modus alsbald verschwindet und es mufs als die rohste auffassung ausländi- 


ö 
scher wortgestalt angesehn werden, dafs der Deutsche in seine nachahmung 
das infinitivische zeichen aufnahm und characteristisch überall bestehen liefs, 
sein eignes zeichen aber noch dazu anhängte: aufser dem fleisch des genos- 
senen apfels liefs er sich auch den griebs dazu wol schmecken. Dafs durch 
solche wörter manche vollautende formen (allarmieren, strangulieren) in un- 
sere sprache gerathen sind, ist unleugbar, aber sie stimmen nicht mit ihrer 
fremdartigen betonung zu unsern wörtern und führen steifheit mit sich. Wie 
viel tactvoller zu werk gieng die romanische sprache, als sie sich ihrerseits 
einige deutsche verba, wenn auch nur sparsam, anzueignen bewogen fand, 
z. b. das ital. albergare, franz. herberger nach unsern herbergen, ahd. heri- 
bergön bildete oder noch früher ihr guardare garder aus unserm warten. 
hätte sie hier nach analogie von parlieren charmieren verfahren, so wäre ein 


alberganare herbergener, ein guardanare gardener entsprungen. Man darf 


(') altfranzösisches IER haben eigentlich nur verba, die lateinischen auf -iare oder 
-igare entsprechen, z. b. essilier mlat. exiliare, chastier lat. castigare, allier lat. adligare al- 
ligare; dann aber wurde es auch auf andere erstreckt: mangier it. mangiare lat. manducare, 
laissier it. lasciare lat. laxare, brisier, vengier lat. vindicare it. vendicare. ausnahmsweise 
entspringen deutsche -ieren aus franz. -ir: regieren franz. regir it. reggere, offrieren franz. 
offrir it. offerire, acquirieren franz. acquerir. die italienische sprache hatte keinen solchen 


einfluls auf unsere, um ihr wolklingendes -are in deutsches -aren über zu führen. 


über das pedantische in der deutschen sprache. 201 


das adchramire und adfathamire des salischen gesetzes als die frühsten bei- 
spiele solcher aus der deutschen sprache von den Romanen entlehnten wör- 
ter beibringen. Meine ausführung zeigt, dafs -ieren seiner fremden art ge- 
mäfs eigentlich nur fremden, lateinischromanischen wörtern zustehen konnte; 
als es aber einmal bei uns warm geworden war, versuchte man es auch an 
deutsche stämme zu hängen, und ihm deutsche partikeln voran zu schicken. 
Wie verschieden sich die ahd. und nhd. sprache benahm, wenn lateinische 
wörter deutsch gemacht werden sollten, kann das beispiel von schreiben ahd. 
scriban lehren, das man frühe aus seribere bildete, während später conscri- 
bere und rescribere sich in conscribieren rescribieren verdrehte. dort ver- 
fuhr man natürlich und sprachgemäfs, hier widernatürlich und pedantisch. 

Die leichtigkeit des zusammensetzens im deutschen hat man ohne hin- 
reichenden grund zu der fülle griechischer zusammensetzungen gehalten. 
schlechte ungebärdige zusammensetzungen leimen ist keine besondere kunst, 
in tüchtigen müssen die einzelnen wörter besser gelötet und aneinander ge- 
schweilst sein. eine echte zusammensetzung ist erst dann vorhanden, wenn 
sich zwei wörter gesellen, die los und ungebunden im satz nicht nebeneinan- 
der stehn würden; wir Deutschen haben aber eine unzahl sogenannter com- 
posita, die für sich construierte wörter blofs etwas enger aneinander schie- 
ben und dadurch nur steifer und unbeholfner machen; die wörter fangen 
zuletzt gleichsam selbst an sich für zusammengefügt zu halten und wollen 
nicht mehr getrennt auftreten. so hat sich in eigennamen ein vorangestellter 
genitiv nach und nach fester angeschlossen und läfst sich nicht mehr verrü- 
cken. Königsberg, Frankfurt war ursprünglich königs berg, Franchono furt, 
wo die Franken eine furt durch den Main gefunden hatten; aus Franken furt 
entstellte man zuletzt das unverständliche Frankfurt. verba wie aufnehmen, 
wiedergeben, niederschreiben sind ebenso wenig wahre composita, was sich 
augenblicklich bei der umstellung: ich nehme auf, gebe wieder, schreibe nie- 
der zeigt. erst dann entspringt hier zusammensetzung, wenn die partikel un- 
trennbar geworden ist, wie in jenem übersetzen vertere, während übersetzen 
traducere trennbar bleibt. 

Solcher zusammenschiebung ungemeine thunlichkeit im deutschen ver- 
führt obne alle noth nichtssagende wörter zu häufen und den begrif des ein- 
fachen ausdrucks nur dadurch zu schwächen. Wenn hier in Berlin jemand 
hingerichtet worden ist, liest man an den strafsenecken eine‘ warnungsanzeige’ 


5 
Philos.- histor. Kl. 1847. Ce 


202 J. Grimm 


angeheftet. nun will warnen sagen: gefahr weisen, an gefahr mahnen; in 
jener zusammensetzung steckt also unnützer pleonasmus, der bald wie aver- 
tissement d’avertissement lautet, das ital. avvertimento bedeutet warnung 
und anzeige. ein blofses warnung oder verwarnung wäre nicht allein sprach- 
gemäfser, sondern auch kräftiger, so kräftigen stil die blutige bekanntma- 
chung auch ohne rücksicht auf die gebrauchten worte an sich redet. 

Wo andere sprachen einzelne wörter aneinander reihen, pflegen sie 
häufig zu kürzen und das einleuchtendste beispiel liefern uns zahlwörter; es 
ist lästig was man jeden augenblick im munde hat in ganzer breite aufzusa- 
gen. Wie günstig unterscheidet sich das französische treize quatorze quinze 
seize von unserm dreizehn vierzehn funfzehn sechzehn; zum glück haben wir 
mindestens eilf und zwölf seit der ältesten zeit verengt, und dafs unser hun- 
dert die allerstärkste stümmlung voraussetzt, ahnen die wenigsten: es gieng 
hervor aus taihuntaihun, wie das lat. centum aus decemdecentum u. s. w. 
die pedanten, welche kaum achzehn sechzehn in achtzehn sechszehn berich- 
tigt haben, werden erschrecken zu hören, wie viel ihnen hier zu thun übrig 
bleibt. 

Man sollte meinen eine ganze zahl deutscher zusammensetzungen seien 
blofs aus trägheit entsprungen oder in der verlegenheit für einen neuen, un- 
gewohnten begrif den rechten ausdruck zu finden. da wo unsere alte sprache 
einfache namen hatte, suchte die neuere immer ihre gröberen zusammense- 
tzungen unterzuschieben, wie z. b. die deutschen monatsnamen lehren, und 
schon Carl der grofse stellte mit seinen vorschlägen kein meisterstück auf. 
Die composition ist alsdann schön und vortheilhaft, wenn zwei verschiedne 
begriffe kühn, gleichsam in ein bild gebracht werden, nicht aber, wenn ein 
völlig gangbarer einfacher begrif in zwei wörter verschleppt wird. unser 
himmelblau oder engelrein ist allerdings schöner als das französische bleu 
comme le ciel, pur comme un ange; aber ich stehe ebensowenig an, dem 
lat. malus, pomus, dem franz. pommier den vorzug zu geben vor unserm 
apfelbaum. denn mit der belebteren vorstellung eines baums, woran äpfel 
hangen, ist uns in den meisten fällen gar nicht gedient, und jedermann wird 
es passender finden, dafs wir eiche sagen und nicht auch etwa eichelbaum. 
die vergleichung anderer sprachen lehrt, dafs jeder obstbaum von seinem 
obst füglicher durch blofse ableitung als durch zusammensetzung unterschie- 
den werde. aber auch für abstracte begriffe ist die abgeleitete form vorzüg- 


über das pedantische in der deutschen sprache. 203 


licher als die zusammengesetzte, z. b. das franz. maladie von malade besser 
als unser krankheit, welches eigentlich ordo oder status aegroti ausdrückt. 
Deutschland pflegt einen schwarm von puristen zu erzeugen, die sich gleich 
fliegen an den rand unsrer sprache setzen und mit dünnen fühlhörnern sie 
betasten. Gienge es ihnen nach, die nichts von der sprache gelernt haben 
und am wenigsten die kraft und keuschheit ihrer alten ableitungen kennen, 
so würde unsre rede bald von schauderhaften zusammensetzungen für einfa- 
che und natürliche fremde wörter wimmeln; das wollautende omnibus mufs 
ihnen jetzt unerträglich scheinen, und statt auf die nahliegende verdeutschung 
durch den dativ pl. allen’ zu gerathen, wird ein steifstelliges allwagen, ge- 
meinwagen, allheitfuhrwerk oder was weifs ich sonst für ein geradbrechtes 
wort vorgefahren werden. selbst der ausdruck, dessen ich hier nicht ent- 
rathen kann, ich meine das wort zusammensetzung, ist schlecht geschmiedet 
und aus dem losen zi samana sezzunga entsprungen. welcher Franzose würde 
ensembleposition dem natürlichen composition vorziehen? Genug hiervon 
ist gesagt, um allen die meines glaubens sind, enthaltsamkeit im anwenden 
der zusammensetzungen (durch welche Campe sein wörterbuch ohne tiefere 
sprachkenntnis anschwellte) und eifer für den erneuten gebrauch guter und 
alter derivative anzuempfehlen. 

Es bleibt übrig einen gegenstand zu berühren, vor dem mir bangt, 
ich meine die art und weise wie wir unsere sprache mit buchstaben schrei- 
ben. dies köstliche mittel das fliegende wort zu fassen, zu verbreiten und 
ihm dauer zu sichern, mufs allen völkern eine der wichtigsten angelegenhei- 
ten sein, und die freude, welche eine vollkommne schrift gewährt, trägt we- 
sentlich bei dazu den stolz auf die heimische sprache zu erhöhen und ihre 
ausbildung zu fördern. Vor mehr als 800 jahren, zu Notkers zeiten in Sanct 
Gallen, war es besser um die deutsche schreibung bestellt und auf das ge- 
naue bezeichnen unsrer laute wurde damals grofse sorgfalt gewendet; noch 
von der schrift des 12" und 13“ jh. läfst sich rühmliches melden, erst seit 
dem 14 begann sie zu verwildern. Mich schmerzt es tief gefunden zu ha- 
ben, dafs kein volk unter allen, die mir bekannt sind, heute seine sprache 
so barbarisch schreibt wie das deutsche, und wem es vielleicht gelänge den 
eindruck zu schwächen, den meine vorausgehenden bemerkungen hinterlas- 
sen haben, das müste er dennoch einräumen, dafs unsre schreibung von ihrer 
pedanterei gar nicht sich erholen könne. Was in jeder guten schrift statt- 

Ce? 


204 J. Grimm 


findet, die annahme einfacher zeichen für beliebte consonantverbindungen, 
wie bei uns CH und SCH sind, ist gänzlich vermieden und dadurch der an- 
schein schleppender breite hervorgebracht. Noch schlimmer steht es aber 
um den gebrauch der wirklich gangbaren zeichen. Zu geschweigen, dafs der 
einzelne nach verwöhnung oder eigendünkel die buchstaben übel handhabt, 
wird auch im allgemeinen weder strenge folge noch genauigkeit beachtet, und 
indem jeder gegen den strom zu schwimmen aufgibt, beharrt er desto hart- 
näckiger in unvermerkten kleinigkeiten, deren wirrwarr aufrichtiger besse- 
rung am meisten hinderlich wird. 

Die häufung unnützer dehnlaute und consonantverdoppelungen, da- 
zu aber noch ein unfolgerichtiger gebrauch derselben gereicht unsrer sprache 
zur schande. ganz gleiche neben einander stehende wörter leiden ungleiche 
behandlung. der Franzose schreibt nous vous, der Italiener noi voi, der 
Däne vi i, der Pole my wy, der Deutsche hat den pedantischen unterschied 
gemacht wir und ihr(!). Nicht anders setzt er grün aber kühn, schnüren 
aber führen, heer meer beere aber wehre und nähre schwöre, haar aber wahr 
jahr, welchen wörtern überall gleicher laut zusteht. von schaffen bilden wir 
die dritte person schafft, in dem substantiy geschäft lassen wir den einfachen laut. 
Auf den wollaut und das gesetz aller andern sprachen, dafs inlautend buchstab 
vor buchstab schwinden müsse, wenn er nicht mehr auszusprechen ist, wird 
herkömmlich nicht geachtet, woraus bei zusammensetzungen, deren erstem 
wort man bedenken trägt die doppelte consonanz zu erlassen, obgleich das 
zweite mit demselben beginnt, dreifache schreibung desselben buchstabs 
entspringt: schifffart, stammmutter, schnelllauf finden sich mit unaussprech- 
lichem FFF MMM LLL dargestellt. Unser mittelalter, noch mit lebendige- 
ren lautgefühl ausgerüstet, stand nicht an, von verwandten buchstaben, die 
aneinander stiefsen, den einen in schreibung und aussprache fahren zu las- 
sen; man schrieb und sprach wanküssen cervical Parz. 573,14 nicht wang- 
küssen, eichorn Parz. 651,13 nicht eichhorn, und hätten andere völker un- 
terlassen auf solche weise zu verfahren, ihre sprache würde rauh und hol- 
pricht geblieben sein, wie die deutsche aus ängstlichem streben nach voller 
deutlichkeit an allzuviel stellen ist. 


(') der anlals war vielleicht, weil man ihm von im (in dem) unterscheiden wollte, 
dies ihm zog ihr für den dat. fem. und ihr für den nom. pl. nach sich; einleuchtend schlechte 
gründe. 


über das pedantische in der deutschen sprache. 205 


Doch was sage ich von überflüssigen buchstaben? erklärte liebhaber 
sind auch die pedanten unnöthiger striche und haken. striche möchten sie, 
so viel möglich ist, in der mitte von zusammensetzungen, haken überall an- 
bringen, wo ihnen vocale ausgefallen scheinen. sie lieben es zu schreiben 
himmel-blau, engel-rein, fehl-schlagen und buch’s kind’s, lies’t ifs't, leb’te 
geleb’t. ihnen sagt zu das französische garde-meuble, bouche -rose, epicon- 
dylo-sus-metacarpien, nichts aber erwirbt sich mehr ihren beifall, als dafs 
die Engländer von eigennamen wie Wilkins oder Thoms einen sogenannten 
genitiv Wilkins’s, Thoms’s schreiben, mit welchem man nun sicher sei den 
rechten nominativ zu treffen. Was eine fast alles gefühls für flexion verlustig 
gegangne sprache nöthig erachtet, will man auch uns zumuten! sollte die 
schrift alle vocale nachholen, die allmälich zwischen den buchstaben unsrer 
wörter ausgefallen sind; sie hätte nichts zu thun als zu häkeln, und wer würde 
setzen mögen Eng’land, men’sch, wün’schen, hör’en? Der schreibung, die 
ihre volle pflicht thut, wenn sie alle wirklichen laute zu erreichen sucht, kann 
nicht das unmögliche aufgebürdet werden, zugleich die geschichte einzelner 
wörter darzustellen. 

Jeder regel des schreibens aber enthoben wähnt man sich sonst bei 
eigennamen, sei es furcht die frömmigkeit gegen grofsvater oder urgrofsvater 
zu verletzen, die ihren namen schlecht schrieben, während ihn ururgrofsvater 
und ältere ahnen wahrscheinlich recht geschrieben hatten, oder sorge die an- 
wartschaft auf ein erbe zu gefährden, obwol ich bezweifle, dafs jemals aus die- 
sem grund ein gerechter anspruch vor den gerichten unterlegen hat. Kommt 
wol in der gesammten griechischen oder römischen literatur ein falsch oder 
urgrammatisch geschriebner eigenname vor? man schlage eins unsrer adrefs- 
bücher auf, welche barbarei daraus entgegen weht; da stehn Hofmänner und 
Wölfe bald mit F bald FF geschrieben, und in welcher bunten masse von 
Schmieden Schmidten, Schulzen Schultzen Scholzen Scholtzen, Müllern Möl- 
lern und Millern mufs man sich verlieren. Mitten auf den titeln unserer bü- 
cher erscheinen solche verunzierte namen, oft unaussprechlich unsern nach- 
barn. Mag auch in den mischungen deutscher volkstämme die dialectische 
eigenheit geduldet, neben dem schwäbischen Reinhart ein sächsischer Rein- 
hard, neben dem hochdeutschen Schulze ein niederdeutscher Schulte, frie- 
sischer Skelta geschrieben werden, der orthographischen eigenheit jedes 
stammes angemessen; unerläfslich scheint es, dafs eine gebildete sprache ihre 


206 J. Grimm 


eigennamen den gesetzen unterwerfe, die für alle übrigen wörter gelten, und 
wo sie es nicht thut verdient sie geschmacklos zu heifsen. 

Den gleichverwerflichen misbrauch grofser buchstaben für das sub- 
stantivum (), der unsrer pedantischen unart gipfel heifsen kann, habe ich und 
die mir darin beipflichten abgeschüttelt, zu welchem entschlufs nur die zu- 
versicht gehört, dafs ein geringer anfang fortschritten bahn brechen müsse, 
Mit wie zaghafter bedächtigkeit wird aber ausgewichen, nach wie unmächti- 
gen gründen gehascht gegen eine neuerung, die nichts ist als wieder herge- 
stellte naturgemäfse schreibweise, der unsere voreltern bis ins funfzehnte 
jahrhundert, unsere nachbarn (?) bis auf heute treu blieben. Was sich in 
der gesunknen sprache des sechzehnten und siebzehnten verkehrtes festsetzte, 
nennt man nationale deutsche entwicklung; wer das glaubt, darf sich getrost 
einen zopf anbinden und parücke tragen, mit solchem grund aber jedwedes 
verschlimmern unsrer sprache und literatur gut heifsen und am besser wer- 
den verzweifeln. 

Dies alles rede ich in einer deutschen academie und würde es ihr ans 
herz legen, wenn der rechte augenblick dazu jetzt schon gekommen schiene. 
Es ist allgemein bekannt, wie nach wiederherstellung der classischen litera- 
tur überall in Europa gelehrte gesellschaften entsprangen, die mit ausschlufs 
der theologie und jurisprudenz, vorzugsweise auf den betrieb der philologie, 
philosophie, geschichte und naturwissenschaften gerichtet wurden. In erster 
reihe stand aber philologie und nichts lag dieser näher, als die grundsätze, 
welche aus dem neuerstandnen und gereinigten studium der classischen 
sprachen geschöpft wurden, auch auf die landessprachen anzuwenden. Wie 
sollte ein sich selbst fühlendes volk nicht unmittelbar angetrieben werden, 
was es in den herrlichen sprachen des alterthums anschaut und ergründet, 
auch seiner eignen, deren es sich für den lebendigsten ausdruck seiner ge- 
danken bedienen mufs, angedeihen zu lassen? Eine auffallende, in ihren ur- 
sachen erwägenswerthe erscheinung bleibt esnun, dafs während alle romani- 


(') Hugo (dessen geistige natur von pedantischen schatten wenig verdunkelt wurde) 
führte sogar in seinen büchern durch: HandSchrift KaufMann BuchDruckerKunst u. s. w. 
neben handschriftlich kaufmännisch. dabei läfst sich streiten, ob ErbgrofsHerzog oder 
ErbGrofsHerZog zu setzen sei? denn in dem zog liegt die hauptsache, dux. 

(?) es ist hier natürlich abzusehn von den Dänen und Litthauern, die sich von un- 
serm laster anstecken liefsen; Niederländer, Schweden, Finnen, Letten, Slaven blieben rein. 


über das pedantische in der deutschen sprache. 207 


schen zungen aus diesen gelehrten vereinen vortheil zogen und zumal in Ita- 
lien, Spanien und Frankreich für die auffassung und reinhaltung der mutter- 
sprache grofses geschah, dafs in den ländern germanisches sprachgebietes 
nichts geleistet wurde, was jenen erfolgen nur von ferne an die seite treten 
könnte. Um hier von England, den Niederlanden und Scandinavien abzu- 
sehn, im innern Deutschland gieng die sprache nach Luthers zeit, der sie 
noch zuletzt empor gehoben hatte, aller ihrer alten kraft vergessen, unauf- 
haltsam einer in der geschichte der sprachen ganz unerhörten verderbnis 
entgegen, und in unsrer politischen zerrissenheit und spaltung wie hätten die 
gelehrten gesellschaften einzelner landstriche sich unterfangen können, aus 
dem engen bereich ihnen noch zu gebot stehender quellen der hochdeutschen 
sprachregel geltung zu verschaffen? Niemand wird mir das beispiel einer 
im siebzehnten jh. entstandnen und verschollnen gesellschaft entgegen halten, 
die, wie Jucus a non lucendo, ihren namen davon führt, dafs sie keine frucht 
brachte('). Mit weit gröfserem recht darf ich an unsere eigne academie er- 
innern, die zwanzig jahre nach dem erlöschen jenes phantoms ausdrücklich 
für deutsche sprache mitgegründet ward, was sich schon bei der vaterländi- 
schen gesinnung des mannes, der auf ihre stiftung entscheidenden einflufs 
übte, erwarten läfst. Leibnitzens empfehlung veranlafste, dafs ihr auch als- 
bald ein rüstiges mitglied einverleibt wurde, Johann Leonhard Frisch, ein 
geborner Baier, lange schon in Berlin wohnhaft, der mit sichtbarem erfolg 
auf den anbau unsrer sprache wirkte, und aus eignen mitteln ein deutsches 
wörterbuch zu stande brachte, dem sein bedeutender werth für alle zukunft 
verbleiben wird. Dafs aber die academie selbst bald theilnahmlos für einen 
ihrer ursprünglichen hauptzwecke wurde, hat, soviel ich entdecke, seinen 
grund in zwei sie nahe berührenden richtungen der folgenden zeit. Bei der 
umgestaltung, die sie im jahr 1744 erfuhr, muste sie erleben, dafs ihr für 
ihre abhandlungen die französische sprache aufgedrängt wurde, unter deren 


(‘) weder was Gervinus 3,176-182 noch jetzt eben Barthold in seiner anziehenden 
und belehrenden schrift sagen, kann mich in diesem urtheil irre machen. wie hätte eine 
so pedantische, abgeschmackte spielerei, die nicht einmal den besseren theil der geistigen 
kraft jener zeit, Opitz, Fleming, Gryphius, Logau (vgl. Barthold s. 193. 210. 254. 289) 
erfolgreich zu gewinnen verstand, grundlage des deutschen sinns sein können, der auch 
ohne sie harter prüfung gewachsen war. Schottels brave arbeit war ganz in ihm selbst 
empor gestiegen und wenn die gesellschaft darauf irgend einfluls übte, mag dieser mehr 
schädlich als heilsam heilsen. 


208 J. Grimm 


vorwaltendem einflufs lange jahre hindurch förderung der einheimischen am 
wenigsten als zeitgemäfse academische aufgabe angesehn werden durfte. Eine 
andere ursache ist, scheint es mir, gelegen in dem aufschwung, den seit den 
letzten hundert jahren die exacten wissenschaften überall in Europa genom- 
men haben. Wenn früherhin naturforschung und philologie, wie in den 
tonangebenden italienischen academien italienische, auch namentlich deut- 
sche sprachkunde sich oft gern zu einander gesellten, welches das zuletzt 
angeführte beispiel von Frisch bewährt; so ist allmälich den naturwissen- 
schaften auf der höhe, zu welcher sie sich gehoben haben, nationale farbe 
fast entwichen und sie pflegen heutzutage geringen oder gar keinen antheil 
am gedeihen und wachsthum unsrer sprache zu nehmen. ihre neuen fünde 
empfangen aufserhalb wie innerhalb landes gleiche bedeutung und des pe- 
dantischen, wovon wir philologen uns noch keineswegs frei fühlen, gehen 
sie längst baar und ledig. 

Neben so empfindlichen, zum theil fortdauernden nachtheilen hat sich 
aber auch ein günstiger wandel zugetragen, der dem fortschritt der deutschen 
sprache allenthalben und namentlich in unsrer academie zu statten kommt. 
Nicht nur dafs jene schranke eines zwängenden fremden idioms längst wieder 
aus dem weg geräumt wurde, es ist auch bereits vor der zeit, seit welcher ich 
der academie anzugehören die ehre habe, von treflichen collegen manche 
untersuchung gepflogen worden, die der geschichte unsrer sprache und lite- 
ratur grofsen vorschub thut, und ich kann nicht unterlassen hiermit öffentlich 
meinen dank abzustatten dafür, dafs mir voriges jahr gewährt ward, eine 
preisaufgabe, meines wissens in unsrer academie die erste über einen gegen- 
stand deutscher sprache zu stellen, dem ich nicht geringe wichtigkeit beilege 
und den ich zu fruchtbarer bearbeitung für besonders reif und geeignet halte. 
Noch höher anzuschlagen als das was bei dem besten gelingen solcher arbei- 
ten immer nur vereinzelt dastehn würde ist, dafs auch das volk seine sprache, 
und was ihr recht ist, mit anderm auge zu betrachten beginnt. In unsern 
tagen, und wer frohlockt nicht darüber? wird lebhaft gefühlt, dafs alle übri- 
gen güter schal seien, wenn ihnen nicht die freiheit und gröfse des vaterlands 
im hintergrund liege. was aber helfen die edelsten rechte dem, der sie nicht 
handhaben kann? kaum ein anderes höheres recht geben mag es als das, 
kraft welches wir Deutsche sind, als die uns angeerbte sprache, in deren 
volle gewähr und reichen schmuck wir erst eingesetzt werden, sobald wir 


über das pedantische in der deutschen sprache. j 209 


sie erforschen, reinhalten und ausbilden. zur schmälichen fessel gereicht es 
ihr, wenn sie ihre eigensten und besten wörter hintan setzt und nicht wieder 
abzustreifen sucht, was ihr pedantische barbarei aufbürdete; man klagt über 
die fremden ausdrücke, deren einmengen unserer sprache schändet, dann 
werden sie wie flocken zerstieben, wann Deutschland sich selbst erkennend, 
stolz alles grofsen heils bewust sein wird, das ihm aus seiner sprache hervor- 
geht. Wie es sich mit dieser sprache im guten und schlimmen bisher ange- 
lassen habe, ihr wohnt noch frische und frohe aussicht bei, dafs ihre letzten 
geschicke lange noch unerfüllt sind und unter den übrigen mitbewerbern, 
wir auch eine braut davon tragen sollen. dann werden neue wellen über 
alten schaden strömen. 


Philos. - histor. Kl. 1847. Dad 


310 J. Grimm 


AUSLAUF. 
MHD. IEREN. 

allieren MsH. 3,65° franz. allier, prov. aliar. 

amesieren. dö was im gamesieret hiufel kinne und an der nasen. Parz.88,17. 
aus mlat. amassare, mit der keule (massa) schlagen. bluotige amesiere 
beulen Parz. 163,25. 167,6. 

balsamieren Alexius Mafsm. s. 146°. 

balzieren En. 5171 von balz coma, cirrus (Graff 3,114) also locken, in lo- 
cken legen; kämmen. 

barbieren. helm vaste gebarbieret vur dougin unde vurz antliz. Athis E, 104 
vgl. Tit. 4520, wo der alte druck pariwiere. wenn barbier oder bar- 
biere am helm doch wol das bedeutet haben mufs, was den bart ein- 
hüllte, so wäre barbieren: das gesicht, den bart verdecken. 

barrieren verschränken Er. 1955, vgl. parrieren. 

behurdieren. gr. Rud. 6,9. Roth. 1348. 5047. buhurdieren Nib. 1809, 3. 
Gudr. 31,3. 183,3. 471,2. Gerh. 3509. Er. 3082. Lanz. 640. 8316. 
Wigal. 1256. 1656. Trist. 617. 5059. Flore 7556. Tit. 1706. Helmbr. 
927. altfranz. behourder bouhourder, prov. beordar biordar, it. bagor- 
dare bigordare. Ducange s. v. bohardieum. Raynouard s. v. beort. 

bildieren Troj. kr. cod. arg. 192°. 

bränieren polieren Trist. 6615. prov. brunir, it. brunire. 

cathezizieren Barl. 169,30. 352,31. mlat. cathecizare. 

clarificieren Tit. 543. myst. 295,35. 

conduwieren condwieren Er. 9868. 9993. Parz. 155,18. 820,28. Athis G, 
122. Lanz. 6628. Trist. 3327. Gerh. 4611. becondewieren Tit. 4820. 
5115. übercondewieren Tit. 3304. 

contemplieren Griesh. 2,15. 

cordieren Trist. 13126 franz. corder, accorder. 

croijieren Er. 3081. Wh. 41,27. Trist. 5578. 9168. Tit. 3894. 4092. kroi- 
gieren Wigal. 4554. becroijieren Trist. 5060. 

discantieren Tit. 3880. MSH. 2,306° Wolkenst. s. 113. 

disputieren Walth. 27,4. tisputirn Wolkenst. s. 118. 

dormieren MS. 1,7°. 

enbräzieren Trist. 4327. franz. embrasser. 


über das pedantische in der deutschen sprache. 211 


eysieren Wh. 323,19. 326,11. prov. aisar. 

Jalieren Parz. 211,17. 465,24. failieren Parz. 738,28. Wh. 87,27. velieren 
a. bl. 1,337. franz. faillir. 

feitieren ornare, instruere Parz. 18,5. Trist. 670. 2222. Heinrichs krone 
60°. altfranz. faitier affaitier, sp. afeytar. 

festivieren Troj. kr. 10299. 14573. 16270. ? 

videlieren Orlens 6106. 

‚figieren Trist. 4624. 10847. fischieren Parz. 168,17. 232,38. Lanz. 5802. 
franz. ficher. 

fisieren, visieren. Flore 1976. 

floitieren Wh. 34,7. Trist. 10924. Loh. 127. Tit. 5092. Nib. 1456,1. Gerh. 
5956. 

Jlörieren Parz. 341,3. Barl. 219,40. Tit. 2061. 2714. Wolkenst. s. 129. 

‚formieren Troj. kr. cod. arg. 192°. 316°. Apollon. 1182. 11213. 

Jfurrieren. Walth. 121,11. Parz. 168,10. 225,12. 301,29. 313,11. Wh. 
443,20. Wigal. 702. 753. Gerh. 784. 3576. Tit.887. das rom. fourrer 
urspr. unser futtern, 

galopieren Trist. 8951. Tit.5517. kalopieren Parz. 300,7. prov. galaupar. 

gampieren it. gambettare. Apollonius 17819. 

glenzieren turn. von Nantes 145,3. 

glorieren myst. 138,17. 20. 

glosieren Wolkenst. s. 215. Tit. 5296. 

gräzieren was sonst gräzen. Nantes 126,4. | 

grimsieren Haupt 6,50. 

halbieren Ottoc. 82°. Enenkel 342 auf einer seite besetzen. myst. 273,21 di- 
midiare. 

hardieren Parz. 665,23. Wh. 114,6. 334,27. 439,26 altfr. hardier, franz. 
enhardir. 

heistieren, altf. hastier Parz. 592,28. Wh. 200,27. 439,11. 

hofieren Loh. 155. 156 u.s.w. Wolkenst. s. 44. 133. 

huordieren Helbl. 1,865. zerhurtieren Parz. 802,14. hurtieren Gerh. 3657. 

jubilieren Griesh. 2,15. Kellers gesta Rom. s. 174. 

jJustieren En. 8992. Er. 2434. 2459. Greg. 1445. frauend. 173, 21. Trist. 
618. vgl. tjostieren. 

Dd2 


342 J. Grimm 


kunrieren Iw. 1058. 6659. Parz. 167,13. 256,30. altfranz. conreer conroier, 
prov. conrear, it. corredare, mnl. conreien Fergüt 1255. 

leischieren zügel verhängen. Parz. 121,13. leisieren Iw. 5324. Wigal. 6615. 
frauend. 181,17. 

loschieren Parz. 350,22. 755,12 (1). Wh. 237,3. 

manlieren Liedersal 3,102. 

movieren Parz. 678,12. Wh. 305,15. Tit. 4510. 

murmerieren MS. 2, 94°. 

vernoijieren, vernogieren Nib. 1201,7. Kl. 494. welsch. gast cod. pal. 3%. 
Turh. Wh. cod. pal. 11%. Livl. chr. 5719. lat. renegare, franz. renier. 

ordenieren Livl. chr. 11214. Tit. 506. 3087. 

organieren Trist. 4803. 17359. 

ornieren Troj. 17318. 

pallieren? MSH. 1,141’. Benecke erklärt ballspielen, vgl. palieren Wolkenst. 
s.4127. 

parätieren fallere, decipere Tit. 887. v.partieren. 

parelieren Lanz. 502. 5438. (al. bolieren). 

parlieren Parz. 167,14. MS. 2,61°. Tit. 2793 franz. parler, it. parlare, mlat. 
parabolare. überparlieren Parz. 696,17. 

parrieren Parz. 1,4. 201,25. 281,22. 295,7. 326,7. Wh. 443,22. Flore 
188. Gerh. 3588. 4755. 9757. underparrieren Parz. 639,18. altfranz. 
barrer, bigarrer. 

partieren = parätieren. Parz. 296,29, vgl. partierre 297,9. 

passieren Wolkenst. s. 65, wo passert: pfert. 

pensieren Trist. 12071. 

personieren Limburg. chron. p. m. 68. 

plasnieren Wolkenst. s. 261, franz. blasonner. 

pramieren? Tit. 6183, der alte druck prangieren. 

pranzelieren schnell reiten Apollon. 18893, vgl. pranezeln Ottoc. 668°. 

pronieren MS. 1,7° progignere. 


(') für die syntax merkwürdig, dals nach beiden stellen loschieren nicht wie unser 
heutiges logieren construiert wird, sondern bedeutet stätte bereiten, mit dem dativ der per- 
son: mir wird loschieret, ich werde untergebracht. ist auch das im bei gamesieret 88,17 
so zu nehmen, und dann nicht auf hiufel, kinne zu ziehen? 


über das pedantische in der deutschen sprache. 213 


propheti.en Barl. 59,5. 

geprüevieren Trist. 4975. turn. v. Nant. 159,6. Leysers pred. 46,22. 

punieren En. 8993. Athis B,149. Parz. 78,4. 300,8. 387,9. 738,27. Trist. 
6751. 9167. Wigal. 11087. 11998. Tit. 3999. pungieren Athis E,69. 
Er. 2460. Lanz. 639. 6415. Gerh. 4263, prov. punger franz. poindre. 
bei Herb. 9545 für pineren zu 1. punieren. 

quartieren Suchenwirt 19,226. 

zequaschieren Parz. 88,18 zerquetschen, von quassare franz. casser brechen. 

quintieren MSH. 2,306°. Wolkenst. s. 115. 261. 

regnieren Wolkenst. s. 265. 

ridieren falten Iw. 6484. Herb. 618, ftanz. rider. 

rifieren MS.2,57°, wo helfen rifieren. MSH. 3,227' gewant rifiieren (Ben. 
371 rivieren). ez rifieren Ben. 12427. 

rivelieren MS. 2, 60°. 

rottieren Trist. 3205. Rab. 468,6. Dietr. fl. 8205. Ottoc. 435°. Tit. 3323. 
3617. Wolfr. Wh. 313,3. 

rumbelieren Helbl. 13,130. 

rüschieren Troj. kr. cod. arg. 238° fuoren rüschierende kies und gras flo- 
rierende. 

salitieren Ex. 9657. Trist. 4328. 5302. Gerh. 1355. 6003. Lanz. 7727. 9109. 
Gold. schm. 419. Tit. 2721. 3999. 

sambelieren Trist. 2108. MSH. 3,205°. samelieren Wh. 45,7. Loh. 71. 112. 
Georg 5009. Ottoc. 435°. Tit. 4042. 4590. 5688. prov. semblar, 
franz. sembler rassembler. 

underschackieren Herbort 1312 variare. 

schantieren MS. 1,7‘. 2,61°. Haupt 5,557 v. 1573. Tit. 2786. altd. wäld. 
2,74. 

entschumphieren Parz. 100,11. 593,2. Ottobart 271. gewöhnlich enschum- 
phieren Parz. 137,4. 155,17. 199,21. 206,25. 291,7. Er. 2647. 2659. 
2696. Wigal. 9562. prov. escofir descofir, franz. deconfire, it. sconfig- 
gere, mnl. sconfieren scoffieren. im subst. fast immer nur schumpfen- 
tiure (doch Lanz. 2933 W. P. entschuompfentiure). 

soldenieren Gerh. 5174. vgl. solden Nib. 2067,4. 

solemnisieren Rud. weltchr. cod. cass. 217. 

sonieren MSH. 2,306°. Wolkenst. 116. 


214 .J. Grimm 


speeulieren Diut. 3,4. 

spatzieren lat. spatiari, it. spasseggiare finde ich nicht früher als im liederb. 
der Hätzlerin 158,533. 162,1. Morolt 1405. Wolkenst. s.113, Kellers 
gesta Rom. s. 151 und öfter bei Casp. v. d. Rhön. 

stolzieren Renn. 1774 vgl. 7083. 

studieren myst. 210,6. 

subplantieren Weltchronik. 

swanzieren Renn. 2158. 

tambürieren Engelh. 2709. Nantes 119,2. 

tändelieren Ottoc. 117°. 

teilieren ist bei Gotfried Trist. 2975 das franz. tailler, it. tagliare, prov. talar; 
bei Conrad aber, der Troj. kr. cod. arg. 188° rottieren und in zehen 
schar Zeilieren verbindet, könnte an unser theil gedacht sein, wie Wak- 
kernagel (altfranz. lied s. 196) selbst für Gotfrieds teiliren annimmt. 

terminieren myst. 125,26. 

timpelieren Wolkenst. s. 75 erklingen. 

tjostieren Parz. 153,27. frauend. 180,3. 184,4 u.s. w. 

tiumelieren MSH. 3,26%. 

truffieren fallere Apollonius 8915. altfranz. truffer. 

tubieren Wh. 155,3. 431,15 scheint das prov. adobar, it. addobare. MS. 
2,61 toubieren von der nachtigall: gesang rüsten, anstimmen? 

turnieren Parz. 812,9. Wigal. 1168. Bit. 8899. 9002. MSH. 2,196. Troj. 
kr. 121. 

walkieren En. 5171. 

walopieren Iw. 2553. Wigal. 2288. s. galopieren. 

wandelieren Trist. 4804. 12072. Tit. 543. gewandelieren MSH. 3,262, wo 
Ben. 346 wentschelieren. wandelieren hat auch Oberlin 1937 aus dem 
ungedr. troj. kr. 

wedelieren Tit. 4515, wedeln, flattern. 

wenkelieren Mones anz.. 4, 368. 

zimieren S. Ulrich 433. Er. 735. Wolfr. Tit. 16,4. Eracl. 1706. Parz. 36, 
22. 39,17. 121,14. 168,18. 284,1. 341,4. 802,13. Lanz. 360. 501. 
5271. Ernst 4794. diese stellen haben nur das part. gezimieret; doch 
kommt auch zimieren zimierte vor Parz. 736,22. Eracl. 1706. Helbl. 
13,79. 


über das pedantische in der deutschen sprache. 215 


Erwägt man die art und weise dieser wörter, so kann kein zweifel ob- 
walten, dafs sie in der zweiten hälfte des dreizehnten jh. mit der höfischen 
poesie aufkamen, vorher in Deutschland unbekannt waren. wenn also Be- 
necke im wörterbuch zu Iwein s. 238 bei leisieren ein ahd. leisieru aufstellt, 
so war das eine unmögliche form. aus murmurare entsprang ahd. murmurön 
murmulön, und noch die Windsberger psalmen s.269 geben murmuren, kein 
murmurieren. in der ganzen Vorauer hs., in der neulich von Karajan her- 
ausgegebnen begegnet noch kein einziges -ieren, auch, wenn ich nicht irre, 
keins im Alexander, im alten Glicheser, beim pfaffen Conrad, keins bei Kürn- 
berg Husen Spervogel Eist Meinlo. Hartmann ist damit noch enthaltsamer 
als Wolfram, doch scheint er im älteren Erec mehr beispiele zu haben als 
im Iwein und Gregor (vgl. Haupts vorrede zu Erec s. XV). die turnierwör- 
ter behurdieren punieren walopieren zimieren, neben dem vernogieren, mö- 
gen zuerst gangbar geworden sein; bald aber verfuhr die dichtersprache freier 
mit diesem ihr bequemen bildungsmittel. einmal gestattete sie das praefix 
deutscher partikeln, wodurch das fremde wort heimisches aussehn gewann. 
becondwieren becroigieren geprüevieren überparlieren underparrieren un- 
derschackieren zequaschieren zehurtieren; statt renegare wurde vernogieren, 
statt desconfire entschumphieren gewagt, gleichsam um den gegensatz des siegs, 
die niederlage, durch die partikel hervorzuheben; ich kann nicht annehmen, 
dafs en- oder ent- sich hier blofs phonetisch aus dem romanischen anlaut SC 
entwickelt habe. Ein andrer schritt war abernoch kühner, man hieng das -ieren 
auch deutschen wurzeln und wörtern an, um ihrem begrif irgend eine neue 
bewegung zu ertheilen; so entsprangen balzieren bildieren halbieren swan- 
zieren teilieren (bei Conrad) wandelieren murmerieren walkieren wedelieren 
und aus dem ad). stolz stolzieren. nicht zufrieden mit rüschen bildete man 
rüschieren, wie aus prüeven prüevieren. 

Einigemal bleibt über das romanische verbum unsicherheit, und das 
deutsche könnte erst aus einem der romanischen sprache entliehnen subst. 
abgeleitet sein, zimieren aus zimier, amesieren aus amesiere, barbieren aus 
barbiere, da sich keine roman. verba wie zimier barbier darbieten. 


MNL. EREN, IEREN. 


Die mnl. sprache unterschied, glaube ich, vollkommen richtig zwischen 
-eren (praet. -eerde) und -ieren (praet. -ierde), je nachdem der franz. infi- 


216 J. Grimm 


Al 


nitiv auf -er oder -ier ausgieng; da indessen die franz. form schwankt, mufs 

es die mnl. noch mehr gethan haben und ich kann das folgende, ohnehin 

sehr unvollständige verzeichnis nicht nach diesem unterschied einrichten. 

überhaupt aber herscht -eren vor, woraus sich auch das nnl. alleinwaltende 

-eeren begreift. 

abiteren minnenloop 2,213 kleiden. 

absolveren Rose 11019. 

accouslieren Ferg. 537 franz. accoster. 

achemeren Ferg. 3790. 4615 altfranz. acesmer. 

acquentieren Lanc. 27334 fr. accointer. 

acquireren Part. 87,8. 

affalgieren Part. 77,29. 

aisieren Lanc. 4254. Ferg. 4924. 4974. Rose 4291. 10797. altfr. aaisier. 

amelgeren fr. emailler. minnenloop 2,213. 

antieren Rose 3751. 8649. Lanc. 5245. v. hantieren. 

assaelgieren Rose 9421. Part. 77,28 franz. assaillir. 

aviseren Ferg. 3657 franz. aviser. 

baberen, tebaberen? Part. 111,26. 

baleren Ferg. 3789. 5433. Rose 714. 724. altfranz. baler, span. balar. 

barenteren Lanc. 2730. barteren Rose 1391. 1545. altfr. barater, mlat. ba- 
ratare. 

batalgieren Ferg. 280. 3904. 4201 fr. batailler. 

blameren Part. 85,25 fr. blämer. Rose 806. 4466. 

brachieren Ferg. 1793 fr. embrasser. 

canceleren Ferg. 5304 fr. chanceler. 

carsereren Part. 58,11 mlat. carcerare. 

convoüeren Part. 82,21 fr. convoier. 

craieren Rein. 45. craihieren Ferg. 2502. 5066 fr. crier. 

disputeren Part. 36,1. 

faelgieren Maerl. 3,237. Rose 9420. Lanc. 28173. falgieren Part. 65,26. 
76,4. 95,25. 119,5. fr. faillir. minnenloop 2,210. 

‚antaseren minnenloop 2,211. 

festeren Ferg. 5303 franz. feter, Minnenloop 2, 211. 

flaioteren Ferg. 5434 fr. flüter. 

Jloreren Minnenloop 2,212. 


über das pedantische in der deutschen sprache. 247 


Jolleren Ferg. 2254. 5494 franz. fouler. 

Jonderen Minnenloop 2,212. 

Jormieren Rose 762. 

Jrotsieren Ferg. 4159 fr. frotter. 

grongieren Part. 82,22 fr. grogner, lat. grunnire. 

hantieren Minnenloop 2,237. 

imagineren Minnenloop 2,217. 

josteren Part. 75,10. 76,25 fr. joüter, mhd. tjostieren. 

lachieren Ferg. 518 fr. lächer. 

laisieren, verlaisieren. Ferg. 1794 mhd. leisieren. 

livereren liberare, telivereren Part. 83,11. 

losengieren Rein. 3091 altfr. losengier. 

machieren Lanc. 9902, wohnen? 

mayeren Lane. 10541. 10789 altf. esmaier. 

mineren Rein. 704. Rose 10291, eingraben, minieren. 

monteren Part. 62,2. 64,26 fr. monter. 

museren Rose 1392 fr. muser. 

vernoyeren vrenegare Maerl. 3,140. 

orgeniren organizare Diut. 2, 226°. 

pingieren Rose 761. 

plaidieren Rein. 1873. Diut. 2,200° altfr. plaidier, mlat. placitare. 

ponjeren Ferg. 4160 mhd. punieren. 

rampeneren Maerl. 3,141. rampineren Rein. 703. 851. rampeniren Diut. 2, 
209 altfr. ramposner. 

rasteren Rose 3133. 

regnieren Minnenloop 2, 281. 

scakieren Rose 842. 

scandaliseren Rein. 4045. 

scofferen Part. 60,20. 61,12. sconfieren Part. 36,13 mhd. entschumpfieren. 

sotteren infatuare. Diut. 2,21%. 

tornieren Ferg. 5068. Dint. 2,207°. 

venineren venenare Lane. 16415. 

visieren Maerl. 1,25. 37. Rose 713. 841. 1243. Part. 69,32. 104,28. 118, 
16. Ferg. 3658 fr. viser. 

walopperen Ferg. 5195. 

Philos.- histor. Kl. 1847. Ee 


918 J. Grimm 


Einigemal, wenn dem infinitivischen R schon ein andres vorausgeht, 
wird jenes weggelassen, es heifst Ziveren Ferg. 4204 franz. livrer, nicht live- 
reren, und conquert Part. 68,23, nicht conquerert, franz. conquis von con- 
quire. 

NHD. IEREN 
sind nicht zu zählen, so manche der mhd. aufser gebrauch kamen. man hat 
fortgefahren sie aus lat. und romanischen wörtern zu bilden und durch ihre 
übergrofse menge unsere sprache zu verderben. gute rede weicht ihnen so 
viel möglich aus, aber im gemeinen leben haften sie fest. Während so viel 
falsche IE geschrieben werden, unterdrückt die gewöhnliche schreibung IREN 
hier das richtige zeichen für den langen und betonten laut. ich gebe nur bei- 
spiele und füge einige bemerkungen hinzu. addieren allarmieren alterieren 
amalgamieren ambulieren amusieren (nicht amüsieren) appellieren (1) ar- 
mieren barbieren (bart abnehmen, verschieden von mhd. barbieren) einbal- 
samieren basieren blamieren blasonnieren blockieren blumieren bordieren 
bravieren buchstabieren cassieren eincassieren chargieren charmieren chas- 
sieren contrahieren damnieren dinieren dividieren drappieren dupieren 
embrassieren engagieren exercieren exponieren exportieren fetieren fingie- 
ren figurieren flankieren flattieren florieren formieren frankieren galoppie- 
ren glasieren glossieren grassieren gravieren grundieren gruppieren habili- 
tieren handtieren harfenieren harmonieren haselieren hausieren honorieren 
irrlichtelieren (Göthes Faust 71) junkerieren verjunkerieren kastrieren kar- 
tieren kurieren kutschieren lakieren lamentieren lautieren läuterieren la- 
vieren liniieren logieren erlustieren abmajorieren markieren marschie- 
ren maulschellieren medicinieren melieren meliorieren moderieren mole- 
stieren narrieren negieren normieren observieren ordinieren parieren par- 
lieren passieren pausieren phantasieren planieren plaidieren postieren po- 
stulieren praesentieren pressieren probieren protestieren purgieren quadrie- 
ren quittieren radieren raisonnieren rappieren rasieren recturieren reformie- 
ren regalieren regieren rentieren resolvieren restieren rottieren ruinieren 
(nicht rüinieren) rundieren sabatisieren (H. Sachs) salvieren (retten, ver- 
schieden von mhd. salüieren grüfsen) scharmuzieren schimpfieren ver- 
schimpfieren schnabelieren schraffieren skizzieren spazieren (lat. spatiari) 


(') altn. appellera, fornmannasögur 9,486. 10,99. 


über das pedantische in der deutschen sprache. 219 


spendieren spintisieren sgoliieren staffieren stolzieren strangulieren strapa- 
zieren subtrahieren suppieren tapezieren taxieren temperieren trium- 
phieren turnieren usurpieren variieren venerieren vindicieren visieren vo- 
mieren wardieren wattieren. 

Hat ein fremdes wort kein -ieren, so ist das ein zeichen älterer auf- 
nahme, wir sagen pflanzen, nicht pflanzieren, weil schon ahd. phlanzön galt 
(auch nnl. planten, dän. plante, schwed. aber plantera); doch haben sich 
neben prüfen (mhd. prüeven) auch noch probieren (mhd. prüevieren) einge- 
führt. liefern entspricht dem franz. livrer und lautet nicht lieferieren, wie 
schwed. lefverera. in dem aus manier gemachten manierieren steckt das IER 
sogar zweimal. Das anfügen der fremden ableitung auch an deutsche wör- 
ter ist noch viel weiter getrieben worden, amtieren für amt halten, gastieren 
für gäste setzen, narrieren ein narr sein, hofieren den hof machen und mit 
dem unanständigen sinn in den hof bei seite gehen, schnabelieren mit dem 
schnabel essen, fingerieren den finger rühren (schwed. fingrera), blumieren 
statt des besseren blümen. die mahler, wenn sie grund legen und schatten 
eintragen sagen grundiern eschattieren; juden die von haus zu haus feil bieten 
hausieren, und geben vor zu handelieren. haslieren soll von hase herrühren, 
vielleicht ists aus harceler entstellt. Hans Sachs braucht häufig glidmassieren; 
handtieren oderhantieren scheint dem .nnl.hanteeren nachgeahmt (verhantieren 
weisth. 2,550), die Holländer bilden auch voeteeren, was nhd. fufsieren wäre. 
aus kutsche wird kutschieren, den wagen leiten. aufser stolzieren gilt halbie- 
ren, in zwei hälften theilen, also wieder verschieden vom mhd. halbieren. 

Als die bildung recht fest stand wurde sie auch angewandt, ohne dafs 
ein französischer infinitiv zum grunde lag, man zog aus phantasie phantasie- 
ren, aus spion spionieren, aus dem ital. spinta spintisieren, aus bramarbas 
bramarbasieren. Deutsche partikeln treten noch häufiger vor, um den frem- 
den klang einheimisch zu machen: becomplimentieren, einbalsamieren, un- 
terminieren, umsomehr erlustieren ausstaffieren verclausulieren verschim- 
pfieren verjunkerieren (sein geld wie ein junker verthun), Gellert braucht 
ausschändieren für hart schelten. 

Den sogenannten Cimbern der sette comuni lag der italienische unter- 
schied zwischen -are -ere -ire zu nah im ohr, als dafs sie nicht, wie Schmel- 
ler anmerkt, ihr amarn (amare) von stupirn (stupire) und stordiarn (stordire) 
hätten abstehn lassen. diese armen, vom lehen der muttersprache abgeschnitt- 

Ee2 


220 J. Grimm über das pedantische in der deutschen sprache. 


nen bauern vermochten den eindrang der romanischen wörter nicht von sich 
abzuwehren. 

Auch die slavischen sprachen haben nicht umhin gekonnt einige die- 
ser ausdrücke aufzunehmen, unter ihnen zumeist die polnische, gegen das 
fremde element sich am wenigsten sträubende. in der regel aber hat sie mit 
gutem tact das zeichen des französischen infinitivs ausgelassen, sie sagt are- 
stowac arretieren, balsamowad einbalsamieren, bankrutowad bankrottieren, 
egsaminowac examinieren, notowac notieren; nur einigemal hat der deutsche 
einflufs gesiegt: eksercerowac exercieren, marszerowaC marschieren, bis ins 
böhm. marSirowati, russ. mMapımmporams. Das alles muste sich die alte deut- 
sche wurzel marka gefallen lassen, denn marcher, it. marciare will eigentlich 
sagen: über die mark, über das land gehn. 


Über 


‘ein Bruchstuck des 98"” Buchs des Livıus. 


Y 
H"” PERTZ. 


wunnnnnnnNNWUVU 


[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 9. December 1847.] 


I. einer früheren Sitzung dieses Jahres legte ich der Königlichen Akademie 
ein Pergamentblatt vor, worauf ich mit Hülfe chemischer Reagentien zwei 
Stellen des 98° Buchs des Livius entdeckt hatte; die Akademie genehmigte 
damals auf meinen Antrag, dafs das Blatt in Kupfer gestochen und dadurch 
ein Mittel gegeben würde, weitere Entdeckungen vorzubereiten; die Proben 
dieser Stiche sind vollendet und ich erlaube mir nunmehr einige Bemerkun- 
gen über die Herkunft, den Inhalt und sonstige Verhältnisse des Bruchstücks 
vorzutragen. 

Herr Dr. Heine von hier, welchem ich früher bei der paläographi- 
schen Vorbereitung auf seine Reise nach Frankreich, Spanien und Portugal 
einige Hülfe gewähren konnte, und der während dieser Reise mich durch 
sehr wichtige und dankenswerthe Forschungen und Arbeiten, insbesondere 
für die künftige Bearbeitung der Westgothischen Gesetze erfreut hatte, 
brachte mir bei seiner Rückkehr unter andern für die Königl. Bibliothek 
bestimmten Geschenken, den einzigen bisher unbekannten Pergamentdruck, 
das Dedicationsexemplar, von Joh. Philippi de Lignamine historia Ferdi- 
nandi regis Sieiliae, Romae 1471. und mehrere lose Pergamentblätter, wel- 
che er bei spanischen Buchhändlern gekauft hatte, und deren eins ihm we- 
gen der alten Unzialschrift, die es enthält, besonders beachtungswerth schien; 
nichts älteres, erklärte er, habe er in Spanien gesehen. Die übrigen Blätter 
zeigten Westgothische Minuskel des 9“ und 10'“ Jahrhunderts, und wurden 
von mir sogleich zu den Handschriften der Königl. Bibliothek gelegt, das 
Blatt mit Unzialschrift hingegen einer weitern Untersuchung vorbehalten, da 
es an einzelnen Spuren älterer Schrift als unzweifelhaftes Palimpsest erkannt 
wurde. Zwar war das Blatt, welches Herr Dr. Heine von einem Buchhänd- 
ler in Toledo gekauft hatte, nur klein, dem Gehalte nach ein Drittheil eines 


222 Pertz 


Folioblatts; aber seitdem ich in Neapel die Bruchstücke des 10'* Buchs der 
Pandecten und des Lucan aufgefunden hatte, war unter allen Palimpsesten 
die mir in verschiedenen Bibliotheken vorkamen keines, welches mit so gro- 
{ser Wahrscheinlichkeit auf Reste classischer Litteratur hoffen liefs, als das 
vorliegende. Die obere Schrift, auf der einen Seite „isti ab aquilone et mari, 
alii autem laetamini caeli et exultet terra” beginnend, und in der 5" Zeile 
„paulus in secundo ad corinthios,” leitete auf einen theologischen Commentar 
oder eine Predigt; sie ist wirklich aus des heiligen Hieronymus Commentar 
zum Jesaias und findet sich im 49. Capitel des 13. Buches(?!) Die Schriftzüge. 
sind eine mäfsig grofse, sehr deutliche Majuskel, worin nur B, N, R, $ ent- 
schieden die Capitalform zeigen, welche bei C, I, O im Übergang zur Unzial 
überhaupt nicht verloren geht; die grofse Mehrzahl der Buchstaben hingegen 
A,D,E,F,G,H,L,M, P, Q, T, V erscheinen durchaus als Unzial, D, H, 
L hoch über, F, G, P, Q unter die Zeile herabgezogen. Die einzelnen Buch- 
staben stehen gewöhnlich unverbunden in gleichmäfsiger Entfernung, ohne 
alle Rücksicht auf die Worttrennung. Als Interpunctionszeichen erscheint 
einmal ein Punct, öfter ein Zeichen gleich dem $S. Das Alter der Schrift 
fällt demnach in das siebente Jahrhundert; man wird nicht weit fehlen, wenn 
man annimmt, dafs zu Dagoberts und Muhameds Zeit die Handschrift, wel- 
cher das Blatt angehörte, nach Vertilgung ihres ersten Textes als Stoff zu 
dem Commentar des Hieronymus verwendet worden ist. Um die seit 1200 
Jahren schlummernde erste Schrift wieder hervorzurufen, wählte ich unter 
den mir aus mancher Erfahrung als wirksamst bekannten Stoffen das Am- 
monium hydrosulphuratum und die Giobertsche Tinctur, 6 Theile Wasser, 
4 Theil Acidum muriaticum, + Kali zooticum (prussiat de potasse). Je nach 
der Zusammensetzung der früher angewandten Dinten hat bald die eine bald 
die andere dieser Mischungen einen gröfseren Erfolg; ich liefs beide frisch 
bereiten, reinigte das Pergament mittelst kalten Wassers sorgfältig von Staub 
und Unreinigkeit, und da ein Versuch zeigte, dafs die alte Dinte gegen Gio- 
bertsche Tinetur sehr empfindlich war, so mischte ich deren beide Bestand- 
theile in ungefähr gleichem Maafse, befeuchtete damit das eben gereinigte 
noch nasse Pergament, und liefs es zwischen weifsem Löschpapier gepresst 
zum Trocknen 48 Stunden liegen. 


(') Opera edit. Vallarsii Veronae 1735. T.IV. p. 566. 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 223 


Bei der Eröffnung zeigte sich die alte Schrift im Ganzen sehr deutlich 
und schön himmelblau. Das Lesen ward nur dadurch erschwert, dafs die Zei- 
len der alten Schrift von den in gleicher Richtung darüber laufenden neuen 
Zeilen zum Theil verdeckt, und mehrere Stellen beim Abschaben oder spä- 
term Gebrauch verletzt waren. Es trat der andere Übelstand hinzu; von den 
je zwei Columnen, welche der Hieronymus überdeckte, lag keine ganz vor, 
sondern es waren von der breiteren einige Buchstaben abgerissen, während 
sich von der Nebencolumne überhaupt nur wenig Buchstaben erhalten hatten. 

Man las auf der Vorderseite des Hieronymus folgende elftehalb Zeilen: 


_IERAE PoLENTULUSMARCELL 
SPECTA EODEMACTOREQUAEST 2 
LLIIN INNOUAMPROUDINCI 3 
RATDEI CURENASMISSUSESTC 4 
-TACOT EAMORTUIREGISAPIC 5 
QUOR" TESTAMENTONOBISD 6 
DAEET PRUDENTIOREQUAM - 
TAERO PERGENTISETMINUSG 8 
ETUM RIAEAU IDIIMPERIOCC 9 
TCUPI NENDAFUITPRAETERE 10 
IR, PFI DERTCNPVAA2PM\?FI 11 


Es fehlten also die letzten Buchstaben jeder Zeile. Auf der Kehrseite wa- 
ren die ersten Buchstaben jeder Zeile der Hauptcolumne weggefallen: 


ISSAEU I TIAQUAREFATI Pauc 
TAPLEBESFORTECONSU ULTER } 
\MBOQ-METELLUMCUI CUPIT, ; 
TEACRETICOCOGNOME ALIN f 
ITUELCANDIDATU INCO } 
AETORIUMSACRAUIADE LERU 6 
CTISCUMMAGNOTU MIHI 7 
LTUMINUADITFÜGIEN TIAEC ; 
Q-SECUTAADOCTAUIDO ALQ 9 
MQ-PROPRIOREERATIT BIPA " 


>UTCNACULUMPERRLIE m 


224 Pertz 


die nur in den oberen Spitzen der Buchstaben vorhandene elfte Zeile konnte 
nur durch scharfe Auffassung dieser Überbleibsel mit ziemlicher Gewifsheit 
hergestellt werden; bei den übrigen zeigte es sich bald, dafs in den beiden 
gröfstentheils erhaltenen Columnen, bei der einen zu Ende, bei der andern zu 
Anfang der Zeilen, zwei bis höchstens vier Buchstaben vermifst würden; dafs 
die Zeilen ungleich ausliefen, sah man an den erhaltenen Ausgängen zweier 
Columnen; die der Vorderseite enthalten von fünf bis zu sieben Buchstaben. 

Die Herstellung des Verlorenen ergab sich daher in den meisten Fäl- 
len von selbst; bei den Zeilen der Vorderseite 2, 3, 4, 5, 8, 9 war kein 
Zweifel; in der ersten Zeile wo man MARCELLI F. oder MARCELLINUS le- 
sen konnte, verdient das Erstere den Vorzug, weil es sich in den muthmafs-: 
lichen Gränzen hält; derselbe Grund spricht für DATA in der 6" Zeile; 
INDE in der 7“ fordert der Sinn, da von einem aus der Provinz abgehenden 
Beamten die Rede ist, während das entgegengesetzte EO dem Sinne wider- 
spräche; pergit inde in diesem Sinne kommt bei Livius 23, 27 vor. Das er- 
gänzende DI der 10 Zeile wird durch das anscheinende VERSORUM der 
11‘ gefordert. 

Gröfsere Schwierigkeiten bietet die Rückseite dar. Gleich das erste 
Wort läfst sich nicht mit Gewifsheit herstellen. Der Wortausgang IS kann 
einem Substantiv oder Adjectiv angehören; ob z.B. consularis oder consu- 
lis, militaris, intolerabilis(') oder irgend ein anderes Wort zu lesen, bleibt un- 
gewifs; enthält es mehr als 5 oder 6 Buchstaben, so war der Anfang noch am 
Schlusse der vorhergehende Columne geschrieben. Die Ergänzung der zwei- 
ten Zeile ist sicher. Da der schräge Strich zu Anfang der 3" Zeile nur 
einem A oder M angehören kann, letzteres aber hier nicht zulässig ist, so 
ergiebt sich LES, consules, vor AMBO mit Sicherheit. Auch die Ergänzun- 
gen der 4“, 5" und 6‘ Zeile stehen wohl fest. Ungewifs hingegen ist die 
der 7“ Zeile; wenn, wie kein Zweifel, der Anfang des ersten Worts darin 
CTIS gelesen werden mufs, so bietet sich TECTIS dar; das Volk greift den 
Consul in der Via sacra von den Dächern und Häusern herab an. Da die 
Bedeutung des de(?), von einem Orte her, feststeht, so kann gegen diesen 


(!) Wie Liv. 1, 53. 
(2) Cic. Verr. 2. 4. 40 haec agebantur palam ac de loco superiore; Terent. Andr. 3. 
2. 11. clamat de via. 


[SS] 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 2235 


Vorschlag nicht angeführt werden, dafs Livius an einer anderen Stelle de tec- 
tis moenibusque pugnare in einer anderen Bedeutung, wegen der Häuser und 
Mauern, gebraucht hat('). 

Die Auflösung des so ergänzten Textes bietet keine besondere Schwie- 
rigkeiten. Die Gestalten der Buchstaben sind fast überall mit Sicherheit zu 
erkennen. Zur Unterscheidung der Hauptabsätze, als Unterabtheilung der 
Capitel, sehen wir ein Zeichen, gleich einem grofsen P, von fast doppelter 
Buchstabenhöhe, welches hier zweimal, zu Anfang der vierten Haupt- und 
der zweiten Nebenkolumne, vorkommt, und sonst nicht bekannt ist; es 
wird als die ursprüngliche Gestalt des Paragraphen-Zeichens aufzufassen seyn 
wozu also der Anfangsbuchstab des Wortes Paragraphus diente. Isidor in 
den Origines (?) hat dafür das Zeichen /" und F” erhalten, welches einem gro- 
{sen Gamma ähnlich, entweder aus unserm Zeichen oder vielleicht aus dem 
verkürzten Griechischen M, T entstanden ist(°); diesem schliefsen sich in 
den Handschriften des früheren Mittelalters die leicht geschwungenen Zei- 


chen Tunı ‚ in der Originalhandschrift des Geschichtschreibers 


Siegbert von Gemblours de vita Wicberti und Gesta abbatum Gem- 
blacensium aus der zweiten Hälfte des 14'* Jahrhunderts schräg 7 Fr 
und selbst fl pi ‚im 12" Jahrhundert in Godeschalks Fortsetzung H Je ST, 


Van woraus sich dann späterhin verschiedene Gestalten bis auf die bei uns 
gebräuchliche herab gebildet haben. Neben diesen gröfseren Abtheilungs- 
zeichen, findet sich aber weder irgend eine Unterscheidung der Sätze und 
Satztheile, noch der einzelnen Wörter. Wie Sueton von Augusts Hand- 
schrift berichtet: Non dividit verba (*), so sind auch hier die Buchstaben zwar 
ohne alle Verbindung, aber auch ohne alle Trennung neben einander gestellt. 
Es war eine zweite Eigenthümlichkeit des Augustus „nec ab extrema parte 
versuum abundantes litteras in alterum transfert, sed ibidem statim subücit 


eircumdueitque”, dafs er am Ende der Zeilen nicht abbrach, sondern die 


(dr be In al 
e) L 2. 
(°) Der Trait€ de diplomatique P. III. 485 giebt darüber kaum etwas mehr als schon 
Walthers diplomatisches Lexicon enthielt. 
(*) Cap. 87. 
Philos.-histor. Kl. 1847. Ff 


936 Perrz 


überzähligen Buchstaben eines angefangenen Wortes gleich darunter — oder 
wie es in alten Handschriften auch sehr häufig vorkommt, darüber — schrieb 
und durch einen Strich an die richtige Stelle leitete ; hier hingegen sind die 
zweiten Hälften der Worte wie glo-riae compo-nenda di-uersorum fati- 
gata consu-les tu-multum fugien-temque do-mum jedesmal in den Anfang 
der folgenden Zeile verwiesen; nur ein oder höchstens zwei Buchstaben, 
welche keine eigene Sylbe bildeten, wurden mittelst eines Abkürzungsstri- 
ches angehängt, in durch I”, con durch CO ohne Zweifel auch das fehlende 
n in cognomen durch einen Strich oberhalb neben dem e ausgedrückt; ein- 
mal ist in quorum das Ende durch ein kleines u mit dem Strich darüber ge- 
geben. Hier finden wir also den Grund und Anfang der Abkürzungen, 
die jedoch in der Mitte der Zeilen noch fast gar nicht vorkommen. Nämlich 
nur folgende, je einmal: 

Q: als Sigle für Quintus, Quintum 

Q- für die Partikel que 

Q- für das Relativum qui 

PRTORE für Praetore. 
Über Q- als Namen ist nichts zu sagen; Q* für que steht aus Inschriften und 
aus ältesten Handschriften, z.B. der Vaticanischen des 91°“ Buchs des Li- 
vius und der Rede pro C. Rabirio, fest. Das Relativum hingegen wird in 
der alten Capital und Unzial in Handschriften und Inschriften gewöhnlich 
ausgeschrieben; mit ausgelassenem u, als qi sah ich es in einer Christlichen 
Inschrift des Vaticanischen Museums 


Konısvs QI BIXITME 
Ns DIESSN 


durch Q: wird es unter andern in Q:V-=QVIVIXIT und in einer Inschrift 
bei Marini Iscrizioni Albane S. 109, ferner in der Vaticanischen Handschrift 
der Rede pro Rabirio(!) ausgedrückt; als Tironische Note ist es ein auf- 
rechtstehendes 4. 

Das Wort Praetor wird in Inschriften und Handschriften theils ganz 
ausgeschrieben, theils PRAET: wie bei Marini S. 51, 54, 56 abgekürzt, 


(') Niebuhr Tafel N. 3. Z. 1. und pag. 75. 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 297 


theils und sehr häufig nur durch die beiden Anfangsbuchstaben PR: bezeich- 
net, z.B. in Marini S. 53 und in den Handschriften des Livius(!). Die sehr 
schwachen Züge unseres Pergaments lassen nicht mit Sicherheit erkennen, 
ob der obere kleine Strich des T noch vorhanden ist; ich glaube aber die 
Annahme, dafs er vorhanden gewesen, um so mehr begründet, da der Buch- 
stab als I gelesen „‚qui propriore erat” nicht verständlich ist, und es auf domum 
zu beziehen eben so unzulässig wäre, da Q' nicht quae gelesen wird, und 
propriore für proprior stehen mülste; ich lese also PRT = praetor und 
PROPRTORE pro praetore. Übrigens haben auch die Schreiber den obe- 
ren Strich des T Anfangs aus Versehen, später aus Gewohnheit öfter weg- 
gelassen, wie in der Tabula honestae missionis der K. Bibliothek Z. 12 der 
inneren Seite 
DVXISSENL 


steht, und 22 für nt in Handschriften des 8" und 9“ Jahrhunderts vorkommt. 


Bevor wir zu einer näheren Betrachtung des Textes übergehen, ist es 
nothwendig über das Verhältnifs der vier verschiedenen Bruchstücke ins Klare 
zu kommen, zu erkennen, durch wie weite Lücken sie von einander getrennt 
sind. Zunächst lehrt der Augenschein, dafs uns hier je zwei Columnen ei- 
ner Seite, und nicht vier Seiten, vorliegen; der enge zwischen beiden Co- 
lumnen leergelassene Raum im Vergleich gegen den vier Finger breiten obe- 
ren Rand beseitigt jeden Zweifel; es ist daher gleichfalls gewifs, dafs die linke 
Columne jeder Seite der rechten vorhergeht. Über die einstige Länge der 
Columnen und den Umfang der Handschrift läfst sich Folgendes theils mit 
Sicherheit theils mit grofser Wahrscheinlichkeit schlielsen. Der Text des Hie- 
ronymus enthält 17 Zeilen, vergleicht man ihn mit dem gedruckten Commen- 
tar des Werkes, so fehlen zwischen der Vorder- und Rückseite etwa 14 Zei- 
len; es war also das Pergament fast noch einmal so lang als unser Bruchstück, 
und nach dem Mafse des zur Seite weggeschnittenen Textes mehr als 1 mal 
so breit, so dafs mithin der weilsgelassene Seitenrand sowohl des Hierony- 
mus als des alten Textes dem oberen Rande beider entsprach. Da nun der 


Hieronymus mit seinem Texte und innern Rande anderthalb Columnen des 


©) Vgl. auch Lexic. Morcellianum in PROPR- und PROPRAET:- = PRO- 
PRAETOR. 


Ff2 


998 Pertz 


alten Textes in Anspruch nahm, so ergiebt sich daraus, dafs der alte Text 
nicht in zwei, sondern in drei Columnen geschrieben war, dafs jedes Blatt 
bei der Verwendung für den Hieronymus in der Mitte gebrochen, und aus 
einem grofsen Quadrat zwei Blatt Langfolio gemacht wurden. Vermuthlich 
schnitt man dabei, um nicht zu langes Format zu erhalten, noch einen Theil 
des untern Pergaments als Einzelblatt ab, so dafs wir uns das alte Pergament- 
blatt wenigstens als ein völliges Quadrat denken dürfen, welches von allen 
Seiten die Schrift mit einem sehr breiten Rande umgab. Für Quadratfolio 
spricht nicht nur die, bei einer Prachthandschrift wie diese, nothwendig vor- 
auszusetzende Schönheit der Verhältnisse, sondern auch der Umstand, dafs 
Queer-Folio und überhaupt Queer-Format, welches in Urkunden verhält- 
nifsmäfsig vorherrscht, bei alten Handschriften nur äufserst selten vorkommt; 
ein einzelnes Beispiel ist der Pariser Codex 2714 mit Urkunden - und Brief- 
Formeln aus dem 9“ Jahrhundert und dem Capitular von 817 in Tironi- 
schen Noten. Bei solchen Verhältnissen würde die Columne der alten Schrift 
zwischen 30 und 34 Zeilen gezählt haben, und der Umfang dessen was auf 
jeder Seite zwischen dem Ende der 11" Zeile der ersten und der 1" Zeile 
der folgenden Columne verloren ist, darf auf das doppelte des Erhaltenen 
angenommen werden. Die ursprüngliche Entfernung des Textes der einen 
Seite von dem auf der andern hängt davon ab, ob unser Stück zu der äufse- 
ren oder inneren Hälfte des alten Blattes gehörte: im letztern Falle ist zwi- 
schen den beiden jetzigen Seiten eine Lücke von 22. Columnen, im erstern 
nur von 20-24 Zeilen. Da nun zwischen den beiden gröfseren fast ganz er- 
haltenen Bruchstücken, welche in diesem Falle so nahe zusammenträten, gar 
kein innerer Zusammenhang ersichtlich ist, so bin ich geneigter das Erstere 
anzunehmen. Daraus folgt, dafs der alte Text der jetzigen Kehrseite den 
Anfang macht; und ich ordne und lese den Text nunmehr so: 
intoler.a- 

bilis saeuitia. (Qua re fati- 

gata plebes, forte consu- 

les ambo, (). Metellum, cui 

postea Uretico cognomen 

Juit, vel candidatum 

praetorium Sacra Via de 


tectis cum magno tu- 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 239 


multum inuadit, fugien- 
temque secuta, ad Octavi do- 
mum, qui pro Praetore erat, in 
propugnaculum peruenit 


Lücke von 20-24 Zeilen, worin der andere Consul Q. Hortensius erwähnt 
wurde. Dann neuer Absatz: 


Se: 0 aan, 89 
ulter on ie ee ir 
EUPILCeH ee ee 
ualimi a 
INK CO ee ee ee 
Ball arg Besen 
mihlei ar ee 
HaeneH ee ea 
BEREITETE SO 
bipalgsn Aut „NIE 


Lücke von 22 Columnen, 80-90 Zeilen. 


MSN. ee KWerZEe 
“een...  Specia 
haste 
A eat diem 
ee a ERLANCON! 
N N an. ERGHOEUHL 
Rn Ki, Arsienımlaelet 
ERS REN AELO 
Ol oA keiktinn 
SURRLTL. 4.055 Kb eupi 


Sr eekihlis orıtu 


Lücke von 20-24 Zeilen, darauf neuer Absatz: 


230 Pertz 


N Q. Lentulus Marcell F“. 
eodem actore quaestor 
in nouam prouinciam 
Curenas missus est, quod 
ea mortui regis Apionis 
testamento nobis data, 
prudentiore quam inde 
pergentis et minus glo- 
riae auidi imperio compo- 
nenda fuit. Praeter ea di- 
uersorum ordinum ... 


Obwohl von so kleinem Umfange sind diese Stücke doch durch ihren Inhalt 
scharf genug ausgeprägt, um einen festen Platz in dem Römischen Schrift- 
gebiete zu erhalten. 

Es ist klar, dafs sie einem Geschichtschreiber angehören; Q. Metel- 
Ius, der spätere Besieger der Oreter, bekleidete das Consulat im Jahre 69 
vor Christo; die hier erzählten Begebenheiten fallen also in dieses Jahr, und 
gehören entweder dem verlorenen fünften Buche der Historien Sallusts oder 
einem der verlorenen Bücher des Livius an. Für den letztern entscheidet 
unbedenklich der Styl, und da Livius nach den erhaltenen Auszügen seines 
Werks die Begebenheiten der Jahre 70, 69, 68 im 98°" Buche beschrieben 
hatte, so müssen sie diesem zugetheilt werden. Einen äufseren Beweis 
versagt die Beschaffenheit des Bruchstücks, da diejenige Stelle des Perga- 
ments, an welcher nach dem bekannten Gebrauche in den alten Römischen 
Handschriften, z. B. dem Neapolitanischen Lucan, dem Wiener Livius, der 
Columnentitel auf der Seite links T- LIV!- und auf der Seite rechts LIB- 
XCVIll- gestanden haben mufs, nämlich die Mitte des oberen Randes ober- 
halb der mittleren Columnen, nicht mit erhalten ist. 

Die hier erzählten Begebenheiten fallen in eine Zeit, die des Lueul- 
lischen Krieges gegen Mithridates und Tigranes, für welche wir eine reiche 
gleichzeitige Quelle nicht, von späteren jedoch Appian und Plutarch be- 
sitzen. Wie viel uns mit den verlorenen Büchern des Livius entzogen ist, 
wie reiche Aufschlüsse über so vieles Einzelne durch deren Wiederauf- 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 231 


finden erlangt werden würden, läfst sich selbst an diesem kleinen Bruchstücke 
erkennen. Sein ganzer Inhalt ist für uns neu. Von den drei darin erwähn- 
ten Männern ist der Consul Q. Metellus bekannt; die Namen des Proprä- 
tors Octavius(!) und des Quästors Q. Lentulus werden jetzt zum erstenmal 
genannt. Von den beiden Thatsachen aber, dem Aufstande des Römischen 
Volks gegen seine Consuln Metellus und Hortensius und von der Sendung 
eines Magistrats nach Cyrene im J. 69, erhalten wir hier die erste Nachricht. 
Der Zeitpunkt wann Cyrene Römische Provinz geworden, war bisher zwei- 
felhaft;, man konnte um 30 Jahre schwanken, zwischen dem Jahre 96 (658 
Roms) worin Cyrene den Römern durch Testament des Königs Ptolemaeus 
Apion zufiel(?), oder doch wenigstens der Anordnung der Cyrenaischen Ange- 
legenheiten durch Lucullus im Jahr 86 einerseits, und dem Jahr 54 worin 
Cicero in der Rede für Cn. Plancius Cyrenaica als einer Provinz erwähnt (?), 
deren Verwaltung M. Iuventius Laterensis als Quästor geführt habe. Inner- 
halb dieses Zeitraums fallen die Angaben Appians, Cyrene sey um dieselbe 
Zeit wo Bithynien (*) durch Nicomedes, den Römern durch Ptolemaeus Api- 
ons Testament zugefallen, also im Jahre 75, und Eutrops welcher dasselbe 
Ereignifs mit der Einnahme Cretas durch Metellus im J. 66 verbindet (°); 
beide sind jedoch nicht genau; Eutrop hat, wie Thrige scharfsinnig ver- 
muthet, für zwei späterhin in der Verwaltung verbundene Provinzen densel- 
ben Anfangspunkt angenommen; und Appian verbindet ebenso unrichtig das 
Testament und den Tod des Ptolemaeus mit dem des Nicomedes. In unse- 
rer Stelle nun wird Cyrenä eine nova provincia genannt, ein von dort abge- 
hender und ein neuantretender (Juästor erwähnt, das Land mufs also im 
Jahre 70 oder kurz vorher zur Provinz gemacht worden seyn. 


(') Vgl. Drumann Geschichte Roms nach Geschlechtern Th. 4, S. 218 und Th. 2. S. 
389. Der Proprätor Octavius ist keiner der dort aufgeführten; er gehört zu dem ältern 
Zweige, wenn Suetons Angabe richtig ist, dals von dem jüngern Zweige Augustus Vater 
zuerst Staatswürden bekleidet habe. In dieser jüngern Linie erscheint jedoch eine Lücke. 
Augusts Vater C. Octavius, der im Jahr 61 Prätor war, kann nicht der Enkel eines Man- 
nes gewesen seyn, der im J. 216 als Tribunus militum bei Cannae kämpfte. 

(2) Liv: Epit. ib. 70. 

(°) Thrige Res Cyrenensium. Hafniae 1828 pag. 274. 

(*) App- de bello civili I. e. 111. 

(°) Eutrop 1. 6. ec. 11 ed. Havercamp. 


232 Pexrtz 


Im Einzelnen ist zuerst der Ausdruck candidatus praetorius zu bemer- 
ken, welcher gewöhnlich einen Bewerber um die Prätur bezeichnet, hier 
aber von einem Consul gebraucht, in dem alten Sinne verstanden seyn mufs, 
wo praetor den consul einschliefsend, überhaupt den höchsten Magistrat 
bezeichnete (!), und worin Livius den Dietator praetor maximus nennt (?). 
Candidatus praetorius wäre daher der Bewerber um eine der höchsten Wür- 
den, und in dem vorliegenden Falle, der Bewerber um eine Provinz, nämlich 
Creta, welche dem Metellus zu Theil ward, nachdem Hortensius darauf ver- 
zichtet hatte. 

Die propugnacula, wohin die Verfolgung des Consuls das Volk brachte, 
sind nach der verschiedenen Richtung der Flucht entweder die des Capitols 
oder der Stadtmauer, wahrscheinlich die letztern, da des Forums nicht er- 
wähnt wird. 

Die einzelnen Wörter und Verbindungen sind dem bekannten Sprach- 
gebrauch des Livius gemäfs; plebes, actor, Octavi, Curenae als Provinz von 
fünf Städten, so wie consules ambo im Accusativ statt ambos; dagegen 
kann cum magno tumultum nur als Schreibfehler betrachtet werden, so un- 
gern man sich auch entschliefst Schreibfehler in einer solchen Handschrift 
anzunehmen. 

Denn vergleichen wir nun die Handschrift, welcher dieses Stück ange- 
hört, mit den übrigen zahlreichen Handschriften des Livius, so reicht sie an 
Alter über sie alle hinauf. 

Der Text des Livius, so weit wir ihn jetzt kennen, trat bekanntlich 
nicht auf einmal, sondern in gröfseren oder kleineren Zwischenräumen ans 
Licht. Die Römische erste Ausgabe von 1469 enthielt die erste Dekade, das 
21-32, 34-39 und die 36 ersten Capitel des 40°" Buchs. Im Jahr 1518 
wurden aus einer Maynzer Handschrift die fehlenden Capitel des 40° und 
des 33“ Buchs vom 17“ Capitel an hinzugefügt; im Jahr 1531 zu Basel aus 
einer Lorscher Handschrift das 41-45 Buch; erst im Jahr 1616 folgten die 
fehlenden siebenzehn ersten Capitel des 33“ Buchs. Um dieselbe Zeit ver- 
breitete sich das Gerücht vom Daseyn eines vollständigen Livius in der Bi- 


(') S. die Stellen bei Forcellini. Cicero de legibus IH. 3. 
E)- av MS: 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 2333 


bliothek des Serails, wofür der Grofsherzog von Toskana vergebens 5000 
Piaster bot, und welcher später dem Französischen Gesandten Harlay für 
10000 vom Bibliothekar zugesagt wurde, aber nicht zu finden war. Im J. 
1682 kamen Griechen aus Chios nach Frankreich und boten Colbert einen 
vollständigen Livius, der aus dem Brande der Kaiserlichen Bibliothek in Con- 
stantinopel gerettet seyn sollte, zu Kaufan; Bourdelot der sie selbst gespro- 
chen hatte, erzählt, der Kauf solle auf 60000 Livres abgeschlossen, und Leute 
hingeschickt seyn das Werk in Chios zu copiren, damit es nicht etwa bei ei- 
nem möglichen Schiffbruche untergehe: man sprach in Paris nur von der 
Befriedigung der Gelehrten, da der König das Werk auf seine Kosten druk- 
ken lasse und wohlfeil verkaufen werde; aber nach einiger Zeit war die Freude 
vorbei, und man hörte nie wieder etwas weder von den Chioten noch vom 
Livius. In demselben Jahrhundert erzählte ein Mitglied der Französischen 
Academie Chapelain von einem Livius des Damenklosters Fontevrauld, der 
als Pergament verkauft und zu Raketen verbraucht sey; an mehr als 12 Dut- 
zend derselben habe man die Lateinischen Titel der 8“, 10‘ und 11" Decade 
gelesen(!). Ein angebliches Bruchstück des 16“ Buchs aus einer Salmans- 
weiler Handschrift, welches Schöpflin der Pariser Akademie und Draken- 
borch (?) mittheilte, ward von beiden als Stück des Leonardus Aretinus de 
bello Punico erkannt. Man hatte schon die so oft getäuschten Hoffnungen 
aufgegeben, als im Jahr 1773 Bruns und Giovenazzi in einem Vaticanischen 
Palimpsest ein Bruchstück des 91° Buchs entdeckten und herausgaben, wel- 
ches dann Niebuhr im Jahr 1820 berichtigt und vervollständigt hat. Keine 
aller bisher aufgefundenen Handschriften enthält also mehr als nur einen 
Theil, meistens eine oder eine halbe Decade. 

Die Handschriften, welche bis jetzt für die erste Decade benutzt sind, 
führen den Text auf eine Recension aus dem Anfange des sechsten Jahrhun- 
derts zurück, aber keine derselben reicht über das 9* Jahrhundert hinauf. 
Die älteste Handschrift für die dritte und vierte Decade wird ins 8° Jahrhun- 
dert gesetzt. Die Lorscher, jetzt Wiener, in welcher allein die fünf Bücher 
der fünften Decade erhalten sind, ist, wie eine frühere von mir bekannt ge- 


(') La bibliotheque choisie de M. Colomies nouvelle Edition augmentee des notes de 
MM. Bourdelot, de la Monnaye et autres. Paris 1731. S. 40-46. 


(2) Drakenb. Livius T. VII. p. LXXIX. 
Philos. - histor. Kl. 1847. Gg 


234 Pratz 


machte Schriftprobe (!) zeigt, in einer kleinen Unzial geschrieben, deren 
meiste Buchstaben die Capitalformen ganz verlassen haben, welcher allenfalls 
nur noch N, Sund O angehören; diese Bücher können daher auch kaum über 
die Zeiten Cassiodors hinaufgesetzt werden. 

Es bleibt also nur das Palimpsest des 91“ Buches übrig, welches dem 
unsrigen auch darin ähnlich ist, dafs die neuere Schrift gleichfalls des heil. 
Hieronymus Commentar zum Alten Testamente enthält. Für die umfang- 
reichen Werke dieses Kirchenvaters fanden die geistlichen Abschreiber in 
einem Exemplar des Livius den schönsten Stoff in erwünschter Masse vor, 
da die 142 Bücher nach dem Mafsstabe der dritten Decade vierzehn Bände 
von je 200-250 Blättern im gröfsten Format unsers Bruchstücks erforderten, 
welche nach unsern Preisen allein an Pergament gegen 6000 Thaler werth 
waren. Aber der Gedanke welcher nahe liegt, dafs beide Bruchstücke, das 
Vaticanische und das unsrige, ursprünglich derselben Handschrift angehört 
haben könnten, wird durch den Augenschein widerlegt. Niebuhr, der eine 
Schriftprnbe gab, meinte, das Römische Fragment gehöre der Schrift nach 
in eines der Jahrhunderte vom 1°" bis 8°", der Rechtschreibung wegen setzte 
er es in die Zeiten des sinkenden Reichs und des Symmachus. Da die 
Schriftprobe nicht ganz genau ist (?), so läfst sich nur sagen, dafs sie im 
Charakter, nicht aber in der Gestalt aller Buchstaben, dem Vaticanischen 
Terenz ähnlich ist, ihr Anspruch auf ein hohes Alter wird auch durch das 
Vorkommen zusammengezogener Buchstaben N = NS nicht aufgehoben, 
da wir dergleichen in einer Herculanensischen Inschrift sehen (°). 

Wer unabgeschreckt durch Niebuhrs Warnung sich an den Versuch 
machen wollte, die Geschichte der Römischen Majuskel wissenschaftlich zu 
begründen, wird nur dann auf einigen Erfolg rechnen können, wenn er so- 
gleich beim Beginn seiner Untersuchung Alles dasjenige aussondert, was als 
Arbeit eigentlicher Kunstschreiber zu betrachten ist und von geschickten 


(') Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtkunde T. 4. Schrifttafel zu 
S. 521. 
(2), 9222: 
(°) Bei Mazois IV. t. XL: 
AP. CLAVDIO PVLCHRO 
COS. IMP. 
HERCVLANENSES. POST. MORT. 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 235 


Händen nach guten Vorbildern zu jeder Zeit angefertigt werden kann. Welche 
Meister dieser Art noch im 9“, 10“ und den folgenden Jahrhunderten ge- 
lebt haben, zeigen nicht wenige auf uns gekommene prächtige Handschrif- 
ten; und es giebt einzelne, wie das Evangeliar der K. Bibliothek, die eine 
so reine und schöne Capital zeigen, dafs sie der Zeiten des Augustus wür- 
dig wären. Solche Majuskel ist auch späterhin nicht nur seiten- oder stel- 
lenweise nachgeahmt, sondern das ganze Mittelalter hindurch zu Über- und 
Unterschriften angewendet worden; ich halte es daher mit Niebuhr für un- 
möglich, aus solchen Denkmählern irgend einen Schlufs auf die Zeit ihrer 
Entstehung zu ziehen. Dagegen ist es nicht nur thunlich sondern auch für 
eine wissenschaftliche Beurtheilung der Majuskel-Handschriften nothwen- 
dig, alle noch übrigen Denkmähler ihres Gebrauchs im gewöhnlichen Le- 
ben zu untersuchen, und aus ihrer Vergleichung zu ermitteln, ob sich über 
die Ausbildung der lateinischen Majuskel etwas Näheres ergiebt, und da- 
durch eine feste Grundlage für diesen Theil der Diplomatik gewonnen wer- 
den kann. 

Die Denkmähler, welche hiebei in Frage kommen, sind sowohl die 
eigentlichen Handschriften als auch die Metall- und die Steinschriften. 

Von Handschriften giebt es nur eine einzige, deren Alter zwischen 
den Jahren 31 vor und 79 nach Christo gewifs ist, das Gedicht auf Octa- 
vians Krieg gegen Antonius und Cleopatra, welches in Hereulanum gefun- 
den wurde (!) es ist auf Papyrus geschrieben, mit einer leichten flüchtigen 
Hand, schräge Quadrat, und zeigt neben den Capitalformen von A, E, F, 
G, H, V auch schon einige von deren Unzialformen. Gleichen Alters sind 
die Pompejanischen gemalten Inschriften, welche man am Besten zu den 
Handschriften rechnet (?), theils sehr schmale langgezogene Schrift, die an 
den Vaticanischen Gellius erinnert, mit einzelnen Unzialformen b PD und 
über die Zeile gehenden Buchstaben b und D, I, Y, während die Pompeja- 
nischen Steinschriften durchgängig sehr schöne Capital zeigen. Vom Ende 
des 5" Jahrhunderts besitzen wir den florentinischen Virgil; aus dem Jahr 
509 oder 510 den zu „Karalis”(°) geschriebenen Hilarius der St. Peterskirche; 


(') Herculanensium voluminum T. I. 
(?) Mazois Ruines de Pompei T. I. 
(°) Cagliari in Sardinien; das Schriftmuster s. bei Mabillon de re dipl. S.355. welcher 


aber irrthümlich Kasulis liest. 


G32 


236 Perrz 


aus dem 7“ Jahrhundert, das Neapolitanische Pandektenstück; der Hilarius 
ist völlig Unzial, die Pandekten machen bereits den Übergang zur runden 
Minuskel, während der Virgil nur in A Unzial hat, F, L, Y über die Zeile 
erstreckt, aber übrigens mit grofser Sorgfalt nach einem alten Muster ge- 
schrieben ist. 

Von Metallschriften geben das Senatus consultum de bacchanalibus 
186 vor Christo, und spätere Gesetze, so wie die zahlreichen Tabulae ho- 
nestae missionis (1) von Nero bis ins dritte Jahrhundert, eine Reihe fester 
Anhaltspunkte, denen für das 4“ oder 5“ Jahrhundert eine auf der K. Bi- 
bliothek befindliche Elfenbeininschrift hinzugefügt werden kann. Wir se- 
hen hier unter Vespasian die ersten Unzialformen in A, B, G,Z, welche un- 
ter Domitian zunehmen, und im folgenden Jahrhundert bei gröfserer Flüch- 
tigkeit der Schrift sich immer weiter von der reinen Capital entfernen. 

Von der Steinschrift ist es kaum nöthig noch besonders zu sprechen, 
da Jeder der sich auch nur oberflächlich damit beschäftigt, und in Rom die 
Inschriften des Pantheons, der Triumphbogen des Titus, Septimius, Con- 
stantin mit den Christlichen Inschriften des Vaticanischen Museums vergli- 
chen hat, sich der Veränderung bewufst wird, welche die vollendete Capi- 
tal des ersten Jahrhunderts späterhin erfahren hat. 

Es ergiebt sich nämlich aus unbefangener Vergleichung der unbezwei- 
felt feststehenden Thatsachen im Gebiete der Handschriften wie der Metall- 
und Steinschriften, dafs die reine Quadrat-Capital worin die ältesten Rö- 
mischen Denkmäler geschrieben sind, im Verlauf der ersten Jahrhunderte 
unserer Zeitrechnung durch allmäliges Abrunden, Abschleifen und Verän- 
dern zum Behuf rascheren Schreibens in Unzial übergegangen ist, woraus 
dann im weiteren Verlauf der Jahrhunderte auf demselben Wege die runde 
Minuskel entstehen sollte. Aus dieser Thatsache folgt für die Schätzung 
der gewöhnlichen Majuskel - Handschriften die Regel, dafs bei übrigens glei- 
chen Umständen die Vermuthung eines höheren Alters da eintritt, wo die 
Schrift sich der vollkommenen Capital des ersten Jahrhunderts am meisten 
nähert, oder, mit Berücksichtigung späterer Nachahmungen eines älteren 
Schriftcharacters, dafs eine Schrift um so weiter gegen das sechste, siebente 


(') Bronzi di Erculano. Arneth zwölf Römische Militair- Diplome. Wien 1843. Cardi- 
nali diplomi imperialı. Velletri 1835. 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. _ 237 


Jahrhundert herabgesetzt werden mufs, je mehr sie von der reinen vollen- 
deten Capital entfernt ist und der Unzial angehört. Indem die Beurthei- 
lung sich so an den Gesammtcharakter der Schrift, nicht aber an einzelne 
von Zufälligkeiten abhängende Buchstabenformen oder sonstige unwesent- 
liche Merkmale hält, schlägt sie denselben Weg ein, welcher in der Diplo- 
matik des Mittelalters als der einzig richtige bewährt ist. 

Prüfen wir hienach unser Bruchstück, so überzeugen wir uns bald, 
dafs es mehr als irgend eine andere auf unsere Zeit gekommene Handschrift 
sich der reinen Capital des Augusteischen Zeitalters nähert. 

Wir sehen, dafs die chemische Behandlung auf dem feinen aber star- 
ken Pergament die alten wagerechten Linien wieder hervorgerufen hat, die 
mit dem Griffel gezogen wurden, um die Schreiber zu leiten. Vermuthlich 
hielten sie sich zwischen senkrechten Linien, wodurch die drei Columnen 
gegen einander und gegen die äufsern Ränder begränzt wurden; sie sind auf 
dem leeren Raum zwischen den Columnen nicht sichtbar geworden. Un- 
mittelbar auf der Linie steht in gerader Reihe die Schrift. Sie ist von einer 
festen, kräftigen aber dabei leichten und zierlichen Hand; die Buchstaben 
stehen in gleichmäfsigen Entfernungen jeder für sich; das Verhältnifs ihrer 
Höhe zu der Breite nähert sich dem Quadrat oder erreicht es inM,N,C, 
B,D,6,0,Q, U; andere wie A, E, F, 1, L,P, R, $S, T sind im Verhältnifs 
schmaler. Unter die Linie zieht sich nur der Seitenstrich des Q (!), über 
die andern erheben sich F und L. 

Die Gestalten sind Capital, mit Ausnahme des H und V. Ersterem 
fehlt die obere Hälfte des Hauptstrichs rechts, und die beiden Striche des V 
sind nicht im scharfen Winkel verbunden, sondern unten gerundet und 
rechts verbunden. Beides sehen wir gleichfalls in dem Herculanensischen 
Papyrus, welcher die verschiedenen 

HhHhHundVWVUKCIU zeigt. 

Wie die Schrift auf Papier und Pergament nach der Natur des Stof- 
fes der Schrift auf Erz und Stein vorauseilt, so findet sich jene Gestalt des 
H erst in den Tabulis honestae missionis des Hadrian. A besteht aus zwei 
nur in der Spitze verbundenen Hauptstrichen; in B, P und R ist der obere 


(°) Im Kupferstich T. II. Z. 10., auch einmal das U, welches ich im Original nicht 
bemerke. 


2338 Pertz 


Halbkreis verhältnifsmäfsig klein; die wagerechten Striche desE, F,L,T 
sind verkürzt, F von E vorzüglich durch seine Höhe verschieden, indem das 
Haupt über die Zeile hervorragt, und der Mittelstrich fast in der Höhe der 
Zeile liegt. Diese Gestalt erinnert an eine Steinschrift des Vaticanischen Mu- 
seums; ich fand ein F in welchem der mittlere Strich fehlt, und über dem 
oben nach gewöhnlicher Art schräg aufrechtgehenden Striche mit diesem 
gleichlaufend angebracht ist: FILIA ('). 

Der Character des Ganzen ist derselbe, welchen die Schrift der Ta- 
bula honestae missionis des Kaisers Vespasian zeigt, die sich jetzt in der K. 
Bibliothek findet; ich glaube daher um so weniger zu irren, wenn ich die 
Schrift des Livius in das erste Jahrhundert unsrer Zeitrechnung setze. 

Ihr zunächst stehen die Vaticanischen Palimpseste des Sallust, dann 
der Vaticanische Virgil in Quart (?) vielleicht aus dem 2'”, und die Hand- 
schrift des Gellius, die man ins 3“ Jahrhundert setzen mögte. Die Palim- 
psesten von Cicero’s Republik mit vielen Unzialformen gehören wohl schon 
ins 4“ Jahrhundert; in dessen Ende das Concil von Aquileja in der Pariser 
Hdsch. gesetzt werden kann. Und da wir aus dem 5" den Florentiner Vir- 
gil, aus dem 6“ den Hilarius kennen, so wäre damit eine zusammenhän- 
gende Reihe handschriftlicher Denkmäler von den Zeiten des Augustus bis 
zum Mittelalter gewonnen, und es bedarf vielleicht nur noch einiger glück- 
lichen Entdeckungen, um für eine Erweiterung der Lateinischen Paläogra- 
phie in die ersten Jahrhunderte, welche jetzt möglich geworden ist, die voll- 
ständige äufsere Beglaubigung herzustellen. 

Denn dafs auch in dieser Richtung das Wissen noch nicht seine letzte 
Gränze erreicht hat, dafs nach den glänzenden Erfolgen in der ersten Hälfte 
dieses Jahrhunderts, der gelehrten Thätigkeit und Ausdauer vielleicht noch 
reichere Kränze in der zweiten Hälfte aufbehalten werden, darauf möchte 


(‘) Die ganze Inschrift lautet: 
DOMINA BASSILLA COM 
MANDAMUS TIBI CRES 
CENTINUS ET MICINA 
FILIA NOSTRA CRESCEN 
QUE VIXIT MEN X: ET DES 

v2 
(?) C. Vatic. N. 3225. 


über ein Bruchstück des 98. Buchs des Livius. 239 


selbst dies kleine Bruchstück hindeuten, welches die Blicke von Neuem nach 
den verlornen Theilen des Livius richtet und dem Unternehmungsgeiste ein 
längst aufgegebenes Ziel als vielleicht dennoch erreichbar wieder hinstellt. 
Wie der Flugsand der Wüste den Wanderer umhüllt und in tiefe Verges- 
senheit begräbt, bis einst ein zufälliger Windstofs den Zipfel seines Kleides 
wieder aufdeckt und den Erstorbenen ans Licht bringt; wie Lava und Asche 
des Vulkans über 1600 Jahre Städte des Alterthums überdeckt hielt, bis 
ein glücklicher Grabscheit den ersten Anstofs zu Entdeckungen gab, die den 
staunenden Beschauer in die Wohnsitze des classischen Lebens als wären sie 
gestern erst verlassen, einführen; so gilt es vielleicht auch jetzt die Gunst 
des Augenblicks zu benutzen und durch Fortschreiten auf dem eröffneten 
Wege die erfreulichsten Entdeckungen zu sichern. Es fehlt dabei nicht an 
glücklichen Zeichen, welche zum Angriff ermuntern, und die Forschung aus 
dem ungewissen und weiten Kreise der Möglichkeit auf einzelne bestimmte 
Thatsachen hinlenken, von deren sorgfältiger und umsichtiger Erwägung die 


nächsten Erfolge zu erwarten sind. 


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Zu der Abh.des Hen.Perta über das 98% Buch des Türius in den Abh.d. hist.phil.Il.v.18%, Taf AL. 


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r a uss Bnauıs { ELCeRU undrempr- 
-- Nuncdiessalutissisiersoudeledl 
N VENaus repretN FLAG ehR UBER 
 \sequamur Spubird \liseusire‘ 

) er \mBRAsLıne ; 


„le merasın R a R + M 
) Amen eo 

I. es, Enger & \2 S. AM 
 AoyuamaoorAk \ Nah d5 
Requstu erser KAUBIENIDERNGP? 


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Über 
den letzten Unterschied der philosophischen 
Systeme. 


a Von 
H”" TRENDELENBURG. 


nn 


[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 18. November 1847.] 


D er letzte Unterschied philosophischer Systeme wird ein solcher sein, wel- 
cher, in den allgemeinsten Elementen und Beziehungen begründet, die übri- 
gen Unterschiede in sich aufnimmt und beherscht. Durch den Grundunter- 
schied sind die übrigen bedingt. 

Wenn man die philosophischen Systeme aus dem äufsern Zusammen- 
hang des historischen Verlaufs heraushebt und, gleich Formationen der Natur, 
als abgeschlossene Bildungen des Geistes mit einander vergleicht: so entsteht 
die Frage, wie sie innerlich verwandt sind. Gleich wie nun die Naturkör- 
per sich nur in einem letzten Unterschied der Sache zu einem bedeutsamen 
Überblick ordnen, z.B. die Pflanzen in dem Gesichtspunkt der Kotyledo- 
nen, die Krystalle in den Axensystemen: so fordern uns auch die philoso- 
phischen Systeme auf, ihren letzten Unterschied zu suchen. 

Dabei handelt es sich um mehr als um eine Anordnung oder eine 
Gruppirung der beschreibenden Systematik. 

Philosophische Systeme sind lebendige Vorgänge in den Geistern, 
Kämpfe der Grundbegriffe um die Herrschaft im Denken und Wollen. In 
den Begriffen, welche den letzten Unterschied bilden, haben sie die Basis 
und den Stützpunkt ihrer Stellung, und daher fällt in diese Gegend die erste 
Entscheidung ihres Zusammentreffens und ihres Streites. In den letzten 
Unterschieden liegen zugleich die letzten Probleme. 

In der Mannigfaltigkeit der Systeme bedurfte man charakteristischer 
Bezeichnungen und sie bildeten sich nach den Richtungen von selbst. In 
diesem Sinn spricht man z.B. von Nominalismus und Realismus, von Sen- 


Philos.- histor. Kl. 1347. Hh 


242 TRENDELENBURG 


sualismus und Rationalismus, von Materialismus und Spiritualismus, von 
Empirismus und Transscendentalphilosophie, von Realismus und Idealis- 
mus, von Reflexionsphilosophie und Identitätslehre, von Dualismus und Mo- 
nismus, von Transscendenz- und Immanenzlehre, von rationalistischer und 
supernaturalistischer Philosophie, von atomistischen und dynamischen, von 
deistischen und atheistischen, von theistischen und pantheistischen, von pri- 
mitiven und eklektischen oder synkretistischen, von dogmatischen und skep- 
tischen, von kritischen und dialektischen Systemen u.s.w. Es sind dies mei- 
stens Stichwörter, bald von einzelnen Ergebnissen oder Voraussetzungen, 
bald von der Methode, bald von einem theologischen Mafsstab hergenommen. 
Mit solchen Bezeichnuugen verknüpft man gemeiniglich nur unbestimmte 
Vorstellungen, aber bestimmte Aburtheile. 

Ob mit solchen Benennungen wirklich die letzten Unterschiede der 
Systeme getroffen sind, läfst sich im Voraus nicht sagen. Es hat auch wenig 
Werth, sie blind herauszutasten; und es kommt vielmehr auf den Versuch 
an, Charaktere aus innern Verhältnissen der Sache zu entwerfen und an den 
vorliegenden Systemen zu bestätigen. 

Wir stellen die Unterschiede, die in der Methode liegen, einstweilen 
zurück. Die Methode betrifft nur den Weg, wie wir zu der Sache kommen, 
aber der Weg hat immer in der Sache sein Ziel. Die Methode ist um des 
Gegenstandes willen da, den sie fassen oder verbürgen will. Wenn wir da- 
her die letzten Unterschiede der Systeme suchen, so suchen wir sie in den 
Elementen der Sache und nicht in den Griffen des Verfahrens oder der 
Kunst der Darstellung. Diejenigen Systeme, welche durch die Methode 
charakteristisch sind, wie z.B. das kantische durch die kritische, das he- 
gelsche durch die dialektische, werden doch, wenn es sich zuletzt um den 
Ertrag und nicht um die blofse Weise der Bearbeitung handelt, auf wesent- 
liche Unterschiede der Sache zurückgehen und darin ihr Mafs haben. 

Allenthalben stellen sich uns in dem, was wir Gegensatz nennen, 
die weitesten Unterschiede der Begriffe dar. Innerhalb eines Allgemeinen be- 
zeichnet der Gegensatz die entlegensten Endpunkte. Inwiefern nun das Ganze 
der Erkenntnifs in seinem Ursprunge Aufgabe der Philosophie ist, so läfst 
sich voraussehen, dafs der gröfste Gegensatz unter solchen Begriffen, welche 
andere Begriffe bedingen und erzeugen und dadurch geeignet sind Mittel- 
punkt eines Systems zu sein, den letzten Unterschied der philosophischen 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 243 


Systeme bestimmen werde. In den verschiedenen Gestalten der Philosophie 
liegen Versuche vor, verschiedene Grundbegriffe als die letzten und als die 
schöpferischen geltend zu machen, und ihre Macht gegen einander zu er- 
proben. Wäre es möglich, den letzten Gegensatz unter diesen Begriffen 
zu bestimmen, also diejenigen Begriffe einander gegenüber zu stellen, welche 
am weitesten von einander abstehen: so würden sich in denselben vermuth- 
lich die letzten Unterschiede der Systeme nachweisen lassen. Es ist wahr- 
scheinlich, dafs der letzte Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Grund- 
begriffen stehe. Denn wenn wir mehrere solche Gegensätze annähmen: so 
würden unter ihnen bei der universellen Aufgabe der Philosophie diejenigen 
Begriffe, welche in keinem direeten Gegensatz zu einander ständen, alsbald 
ein Bestreben zeigen, sich einander anzuziehen und unterzuordnen; und der 
Erfolg würde kein anderer sein, als dafs sich die verschiedenen Gegensätze 
in zwei letzte Begriffe zusammendrängten und diesen ihre ganze Macht über- 
trügen. So sehen wir es z.B. in der Metaphysik des Aristoteles, die mit 
vier Begriffen oder zwei Gegensätzen anhebt, mit der Materie und Form, 
mit dem Woher der Bewegung und dem Wohin des Zweckes, und sie zuletzt 
in der Dynamis und Energie in das Grundverhältnifs von zwei Begriffen zu- 
sammenzieht, mag nun, wie im Lebendigen, der Zweck und die aus dem 
Zweck bestimmte Form und Bewegung dem materiellen Grunde, oder, wie 
auf dem höchsten Gebiete, der Zweck als das Unbewegte, das da bewegt, 
den übrigen Ursprüngen gegenüber treten. Hiernach fragt es sich, welches 
in den realen Principien der letzte Gegensatz sei. 

Seit Kant hat die deutsche Philosophie im Subjeetiven und Objectiven 
einen Gegensatz ausgebildet und nach den verschiedensten Seiten versucht, 
der, inwiefern man auf seine reale Entwickelung sieht, schon in der Natur 
keimt. Wo sich das Einzelleben in sich zusammenfafst und dem Leben des 
Ganzen entgegenstellt, wie schon die Pflanze thut, da beginnt das Subjec- 
tive, da ist der Anfang des Gegensatzes mit dem Objectiven. Zunächst ist 
er beschränkt und löst sich sogleich, indem das Einzelleben aus dem Ganzen, 
was es bedarf, empfängt, und dadurch besteht. Der Gegensatz des Sub- 
jectiven und Objectiven kommt indessen, wo das Denken der Welt gegen- 
übersteht, zur höchsten Spannung. Denn das Erkennen begehrt nicht mehr 
blos, wie das Subjective in Pflanze oder Thier, einen Athemzug oder Licht 
oder Nahrung, es will nicht seine Befriedigung in einer einseitigen Richtung 


ie) 
Hh2 


YA TRENDELENBURG 


der leiblichen Selbsterhaltung, in der nächsten Berührung seines Lebens; es 
macht vielmehr den höchsten Anspruch an die ganze Welt; es schliefst nichts 
von sich aus, es will alles ergreifen und ergründen; es will die Welt ganz 
in sich aufnehmen und ganz durchdringen. Die Eine in sich gedrungene Thä- 
tigkeit des Denkens, das Subjective in seiner Intensität, nimmt es mit der 
unendlichen Fülle des Seienden auf, mit dem Objectiven in seiner unabseh- 
baren Ausdehnung. Das Subjective bereitet sich in diesem Sinne in den sich 
fortsetzenden Geschlechtern der Menschen sein Werkzeug, und sehen wir 
die Höhe des Subjectiven in dem erkennenden und bildenden Geist des gan- 
zen Menschengeschlechts, so heifst dann denken so viel als sich mit dem 
Weltall messen. 

Wir haben hier einen grofsen Gegensatz, das Erkennen und die Welt, 
das Denken und das Seiende. Es ist ein in sich klarer Gegensatz, da jede 
Thätigkeit des Denkens ihn in einer einzelnen Richtung offenbart. Aber 
es kommt darauf an, ihn so zu fassen, dafs er sich in seiner gröfsten Weite 
darstelle. 

Dem Denken ist sein Gegenstand in demselben Mafse verwandter, als 
er selbst von dem Denken gebildet oder bestimmt ist. Wenn er von dem 
Denken erzeugt ist, so ist er dem Denken desto erkennbarer. Das Seiende 
wird hingegen in der weitesten Entfernung von dem Denken da stehen, wo 
es dem Denken fremd entgegentritt und mit dem Anspruch, aus sich selbst 
und nicht aus dem Gedanken bestimmt zu sein. Wir bezeichnen das Seiende 
in diesem Verhalten als blinde Kraft. Wird sie gedacht, wird sie selbst auf 
Gesetze znrückgeführt, wie z. B. die Kraft in der Erscheinung des freien 
Falles: so liegt doch nicht im Grunde der Sache ein ursprünglicher Gedanke, 
aus welchem das Gesetz herflösse. Wenigstens wird das Gesetz, unabhängig 
von einer solchen Einmischung, gefunden. Es liegt darin gerade eine Eigen- 
thümlichkeit der physischen Betrachtung; und seit Baco ist es oft genug 
ausgesprochen, dafs die Erforschung der Natur erst dann gelinge, wenn man 
den Zweck, der ein Gedanke ist, aus dem die Kräfte bestimmt werden, wenn 
man die Idee aus der Physik in die Metaphysik verweise. Die Kraft steht 
als wirkende Ursache fremd dem erst zu ihr hinzutretenden und sie nach- 
bildenden Gedanken gegenüber. Was wir Materie nennen, giebt sich uns 
in solchen physikalischen oder chemischen Thätigkeiten kund, und wir haben 
von ihr nur so weit eine Kenntnifs, als sie sich darin offenbart. Daher dür- 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 245 


fen wir jenes unbekannte Substrat der Kräfte, welches wir Materie nennen, 
so weit sie von keinem in ihr selbst und ihr zum Grunde liegenden Gedanken 
bestimmt ist, unter denselben Gesichtspunkt der nackten Kraft fassen. 

Es wäre möglich, dafs sich im Fortgang der Untersuchung die Sache 
anders herausstellte. Es wäre möglich, dafs sich doch im Grunde der für 
blind gehaltenen Kräfte und Äufserungen ein ursprünglicher Gedanke als 
das Regierende fände. Aber diese Möglichkeit, vielleicht die Hoffnung al- 
les Erkennens, geht uns hier nichts an. Faktisch haben wir in der Physik, 
um ihre Sprache beizubehalten, nur Kräfte vor uns, und zwar solche, deren 
Wesen der Gedanke nachbildet, ohne dafs ihr Wesen selbst Gedanke ist. 
Umgekehrt verhält es sich z.B. in der Ethik, in welcher die Thätigkeiten 
von ihrem leitenden Gedanken nicht abzuscheiden sind. 

Der Gedanke ist allerdings selbst Kraft und die Kraft kann unter einem 
Gedanken stehen — und insofern ist zwischen beiden kein Gegensatz; aber 
bewufster Gedanke und blinde Kraft bilden nach Obigem einen wesentlichen 
Gegensatz und nur um des kürzern Ausdrucks willen stellen wir schlechtweg 
Gedanken und Kräfte in diesem Sinne einander entgegen. Es ist der Ge- 
gensatz zwischen dem Denken und dem Sein als vom Denken unabhängig 
gefafst — und es giebt keinen gröfsern Gegensatz. Denn alle Gegensätze 
fallen, wenn sie nicht durch die Vermittelung oder Vereinigung dieses Einen 
bestimmt sind, innerhaib des Einen Gliedes. Z.B. fallen die Gegensätze, 
welche sich auf dem Gebiete der Sinne darstellen, z.B. des Hellen und Dun- 
keln, oder des Lichtes und des undurchsichtigen Stoffes, der Farben unter- 
einander, des Starren und Flüssigen, der Anziehung und Abstossung, unter 
das Eine Glied der wirkenden Kraft. Sie werden als gegeben durch die Er- 
fahrung aufgenommen, und es erscheint darin zunächst kein sie bestimmender 
und richtender Gedanke. In dem andern Gliede erscheinen Gegensätze, wie 
Denken und Wahrnehmen, Allgemeines und Einzelnes. Andere Gegensätze 
sind nur durch eine, wenigstens relative, Vermittelung des Denkens und 
seines Gegenstandes möglich, z. B. die Thätigkeiten des Wollens, wie Be- 
gehren und Verabscheuen. Schwerlich wird sich ein Gegensatz aufweisen 
lassen, der nicht in diese Grundverhältnisse zurückginge. 

Ist nun in dem angegebenen Sinn Gedanken und Kraft der weiteste 
Gegensatz, so ist nach Obigem wahrscheinlich, dafs zugleich in ihm der 
letzte Unterschied der Systeme liege. 


346 TRENDELENBURG 


Wir könnten denselben Unterschied durch Subjectives und Objectives, 
Ideales und Reales ausdrücken, wenn es uns nicht darum zu thun wäre, im 
Realen und Objectiven sowol den Ausdruck eines ruhenden Gegenstandes 
zu vermeiden als auch den real und objectiv gewordenen Gedanken auszu- 
schliefsen. Daher wählen wir statt des Objectiven den Ausdruck der Kräfte 
und wir verstehen hier darunter die Kräfte, inwiefern sie unabhängig von 
einem Gedanken wirken. 

Es stehen hiernach Kraft und Gedanke einander gegenüber. Der 
Gedanke ist uns dabei zunächst als menschlicher, als unser Gedanke be- 
kannt, ohne dafs es nöthig’wäre, ihn auf uns zu beschränken, und wir schlie- 
{sen ihn von der Kraft aus, inwiefern wir sie in ihrem Wesen unabhängig 
von einem darin herschenden Gedanken auffassen. 

Dieser Begriff der nackten Kraft bedarf vielleicht einer Erläuterung. 
Nehmen wir als Beispiel jene durch die Massen durchgehende Kraft der An- 
ziehung, welche als Schwere auf der Erde, als Gravitation der Weltkörper 
am Himmel wirkt. Sie wird an Gesetze gebunden wie z. B. in der gleichför- 
mig beschleunigten Bewegung des freien Falles, ohne dafs in ihr etwas ande- 
res vorausgesetzt wird, als die bewegende Kraft. Was durch sie vorgeht und 
aus ihr folgt, wird in der Rechnung bestimmt und nichts weiter. Der nach- 
bildende Gedanke fafst ihre Momente auf und findet dadurch die beständige 
Weise ihrer Thätigkeit. Aber sie kümmert sich nicht um den auffassenden 
Gedanken, der nur wie fremd an sie herantritt; sie ist nicht ursprünglich von 
einem Gedanken regiert; und wenn wir uns allen Gedanken aus der Welt fort- 
dächten, so würde sie ohne Unterschied ihre ewigen Gesetze befolgen. Der 
menschliche Gedanke hat dieselben gefunden; aber es ist nicht nöthig, dafs 
sie aus einem ursprünglichen Gedanken stammen. — Indessen dieselbe Kraft 
erscheint in eigenthümlicher Gestalt und in eigenthümlichem Zusammenhang, 
wenn das Lebendige seinen Ort verändert. Der Mensch z.B. regiert im 
Gange, im Sprung seinen Schwerpunkt. Es ist darin das Gesetz der Schwere 
durch seine eigene Natur und durch die Gesetze des Festen einem höheren 
Zwecke untergeordnet. Die Herrschaft über den Schwerpunkt war die Auf- 
gabe, die durch eine bestimmte Einrichtung des Leibes erreicht wurde. Die 
Kraft ist dieselbe geblieben, aber sie hat eine Stellung empfangen, die nicht 
aus ihr selbst verstanden wird, sondern, wenn der Begriff des Zwecks nicht 
umgangen werden kann, aus einem richtenden und einrichtenden Gedanken, 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 947 


Die Kraft ist insofern nicht mehr eine blinde Kraft, sondern eine gewollte. 
Mit der aufsteigenden Reihe des Lebens wächst der Zusammenhang der 
Kräfte, der sich uns als ein System von Zwecken darstellt. Von der fundamen- 
talen Kraft der Anziehung, die wie ein unsichtbares Band die Körper des Alls 
zusammenhält, erheben sich die Thätigkeiten bis zum menschlichen Gedan- 
ken. Inder Welt, welche wir überblicken, haben wir in beiden zwei End- 
punkte, zwei Äufserste vor uns. Wenn wir die Kraft ohne einen zum Grunde 
liegenden Gedanken aus ihr selbst verstehen konnten, so verstehen wir schwer- 
lich den Gedanken ohne die Kräfte, durch welche er bedingt ist. Wo uns 
in der Natur, wie in der organischen, Zwecke erscheinen, haben wir einen 
Antrieb, das Denken nicht auf den Menschen einzuschränken, sondern in 
einem allgemeinen Sinne zu fassen. Daher ist das Verhältnifs von Kraft 
und Gedanke das Grundverhältnifs, um welches sich die Betrachtung dreht, 
sobald es darauf ankommt, in einem letzten Prineip die Einheit und das 
Ganze der Erkenntnifs zu gründen. 

Gegensätze erscheinen in der Betrachtung der ruhig daliegenden Be- 
griffe. Wo die Begriffe in ihre Entstehung zurückgegeben werden, da gehen 
auch die Sprünge, welche die Begriffe in den Gegensätzen darstellen, in 
eine stetige Bewegung zurück, die auf eine Einheit hinführt; und wo dies 
noch nicht geschieht, bleibt ein Widerstand übrig, der noch zu überwinden 
ist. So bilden z.B. auf der Ebene die parallelen und die sich schneidenden 
Linien einen Gegensatz; aber der Gegensatz hebt sich auf, wenn sich der 
Durchschnittspunkt der sich sehneidenden Linien ins Unendliche entfernt 
und im Unendlichen, dem wir uus nähern können, wird der Sprung, der 
in dem Begriff der parallelen und der sich schneidenden Linien vor uns liegt, 
wie zum Übergang. Anders wird es sich auch nicht mit dem Gegensatz der 
Kraft und des Gedankens verhalten können. 

Wenn wir nun in dem bezeichneten Sinne Kraft und Gedanken (also 
blinde Kraft und bewufsten Gedanken) einander gegenüber stellen und die 
Richtung auf die Einheit voraussetzen: so ergiebt sich eine dreifache Mög- 
lichkeit ihres gegenseitigen Verhältnisses. Entweder steht die Kraft vor 
dem Gedanken, so dafs der Gedanke nicht das Ursprüngliche ist, sondern 
Ergebnifs, Product und Aceidenz der blinden Kräfte; — oder der Gedanke 
steht vor der Kraft, so dafs die klinde Kraft für sich nicht das Ursprüngliche 


9348 TRENDELENBURG 


ist, sondern der Ausflufs des Gedankens; — oder endlich Gedanke und Kraft 
sind im Grunde dieselben und unterscheiden sich nur in unserer Ansicht. 

Nur diese drei Stellungen von Gedanken und Kraft kann es geben; 
aber von den drei möglichen kann nur Eine die wirkliche und wahre sein. 
Daher liegen sie mit einander in Streit. 

Jene erste Möglichkeit, in welcher die Kraft als das Ursprüngliche 
vor den Gedanken gestellt wird, trifft die materialistischen Systeme. Sie 
läugnen nicht den Gedanken, aber sie wollen ihn als etwas, was nur im Men- 
schen wird, aus den materialen Kräften, deren Erzeugnifs der Mensch sei, 
als ein aus materialen Factoren Zusammengesetztes entstehen lassen. So 
erklären die atomistischen Systeme des Alterthums die Seele aus dem Kampf 
innerer und äufserer Atome, die Gedanken als Folge von Sinneswahrneh- 
mungen, welche durch materielle von den materiellen Gegenständen sich 
ablösende Bilder bewirkt werden; materialistische Systeme Frankreichs im 
vorigen Jahrhundert erklären den Gedanken als eine Bewegung von Hirn- 
fasern oder gar als eine Aussonderung des Gehirns. Sie verwandeln auf 
ähnliche Weise den Gedanken in eine glückliche Wirkung materieller Com- 
binationen, wie es umgekehrt auf der andern Seite Systeme giebt, welche 
die Materie in einen Schein des Gedankens umsetzen. Blinde Kräfte müssen 
sich nach dieser Ansicht dergestalt treffen, dafs sie sehend werden. Aller- 
dings besteht, um das’Beispiel alter Atomiker aufzunehmen, aus denselben 
Buchstaben eine Tragoedie und eine Komoedie. Eine beschränkte Zahl 
verschiedener Atome, wie z.B. 24 Buchstaben, aber sich wiederholend, 
sich versetzend, sich bald so, bald anders fügend oder trennend, bildet die 
geschriebene Tragoedie und die geschriebene Komoedie, also ein geistiges 
Erzeugnifs und noch dazu in so entgegengesetzter Richtung, wie Ernst und 
Lachen. Aber die Atomiker müssen es folgerecht so denken, dafs die durch 
einander geworfenen und ausgeschütteten Buchstaben, indem sie zusammen 
wehen, sich so treffen, dafs sie sich als Tragoedie oder Komoedie d.h. als 
Gedanken ablesen lassen. So entsteht ihnen alles, was im Menschen bewufs- 
ter Gedanke ist oder in der Welt Gedanken verräth. Sie haben den Vor- 
theil, wenu ihnen diese Erklärungen gelingen, keines Transscendenten zu 
bedürfen und von Anfang zu Ende mit anschaulichen Elementen zu operiren, 
welche sie noch dazu, wie sich hoffen läfst, in ihre eigene Gewalt bekom- 
men können. 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 249 


Die andere Möglichkeit, in welcher der Gedanke als das Ursprüngli- 
che, vor die Kraft gestellt, ihr als der dienenden im eigentlichen Sinne vor- 
steht, erfüllt sich in den idealen Systemen. Ein kleiner Theil derselben 
kennt nur Kräfte des Gedankens und hält die Kräfte der Materie nur für 
einen Widerschein derselben. Der gröfsere Theil, Plato an der Spitze und 
mit ihm die bedeutende Reihe der Philosophen, welche die Welt und ihre 
Glieder als ein reales Gegenbild göttlicher Gedanken, als Verwirklichung 
und Darstellung einer Idee betrachten, legt der Richtung der Kräfte, und 
namentlich dem relativen Ganzen, das im Organischen erscheint, einen bil- 
denden und bauenden Gedanken zum Grunde. Allenthalben sehen sie seine ar- 
chitektonische Macht und nur von ihm losgerissen sind ihnen die Kräfte blind. 

Die dritte Möglichkeit, welche Gedanken und Kraft nur in der An- 
sicht und nicht im Grunde unterscheidet, findet sich in Spinoza’s Prineipien 
vor, da er Ausdehnung und Denken als Attribute der Einen Substanz fafst, 
die unter sich in keinem Causalzusammenhang stehen, weil sie nur die beiden 
nothwendigen Weisen sind, unter welchen sich der Verstand das Wesen der 
unendlichen Substanz vorstellt. In einer solchen Betrachtung sind eigentlich 
Kräfte sich dehnende Gedanken und Gedanken sich spannende Kräfte. Es 
könnte hieher jene intellectuelle Anschauung der neuern Philosophie gezo- 
gen werden, welche als das Ursprüngliche eine Identität, eine Indifferenz des 
Subjectiven und Objectiven setzt, wenn nicht in der Erscheinung bald das 
Übergewicht des Idealen (Subjectiven), bald das Übergewicht des Realen 
(Objectiven) hervorträte, und sich in dieser Differenz ein Analogon jener 
beiden ersten Ansichten (Kraft vor dem Gedanken und Gedanken vor der 
Kraft) erzeugte. Spinoza ist der eigentliche welthistorische Vertreter dieser 
dritten in dem allgemeinen Verhältnifs von Gedanken und Kraft liegenden 
Möglichkeit. 

Diese drei Stellungen giebt es und keine mehr, wenn man das Ver- 
hältnifs von Gedanken und Kraft erwägt. 

Will man sie mit historischen Namen bezeichnen und sie an ihre her- 
vorragenden Vertreter anknüpfen, so heifse die erste Weise Demokritismus; 
denn alle, welche gegen Plato oder Aristoteles streiten, wie z.B. Baco von 
Verulam, Spinoza, erheben Demokrits Ansicht; die zweite Weise heifse 
Platonismus, die dritte Spinozismus. Nur mufs man diese Namen in 
weiterem Sinne nehmen und ihre Bedeutung nicht auf die eigenthümliche 


Philos.- histor. Kl. 1847. li 


250 TRENDELENBURG 


Fassung beschränken, in welche Demokrit, Plato, Spinoza das Verhältnifs 
brachten. 

Sind dies wirklich die letzten Unterschiede der Systeme, so müssen 
auf der einen Seite alle Systeme darunter fallen, sie müssen sich alle in die 
eine oder die andere Stellung einordnen lassen, und auf der andern Seite 
mufs in diesen allgemeinsten Unterschieden der Keim besonderer Entwicke- 
lung, die Möglichkeit einer neuen Differenz liegen. 

Wir betrachten zunächst die hervorragenden Systeme in der ersten 
Beziehung und insbesondere diejenigen, deren Verhältnifs zu diesen allge- 
meinen Klassen zweifelhaft erscheinen mag. 

Dafs die physiologischen Anfänge der Joner, welche in einem mate- 
riellen Urgrunde die bildende Kraft der Welt zusammendrängten, und die 
Atomiker des Alterthums, welche in Gestalt, Lage und Zusammenordnung 
der Atome das Princip aller Mannigfaltigkeit sahen, dafs alle, welche in 
neuerer Zeit der epikurischen Physik folgten, es sei denn dafs sie, wie Gas- 
sendi that, die göttliche Weisheit herbeirufen, um die Atome zur harmoni- 
schen Wirkung der Zwecke zu ordnen, (!) dafs namentlich Hobbes, der 
das Denken nur zu einem Subtrahiren und Addiren machte, dafs endlich 
solche ausgeprägte Richtungen, wie das systeme de la nature, welche auf je- 
den Gedanken in der Welt, als auf ein unbequemes Göttliches, einen Verruf 
legten,. der ersten Stellung zufallen, braucht nicht ausgeführt zu werden. 

Ebenso entschieden sind alle die Gestalten der Systeme, welche wir 
als Platonismus im weitesten Sinne bezeichnen möchten, so dafs dahin Ari- 
stoteles gehört mit dem Zweeke an der Spitze der Metaphysik und der En- 
telechie in allem Realen, ferner die Stoiker, nach welchen die $urıs im Acyos, 
das Weltall in einem zum Grunde liegenden, sich gliedernden Begriff wur- 
zelt, ferner die christlichen Philosophen des Mittelalters, welche die göttli- 
che Ökonomie des Heils mit platonischen Anschauungen und aristotelischen 
Durchführungen verschmolzen, und Philosophen der neu entstehenden Zeit, 
welche, wie Jordano Bruno, den activen Gedanken des formenden Zwecks 
und das passive Substrat der Materie in eine ewige Einheit falsten, so jedoch, 
dafs sich die Materie aus einem innern Mittelpunkt, wie durch einen Künst- 


(') Syntagma philosoph. III. c.8 vgl. Gassendi in den object. quintae gegen Cartesii 
meditatio IV. Ausg. des Cartes. Amsterd. 1685. appendix ad meditat. p. 33. 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 251 


ler von innen gestaltet. Diese und solche Systeme zeigen grofse Unter- 
schiede. Aber darin kommen sie alle überein, dafs sie dem Gedanken als 
dem Ursprünglichen die Ehre geben. 

Bei andern Systemen kann es zweifelhaft sein, wohin man sie stel- 
len soll. 

Baco von Verulam z.B. leugnet zwar nicht die Vorsehung mit den 
Zwecken in der Welt, vielmehr scheint er sie sorgsam der Metaphysik vor- 
zubehalten; aber er bekämpft eine solche Betrachtung im Realen, verwirft 
sie in der Physik, da die Betrachtung der Endursachen, wie das Leben einer 
Nonne, zwar Gott feiere und preise, aber nichts hervorbringe, und hebt 
die physische Ansicht eines Demokrit weit über die des Plato und Aristote- 
les (1). Wenn einer Betrachtung, wie dem Zwecke, die Anwendung ver- 
boten wird, so verschwindet sie wie ohnmächtig. Wenn man daher in Baco, 
wie er bei andern selbst verlangt, weniger auf die Worte als auf die Wirkung 
sieht: so zieht seine ganze Anschauungsweise das Übergewicht auf die Seite 
der Kräfte, und er läfst dem Gedanken nur die alt hergebrachte Glorie, 
während er ihm die Herrschaft genommen. 

Selbst Cartesius wirkt in einer ähnlichen Richtung; denn indem er 
alle Zwecke in die unergründliche Tiefe des göttlichen Wesens verweist, 
schliefst er von der Betrachtung auch diejenigen aus, die in den Dingen er- 
scheinen. Zwar leugnet er sie nicht; er gesteht sie allenfalls der Ethik zu; 
aber er will namentlich in der Physik nur physische Ursachen und mufs sich 
selbst von einem Manne, wie Gassendi, über Thatsachen der Natur belehren 
lassen, welche ohne die Providenz des Zweckes nicht verstanden werden 
können. (?) Indessen in Cartesius überwiegt sonst die aus der augustinischen 
Theologie aufgenommene Betrachtung Gottes, überwiegen die eingeborenen 
Ideen, die von Gott stammen, überwiegt der Wille Gottes in deur, was er 
ewige Wahrheiten nennt, dergestalt, dafs wir von jener Maxime des Physi- 
kers diese Grundrichtung des Philosophen unterscheiden und ihn in diesem 
Betracht der zweiten Klasse zuweisen müssen. 


(') de augment. seient. III, 4. 
(2) vgl. Cartes. meditat. IV. und dagegen Gassendi in den objectiones quintae. Cartes. 
in d. Amsterdamer Ausg. v. 1685 p. 33 sq. p. 70. 


Ii2 


352 TRENDELENBURG 


Über Leibniz kann man nicht in Zweifel sein. Wir dürfen von sei- 
nen eigenthümlichen und zum Theil schwankenden Ansichten über Raum 
und Materie absehen. Er kennt die Feindschaft, die zwischen der Betrach- 
tung der wirkenden Ursache und der Zwecke, der causa efficiens und causa 
finalis besteht. Aber er will beide Betrachtungen verbinden und seine beste 
Welt, seine praestabilirte Harmonie gründet sich auf die göttliche Wahl des 
Besten und ruht zuletzt in der Herrschaft des vollkommenen Gedankens. (?) 
Seine Monadenlehre hat dies Centrum. 

Diejenigen Philosophen, welche die Untersuchung des Erkennens zu 
ihrer eigentlichen und ausschliefsenden Aufgabe machen, sind unter die obigen 
Gesichtspunkte, welche die reale Ansicht der Dinge bestimmen, schwerer 
unterzubringen. Ihre Frage liegt augenscheinlich auf einem andern Felde; 
aber die Auffassung der Erkenntnis und ihrer Möglichkeit führt, man mag 
es wollen oder nicht, in einen gröfseren Zusammenhang; und ihre Conse- 
quenz treibt, je nach den Praemissen, nach der ersten oder nach der zwei- 
ten Seite. 

So sehen wir es z.B. bei Locke und Kant. 

Locke darf nicht nach seiner Auffassung des Christenthums gemessen 
werden, in welcher Beziehung er für seine Person der zweiten Richtung an- 
gehört, sondern nach den Gründen und Folgen seines Empirismus. Wer, 
wie Locke, den Geist im Menschen zur Tafel macht und die äufsern Dinge 
zu den Schreibern, wer dadurch, wie Locke, den materiellen Kräften die 
Macht giebt, der wird schwer dazu kommen, den Gedanken, den er im Men- 
schen zu einem Erzeugnifs der Dinge macht, in den Dingen zu einem Prius, 
zu einem ursprünglich Bestimmenden zu erheben. Wenn Locke’s Prineipien 
in Hume zum Skepticismus und in den französischen Philosophen zuletzt zum 
systeme de la nature führten, so bestätigt die Geschichte den eigentlichen 
Trieb der lockischen Betrachtungsweise. 

Anders ist es mit Kant. Es scheint, als ob wir ihm bei seiner Rich- 
tung auf die Untersuchung des Erkenntnifsvermögens jene Frage, ob er im 
Ursprung die Kräfte vor den Gedanken oder den Gedanken vor die Kräfte 


(') Aufser den bekannten Stellen vgl. man den im Anhang des Briefwechsels zwischen 
Leibniz Arnauld und dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels von C. L. Grotefend 
(1846) heruusgegebenen discours de metaphysique aus d. J. 1685 oder 1686 no. 19 ff. 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 253 


stelle, gar nicht aufdringen dürfen. Ist es allenthalben sein Ergebnifs, dafs 
wir das Ding an sich nicht erkennen, so wird ihm jene Frage als transscenden- 
taler Vorwitz gelten. Selbst in der Kritik der Urtheilskraft, in welcher er 
durch die Betrachtung des Zweckes zu der Idee eines göttlichen intuitiven 
Verstandes hinangeführt wird, bleibt er immer dem Kritieismus getreu, indem 
er den Begriff nur für einen möglichen erklärt, nur für ein blofses Regulativ 
der reflectirenden Urtheilskraft in der Naturbetrachtung (vgl. Kr. d. Urtheilsk. 
$. 77. 8. 79). Aber diese Bescheidenheit ist nur theoretische Neutralität. 
Der Mensch steht mit seinem realen Wesen mitten im realen Zusammenhang. 
Daher kommen von der praktischen Seite mitten im Skepticismus Punkte, 
wo der Skeptiker nicht umhin kann, positiv zu sein; mitten im Kritieismus 
Punkte, wo der kritische Philosoph sich — wenigstens subjeetiv — über die 
Natur der Dinge entscheiden mufs. Da folgt Kant dem Zuge seiner Grund- 
ansicht mit der ihm eigenen Consequenz. Wie er theoretisch von Formen, 
das heilst Gedanken, in uns ausgeht, welche gegenüber der mannigfaltigen 
Vielheit, die von aufsen kommt, die mächtige Einheit sind: so setzt er, die- 
ser Macht des Gedankens getreu, wenn er die theoretische Abgeschlossen- 
heit, die in sich schwebende Welt des Subjectiven verlassen mufs, den 
Gedanken als das Ursprüngliche der Welt, als das Prius der Dinge. Seine 
Postulate der praktischen Vernunft fordern reale Bedingungen, unter welchen 
allein das ethisch Gewisse in dem Zusammenhang der Welt möglich sein und 
wirklich werden kann. Sie enthalten Voraussetzungen, auf welche als auf 
reale Elemente, ähnlich wie die Aufgabe der analytischen Geometrie auf Be- 
dingungen der Construction hinweist, das Sittengesetz, die grofse Aufgabe 
der Menschheit, nothwendig führt. Wenn Kant auf diese Weise intelligi- 
bele Freiheit und den Glauben an Gott als den denkenden und wollenden 
Urheber der Welt, durch den allein das Reich der Natur und das Reich der 
Sitte in Einklang treten könne, zum metaphysischen Grund seiner Ethik 
macht: so wird eben damit der Gedanke das ursprünglich Setzende und Be- 
stimmende. Nehmen wir hinzu, wie Kant in der Religion innerhalb der 
Grenzen der blofsen Vernunft den Sohn Gottes als die dem Wesen der 
Menschheit vorangehende Idee des sittlich Guten fafst: so wird es offenbar, 
in welcher Weise die Keime auswachsen, welche die Anlage des kantischen 
Systemes in sich trägt. War theoretisch der Zweck nur eine Maxime der 
Urtheilskraft, welche mit den Dingen nichts zu thun hat: so ist dieser prak- 


254 TRENDELENBURG 


tische Glaube an die Weisheit ein Glaube an die Realität der göttlichen 
Zwecke, der Einheit und des Gedankens in dem Ganzen der Welt. 

Wer in Fichte Kant in der Consequenz aufzufassen gewohnt ist, wird 
bemerken, wie Fichte, von ethischem Tiefsinn erfüllt und getrieben, na- 
mentlich in der zweiten Gestalt seiner Lehre, Ideen da entwirft, wo in der 
ersten nur die allgemeine moralische Weltordnung steht, wie z. B. in den 
Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten. Man thut ihm unrecht, wenn 
man den innern Zusammenhang zwischen der ersten und zweiten Fassung 
seines Systemes vergifst und diese entschiedenere Wendung nur für ein ge- 
borgtes Gut hält. 

Wenn nach Hegel die Logik und nur das Logische der reale Grund- 
stoff des Wirklichen ist, wenn die Welt und ihre Geschichte nur die Dialek- 
tik des reinen Gedankens abspielt: so sollte man nicht zweifeln, dafs nach 
Hegel der Gedanke das Ursprüngliche, ja das allein Wahrhafte ist. Und 
doch haben wir in der Historie der hegelschen Schule das merkwürdige 
Schauspiel gesehen, dafs sich innerhalb desselben Systemes und im Namen 
desselben Meisters dieselben zwei Richtungen wieder erzeugten, welche sonst 
den unversöhnlichen Gegensatz der Systeme bilden, dieselben zwei Rich- 
tungen, welche sonst als der Grundunterschied aller Systeme erscheinen. 
Während ältere Schüler Hegels in der Idee vor der Natur und vor dem sub- 
jectiven Geiste den bewulsten göttlichen Gedanken auffassen, meint die jün- 
gere Schule es anders. Gott kommt erst im Menschen zum Bewulfstsein. 
Vorher ist er nur die unbewufste Dialektik, welche erst der bewufste Geist 
des Philosophen durchschauet, vorher also ist er nur unpersönliches Natur- 
geseiz und durch den Procefs der Weltdialektik processirt sich das Blinde 
zum Sehenden glücklich hinauf. In diesen zwei Seiten der hegelschen Schule 
wird mit denselben Mitteln bewiesen, dafs der Gedanke vor den Kräften 
und wiederum dafs die Kräfte vor dem Gedanken stehen; denn die Weltdia- 
lektik im zweiten Fall wird nur Gedanke im Menschen. Wo die gröfsten 
Gegensätze der Philosophie aus der Nothwendigkeit desselben Begriffs, der- 
selben Methode folgen sollen: da ist es billig, an einer Methode zu zweifeln, 
welche ihr eigenes Werk entzweiet. Äufserlich giebt es keinen gröfsern In- 
dicienbeweis gegen ihre Aussagen. 

Würden wir Herbart untersuchen, so würde sich zeigen, dafs seine 
Metaphysik und Psychologie und selbst seine praktische Philosophie, in wel- 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 255 


cher die Ideen nur in unserer Auffassung des Harmonischen entstehen, nach 
der ersten Seite hinübergehen, während seine teleologischen Andeutungen 
der Religionsphilosophie der andern angehören. 

Auf solche Weise erhellt, dafs kein System gegen die entworfene 
Grundfrage gleichgültig ist. Alle müssen sich zu ihr in ein bestimmtes Ver- 
hältnifs stellen und alle entscheiden darin über ihre Grundrichtung. 

Diese letzten Unterschiede, die möglichen Verhältnisse von Gedanken 
und Kraft, sind freilich noch sehr allgemein und dieser allgemeine Grund 
kann sich, wie die verschiedenen Systeme zeigen, mannigfaltig gestalten. 
Die Systeme der Kräfte verfahren bald atomistisch, bald dynamisch; die Sy- 
steme des Zweckes bald theistisch bald pantheistisch, wie z.B. in der Stoa, 
und construiren bald aus dem Absoluten heraus, bald suchen sie die Ele- 
mente in der Welt zu einem Gedanken des Ganzen zu deuten. Die Ge- 
schichte der Philosophie zeigt diese Unterschiede — uud wir lassen sie hier 
auf sich beruhen. 

Wenn wir in jenen drei ursprünglich verschiedenen Weisen einer 
Weltanschauung philosophische Gedankenreihen erblicken, welche sich wie 
taktische Ordnungen im Fortgang mehr und mehr gegen einander kehren 
müssen: so werfen wir noch auf ihren Kampf einen Blick, ob wir vielleicht 


schon sehen, wohin sich der Sieg neige. 


5 

Wo drei unter einander kriegen, pflegt es zu geschehen, dafs sich nach 
der Anziehung ihrer Interessen zunächst zwei mit einander verbünden, um spä- 
ter ihre Sache unter sich auszumachen. Etwas Ähnliches ist hier geschehen. 

Jene Ansicht, dafs Gedanke und Kraft an sich gar nicht und höch- 
stens in der Anschauungsweise verschieden sind, so dafs weder die Kraft vor 
den Gedanken, noch der Gedanke vor die Kraft gestellt werden könne, die 
dritte Möglichkeit, die wir bezeichneten, hat, wie gesagt, in Spinoza ihren 
grofsen Vertreter. Denken und Ausdehnung sind ihm die beiden Attribute 
der Substanz. Der Verstand schauet sie nothwendig als solche an, welche 
das Wesen der Substanz ausmachen. Wie diese Substanz nur Eine ist, so 
drücken die Attribute ihr Wesen nur verschieden aus. Daher stehen sie in 
keinem Causalzusammenhang; denn sie sind nur Eine und dieselbe Substanz. 
Weder das Denken bestimmt die Ausdehnung noch die Ausdehnung das Den- 
ken. Es kann mithin auch keinen Zweck in der Natur der Dinge geben, 
keinen determinirenden Gedanken als das Ursprüngliche. 


356 TRENDELENBURG 


Nach dem Prineip ist diese Ansicht von jenen Systemen der Kräfte 
und jenen Systemen des Zweckes nnd der Idee wesentlich verschieden. Sie 
folgte aus der Natur der Sache als die dritte Möglichkeit, welche sich neben 
die beiden andern auf gleiche Linie stellt. Indessen giebt sie in der Durch- 
führung — vielleicht nothgedrungen — diese eigenthümliche Stellung auf; 
und schlägt sich bald zu der einen, bald zu der andern Steite. Spinoza kennt 
nur die wirkende Ursache und Jacobi stellte seine Lehre als die consequen- 
teste Ausführung derselben den Systemen der Endursache gegenüber. Inso- 
fern tritt Spinoza in die erste Ordnung ein. Dessenungeachtet sucht Spinoza, 
dessen Lehre in der intellectualen Liebe Gottes ihren Gipfel erreicht, das 
Ideale wieder zu gewinnen, und insofern ist er mit der andern Ordnung ver- 
wandt. Ob sich beides auf einander reime und ob darin der Grundge- 
danke, um den es sich handelt, festgehalten sei, mag einer andern Betrach- 
tung aufbehalten bleiben. Im Grofsen und Ganzen verbindet sich der De- 
terminismus des Spinoza mit der ersten Reihe. 

Daher wird der Kampf übersichtlicher, indem kein Dritter zwischen 
die beiden Ordnungen tritt. 

Beide Weisen der Betrachtung haben in sich selbst ihre Grenzen und 
wir werfen sie leicht bis auf diese Schranken zurück. 

Wir verlangen von beiden Systemen, dafs sie uns die Welt im Vor- 
gang des Werdens zeigen oder wenigstens den Weg, auf dem er möglich sei. 
Denn sonst bleibt der erklärende Grund wie todt und regungslos gegen das, 
was soll erklärt werden. Wenn wir die beiden Systeme nach diesem Punkte 
hin in Bewegung setzen, offenbaren sie ihren Mangel. 

Wir lassen die Möglichkeit dahingestellt, wie aus Einer ursprünglichen 
Bewegung die Mannigfaltigkeit der Kräfte entstehe. Es seien diese gegeben. 
Sie sind da, blind und bunt. Dann soll gezeigt werden, wie aus dem Blin- 
den das Sehende wird, aus dem Bunten die Einheit der Ordnung, aus dem 
Ungefähr des Zufalls die Praecision des Organischen, aus dem wilden Spiel 
der Kräfte die Symmetrie und das Gleichgewicht des Lebens, aus dem Wider- 
einander der Bewegungen Bestand und Übereinstimmun 


8 
schaften zergliedern und finden Gesetze und Mafs der Kräfte; aber sie zeigen 


g. Die Naturwissen- 


noch nicht, wie ursprünglich das Mafs aus dem Mafslosen werde. Die Ge- 
schlechter des Lebendigen sind da und in den mannigfaltigsten Gestalten. 
Jedes Individuum hält die verschiedenen Kräfte in eigenthümlicher Einheit 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 257 


gebunden. Die Geschlechter des Lebendigen sind die unerklärte Vorausset- 
zung. Sie sind da mit ihrer Harmonie; aber im System der blofsen Kräfte 
sollte man zeigen, wie sie aus dem werdeu, was noch keine Harmonie ist. 

Es hat ohne Frage seine Schwierigkeit, aus dem nackten Durchein- 
ander von Tönen das Concert des Universums, die unsterbliche Harmonie 
des Lebendigen entstehen zu lassen, es sei denn dafs ein empfundener Ge- 
danke über den Tönen und mitien in den Tönen die Melodien entwerfe. 

Wer an die Zahl oder Unzahl der möglichen Permutationen und 
Combinationen denkt, der wird schwerlich die Wette von Einem gegen Mil- 
lionen und Billionen Fälle wagen, dafs aus zusammengeworfenen und aus- 
geschütteten Buchstaben eine Tragoedie oder Komoedie herauskomme. 
Wirklich verhält sich die Sache so und nicht anders, mag man nun in der 
Philosophie mit Atomen Verbindungen versuchen oder die Kräfte gegen 
einander spielen lassen. Damit wird in dem berechtigten Kreise die Be- 
deutung der Atome so wenig verkannt, als etwa geleugnet wird, dafs die 
Wörter der Tragoedie oder Komoedie aus den Atomen der Buchstaben 
bestehen. Aber es wird in demselben Sinne bezweifelt, dafs in solchen Ato- 
men oder Kräften der letzte Grund liege, als wir bezweifeln, dafs der ur- 
sprüngliche Grund des Wortes die Buchstaben seien. 

Aber auch die andere Ansicht hat ihren Stachel in sich, damit sie 
nicht raste. 

Es läfst sich der Streit zwischen beiden Ansichten in die Frage zu- 
sammenfassen, ob die Folge in der Erscheinung, die zeitliche Geschichte, 
das Letzte sei, die Darstellung des Causalzusammenhanges, oder ob diese 
Folge in einem vorangehenden Gedanken, der die Ursache der zukünftigen 
Wirkung zurichtet, also eigentlich die Wirkung zur Ursache macht, sich 
gründe. Dieses Letzte, die Umkehr des Causalnexus in einem vorschauenden 
Blick, ist demjenigen das Anstöfsige, der in dem mechanischen Druck und 
Stofs, in der Succession der Fortpflanzung, die einzige Weise, die einzige 
Norm der Thätigkeit erblickt. Freilich lehrt die Beobachtung schon die 
entgegengesetzte Weise. Die Organismen bauen für die Zukunft und ihre 
Causalität fafst Gegenwart und Zukunft zusammen. Aber man hofft diese 
Anomalie bei tieferer Ergründung in die Succession der wirkenden Ursache 
aufzuheben und will um Alles lieber die Welt als lauter elastische Schwin- 
gungen fassen, von denen man doch nicht weifs, woher sie stammen, nur 


Philos.- hisior. Kl. 1847. Kk 


258 TRENDELENBURG 


nicht als ein organisches Ganze, das in einem überschauenden Gedanken 
seinen Grnnd hätte. 

Die Schwierigkeit läfst sich freilich nicht bergen. Alle teleologischen 
Systeme sind eine erweiterte Analogie; sie denken die ganze Welt nach der 
Analogie ihrer praegnantesten Theile. Hiergegeu kann man streiten. Aber 
noch mehr. Sie denken die Entstehuug des Lebendigen, des Organischen 
nach der Analogie des bildenden menschlichen Gedankens. Aber diese 
Analogie reicht nicht aus. Das Bild des menschlichen Gedankens bleibt 
wie ein Entwurf in ihm selbst beschlossen, es sei denn, dafs ihm eine reale 
Kraft, z.B. die Hand, zu Gebote stehe. Eine solche Vereinigung ist daher 
auch, wenn die Analogie bestehen soll, in dem ursprünglichen bildenden 
Gedanken vorauszusetzen. Hier fehlt alles. Wir lesen wol die Ideen in der 
Welt z.B. die Zwecke der Sinne, wir glauben den Gedanken zu sehen, der 
die Welt regirt, aber er regirt unsichtbar, wir sehen nicht die reale Kraft, 
die ihn trägt und ausführt. Es hilft nichts, den Gedanken vor die Kraft zu 
stellen. Man soll zeigen, wie es geschehen könne, dafs er die Kraft ergreife 
und regiere. Damit der Gedanke werde („der Gedanke sprach: es werde 
Licht und es ward Licht”), mufs er mit einer Kraft, die ihn ausführt, Ge- 
meinschaft haben. Wie unser Gedanke, damit er den Kräften nachbilde, 
mit ihnen ein Gemeinschaftliches theilen mufs, z.B. die Bewegung, durch 
die wir geistig Richtungen und Gestalten entwerfen, so kann auch der ur- 
sprüngliche Gedanke, damit er den Kräften vorbilde, nicht schlechthin von 
ihnen getrennt sein. Dieser ursprüngliche Punkt der Gemeinschaft liegt bis 
jetzt über die Speculation hinaus. Soll sich einst die genetische Erkenntnifs 
in der Philosophie vollenden, so mufs er gefunden werden. Bis dahin bleibt 
es ihre grofse Aufgabe, die Thatsache des ursprünglichen Gedankens in seiner 
universellen Offenbarung zu erkennen und festzustellen, damit die Dinge 
in einem Gedanken ihre Wahrheit und die Gedanken in den Dingen ihre 
Wirklichkeit haben. 

Es sind schlechthin verschiedene Weltansichten, welche dann entste- 
hen, wenn man sich entweder in die Kraft als das Ursprüngliche oder in 
den Gedanken als das Allbedingende stellt und die eine Ansicht läfst sich 
nicht auf die andere zurückführen. Wenn man ihren Kampf in der Ge- 
schichte verfolgt und zwar nicht blos in den geschlossenen Systemen, son- 
dern noch mehr in der Gewalt, die sie in den Köpfen übten: so ist es im 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 259 


Grofsen und Ganzen ein Kampf zwischen Physik und Ethik. Das System 
der nackten Kräfte verschlingt die Ethik in die Natur und die Systeme des 
die Kräfte regierenden Gedankens leihen schon den Bildungen der Natur 
individuelle Mittelpunkte, wie ein Vorspiel des Ethischeu. Die eine Art 
der Systeme naturalisirt die Ethik, die andere ethisirt in gewissem Sinne 
die Natur. 

Die organische Weltansicht — das System des ursprünglichen Gedan- 
kens — tritt gleichzeitig mit der reinen Ethik auf. In Sokrates liegt sie vor- 
gebildet. Plato wirft sie als ein kühnes Ganze in die Geschichte hinein. In 
der Idee des Guten wurzelt ihm Natur und Staat, Leib und Glied. Zwar 
hat Aristoteles diese Betrachtungsweise insbesondere in der Natur selbst, 
in der Untersuchung des organischen Lebens, welches sich ohne innere 
Zweckmäfsigkeit nicht denken läfst, begründet und befestigt. Aber das 
Christenthum, die grofse Erfüllung eines ethischen Bedürfnisses, giebt ihr 
und zwar wie es der Religion gebührt, in unmittelbarem Glauben an Got- 
tes Weisheit und Liebe, den eigentlichen Sieg in den Gemüthern. Die be- 
sondern christlichen Vorstellungen ruhen auf dieser allgemeinen Grundlage. 

Indessen die Physik erstarkt und bildet ein Gegengewicht. Im Alter- 
thum ist sie schwach und ihre Ansichten verbreiten sich, wie im Epicureis- 
mus, grofsen Theils durch ethische Wahlverwandtschaft. Da die Physik 
in neuerer Zeit— beobachtend und messend, experimentirend und bauend — 
selbstständig und mächtig wird: scheint es, als ob sie der vorausgesetzten 
Idee, dem ursprünglichen Gedanken, von welchen sie die Kräfte mit Erfolg 
trennt, das Reich in demselben Mafse schmälere, als sie die Wirkung der 
Kräfte durch ihre eigenen Gesetze in die Gewalt des Menschen bringt und 
sie dem fremden Gedanken des Menschen dienstbar macht. 

Hier liegt der mächtigste Gegendruck gegen den Platonismus und — 
es ist nicht zu leugnen — die Geschichte sucht ihn bei seiner Schwäche zu 
fassen und zu fällen. 

Bei Plato ist die Materie das in sich Zerfallene und Verworrene, wie 
er sich ausdrückt, „in den bodenlosen Ort der Unähnlichkeit versunken”, 
das in sich Unbestimmte und Mafslose, das Irrationale und insofern das 
Nicht-Seiende, die Wurzel des Bösen. Im Gegensatz gegen dies wandel- 
bare Materielle hebt Plato darum die Wissenschaft der Zahl und Figur so 
hoch, weil sie in reiner Erkenntnifs beständige Gesetze offenbart, ein sich 


Kk2 


260 TRENDELENBURG 


selbst Gleiches und darum Vernünftiges; und in diesem Sinn ist sie ihm der 
Hebel vom Nicht-Seienden (dem Materiellen) zum Seienden (dem Ewigen). 

Die neuere Zeit liebt die Materie, welche Plato verschmäht, und sie 
hat an ihr Grofses gethan. Jene Gesetze der Zahl und Figur, bei Plato im 
Gegensatz gegen die Materie, erstrecken nun ihren Halt und Bestand über 
die Materie selbst. Was sich in ihr widersprach, ihr Wechsel und Wandel, 
löst sich in einstimmiges Wesen auf, das Unähnliche in eine sich selbst ge- 
treue Gleichheit, das Verworrene in Ordnung, das Irrationale in Nothwen- 
diges. Die neuere Zeit hat darin ihre eigenthümliche Gröfse. Von dieser 
Seite siegt sie über den Platonismus; von dieser Seite wächst die physische 
Weltansicht. Man sieht, was sich mit der wirkenden Ursache machen läfst 
und setzt daher in ihr Wesen Alles. 

Indessen liegt hier ein Wendepunkt der Betrachtung. Wer etwas mit 
der wirkenden Ursache macht, wer sie benutzt, trägt den Zweck, trägt einen 
höheren Gedanken auf ähnliche Weise in sich, wie das organische Leben die 
wirkenden Ursachen den Zwecken des Ganzen unterwirft. Jene Verherrli- 
chung der Kräfte geschieht doch im Namen eines Gedankens, der sie er- 
kennt oder sie benutzt. 

Es steht zu hoffen, dafs dieses Übergewicht des Physischen sich im 
Fortgang dem ursprünglichen Gedanken nicht widersetzen, sondern ihn mit 
seiner Macht ausstatten werde. Die Erkenntnifs der Kräfte steht noch mitten 
in einer mannigfaltigen Vielheit. Wo es gelingen wird, sie zur Einheit eines 
Ganzen zusammenzubiegen: da wird sich mit dem Ganzen auch der ursprüng- 
liche Gedanke herstellen. Wir wollen es in einem Bilde deutlich machen. 
Wer die Kräfte der Hand allein betrachtet, sieht darin mechanische Getetze 
z.B. des Hebels verwirklicht. Wer das Auge zerlegt, fafst seine Theile 
unter allgemeine optische Gesetze z.B. der Refraction. Beide Betrachtun- 
gen der Kräfte, so lange man sie isolirt, haben nichts mit einander zu thun. 
Sie gehen ihren eigenen Weg. In demselben Augenblick jedoch, in wel- 
chem Hand und Auge zusammen aufgefafst werden, wie vom Standpunkt 
des ganzen Lebens, springt der Gedanke hervor, der sie ursprünglich zu- 
sammen bindet. Die Hand begehrt Richtung von dem Auge, damit sie ge- 
schickt werde, das Auge Ausführung von der Hand, damit sein Blick mäch- 
tig werde. Vielleicht läfst sich hoffen, dafs einst die Naturwissenschaften 
die Kräfte zu einer ähnlichen Einheit fügen, und zwar um so mehr, als sie 


über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme. 261 


an manchen Punkten mitten in den blofsen Kräften, insbesondere aber im 
Organischen, durch die Spur der Thatsachen auf die Einheit hingewiesen 
werden. Dann würden sie am Ende den Platonismus nicht stürzen, sondern 
nur fester gründen. Dann erst werden sich die Kräfte der Natur wie die 
Laute der Sprache verhalten; sie werden einen Sinn haben und einen göttli- 
chen Gedanken kund geben, wie diese einen menschlichen. Dann erst 
kommt die Erklärung, Baco’s interpretatio naturae, zu ihrem Recht; denn 
was hilft alles Erklären, alles Dollmetschen, wenn kein nrsprünglicher Ge- 
danke herauskommt? Dafs sich die blinden Kräfte der Natur von dem hin- 
zutretenden menschlichen Gedanken in gedachte Gesetze haben verwandeln 
lassen, bezeugt vielleicht ihren Ursprung aus einem umfassenden (objeecti- 
ven) Gedanken. 

Bis dahin wird das höhere menschliche Bedürfnifs und in der Natur 
die Betrachtung des Lebens die Richtung auf das ursprünglich Ideale wach 
halten. Das Organische und Ethische steht in einem Bunde; denn das 
Ethische ist das sich selbst erkennende, das bewufst und frei gewordene 
Organische. Dem menschlichen Gedanken erscheint, wenn er sich besinnt, 
die Alleinherrschaft der nackten Kräfte, die physische Weltansicht öde. Ihr 
zufolge sind im unendlichen Raum unendliche Welten, unendliche Kräfte, 
aber der Gedanke blitzt nur im einzelnen Menschen auf, wie zum Schein der 
Betrachtung; und der menschliche Gedanke ist einsam in der Welt. Der 
Mensch streckt sein vorwitziges Auge aus dem Meer der Kräfte hervor und 
zwar in einzelnen philosophischen Lehren nicht viel anders, als der Frosch 
aus dem Sumpf seinen aufgeblasenen Kopf. „Und es war wüste und leer” 
hiefse es eigentlich noch heute, und zu jenem tröstlichen Worte „und Gott 
sahe, dafs es gut war” wäre es noch nicht gekommen. 

Weder das Gute noch der Gedanke könnte am Ende und im Einzel- 
nen herauskommen, wenn er nicht im Ursprung und im Ganzen läge. 

Es mag zum Schlusse gestattet sein, aus der Philosophie in die deut- 
sche Dichtung abzuschweifen. 

Goethe’s Faust erörtert die Stelle der Schrift: „im Anfang war das 
Wort”. Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin, 

Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn. 
Faust deutet auf dasselbe hin, was als System des Gedankens bezeichnet 
wurde. 


TRENDELENBURG über den letzten Unterschied u.s.w. 


19 
[>] 
[89) 


Bedenke wohl die erste Zeile, 

Dafs deine Feder sich nicht übereile! 

Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? 

Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft. 
Faust deutet damit auf dasselbe hin, was System der nackten Kräfte ge- 
nannt wurde. 

Die deutsche Philosophie hat zwar seit Leibniz und länger — das ist 
die Thatsache der Geschichte — das Paradies verloren, zu lehren, was ge- 
schrieben steht, nur darum weil es geschrieben steht. Als Philosophie kann 
sie nicht anders; ihr Beruf ist allgemeiner und sie mufs es der Theologie 
überlassen, positiv zu sein. Aber die deutsche Philosophie wird mitten in 
dieser freien Stellung bei dem Spruch der Schrift beharren: „im Anfang war 
das Wort” — und zwar zunächst und im Zusammeuhang obiger Betrachtun- 
gen aus dem einfachen Grunde, weil das Wort, unter dessen Bilde an jener 
Stelle das ursprünglich in Gott Schaffende ausgedrückt wird, Sinn und Kraft 
zumal ist, eine Einheit beider dergestalt, dafs die Vorstellung den Laut, also 
der Sinn die Kraft bestimmt und der Laut nur um des Sinnes d.h. die Kraft 
nur um des Gedankens willen da ist, aber nicht umgekehrt; und wer lieber 
sagen möchte: „im Anfang war die That”, der mufs sie doch in dieser Weise 
erklären. 


Über 
Matthias von Janow als Vorläufer der deutschen Refor- 
mation und Repräsentanten des durch dieselbe in die 
Weltgeschichte eingetretenen neuen Princips. 


‘ Von 
H'": NEANDER. 


nanannnnannnmwn 


[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 13. August 1847.] 


D. Beseelende in aller geschichtlichen Entwickelung sind die darin sich 
offenbarenden Ideen, durch welche alle geistigen Kräfte in Bewegung gesetzt 
werden. Nur wenn man die beseelende Idee ergründet hat, ist man sicher, 
die Geschichte in ihrem Wesen und ihrem Verlauf recht verstanden zu haben. 
Dies gilt von jeder grofsen geschichtlichen Erscheinung und Bewe 
ist hier die höchste Aufgabe der Geschichtsbetrachtung, die Idee, aus der 
sie hervorgegangen, als das erzeugende und beseelende Princip derselben 


gung. Es 


zu erforschen. Es sind hier aber mannichfache Mifsverständnisse möglich, 
welche auch mamnichfache Verkennungen der in Rede stehenden Erschei- 
nungen oder Bewegungen zur Folge haben müssen. Wenn das neue Princip 
im Gegensatz zu einer früheren Entwickelungsstufe hervortritt und sich aus 
diesem Gegensatze heraus entfaltet, kann man sich verleiten lassen, dieses 
negative Moment des Gegensatzes für das Wesen selbst zu halten. Und 
doch setzt die Verneinung immer zuerst voraus das bestimmte Princip der 
Bejahung, worin sie begründet ist. Man mufs zuerst das neue Prineip, wel- 
ches in die Geschichte eintritt, in seiner eigenthümlichen positiven Bedeu- 
tung recht verstanden haben, ehe man den daraus hervorgegangenen Ge- 
gensatz zu einer früheren Entwickelungsstufe recht zu verstehn vermag. 
Immer wird auch das positive Element das ursprüngliche sein, welches, der 
darin begründeten Verneinung sich noch nicht bewufst, im Schoofse einer 
früheren Entwickelungsstufe geboren wird, im Gegensatz gegen welche es 


264 Neanpver über Matthias von Janow 


nachher in die Erscheinung tritt und sich weiter ausbildet. Ein anderer 
Irrthum ist, wenn, wo ein Princip mehrere positive Elemente in sich fafst, 
der Geschichtschreiber nach seiner besonderen subjectiven Neigung eins 
willkürlich herauswählt und dieses für das ganze Princip, für die volle 
Idee der Erscheinung ausgiebt, während dieses Einzelne selbst doch nur in 
dem Zusammenhange mit den übrigen zusammengehörigen Elementen, und 
insbesondre mit dem, was den Mittelpunkt von Allem bildet, recht erkannt 
werden kann. Ein dritter Irrthum ist es, wenn man nur auf die Wirkungen 
hinblickt, welche von dem neuen Princip ausgegangen sind, oder ausgegan- 
gen zu sein scheinen. Dann kann man in die Gefahr kommen, Manches, 
was den Wirkungen jenes Princips, nachdem dadurch einmal die Geschichte 
in Bewegung gesetzt worden, zufälliger Weise, vermöge eines blofs äufser- 
lichen oder doch nur mittelbaren Zusammenhanges sich angeschlossen hat, 
in das Wesen jener Erscheinung selbst zu setzen. Oder, wenn es auch in 
der That solche Wirkungen sind, die unmittelbar durch jenes neue Prineip 
hervorgerufen worden, so müssen diese doch immer von dem Princip selbst 
wohl unterschieden werden. Um jene neue Erscheinung recht zu verstehn, 
mufs man alle jene Wirkungen in ihrem organischen Zusammenhange und 
in ihrer Beziehung zu jenem genetischen Princip recht verstanden haben. 
Es kann ja geschehn, dafs eine von den grofsen Wirkungen, die durch jenes 
Princip hervorgerufen worden, einmal vorhanden, sich von der Wurzel, 
aus der sie entsprossen, losreifst, einer falschen Selbstständigkeit sich be- 
mächtigt, und eine dem Princip, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen, 
durchaus fremdartige und entgegengesetzte Richtung nimmt. Wie sehr wird 
man denn also die in Rede stehende Erscheinung mifsverstehen, wenn man 
alles dieses auf sie zurückführen zu müssen glaubt. Von je gröfsrer innrer 
Bedeutung, von je gröfsrem Einflufs auf den Entwicklungsprocefs der Welt- 
geschichte ein neues Prineip ist, je gröfsere und vielseitigere Wirkungen 
durch dasselbe hervorgerufen worden, desto mehr bedarf es der wissen- 
schaftlichen Vertiefung, Umsicht und Besonnenheit, um solchen Mifsver- 
ständnissen zu entgehen. Es erhellt, dafs dies keine Sache der Willkür ist, 
so dafs der Eine Dieses der Andre Jenes für das Princip jener neuen Er- 
scheinung ausgeben könnte; es wird sich das Irrthümliche in den falschen 
Auffassungen auf die bemerkte Weise, der Grund des Mifsverstandes in 
der einen oder andren Beziehung mit wissenschaftlicher Strenge nachweisen 


als Vorläufer der deutschen Reformation. 265 


lassen. Mag es von dem subjectiven Standpunkt des Betrachtenden abhän- 
gen, welche Stellung zu dem bestimmten Prineip er selbst in seinem geisti- 
gen Leben und seiner Überzeugung einnimmt, — was aber jenes Prineip ist, 
davon wird die strenge wissenschaftliche Untersuchung auf eine sichre Weise 
Rechenschaft geben können. Auch ehe jenes neue Princip in der Erscheinung 
sich entwickelt hat, werden wir das Hinstreben zu demselben schon in den 
früheren Bewegungen der Geschichte nachweisen können, —- um so mehr, 
je gröfser die Bedeutung dieses neuen Prineips ist; denn nichts entsteht in 
der Geschichte vereinzelt und unvorbereitet. Defshalb ist es wichtig für 
eine solche Untersuchung, auch die vorangehenden Zeichen, welche die 
Zukunft vorbereiten, vorbilden und weissagen, zu erkennen. 

Dieses ist auf eine der gröfsten Bewegungen in der Weltgeschichte 
anzuwenden, die deutsche Reformation, welche von dem religiösen Element 
ausgehend auf die Entwicklung der Menschheit in den vielseitigsten Bezie- 
hungen, in Hinsicht der politischen und gesellschaftlichen Gestaltung, Ent- 
wicklung der Philosophie, der Wissenschaften und Künste überhaupt so 
mächtig eingewirkt hat. Eben weil sie nun aber vermöge dieser mannich- 
faltigen Wirkungen ein so vielseitiges, verschiedenartiges Interesse in An- 
spruch nimmt, sind daher auch von den Seiten aus, die wir vorhin bezeichnet 
haben, die verschiedenartigsten Verkennungen und Mifsverständnisse ent- 
standen, wie sie uns nicht allein in der populären, nur der subjectiven Nei- 
gung, Laune oder Meinung folgenden Betrachtung, sondern auch in den 
Ansichten Derer, welche auf Wissenschaft Anspruch zu machen haben, ent- 
gegentreten. Wenngleich die wissenschaftliche Entwickelung zur Vorberei- 
tung der neuen geistigen Schöpfung, welche aus der Reformation hervorging, 
mächtig einwirkte, wenngleich die Entwicklung der Wissenschaft mit dem 
neuen religiösen Element bald in Verbindung trat, die Durchbildung und 
Verbreitung desselben beförderte, so ist dies doch immer mit dem Princip 
an sich selbst nicht zu verwechseln. Dieses gehört der Entwicklung des 
religiösen Bewufstseins an. Und die gröfsten Bewegungen in dem Leben 
des Geistes müssen ja auch ausgehen von dem, was das Höchste und Tiefste 
darin ist, der Beziehung zu Gott, und zwar in derjenigen Form, welche 
allein geeignet ist, zu allen Menschen zu gelangen, daher eine Alle ergrei- 
fende Bewegung hervorzurufen, was nicht die Wissenschaft, sondern nur 
die Religion sein kann. Losreifsung von der willkürlichen Autorität, welche 


Philos.- histor. Kl. 1847. Ll 


266 Neanper über Matthias von Janow 


Jahrhunderte lang die Geister beherrscht hatte, und unter der sie sich zur 
Mündigkeit entwickeln sollten, war das negative Moment, in welchem das 
neue Prineip sich darstellen mufste, sobald es zu seinem vollen Bewufstsein 
gelangt war; aber wie aus den vorausgeschickten allgemeinen Bemerkungen 
erhellt, wird aus diesem negativen Moment das Wesen dieser Erscheinung 
nimmer verstanden werden können; sondern dieses selbst setzt voraus das 
positive Moment, welches das andre in seinem Schoofse trug, und in wel- 
chem es sich zuerst an dem alten Baum, von dem es sich nachher losrifs, 
entwickelt hatte; wie es sich uns auch an dem Vorgänger der Reformation, 
von dem wir besonders reden wollen, zeigen wird. Freie Entwicklung 
aller Güter der Menschheit, freie Entwicklung der Völker, der Staaten, 
der Wissenschaften und Künste mufste und sollie von der Reformation 
ausgehn, — würde schon früher in gröfsrem und allgemeinerem Maafse da- 
von ausgegangen sein, wenn dieses Prineip ungehemmt und ungetrübt in 
seiner Entwicklung hätte fortgehn können. Aber alle diese Wirkungen sind 
zu unterscheiden von dem, was das Prineip der Reformation ausmacht, 
wenn sie gleich nothwendig damit zusammenhängen. Dieses Princip kann 
immer nur als religiöses Element recht verstanden werden; und so auch der 
Zusammenhang jener Wirkungen mit demselben. Auf die freie Entwicklung 
aller Güter der Menschheit hat die Reformation eingewirkt, indem sie die 
Idee des höchsten Gutes, des Reiches Gottes, wieder in ihre ursprüngliche 
Würde und ihre ursprüngliche Freiheit und Unabhängigkeit einsetzte. 
Durch die Idee Einer unmittelbaren Beziehung aller Geister zu dem 
Einen Göttlichen, als einer durch Christus vermittelten, die Idee Eines 
göttlichen Lebens, das von ihm ausgehend die ganze Menschheit in sich auf- 
nehmen und alles Menschliche verklären soll, war ein höheres Einheitsprin- 
eip für die ganze Menschheit und für alles Menschliche, Alles, was zur Idee 
der Menschheit gehört, gegeben worden. Die Gegensätze, welche in der 
alten Welt durch die Völkertrennung, unter den Völkern selbst durch den 
Gegensatz der Stände und der Bildung nothwendig waren, sollten durch das 
neue christliche Prineip überwunden werden. Mit dieser Anforderung trat 
dasselbe in die Welt ein, und diese Wirkungen entwickelten sich zuerst aus 
demselben. Aber wie wir in einzelnen fragmentarischen Untersuchungen, 
in den in dieser hochgeehrten Versammlung gehaltenen Vorträgen über die 
Schrift des Plotinos gegen die Gnostiker und die Tugendeintheilung bei 


als Vorläufer der deutschen Reformation. 267 


dem Thomas Aquinas nachgewiesen haben, — die durch das Christenthum 
überwundenen Standpunkte der alten Welt brachten, in den Entwickelungs- 
procefs desselben sich einmischend, eigenthümliche Trübungen hervor. Das 
religiöse Bewulstsein, welches in Allen ein freies sein sollte, unmittelbar 
an den Urquell des göttlichen Lebens, an Christus sich haltend, wurde 
wieder wie in der alten Welt von einer äufserlichen menschlichen Vermitte- 
lung abhängig gemacht. Indem das religiöse Bewufstsein der äufserlichen 
Autorität einer Kirche, eines Papstthums dienstbar gemacht wurde, auch 
die Theologie dadurch in solche Dienstbarkeit gerieth, wurde diese Abhän- 
gigkeit auch auf alle andern Zweige menschlicher Bildung, welche, dem 
Wesen des Christenthums gemäfs, frei nach ihrem eigenthümlichen Gesetz 
sich entwickeln sollten, übertragen; die äufserliche Theokratie trat an die 
Stelle der innern. Wie ein neuer Gegensatz von Priestern und Laien wieder 
eingeführt, das allgemeine Priesterthum, zu welchem das Christenthum Jeden 
in seinem Beruf geweiht hat, verkannt wurde, so wurde auch der alte Ge- 
gensatz zwischen Göttlichem und Menschlichem, Geistlichem und Weltli- 
chem wieder geltend gemacht, eine höhere Vollkommenheit als diejenige, 
welche in der Darstellung des göttlichen Lebens durch die Realisirung der 
sittlichen Aufgaben der Menschheit überhaupt und eines jeden menschlichen 
Lebens insbesondere besteht, in Anspruch genommen. Die Reformation 
hat nun eben, indem sie jene durch das Christenthum an’s Licht gebrachte 
und zur Verwirklichung geführte höhere Einheit wiederherstellte, alle jene 
Gegensätze überwunden, alle jene Schranken durchbrochen. Und so haben 
sich daraus entwickelt alle jene grofsen vielseitigen Wirkungen von der 
verschiedensten Art, welche das sittliche und gesellschaftliche Leben, Staat 
und Wissenschaft der Reformation verdanken; von welchen aber das be- 
seelende Prineip im Zusammenhange mit der Reformation immer nur jenes 
Eine bleibt, was wir bezeichnet haben. 

Wie sich dieses in dem Entwicklungsgange der deutschen Reformation 
selbst unverleugbar nachweisen läfst, so bei den der deutschen Reformation 
vorangehenden und zu ihr hinstrebenden Erscheinungen. In dieser Hin- 
sicht ist nun auch besonders wichtig der bedeutende Mann des vierzehnten 
Jahrhunderts in Böhmen, den man erst aus seinen in Handschriften verbor- 
genen Geisteserzeugnissen recht kennen lernen kann, Matthias von Ja- 


ö 
now. Der ausgezeichnete böhmische Historiograph, Franz Palacky, dem 


L12 


368 NeAnder über Maithias von Janow 


auch ich es verdanke, durch mündliche Belehrungen auf die grofse Bedeu- 
tung der Schriften dieses Mannes hingewiesen worden zu sein, er sagt mit 
Recht in seiner böhmischen Geschichte Bd. 3, Abtheilung 1, S. 181, „dafs 
die Schriften desselben für die Entwicklung der spätern Ansichten und Er- 
eignisse eine bei Weitem gröfsere Bedeutung haben, als man gemeinhin an- 
nimmt.” Es gilt dieses nicht allein von den durch Hufs in Böhmen hervor- 
gerufenen Bewegungen, sondern auch von der deutschen Reformation, wie 
sie durch Luther gestiftet wurde. Zwar werden wir hier durchaus keinen 
äufserlichen Zusammenhang nachweisen können, da Luther mit dem Matthias 
von Janow ganz unbekannt blieb, überhaupt sich keine äufsere Verbindung 
zwischen den reformatorischen Bewegungen in Böhmen und der Entwicklung 
Luthers nachweisen läfst. Beides erfolgte auf selbstständige, eigenthümlich 
verschiedene Weise, wie es in der eigenthümlichen Verschiedenheit der 
Männer, von denen jeder ganz seiner Nation angehörte, begründet ist. 
Aber wenngleich kein äufserlicher Zusammenhang hier anzunehmen ist, so 
ist doch darum der innre Zusammenhang nicht zu verkennen; er leuchtet 
grade defshalb desto mehr hervor. Wir erkennen denselben Geist, dasselbe 
Princip der Reformation, wie es sich in zwei Männern, welche durch Jahr- 
hunderte und durch den Völkerstamm, dem sie angehören, von einander 
getrennt sind, auf eigenthümliche Weise darstellt. Janow als Repräsentant 
des Prineips der Reformation, wie es aus dem geschichtlichen Entwicklungs- 
procefs des Christenthums unter einem Volke slavischer Abstammung sich 
herausbildete, und, da die Entwicklung desselben durch unglückliche Er- 
eignisse in dem slavischen Völkerstamm unterbrochen worden, über ein 
Jahrhundert später in dem deutschen Völkerstamm durch Luther zu seinem 
Sieg gebracht wurde. Die Geschichte läfst nichts untergehn. Kein Aus- 
sprechen der Wahrheit ist umsonst, wenn es auch für den Augenblick zu 
verhallen scheint: es ist die Weissagung auf den späteren Sieg dessen, was 
für den Augenblick unterzugehn scheint, wie Matthias von Janow in den 
Worten, die wir nachher anführen werden, den Sieg des Christenthums 
über das Antichristenthum weissagt, der durch Luther wirklich erkämpft 
wurde. Wenn es aus der bezeichneten Ursache interessant ist, die Einheit des 
Geistes und Prineips der Reformation in Matthias von Janow und Luther zu 
erkennen, dem Manne slavischen und dem Manne deutschen Stammes, wird 


als Vorläufer der deutschen Reformation. 269 


es von der andern Seite auch interessant sein, die Verschiedenheit, die darin 
begründet ist, genauer zu bezeichnen. 

Was uns zu dieser Untersuchung Veranlassung und Stoff gegeben hat, 
ist das handschriftliche Werk des Matthias von Janow „De regulis veteris et 
novi testamenti”, aus welchem sich ein Bruchstück unter dem Namen des Hufs 
unter dessen Werken findet, wie dies schon von Gieseler nachgewiesen wor- 
den, und von welchem grofsen Werke einige Bruchstücke nach der Mitthei- 
lung des Herrn Palacky von dem Professor Jordan in Leipzig in dem vorigen 
Jahre bekannt gemacht worden in seiner kleinen Schrift: „Uber die Vorläufer 
des Hussitenthums in Böhmen”. Durch eignes Studium während eines kurzen 
Aufenthaltes in Prag in den Herbstferien des vorigen Jahres überzeugte ich 
mich von der grofsen Wichtigkeit dieses Werkes, und durch die ausgezeichnete 
Liberalität der an der Spitze des Museums der bömischen Stände in Prag ste- 
henden Behörden erhielt ich die Mittheilung jenes Werkes nach Berlin. Das 
bezeichnete Werk enthält nach seinem Titel Regeln für die Beurtheilung des 
religiösen und sittlichen Lebens. Das Exegetische hat den mindesten Werth, 
obgleich Janow durch einzelne geistvolle Blicke auch hierin sich auszeichnet; 
aber von grofser Wichtigkeit ist, was er sagt nach genauer Bekanntschaft mit 
allen Verhältnissen seiner Zeit über das religiöse, sittliche und gesellschaftli- 
che Leben derselben, über das Verderben in den verschiedenen Ständen, über 
das Bedürfnifs einer Wiedergeburt der Christenheit, über das, wovon diese 
ausgehn müsse. Hier erkennen wir wie das grofse Bedürfnifs einer Reformation 
der Kirche, so das Prineip, von welchem dieselbe in Deutschland ausging. 
Das Werk, welches vielleicht aus der Zusammenstellung einzelner Vorträge 
entstanden ist, enthält mannichfache Wiederholungen, die aber auch dazu 
dienen, dieselben Gesichtspunkte in manchen neuen Beziehungen und von 
manchen neuen Seiten anschaulich zu machen. 

Wir müssen, um den Entwicklungsgang, das Auftreten des Matthias 
von Janow recht zu verstehen, auf seine Zeitumgebungen einen Blick wer- 
fen. Der Gipfelpunkt in der Verweltlichung des Reiches Gottes und in dem 
geistlichen Despotismus hatte die Reaktionen freierer Geistesrichtungen un- 
ter Bonifacius VIII. hervorgerufen. Es ist merkwürdig, die Reihe zusam- 
menhängender Bewegungen zu erkennen, welche in der Opposition der allge- 
meinen Concilien gegen das unbeschränkte Papstihum ihren Ausgangspunkt 


270 Neanver über Matthias von Janow 


findet. Die Residenz der Päpste in Avignon läfst das von dem verweltlich- 
ten Papstthum herrührende Verderben immer höher steigen. Das Verder- 
ben des römischen Hofes ruft immer mehr Klagen über die Übel der Kirche 
hervor und vermindert die Scheu vor dem bisher heilig gehaltenen Namen. 
Die Kämpfe des eigensinnigen Johannes XXI. mit Ludwig dem Baiern ver- 
anlassen merkwürdige Untersuchungen über die Gränzen der kirchlichen und 
bürgerlichen Gewalt, unter denen besonders die freien und scharfsinnigen 
Erörterungen eines Marsilius von Padua in seinem defensor pacis sich aus- 
zeichnen, welches Werk schon das Gericht über das ganze mittelalterliche 
Kirchensystem enthält. Darauf folgt die grofse päpstliche Spaltung, die 
eine natürliche Folge von der Residenz der Päpste zu Avignon war. Wäh- 
vend dieser stiegen die Übel der Kirche, die durch den Kampf der Päpste 
mit einander zerrissen wurde, immer höher, und die getheilte ungewisse 
Macht konnte nicht mehr so furchtbar sein. Die Betrachtung dieses Welt- 
zustandes hatte auf Matthias von Janow in Böhmen, wie Wiklef in England, 
offenbar Einflufs; wir werden nachher seine Worte darüber vernehmen. 
Wie in den Zeiten, in welchen bedeutende Krisen in der Weltgeschichte 
sich vorbereiten, zu den grofsen Zeichen, welche dem geistigen Verfall zur 
Seite gehen, auch zu gehören pflegen jene Weltseuchen, so war es damals 
der schwarze Tod, der von dem einen Ende Europas nach dem andern sich 
verbreitete und viele Tausende hinwegraffte. Alles dieses regte die Gemü- 
ther auf, weckte ernstere Betrachtungen, liefs grofse Gerichte Gottes ahnen; 
wie der Reformator Wiklef dadurch veranlafst wurde, seine erste Schrift 
„Über die Gefahr der letzten Zeiten” zu verfassen. Dadurch wurden ern- 
stere Seelen veranlafst, die Weissagungen der heiligen Schrift über das 
Kommen des Antichrist und die Wiederkunft Christi zu erforschen, die Zei- 
chen ihrer Zeit damit zu vergleichen. Und hier haben wir die Zeitumge- 
bungen, unter denen der bedeutende Mann, von dem wir reden, sich ent- 
wickelte, als Reformator sich bildete und auftrat, bezeichnet. 

Matthias von Janow, Sohn des böhmischen Ritters Wenzel von Janow, 
hatte sechs Jahre zu Paris studirt und dort den Grad eines Magisters erlangt, 
daher er den Namen eines magister Parisiensis führt. In Rom und Nürnberg 
hielt er sich längere Zeit auf. Seine Reisen hatten ihm reiche Kenntnifs 
von den Zuständen der damaligen Welt verschafft, wovon jenes angeführte 


als Vorläufer der deutschen Reformation. 271 


Werk zeugt. Seit dem Jahr 1381 war er Domherr in Prag. Was er in dem 
angeführten Werke von den frommen Frauen in Nürnberg sagt, könnte viel- 
leicht auf einen Zusammenhang zwischen den reformatorischen Bewegungen 
in Böhmen und den verwandten Bestrebungen der Gottesfreunde in Deutsch- 
land hinweisen, da Nürnberg zu den Städten gehört, wo dieselben einen Sitz 
hatten, wie die Verbindung des Heinrich von Nördlingen und der Margarethe 
Ebnerin ein Merkmal davon ist(!). Als Beichtvater an der Domkirche hatte 
er viele Gelegenheit, den religiösen Zustand und die Bedürfnisse des Volks 
kennen zu lernen. Er wirkte bis an seinen Tod in den besten Mannesjah- 
ren(?). Einige Jahre früher hatte er das bezeichnete Werk vollendet. 
Blicken wir auf den religiösen und kirchlichen Zustand von Böhmen, 
so war dort besonders, wie Matthias von Janow häufig darüber klagt, eine 
überreiche Geistlichkeit, in Verweltlichung versunken, unbekümmert um 
die religiösen Bedürfnisse des Volkes. Eine grofse Anzahl von Mönchen 
der verschiedensten Orden, die dem Volk am nächsten standen, beförderte 
den Aberglauben, der der Unsittlichkeit zur Stütze diente. Die Prager 
Universität, die Viele aus fernen Gegenden als Lehrer und Studenten herbei- 
zog, war ein Hauptsitz der scholastischen Theologie geworden, und durch 
diese wurden die Lehren, von denen der Volksaberglaube ausging, oder 
in denen er seinen Anschliefsungspunkt fand, vergeistigt mit mancherlei 
feinen Bestimmungen vorgetragen, von denen das Volk nichts verstehen 
konnte, worüber wir den Matthias von Janow werden klagen hören. Eben 
dieser Zustand des religiösen Lebens rief in Böhmen eine reformatorische 
Reaktion von Seiten einzelner Männer, die von Mitleid mit dem Volk er- 
griffen wurden, hervor. Diese Reaktion unterschied sich in eigenthümlicher 
Weise von derjenigen, die in England durch den tiefsinnigen und kernkräf- 
tigen Wiklef angeregt wurde, und sie ist in mancher Hinsicht der Reaktion, 
von welcher die deutsche Reformation ausg 


5 
schlofs sich einerseits dem politischen Gegensatz gegen die Hierarchie in Eng- 


ing, mehr verwandt. Wiklef 


land an, andrerseits finden wir bei ihm die Verbindung eines tiefspekulativen 
Geistes mit einem praktischen Element. Seine reformatorische Richtung 


(') S. die von Heumann bekannt gemachten Briefe an dieselbe in der Sammlung der 
opuscula von Johannes Heumann. Nürnberg 1747, 


(2) Derselbe erfolgte am 30. November 1394. 


272 Neanper über Matthias von Janow 


steht mit dem Gegensatz des Realismus gegen den Nominalismus in genauer 
Verbindung. Ein spekulativer Geist, der nachher bei den Engländern zu- 
rücktrat, herrschte damals bei ihnen vor und verband sich mit den refor- 
matorischen Bestrebungen. Zwar hat man dem Wiklef auch grofsen Einflufs 
auf die reformatorische Reaktion in Böhmen zugeschrieben, und allerdings 
verbreitete sich der wissenschaftliche Einflufs Wiklefs von Oxford nach Prag, 
und wir sehen diesen nachher unter den von Hufs angeregten Bewegungen 
hervortreten; doch darf man diesen Einflufs nicht zu hoch anschlagen. Das 
Studium der Schriften des Matthias von Janow, wenn man von demselben zu 
dem Studium der Schriften Hufsens übergeht, zeigt uns, dafs schon ganz 
unabhängig von Wiklef eine unmittelbar von dem religiösen Interesse und 
von der Theilnahme an den religiösen Bedürfnissen und der Noth des Volkes 
ausgehende reformatorische Reaktion gegen die Hierarchie in Böhmen sich 
gebildet hatte, eine solche Reaktion, welcher, obgleich sie dem herrschenden 
Kirchensystem sich noch anschlofs, doch schon das Prineip der deutschen 
Reformation in der bezeichneten Beziehung, der Hinweisung zu Christus 
allein und zu seinem Wort in der heiligen Schrift, zu Grunde lag. Die 
deutsche Reformation, wie sie von Luther ausging, sehen wir vorbereitet 
durch den Gegensatz der Gemüthstheologie, des Mystieismus, gegen die ein- 
seitige Begriffsrichtung der Scholastik. In diesen Gegensatz stimmt auch 
Janow ein. Aber wenn das tiefinnerliche Element in der mystischen Theo- 
logie Deutschlands mehr vorherrschte, sehen wir in dem slavischen Volks- 
stamm die nach aufsen hin gerichtete Thätigkeit des reformatorischen Geistes 
von Anfang an mehr hervortreten. Es sind Männer, welche, indem sie der 
religiösen Bedürfnisse des Volks voll unermüdeten Eifers sich annehmen, 
mit der herrschenden Theologie und ihren Vertretern in Kampf gerathen. 
Matthias von Janow nennt besonders zwei, welche durch ihr Beispiel viel 
auf ihn eingewirkt zu haben scheinen, und von denen der Eine auch unmit- 
lelbar durch Unterricht und Umgang bedeutenden Einflufs auf ihn ausübte. 
Die beiden Männer, welche er als Repräsentanten des rechten Eliasgeistes 
darstellt: der Eine ein bis auf die neueste Zeit unbekannter Mann, Konrad 
von Waldhausen aus Österreich, den man bisher mit einem spätern Manne 
reformatorischen Geistes, Johann von Stiekna, aus Milsverstand zu einer Per- 
son gemacht hat, und Milicz aus Kremsier in Mähren, der bei dem Kaiser 
Karl IV. in grofsem Ansehn stand, aber Alles hingab, um nur dem Besten 


als Vorläufer der deutschen Reformation. 273 


des Volkes sich zu weihen. Von ihm zeugt Janow mit warmer Begeisterung. 
„Ich bekenne, — sagt er — dafs ich nicht im Stande bin, auch nur den 
zehnten Theil von dem zu schildern, was ich in der sehr kurzen Zeit, die 
ich mit ihm zusammenwohnte, mit meinen eignen Augen gesehn und mit _ 
meinen eignen Ohren gehört habe.” Von diesem ausgezeichneten Manne, 
der in Rom und Avignon gegen das herrschende Verderben zeugte, ging 
eine Schule von Männern reformatorischen Geistes aus, und Derjenige, der 
unter diesen durch seine Schriften am meisten wirkte, der als Mann der 
Wissenschaft am meisten hervorragte, war Matthias von Janow. Die Ideen 
des Miliez über den Kampf des Christenthums und des Antichristenthums, 
über ein sich vorbereitendes Gericht, über die verderbte Kirche, eine her- 
annahende bessere Zeit wurden von Matthias von Janow weiter ausgebildet. 
„Nichts — sagt derselbe — ist schwächer als das Böse, wenn es un- 
verdeckt erscheint. (!) So mufs der Antichrist den Schein des Christen- 
thums selbst annehmen. Dies ist die heftigste Versuchung, welche in diesen 
letzten Zeiten die Kirche trifft.” „Es ist oder wird sein — sagt Janow — 
der Antichrist der Mensch, der die Wahrheit, das Leben und die Lehre 
Christi auf trügerische Weise bekennt, seine Schlechtheit verdeckt unter 
christliichem Namen, der den höchsten Platz in der Kirche einnimmt, das 
höchste Ansehn über Geistliche und Laien ausübt, mächtig durch alle Reich- 
thümer der Welt, alles Ansehn und alle Ehre, besonders aber die Güter 
Christi, wie die heilige Schrift, die Sakramente und die Hoffnung der Reli- 
gion zu seiner eignen Ehre und zu seinen eignen Lüsten mifsbraucht, das 
Geistliche zum Fleischlichen verkehrt, was zum Heil der Christenheit ge- 
ordnet ist, anwendet, um sie von der christlichen Wahrheit und Tugend 
abzuführen, um die Christen desto leichter, scheinbarer, gefährlicher zu 
allen Lastern zu verführen.” So sieht er den Antichrist in dem Verderben 
seiner Zeit. Er bezeichnet dieses als die List des Antichrists in dieser 
Zeit, dafs er selbst auf einen Antichrist in der Zukunft hinweiset, damit 
die Menschen ihre Phantasie beschäftigend mit einem zukünftigen Antichrist 
den um sie her nicht erkennen sollten. „Es geschieht gewöhnlich — sagt 
er — heut zu Tage, dafs Diejenigen, welche selbst Organe des Antichrist 


(') Nihil imbecillius diabolo denudato. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Mm 


974 Neanver über Matthias von Janow 


sind, einen andern als den zukünftigen erwarten. Während der Greuel der 
Verwüstung im Tempel ist, weist man, damit die Leute es nicht wahrnehmen 
sollen, ‘auf einen andern in der Zukunft hin.” 

Ein grofses Übel findet er in der Menge der positiven Gesetze, womit 
man die Christen überhäufe und wodurch die christliche Freiheit beeinträch- 
tigt werde. „Die edle Natur des Menschen — sagt er — sollte nicht mit 
Zwang und Furcht einem Gesetz unterworfen werden, wie die unvernünftigen 
Thiere mit dem Joch und mit der Peitsche gezogen werden. Der Mensch, 
das edelste Geschöpf, mit dem freisten Willen begabt, mufste durch Gründe 
bewegt, durch seine Neigungen in Anspruch genommen und so auf freie 
Weise zu Einem Gesetz und Einer Sitte hingeführt werden. Dieses konnte 
aber unter den Menschen in der ganzen Welt bei so grofsen Verschieden- 
heiten Keiner zu Stande bringen, als allein der Geist Christi. Er allein 
konnte das Gesetz der vollkommenen Freiheit und der ewigen Wahrheit 
verleihen und dieses den Herzen der Menschen einprägen. Das Gesetz, 
das für alle Menschen geeignet ist, kann nur von Dem herrühren, der die 
Bedürfnisse aller Menschen kennt. Ein Gesetz, das für Alle insgesammt 
und für Jeden insbesondere pafst, für jeden Ort und jede Zeit, ein solches 
Gesetz hat das Volk der Christen, nicht auf Tafeln von Stein geschrieben, 
wie das Gesetz des Moses, nicht auf Papier durch Menschenhände, wie die 
verschiedenen Gesetze der Völker, sondern geschrieben auf den Tafeln des 
Herzens in der Seele durch die Wirkungen des göttlichen Geistes. Dieses 
lebendigmachende und mächtige Gesetz ist der Reichthum der Christen.” 
Schön erklärt er die Worte des Apostels Johannes, dafs das Gesetz gegeben 
worden durch Moses, die Gnade und Wahrheit in Christus erschienen. 
Dieses Gesetz werde Gnade und Wahrheit genannt, weil der Geist Christi 
es vielmehr wohlgefällig mache und erfülle, als von aufsen her gebe; d.h. 
weil es nichts von aufsen her Gegebnes sei, sondern der Geist Christi von 
innen heraus Freude daran finden lasse und von innen heraus es zur Erfüllung 
bringe. Dagegen sagt er von den vielen Geboten: „Je mehr Gesetze sind, 
desto mehr und häufigere Übertretungen. Die Schlechtheit der Menschen 
läfst sich durch die äufserlichen Gesetze nicht zügeln; sie will immer darüber 
hinaus, und je mehr Riegel ihr entgegengestellt werden, desto mehr wird 
sie zur Verachtung derselben gereizt. Es bedarf wohl der äufserlichen Gesetze 
als Schranke gegen das Böse; die aber von dem Geist Christi erfüllt sind, 


als Vorläufer der deutschen Reformation. 275 


bedürfen nicht der vielfältigen Gebote und Satzungen. Der Geist Gottes 
lehrt und führt sie, und läfst sie Tugend und Wahrheit willig und freudig 
vollbringen, so wie der gute Baum gute Früchte bringt. Solche nun, die 
durch den Geist Christi freigemacht worden, werden durch diese Menge der 
Gesetze beengt und auch in der Ausübung der Tugend beschränkt, wie 
Christus gehindert werden sollte, seine Heilungen zu verrichten wegen der 
der Beobachtung des Sabbaths. Christus hat alle Gebote in’s Kurze gezogen, 
zusammengefafst in dem Einen Gesetz der Liebe. Darauf müssen sich alle 
andern zurückführen lassen.” 

Häufig bestreitet er die Gegensätze, welche durch das Mönchsthum 
unter den Christen hervorgerufen wurden, indem Jeder von seinem Mönchs- 
orden sage: Hier ist Christus! und sich den übrigen entgegenstelle. So 
werde die Einheit der Christen zerspalten. Die Eigenliebe sieht er nicht 
blofs in dem Streben nach weltlichem Genufs, sondern auch in den feinern 
Gestalten, wenn Jeder nur seine eigne Andacht suche, seine eigne Vervoll- 
kommnung, statt dem Besten Andrer zu dienen. Dies macht er auch den 
bessern unter den Mönchen zum Vorwurf. Er nennt es eine ungeheure 
Anmafsung, wenn die Mönchsorden den Namen, der dem Christenthume 
überhaupt zukomme, dem Mönchsthum insbesondre zueigneten, den Namen 
religio. Er sieht darin eine Beeinträchtigung der allgemeinen Christenwürde, 
eine Schmach des christlichen Namens, wenn man die Mönche, die Geistli- 
chen der Welt entgegensetze, als ob nicht eben alle Christen von der Welt” 
ausgeschieden, im wahren Sinne Geistliche geworden seien. Er leitet das 
Verderben unter dem christlichen Volke daher ab, dafs man einen Unter- 
schied zwischen Rathschlägen Christi und Geboten gemacht, und dadurch 
die Anforderungen an das gewöhnliche Leben der Christen herabgestimmt 
habe. So wird durch ihn das grofse reformatorische Princip von dem allge- 
meinen Priesterthum, welches das ganze Leben umfasse, wieder zu seinem 
Rechte gebracht, jener falsche Gegensatz von Geistlichen und Weltlichen 
bestritten, das Göttliche wieder als verklärendes Princip des ganzen Lebens 
dargestellt. So sagt er: „Sie beginnen hoch von sich zu denken und über 
das gemeine Volk sich erheben zu wollen; sich betrachten sie als die einzig 
Geistlichen und das christliche Volk wie Welt und Babylon; sie schreien, 
dafs bei ihnen allein die christliche Vollkommenheit hervorleuchte und von 
ihnen allein die christlichen consilia erfüllt würden, dafs das Volk nicht dahin 

Mm? 


276 Neanper über Matthias von Janow 


gelangen könne und nicht dahin zu gelangen brauche. Dadurch erlangen sie 
grolse Verehrung, und das Volk gewinnt dadurch eine grofse fleischliche Frei- 
heit. Alle Zügel der christlichen Zucht werden dadurch gelöst. Es gereicht 
zu grofser Verführung für die Einfältigen, die nun sagen: „Wir sind ja nur 
Weltleute, wir dürfen dies und jenes haben.” Er klagt nun darüber, wie wenn 
unter den Laien solche aufständen, welche sich durch ihren christlichen Wan- 
del vor den übrigen auszeichneten, sie von denselben verachtet und verspottet 
würden. Man gab ihnen den Beinamen der Begharden und Beguinen, — ein 
Name, der damals ähnlich gebraucht wurde, wie in spätrer Zeit der der Pie- 
tisten. Wenn du anders leben willst als die Übrigen, sagte man zu ihnen, 
so bleibe nicht in der Welt! Solche fromme Männer unter den Laien erreg- 
ten die Eifersucht von Geistlichen und Mönchen; sie wurden verketzert und 
verfolgt. Janow klagt darüber, dafs so die Bessern genöthigt würden, sich 
in die Klöster zurückzuziehen; Solche, die geeignet wären, eine Stütze für 
die Schwachen zu werden, flöhen, zögen sich aus der Mitte derselben zu- 
rück. „Was soll daraus werden, — sagt er — wenn das Salz, womit gesalzen 
werden soll, hinweggenommen wird von den Speisen, die damit gesalzen 
werden sollen, wenn der Saame, stattin den Erdboden gestreut zu werden, 
an einen abgesonderten Platz gelegt wird.” Man solle alle jene frommen 
Menschen, die sich von der Welt zurückgezogen hätten, aus ihrer Verbor- 
genheit hervorziehen, sie in die Gemeinden zerstreun und die weltlichge- 
sinnten Geistlichen als das dumm gewordene Salz entfernen, so werde sich 
bald zeigen, welcher grofse Nutzen für die christliche Gemeinschaft daraus 
hervorgehn werde. Diese Trennung von dem christlichen Gemeinwesen sei 
das Verderblichste, was seit vielen Jahrhunderten habe geschehn können. 
Er klagt darüber, dafs in der Heiligenverehrung ein neuer Götzendienst um 
sich greife, durch die Anpreisung der Wunder von Heiligenbildern und 
Reliquien das Volk von dem innern religiösen Leben immer mehr abgezogen, 
in die Veräufserlichung versenkt werde, dafs man den verstorbenen Heiligen 
Verehrung erweise, statt dazu angehalten zu werden, im Verhältnifs zu den 
Lebenden christliche Tugend zu üben. Er sagt, dafs wenn auch gewisse 
Grundsätze über eine vergeistigte Heiligenverehrung in den Schulen möchten 
vorgetragen werden, sie doch dem rohen Volke nicht sollten gepredigt wer- 
den, indem dasselbe dadurch nur zum Götzendienst verleitet werde. Er 
spricht gegen eine Versammlung unter den höchsten Oberen der Kirche, 


als Vorläufer der deutschen Reformation. 277 


welche die Anbetung der Heiligenbilder vertheidigt, die Vertreter des wah- 
ren Christenthums verfolgt hatte, — ohne Zweifel die im Jahr 1388 zu Prag 
gehaltene Synode, auf welcher Janow selbst zu einem Widerruf der ihm 
Schuld gegebenen Sätze soll bewogen worden sein. Es erhellt aber, wie frei 
er auch noch nach derselben seine Grundsätze vertheidigte, jene Richter 
selbst nicht schonte. Doch schildert er die mit ihm Gleichgesinnten als 
eine von dem Antichrist verfolgte Parthei. 

Es war damals zwischen der Parthei, zu der Janow gehörte, und 
der herrschenden ein merkwürdiger Streit über den häufigen Genufs des 
heiligen Abendmahls durch die Laien. Wir erwähnen dieses, weil auch dies 
dem Janow Gelegenheit gab, seinen Eifer gegen die durch die Hierarchie 
herbeigeführte Scheidung unter den Christen, seinen Eifer für die Rechte 
des christlichen Volks und die gemeinsame höhere Würde aller Christen zu 
zeigen. Diejenigen nämlich, welche die Laien nur selten zur Kommunion 
zulassen wollten, führten als Grund an, dafs wenn man ihnen täglich das 
heilige Abendmahl reiche, sie verleitet werden würden, den Priestern sich 
gleichzusetzen. Dagegen sagt er nun: „Wenn sie wirklich von dem guten 
Geiste Gottes beseelt wären, müfsten sie vielmehr mit Moses sagen: Möch- 
ten doch alle Propheten sein! Der Geist, der sie beseele, sei aber der des 
Neides und des Hochmuths.” Er äufsert sein Bedauern, dafs berühmte 
Männer nicht erkennen wollten, dafs in der neuen Schöpfung Alles geistlich 
und himmlisch sei. 

Als ein Zeichen des Antichristenthums betrachtet er die mannichfachen 
Spaltungen unter den Christen; wie dort die Griechen, hier die Franzosen 
(der Anhang der Päpste zu Avignon), von der andern Seite die Anhänger 
des römischen Papstes sagen: Hier ist Christus und nirgend anders! und 
so wieder jeder Mönchsorden sich Christus besonders zueigne. Dann redet 
er von den Brüderschaften unter den Laien, und es folgt jene merkwürdige 
Schilderung, die ich hier anführen will, weil sie für die mit den deutschen 
Alterthümern sich Beschäftigenden besonderes Interesse haben könnte: 
„Auch die Laien trennen sich in solche Brüderschaften, haben ihre beson- 
dere Festlichkeiten, suchen Viele an sich zu ziehen, und behaupten, dafs 
es mit andern Christen nicht so gut stehe, als mit denen, die sich ihnen 
anschlössen. Und solche Brüderschaften haben sich jetzt unter dem Volk 
zu sehr vervielfältigt. Dann andre, noch schlimmere Verbindungen, die 


978 Neanper über Matthias von Janow 


Verbindungen bewaffneter Ritter und Räuber, welche Italien grausam zu 
verwüsten nicht aufhören. Auch in Deutschland sind Verbindungen von 
Adligen und Bauern mit Eidesformeln und mannichfachen Satzungen gestiftet 
worden, um so tapfer zusammenzuhalten gegen Andre, im Guten und Bösen 
sich zu behaupten. Viel Geld bringen sie so zusammen und machen sich 
von aufsen dieselben oder ähnliche Zeichen, an denen sie ihre Genossen 
erkennen, die dadurch Gegenstand ihrer besondern Liebe sind. So tragen 
sie nach wechselseitiger Verabredung auf der Brust die Einen einen Wolf, 
die Andern ein Schaaf und Ähnliches, oder wie in Neapel sich Einige von 
der rothen, Andre von der weifsen Rose nennen (!), und in der Lombardei 
die Guelfen und Gibellinen, in Böhmen Sybaly.” 

In dem bevorstehenden Sieg über den Antichrist weissagte Janow, 
ohne es selbst zu wissen, die neue Schöpfung, welche von der Reformation 
ausgehn sollte. Oft weissagt er, mehreren Stellen der Evangelien sich anschlies- 
send, dafs Christus seine Engel, das heifst, eine Schaar begeisterter von Kraft 
und Weisheit erfüllter Prediger aussenden werde, das Reich des Antichrist zu 
zerstören, die ursprüngliche Kirche wiederherzustellen, die durch die von 
menschlicher Willkür erzeugten Gegensätze Zertrennten zu einer höheren 
Einheit mit einander wieder zu verbinden. Wenn Andre, Stellen der Evan- 
gelien mifsverstehend, eine persönliche Wiederkunft jenes Propheten, des 
Elias erwarteten, so bezog dies Janow, jene zu erwartende sinnliche Wieder- 
kunft des Elias bestreitend, auf Männer im Geiste des Elias, welche gegen das 
Verderben der Kirche mit feurigem Eifer auftreten würden. Denen, welche 
meinten, dafs die Wiedererscheinung des Elias dazu dienen werde, der wieder 
an’s Licht gebrachten Wahrheit Eingang zu verschaffen, hielt Janow das Wort 
Christi in der Parabel vom Lazarus entgegen, dafs Diejenigen, welche Mosen 
und den Propheten nicht glaubten, auch wenn Einer von den Todten wieder- 


(') Von diesen in Neapel mit einander kämpfenden politischen Partheien redet auch 
ein Zeitgenosse des Matthias von Janow, der Dechant aus Bielefeld Gobelinus Persona, 
der selbst Italien bereist hatte, in seinem geschichtlichen Werk Cosmodromium aetas VI: 
Cum propter execrabilem partialem contrarietatem, quae per cunctas ipsius regni partes dif- 
fusa plurimas civitates evertit, cives Beneventani alii de parte Rosae albae, alii de parte 
Rosae rubrae se asserentes, inter se invicem sub gravibus personarum et rerum dispendiüis, 
certamina saepe foverunt: tandem pars rubra, alias per albam partem expulsa extraneae 
gentis procurato juvamine praevalens, ilos, qui partis albae fuerant, de civitate violenter evul- 


sit. Cfr. Scriptores rerum germanicarum ed, Meiboom. Tom. 1. pag. 303 und 304. 


als Vorläufer der deutschen Reformation. 379 


kehrte, nicht glauben würden. Auf den empfänglichen Sinn komme Alles an; 
es sollten keine Wunder mehr geschehn, sondern durch die innere Kraft der 
Wahrheit allein werde Alles gewirkt werden. Es ist dabei merkwürdig, dafs 
wie Janow, an das Wort Christi sich anschliefsend, dafs wo das Aas ist, die Adler 
sich sammeln, die Verkündiger der Wahrheit gegen das herrschende Verder- 
ben als Adler bezeichnete, Hufs, auf den Janow’s Schriften viel eingewirkt 
hatten, sagt, indem er auf die Bedeutung seines Namens im Böhmischen, 
die Gans, anspielt: wenn die Gans das zahme Thier durch die Schlinge der 
Feinde nicht habe gefangen werden können, nach ihm Falken und Adler 
kommen und sich weit höher erheben würden. 

So weissagte Matthias von Janow die durch Johann Hufs hervorge- 
brachte Bewegung der Geister, die leider nicht in ihrer Reinheit sich erhalten 
konnte, und Hufs weissagte im Geist die neue Schöpfung, die von unserm 
deutschen Luther ausging, und die siegend über alle Zerstörung ihrem gro- 
{sen allumfassenden Ziel mit sicherem Schritt entgegengeführt werden wird. 
Und wie von jenen Männern des slavischen Stammes in Böhmen zuerst aus- 
gestreut wurde der Saame, der in Deutschland endlich viele Frucht bringen 
sollte, wie Matthias von Janow der grofse Vorbote Luthers war und beide 
grofse Männer ganz ihrem Stamm und ihrem Volke angehörten, so möge 
eine höhere brüderliche Einheit die beiden Stämme und Völker zu Einem 
grofsen geistigen Werk mit einander verbinden. 


—n 71 BBB I >— 


2. ne 
h £ u hu R 


Über 
das Altai’sche oder Finnisch - Tatarische 


Sprachengeschlecht. 


‚/Von 


Hm ‘SCHOTT. 


uam uwird 


[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 11. November 1847.] 
Einleitung. 


D. finnisch-tatarische Sprachengeschlecht hat, wie aus Überlieferungen 
der Türken, der Mongolen, und gewissen Andeutungen in finnischen Runot 
mit grofser Wahrscheinlichkeit hervorgeht, seine Urheimat auf und an der 
Riesenkette des Altai (!). Vier Hauptvölker sind es, welche von diesem 
Gebirge aus über Tungusien, über die ungeheueren Hochländer zwischen 
Altai und Kuen-lün, über Nordasien und ansehnliche Theile Osteuropas sich 
ergossen haben: Tungusen, Mongolen, Türken und Tschuden oder 
Finnen (?). Als eine natürliche südliche Scheidewand zwischen diesem 


(‘) Ich bemerke ein für alle Mal, dals ich hier den Namen Altai nicht auf dasjenige 
Gebirge einschränke, dem er allein zukommt, sondern den ganzen fast ununterbrochenen 
Höhenzug vom oberen Irtysch bis zum Onon darunter verstehe. Der Ausdruck „altai’sches 
Sprachengeschlecht” ist mir gleichbedeutend mit „‚finnisch-tatarisches”, welche letztere Be- 
nennung auf die zu erweisende Verwandtschaft der sogenannten tatarischen Sprachen — 
Tungusisch, Mongolisch, Türkisch — mit den sogenannten finnischen hindeutet. Bekannt 
ist der Mifsbrauch, den man in Asien, und noch mehr in Europa, mit dem Namen Ta- 
taren getrieben hat; er verdient aber wenigstens Duldung, so lange wir dabei nur an 
die erwähnten drei Völker denken, über deren gemeinsame Abstammung tiefere Erfor- 
schung ihrer Sprachen keinen Zweifel läfst. Was den älteren Chinesen von der Abkunft 
desjenigen Volkes, welches diesen Namen zuerst führte, bekannt geworden, das habe ich 
in meiner Abhandlung „Älteste Nachrichten von Mongolen und Tataren” (Berlin 1847) 
aus bis dahin unbenutzten Quellen mitgetheilt. 

(?) Vergl. meinen Artikel „‚Über Nationalität und Abkunft der Finnen”, abgedruckt 
in Schmidts Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Novemberheft 1847. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Nn 


282 Scuorr über das Altai'sche 


Völkergeschlechte und den Urbewohnern des Tibetischen Hochlandes, zu 
welchen auch die Chinesen gehörten, mag man den Kuen-lün (Kulkun) be- 
trachten, während durch die Gebirgsregionen des indischen Kaukasus und 
des Himalaja das Stammgebiet des arisch-indischen Völkergeschlechtes ab- 
gemarkt wird. 

Die Völkertrümmer im westlichen Sibirien gehören zu den weitrei- 
chendsten Hauptästen des grofsen Stammes: sie sind Finnen oder Türken, 
oder aus beiden gemischt (!). Wohin man aber, unter den Bewohnern des 
äufsersten Nordostens, die Kamtschadalen zu rechnen habe, bleibt noch 
zweifelhaft, da ihre Sprache zu wenig bekannt ist. Das Tschuktschische, 
diesseit und jenseit der Beringsstrafse, soll ein blofser Dialekt der Kadjak-- 
Sprache sein, der am weitesten verbreiteten im russischen Amerika, von 
welcher bereits Chamisso hehauptete, dafs sie dem Grönländischen im we- 
sentlichen gleich sei. 

Iwan Wenjaminow, ein russischer Geistlicher im Kreise Unalaschka, 
hat im Jahre 1846 zwei Bücher drucken lassen, in denen er von drei Sprachen 
des russischen Amerikas (zu welchem auch die Aleutischen und Fuchsinseln 
gerechnet werden) handelt. Das Eine: Omsıms rpammamnku A.reyınero- 
Aucserckaro azbıra Versuch einer Grammatik der aleutisch-lisischen Spra- 
che, enthält auf einigen 80 Seiten einen grammatischen Entwurf und auf 72 
dergleichen ein Wörterverzeichnifs dieser Sprache, die von noch ungefähr 
2200 Leuten auf Unalaschka (den Fuchsinseln), den Andrejanischen Eilan- 
den und einem Theile von Aljaksa gesprochen wird. Das andere Werk: 
3ambyania o Ko.1omeneRoMB U RayakcRoMmB A3bIKaxBb Bemerkungen über 
die kadjakische und koloschische Sprache, giebt uns eine dürftige Skizze des 
Koloschischen oder Kaljuschischen, d. i. des Idiomes der Tlinkit- Autu- 


(') Der vortreffliche Castren, welcher den zerstreuten Gliedern der grolsen finni- 
schen Familie bis über den Jenisej nachgeforscht hat, ist zu dem Ergebnisse gelangt, dals 
mancher sibirische Stamm, dessen Sprache jetzt die türkische ist, wie z. B. Koibalen, Ari- 
nen, Matoren, selbst die unter der Herrschaft der Mands’u-Kaiser stehenden Sojoten oder 
Sajanen, ursprünglich zum samojedischen Zweige der finnischen Familie gehörte. Siehe 
Castrens Briefe an Sjögren, aus dem Bulletin der petersburger Akademie ganz oder aus- 
zugsweise mitgetheilt in Ermans Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rulsland, Jahr- 
gang 1848. — Zwischen dem Jenisej und der oberen Tunguska salsen weiland die äch- 
ten Kirgisen, deren Aufseres von den Chinesen so beschrieben wird, dals man auch sie 
für ein finnisches Volk im weiteren Sinne erklären darf. $. weiter unten. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 933 


kuan von Sitcha (24 Seiten), und eine noch viel dürftigere der Kadjak- 
sprache (9 Seiten), welche jedoch hinreicht, um der letzteren nahe Ver- 
wandtschaft mit dem Grönländischen darzuthun. Angehängt ist ein kleines 
russisch-kaljuschisches Wortregister. 

Von diesen drei Sprachen hat nur die Kaljuschische den wahrhaft ame- 
rikanischen Charakter. Das Aleutische und Kadjakische könnten schon eher 
aus Asien stammen; auch erinnert namentlich bei den Aleuten manches Wort 
an den altai’schen Stamm ('); allein 1) sind schon diese beiden Sprachen in 
ihrem heutigen Zustande so wesentlich von einander verschieden, dafs kaum 
an eine entfernte Verwandtschaft zwischen ihnen zu denken ist; 2) mufs ich 
wenigstens an der Möglichkeit, grammatische Berührungen mit dem Spra- 
chengeschlechte, das uns hier beschäftigen soll, zu entdecken, beinahe ver- 
zweifeln (?). Übrigens hat namentlich das Aleutische, wie aus mehreren von 
Wenjaminow angeführten Beispielen sich ergiebt, im Zeitenlauf erstaunliche 
Veränderungen erfahren (?); und nehmen wir dazu, dafs gleichwohl noch 


(') Hier einige nicht zu verwerfende Proben. Aleut. ada Vater, türkisch aza; and Mut- 
ter, türk. ana; angagikch lebendig, tung. innikin; angalık Tag, tung. inanggi; agitudakch 
älterer Bruder, tung. aki; angusikch Nase, tung. ongokto; agnakch Zunge, tung. ingni; inikch 
Himmel, tung. njängnjä, ingliakun Bart, tung. ingnjakta; uljugakch Wange, tung. yldykin;, ul- 
jakch Jurte, tung. gulja; uljukch Fleisch, Körper, tung. uyo; ujjangsakch roth, tung. chulgian, 
ulgian, ularin; jagakch Baum, türkisch agads und in Dialekten jygads’; jam Abend, tung. 
jam-dsi, kchajakch hoch-und Berg, tung. gogda; kchignakch Feuer, türk. qysy-ldsym Funke; 
kingikch jüngerer Bruder, tung. kongakan; kingugikch Kind, tung. kungkakan; kinginakch kalt, 
tung. inginigdy; schljakch Wind, türk. soluy Hauch; tangakch Wasser, tung. tongar See; 
ischiganakch Fluls, Bach, türk. zsckaganag Golf, Bucht; ischichtakch Regen, tung. iygda. 
— Von Fürwörtern stimmt nur kin wer? mit dem mongolischen ken und türkischen kim. 


(?) Im Kadjakischen und Grönländischen erinnern nur die Zweiheit (immer auf k) 
und die Mehrheit (immer auf t) an die finnische Sprachenclasse; eine adjectivische Endung 
lik wie z. B. in au-lik blutig, von auk Blut, und ajorte-ik sündlich, zunächst an das 
Türkische, aber mit gleichem Rechte an unseren germanischen Sprachenstamm. Unter 
den wenigen grönländischen Wurzeln, die an solche des finnisch-tatarischen Stammes an- 
klingen, ist mir eine für das Schmieden am merkwürdigsten, welche sabdi lautet, z. B. in 
sabbi-orpok er schmiedet, sabBi-ordik ein Schmied. Auf diese werde ich in der Folge 
zurückkommen. 

(°) Vergl. überhaupt meinen in Ermans Archiv (Band VII, S. 126-43) aufgenomme- 
nen Artikel „„Die Sprachen des russischen Amerikas, nach Wenjaminow”, worin ich die 
merkwürdigsten Eigenthümlichkeiten des Aleutischen, sofern sie mir aus der Bearbeitung 
jenes russischen Geistlichen nur irgend klar werden konnten, hervorgehoben habe. 


Nn?2 


284 Scnuorrüber das Altai’sche 


manches aleutische Wort für einen nothwendigen Begriff mit dem ent- 
sprechenden altai’schen Worte, besonders der tungusischen Form, zusam- 
menklingt: so dürfen wir wenigstens zweifeln, ob die sonstige Verschieden- 
heit immer eine wesentliche war. Welche Räthsel wird der Sprachforscher 
in dieser Hinsicht überhaupt noch zu lösen haben! Das Zahlwort z.B. ist 
bei den Aleuten noch denarisch, bei Kadjaken und Grönländern, wie in den 
eigentlich amerikanischen Sprachen, quinarisch. Die aleutische und kadja- 
kische Sprache sind einander fast in jeder Beziehung wildfremd, und doch 
haben sie die sogenannten Casus mit einander gemein!! 

Eine nahe Verwandtschaft vieler altai’schen Wurzeln mit solchen der 
tibetischen und chinesischen Sprache ist wohl unläugbar, und habe ich schon 
bei mehreren Gelegenheiten darauf hingewiesen. Nicht minder auffallend 
zeigt der altai’sche Stamm in vielen seiner Kernwörter dem Indisch -euro- 
päischen und selbst dem Semitischen sich befreundet. Es kostet mir einige 
Überwindung, diese Ansicht auszusprechen, nachdem sie durch elende 
Sprachenpfuscher, die z.B. in die Mands’u - Sprache einen „Urdialekt” 
des Griechischen hineinfaselten, in grofsen Misscredit gekommen ist. Auch 
will ich die Vergleichung der in meiner Abhandlung vorkommenden Wur- 
zeln aus Turan mit Iranischen, so nahe sie öfter liegt, dem sprachkundigen 
und dabei besonnenen Leser allein überlassen, da es mir nur um eine 
festere Begründung meiner bereits vor zwölf Jahren bekannt gemachten 
Ansichten und Ergebnisse, den inneren Zusammenhang des einen vorlie- 
genden Sprachengeschlechtes betreffend, zu thun ist. 

Nur einige Wörter seien hier namhaft gemacht, die durch frühere 
Weltverbindung Gemeinbesitz der Turanier und der entferntesten Abend- 
länder geworden, übrigens alle, mit Ausnahme des ersten, von Westen nach 
Osten gewandert sind. 

An unser nordisches Wort für Seide, silk und bei den Russen scholk, 
erinnert das mandsu-tungusische sirge. Dieses heifst 1) gesottene Seide, 
und entspricht also dieser Bedeutung nach dem chinesischen s/&, während 
die Rohseide bei den Mandsus se heifst, was das chinesische Wort selbst 
ist. 2) aus Seidenfäden gedrehte Saite eines musicalischen Instrumentes. 
Bei den Mongolen ist sirgek (schirgek) die rohe Seide. Beiden Wörtern 
scheint zunächst das koreanische Wort sil oder sir für Seide überhaupt zum 
Grunde zu liegen, und diesem wieder das chinesische s/€, in Dialekten auch 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 285 


sfi, aber niemals sir(!). Die Tibeter und Türken besitzen kein ähnliches 
Wort für den Begriff. Verwerfen wir nun mit Recht die Ansicht, als hätte 
der alte Grieche sein au Seidenwurm von den Koreanern bekommen, so 
ist die Begegnung dieser Form mit der koreanischen doch auffallend. Viel- 
leicht verdankt das r in der griechischen wie in den ostasiatischen Formen 
einem an sich bedeutungslos gewordenen Wörtchen rh seine Entstehung, 
dessen die Chinesen im gemeinen Leben oft sich bedienen, um Selbstands- 
wörter als solche kenntlicher zu machen. In diesem Falle läge dem sir und 
ang ein chinesisches s/£-rh zum Grunde. 

Sng ist also gewils, und zwar aus dem fernsten Südosten, der wahren 
Heimat der Seide, ohne Vermittlung zu uns gewandert; denn das k in 
dem germanischen Worte silk verdankt wohl nicht dem ge in der mandsui- 
schen Form sirge seine Entstehung, sondern dem k in ongıxov, sericum (?). 

Bei den östlichen Türken und den Mongolen finden wir dus oder büs 
für Baumwollenzeug, bei den Mandsus 5oso für Leinwand. Den Tibetern 
ist das Wort fremd. Das griechische Burres 1) Baumwolle; 2) Art feinen 
Flachses und daraus verfertigtes Linnen, wurzelt bekantlich in dem Semiti- 
schen y'2 düs und e> büso, das einen Stoff von weisser Farbe bedeutet, 
wie noch aus uoL albedine superavit und seinen Ableitungen erhellt. Wann 
dieses Wort in den fernsten Osten gekommen, muss unentschieden bleiben; 
aber das chinesische pü, welches ebenfalls Leinwand und gewisse Baumwollen- 
zeuge bedeutet, hat an seiner Entstehung gewifs keinen Antheil (°). 


(‘) Das mongol. Wort sirgek heilst daneben noch straff und rauh (von Haaren), und 
schlielst sich insofern an die Wurzel sirge vertrocknen, mit welcher das türkische Sm 
sert hart, rauh, strenge, und ohne Zweifel auch die finnische Wurzel siera verhärten, zu- 
sammenhängt. Dagegen steht das mands’uische sirge in dieser Sprache vereinzelt. Ist nun 
die Begegnung der beiden einander so nahe liegenden Bedeutungen des mongolischen 
Wortes nur zufällig, oder berührt sich das mands’uische sirge nur durch einen Zufall mit 
dem koreanischen sir? 

(?) Die Übereinstimmung des arabischen xx\w sike Faden und Drath, woher auch 
eine Verbalbedeutung von «<\s nämlich einfädeln, mit unserem nordischen si/k ist da- 
rum merkwürdig, weil in dem türkischen jefek, jepek, ipek (von jep oder ip Strick) dessen 
Bedeutungen Faden und Seide sind, die letztere aus der ersteren entstanden ist. Da- 
her auch das mands’uische :% nähen. 

(°) Auf die gleiche Endung der mands’uischen und der syrischen Form darf kein 
Werth gelegt werden, da die Mands’us überhaupt jedem mit s auslautenden Worte einen 


386 Scuorr über das Altai’sche 


Ein anderes abendländisches Wort, bei östlichen Türken und Mon- 
golen nom, bei Mands'us nomun, ist sicher erst in unserem Mittelalter, und 
zwar durch syrische Glaubensboten, nach Hochasien gelangt. 

Es bedeutet Religionslehre, heiliges Buch, Buch mit religiösen Sat- 
zungen, und wird insonderheit immer da gebraucht, wo die Chinesen ihres 


ZE kıng und die Hindus ihres 737 sütra sich bedienen. Schon früher 


erkannte man in nom das griechische vouos welches in den Formen x0’2% und 
foc:aı zu den Aramäern überging. Auch die arabische Bibelübersetzung 
gebraucht „5 für vecs. In jedem Falle haben die Mongolen diesem, ihren 
Religionslehrern, den Tibetern, ganz unbekannten Worte bereits vor der 
Annahme des Budd’aismus Eingang gestattet, und türkische Völker waren 
hier wieder die Vermittler. Wenn das namys oder namus der Tschuwaschen 
und sibirischen Türken (Tataren), ein Ausdruck für Gewissen, zumal Schuld- 
bewufstsein, und das nomys der finnischen Ostjaken (bei ihnen Vernunft) 
keinen selbstständigen Boden hat, so ist die griechische Form gerade bei die- 
sen Völkern am treuesten erhalten, in der Bedeutung aber diejenige Verän- 
derung eingetreten, dafs man vom äufseren Gesetz auf angeborene innere 
Gesetze gekommen ist. 

Noch gröfsere Verbreitung als die Vorhergehenden erhielt im Zei- 
tenlauf ein Wort von noch immer räthselhaftem Ursprung, welches die alten 
Griechen in der Form d:#9ega besafsen. Bei Aramäern und Talmudisten 
lautet es x0p7 diphtera, dephtero, bei Arabern, Neupersern und Osmanen 
p> defter, die Tibeter sagen deb-t’er, die Mongolen depter; endlich die 
Mandsus deptelin! Von den Hauptvölkern des asiatischen Festlandes scheint 
es nur den Hindus und den Chinesen fremd zu sein. Ob dieses Wort durch 
die mongolischen Welteroberer aus dem westlichen Asien gleichsam abgeholt 
worden sei, ist mir darum zweifelhaft, weil auch die Tibeter in seinem Be- 
sitze sind, und weil zwar manches Wort von Tibet aus nach der Mongolei ab- 
gegangen, aber selten umgekehrt. Doch wäre dies in Betreff unseres deb-ter 
möglich, wenn man nachweisen könnte, dafs es erst in späteren tibetischen 
Werken vorkommt. Da übrigens die tibetisch-mongolische Form der neu- 
persischen defter zunächst steht, so mufs wohl Persien dasjenige Land sein, 


Vocal nachtönen lassen und in diesem Falle am liebsten einen solchen wählen, der mit 
dem Vocale der nächst vorhergehenden Silbe zusammenklingt. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 93837 


welches das fragliche Wort den Ostasiaten unmittelbar geliefert hat. ArbIege 
findet bekanntlich im Griechischen keine passende Wurzel, und auch in den 
semitischen Sprachen hat man sich vergebens nach einer solchen umgesehen. 
Bei den Griechen ist es noch eine gegerbte Thierhaut und etwas aus 
derselben bereitetes; bei den Aramäern eine dergleichen, sofern sie beschrie- 
ben wird oder beschrieben ist. Alle übrigen Völker haben den ursprüngli- 
chen Stoff aus dem Auge verloren: unter ihrem defter u.s.w. verstehen sie 
ein oder mehrere zusammengefügte beschriebene Blätter, ein Verzeichnifs 
oder Notizenbuch, insonderheit Steuerregister, und selbst ein Urkunden- 
Archiv. Bei Mongolen heifst depter, bei Mands’us aber deptelin eine Anzahl 
zusammengehefteter Blätter oder ein Capitel eines Werkes. 

Ein gewifser Ausdruck für Held oder Tapferer ist ebenfalls über 
unermelfsliche Strecken verbreitet. Auf einer Wanderung von Ungarn durch 
das ganze russische Reich, oder auch durch die Türkei, Persien, Turkistan 
und die Stammsitze der Mongolen bis zum Ocean Tungusiens würde man 
ihm begegnen. Das Wort hat in den verschiedenen Sprachen die es besit- 
zen, folgende Formen: magyarisch dator, polnisch boAhater, russisch bogatyr; 
persisch und türkisch bahddir, behäder,; mongolisch baghatur oder bätur; 
mandsuisch daturu. Seine Verbreitung bezeichnet so ziemlich die Ausdeh- 
nung der mongolischen Weltstürme, d.h. wenn man China, in dessen Spra- 
che es nicht aufgenommen, abrechnen will. Eine Wurzel kann ich diesem 
Worte weder im Mongolischen noch in einer anderen tatarischen Sprache 
unterlegen; denn bokda göttlich gehört aus verschiedenen Gründen nicht 
hierher. (') Aber so wie bokda, das slawische dog und türkische bog/h im 
Sanskrit ihre Begründung finden, so gewifs auch daghatur, welches nur das 
persische dahddir, mit rauherem Organ gesprochen. Dieses scheint mir nun 
aus dem Sanskritworte ı7g B’adra laetus, felix, excellens (Wurzel dad gau- 
dere, felicem esse) so entstanden, dafs der Perser 5, um es sich mundrecht 
zu machen, in dah verwandelte. Der Auslaut a fiel, wie gewöhnlich, hin- 
weg, und die durch das Zusammenstofsen von d und r entstandene Härte 


(') Dieses hängt mit den türkischen Formen ; nn bogh, Su big, «Xu beg oder bei 
und mit dem slawischen dog Gott, nebst seinen Glück und Wohlstand bezeichnenden 
Ableitungen, zusammen. Siehe Saweljew’s Muhammedanische Numismatik in ihrer Be- 
ziehung zur Geschichte Rufslands, Einleitung, S. ccxı-xır. 


288 Scnorr über das Altai’sche 


wurde vermieden, indem man ein kurzes e oder i einschob; dieses führte 
dann zur Dehnung des vorhergehenden, jetzt in offener Silbe stehenden a. 
Die Bedeutung Held ist zwar im Sanskritworte nicht gegeben, konnte aber 
auf persischem Boden aus den übrigen leicht erwachsen. So heist das fran- 
zösische gaillard munter, lustig, und kühn, verwegen; es ist die frische, von 
Munterkeit unzertrennliche Lebenskraft, die auch zu kühnen Wagnissen, zu 
Heldenthaten antreibt. — Eine Verstümmelung des Sanskritwortes yzıTEH 
b.ataräka Feindebesieger, anzunehmen, würde ich eher Bedenken tragen. 

Wie dem nun sei: aus Persien wanderte das Wort vielleicht schon 
vor den Eroberungen der Mongolen in die Oxusländer und durch Turkistan 
nach der Mongolei. Wenigstens führen bei Sanang-Setsen mehrere Vor- 
fahren des Tschinggis allbereits den ehrenden Beinamen baghatur, doch 
kann dies eine Übertragung aus späterer Zeit in die frühere sein. Von den 
Mongolen empfingen das Wort die Tungusen und wahrscheinlich die Ungarn; 
daher zwischen bätur, bator und baturu die gröfste Übereinstimmung. Ob 
aber die slawischen Völker ihr bogatyr und bohater ebenfalls erst durch die 
Mongolen erhalten haben und nicht schon weit früher, sei es durch türki- 
sche Stämme, oder durch ihre persischen Urverwandten, in seinen Besitz ge- 
kommen, ist eine Frage, die geschichtlich wohl ungelöst bleiben wird. 
Seiner Bildung nach steht fragliches Wort in den slawischen Sprachen ver- 
einzelt (1). 

Das zu den Türken übergegangene persische Wort „is nischän 
Zeichen, findet sich, nicht bei den Mongolen, sondern bei den entferntesten 
Mandsus wieder; sie verdanken es wohl Karawanenzügen aus dem chinesi- 
schen Turkistan. Es bezeichnet die Ecken der Stoffe, die man ungefärbt 
läfst, und welche mit Siegeln und anderen Zeichen versehen sind. 


*+ * 


(') Die russische Form dogatyr unterscheidet sich zwar von bogaty reich, prächtig, 
(in derselben Sprache) nur durch ein beigegebenes r; allein wie könnte der Zusatz dieses 
r einen Reichen in einen Helden verwandeln? Auch schreiben die Polen das erstere 
Wort mit Ah, und das letztere, welches unbezweifelt von dog Gott stammt, mit g. — 
Herr Saweljew, der in dog und seinen Ableitungen mit Recht die Sanskritformen ATJT d’dga, 

b’ägawat u. s. w. wiedererkennt, läfst Bogatyr unberücksichtigt, vermuthlich, weil 
es ihm ebenfalls nicht hierher zu gehören scheint. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 289 


Die älteste Kunde von Völkern des altai’schen Geschlechtes bringt im 
Abendlande Herodot, dessen Skythen und Argippäer, Melanchlänen und Ari- 
maspen diesem Geschlechte angehören. (') Dasjenige Volk Asiens, wel- 
ches über sie am frühesten berichtet, sind die Chinesen, deren Oberhäupter 
schon in herodotischer Zeit mit den Horden der Scha-mo in feindliche Be- 
rührung kamen. Unter diesen Nomadenvölkern des Nordens haben vom er- 
sten Dämmern der Geschichte bis auf Tschinggis-Chan die von den Chine- 
sen sogenannten Hiung-nu, To-pa und Tu-kiu die vornehmste Rolle gespielt. 
Von den Hiung-nu und Tu-kiu erhalten wir die ausführlichsten Nachrichten, 
mit einzelnen Sprachproben untermengt, bei denen wir etwas verweilen wol- 
len, um zu ermitteln, ob man den betreffenden Völkern eine besondere Na- 
tionalität anweisen kann. 

Die wenigen Wörter der Hiungnu-Sprache, welche die chinesische 
Geschichte und die reichhaltigen ethnographischen Auszüge aus derselben im 
Hoan-jü-ki (Buch 189-92), und im Uen-hien-t'ung-k’ao (Buch 340-41) 


bezüglich der Hiung-nu uns überliefert haben, sind folgende: 


(') Siehe Kurd v. Schlözers scharfsinnige Schrift: Zes premiers Habitants de la Rus- 
sie (Paris 1846), S. 15-18, 28-30. Was Hippokrates in mehreren, auf S. 29 von dem 
Verfasser ausgezogenen Stellen über die Gesichtsbildung der Skythen sagt, namentlich 
seine naive Bemerkung, dafs sie Alle einander sehr ähnlich seien, läfst bei diesem Volke 
eher einen mongolischen als kaukasischen Typus vermuthen. Wie schwer wird es jedem 
Europäer, der zum erstenmal eine Anzahl Kalmyken bei einander sieht, individuelle Ver- 
schiedenheit der Gesichter zu bemerken! Der Grund liegt aber keineswegs darin, dals 
sie einander wirklich mehr gleichen als wir, sondern darin, dals der unterscheidende, 
ihnen Allen gleich stark aufgeprägte Racen- Typus sich gleichsam vordrängt und das In- 
dividuelle unseren Blicken entzieht. Eben so ist es mit den Eindrücken auf unser Ohr. 
Aus der Ähnlichkeit der Skythen in Körperbildung und in Sitten und Gewohnheiten mit 
den Mongolen folgt nun zwar noch nicht, dals sie wirkliche Mongolen gewesen, und bin 
ich von solcher Behauptung weit entfernt. Will man aber seine Zweifel in dieser Hin- 
sicht auf eine blofse Unterstellung gründen, nach welcher das Mongolenvolk (das 
ganze?) damals noch weit, weit im Osten von Asien gesessen haben soll, so setzt man 
etwas voraus, was mit nichts bewiesen ist und auch mit nichts bewiesen werden 
kann. Eben so willkürlich ist die in Paris ausgeheckte Annahme einer späten Ankunft 
türkischer Stämme am Oxus und in der Kirgisensteppe. Da sollen z. B. die heutigen 
Baschkiren, ein Volk türkischer Sprache, mit aller Gewalt finnischer Abkunft sein — wa- 
rum? weil ihre wahrscheinlichen Vorfahren, die Argippäer des Herodot, möglicher 
Weise Finnen gewesen sind. 


Philos.- hisior. Kl. 1847. Oo 


290 Scnorr über das Altai’sche 


T’ang-li ku-tu, auch tsch’en-jü wurde ihr Oberhaupt betitelt. Der er- 
stere Titel bedeutet Himmelssohn, wie das chinesische AC Trien-up, 


was ausdrücklich bemerkt wird. T’ang-l entspricht nun allerdings in der 
Bedeutung, und, man kann sagen, auch in der Form (die Chinesen schrei- 
ben immer % für ri) dem (sSlb tangry oder (s;$ tenri der Türken und teng- 
ri oder tegri der Mongolen, welche Wörter, wie das chinesische ten, nicht 
den materiellen Himmel, sondern den schaffenden und erhaltenden Him- 
melsgeist, bei den Mongolen auch persönliche Genien und Schutzgeister be- 
deuten. (!) Was aber ku-tu betrifft, so ist dieses Wort, wenigstens heut- 
zutage, den Türken wie den Mongolen fremd (?); dagegen findet es sich 
unverkennbar bei tungusischen Stämmen, die für Sohn der Wörter guto, 
huta, utu sich bedienen. Den gleichfalls tungusischen Mandsus scheint das 
Wort auf den ersten Blick zu fehlen; es steckt aber gewils verkürzt in dem 
nur noch als Mehrzahl erhaltenen gu-te Töchter (tungusisch Auttek), und 
wohl selbst in dem gewöhnlichen Worte für Sohn, ds’ui, das eine Quet- 
schung von kui sein muss, und dem in Amiot’s Wörterbuche sogar kui als 


Aussprache zur Seite steht. Dem Worte Zsch’en-jü, welches durch JS K 


kuang -td weit ausgedehnt, allumfassend (zunächst mit Beziehung auf den 
Himmel) erklärt ind weils ich nichts anzupassen. 


(') Wenn man erwägt, dals ein Wort für Himmel in mancher Sprache auch den 
Gaumen (wegen seiner schönen Wölbung) bezeichnet, z. B. ne6o im Russischen, cielo 
(de la boca) im Spanischen, u. s. w., so erscheint die grolse Ähnlichkeit eines anderen 
mongolischen, nur noch für Gaumen gebrauchten Wortes Zanglai, mit zang-Ä und tangry 
keineswegs zufällig, und ich möchte fast behaupten, dafs auch dieses Wort ursprünglich 
Himmel bedeutet habe und nur eine stärkere Nebenform des heutigen Zengri gewesen sei, 
wie noch jetzt das osttürkische zangry eine solche ist. Demzufolge hätte der materielle 


Himmel weiland ebenfalls zangry, zengri u. s. w. geheilsen, wie das chinesische Alien 


in alten Schriftarten unverkennbar eine Wölbung über der Erde, ein zoiAov (coelum) dar- 
stellt. 

(2) Doch besitzen die jakutischen Türken küzö in der Bedeutung Schwiegersohn; 
und dieses ist wieder das Ks und aus der übrigen Türkenstämme, zu dem es sich 
ungefähr so verhält, wie die tungusischen Formen guzo u. s. w. zu den mands’uischen 
gu und kui. Wenn also jenes kütö ursprünglich den leiblichen Sohn bezeichnet hat, so 
ist seine Gleichheit mit dem Hiungnu-Worte keinem Zweifel mehr unterworfen. Ob man 
auch das finnische korti Bube, Junge, hierherziehen darf? 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 291 


Lü-li, Name einer fürstlichen Würde. Möglicher Weise steckt hier 
das türkische „yt ulu grofs; doch will ich dies keineswegs verbürgen. 

T’u-k'i soll s.v.a. das chinesische hien weise, staatsklug, bedeutet 
haben. Ebenfalls unbestimmbar. 


Teu-Ilö, geschrieben 2 3% entsprach dem chinesischen 32 tschung, 
und bedeutete also einen Zumulus über Gräbern. Das Wort kann für zeuro, 
Zuro, oder was Ähnliches stehen, und erinnert seiner Form nach lebhaft an 
das tungusische Zuor, turu, tor, welches jedoch nur Erde schlechthin (als 
Substanz) bedeutet. — Am besten entspricht ein Wort aus einer nichtaltai’- 
schen Sprache, das tibetische dur Grabstätte, Grabmal! 

Unter den Namen von Hiungnu-Fürsten, welche die chinesische Ge- 
schichte kennt, erwähne ich: T’eu-man, gewiss das türkische „Ws tuman 
und mongolische tümen, d.i. zehntausend. Diesen Namen führte unter 
Anderen noch in neuerer Zeit ein Kalmykenfürst, den Bergmann kennen 
lernte (!), und ehemals mehr als ein Chan der Ost-Mongolen, wie wir aus 
Sanang-Setsens Geschichtswerke erfahren. — Mao-tun, am nächsten dem 
mandsuischen mutun, etwa in der Bedeutung von muten Macht, Fähigkeit. — 
T u-ngu-s/e, dem türkischen ; „5,5 tonguf Schwein, zunächstkommend, 
nur wegen seiner anstölsigen Bedeutung zweifelhaft. — U-Iui, vermuthlich 
>»! grofs. Ich breche hier ab, da blofse Namen einen allzuweiten Spielraum 
gewähren. 

Diesen Proben gemäfs kann also die Nationalität der Hiung-nu nicht 
näher bestimmt werden, und es leuchtet nur soviel ein, dafs sie ein Volk 
vom ostaltai’schen oder tatarischen Geschlechte gewesen sein müssen. In die 
Periode zwischen dem Untergang ihres Reiches (?) und dem Emporkommen 
der von den Hiung-nu abgeleiteten Tu-kii fällt Nordchinas Eroberung durch 
die To-pa (386 bis ins 6te Jahrhundert u.Z.), welche aus dem hohen Nor- 
den der Mongolei, vielleicht den Baikal- Gegenden, stammten. Leider bringt 
uns die chinesische Geschichte von der Sprache dieses Volkes, wie auch der 
alten Stämme Tungusiens, keine Proben. 


(') Siehe dessen Nomadische Streifereien, 'Th. 2, S. 297. 


() Um 93 u. Z. Ein späteres Hiungnu-Reich in einem Theile Nordchinas unterlag 
im J. 330 den Chinesen. 


002 


2392 Scuorr über das Altai'sche 


Wir kommen nun zu den Tü-kiü (552 bis 703 u.Z.), welche auch 
mit Byzanz als die ersten Tzgzoı in Verhältnisse traten. Diesem Volke wid- 
met die chinesische Geschichte und Ethnographie eben so viel Aufmerksam- 
keit wie den Hiung-nu (1), und bewahrt uns Wörter seiner Sprache, von 
denen der gröfsere Theil vorzugsweise türkisch heifsen kann. Der Name 
Tü-kiü wird von den Chinesen mit Helm (Zeu-meu) erklärt, und müssen 
sie hiernach ein r oder ein Z ausgestofsen haben. Im Mongolischen kenne 
ich für Helm nur dughulgha oder dülgha; im Türkischen aber die folgen- 
den Formen: tughulghan, tughulgha, tulsha, daghulghan, daulghan, daul- 
gha, talgha, dalgha. Alle diese Formen haben /, aber gewifs kam statt 
dessen auch r vor, sonst würde das Wort, sofern es als Nationalname ge- 
braucht wird, bei den Byzantinern nicht Tsgxos und bei den späteren Tür- 


ken selber nicht S5 Türk geworden sein. Das im Jahre 1801 u. Z. zu Con- 
stantinopel gedruckte türkisch-arabisch-persische Wörterbuch wall x 
Lehdset-ül-loghät weils, da es den osmanischen Dialekt allein erklärt, nur 
von tughulgha, widmet aber diesem Worte zwei Artikel, da sein Anlaut mit 
w und mit b geschrieben werden kann; auch sind diese Artikel von einander 
ganz unabhängig. Bei s&!,xb (S. 569) liest man: zutäl ‚Uldle sie Lit ss 
2082 Ju d.h. „womit die Krieger zur Zeit des Kampfes ihre Köpfe be- 
kleiden; es ist von Eisen.” Die hier als gleichbedeutend angeführten arabi- 
schen und persischen Wörter sind ganz anderer Art. Bei s&is&,s (S. 330) 
steht: JS au suis all SEES d.h. „was man nebst dem Panzer im Kampfe 
trägt, und zwar auf dem Kopfe”. Als entsprechendes persisches Wort ist in 
diesem Artikel SS beigefügt, mit der Bemerkung, dafs es terk und Zerik laute, 
unter den arabischen Wörtern aber &S5 terke, mit dem Zusatz, dieses be- 
deute eine eiserne Zughulgha. Gewifs sind die persische sowohl als die 
arabische Form aus einer türkischen erst entstanden, aber wegen ihres Haupt- 
vocales e nicht aus Zulgha oder turgha (?), sondern aus talgha oder targha. 
Das geschwächte zerk verhält sich zu letzteren Formen genau eben so, wie 
das geschwächte Zürk zu ersteren. 


(') Hoan-jü-ki, B. 194-97. Uen-hien-tung-Kao, B. 343-44. 
(?) Sollte das finnische Wort zurwa Obhut, Schutz, aus Zurga entstanden sein und 


also auch auf Helm zurückführen? Im Russischen hat untens, welches unserm deutschen 
Schirm entspricht, die Bedeutung Helm. 


oder Finnisch- Tetarische Sprachengeschlecht. 393 
Als Titel der Oberhäupter dieser Tu-kiu erwähnen die Chinesen Ä’o- 


han und I-L-k’o-han. Es bedarf kaum der Erinnerung, dafs ersteres (auch 
bei den Byzantinern Xayavos) dem türkischen „‚@l> und mongolischen cha- 
ghan entspricht. Das Verhältniss dieses, den Türken und Mongolen gleich 
befreundeten Wortes zu dem ebenfalls beiden Sprachen innigst angehören- 
den chan ist noch nicht aufgehellt. Kowalewski läfst sich darüber in den 
Anmerkungen zu seiner mongolischen Chrestomathie (Th. I, S. 250) also 
vernehmen: „Chaghan wird im gemeinen Leben nur chan ausgesprochen, 
was Schmidt in seinem Wörterbuche durch Fürst erklärt. Das Letztere 
bezeichnet mehrentheils einen unterwürfigen König, einen Vasallen; das er- 
stere aber wird von unabhängigen Gewalthabern gebraucht.” Im Türkischen 
besteht zwischen „‚&l> und „> kein solcher Unterschied; man giebt den 
Sultanen die kürzere Form eben so gern wie die längere als Titel; und da- 
zwischen liegt ein nur auf mongolische Grofs-Chane (also Chaghane) bezoge- 
nes „U kaan, wie z. B. im LE „‚u> Dsihännumd (der Weltschau) des Hadsi 
Chalife (gedruckt zu Constantinopel 1732 u. Z.), wo auf S. 371 zu lesen ist: 
ost sLiosl sl GE el; d. i. den Kaan Bufandsar machten sie zum 
Padischah (Kaiser) über die Mongolei. 

I-li-R’o- han ist nichts anderes als Il-chaghan oder Il-chan, welchen 
Titel noch viele Jahrhunderte nach den Tu-kiu die Tschinggisiden in Per- 


sien führten. Das durch IF A| i-li umschriebene, rein türkische \ 4 
(mit dem ul des nur als Mehrzahl vorkommenden mongolischen ulus zu ver- 
gleichen) heifst Land und Volk, Unterthanen; der Titel Ilchan läfst sich 


also mit Landesherr und Herr der Nation übersetzen und hatte wenigstens 
bei den Tu-kiu unmöglich die Bedeutung Vasall oder Statthalter (?). 


(') Bei den Tschinggisiden Persiens lässt sich eine solche Bedeutung viel eher ver- 
theidigen. In seiner schätzbaren Abhandlung De Hchanorum nurnis (1834) sagt Frähn: 
„Ischingissidae, Iraniae quondam dominatores, a Chulaghu, Tschingis-Chaghanı nepote, a 
quo originem ducebant, ut Chulaghuidarum, ita II-Chanorum nomen commune habue- 
runt. Posterioris vocabuli, quo titulo Chulaghu primus usus est, quae sit propria signi- 
ficatio, nondum satis constat. Vox 4) tantum abest, ut mundum seu orbem terrarum, ut 
regionem, provinciam significet; quid? quod hodie apud Tataros fere idem valet atque 
Js} zuz, i. e. pagum, sed majorem.”— Der Verfasser schlägt vor, „eL mit provin- 
ciae praeses zu übersetzen; denn die mongolischen Oberhäupter Persiens bekannten sich 
eine Zeitlang wirklich als Belehnte des Grofs-Chans in China. — S. übrigens unsern 
wörtervergleichenden Abschnitt unter :2, aul, ul. 


294 Scnorrtüber das Altai’sche 


Die Gemahlin des Chakans wurde K’o-ho-tun betitelt, was ohne 
Zweifel Chaghatun heissen soll; denn auch Chaghan ist durch K’o-han 
ausgedrückt. Hiernach müfste das Wort durch Zugabe einer nicht mehr 
nachzuweisenden weiblichen (?) Endung zun aus der männlichen Form ent- 
standen sein, Aber chaghatun ist den Türken und den Mongolen gleich un- 
bekannt; sie haben dafür nur das kürzere chatun, bei den Osmanen auch in 
35 kadyn verdorben, was Fürstin und vornehme Frau bedeutet. (') 

Das Pferd nannten die Tukiu ho-lan. Dies ist das türkische chulan 
oder kulan wildes Steppenpferd, kulun Füllen. Der Wolf hiefs bei ihnen /u- 
lin; jetzt heifst er bei den östlichen Türken \s, »# bury, was vermuthlich mit 


0) 


dem mongolischen boro grau, zusammenhängt. 

Ko-lo war die schwarze Farbe. Steht für koro oder kara. Bei Mon- 
golen und Türken chara, »5 kara. 

Ko-li bejahrt, alt, ist in dem türkischen (s,ö kary wiederzufinden, 
aber auch in dem finnischen karilas, senex decrepitus, wo las nicht zur 
Wurzel gehört. 

Für Haus sagten sie wi(?), wie noch jetzt die östlichen Türken. Die 


Osmanen haben dafür ew. 

Fleisch (etwa nur gekochtes?) hiefs zZie an-tschan. Damit weils 
ich nun nichts als das mandsuische andsu Fleischspeise, zu vergleichen. Ist 
das erste n ausgefallen, so nähern sich beide Formen dem lappischen ddtje 
(ödtsche) Fleisch. 

Kopfhaar lautete, wenn man den Chinesen glauben darf, ungefähr wie 


3» 
suk, denn sie schreiben N 21 sü-kö. Steht dem türkischen Worte „Is 
f) I 2 


satsch ziemlich fern, aber dem finnischen suka Borste, merkwürdig nahe. 
Die Erdgeister u», ER ti-schin, sollen p'ü-teng-i-li geheifsen ha- 


ben. In den letzten drei Silben erkennt man ohne Mühe tengri wieder, die 


(') Man würde demnach sehr übel fahren, wenn man an das deutsche Wort Gattin 
denken wollte, obgleich es auch im Türkischen eine Wurzel wol kat giebt, die verbinden, 


1-2 


» 
(?) Das hier gewählte chinesische Zeichen SE wird auch i oder ji gesprochen; 
2) 


zusammenfügen bedeutet. 


ich wähle aber lieber die andere Aussprache, weil diese dem osttürkischen «5» vollkom- 
men gleich ist. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 295 


Schwächung von tangry Himmelsgeist, Genius (s. oben). Wenn aber p’ü, 
geschrieben 7 hier Erde heifsen soll, so kann ich höchstens das boi in 


dem Mandsu-Worte Boi-chon Erde als Element, demselben annähern. 

Von der physischen Bildung der Hiung-nu, Tu-kiu, und überhaupt 
aller Barbaren in Nord und Nordost erhalten wir keine Kunde; ihr Aufseres 
mufs also den Chinesen nicht sehr auffallend, oder, mit anderen Worten, 
von dem der Letzteren wenig verschieden gewesen sein. Völker oder 
Stämme, welche den sogenannten kaukasischen Typus an sich tragen, wa- 
ren einem Beobachter aus dem Reiche der Mitte zu auffallend, als dafs er 
dies unbemerkt gelassen hätte. Das Hoan-jü-ki sagt (Buch 181, Blatt 10) 
in dem Artikel Jü-tien (Chotan): „Von Kao-tsch’ang westwärts haben 
alle Völker tiefe Augen und hohe Nasen, nur das Volk von Jü-tien macht 
eine Ausnahme: es gleicht sehr den Chinesen”(!). Nun war Kao-tsch’ang 
(das Land der Uigur- Türken) von den Stammsitzen des tatarischen Völker- 
geschlechtes schon sehr weit südlich und beziehungsweise südwestlich bele- 
gen. Dafs aber die Kao-tsch’ang (Uiguren) selber jenen „Tiefäugigen” und 
„Hochnasigen” noch nicht beigezählt wurden, ergiebt sich wieder aus dem 
Letztere betreffenden Artikel (B. 180, Bl. 11), wo deutlich zu lesen ist, dafs 
sie von Gesicht den Koreanern glichen (?), was doch nicht auf kau- 
kasische Physiognomie, höchstens auf eine gemilderte mongolische, schlie- 
fsen lässt. Ich behaupte noch immer — und stehe in dieser Beziehung nicht 
mehr allein — dafs die sogenannte mongolische Gesichts- und Schädelbil- 
dung die ursprüngliche des ganzen altai’schen Geschlechtes gewesen sei (°). 


(') Ma-tuan-lin wiederholt dies wörtlich in seinem Uen-hien-t'ung-k’ao (B. 337, 


s Luz nn R 

Bl. 2). Tiefe Augen und hohe Nasen PR E] N7 = schin mu käo pi sind dem 
Chinesen die Merkmale des Kaukasiers. 

(?) Eben so Ma-tuan-lin (B. 336, Bl. 14). Die Koreaner führen an beiden Stellen 

re 
den bekannten Namen — JE Kao-li, woraus bei den Japanern Körai, unser Korea, 
Er 

entstanden ist. Siebold bemerkt in seinem Nippon (VII, S.3 ff.), die Gesichtsbildung 
des Koreaners „trage im allgemeinen das Gepräge der mongolischen Race.” Gab es nun 
auch in alter Zeit schon Ausnahmen von dieser Regel, wie der deutsche Reisende in un- 
seren Tagen sie bemerkt hat (s. ebds.), so konnten diese den chinesischen Berichterstat- 
tern wenigstens nicht als Regel erscheinen. 

(°) Siehe Herren J. €. Prichard’s berühmtes Werk: Researches into the physical 
History of Mankind, dritte Auflage, Th. IV, S. 417-148, 419, 421, und an vielen anderen 


296 Scuorr über das Altai’sche 


Von Völkern der finnischen Familie haben die alten Chinesen gewils 
nur wenige gekannt; ja man wäre überhaupt berechtigt, ihre Bekanntschaft 
mit solchen in Zweifel zu ziehen, wenn die blonden Stämme Sibiriens und 
der westlichen Mongolei, deren sie Erwähnung thun, mit Fug für Germanen 
passiren könnten. Besonders merkwürdig erscheinen die Hid-kid-sfe, Ki- 
kü oder Kie-ki-sfe, von welchen gemeldet wird, dafs sie lauter grofse und 
starke Leute gewesen seien, mit röthlichem Haar und grünen Augen; 
schwarzes Haar habe bei ihnen für eine böse Vorbedeutung gegolten (1). 
Von den im fernen Nordwesten nomadisirenden U-sün wird gesagt, dafs sie 
blaue Augen und röthliches Barthaar gehabt, im übrigen wie Affen ausge- 
sehen hätten (?)! Da diese U-sün, nach chinesischen Berichten, ihre Ober- 


Stellen. Vgl. meinen bereits erwähnten Artikel: Über Nationalität und Ursprung der 
Finnen. — Sehr richtig ist bemerkt worden, dafs in Folge von Unterjochung, langem 
Zusammenleben, Vermischung der Stämme u.s. w. bei Völkern ganz verschiedener Ab- 
stammung Idiome desselben Sprachstammes sich vorfinden können; aber ganz unmöglich 
ist es, dafs durch solche Begebenheiten eine Verwandtschaft zwischen Sprachen, die 
bis dahin nicht verwandt gewesen, bewirkt werden könnte. 

(') Hoan-jü-ki, B.199, Bl. 12; Ma-iuan-Iin, B. 348, Bl.6. Im Juan-sfe, einer 
urkundlichen Geschichte der Mongolen-Dynastie von China (1260-1367 u. Z.), wo die 
damals noch sibirischen Wohnsitze dieses Volkes sehr genau angegeben werden, ist sein 
Name möglichst richtig Ar-Z-kr-sfe geschrieben (B. 42, Bl. 69-70), so dafs ihre Einer- 
leiheit mit den Xeoyes des Menander von Byzanz und den sg Kirgif oder je Kyr- 
ghyf des Abulghasi keinem Zweifel mehr unterliegt. Diese eigentlichen und ächten Kir - 
gisen, welche mit ihren heutigen Nachbarn, den drei zahlreichen Horden der Kajak oder 
Kirgif-Kaisak (einem wahrscheinlich gemischten, übrigens türkisch redenden Volke) nicht 
verwechselt werden dürfen, wanderten später, von den sibirischen Kosaken vertrieben, und 
dann von den dsungarischen Kalmyken weiter gedrängt, in ihre heutigen Wohnsitze zu 
beiden Seiten des Muf-tagh. Nach dem Juan-sle wäre ihre Sprache schon in Sibirien mit 
der des Uigur-Volkes übereinstimmend, also die türkische gewesen. Die Uigur waren 
etwa hundert Jahre lang ihre Beherrscher. 

(?) Hoan-jü-ki, B. 182, Bl. 1-4; Ma-tuan-in, B. 337, Bl. 9-12. Die Worte der 
chinesischen Berichterstatter lauten wörtlich also: ,‚Die Gestalt der U-sun war ganz eigen- 
thümlich. Heutzutage giebt es nordische Barbaren mit blauen Augen u. s. w., und diese 
stammen von ihnen ab.”— Andere, mit Wahrscheinlichkeit für Finnen zu haltende Völ- 
ker des Nordens, worunter auch Polarzwerge, lasse ich unerwähnt und bemerke nur noch, 
dals in einer chinesischen Geschichte der Chitan (Liao), dem Ki-tan-kuö-tschi (B. 26, 
Bl. 2), gleich nach den tungusischen Niü-tschin eines gleichnamigen Volkes mit vorge- 
setztem hoäng-t’eu d. i. gelbköpfige, gedacht wird, welches in Bergen wohnte. Es 
gebe dergleichen auch in Ho-si (Tangut), und die Chitan hätten sie ob ihrer „„grimmigen 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 297 


häupter Äuen-mi oder Kuen-mu nannten, so hat dies Einige an das germa- 
nische Wort Konung, Konge, König erinnert, und stracks zu der Annahme 
verleitet, dafs sie unsere Stammverwandten gewesen; aber wie weit auch 
die nationale Bescheidenheit des Deutschen gehen mag, so wird er sich doch 
dagegen verwahren, dafs ein germanisches Volk auf die Chinesen den Ein- 
druck von Affen gemacht haben sollte; denn von der Nachahmungssucht 
des Deutschen sich zu überzeugen, dazu bedurfte es wohl genauerer Be- 
kanntschaft. 

Finnen waren jedenfalls diejenigen Urbewohner der Altai-Gegenden, 
deren meiste Stämme schon in sehr früher Zeit nach dem fernen Nordwe- 
sten wanderten, und, dem Gesichtskreise der Chinesen für immer unerreich- 
bar, am Ural, in den geräumigen Ebenen des heutigen europäischen Rufs- 
lands, und in Scandinavien sich niederliefsen, als China noch kaum mit den 
Bewohnern des mongolischen Hochlandes in dauernde Berührung kam. 


x \ “ 

Nur von einem Theile der Sprachen dieses grofsen Geschlechtes kann 
ein westlicher Europäer bis heute genauere Kenntnifs erlangen. Mehrere 
Idiome der türkischen Familie, wie das Kirgisische und Baschkirische, sind 
kaum nothdürftig bekannt. Über das Samojedische, Ostjakische, Woguli- 
sche werden wir erst durch Castren und Reguly belehrt werden. Endlich 
ist von allen sogenannten Dialekten des Tungusischen, obwohl so mancher 
sibirische Russe einen oder einige derselben zu praktischem Gebrauch er- 
lernt, nur der an Formen ärmste, die Mandsusprache, grammatisch und lexi- 
calisch angebaut. Dies ist um so tiefer zu beklagen, als schon die wenigen, 
den Tungusen um Jenisejsk, Mangaseja, Nertschinsk, Bargusin, Jakutsk, 
Ochotsk, an der oberen Angara, und den Lamuten abgehörten Wörterpro- 
ben, welche in Klaproths Verzeichnifs der chinesischen und mandsuischen 
Bücher auf der berliner königlichen Bibliothek (S.72-89) tabellarisch zu- 


sammengestellt sind, namentlich über den Zusammenhang der tungusischen 


Tapferkeit” als Avantgarde gebraucht. Alle Einzelwesen dieses Volkes seien gelbhaarig, 
und die Iris ihrer Augen sei mehrentheils grünlich, jedoch auch gelb oder weiss (!). 
War dieses Volk ein versprengter Finnenstamm? hat es auch blonde Tungusen gegeben? 
oder ist Alles eine Lüge? 


Philos.- histor. Kl. 1847. Pp 


298 Scuorr über das Altai’sche 


Familie mit der finnischen, Winke und Aufschlüfse geben, wie sie das oft 
sehr verkümmerte und erstarrte Mandsuische für sich allein kaum ahnden 
läfst ('). Lassen wir Letzteres einstweilen nothgedrungen als den Vertreter 
seiner Familie gelten, so erblicken wir, wenn wir es mit dem Mongolischen, 
dem Türkischen, und der Sprache der Ostsee -Finnen zusammenhalten, eine 
gewisse Stufenfolge geistiger Entwicklung, die der sonstigen, mehr oder 
minder selbstständigen Entwicklung der betreffenden Völker sehr analog 
ist(?). Das geistige Leben der Mands’us ist, in merkwürdigem Widerspruch 
mit ihrem Charakter, ganz unselbstständig geblieben oder — seit ihrer Ein- 
wanderung in China — geworden. Während sie den an Zahl ungeheuer 
überlegenen Chinesen bis auf den heutigen Tag als herrschende Nation eben 
so stolz gegenüberstehen, wie die Usbeken den geknechteten Bucharen, oder 
wie die Osmanen ihren Unterthanen von anderem Religionsbekenntnifse, sind 
sie der chinesischen Litteratur unbedingt maneipirt — die Zwingherren des 
zahlreichsten Volkes unserer Erde und die Heloten seiner geistigen Erwer- 
bungen. Selbst die Sage von der wunderbaren Geburt des Stammherren 
der Mands’us scheint nicht aus den Bergen ihrer Väter (im Norden von Korea) 
zu stammen. Bei ihren tungusischen Brüdern in Östsibirien, die uns Adolf 
Erman so anziehend schildert, (?) regen sich die Schwingen des Geistes freier, 
obschon sie gewissermafsen russische Unterthanen sind; ja unter den ner- 
tschinsker Tungusen soll es Barden geben, die lange Heldensagen ihres Stam- 
mes absingen. 

Mehr Grammatik als das Mandsuische und mehr Sicherheit und Be- 
wufstsein im Gebrauche ihrer Formen hat die mongolische Sprache; und 


(') Dennoch zeugt es von gänzlichem Verkennen des Charakters dieses Sprachenge- 
schlechtes, wenn jemand behauptet, das Mands’uische und die Suomisprache Finnlands 
seien einander ungefähr eben so fremd, wie Deutsch und Aramäisch (!). Ich muls hier 
statt jeder Entgegnung auf meine folgenden Untersuchungen verweisen. 

(2) Der Ausdruck „Stufenfolge geistiger Entwicklung” duldet kein Mifsverständnils. 
Es wäre ein thörichtes, die sehr ausgeprägte Selbständigkeit jeder der vier grolsen Fa- 
milien des Geschlechtes verkennendes Beginnen, wenn man eine der genannten Haupt- 
sprachen an die Spitze stellen und die übrigen lautlich oder gleichsam körperlich zunächst 
aus dieser und dann wieder aus einander ableiten wollte — ein Verfahren, das, auf den in- 
disch-europäischen Stamm angewendet, nicht minder abenteuerlich sein würde. 


(°) Im zweiten Bande des Historischen Berichts seiner Reise um die Erde u. s. w. 
(1838), an vielen Stellen. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 299 


wenn auch die meisten bekannt gewordenen Erzeugnisse des mongolischen 
Geistes entweder Übersetzungen indisch-budd’aistischer Werke, oder fan- 
tastische Nachbildungen und Verbildungen ursprünglich indischer Sagen sind: 
so zeigen Letztere doch wenigstens eine gewisse Freiheit und Kühnheit im 
Verschmelzen der verschiedenartigen Elemente. Von eignen Sagen der Mon- 
golen — ganz ohne indischen Anhauch — sind uns nur wenige aufbewahrt, 
einige durch die Chinesen und muhammedanische Schriftsteller, andere durch 
Sanang-Setsen. Soviel ist aber sicher, dafs die mongolische Nation in der 
vor-budd’aistischen Periode ihrer Weltherrschaft auf dem Wege war, eine 
selbstständige Litteratur zu erhalten. Der vortreffliche persische Geschicht- 
schreiber Raschideddin schöpfte selber aus mongolischen Chroniken (!), in 
welchen die Grofsthaten dieses Volkes verzeichnet waren; und Tschinggis- 
Chans berühmtes Gesetzbuch, die Jasa, war ohne Zuziehung fremder Mu- 
ster ausgearbeitet. Aber selbst dieser gewaltigste Mongole fand bei seiner 
Nation, die er zum Schrecken zweier Welttheile gemacht, keinen Sänger, 
der ihn poetisch verklärt auf die Nachwelt gebracht hätte, und in späteren 
Jahrhunderten besang man Helden die gar nicht existirt haben. Zu dem ent- 
schiedenen Einflusse des Budd’aismus, der besonders bei Völkern die unter 
der Hierarchie Tibets stehen, den strebenden Geist vom Irdischen abzieht 
und seine Laute zu blofsen Litaneien stimmt, kam in der Folge die politi- 
sche Vernichtung des Volkes; und jetzt findet das geistige Sein der Mongolen 
amı eigenen Heerde keine Nahrung mehr. 


(') Wahrscheinlich nur mittelbar. "Dies ergiebt sich mir aus seinen eignen Worten, 
wenn sie anders von Abulghasi im Stammbaum der Türken (S. 23 der kasaner Ausgabe) 
genau wiedergegeben sind; denn die persische Urschrift kann ich hier nicht erlangen. Bei 
Abulghasi also sagt Raschid: «Sir &) Bogen te Ir 5 ESpER ol vs 
KL Ne ee ee N u 
f> us rw, se) us ° uam, „u Re) SU JeRA ? are Er BESSER“ 
ya) wreu> Je} (eh ya msn der Sm sta d.i. Fünf bis 
sechs schriftkundige Mongolen gab er (der Chan Ghasan) mir an die Seite. Aufserdem 
hatte der Chan einen grolsen Beg mit dem Namen Pulatu (Pulad) und dem Titel Tsching- 
sang-SeDiesemusagteners „ui. el eu rd: du verstehst die mongolische Sprache und liesest 
die in derselben abgefalsten Bücher. Auf seinen Befehl bildeten dann Pulatu Tschingsang 
und die Übrigen jenen Verein (der mir bei meinem Geschichtswerke die Quellen ver- 


ständlich machen und somit hülfreiche Hand leisten sollte). 


Pp2 


300 Scnuorrüber das Altaische 


Dafs die Türken, oder wenigstens gewisse Stämme derselben, ehe der 
Islam zu ihnen gelangte, eine besondere geistige Zeugungsfähigkeit entwickelt 
haben sollten, ist mit nichts darzuthun; denn selbst von den Uiguren, un- 
streitig demjenigen Türkenvolke, das, durch eine glückliche Fügung von 
Umständen, früher als die übrigen einen gewissen Grad von Geistesbildung 
erlangte, haben wir keinen Beweis, dafs sie der nach ihnen genannten Schrift 
zur Aufzeichnung bedeutender Geisteswerke sich bedient haben sollten. (!) 
Seit dem neunten und zehnten Jahrhundert, in welchen der Islam, von Samar- 
kand aus, auf den Hochebenen des östlichen Turkistan Fortschritte machte, 
entstand eine muhammedanische Litteratur, mit grofsem Zudrang arabischer 
und persischer Wörter. Das älteste was man von dieser Litteratur besitzt, 
besteht gröfstentheils aus Übersetzungen. Selbständiger und fruchtbarer ent- 
wickelte sich die Schriftstellerei der Türken im westlichen Turkistan (also 
schon ausserhalb Hochasiens), dessen Dialekt übrigens von dem Uigurischen 
nur wenig abweicht. Der merkwürdigste Schriftsteller, den Turkistan über- 
haupt hervorgebracht hat, ist Sultan Baber, der Eroberer Hindustans und er- 
ste Grofsmogul, welcher wie Julius Cäsar seine eigenen Feldzüge erzählte. — 
Die Türkenstämme in Kyptschak und in Sibirien haben, sofern sie über- 
haupt schriftkundig, nur wenig und unbedeutendes geleistet. — Unter den 
sehr zahlreichen Schriftstellern der Osmanen ist Keiner von der geistigen 
Einwirkung Arabiens und Persiens unberührt geblieben, ja die Meisten sind 
dieser Einwirkung so verfallen, dafs man sie nur mehr oder minder glück- 
liche Nachahmer nennen kann. Von ihren wirklichen Verdiensten kommt 
vieles nicht einmal ganz auf Rechnung des türkischen Blutes, da keine Nation 
mehr und verschiednere Völkerelemente in sich aufgenommen hat und man- 
cher ihrer Schriftsteller geradezu Renegat gewesen ist. 


(') Dafs die Schrift der Uiguren nicht von ihnen selbst erfunden sei, bezweifelt wohl 
niemand mehr. Sie ist übrigens syrischen und nicht altpersischen Ursprungs, wie Davids im 
Preliminary Discourse zu seiner Turkish Grarimar ohne haltbare Gründe behauptet. Vergl. 
Klaproths Abhandlung über Sprache und Schrift der Uiguren (Zugabe zu seinem oben an- 
geführten Verzeichnils u. s. w., S. 53 ff.). Davids träumt auch von uigurischen Annalen 
und einer untergegangenen Litteratur dieses Volkes. Das Hoan-jü-ki (B. 180.) und Ma- 
tuan-lin (B. 326.) berichten nur, dals sie (bei ihnen Kiü-s[e, Kao-tsch'ang) in der langen 
Periode ihrer Abhängigkeit von China mit allen Gebieten der chinesischen Litteratur 
sich beschäftigten, und der chinesischen Schrift, aber zugleich auch „barbarischer Schrift- 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 301 


Die wenigen aus Hochasien entstammten Sagen der Türken sind zum 
Theil mit solchen der Mongolen (d.h. mit ächt-mongolischen) übereinstim- 
mend: eigenthümlich ist ihnen nur Oghus, der halbmythische Welteroberer, 
dessen Thaten wir im Dsihän numä (s. oben) und in Abulghasis Stammbaum 
der Türken ausführlich erzählt finden. Liegt dieser ganz artmuthig erzählten 
Sage etwas Wirkliches zum Grunde, so darf man ihren Helden als einen 
erfolgreichen nomadischen Eroberer alter Zeit, etwa den Stammherren der 
nachmals berühmt gewordenen Ghusen, betrachten. 

Was die türkische Sprache betrifft, so zeigt diese schon in ihrer ein- 
fachsten und für uns ursprünglichsten Gestalt, d.h. wie wir in den älte- 
sten Denkmälern aus Turkistan sie kennen lernen, bedeutende Vorzüge vor 
der Mongolischen. Das bei den Mands’us und Mongolen noch gleichsam 
unbeseelte Verbum erhält hier erst Beseelung, indem man die Wurzel mit 
fürwörtlichen Anhängen verbindet (!); und jene zwischen Nennwort und 
Zustandswort (Verbum) gleichsam in der Schwebe bleibenden Zwitterfor- 
men, mit denen übrigens selbst der verfeinertste Dialekt, das Osmanische, 
noch zu reichlich bedacht ist, sind in ihrem Gebrauche besser begränzt, 
schärfer gesondert. Bei den Osmanen und anderen westlichen Türken wer- 
den ausserdem Zustandswörter des reinen Seins in mehreren Zeiten untrenn- 
bare, nicht blofs nachhelfende, sondern das Zustandswort mit constituirende 
Theile desselben. Dazu nehme man noch feine Unterscheidungen in An- 
wendung der mannigfachen, durch Zusammensetzung gebildeten Zeiten, — 
Unterscheidungen, die, so alt auch der praktische Gebrauch des Osmanli 
bei uns ist, zum Theil erst in neuester Zeit erkannt worden sind. Im 


züge” sich bedienten. Was ich so übersetze, heilst eigentlich Hu-Schrift; unter Au 
verstand man aber die nordischen Barbaren. 

(‘) Den von Klaproth a. a. Orte gelieferten Proben zufolge haben die meisten tun- 
gusischen Schwestersprachen des Mands’uischen eine ähnliche Art von Conjugation; oder 
wär’ es etwas anderes, wenn z.B. bei den jeniseisker 'Tungusen die Wurzel ii stehen 
das folgende Praesens bildet: iizschem ich stehe, ilitschende du stehst, ilitscheren er steht; 
ilitschereb wir stehen, ititschesch ihr stehet, ilitschere sie stehen? Man muls nämlich wissen, 
dafs die Mands’us in allen diesen Fällen nur :limbi sagen können, dessen Endung nichts 
anders als die Gegenwart ausdrückt, und zur Unterscheidung der Person die Fürwörter 
getrennt vorsetzen, z.B. di ilimbi ich stehe, si :limbi du stehst. — Im mongolischen 
Verbum bemerkt man nur einzelne Versuche, gewisse Personen durch besondere Anhänge 
zu unterscheiden. Ob diese auch aus Fürwörtern entstanden sind, mufs die Folge aus- 
weisen. 


302 Scuorr über das Altai'sche 


Munde der Osmanen ist das Türkische eine der wenigen Sprachen, in denen 
Weichheit und Lieblichkeit mit feierlicher Würde sich paaren. (1) Rauher 
und derber klingt es bei den östlichen Türken und, wenn unser Auge nicht 
irügt, sogar ziemlich unangenehm im Dialekte, oder vielmehr in der Schwe- 
stersprache der Tschuwaschen an der Wolga, welche zugleich die auffallend- 
sten, zum gröfseren Theil auf Verderbung und Verstümmelung beruhenden 
Eigenthümlichkeiten darbietet. 

Alle bekannten Sprachen der finnischen Familie haben in analoger 
Art wie das Türkische und gewisse Dialekte des Tungusischen sich entwickelt. 
Selbst die ärmsten unter ihnen sind, wo es Verhältnisse der Nennwörter zu 
bezeichnen gilt, reicher an Stoff und feinen Abschattungen als die Turkspra- 
chen. In ihrem Organismus erscheinen sie jedoch alle mehr oder weniger 
roh und verkümmert in Vergleichung mit der Sprache der Östsee-Finnen (ei- 
gentliches Finnisch oder Suomi-Sprache, Ehstnisch und Liwisch), welche auf 
ihre gewissermafsen entarteten Schwestern viel Licht wirft und desto weniger 
von ihnen zurückempfängt. Hier ist es, wo die sogenannte Flexion des 
Wortstammes in reichster Fülle und durchsichtigster Klarheit sich entwi- 
ckelt hat. In dieser Hinsicht durchweht die Suomisprache ein frischeres 
Leben als die Magyarische (Ungarische) selber; beeilen wir uns aber, hin- 
zuzufügen, dafs diesem Mangel, wenn man es so nennen will, im Ungarischen 
eine mindestens eben so grolse Geschmeidigkeit und schöne Folgerechtheit 
zur Seite steht (?). 


(') Es ist wunderbar, wie viel in dieser Beziehung durch anscheinend geringfügige 
Mittel erreicht wird. Die dänische Sprache vertauscht den Auslaut a mit einem halb stum- 
men e, und überläfst so jeden Anspruch auf Majestät ihrer schwedischen Schwester; die 
Sprache Castiliens klänge ein gutes Theil weniger feierlich und gebietend, wenn sie in 
Endungen wie ad, ado, edo das d mit t vertauschte; das Osmanli würde sich fast aller 
seiner Hoheit und Würde berauben, wenn es der Dämpfung oder Verdumpfung entsagte, 
die den Vocal i trifft, so oft er unter dem Einflusse starker Consonanten oder Vocale 
steht. Ich schreibe ihn alsdann y. Es mufs dem Gehör eines Türken nichts widerlicher 
sein, als die immer helle oder enge Aussprache seines iim Munde der meisten Auslän- 
der; und doch wird in Sprachlehren so etwas gar nicht besprochen. 

(°) Obgleich so lange schon von dem Mutterboden losgerissen, und starker lexicali- 
scher Einwirkung einiger slawischen Sprachen, des Walachischen und zum Theil auch des 
Deutschen hingegeben, hat die magyarische Sprache doch auf ihrem eigensten Gebiete den 
Fremdlingen keinen Zoll Boden geräumt. Ihre Grammatik ist wesentlich finnisch geblieben: 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 303 


Das Idiom der Ostsee - Finnen verkündet auf der einen Seite mehr 
ordnenden Verstand, auf der anderen eine schaffendere Phantasie als die 
übrigen Sprachen des altai’schen Geschlechtes, wohl mit alleiniger Aus- 
nahme der Magyarischen; und so haben denn auch die Ostsee - Finnen einen 
Schatz von Sagen und Liedern aufzuweisen, der Alles was andere Völker 
des grofsen Geschlechtes in dieser Art hervorgebracht, tief in Schatten stellt. 
Hier allein ist wahre Volkspoesie zu Hause. Alle übrigen altai’schen 
Hauptstämme haben grofse Eroberer, Feldherren, Menschenbeherrscher auf- 
zuweisen: die Türken ihren Timur, ihre Grofsmogule und Seldstuken - Für- 
sten, und die gewaltigen Sultane der altosmanischen Zeit; die Mongolen 
ihren Tschinggis, Chubilai, Chulaghu, Galdan; die Tungusen mehrere Kaiser, 
welche kraft- und ruhmvoll auf chinesischen Thronen safsen. Aber Begei- 
sterung für die Grofsthaten solcher Männer hat, wie ich schon angedeutet, 
nirgends ein unvergängliches Geisteswerk ins Dasein gerufen; und selbst die 
Heldensänger der Osmanen waren mehr künstliche als natürliche Dichter. — 
In geradem Widerspiele mit den genannten Völkern sind die finnischen 
Stämme, so weit Geschichte und Sage reicht, nie von grofser politischer 
Bedeutung gewesen, ist nie ein Herrschergenius aus ihnen hervorgegangen. (') 
Ausdauernd und todesmuthig wie nur irgend ein Volk, wenn ein Kampf ge- 
bieterische Nothwendigkeit wird, ist der Finne ohne Herrschbegierde im ge- 
wöhnlichen Sinne des Wortes; nicht Menschen will er bewältigen, sondern 


um aber davon Überzeugung zu gewinnen, genügt es nicht, dafs man nur eine, wenn 
auch die vollkommenste Sprache des tschudischen Stammes, ins Auge fasse; denn schon 
das Lappische steht dem Ungarischen in mehreren grammatischen Erscheinungen näher. 
Noch mehr gilt dies von den bekannteren tschudischen Idiomen am Ural; und die wenigen 
übrigen Räthsel der Grammatik wird das von Reguly erforschte Wogulische (Ugrische) 
befriedigend lösen. 

(') Eine Ausnahme würde allenfalls Attila mit seinen Hunnen machen, wenn die Fin- 
nenschaft derselben besser bewiesen wäre. Kampflustig waren auch zu jeder Zeit die vom 
Ural gekommenen Magyaren, deren im alten Heimatland zurückgebliebene Stammver- 
wandte, die Wogulen (Ugren), nach Erman noch jetzt ein eigenthümlich finsterer und 
trutziger Blick aus tief liegender Augenhöhle auszeichnet. — Es hat irgend Jemand an ir- 
gend einem Orte die Bemerkung fahren lassen, dafs ich die Hypothesen eines Herren Gött- 
ling hinsichtlich der Hunnen und des Nibelungenliedes wieder aufgefrischt hätte. Das 
ist nun eine capitale Albernheit; denn über dieses Volk sowohl als über das Lied der Ni- 
belungen ist aus meiner Feder überhaupt nie etwas gellossen. 


304 Scnortrüber das Altai’sche 


die Natur, oder besser, das feindliche Princip in derselben; und dies ge- 
schieht durch Zauberkunst. 

Beschwörungen der finsteren Mächte aufser uns, die jeden Welt- 
schmerz verschulden sollen, finden wir zwar bei allen Völkern des finnisch - 
tatarischen Geschlechtes— der Lamaismus und selbst die Religion Muhammeds 
hat ihnen nicht allerwärts mit Erfolg entgegengewirkt — was aber in Nord- 
asien rohes Schamanenthum blieb und noch jetzt bei den verwilderten Fin- 
nenstämmen der Polarländer keinen anderen Namen verdient, das verklärte 
sich bei den Suomalaiset Finnlands zu wahrer Poesie; es erzeugte die Zauber- 
sänge (loihtorunot) und diese bahnten im Vereine mit Hingebung an das Gute 
und Schöne, was die Natur bietet, und mit dem gemüthlichsten häuslichen 
Leben den Weg zu ihren ganz eigenthümlichen epischen Gesängen, deren Hel- 
den vor Allem in Wissen und Magie ausgezeichnet sind, dabei aber lie- 
benswürdig durch Tiefe des Gemüths und Heilighaltung der Familienbande. 

Der Contrast zwischen den Neigungen und Naturanlagen der Suoma- 
laiset und der Mongolen, Türken, 'Tungusen wird aber viel weniger befrem- 
den, wenn man erwägt, dafs der Sinn für Herrschaft und Eroberung wenig- 
stens den Ural-Finnen weiland nicht abging, wogegen die Phantasie bei diesen, 
bei Mordwinen, Tscheremissen, Wotjaken, und am meisten vielleicht bei 
den Lappen gar schwere irdische Flügel regt. Der heutige Lappe oder 
Samilads ist, besonders mit dem karelischen Finnen verglichen, mit wenigen 
Ausnahmen ein verkommenes und verdumpftes Geschöpf, das seine geist- und 
seelenlosen Lieder im Kreise kauernd und mit widerlich kreischender oder 
quikender Stimme absingt (!). — Bei den Magyaren, einem sonst wahrhaft 
poetischen Volke, ist durch Vermischung und unaufhörliche Kämpfe mit 
anderen Völkern alle Tradition aus den Zeiten vor ihrer Einwanderung unter- 


(') Gottlund theilt im zweiten Bande seiner Otawa zwei Lieder, aus lappischem 
Munde niedergeschrieben, im Texte und in finnischer Übersetzung mit. Das eine ist ein 
roher Zuruf an die Renthiere, das andere an den Bären — eine Aufforderung, aus seinem 
Winterschlaf zu erwachen. Letzteres könnte man etwa so wiedergeben: 

Alter vom Berg’, Alter vom Berg’! 

Raff” dich empor, raff” dich empor! 

Blatt ist so grols wie Mäuseohr! 
Soll ohne Zweifel heifsen, dafs der Frühling schon eingetreten und sonach eine Lieblings- 
speise des Bären, zarte junge Blätter, schon zu haben sei. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 305 


gegangen; epische Volkspoesie fehlt ihnen ganz, und die lyrische scheint 
nicht weit hinaufzureichen. Es versteht sich von selbst, dafs magyarische 
Schriftsteller und Dichter aus der Periode der Europäisirung dieses Volkes 
nicht mehr hierher gehören. 

Tausendjährige Nähe germanischer Völker und vielfache Berührung 
mit solchen haben den Sprachen Finnlands und Lapplands eine Menge ger- 
manischer, insonderheit alt- und neuscandinavischer Wörter zugeführt, die 
entweder neben dem finnischen Urworte fortbestehen oder dasselbe verdrängt 
haben (!). In die Suomisprache, besonders den Dialekt des sogenannten 
russischen Kareliens, sind aus gleichen Gründen viele russische Wörter ein- 
gedrungen (?). Noch unbedingter und gleichsam frecher offenbart sich diese 
Zudringlichkeit in den Sprachen der meisten übrigen Finnenstämme, die, 
im Innern des russischen Reiches zerstreut, ohne geistige Spannkraft und 
fast ohne alle Tradition dahin leben. Ganz analog ist der lexicalische Ein- 
flufs des Arabischen und des Persischen auf die Sprachen der Türkenvölker 
gewesen, besonders der gebildeteren und sefshaften, unter denen Litteratur 
gepflegt wurde (?); denn ihre höchsten Muster blieben ja die Geisteswerke 
der beiden gebildetsten Nationen Vorderasiens; und das Arabische inson- 


(') So z.B. finden wir für Kupfer koppari neben waski, welches letztere dem mon- 
golisch -türkischen jas und jes die Hand bietet. Nicht gar selten trifft es sich auch, dals 
ein für germanisch geltendes Wort des finnischen Sprachschatzes in den meisten, ja in 
allen Hauptsprachen altai’schen Schlages wiederkehrt. So stimmt zurpaha Torf, Rasen, ei- 
nerseits mit dem zorfva der Schweden, andererseits mit dem türkischen zoprak, mongolischen 
towarak, tungusischen Zuor, turu, tor, was alles die Erde als Wesenheit (Substanz) be- 
deutet. Übrigens finden wir dieses Wort selbst bei den Arabern, und zwar in den For- 
men O5 tarb und „5 zuräb Erde, Staub, woher auch zarid humo adhaesit. Dies ist ein 
Beispiel von Urwurzelverwandtschaft. 

(2) Selbst mit dem finnischen Worte für frei (!) scheint mir dies der Fall. Es lautet 
wapaa, was zunächst eine Zusammenziehung von wapada, wapata sein muls. Erwägen 
wir nun ferner, dals die Finnen, so oft ein Fremdwort mit zwei Consonanten anlautet, 
den ersten (wenn es drei sind, sogar die beiden ersten) schonungslos abwerfen, und stel- 
len wir damit zusammen, dals das 5 ausländischer Wörter in p erhärtet wird: so ergiebt 
sich uns wapaa = swapada —= swoboda, welches das russische Wort für Freiheit. — 
Im Ungarischen ist szabad entstanden, weil man hier nur den zweiten Mitlauter ver- 
drängt hat. 

(°) Nur der (heidnisch gebliebene) Jakute ist mit Wörtern aus Vorderasien ganz 
verschont geblieben, und sein türkischer Dialekt verdient daher grolse Beachtung. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Qq 


306 Scuorrt über das Altai’sche 


derheit war für sie die Sprache des göttlichen Buches, die Allah selbst mit 
seinen Knechten reden werde am Tage des Gerichts. Die bunte Mosaik des 
geschriebenen Osmanli — beim Sprechen sind die Türken mit Fremdwörtern 
sparsamer — gewährt einen wunderlichen Anblick. Man hüte sich aber, 
eine Sprache darum schon für hülflos zu halten, weil sie ihres angeborenen 
Adels sich schämt oder ihre Bildungskraft verkennt. Welchen Begriff mag 
ein Ausländer von unserem Deutschen sich formen, wenn er es nur aus Zei- 
tungen oder Tagesschriften kennen lernt? (?) 

Das Osman-Türkische kann seine ausländischen Fesseln nie wieder 
abstreifen; denn die Osmanen sind, allem Anschein nach, in keiner Hinsicht 
mehr einer Erhebung fähig. Dagegen fühlt der Ostsee -Finne nun schon 
seit Jahrzehnden ein steigendes volksthümliches Bewufstsein, das einstweilen 
in emsigem Sammeln seiner vaterländischen Sagen, in trefflichen Forschun- 
gen auf ihrer Grundlage, und in dem Bestreben, jede Ausländerei von der 
Muttersprache fern zu halten, sich kund giebt. Ein verwandtes Bewufstsein 
regt sich immer stärker bei dem Magyaren, dessen leidenschaftlichere Natur 
aber dem ruhigen Nachforschen ungünstig ist, und ihn mehr zu neuen 
Schöpfungen oder zu kühnen Thaten fortreifst. 


* * 
* 


Wir versuchen jetzt, von den merkwürdigsten Eigenthümlichkeiten 
des ganzen Sprachengeschlechtes oder einzelner Familien desselben eine 
Übersicht zu geben. 

Die Wurzeln der Wörter dulden von vorn keine Zusätze; alles Bei- 
werk, mag es nun Redetheile unterscheiden oder ihre Verhältnisse bezeich- 
nen, mufs hinten an. In den finnischen Sprachen an der Ostsee versuchte 


(') Der Vorwurf des zügellosesten Gebrauches von Fremdwörtern trifft bei uns die 
Tagesschriftsteller jeder Partei mit ziemlich gleichem Rechte. Begegnen uns nicht auf 
jeder Seite ihrer Blätter Ausdrücke wie Hausse und Baisse, Decharge, Actionair 
und Reactionair, Indignation, gravirende Umstände, Amendement, desavou- 
iren, tendentiös, Success, abandoniren, malcontent, reell und Reellität, 
reussiren, u.s.w. u.s.w. Kann man, inmitten der ruhmvollen Erhebung unseres Va- 
terlandes gegen jede andere Art von Knechtschaft, diese freiwillige Knechtung der Sprache, 
dies ekelhafte Überbleibsel zweihundertjähriger Sclaverei und politischer Niederträchtig- 
keit, ohne Abscheu ertragen? 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 307 


man eine Zeitlang die Einführung untrennbarer Praepositionen am Zustands- 
worte; allein der Sprachgenius hat sie bald zurückgewiesen. Im Magyari- 
schen allein ist das Zusammensprechen einer Präposition mit der Wurzel 
gestattet (?); erstere ist aber sehr versetzlich. 

Dagegen können zwei selbstständige Wurzeln sehr wohl zu einem zu- 
sammengesetzten Worte sich einen, wo dann freilich die eine vorangehen 
und die andere folgen mufs. Die stärkste Neigung zur Bildung solcher zu- 
sammengesetzter Wörter zeigen die finnischen Sprachen; viel bedächtiger sind 
in diesem Punkte die tungusischen und noch mehr die Turksprachen (?). 

Als Zusammensetzung zweier oder selbst mehrerer Wurzeln darf man 
auch wenigstens einen Theil der abgeleiteten Zustandswörter betrachten, 
welche mit kraftvoller Kürze manchen Nebenumstand ausdrücken, der in 
anderen Sprachen durch Hülfsverben, beigegebene Umstandswörter, oder 
auf andere Weise bezeichnet wird. Verschwenderisch mit solchen Ableitun- 
gen ist die Sprache der Lappen, sehr viel wirthlicher die Suomisprache. 
Die eigentlich tatarischen Idiome halten eine Art Mittelweg, den besonders 
die türkische Sprache schön zu wandeln versteht. 

Die Zusammenfügung einer Wurzel mit einer anderen oder mit einem 
grammatischen Zusatze führt in den tatarischen und einem Theile der finni- 
schen Idiome entweder gar keine oder doch unerhebliche Lautveränderun- 
gen herbei(°). Die Ostseefinnen aber besitzen in ihrer schön durchgebildeten 
Beugung des Wortstammes einen lebensvollen Pulsschlag, der schon bei 
den Lappen viel schwächer und unsicherer wird, in den Idiomen des Ural 
sogar zu tödtlichem Stocken kommt. Ob dies, die Suomisprache und das 
verwandte Ehstnische auszeichnende organische Leben schon in Nordasien 
oder erst in Nordeuropa erwachte — diese Frage glaube ich, da eine gewisse 


(') Von lautlicher Verschmelzung beider kann ohnedies nicht die Rede sein. 

(?2) Etwas Ausführliches hierüber in der Folge. Von mands’uischen Zusammense- 
tzungen erwähne ich einstweilen nur: fosoba erleuchtete Stelle, aus foso leuchten und da 
Ort, Stelle; fwaburu veilchenblau, aus fula roth und buru grau. 


(°) In mands’uischen Zusammensetzungen mit ergi Seite, Gegend, verschwindet z.B. 
dessen e: amargi (ama + ergi) hintere Gegend, Norden; dergi (den + ergi) obere Ge- 
gend, hoch, erhaben. — Im Finnischen hat man päiwätzär Sonnentochter, für päiwä-tytär; 
das letzte Glied ist also gleichsam verschrumpft. Doch kommt dergleichen nur selten vor. 


Qq2 


308 Scuorrt über das Altai'sche 


Nachwirkung im ganzen tschudischen Gebiete sich zeigt, zu Gunsten Nord- 
asiens beantworten zu mülsen. 

Der lose Zusammenhang der Wurzel oder des Wortes mit grammati- 
schen Zugaben wird in dem ostaltai’schen Gebiete sehr gut gefühlt, sonst 
würde man letztere beim Schreiben nicht so gern isoliren. In der Mandsu- 
sprache und der Mongolischen geschieht dies regelmäfsig mit den sogenannten 
Casuspartikeln, d.h. Postpositionen von mehr abgezogener Bedeutung, wel- 
che unsere Beugefälle vertreten; es trifft sie also insofern mit allen übrigen 
Verhältnifswörtern ein gleiches Schicksal ('). Das Mongolische erlaubt sich 
dasselbe Verfahren mit gewifsen Zeichen der Mehrheit, mit Bestimmungen 
des Zustandswortes, und selbst mit Auslauten der Nennwörter; oder der 
Schreiber zerbricht gleichsam einen längeren grammatischen Zusatz. Mag 
man den nächsten Grund einiger Erscheinungen dieser Art in graphischen 
Eigenheiten suchen; jedenfalls liegt ein dunkeles Bewufstsein dahinter, dafs 
die Verbindung kein organisches Ganzes ausmacht. Bei den östlichen Tür- 
ken wird von den sogenannten Casuspartikeln das Genitivzeichen sis ning 
fast immer vom Worte getrennt, oft auch das Dativzeichen LE gha oder S ge, 
das ‚„ ni des Objectsverhältnifses, das ‚3 Zar der Mehrheit (z.B. ‚9 =) ini 
ler jüngere Brüder, ‚9 sus gitti ler sie gingen ab), alle fürwörtlichen Zuga- 
ben (Suffixa), u.s.w. 

Auf Lautveränderungen wollen wir hier gar nicht eingehen, und nur 
im Vorübergehen erwähnen, dafs das Fürwort, sofern es im Verbum die 
Personen unterscheidet, bei den westlichen Türken von seiner Ganzheit mehr 
verliert, mehr der Metamorphose anheimfällt, als bei den östlichen. Nur 
wenn es besitzanzeigend dem Nennwort oder einem Zwitterworte zwischen die- 
sem und dem Zustandsworte folgt oder anhängt, ist es in Ost und West ziem- 
lich gleich stark verändert. In der Sprache der Ostsee -Finnen ist die Wur- 
zel des Nennwortes und des Zustandswortes, sofern ein nothwendiges Gleich- 
gewicht der Laute sie verlangt, jener eigenthümlichen Beugung unterworfen, 


(') Ich sage insofern, weil Verbältnilswörter (Postpositionen) von weniger abge- 
zogener Bedeutung dem Worte in der Regel nicht ohne Dazwischentreten einer jener 
sogenannten Casuspartikeln folgen, was immer schon zur Genüge zeigt, dafs man ein 
Gefühl vom Unterschied der Verhältnisse gehabt hat. Einstweilen, und bevor man etwas 
besseres über diesen Gegenstand von mir lesen wird, verweise ich auf S. 50 meines 
„Versuch über die Tatarischen Sprachen”. Berlin 1836. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 309 


die ich kurz vorhin angedeutet, und deren Regeln durch die Bemühungen 
heutiger Sprachforscher, wie Castren, Fählmann, Euren, Akiander, glücklich 
entwirrt sind. Auch bilden sämmtliche Zusätze mit dem Worte, das sie er- 
hält, noch mehr als selbst bei den westlichen Türken, ein untrennbares Gan- 
zes. Das Letztere kann man auch mit Hinsicht auf einige andere finnische 
Sprachen, vor allem die der Magyaren, unbedenklich behaupten. 

Das Verhältnifswort oder die Präposition (seiner Stellung nach vielmehr 
Postposition) folgt dem Worte, auf das es bezogen wird, immer nach. 
Gewifse Verhältnifswörter, die keine selbstständige Bedeutung haben und 
dabei durch die Kürze ihrer Form sich auszeichnen, folgen aber unmittelbar; 
und kann man sie theils aus diesem Grunde, theils, weil sie gröfstentheils 
von weitester Bedeutung sind, Casuspartikeln nennen. Andere wieder, 
und zwar die meisten, erheischen einen Vermittler, und dieser ist dann eine 
jener Casuspartikeln, gewöhnlich die des Genitivs. Das eigentliche Verhält- 
nifswort bleibt also im Grunde Selbststandswort und regiert dasjenige Wort, 
auf das es bezogen wird, in einem Casus (!). Die Mands’usprache und die 
Mongolische verfahren oft in dieser einfachsten Weise. 

Da jedoch Ausdrücke, wie z. B. „Meeres Inneres” (für im Meere) 
eine Zweideutigkeit enthalten, so hängen schon die Mandsus dem regierenden 
Worte, wenn es als Verhältnifswort zu denken ist, gewöhnlich noch eine 
Casuspartikel an. Es werden also die meisten Verhältnifswörter schon bei 
den Mandsus durch Umschreibung ausgedrückt: für „zwischen Himmel und 
Erde” sagt man „im Zwischenraum des Himmels und der Erde”; für „unter”, 
„am Untertheil”; für „vor”, „am Vordertheil” u.s.w. In der türkischen Spra- 
che, wo das Genitiv-Verhältnifs, wie in der Magyarischen, durch einen be- 
sitzanzeigenden fürwörtlichen Zusatz am regierenden Worte noch Verstär- 
kung erhält, wird dieser Zusatz auch dem auf obige Weise umschriebenen 
Verhältnifswort eingekörpert; man sagt für „unter dem Baume” nicht etwa 
blofs „am Untertheil des Baumes”, sondern „an Baumes seinem Unter- 
theil’(?). Die Suomi-Sprache, welche das Verhältnifswort ebenfalls durch ein 


(') Einer im ganzen altai’schen Geschlechte waltenden Regel gemäls, geht das Re- 
gierte dem Regierenden voran. 

(?) Beispiel eines Selbstandswortes mit blofsem fürwörtlichem Anhang, das nur als 
Postposition vorkommt, ist im Türkischen gi2i, wörtlich sein Bild, seine Gleichheit, 


310 Scuorrt über das Altai’sche 


Selbstandswort in einem Casus umschreibt, nimmt weniger häufig noch für- 
wörtliche Suffixen dabei zu Hülfe, obschon sie diese in eben der Vollkom- 
menheit, wie die Türkische, besitzt. Manche ungarische Postposition 
würde das Gesetz ihrer Bildung kaum enträthseln lassen, wenn uns der ent- 
sprechende Redetheil im Finnischen nicht die Augen darüber öffnete. 

Die Postpositionen üben im ganzen finnisch -tatarischen Sprachenge- 
biete eine wahrhaft despotische Macht, da sie nur wenige Verhältnifswörter 
der Sätze (Bindewörter) aufkommen und auch diese wenigen nur schüchtern 
auftreten lassen. Denn die Postposition klammert sich nicht blofs an reine 
Nennwörter, sondern auch an Zwitterformen zwischen Verbum und Nomen; 
und so oft letzteres geschieht, entsteht ein schwerfälliges Surrogat für einen 
Satz, den ein Bindewort mit einem anderen dergleichen verknüpfen sollte. 
Dafs aber die Postposition so viel sich anmafsen darf, davon liegt wieder der 
Grund in zu überwiegend nennwörtlicher Auffassung des sogenannten Infi- 
nitivs, der in der That nur wenig vom Verbum hat. Dieser duldet Casus- 
partikeln, und, wo sie vorhanden sind, auch angehängte Fürwörter des Be- 
sitzes, wie jedes andere Nennwort — er duldet sie nicht allein, sondern ver- 
langt sie. Überall wo bei uns Bindewörter wie als, da, zu, um zu, dafs, 
weil, ihr Amt verwalten, ist das finnisch -tatarische Sprachengeschlecht, 
wenn es sich selber treu bleiben will, entweder auf Casus seiner sogenann- 
ten Infinitive, oder auf eigentliche (meist umschriebene) Verhältnifswörter 
hinter diesen Zwitterformen angewiesen. Wenn z.B. der Türke seines gibi 
wie (wörtlich sein Bild, seine Gleichheit; s. oben) hinter einer solchen 
Form sich bedient, so tritt diese in den Genitiv, und man ist einem Satze mit 
dem Bindewort als ausgewichen: sen geldig-in gibi wird verstanden „als du 
kamst”; es heifst aber nur „wie dein Kommen”, oder „deines Kommens Gleich- 
heit”(1). Für „wie” könnte auch „in seiner (deines Kommens) Zeit”, oder was 
Ähnliches stehen. Wendungen gleich dieser: anyn kalkdyghyny (oder kalka- 
dsaghyny) bildim sein Aufgestandensein (oder Aufstehenwerden) kenne 
ich, für: ich weils, dafs er aufgestanden (abgereist) ist (aufstehen [abrei- 
sen] werde), sind eben so legal wie: „ich kenne seine Sprache”. Will man 


d.i. wie; also arslan gibi Löwe sein Bild, wie ein Löwe. Auf dieses Wort kommen wir 
in der Folge zurück. 

(') Wenn man bei uns im gemeinen Leben wie für als hört, so ist ersteres ge- 
radezu Conjunction geworden, und nicht Präposition geblieben wie das türkische gibi. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 311 


eine Absicht andeuten, so ist „im Vorhaben seines Thuns”, „wegen. seines 
Thuns” (letzteres auch für weil), oder, wenn auf der Absicht kein Nach- 
druck liegt, ein blofser Dativ des Infinitivs dem Genius der Sprache am an- 
gemessensten (!). 

Ich wähle meine Beispiele vorsätzlich nur aus den vollkommensten 
Sprachen des Geschlechtes, denen doch mancher Ausweg offen steht, welcher 
z.B. der Mands’usprache und der Mongolischen ganz versperrt ist, damit auch 
hier der Spruch sich bewahrheite: naturam expellas furca, tamen usque re- 
eurrit(?). Wie sehr die lebendige, gesprochene Suomisprache dergleichen 
für uns unnatürliche Wendungen noch liebt, davon überzeugen uns unter 
anderem die Inhaltsanzeigen in Prosa, welche Lönnrot den einzelnen Runot 
der Kalewala vorausschickt, und in denen er, wie man versichert, die Volks- 
sprache Kareliens treu wiedergegeben. Beispiele: Ilmarinen kertoo Wäi- 
nämöiselle sammon takoneensa, Ilmarinen erzählt dem Wäinämöinen des 
Sampo Geschmiedethaben-sein, statt „dafs er den Sampo geschmiedet”. — 
Ei olewan itkettäwätä, emo; jo kauan toiwoneensakin Wäinämöistä langok- 
sensa, nicht Seinwerden zu Beweinendes, (sagt) die Mutter; schon lange das 
Gewünschthaben-ihrer-auch den Wäinämöinen zu ihrem Schwiegersohne; d. 
h. die Mutter sagt, dafs es nicht beklagenswerth sei, ja dafs sie schon lange 
gewünscht habe, den W. zum Schwiegersohn zu bekommen. — Zappalainen 
wahtaa surmataksensa häntä ein Lappe steht auf der Lauer Tödten -zu 
seinem-ihn, d.i. um ihn zu tödten. - Huutaa wenettä joen poikki pää- 


(') Der Mongole und der Türke bezeichnen das Vorhaben auch gern durch eine be- 
stimmte Verbalform, mit „sagend” dahinter, und bilden so zwei ganz einfach verbundene 
Sätze, z. B. „ich will einen Brief schreiben sagend ging ich nach Hause”, d. i. ich 
ging nach Hause, um einen Brief zu schreiben. 

(2) Der Osmane hat persische und arabische Conjunctionen angenommen, ohne je- 
mals einen anderen als ausnahmsweisen Gebrauch von denselben zu machen; und so bleibt 
seine Satzbildung, besonders in der höheren Prosa, vom Eintlusse des Arabischen und 
Persischen fast unberührt, während er doch Wörter und ganze Phrasen aus beiden Sprachen 
mit schrankenloser Willkür aufnimmt. Der musivische Riesenbau eines grölseren osma- 
nischen Satzes, besonders in historischen Werken, ist meist aus fremden Bausteinen aufge- 
thürmt, und türkisch ist fast nur der Kitt, welcher die bunte Masse zusammenhält; diesen 
Kitt bilden aber die Infinitive mit Postpositionen und die Gerundien, welche einer be- 
stimmten und persönlichen Verbalform erst ganz unten am Schlusse Platz zu gönnen 
pflegen. 


312 Scnorr über das Altai'sche 


stäksensä er ruft ein Boot an, über den Flufs Gelangen -zu-seinem, d.i. um 
über den Flufs zu gelangen, u.s. w. 

Der Leser wird nun schon argwöhnen, dafs ein bezügliches Für- 
wort in unserem Sinne den Sprachen des Altai fehlen müsse. Wirklich ist 
auch bei Mands’us und Mongolen statt dieses Fürwortes nur ein Deutewort vor- 
handen, welches wie die Verhältnifswörter und die charakteristischen Zusätze 
der Redetheile ohne Ausnahme hinter dem Worte steht, auf das esbezogen wird. 
Es bildet immer eine Art Eigenschaftswörter, mögen sie nun rein nennwört- 
licher oder halb zuständlicher Natur sein. Bei den alten Türken verhielt 
sich die Sache gewils nicht anders; denn noch jetzt offenbart die osmanische 
Sprache selber eine gewifse Vorliebe, das bezügliche Fürwort mittelst Par- 
ticipien und Infinitiven mit Suffixen entweder ganz zu umgehen, oder das 
Wörtchen ki, welches seine Stelle vertreten soll, hinten anzuhängen. An 
gewilsen Wörtern hat dieses ki rein adjectivische Bedeutung. (') Türken und 
Mongolen bedienen sich seiner vorzugsweise gern nach einer Postposition, 
die das Befinden an einem Orte anzeigt, und: es mufs dann eben die Stelle 
eines Zustandswortes für Sein oder Befinden vertreten. Hinter andere Orts- 
partikeln setzen es beide Völker niemals, ohne Zweifel darum, weil die 
Bewegung von oder zu einem Orte kein einfaches Sein mehr ist, und also 
nach ihrem Sprachgefühl durch ein Zustandswort (und zwar ein concretes) 
bezeichnet werden mufs. 

Viel freier und kühner sind die Magyaren im Gebrauche ihrer nach- 
gesetzten Partikel i, welche sonst mit dem erwähnten persönlichen Deutewort 
am besten zu vergleichen ist. Auch sie bildet eine Art von Adjectiven, und 
kann nicht blofs unmittelbar, sondern auch durch Vermittlung einer Orts- 
partikel wie in, zu, von, aus, bei, einem Selbstandswort oder blofsen 
Deutewort angehängt werden. Beispiele: az abbani viz das in jenem (Gefäfse) 
befindliche Wasser. Hier ist abbani zusammengesetzt aus dem Deutworte 
az jener, der Ortspartikel dan in (der sich das z von az anbequemt hat) und 
i. Man könnte die sonderbare Composition genau wörtlich etwa nur durch 


(') Z.B. wenn der Türke aus seinem „Od dün Nacht und gestern, ESS dün-ki 
bildet, was in Verbindung mit einem folgenden Worte für Tag s.v.a. gestrig bedeu- 
tet. — Vergl. das mands’uische ningge oder ngge, z.B. in singgeri-ngge ania, gleichsam das 
mausige Jahr, oder, wie ein Russe sagen könnte, mrımii rog&, was aber hier heilsen soll: 
das nach der Maus benannte Jahr. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 313 


jenes-in-iges wiedergeben (!).— Sok borivdstöliborzalom roszsz ein aus vie- 
lem Weintrinken entstehender Schauder (ist) übel, aber genau: viel Wein- 
irinken-aus-iger Schauder übel (ist), — Az egyikröl a’ mäsikrai dt- 
menetel der eins-ihrer-von anderes-ihrer-zu-ige Durchgang, d.i. der 
Übergang vom Einen zum Anderen. 

Die meisten Casusverhältnifse des Relativums können der Mandsu und 
der Mongole nicht anders als durch Umschreibung ausdrücken, und der 
Türke tritt noch in ihre Fufstapfen wenn er z.B. den Satz: der Herr, dessen 
Bruder dein Freund ist, mit Bruder-sein Freund-dein seiender Herr 
wiedergiebt. Aber der Letztere hat auch dahin gestrebt, ein bezügliches Für- 
wort im Sinne unserer Sprachen zu erhalten. Wir finden nämlich ki schon 
bei den östlichen Türken und mehr noch bei den Osmanen dem Satze auf 
den es sich bezieht, sehr oft fefsellos vorangestellt. Dennoch ist die Be- 
mühung, dem persönlichen Deutewort sätzebindende Kraft zu geben, ge- 
scheitert; denn man wagt nicht eine unmittelbare Verbindung des Az mit 
Casuspartikeln, sondern deutet seine doppelte Bestimmung in zersetzender 
Weise an: ki wird isolirt hingestellt, als einfacher Vertreter des vorher ge- 
nannten Subjectes, und dahinter schleppt sich ein anderes, für jener und 
er gebrauchtes Deutewort, welches mit der erforderlichen Casuspartikel 
versehen ist. Dies Letztere ist also das satzverknüpfende Mittel: der Türke 
sagt welcher-sein, welcher-ihm, welcher-ihn, für dessen, welchem, 
welchen. — Finnen und Magyaren haben in dieser Beziehung das alte Joch 
ganz abgeschüttelt. Sie besitzen ein wahres bezügliches Fürwort, mit Casus- 
partikeln die unmittelbar angefügt werden, und das weder in seiner Stellung 
noch in seinem Gebrauch etwas Aufsergewöhnliches darbietet. Eine Spur 
aber von ehemaliger Auffafsung des Relativums im Sinne der Tataren glaube 
ich in dem so merkwürdigen Gebrauche der nachgesetzten Partikel i (s. kurz 
vorher) wahrzunehmen. 

Ausdrücke für die Verneinung eines Zustandes werden im Mandsui- 
schen und Mongolischen mittelbar, im Türkischen unmittelbar der Wurzel 
angehängt. Der Mongole läfst auch negative Partikeln ganz einfach dem Zu- 


(') Will man i hinweglalsen, so ersetzt man es mittelst valo’ seiend, befindlich. Ganz 
eben so verführe in solchem Fall der Türke mit seinem gleichbedeutenden o/an, z.B. das 
in der Hand befindliche Schwert, entweder Hand-in-iges, Hand-in-welches Schwert (e- 
de-ki kylyds) oder Hand-in seiendes (el-de olan kylyds‘). 


Philos.- histor. Kl. 1847. Rr 


314 Scnortrüber das Altaische 


standsworte vortreten. Aber schon die Schwestersprachen des Mandsuischen 
in Ostsibirien gehen noch weiter. Diese bezeichnen, wie wir oben gesehen, 
jede Person des Verbums mittelst eines fürwörtlichen Suffixes, wie die Tür- 
ken. Sollnun ein Zustand verneint werden, so läfst man die betreffende 
Partikel dem Verbum vorangehen, entzieht diesem sein Suffix, und hängt 
es dafür der Verneinungspartikel an. Beispiele der ersten Person dieser Art 
Negativ, und zwar von den Zustandswörtern sehen und schlafen, bringt die 
oben angeführte Tabelle: ich schlafe heifst z.B. im Dialekte der ochotsker 
Tungusen uklarym; ich schlafe nicht, efam uklar — ich sehe, kojerym; 
ich sehe nicht, etam kojer. Im nertschinsker Dialekte heifst ich schlafe, 
aschinap, ich sehe, üschetschip. Der Negativ des ersteren lautet aschim 
aschina, wo das suffigirte p (für di ich) beim Herüberziehen zu dem ver- 
wandten m geworden; der des letzteren aber aschim üschere, wo die Blöfse 
der Wurzel durch einen neuen Zusatz bedeckt wird. Auch in den Beispielen 
aus anderen Dialekten sehen wir die ihres Suffixes beraubte Verbalwurzel 
auf ähnliche Weise gleichsam entschädigt; nur die Lamuten begnügen sich 
mit einfacher Voranstellung der Verneinung, und lafsen das Verbum im ruhi- 
gen Besitze seiner fürwörtlichen Anhänge: eischi ukljarem ich schlafe nicht; 
etschi kuerem ich sehe nicht. 

In allen bekannteren Sprachen der finnischen Familie — das Magya- 
rische allein ausgenommen — beraubt die vortretende Verneinung das Zu- 
standswort ebenfalls gern der Personalendung, und läfst es, wie bei den och- 
otsker Tungusen, meist unbeschützt. So z.B. die Suomisprache: (minä) 
sanon ich sage, und en (minä) sano ich sage nicht; sanomme wir sagen, und 
emme sano wir sagen nicht. — In der hebräischen Sprache darf die Ver- 
neinung 7x En ebenfalls vorgesetzt und mit einem Suffixe verbunden werden, 
z.B. "a un Enenni ömer nicht-ich redender, d.h. ich rede nicht, für x> 
man lö dmarti. Dies Verfahren ist aber ein anderes: hier kann von Berau- 
bung des Zustandswortes nicht die Rede sein; das Suffix der Negation ist ihr 
unbestrittenes Eigenthum, und das Verbum steht als Partieipialform, die ohne- 
hin kein auf die handelnde Person sich beziehendes Suffix erhalten würde, 
daneben. Die alten Hebräer sorgten also, dafs ihr wichtigster Redetheil 
in seinem Rechte ungekränkt blieb; und es würde eine arge Barbarei sein, 
en-ti ämar oder lö-ti ämar zu sagen. In der koptischen Sprache sind es 
nun allerdings die Personalpartikeln des Verbums was der vortretenden 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 315 


Verneinung angefügt wird; allein hier kann es kaum anders kommen, da die 
Kennzeichen der Person dem Verbum ohnehin regelmäfsig vortreten. Auch 
pflegt man, mit der vortretenden Verneinungspartikel nicht zufrieden, noch 
eine andere der Zustandswurzel folgen zu lassen, z.B. $ mows Zi moschi 
ich gehe, iv mouyr aıt en-ti moschi-an nicht-ich gehe-nicht; ey mows ef 
moschi er geht, \tj mowys aıı en-f moschi-an er geht nicht. 

Ich will noch eine, die Suomisprache allein auszeichnende Eigenthüm- 
lichkeit berühren: es ist dies ihr auffallender Hang zum Gebrauche der Mehr- 
heit, zumal in solchen Fällen, wo eine Dauer des Zustandes ausgedrückt 
werden soll. In ähnlichem Sinne sagen wir, dafs jemand Schmerzen oder 
Qualen erleide, wenn auch nur eine Art von Qual, die ihren Sitz nur an 
einer Stelle hat, gemeint ist. Bei den Finnen greift dies aber sehr viel 
weiter und aufserdem in ganz anderer Form: zu einem Verbum des Seins 
oder Kommens (Werdens) gesellt sich ein den Zustand näher bezeichnen- 
des Wort, das aus einer Mehrzahl im Orts-oder Werkzeugsfalle, oft noch 
mit fürwörtlichem Anhang, besteht. (!) Beispiele: on Zulissansa er ist in 
seinen Feuern, d.i. im Feuer, er ist zornig; tulen tulihini ich komme zu 
meinen Feuern, d.h. in Zorn; makoilla mit (in) Lagerungen, d.i. darnie- 
der liegend; murheissansa in seinen Betrübungen d.h. kummervoll; zurwis- 
sani, in meinen Beschützungen, d.i. unter meiner Obhut; olen näljissäni ich 
bin in meinen Hungerleiden, d.i. ich leide Hunger. Eben so mit Beziehung 
auf Dinge aufser uns: olen tulillani ich bin bei meinen Feuern d.h. zu Hause; 
tulen tulilleni ich komme zu meinen Feuern (ad focos meos) d.i. nach Hause. 

Der Casus des bestimmten Objectes wird im Finnischen zugleich als 
adverbialer Casus gebraucht, (?) aber nicht blofs in der Einheit, sondern 
auch, und zwar noch viel häufiger, in der Mehrheit; ja diese Mehrheits- 
form ist eigentlich nie Objectscasus, sondern immer Adverbium; daher ältere 
Grammatiker in ihr einen eigenen Casus adverbialis aufstellen. So heifst 
turmin gleichsam in Unklugheiten, auf unkluge Weise, von Zurma un- 
klug. Es steht aber diese Form auch da, wo eine Mehrheit oder Wieder- 


(') Der Zustand würde schon durch die beschriebene Wendung allein, ohne Anwen- 
dung der Mehrzahl, energischer hervortreten, als wenn man das Prädicat in gewöhnlicher 
Weise ausdrückte. 

(*) Also wie z.B. im Arabischen, wo jedes Object gewilsermalsen als ein zum Ver- 
bum gehörendes Umstandswort betrachtet wird. 


Rr? 


316 Scuorr über das Allaische 


holung unmöglich, z.B. in päin quoad capita, wenn es nicht Postposition 
ist und gegen, — wärts, sondern buchstäblich in Hinsicht des Kopfes, mit 
dem Kopfe, bedeutet (1); denn es kann Einer zwar mit Launen, Sinnen, 
sogar Geistern, aber nicht mit mehreren materiellen Köpfen gedacht werden. 
So haben wir päin in den Redensarten paljain päin nudo capite, und alla päin, 
welche letztere z.B. folgenden öfter wiederkehrenden Runovers anfängt, der 
in der That aus lauter adverbialen Ausdrücken besteht: 

Alla päin, pahoilla mielin, Kopfgesenkt, verdrofsnen Sinnes, 

Kaiken kallella kypärin. Ganz mit schief gesetzter Mütze. 

Es ist unmöglich, diesen Doppelvers wörtlich wiederzugeben; annähe- 
rungsweise könnte man aber sagen: unten in Hinsicht der Köpfe (des Kopfes), 
mit Übeln hinsichts der Gedanken, ganz mit Schiefheit hinsichts der Müt- 
zen. (?) 

Gleichwie nun die Mehrheit in adverbialen Ausdrücken dem Sinne 
nach keine wahre Mehrheit ist, so wird auch bei dem sehr häufigen Gebrau- 
che der sogenannten Häufigkeitsverba (frequentativa) nicht eigentlich eine 
Wiederholung der Handlung gedacht; sie sollen nur gröfsere Lebendigkeit 
in die Rede bringen. 

Schliefslich ein Paar Worte über das Gesetz des Einklanges der Vo- 
cale. In den meisten finnisch-tatarischen Sprachen entscheidet der Vocal 
der Stammsilbe über die der folgenden Silben. Letztere müssen nämlich, 
wenn auch sonst von jenem verschieden, wenigstens in Stärke oder Schwäche 
mit ihm übereinstimmen, ja in einigen Sprachen erheischt der Stammvocal 
sogar vollkommene Gleichheit des nächsten Selbstlauters. Die Stärke oder 


(') Postposition ist es z.B. in minua päin gegen mich, sinne päin dorthin. Grolse 
Analogie mit diesem finnischen Sprachgebrauche zeigt das Hebräische, wo Wörter wie 
Obertheil, Untertheil, Hintertheil, Richtung, ebenfalls im Plural, und zwar mit oder ohne 
persönliche Anhänge, ein Verhältnifs (zunächst einen Umstand) bezeichnen. Heilst z.B. 
“orin zachta-j, WON acharä-w, mo» äle-chä etwas anderes als Untergegenden meiner, Hin- 
tergegenden seiner, Obergegenden deiner, d.i. unter mir, etc.’ Sollte die Mehrheit nicht 
auch hier zunächst auf eine Dauer (des Verhältnilses) hingewiesen haben und später erst 
mifsbräuchlich zur Regel geworden sein? Oder steht die Mehrheit, wo es räumlichen Ver- 
hältnilsen gilt, nur darum, weil die Stelle am Körper nicht näher bestimmt ist? 

(2) Päin, mielin und kypärin sind Beispiele des adverbialen Casus in der Mehrheit; 
kaiken ist derselbe Casus in der Einheit, und nur so besitzen ihn auch die Magyaren. Ale, 
kalella und pahoilla sind Nennwörter im Instrumental, wie oben makoilla. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 317 


Schwäche der Vocale ist oft von den Mitlautern die sie begleiten, zunächst 
abhängig. Von den Schriftarten tatarischer Völker stellt diejenige, die bei 
den Kalmyken sich ausgebildet hat, das Lautsystem und somit auch den 
Einklang der Vocale sehr befriedigend dar. Dagegen hat die meisten Dia- 
lekte der türkischen Sprache das Unglück getroffen, sich in arabische Schrift 
kleiden zu müssen, welche, wo es auf Ausdruck der Selbstlauter ankommt, 
schlechter als jede andere dazu geeignet ist. Da nun die Schrift immer ei- 
nige Rückwirkung auf die Aussprache hat, so dürfen wir uns nicht wundern, 
dafs es schon lange zweierlei Aussprachen des Osmanli giebt: die sogenannte 
feinere, gebildetere, in welcher jenes Gesetz weniger durchgreift, und die 
rohere oder volksmäfsige. Sollte aber Letztere, die uns den Grundsatz des 
Einklangs, auf eine eben so bewundernswürdige Weise wie im Magyarischen 
durchgeführt, beobachten läfst, nicht die wahrhaft naturwüchsige sein? (1) 


(') Diese volksmälsige Aussprache des Osmanli lehrt keine der bis jetzt erschienenen 
Sprachlehren. Man mus ihre Regeln aus türkischem Munde und aus dem Lesen solcher 
Texte, die mit armenischen Buchstaben geschrieben sind, entnehmen. 


318 Scnuorr über das Altai’sche 


Nachträge zur Einleitung, 


Zu S.291, Z.12. Der erste Ilchan der Tu-kiu wird pP} 


T’ü-men genannt, was derselbe Name ist. Sein Sohn hiefs Mu-han, was 
offenbar für Muchan steht. Dieses Wort hatte anfänglich gewifs die Bedeu- 
tung Stier, wie Oghuf; denn noch jetzt bedeutet es in der Mandsusprache 
das Männchen starker, zunächst gehörnter, dann auch reifsender Thiere, z.B. 
des Tigers. Mucha-schan ist in derselben Sprache Stier. (') 

Zu S.293 ff. Im Hoan-jü-ki (B. 194, Bl. 9) und bei Ma-tuan-Iin (B. 
343, Bl.2) finden wir gleich nach Nennung des Titels /-Z-Ro-han folgende 
Bemerkung eingeschoben: „Zur Zeit des T’äi-wu-ti! vom Hause Heu- Uei 
legte sich schon Tu-Iun, der damalige Häuptling des Volkes S’en-sen, den 
Titel X’o-han bei. Die Tu-kiu folgten seinem Beispiel ( ix] 7 in ischi)”. 

Ferner steht in dem Artikel S’en-sen (H-j-ki, B. 193, Bl. 9; M-t-l., 
B. 342, Bl. 14): Tu-lun habe sich Kiu-teu-fa K’o- han betitelt; der Titel 
K’o- han sei damals überhaupt zuerst angenommen worden. 

Diese beiden Citate verlangen Erläuterung. Heu-Uei (oder Juan-Uei) 
war der chinesische Name, unter welchem das tatarische Volk Topa (Tö-pö) 
über das von ihm eroberte nördliche China herrschte. T’ai-wu-ti ist der 
posthume Name ihres dritten Kaisers; er regierte von 424 bis 451 u.Z. Die 
S’en-sen, von denen die chinesische Geschichte sagt, dafs sie ein Stamm 
der Hiung-nu gewesen, waren eine Zeitlang im östlichen Turkistan mäch- 
tig, und unterlagen den Tu-kiu, die ihnen anfänglich Frohndienste (als Ei- 
senschmiede) geleistet hatten. Der Name ihres Häuptlings Tu-Zun erinnert 
lebhaft an Tului, wie der jüngste Sohn des Tschinggis- Chan hiefs. 

Kiu-teu-fü bedeutete nach unseren chinesischen Quellen einen ge- 
schickten Rosselenker. Hier pafsen nun die beiden ersten Silben vor- 
trefflich zudem mongolischen küte-le (mands. kutu-le) leiten, führen, ohne 
Zweifel von einem Worte für Strick oder Leitseil, das aber die Finnen al- 


(') Ohne Zweifel ist muchan identisch mit dem türkischen dogha Stier, und verwandt 
mit dem mands’uischen duchü Hirsch, etc. S. meinen wörtervergleichenden Abschnitt unter 
den Lippenlauten. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 319 


lein, und zwar in der Form köyte (köysi) besitzen. Statt des dritten chine- 
” 1} 
sischen Zeichens { x fä ist vielleicht IX tai zu lesen, und alsdann wär’ 


es ein eigenschaftswörtlicher Zusatz, der Mongolen und östlichen Türken 
gleich geläufig ist. 
Im Anfang des die S’en-sen betreffenden Artikels kommt ein Name 
a 
Mü-kü-liu vor, welcher chinesisch mit 37 FE scheu-t’ö kahlköpfig er- 


klärt wird. Dieses Wort hat zunächst die gröfste Ähnlichkeit mit den man- 
ds uischenmocholo Ochs ohne Hörner, und mulchüriKuh ohne Hörner. Konnte 
man diese Bezeichnung nicht auch auf Menschen ohne Kopfhaar anwenden? 
Im Mongolischen finden wir moghol-tsar hornlos, mogho-tur hornlose Kuh. 
Verwandt sind auch die mongolischen Wörter mochor und mologhor abge- 
stumpft, von denen Letzteres der mandsuischen Form mulchüri am näch- 
sten kommt. Vergl. das finnische mylä stumpf, und mongolische müli aus- 
glätten. 

Die mehrerwähnten zwei grofsen chinesischen Sammelwerke bieten 
uns in dem Artikel Tu-kiu noch verschiedene andere Wörter aus der Spra- 
che dieses Volkes. So z.B. wurde die erste Classe ihrer Würdenträger 
Kiü-lü-tschü, die zweite Classe O-p’o oder A-pa genannt. In dem er- 
steren Titel glaube ich das mongolische külük fester, unerschütterlicher 
Mann wiederzuerkennen; das andere kann Vater, auch Oheim heifsen(!). 
Mit schi-po-lo, wie man Leute von ausgezeichneter Stärke und Tapferkeit 
nannte, wäre das mongolische Wort schibor Krüppel-Eiche(!) am meisten laut- 
verwandt. — K’o-la-tschü war ein nicht näher bezeichneter Beamter, dessen 
Titel von Ko-lü = kara schwarz abgeleitet wird. Dieser Titel findet sich 
noch bei den östlichen Türken (Uiguren) in der Form charatschu Minister; 
ich glaube ihn aber von kara beschauen, überschauen, das mit dem Worte 
für schwarz gleichlautend, ableiten zu müssen. — Neben Ko-k= türk. kary 
wird auch k’o-Ü-t4 = türk. w,5 kart erwähnt: beide Formen bedeuten alt. — 


(‘) Im Mongolischen ist abu, abai ein Liebkosungswort wie Väterchen; aba-gha (abä&) 
bedeutet hier und im Jakutischen Vatersbruder; aba-ghai ist Titel der jüngeren Söhne eines 
Fürsten. Verwandt ist die geschwächte Form ebüge Grolsvater. — Andere Beispiele von 
Verwandtschaftsnamen aus denen Titel geworden: L&} agha älterer Bruder; W510 dai oder 

5 daji Mutterbruder. — A-p’a (Ada) hiels der dritte Chaghan der Tu-kiu, und Abagha 
der zweite mongolische Ilchan von Persien (1265-82), ein Sohn des Chulaghu. 


320 Scnorr über das Altai’sche 


Der mittelst ho-lan Pferd (s. oben) gebildete Titel Ro-lan-k’ii-su-ni, ver- 
dolmetscht SD SE tschäng -ping Heerverwalter, Kriegsoberster, scheint 


für Se 635>> chulan jusuny zu stehen, und bedeutet dann wörtlich: equo- 
rum (für equitum, equitatis) lex, administratio, equitum curator, denn das 
Heer bestand aus Reiterei. — Aufserdem erfahren wir, dafs der Titel X’o- 
han (Chaghan) auch anderen Personen, als dem Oberhaupte, beigelegt ward. 
So nannte man einen durch Mordlust ausgezeichneten Mann /u-lin-k’o- han 
d.i. „EL> (5) » bury chakan, Wolfs-Chan. Selbst grofse Hausbesitzer beti- 
telten sich w-k’o-han d.i. „&> (ss! Haus-Chan. — Ich übergehe einige 
Wörter deren Dolmetschung mir allzu bedenklich scheint. 

Die alten Geschichtschreiber der Chinesen kennen auch das, nur noch 
bei Türken vorkommende Wort & ak weiss. In der zur urkundlichen Ge- 
schichte des Kaiserhauses Sui (581-618 u. Z.) gehörenden Beschreibung der 
Länder im Westen Chinas heifst es an einer Stelle, wo von dem feuerspei- 


enden \=) \ | y Pe-schan d.h. Weissberge (er gehört zum T’ien-schan 


oder Himmelsgebirg im Süden der heutigen Statthalterschaft /-Z) die Rede 
ist, derselbe werde auch 4-ki-schan genannt. A-ki ist nichts anderes als 
das obige türkische Wort. Die Stelle ist ausgezogen bei Ma-tuan-lin, B. 
336, Bl. 22. 

Zu S.295, Z.13. An den Bewohnern des westlichen Turkistan, oder 
der Länder von Ta-uan (etwa Fergana) bis An-si (jetzt Charesm) bemerkten 
die alten Chinesen tiefe Augen und dazu noch starken Bart (26 siü-s’än). 
Hoan-jü-ki, B. 182, Bl.6. — Wenn man, beiläufig gesagt, in dem Namen 
Ta-uan das tatarische Wort daban Bergstrafse erkennen will, so verdient 
Beachtung, dafs dieses Wort seine Wurzel nicht im Türkischen, wohl aber 
im Mongolischen findet: es ist daba hinübergehen. 

Zu S. 315. Die koptische Grammatik hat überhaupt einen von der 
finnischen so ganz verschiedenen Charakter, dafs schon darum von einer 
Vergleichung beider Sprachen keine grofsen Ergebnifse zu verhoffen sind. 
Merkwürdig aber bleibt immer die grofse Übereinstimmung gewifser kopti- 
scher Wurzeln mit solchen des finnisch - tatarischen Geschlechtes. Beispiele: 
aAor Ferse; tungusisch algan, finnisch jalka Fufs. any leben; f. henki 
Hauch, Geist. ane Kopf; f. pää. &w Holz; f. puu. eboA von, aus; 


‘ 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 3 


magyarisch 50l aus. eAeı wider, gegen; magyar. ellen (!). enaare grofs; 
magy.nagy. Ma Ort, Gegend; finnisch maa. ıta% sehen; f.näy, näk. sw 
sitzen; f. asu. cwirr Schöpfung, Geschöpf; f. synii Geburt, Entstehung. 
rs oder nes Haus; türkisch ‚ss!, »! und „). erarbeiten, machen; türk. s!' 
ej in au! ej-le, mandsuisch wi in wi-le; chinesisch se ei, ui. sııt machen; 
türk. wel, et. ep, ıpe, spı, machen, vorhanden sein; bei östlichen Tür- 
ken „). sr waschen; türk. „. ram Schilf; türk. yB. org Mond, ist 
ganz das tschuwaschische oich, gegenüber dem rein türkischen ai. caı 
Schönheit, und case schön, gut; mongolisch sain. cer ziehen; türkisch 
>. rar Berg, entspricht völlig dem türkischen zlb tagh nach gemeiner 
Aussprache. 


(') Kopt. est, it nicht, kommt dem hebräischen ’»s zunächst, aber die abgekürzten 
Formen des letzteren, "x und "x, sind fast identisch mit dem finnischen ei. Man muls 
also keinen zu grolsen Werth darauf legen, dafs dieses auch mit dem schwedischen ej 
übereinstimmt, welches aus icke entstanden. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Ss 


322 Scuorrt über das Altai’sche 


Verwandtschaft finnisch-tatarischer Wurzeln mit Rücksicht 


auf Lautverwandlung. 


Es erfordert vielleicht Entschuldigung, wenn ich einen Abschnitt vor- 
angehen lafse, der das Ganze befser beschliefsen sollte; denn ich will die 
Beschaffenheit der Wurzeln dieses Sprachengebietes hier nicht erläutern. 
Auch dürfen ganze und fertige Wörter nicht ausgeschlossen sein; und in 
Rücksicht solcher haben die Ergebnifse der Forschung gröfsere Glaubwür- 
digkeit, wenn wir den Leser über keinen, wenn auch noch so geringfügigen 
Theil des Wortes im Zweifel lassen, wenn wir nirgends dem Mifstrauen 
Nahrung geben, als würden unsere Schritte von Willkür geleitet. 

Es müfste demnach eine Aufzählung und Erläuterung aller Zusätze 
vorangehen, die eine Wurzel erhalten kann, um in ein Wort sich zu ver- 
wandeln. Allein diese Aufzählung hätte, an die Spitze gestellt, einen zu 
dürren, zu wenig einladenden Charakter. Wir fafsen also die Wörter zuerst 
in ihrem vollen Leben, und zwar mit Rücksicht auf Laut und Bedeutung; 
das grammatische Zersetzungswerk mag dann in ununterbrochener Folge nach- 
kommen. Unterdefs erlaube ich mir, den wesentlichen Theil, also die 
Wurzel des Wortes, wo es irgend zur Deutlichkeit nothwendig scheint, von 
dem unwesentlichen durch einen Querstrich zu trennen, und bitte wegen der 
Grundsätze, die mich dabei geleitet haben, einstweilen um ein Votum des 
Vertrauens. 

Da mir in diesem Abschnitte vor Allem der Zweck vorschwebt, die 
bekannteren Hauptsprachen des finnisch - tatarischen Geschlechtes mit ein- 
ander zu vergleichen: so schenke ich dem Verhältnifse derselben zu ihren 
anerkannten näheren Schwestersprachen oder zu blofsen Dialekten nur inso- 
weit Aufmerksamkeit, als es wegen der Fingerzeige, die merkwürdige Laut- 
wechsel geben, wichtig scheint. Aus der Vergleichung ergiebt sich oft die 
Thatsache, dafs ein Wort in blofsen Dialekten einer und derselben Sprache 
bis zur Unkemntlichkeit sich verstümmelt hat, während es in einer anderen, 
selbst ungeheuer entfernten Familie fast unverändert geblieben ist. Wir 
würden gänzlich daran verzweifeln müfsen, gewifse tungusische Wörter mit 
den entsprechenden anderer tungusischen Dialekte, besonders der Man- 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 323 


dsusprache, für identisch zu halten, wenn uns die verschiedenen Stadien 
ihrer Metamorphose nicht offen vor Augen lägen. 

Welche sind aber die unterscheidenden Merkmale eines verwandten 
und eines bloss erborgten Wortes? Es kann nicht geläugnet werden, dafs 
& und zum 


5 
Theil Vermischung ihrer Stämme auch viele Wörter gegen einander ausge- 


Türken, Mongolen und Tungusen in Folge vielfacher Berührun 


tauscht haben müssen. Allein verhältnissmäfsig wenige Wörter tragen ihre 
Erborgung ganz unverkennbar zur Schau. Man darf einigen Verdacht gegen 
solche Wörter hegen, die, ein Gemeinbesitz mehrerer Sprachen, bei glei- 
cher oder fast gleicher Form auch gleiche Bedeutung haben, besonders wenn 
die eine Sprache daneben noch ein anderes und verschiedenes Wort für den- 
selben Begriff hat. Allein bewiesen ist die Erborgung damit noch nicht, 
und sie wird höchstens wahrscheinlicher, wenn das in mehreren Sprachen 
übereinstimmende Wort in der einen lebendig fortwuchert (abgeleitete Wör- 
ter erzeugt), in der anderen aber ohne Zeugungskraft und vereinzelt bleibt. 
Kommt nun zu den übrigen Verdachtsgründen noch eine Endung, oder ein 
Zusatz zur Wurzel, der in der einen Sprache Seltenheit oder etwas Uner- 
hörtes, in der anderen gewöhnlich ist: so steht der Ausweisung des Wortes 
aus jener wenig oder nichts mehr im Wege (!). Doch ist auch in solchen 
Fällen grosse Vorsicht zu empfehlen, da man z.B. in den tungusischen und 
selbst in den Turksprachen noch nicht alle möglichen Endungen der Wörter 
übersehen kann, und schon die Bekanntschaft mit einem neuen Dialekte 
etwas bis dahin fremdartig scheinendes als der Sprache wirklich angehörend 
ergeben kann. Bei Vergleichung ostaltai’scher Sprachen mit dem Idiome 


o° 
der Ostsee-Finnen, darf man in jeder Hinsicht dreister verfahren, weil hier 


(') Wenn z.B. im Dialekte der jakutischen Türken amtan Geschmack, dbarachsan 
zerstört, chabtasun Brett heisst, so hat man diese Wörter gewiss von den Mongolen er- 
borgt; denn 1) sind sie bei den Mongolen in stärkstem Gebrauche; 2) besitzt sie kein 
anderer türkischer Dialekt, wenn gleich verwandte Wurzeln nachzuweisen sind; 3) haben 
die verwandten Wurzeln bei den Türken eine verschiedene Form; 4) sind die Endungen 
tan, chsan, sun den Mongolen geläufig, den Türken aber fremd. Dagegen muss das mon- 
golische c%ono übernachten, eine naturalisirte türkische Form sein; denn es ist cAo mit 
dem rückwirkenden türkischen n, das bei den Mongolen sonst nicht vorkommt. Im Tür- 
kischen hat man ko setzen, niederstellen, und davon abgeleitet: kon sich niederlassen, lo- 
giren, wohnen. — Das finnische koz£i (auch kossi) ist das schwedische gosse. $. Seite 290. 


Ss? 


324 Scuorr über das Altai’sche 


eine angenommene Vermischung oder engere Verbindung mit tatarischen 
Völkern aller geschichtlichen Begründung entbehren würde (!). 

Wenn aber auf der einen Seite nicht jedes ähnliche oder identische 
Wort schon die Verwandtschaft der Sprachen darthut: so darf uns auf der 
anderen Seite auch die Beobachtung, dafs Wörter für die nothwendigsten 
Begriffe in den vier grofsen Familien oft wesentlich verschieden sind, an 
ihrer Verwandtschaft nicht irre machen. Denn ein gleiches Ergebnifs stellt 
sich heraus, wenn wir anerkannte Schwestersprachen, wo nicht Dialekte, 
mit einander vergleichen; vor Allem liefern eines Theils die tungusischen, 
anderen Theils die finnischen Sprachen merkwürdige Belege hierzu (?). 
Auf wesentliche grammatische Verschiedenheiten in einer und derselben Fa- 
milie ist oben schon hingedeutet worden. Was aber die grammatischen Über- 
einstimmungen betrifft, so gehören diese überhaupt nicht, oder nur beiläufig, 
in die zunächst vorliegende Untersuchung. 

Die verglichenen mongolischen und mandsuischen Wörter kann ich 
leider nur mit europäischer Schrift drucken lassen, da die Akademie für 
beide Sprachen bis jetzt keine Typen hat (?). Das Tschuwaschische, Jaku- 
tische, und die Sprachen der östlichen Finnenstäimme werden mit russischen 
Buchstaben geschrieben, die der Lappen und Östsee-Finnen bekanntlich 
mit europäischen; und ohne Zweifel werden Castren und Reguly bei ihren 
Forschungen an dieser Schrift festhalten, da das russische Alphabet, bei al- 
len sonstigen Vorzügen, zum treuen Ausdruck des finnisch - tatarischen Laut- 
systems, mamentlich was die Abschattungen der Vocale angeht, wenig geeig- 
net ist. 


(') Dass kleine finnische Völker Sibiriens, gröfstentheils erst in den letzten Jahr- 
hunderten, ihre Muttersprache mit der türkischen vertauscht haben, kann hier gar nichts be- 
weisen. — In der magyarischen Sprache ist, bei Vergleichung ihres Wörterschatzes mit 
dem der türkischen, schon mehr Behutsamkeit nöthig, weil die Ungarn wirklich mit Tür- 
kenstämmen vermischt sind. 

(2) So z.B. besitzen die Mands’us für Himmel ein ganz anderes Wort als die übri- 
gen Tungusen. So begegnen uns in den tungusischen Dialekten drei absolut verschiedene 
Wörter für Sonne, u.s.w. 

(°) Ein gelindes s schreibe ich [; ein deutsches z, um jedes Missverständniss zu ver- 
meiden, zs. Den Laut des französischen j und russischen x, mag er nun isolirt stehen, 
oder, wie gewöhnlich, ein d vorangehen, soll s vertreten, derjenige Buchstabe, mit wel- 
chem Bopp das sanskritische I ausdrückt. Für dsch findet man also immer ds geschrieben. 


Qu 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 32 


Selbstlauter. 


Eine bedeutende Anzahl Wurzeln erscheint in einer und derselben 
finnisch -tatarischen Sprache doppelt, das eine Mal mit starkem und das an- 
dere Mal mit schwächerem oder schwachem Vocale, und bald mit, bald ohne 
Veränderung der Bedeutung. Auch die Mitlauter sind dann bisweilen, je- 
doch unerheblich, verändert. Beispiele aus dem Mongolischen: abu und 
ebü (in ebü-ge) Vater, bakdara und bekdere vor Kälte oder vor Entsetzen 
erstarren; baki-m und beki fest, dauerhaft; duru grau, und dürü trübe, däm- 
merig; gongsi und gengsi durch die Nase reden; churija und kürije umzäunen, 
zusammenfassen; chasu zurechtschneiden und kese zerschneiden; sabagha 
Stange und sibege Spitzpfahl, Verpfählung; daghus (nicht taghus) und tegüs 
fertig machen, vollenden; ztoghori und tegeri umkreisen, umdrehen. — Aus der 
Suomisprache: aika Zeit, und ikä Lebensalter; jalka Fufs, und jälke (jälki) 
Fufsspur; puuhkia und pöyhkiä beides turgidum, tumidum; onnista und 
Önnistä beglücken; tarma und tärmä Körperkraft; zarkka und tärkiä acutum; 
tuhma und tyhmä stupidum. 

Im Türkischen und Mandsuischen sind solche Erscheinungen seltner. 
Beispiele aus ersterer Sprache: oghuf neben öküf Ochse; tangry neben 
tenri Himmel; kara schauen, neben kör oder gör sehen (). Lieber be- 
zeichnet die Mandstusprache gewisse Gegensätze mit starken oder schwa- 
chen Vocalen: chacha männliches Wesen, cheche weibliches; ama Va- 
ter, eme Mutter (?); wasi abwärts steigen; wesi aufwärts steigen. Ein 
ähnliches Verfahren zeigen uns verwandte Wörter der anderen Sprachfamilien; 
nur ist es in diesen erst einem geübteren Blick erkennbar. Dem chacha, 
cheche entsprechen mongolisch: acha, türk. agha Oheim und älterer Bruder, 
mongolisch eke (für eche) Weib, Mutter. Im Finnischen ist ukko Greis, 
Ehemann, und akka Greisin, Ehefrau. An ama schliefst sich das aba, abai, 


(') Am häufigsten finden sich stärkere Formen im Dialekte der Tschuwaschen. S. 
weiter unten. 


(°) Daher auch amcha Schwiegervater und emche Schwiegermutter, ersteres für ama- 
cha = mongol. abagha, letzteres für emeche = mongol. emeke Grolsmutter. Andere Ab- 
leitungen sind ami-/a männlicher Vogel, und emi-Ze weiblicher Vogel. 


326 Scuorr über das Altai'sche 


abu Vater und abagha Oheim der Mongolen; eme aber heifst bei Letzteren 
Weib überhaupt. Hierher gehört auch türk. „} am weibliches Glied. Da- 
gegen ist das türkische »! ebe Grofsmutter und Hebamme offenbar die ge- 
schwächte Form des mongolischen aba Vater, wofür die Türken baba sagen. 
Die Wurzel wasi hinabsteigen erblicken wir in dem türk. & as-Z Untertheil; 
wesi hinansteigen aber in ww! üs-t Obertheil. Wegen der consonantischen 
Veränderungen verweise ich auf die Wiederkehr solcher Wörter an passender 
Stelle. — Dämpfung oder Schwächung des Vocals drückt übrigens im Tür- 
kischen auch selbstständig Gegensätze aus, z.B. ol werden, aber öl verge- 
hen, sterben ('); kal bleiben, aber kel oder gel kommen. 

In Wörtern der Mandsusprache wechselt imit a, ü, ü, und o, zu- 
weilen u mit d&. Beispiele: aibitsi und aibatsi woher? ifi und ufi nähen; 
imiacha und umiacha Gewürm; dachi und dachü wiederholen; dalchükan 
und dalükan klebrig, zudringlich. — Das Mongolische ist reicher an Vari- 
anten. Hier wechselt i mit a, o (u), ü; a mit o (u); e häufig mitü, und 
zuweilen mit 0; u. am Ende mit ai; ü mit o. Beispiele: machan und michan 
Fleisch; chorighan und choraghan Lamm; utsira, utsara begegnen; schir 
und schar Ochse; schirkire und scharkira reissenden Gliederschmerz em- 
pfinden (?). Die Verbindung agha wird gern ja und ege, ije: dsajaghan 
und dsijaghan Schicksal; büligen und bülijen warm. — udughan und 
idughan Zauberei; choso und kiso abschaben; nighon und noghon Knabe; 
nicho und nocho kneten, zerreiben; dsoghos und dsogis schluchzen. — bidü- 
gün und büdügün dick, grob; elintsek und elüntse (mit ebüge) Urgrofsvater; 
nidü und nüdü stossen, stampfen (?). — üdtschi und ebtschi schinden; seike 
und süike Ohrgehänge; tümüsün und temesün Feldfrüchte. — obor und 
über selbst, eigen. — choral und chorol Versammlung; omak und omok 
Stolz; nojan und nojon Herr; choina und choino nachher; aba-Ida und 
abu-Ida ringen; kilai und kilui seitwärts blicken, taghos und toghos Pfau; 
tarni und torni sich verschönern; kiru-chu und kira-chai scharfsichtig. 


(') Im Mongolischen und Finnischen lautet erstere Wurzel ebenfalls 02 (bei den Ma- 
gyaren vol); aber letztere ist bei jenen ala, bei diesen kuol (magyarisch Aal) geworden. 
Dagegen heifst ö2 im Magyarischen, a/a im Mongol. tödten. 


2) Fine Versetzung der Vocale ist wohl in Akıler = chalir schielend anzunehmen. 
5 


(°) Versetzung der Vocale: glü-ger und güli-ger glatt, glänzend. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 327 


Von den bekannten Turksprachen ist die tschuwaschische diejenige, 
welche mit Selbstlautern am rücksichtslosesten verfährt. — Ihr a steht für 
e, i, ü(t): an hinabsteigen (en); ala Hand (el); bala mit (bile); bar geben 
(bir, wer), ka abgehen (kit, git). — i und y findet man für a, e, o, u: simis 
Baumfrucht (jemisch); jieys Baum (jyghads, aghads);, ywyl Sohn (oghul); 
simarda Ei (jumurta)(?), sywa gesund (sagh, sau). — o undu für a: pos 
Kopf (basch); toban flache Hand (Zaban Sohle); ut Pferd (at). Das ö der 
übrigen Türken wird bei den Tschuwaschen gern in aw aufgelöst. 

Wegfallen kann der Vocal im Mands’uischen nur, wenn zwei Wörter, 
deren erstes auf einen Vocal auslautet und das andere mit einem solchen an- 
lautet, zu einem zusammengesetzten Worte sich vereinigen. Beispiele: Säug- 
amme heifst meme enie (wörtlich Brustmutter), und memenie, der Mann der- 
selben, meme ama (Brustvater) und memema. Hintere Gegend (Norden) 
sollte ama ergi heifsen, man sagt aber nur amargi. Im ersten Compositum 
ist also eines der beiden e, im anderen das a, und im dritten das e ausgewor- 
fen; denn die Sprache duldet kein e+a oder a-+e, auch keine Wiederholung 
desselben Vocales (00 ausgenommen). Da nun Assimilation und Zusam- 
menziehung ihr fremd sind, so wird jedes Mal der zweite der beiden Vocale 
preifsgegeben (°). 

Im Mongolischen finden wir zuweilen, ob anscheinend unnöthiger 
Ausstofsung eines Vocals in der Mitte die Wortform verkürzt und verhärtet, 
z.B. cholgi statt chologo Ohrenschmalz; nighorsun statt noghorasun Rük- 
kenmark; changchu (für chanchu) neben chanuchu befriedigt sein; songchu 
(für sonchu) neben sonochu sich strecken. Selbst das Wegfallen anlauten- 
der Vocale ist nicht ohne Beispiel: ınan findet Zsüken wenig, ütsüken klein. — 


(') Was ich in Parenthese setze, ist die gewöhnliche türkische Wortform. — We- 
gen der veränderten Mitlauter mufs ich auf andere Abschnitte verweisen. 

(?) Bei den Jakuten symyt. Überhaupt treten im Jakutischen das dumpfe und das 
helle i gern an die Stelle von a: y/ nehmen (a2); yt werfen, schielsen (at); yi Mond (ai); 
si! Speichel (ja2); sidirdach Blatt (japrak). 

(°) Die anderen tungusischen Sprachen haben, wie ich schon angedeutet, ein viel 
reicheres vocalisches und consonantisches Leben, und manches mands’uische Wort ist als 
eine von früheren Lautrevolutionen übriggebliebene Schlacke zu betrachten. Man ver- 
gleiche z. B. schun die Sonne, mit dem tungus. schiggun oder schiwun; duin vier, mit 
disgin, dygin, dügün. Selbst die, sonst in dem ganzen finnisch -tatarischen Sprachenge- 
schlecht heimischen Vocale ö und ü sind für die Mands’usprache verloren. 


328 Scnuorr über das Altai’sche 


Wenn im Mongolischen ein Kehllaut zwischen zwei Vocalen ausfällt, und 
die beiden Vocale sind identisch, so schreibt man im Ostmongolischen 
ausnahmsweise, im Westmongolischen (Kalmykischen) aber ohne Ausnahme 
nur einen Vocal, der alsdann etwas gedehnt wird. Ich begnüge mich mit 
den wenigen Beispielen aus ersterem Dialekte, die das Wörterbuch enthält: 
jagha-kin und ja-kin (was thuend?) auf welche Weise? baraghalcha und 
baralcha Audienz haben; dsegerte und dserte (morin), vothes Pferd; bigir 
und dir Pinsel. In südam für sigidam Stock, sind die beiden Vocale ge- 
blieben, und in zeire für tigire ist das erste i sogar e geworden. Sind die 
beiden Vocale verschieden, so fällt der erste entweder aus, oder assimilirt 
sich dem zweiten: daher findet man gün (für geün) neben gegün Stute; aber 
egülen Wolke wird öülen, köbegün Sohn, köwöün; (1) naghor See, noor. 
Die türkische Sprachenfamilie hat in ihren gebildetsten Mundarten 
weit mehr consonantische Endungen als alle übrigen. Während der Mandsu, 
sofern er nicht blofse Schälle und Klänge wiedergiebt, von allen Mitlautern 
nur das n als Auslaut duldet, und jede auf einen Mitlauter endende Ver- 
balwurzel, selbst wenn er n ist, durch einen Vocal mit ihren Zusätzen ver- 
bindet, duldet der Türke sogar zwei vocallose Consonanten als Auslaute (?). 
So kalk aufstehen, kork fürchten, im Infinitive kalk-mak, kork-mak; bords 
Anleihe, Schuld; bords -Iu Schuldner; bords -lan-mak Schulden machen. 
Doch scheint dabei nothwendige Bedingung, dass der erste der beiden Mit- 
lauter r oder Z sei. Auch hört man die Türken mittelst Einschiebung ei- 
nes halben, dem vorhergehenden analogen Vocales die Aussprache mildern, 
z.B. borüds für bords, kyryk vierzig, für kyrk. In manchem Worte giebt 
sich der zweite ganze Vocal als eingeschoben zu erkennen, da er immer weg- 
fällt, wenn der grammatische Zusatz mit einem Vocale anfängt. So sagt 


(‘) Im Mongolischen assimiliren sich e und i einem folgenden ü auch wenn der da- 
zwischen stehende Consonant nicht Guttural ist und bleiben mufs. So schreibt und 
spricht der Kalmyk ömüskü, förüken, schüdün, für emüskü (anziehen, von Kleidern), dsi- 
rüken (Herz), schidun (Zahn). Vgl. S. 326. 

(?2) Das Mongolische widerstrebt immer zwei Consonanten am Schlufs einer Silbe 
und eines Wortes; und überhaupt kommen nur n, ng, k, m, I, r, d, s, als Auslaute ganzer 
Wörter vor, niemals sch, isch, ds, was doch bei den Türken so gewöhnlich. In der Mitte 
der Wörter dürfen aber, wenn zu zwei Silben gehörend, selbst % und c} zusammen sto- 
fsen, z.B. asak-chu fragen. Dies ist den Türken fremd. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 329 


man oghul Sohn, oghul-dan vom Sohne; aber oghlun des Sohnes, oghlu 
sein Sohn, u.s.w. Im Tschuwaschischen finden wir einzelne noch härtere 
Häufungen als die Turksprachen sonst zu gestatten pflegen, z.B. schochsch 
mens, cogitatio, schochschlas gedacht werden; im Ganzen aber neigt sich 
diese Sprache mehr zur Milderung der Endungen, vor Allem durch über- 
hangende Vocale, z.B. uga Pfeil (0%), jida Hund (it), sywa gesund (sagh), 
wonna zehn (on), wisse drei (ütsch), dwatta vier (dört), ja sie wirft ein 
schliessendes.k gern ab, um das Wort mit einem Vocal auslauten zu lassen. 

Zur Assimilation der Vocale giebt sich das Türkische nicht so gern 
her, wie die mongolischen Dialekte; und Zusammenziehung von Vocalen ist 
gar nicht gestattet(!). Das merkwürdigste Beispiel ersterer Art zeigen uns die 
Vocale o und v in den persönlichen Deutwörtern o jener, er, bu dieser, 
schu jener dort, wenn sie, mit ile (der Instrumentalpartikel) vereinigt, Um- 
standswörter in der Bedeutung auf diese oder jene Weise, so, solcher- 
gestalt, bilden. Den sonstigen Gesetzen des Einklanges der Selbstlauter 
gemäss müsste das 7 von le, als der schwächere Vocal, dem vorangehenden 
stärkeren sich anbequemend, entweder u oder wenigstens dumpfes y wer- 
den. Allein es erfolgt das Umgekehrte: die starken Vocale o und u schwä- 
chen sich, dem zu Gefallen, und werden üö oder gewöhnlicher ö, man sagt 
öile und böile, schöile (büile, schüile),. — Ein Kehllaut (gh, g) zwischen 
zwei Vocalen geht entweder verloren, oder wird sehr erweicht; allein die 
Vocale selbst bleiben unverändert, und Keiner von Beiden fällt aus, selbst 
wenn sie identisch sind. So hört man im gemeinen Leben das Wort jigirmi 
zwanzig, jäörmi sprechen; g ist unhörbar geworden, aber die beiden i ste- 
hen unberührt, und sind nach einander deutlich vernehmbar. Für oghul 
Sohn sagt man im gemeinen Leben oul, und für aghyf Mund, ayf, auf, 
oder lieber ou/; dem Doppellaut au wird nämlich gern ausgewichen, es 
sei denn, dass u die Stelle eines gAh verträte, wie z. B. in sau für sagh ge- 
sund, Zau für tagh Berg, aury für aghry schwer (?). 


(') In meiner Abhandlung De Lingua Tschuwaschorum (Berlin 1842), S.9, habe ich 
gewils mit Unrecht angenommen, dieses Volk besitze in seinem aw, wenn es dem son- 
stigen türkischen ö entspricht, die primitive Form. Es ist eine blofse Auflösung des ö. 
S. weiter unten. 

() Eben so kommt in Mundarten des Finnischen statt eines (in der Mitte) die Silbe 
schliefsenden A (ch) oder % der Vocal u zu stehen. Beispiele: aura neben ahra Pflug; 


Philos. - histor. Kl. 1847. Tt 


330 Scnorr über das Altai’sche 


In den Sprachen der Ostsee-Finnen waltet das üppigste vocalische 
Leben. Diese sind, wenn man alle Mundarten zusammenfasst, mit den 
mannigfachsten Diphthonggen reicher ausgestattet, als wohl überhaupt eine 
Sprache unserer Erde; und wenn ja eine Vocalverbindung in der einen Mund- 
art unverträglich ist, so gestattet sie wenigstens eine andere. Mitlauter die 
zwischen zwei einander gleichen Vocalen aus Gründen des lautlichen Gleich- 
gewichtes ausgefallen sind, können die Nachwirkung haben, dafs man beide 
Selbstlauter getrennt spricht, wie wir oben in dem türkischen jiirmi für jügirmi 
gesehen haben; gewöhnlich aber werden sie zu einem langen Vocale ver- 
einigt (1). Ausserdem besitzt die finnische Sprache von Natur lange Vocale, 
jedoch, wie Euren bemerkt, nur in der Wurzelsilbe (?); in den folgenden 
Silben verdanken sie alle einer Zusammenziehung ihr Dasein. Gewisse Mund- 
arten lösen selbst von Natur lange Vocale in Diphthonggen auf. Wenn ob 
Wegfallens eines Consonanten drei Vocale zusammentreffen sollten, giebt man 
gern, des Wohllauts wegen, den Ersten Preifs, oder umgeht den Triphthong- 
gen auf andere Weise. Inmitten der Wörter können auch einzelne Vocale 
dialektisch ausgeworfen werden, z.B. waska für wasikka Kalb; ruska für ru- 
sikka Faust. Vocalische Endungen sind besonders in der Suomi- Sprache 
überwiegend, und zeigt sie in diesem Punkte mehr Empfindlichkeit als die 
Mongolische, wenn auch lange nicht so viel wie die Mandsuische. Ich bleibe 
bei diesen kurzen Andeutungen stehen, da das Lautsystem der Östsee-Finnen 
von mehreren einheimischen Gelehrten meisterhaft entwickelt worden ist. 

Die magyarische Sprache zeigt uns in Ansehung der Vocale weit eher 
eine gewisse Erstarrung. Sie hasst die Doppellaute, wie Kellgren sehr rich- 
tig sagt; nur kann ich in seine fernere Bemerkung, dafs sie lange Vocale 
weniger liebe, als die finnische, nicht einstimmen (?). Dem Zusammenstofs 


taula neben zakla Zunder; paula neben pakla Schnur u.s.w. Der zweite Consonant scheint 
in solchem Falle Z2 oder r sein zu müssen. 

(') Der lange Vocal wird im Finnischen immer durch Verdoppelung ausgedrückt, im 
Magyarischen durch das scharfe Tonzeichen: so ist puut = püt, fak = fük. Da beide 
Sprachen mit unseren Buchstaben geschrieben werden, so habe ich auch ihre Orthographie 
beibehalten müssen. 

(?) Lärobok i Finska Spräket, S.5: „En lang vokal eller diftong kan icke ursprung- 
ligen förekomma längre fram i ordet än dess första stafvelse. Der annorlunda skulle 
synas, har man alt söka grunden i sammandragning af tvenne enkla vocaler.”” 


(°) S. dessen Grundzüge der finnischen Sprache, S. 8. Ich möchte vielmehr wissen, 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 831 


dreier Consonanten wird durch eingeschobene Vocale ausgewichen, z.B. 
‚Forogni für forgni sich umdrehen, und umgekehrt verschwindet ein kurzer 
Vocal der zweiten geschlossenen Silbe in gewissen Nennwörtern vor gramma- 
tischen Zusätzen die mit Vocalen anfangen, z.B. torok Kehle, Objectsfall 
torkot, Mehrzahl torkok. Ein Theil der langen Vocale ist nachweislich 
aus Diphthonggen entstanden, oder vielmehr aus einem kurzen Vocal und 
einem Halbvocale; denn sobald noch ein Selbstlauter hinzutritt, lösen sie 
sich wieder in ihre Elemente auf, z. B. fo Kopf, aber fej-em mein Kopf; 
ho Monat, aber har-i monatlich; Io Pferd, lov-ak Pferde; jo kommen, 
jöv-ök ich komme (!). Auslautende kurze Selbstlauter, mögen sie nun wur- 
zelhaft sein oder nicht, werden durch Bildungszusätze lang; dagegen ver- 
kürzen sich die langen Vocale der letzten geschlossenen Silbe einiger Wörter 
unter gleichen Bedingungen: Zerel Blatt hat in der Mehrzahl levelek, während 
das schon kurze zweite e in lelek Seele (vgl. torok) ganz weichen muss (Mehr- 
zahl lelkek). 

Die türkische Sprache widersteht langen Vocalen in solchem Grade, 
dafs der Osmane im gemeinen Leben sogar die Längen in Wörtern jeder an- 
deren Sprache, selbst das Arabische nicht ausgenommen, verkürzt. Eine 
gewisse Dehnung bemerke ich nur, wenn ein gA am Ende eines Wortes in u 
zerfliesst; sie ist hier als Nachwirkung des Mitlauters zu betrachten. Unter 
den tungusischen Stämmen haben, so scheint es, nur die Mandsus einen 
langen Selbstlauter; es ist derjenige, den man bis jetzt bald 6, bald & ge- 
schrieben. In dem Verzeichnisse aller möglichen Silben dieser Sprache, 
welches dem grofsen Wörterbuche Nonggime toktobucha Mandsu -i Gisun-i 


welches Idiom unserer Erde den langen Vocal noch mehr lieben sollte, als eben die magya- 
rische Sprache, in der das längste Wort alle seine Selbstlauter lang haben kann, was im 
Finnischen unmöglich. Nichts verletzt das Ohr eines Magyaren mehr, als wenn der Aus- 
länder eine Länge dieser Sprache aus Bequemlichkeit verkürzt, auch wenn die Bedeutung 
dadurch nicht eine andere wird. Fällt manche Dehnung des Finnischen in einem ent- 
sprechenden ungarischen Worte hinweg, so.ist es auch oft gerade umgekehrt; und ausser- 
dem besitzen die Ungarn ihre ganz selbstständigen Regeln der Dehnung, welche dem 
langen Vocale Thor und Thür öffnen. 


(') Obschon die Tschuwaschen statt des ö der übrigen Türken aw oder wa haben, 
z.B. awd = öt singen, awang = öng oder ön Vordertheil, kwak = gök himmelblau: so 


muls man dergleichen Formen doch nicht für primitiv halten; denn in keiner verwandten 
Sprache haben die entsprechenden Wörter andere als einfache Vocale. 


10 


332 Scuortr über das Altai’sche 


Buleku Bitche (Vermehrtes und verbessertes Spiegelbuch der Mands’uspra- 
che) vorangeht, wird dieser Vocal mit o bezeichnet; im Wörterbuche selbst 
aber vertritt ihn bei jeder chinesischen Umschreibung erklärter Wörter, in 


denen er vorkommt, das Zeichen Am dessen Aussprache &, also ein rei- 


nes langes w ist ('). Vielleicht hält er die Mitte zwischen beiden Vocalen, 
wie gewöhnlich das o der Schweden. Man findet diesen Laut sowohl in 
Wurzeln als in Bildungszusätzen. 


* * 
* 


Es giebt eine Anzahl Kernwörter, die, wenn sie auch in allen Fami- 
lien und in den vornehmsten Sprachen des grofsen Geschlechtes wiederkeh- 
ren, immer nur mit einem Vocale anlauten. Aber schon in einer und derselben 
Familie, ja in einer und derselben Sprache finden wir auch, dafs ein betref- 
fendes Wort bald einen Vocal, bald einen Consonanten vor dem Vocale zum 
Anlaut hat; und diese Erscheinung wiederholt sich noch öfter, wenn wir 
Wurzeln verschiedener Familien mit einander vergleichen. In Dialekten des 
Tungusischen begegnen uns guio und Auta neben uzu Sohn; kularin und 
cholarin neben ularin roth; chukito und ukyt Bauch; chalgan, halgar und 
algan Fuls; higgin, sugi und ui Sturm; nongokon und unukan, onkan Fül- 
len; tauschakki und uschkan Hase. Das tungusische Wort chosega Stern 
lautet bei den Mands’us usicha; ninakin Hund wird im mandsuischen inda- 
chün; nitschikon klein, adsige, emanda oder imanna Schnee, nimanggi. 
In der Mandsusprache selber haben wir ubali neben käbuli verwandeln. 
Beispiele aus dem Mongolischen: imaghan und nimaghan Ziege; iütara und 
niltara sich ablösen oder schinden (von der Haut); aidanggoi und naidanggoi 
Lüsternheit; zergen Räderwagen und ergi sich umdrehen. Aus dem Türki- 
schen: Si jefek neben «S4.} ipek Faden; „Wu jyghads neben „Li aghads 


(') Unter den heutigen Mands’us in China darf die ächte Aussprache des Mands’ui- 
schen wohl nicht mehr gesucht werden, da für sie, wie für die im eigentlichen China 
angesessenen Mongolen, schon lange das Chinesische Muttersprache geworden ist. Sie 
lernen die Sprachen ihrer Väter wie fremde Idiome: Ymo kacaemes 10 Mansuxyporn u 
Mouro.10B6 — sagt Pater Hyacinth — aueyımx& euympn Kumas, onnu Aasıo 3a6sLım 
cBoü POAHLIe A3bIEH, H HbIHb OÖyualomıca OHBIMBb Kakb HHOCHPAHHLIMG A3bIKaMmB. 


S. dessen Statistische Beschreibung Chinas, Theil 1, S. 55. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 333 


Baum; „es jughu und s&,} ughu, auch „5 kuju und 2s} uju (ss) ui sich an- 
hängen, ansetzen, gerinnen; st enek und &>tschene Kinn; „ap, 3 kap, 
ol jap und ol> tschap falsen, mit Gewalt nehmen; &,! öp und bei den Tschu- 
waschen Zschöp küfsen; sl! umak und &= sümük Knochen. Die Tschu- 
waschen sprechen jat (Name) für >) ad; jida (Hund) für wit; jut (Fleisch) 
für @! et; jiwyr schwer für 2) aghyr oder awyr. Der Halbvocal w kann als 
Anlaut gewisser türkischer Wörter stehen und wegfallen, z.B. wur und ur 
tödten; er ist bei den Tschuwaschen vorzugsweise beliebt: wot Feuer =) 
od; wul jener = Js! ul, ol; wonna zehn = .,! won, on; wisse drei = <> 
ütsch (1). Das anlautende s der meisten Türkenstämme vermifsen wir sehr 
häufig im jakutischen Dialekte: agys acht = ;& sekif; as Haar = „w satsch; 
aty Verkauf = ilo saly; emis fett = ;w semif; en du = m sen; is ihr = zw 
sif; ingir Faden = X sinir Nerv; u Wasser = yo su. Vergl. oben umak Kno- 
chen (auch bei den Jakuten ungoch) und das Hereibelleurände sümük (sün- 
gük). In der Suomisprache finden wir hieno neben eino weich, fein, hilkku 
neben ilkku leinenes Kopfzeug; iyppy-rä neben hyppy-lä und ypä-let oder 
ypy-Ikö Hügel; pölwästi neben ölwästi stupide. Maus heifst ostjakisch Zen- 
gir und magyarisch eger (für enger); säugen heifst lappisch niam und fin- 
nisch em. 

Doch finden wir auch Wörter, die sich, wie die angeführten, haupt- 
sächlich durch Abwesenheit oder Anwesenheit eines consonantischen Anlauts 
unterscheiden, ihrer Bedeutung nach mehr oder weniger verschieden, wenn 
gleich verwandt. So ist im Mongolischen arisun Haut, Fell, aber sarisun 
gegerbtes Leder — in der Mandstusprache adsige klein, aber madsige wenig; 
namu Meer, und omo See (lacus); asicha Flügel und gas'cha Vogel (?); arfa 
und murfa zwei Arten Gerste (°). 


(') Das türkische ö löst sich, wie wir schon oben gesehen, bei den Tschuwaschen in 
aw oder, wenn es nicht Anlaut, in wz auf; doch finden wir auch wa und zuweilen wi als 
Anlaut für ö, z.B. wat = Sy) öd Galle; wi! = Je} öl sterben. In verwandten Sprachen 
ist der Vocal immer einfach, z.B. mands’. ungg@ und onggo, mongol. öni Vorderseite, 
türkisch öng, ön, aber tschuwaschisch awang, was mit dem französischen avanz lächer- 
lich übereinkommt. 

(°) Ein ’ zwischen s und c% schreibe ich, wenn die beiden Mitlauter kein deutsches 
sch bilden, sondern getrennt zu sprechen sind wie das sc” der Holländer. 


(°) Bei den Türken ist &3)! arpa und bei den Mongolen erdai Gerste überhaupt. 


334 Scuorr über das Altai’sche 


Ein Theil dieser consonantischen Anlaute sind noch jetzt blofse Hau- 
che und Halbvocale; andere sind aus Hauchen oder Halbvocalen durch Er- 
härtung die entsprechenden ganzen Mitlauter geworden oder in ganze Mitlau- 
ter verwandter Art übergegangen. Der gelindeste Lippenlaut w konnte in 
f p, m sich erhärten, der gelinde Hauch A in ch, k, j, eben so in das ver- 
wandte s ('); und die einmal ausgebildeten Mitlauter waren dann wieder 
der Metamorphose unterworfen: %k quetschte sich zu isch, s plattete sich 
unter Umständen zu zZ ab. Auch j wurde leichtlich s, noch leichter ds, 
möglicher Weise d, oder das härtere z. In gewissen Fällen verdankte Jod 
wohl seine Existenz einem älteren 7 (rn), und dieses wieder die seinige ei- 
nem ng oder besser, einem weit feineren Laute, wie ihn z.B. die Araber 
in ihrem g besitzen und der auch geradezu n ward. 

Wenn in einer tatarischen Sprache bisweilen ein und dasselbe Wort 
mit m oder s anlautet, zwei Consonanten die doch unmöglich aus einander 
entstehen können, so scheint mir das Räthsel in der Entstehung des m und s 
aus Hauchen seine beste Lösung zu finden. Bei den östlichen Türken hat 
man sanglai und manglai Stirn, bei den Mandsus menteche und daneben 
senteche zahnlos. Nehmen wir an, die ältesten Formen seien respective 
anglai und enteche gewesen, so sprach etwa der eine Volkstamm vor dem 
Vocale einen schärferen, mehr der Kehle angehörenden Spiritus, der andere 
einen gelinderen, bei dessen Formung die Lippen mehr sich betheiligten. 
Wegen ihrer Zartheit und Feinheit waren beide Spiritus einander so nahe 
verwandt, dafs sie fast verwechselt werden konnten; allein mit der Zeit gin- 
gen sie, indem jeder zu einem bestimmten Organe sich hielt, ihre eignen 
Wege, und wurden, zu Mitlautern sich erhärtend, einander vollständig 
entfremdet. 

Ich will nun die von mir ausgewählten Beispiele von Wurzeln dieser 


ö 
Classe so ordnen, dafs das Einartige nach Möglichkeit bei einander steht. 


=5E. z0 
Murfa wird im Buleku Bitche (B. 28, Bl. 31) mit 2) A ising-ko, wörtlich dun- 
kelfarbiges, schwärzliches Getreide, übersetzt. 
(') Ein vermittelndes % wird man nicht entbehren können, um das anlautende s tür- 
kischer Wörter zu erklären, die im heutigen Jakutischen mit einem blofsen Vocale anfangen. 


In den Mundarten der lebensvollen Suomisprache sehen wir noch s aus % entstehen, z.B. 
himiä und simiä dämmerig, dunkel (jakut. im Dämmerung). 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 335 


Wenn, was häufig vorkommen dürfte, Wörter, die ich hier nur hinsichtlich 
ihrer Anlaute vergleiche, noch in anderer Beziehung merkwürdige Lautver- 
änderungen darbieten, so komme ich in einem anderen Abschnitte auf die- 
selben zurück, und betrachte sie dann nur von dieser Seite. 

Das einfache % fehlt ursprünglich, wie den Mandsus und Mongolen, 
so auch den Türken, oder es ist bei diesen Völkern schon längst, bald ein 
rauhes und starkes ch, bald (vergl. oben) ein s geworden. Die Sprache der 
Östsee-Finnen zeigt uns manche mit Ah, k anlautende Wurzel, die in anderen 
Idiomen des Geschlechtes den Halbvocal j, # oder einen blossen Selbstlauter 
zum Anlaut hat, aber auch umgekehrt. Beispiele: 

Finnisch huja Fassungsvermögen, Intelligenz, verw. mit aju Hirn, 
Verstand, und begreifen, einsehen; aiwo Schlafbein, Gehirn (aiwoinen mies 
weiser Mann)(!). — Mongol. 0ojo-n Geist, oi-la sich merken (?). — Ost- 
türkisch (s»! ui Gedanke, wi-la denken; jakut. öi Verstand. 

Finnisch Aawa erwachen. — Türk. ‚u wja-r und „‚u} uja-n das- 
selbe. Heifst eigentlich zum Bewusstsein kommen, und ist also gewifs von 
dem vorigen abgeleitet, daher die Wurzel im Türkischen nur um das bei- 
gegebene a abweicht; denn r und n sind Zusätze, von denen ersterer ein 
Werden, letzterer eine Rückwirkung andeutet. 

Finn. halja warm, lappisch uljo Wärme. — Türk. je und Li il. 

Finn. haisu Geruch. — Osttürkisch u} is Dunst, Geruch (guter und 
schlechter), Hauch, Geist, Verstand; ;»je/Gestank. Osmanisch vos! us Geist 
und (»' es wehen (?). Tschuwasch. us und a/, Verstand. — Magyarisch &sz. 

Finnisch Aymy lächeln. — Osttürk. \.x. jemi (*).— Mongol. inije 
lachen. Tungusisch inja, ine, insi, indse, intschi. — Magyar. nevet lachen, 
für inwet, injet. 


(') Lapp. ist diwe geradezu Kopf. 
(*2) Damit stimmt unter den finnischen Formen die mordwinische oi-me Geist. 


(°) Da das osttürkische is, wie wir gesehen, neben dem Göttlichen in uns, dem 
Geiste, auch etwas so materielles wie einen schlechten Geruch bedeuten kann, so trage 
ich kein Bedenken, das osmanische ao) usu-r pedere auf die Wurzel s zurückzufüh- 
ren, welche gewiss ehemals alle Bedeutungen von is in sich vereinigt hat. 


(*) Koreanisch örn lachen. 


336 Scuorr über das Altai'sche 


Finn. hämy und himu Dämmerung, himi Dunkelheit; Aämä dunkel 
machen. An him schliefst sich das jakutische im Abendröthe (finnisch hä- 
märä, ehstnisch ämmarik); an häm aber das mandsuischejam-dsi Abend (!). 

Finn. häet fortstossen, fortjagen. — Mongol. it-cha. — Türk. ws} 
it, z.B. in id-il gestofsen werden. 

Finn. kukka zu Grunde richten, Aukku zu Grunde gehen. — Man- 
dsuisch guku vertilgt werden, sterben. — Im Mongolischen unterscheidet 
man zwischen üök verderben und ükü sterben, indem das erstere ohne über- 
hängenden Vocal bleibt. — Dieselbe Wurzel erkenne ich ferner in dem tür- 
kischen (342 jyk zerstören, jyk-yl zerstört werden. — Das lappische jawka 
verlieren hat die nächste Lautverwandtschaft mit dem türkischen 3, jok 
nicht-sein, nicht, nein, welches überhaupt, im Vereine mit dem gleichbe- 
deutenden mongolischen ügej und mandsuischen akü, den angeführten Wur- 
zeln des Verderbens, Zerstörens, Sterbens sehr passend sich anreiht(?). Die 
östlichen Türken gebrauchen zudem ihr Nö, jok-Za im Sinne von zu Grunde 
gehen. Auch umschreiben der Mongole und der Mandsu den Begriff ster- 
ben gern mit ügej bolchu, akü ome d.i. zu Nichts werden (°). 

Finn. hawi nachhaschen, eilig nachstreben, ist vielleicht das mongo- 
lische awa Treibjagd, awa-la Treibjagd halten, türk. „) aw, Ss) aw-la. 
Das türkische iwet eilen wird besser mit jouz (s.w.u.) zusammengebracht. 

Finn. hiukse (hius) Kopfhaar. Eine Vergleichung dieses Wortes mit 
dem mongolischen üsü wird mir noch hingehen; aber gegen das türkische 
ir satsch dürfte wohl mancher sich empören. Doch finden wir schon im 
Dialekte der Jakuten as, und ein Übergang dieser Form in satsch war ohne 
Vermittelung eines Hauches nicht denkbar; es muss also has existirt haben. 
Die Tschuwaschen sagen süs, und sonach wär’ es gar nicht auffallend, wenn 
in irgend einem anderen türkischen Dialekte üs oder hüs sich fände. Die 


(‘) Japanisch jarni dunkel. Auch das gleichbedeutende chinesische Wort > in lautet 


in Dialekten im und jam. 

(2) Es kann niemand entgehen, dass jok dem türk. jyk befreundeter ist, und ügej 
dem mongol. ük, ükü. 

(°) Mongol. mükü und mands’uisch mukie zerstört, vernichtet, besiegt sein, gehö- 
ren wohl auch hierher; das m ist aber natürlich aus einem anderen Spiritus entstanden. 
Vergl. was ich oben zu menieche und senteche bemerkt habe. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 337 


Verwandtschaft mit dem finnischen Worte unterliegt also kaum noch einem 
Zweifel. Das magyarische haj kommt dem nothwendig angenommenen türk. 
has zunächst; denn j und s gehen in einander über. 

Finn. Aöiri Maus. Die Verwandtschaft dieses Wortes mit dem magy- 
arischen eger wird durch Vergleichung mit den entsprechenden tungusischen 
und mongolischen Wörtern am besten sich ergeben. Im Mandsuischen haben 
wir singgeri, an welche Form zunächst die Lappische, snjera (für sinjera, 
singgera) sich anschliefst. Das schon bei den Lappen zu nj erweichte ng 
hat in der Suomisprache nur noch in der Verlängerung des Vocales (ii für i) 
eine Spur hinterlassen und s ist 7 geworden (!). Dagegen behauptet sich der 
Sauselaut wieder in dem türkischen „L=w sitschan, das offenbar für sir- 
ischan steht, und dessen Endung mit dem Zscha des lappischen Verkleine- 
rungswortes snjera-tscha Mäuschen zu vergleichen ist (?). Die Türken ha- 
ben sich also hier die kühnste Verstümmelung erlaubt, eben so in dem ost- 
türkischen „3! ir-lan Ratte, wo s weggefallen und nur r bewahrt ist; ir 
steht für ingir, inir, igir, und bietet also dem magyarischen eger die Hand, 
welches zunächst aus enger, henger entstanden sein mag. 

Finn. härkä Ochse. Das Ah dieses Wortes ist nur noch in dem tun- 
gusischen hAukur zu finden, welches aber auch kukur, ukur und örgö (für 
ögör) lautet. Die Türken haben eine stärkere Form ; s&,i oghuf (für oghur) 
und eine schwächere ;,i öküf (für ökür). Bei den Magyaren ist ökör der 
Ochse, bei den Mongolen üker das Rindvieh überhaupt. Man sieht dass 
nur die Türken dem ursprünglichen schliefsenden 7 ihr beliebtes / substituirt 
haben und dass dieses 7 nur bei den Finnen und in einem tungusischen 
Dialekte vor X steht. 

Finn. kala Fisch. Dieses Wort behält seinen gutturalen Anlaut in 
näher verwandten Sprachen, z.B. magyarisch hal, ostjakisch chul, mord- 
winisch kalt; ferner in dem zusammengesetzten mongolischen und osttürki- 
schen Namen des Fischadlers, chalu mergen und „+ Jö kalmergen, dessen 


(‘) Für Züri könnte eine finnische Mundart sehr wohl süiri besitzen; vergl. kimiä und 
simiä dämmerig, dunkel. 

(?) Die Tschuwaschen haben schisi Maus und serfi Fledermaus. Im letzteren Worte 
könnte ser eine Ausbeinung von singgeri sein, wie sir in sir-tschan = si-tschan; denn 
mit einer Wurzel des Fliegens oder Flatterns hat dieses Wort nichts zu thun. 


Philos. histor. Kl. 1847. Uu 


338 Scuorr über das Altai'sche 


erstes Wort mir Fisch zu bedeuten scheint (1). Ohne Anlaut finden wir das 
Wort noch bei den Tungusen (aufser den Mandsus) wieder, wo es aldo, 
olda, olla, auch wohl alla lautet. Hier sehen wir ein d hinter /, das sich 
letzterem auch assimilirt, und welches unter den finnischen Völkern noch 
bei den Mordwinen in der Form kalt sich erhalten hat. Die Bedeutung ist 
wohl glatt, dessen Wurzel im Mongolischen chal und in der Suomisprache 
kalja lautet. 

Finn. kartu anwachsen, sich mehren. — Türk. Pl art-yr dasselbe; 
(5) art-yk darüber hinaus, mehr, im Übrigen. — Mongol. ghadana hin- 
aus, aufserdem, ausser, steht offenbar für gkardana, und ist unmittelbar 
von gharda übertroffen werden, zurückbleiben, dem wieder ghar hinaus- 
gehen, übertreffen, den Vorsprung abgewinnen zum Grunde liegt. | 

Finn. kolka heftig schlagen; Schrecken einjagen. — Mongol. cholcho- 
ldsa durch Schrecken des Verstandes berauben. — Türk. 5, #3 kork fürch- 
ten und daneben 8,,) örk erschrecken. — Mands. olcho fürchten, wozu 
sich örk nur wie eine geschwächte Form verhält; daneben aber auch golo 
und gele, näher bei kork. — Am meisten erweicht ist das mongolische uuli 
sich fürchten, erschrecken, zagen. — Vergl. weiter unten ein sehr ähnliches 
Verhältniss von choorai, koru und olchon trocken. 

Finnisch kope hochmüthig sein. Ehstnisch kobro aufwallen, schäu- 
men. — Türk. „is 5 kob-schu aufgeblasen, ‚5 köbür anschwellen, SS 
köp-ük Schaum (?); ‚u5 kabar Blasen bilden, aufsieden, „,u3 kabary Schwie- 
le. — Mongol. chaba-ngga Hautgeschwulst. — Lappisch köppal, kappal 
u.s. w. Blase, Blatter (?). — Ohne den gutturalen Anlaut zeigt sich uns nur 
obo in dem mandsuischen Worte obo-nggi Schaum. 

Finnisch koho Anschwellung, aufgeblähter Zustand, Schaum, und 
als Verbalwurzel schwellen, sprudeln, schäumen; kuh-lo und kuh-mo Ge- 
schwulst, Beule; kiuah-mi Schaum; köykkä kleiner Hügel, Anschwellung 


(') Das Ganze bedeutet dann Fischjäger, da mergen von guten Schützen ge- 
sagt wird. 

(?) Wahrscheinlich ist auch das türkische = „5 köpri, köprü Brücke hierher zu zie- 
hen. Vergl. die folgende Wurzel. — Aus dem Mongolischen kann man auch ghordi An- 
höhe vergleichen. 

(°) Das mongolische Wort chadar Nase kommt mit kabar u. s. w. gewiss nicht blols 
zufällig überein. — Vgl. noch mongol. chabud schwellen, chadudar Geschwulst. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 339 


des Bodens. — Ferner gehören hierher: koko Gröfse, Statur, kokas-tella 
das Haupt erheben u.s.w. Magyarisch gögös hoffährtig. Aus der mongo- 
lischen Sprache erwähne ich: küke anschwellen, sich heben; kükün weibli- 
che Brüste; küke-sün Schaum; küker-ge Blasebalg (von seinem Anschwel- 
len), kük -tü- gür Hochland; kükür -ge Brücke (vergl. das türkische kö- 
prü), u.s.w. — In der Mandsusprache haben wir kuche dick und fett 
(geschwollen); guk-de-chun Anhöhe, kuk-duri Lobpreisung, Schmeichelei 
(Hochmachung); in ihren tungusischen Schwestern aber guk-da, gog-da, 
guu-dan, gu-dan hoch, und hok-dinga, hag-dinga grols; daneben auch, 
ohne den consonantischen Anlaut und mit verschiedenen Vocalen: ok-di, 
ög-dson, eg-dsan. — In den Turksprachen beginnt die Wurzel mit k, j 
oder blofsem Vocale. Beispiele: 5 kökü-f oder göjü/ Brust überhaupt 
(von ihrer Erhöhung); kügen Schaum (im Jakutischen); jok und jük in 
> joka-ry Obertheil, »,&,2 jokar-da oben; > jok-usch Hügel; us 
jük-sek hoch. Zu den verweichlichten Formen ög, eg, jük der Tungusen 
und Türken steuert auch das Mongolische in öke-de aufwärts, jeke grofs (jeker- 
ge stolz, eingebildet sein); und endlich besitzen auch die Türken ihr ög, 
aber nur in figürlicher Bedeutung: es heifst rühmen (grofs machen), und 
die rückwirkende Form ., 5»! ögün sich selbst rühmen, prahlen (!). Diesem 
entspricht wieder das finnische öyhkä. 

Finn. kopio, kope-ra, kowe-ra, auch komo leer, hohl. — Finnisch und 
türkisch 1,5 koda Höhle, womit das mongolische ghaba Grube zu verglei- 
chen. Dieselbe Wurzel hat den Vocal y in &3 und seiner Verkleinerungs- 
form sl=43 kyp-tschak, deren Anlaut nach Abulghasi auch gequetscht 
wird (?).— An das finnische komo reihen sich die mandsuischen Formen 


— 

(') Zu diesem Artikel vergleiche man noch das chinesische — kao hoch. — Ver- 
wandt in Form und Bedeutung sind auch finnisch-tatarische Formen die p und m zu An- 
lauten haben. — Zu dem türk. U&sÖs2 gehört finnisch jukko Rasenhügel. 

(?) Er sagt an derj. Stelle wo vom Ursprunge des Namens Kyptschak die Rede ist 
(S. 13 der Kas. Ausg.): ‚3,> ges A et SS 
San en 2 us > 13 > ge .o.... ® ISCH B .eor] 000. 3» Se) 
u) ger BORN & Sa ai BLIPSSN) > d.i. In der alten türkischen 
Sprache hiels ein Baum dessen Inneres hohl ist, Ayptschak .... heutzutage sagt man 
auch zschiptschak .... das gemeine Volk liest nämlich wegen der Unbeholfenheit seiner 


Uu2 


340 Scuorr über das Altaische 


kum-du und un-tu-chun (für umtu-chun), von denen also die zweite ohne 
consonantischen Anlaut erscheint (!). Mong. kün-tej hohl, Höhle. 

Auch hier giebt es eine Nebenwurzel auf einen Kehllaut statt des Lip- 
penlautes, die vorzugsweise bei den nicht-finnischen Völkern des Altai zu 
Hause ist. Mongolisch chogho-sun, türk. us kogh-uk, :» 5 kow-uk, 
5239 koghuf und U kow-usch hohl; denn gh geht in der Mitte gern in 
w über, nicht so 5. Im Mandsuischen finden wir mit blofsem Selbstlauter 
als Anlaut ucht aushöhlen, ausleeren. Vereinzelt steht das finnische ukura 
Grube neben dem türkischen 5> ischukur. 

Finnisch kuol sterben, in abgeleiteten Wörtern auch kal (?); magy- 
arisch hol (in hol-t gestorben), sonst aber hal. Im Östjakischen ist wöl und 
im Magyarischen öl tödten; diesem kommt das türkische öl sterben gleich, 
während das mongolische ala tödten wieder an hal und kal zunächst erinnert. 
Hinsichtlich des Austausches der Bedeutungen vergleiche man z.B. das per- 
sische 2» morden welches sterben, und das gleichlautende deutsche mor- 
den, welches tödten bedeutet. 

Finnisch kilu, kültä glänzen, schimmern, und ihre Ableitungen. Im 
Mongolischen gil (gib) z.B. gilbe, leuchten, gilba-gha Glanz, Schein; 


güu-ghan Feuerkugel; gil-üng zunächst glänzend, glatt, dann kahl, ohne 


Zunge s k wie z isch und spricht daher ischiptschak was kyptschak ist. — Im Dsihän- 
numä (S. 370) steht ausdrücklich, das fragliche Wort sei ein pa d. ı. Diminutivum 
von ‚äu 

(') Im Finnischen hat man für hohl auch konke-lo, dessen Wurzel dem chinesischen 
k’ung entspricht. 

(2) Vergl. kal-ma Leiche und Leichengeruch; kal-met leichenblals; ka/-mannos in- 
fans posthumus. Lönnrot möchte in seiner Vorrede zum Epos Kalewala auch dem mythi- 
schen Namen KÄalewa diese Wurzel unterlegen. Seine Worte (auf S. XI.) sind: Muuten 
luulisin nimityksen Kalewa ıierkitsewän jotai hirwiätä, surmaawaista, ollen yhtä rotua kun 
sanat kalpa, kalma, kallo, kalu (ensis), kuolen. D.i. Übrigens will mir bedünken, dafs die 
3enennung K. irgend etwas Schreckbares, Todtbringendes bedeute und mit den Wörtern 
kalpa (Schabmesser), kalma (s. oben), kallo (Schädel), kalu (sofern es Schwert bedeutet), 
kuolen (ich sterbe) gleiche Wurzel habe. — Was kallo betrifft, so ist dies wohl eher auf 
eine Wurzel für glatt (s. oben unter kala) zurückzuführen, und ka/pa kommt gewils von 
kalp oder kalu schaben (vgl. scalp). Kalu Schwert mag von seinem Glanze genannt sein, 
wie das türkische Akylyds. Wenn endlich der Name Kalewa von einer Wurzel sterben her- 
käme, so würde er dasselbe ausdrücken was kuolewa, einer der stirbt oder sterben wird, 
nicht ein Wesen das den Tod bringt. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 341 


Haare, wie das chinesische JE kuang die Bedeutungen Glanz und Kahlheit, 


Nacktheit vereinigt. Nebenform ist ger (gerb) in gere Aurora, gerel Licht- 
schein; gereb-tschi Licht, Kerze. — Im Mandsuischen hat man gilta und 
güta-ri blendender Glanz, wovon giltar-scha blenden; giltu-kan glänzend, 
anmuthig, auch gilmar -dsa glänzen und schön sein. Zwei tungusische 
Dialekte bezeichnen die weisse Farbe mit gilta-Idi und gelta-Idin, der erste 
Theil des letzteren erinnert an das finnische kelta gelb. Andere mit einan- 
der verwandte Wörter für weiss und gelb werde ich am passenden Orte be- 
sprechen. — Aus dem Türkischen scheint kyl-yds’ Schwert hierher zu ziehen. 
S. unten bei iltu. 

Statt k oder g haben wir den sanften Lippenlaut « vorzüglich wo die 
Wurzel im Magyarischen vorkommt. Beispiele: vil-ag Licht und Welt 
(vgl. finnisch ilma) (!); vill-am Blitz (türkisch jülderim);, vill- ag schimmern. 
Im Lappischen ist wi-ge leuchtend, weiss, das finnische walkia, welches 
auch für Feuer im Gebrauche. Mordwinisch ist waldo Licht. — Ein j als 
Anlaut, mit folgendem i, e, seltner o (w) lieben die Türken, z.B. „Ih jil- 
traw Glanz, Schein; „,AL jülderim Wetterstrahl; ;AL jüldif und jeldif, auch 
53» jolduf und juldu/ Stern (?), und vielleicht ‚su jel-ma-ghai polirt, 
glatt, weil das Polirte glänzt. Tschuwaschisch jüldyrga Krystall. 


(') Vgl. zsillag (tschillag) Stern und Zsilliam-la schimmern, blinken in derselben 
Sprache. In dem doppelten 7 steckt wohl ein assimilirtes @ oder . So wird auch das 
finnische Axltä nach Erfordernils kiillä. 

(2) So ist das tungusische chosega (usicha), offenbar von der Wurzel choso = foso 
schimmern abzuleiten. Zu den beiden tungusischen Wörtern stimmt das syrjänisch - fin- 
nische kodsjuv und ostjakische c%os Stern, desgleichen, wenn man die Endung jener beiden 
abrechnet, das japanische fosi oder Aosi. Will man mit fos auch die Sanskritwurzel 
b’as scheinen u.s.w. vergleichen, so habe ich nichts dawider.— Bei den östlichen "Türken 
bezeichnen die Formen jeldif u.s.w. auch insonderheit den Nordstern und die nördliche Him- 
melsgegend. Da nun dieser Stern aulserdem bei Türken und Mongolen goldner und eiserner 
Pflock genannt wird, so ist es auffallend, ein dem türkischen jo/duf sehr ähnliches lappisches 
Wort tschuold zu finden, welches die Bedeutungen Pfahl und Nordstern in sich vereinigt. 
Aber die Ähnlichkeit der Wörter darf uns nicht täuschen; es wäre ganz ungereimt, eine 
Bedeutung wie Pfahl von der Bedeutung Stern abzuleiten, wogegen das Umgekehrte de- 
sto natürlicher: der Lappe vergleicht den unverrückbaren Nordstern mit einem Pfahl oder 
Pflocke, wie seine mongolischen und türkischen Urverwandten. Bei den Mongolen heifst 
selbst ein Planet (der Jupiter) gradusun, was schlechthin Pllock hedeutet. 


342 Scuorr über das Altai’sche 


Oft hat die Wurzel nur einen Vocal zum Anlaut, und dieser ist häufigst 
i, nur ausnahmsweise e, a, u. Mit u beginnen das mandsuische ulde Tag 
werden, ulden Morgenröthe; mit e das gleichfalls mandsuische elden Strahl, 
Glanz, und seine Ableitungen. 4 haben die Türken in altyn Gold (tschu- 
waschisch yldym); die Mongolen in dem gleichbedeutenden altan und in 
aldar Ruhm (geistiger Glanz). Hierher gehört auch der Name des Gebirges 
Altai und vermuthlich der des aldanischen Gebirges zwischen Jakutsk und 
Ochotsk. Mit ianlautend finden wir bei den Mandsus de-tu klar, aufge- 
klärt, öffentlich; ia erglänzen, aufblühen, sich entfalten (von Blumen), 
daher il-cha (für ila-cha) aufgeblüht, Blume. Die Mongolen besitzen ie 
sichtbar, deutlich, mit vielen Ableitungen; ia ausgezeichnet sein; J-gha 
unterscheiden; iltu Säbel, offenbar von seinem Glanze, wie das deutsche 
Flamberg, das altenglische brand; ferner ii poliren, glätten, de-gür Plätt- 
eisen, weil es glänzend, d. i. glatt macht, u. s.w. Aus dem finnischen 
Sprachschatze gehören hierher: ölmi sichtbar, offenbar; ilma Luftkreis, Welt, 
und ihre Ableitungen (!); vielleicht ij@ glatt (?). 

Neben 2 und r hat die fragliche Wurzel im Mongolischen auch i zum 
Auslaute: gej heisst leuchten, erleuchtet sein (?); und diesem könnte 
wieder als stärkere Form das finnische koi erster Morgenschimmer entspre- 
chen. — In der ungarischen Sprache finden wir einige Mal vir als gleichbe- 
deutend mit vil (Vergl. ger = gil); so ist vira Tages Anbruch, virag Tag 
werden, und virdg Blume, welches letztere Wort mit dem mandsuischen 
ilcha zu vergleichen ist (*). —- Wie aber dem kil, vil ein ger, vir, so steht 
auch dem al, il, el, ul ein ar, ir, er, ör zur Seite. Mongolisch ist ör (ver- 
gleiche vira) Tages Anbruch; in derselben Sprache heifst er-te (ärtä), im 
türkischen x, irze und »5,} erde frühzeitig; im Lappischen aru zeitig, ar-et 
am Morgen, früh. Ob auch mandsuisch eri, erin Jahreszeit und Zeit über- 
haupt, damit zusammenhängt? 


(') Vgl. im Magyarischen vitag Welt und vilag-os licht, hell. 


(2) Ohne Zweifel verwandt ist auch die Wurzel si, se, das Klar-und Reinwerden 
oder — machen ausdrückend, die ich übrigens erst unter den Sauselauten besprechen will. 


(°) Den Doppellaut ei schreibe ich ej, damit man ihn nicht wie ai lese. 


(°) Eben so kommt das arabische 59; /ehret Blume, von 2 glänzen, schimmern. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 343 


Es wird niemanden entgangen sein, dafs dem ursprünglichen Auslaute 
Inoch gern ein £ oder d, auch wohl ein Lippenlaut sich anschmiegt, den 
man nicht als grammatischen Zusatz betrachten kann. Er ist mit d in unse- 
rem Gold, mit 5 in gelb zu vergleichen. Wenn die Finnen m haben (öJ- 
mi, ilmoi-ta), so scheint dieses, wie z.B. in der mands. Form gilm-ar-dsa, 
aus d entstanden zu sein. 

Tungusisch chalgan, halgar, algan Fufs. Mit diesen Formen be- 
rühren sich zunächst: das mandsuische cholchon Bein, das magyarische gya- 
log, welches nur noch zu Fufse bedeutet, und das finnische jalka Fufs, 
wovon jälki Fufstapfe('). Als Verstümmelungen, aber mehr an cholchon 
erinnernd, begegnen uns das mongolische kül Fufs und Bein, das ostjakische 
kur, und syrjänische kok: in ersteren beiden fehlt der ursprüngliche Kehl- 
laut hinter /(r); im dritten ist umgekehrt die Liquida vor dem Kehllaut ver- 
drängt (?). In den Turksprachen erscheint das Wort ohne den consonanti- 
schen Anlaut und ohne äufsere Zugabe zur Wurzel; diese ist aber innerlich 
erweitert, indem man zwischen die auslautenden Consonanten a eingescho- 
ben. Von diesen ist aufserdem der flüssige erste einem, später in £ erhär- 
teten d, und letzteres wieder bei den westlichen Türken einem j gewichen. 
Daher sprechen Uiguren und Jakuten adach, atak, die Osmanen aber © 
ajak, für alk, alka. Der tschuwasch. Dialekt hat sogar ora, dessen r eben 
sowohl aus d als aus / entstanden sein kann. 

Dagegen erinnert uns die türkische Wurzel (36 kalk aufstehen sehr 
lebhaft an das tungusische chalg-an, wie anderer Seits das tungusische gi 
(bei den Mandsus :&) stehen an alga und die finnische Form jalka. Der 
Fufs ist ja die nothwendige Bedingung des Stehens; warum könnte das ent- 
sprechende Wort nicht eine Verbalwurzel dieser Art erzeugt haben (°)? Wie 


(') Im Mordwinischen ist jalga Gefährte. Vergl. das türkische IASL) ajak-dasch, 
zunächst Reisegefährte, von ajak Fuls. 

(?) So gleicht denn das syrjänische Wort, vermuthlich unschuldiger Weise, sehr dem 
chinesischen keök, wie man in Canton für kio‘ Fuls spricht. 

(°) Mongolisch heilst aZchu Schritt und als Verbalwurzel schreiten. Dies scheint mir 
einerseits noch zusammenhängend mit dem tungusischen a/gan Fufs, andererseits gleich dem 
finnischen a/ku Anfang, Ursprung; denn dieser kann mit einem, die eingetretene Bewegung, 
gleichsam die Störung der bisherigen Ruhe versinnbildenden Schritte verglichen werden. 
Mehr ausgeartet ist das türkische pO} adum Schritt, zunächst aus alchum, einer noch vor- 


344 Scnorr über das Altai’sche 


dem aber sei: an kalk aufstehen lehnt sich wieder das ostjakische chala, 
den Aufgang (Osten) bezeichnend, und das magyarische kel aufstehen, wovon 
auch nap-kelet Sonnenaufgang. 

Tungusisch gala (auch ngala, ngal und vermuthlich gal) Hand, in 
einigen Dialekten der ganze Arm (1). — Mongolisch ghar Hand und ganzer 
Arm, aber ala-gha (ohne gh) flache Hand. — Türkisch Js kol, näher an 
gala (*): bei den östlichen Türken zweideutig, wie ghar, bei den westlichen 
der Arm allein; ferner ala und } el (von alagha), nur die Hand bedeu- 
tend (3). Wie nun das altindische  krı und neupersische Pf ker machen, 
von 7 kara Hand abstammen, so offenbar die türkische Verbalwurzel 3 
kyl ihun, machen von Js kol, dessen Abschattung sie ist. Das man- 
ds’uische gai nehmen zeigt uns r in ö untergegangen; noch gröfser ist die 
Abschwächung in dem mongolischen kithun, verrichten. — In der finnischen 
Sprachenfamilie hat das Wort mit wenigen Ausnahmen einen schwachen 
Vocal und behält immer den Anlaut k. Das k&@ der Mordwinen hat, wie 
das mongolische ki, den consonantischen Auslaut ganz verloren; in der Suo- 
misprache und einigen anderen ist er ein, vermuthlich aus (kds = kas= kar)) 
entstandenes s, z.B. käsi, magyarisch kez; auch zu £ verflacht, wie z.B. 
in dem wogulischen kat und lappischen kät (*). 

Mands’uisch chacha männliches Wesen, cheche weibliches. Das er- 
stere Wort ist in dieser allgemeinsten, auf keine Blutsverwandtschaft hin- 


kommenden Nebenform von alchu, aber hinsichtlich des d wieder im Einklang mit adak 
gebildet. 

(') Der Dialekt von Jenisejsk hat sogar hanga = handa!! 

(?) Wegen des Vocales vergleiche das türkische x, kusch Vogel mit dem man- 
ds’uischen gas’cha. 

(?) Das türkische a2 und mands’uische a4 nehmen möchte ich gern von a/= el ablei- 
ten; allein im Lappischen entspricht hier wald (infin. wald-et capere, sumere). 

(*) Ich weils zwar, dals käsi und viele andere Suomi- Wörter auf si vor den Fallen- 
dungen ihr s mit d oder z vertauschen und dals man diese Form für älter erklärt. Sollte 
aber die Verwandlung des ? in das nominativische s nicht Rückkehr zu einer noch älteren 
Form sein? oder warum steht s auch in verwandten mongolischen und türkischen Wörtern, 
die doch von keinem Nominativ etwas wissen? Dem mongolischen us-un Wasser ent- 
spricht im Finnischen wesi, nicht weze; dem mongolischen es? Ursprung und türkischen es 
(in Km) es-ki alt) ebds. esi prius, antiguum, nicht ee; dem türkischen | desch, auch bes 
die Zahl fünf, ebds. wiisi, nicht wüte. — Da jedoch r(7) auch in d übergehen kann, so 
habe ich nichts dagegen, wenn man käsi (käte) lieber von kad = kar ableiten will. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 345 


weisenden Bedeutung den verwandten Sprachen und selbst den übrigen tun- 
gusischen Dialekten fremd; es sei denn, dafs wir in dem ostjakischen cho 
(ebenfalls Mann schlechthin) eine gleichsam krampfhafte Zusammenziehung 
des Wortes erkennen wollten, wie etwa wenn der Afgane das persische 
dochter (Tochter) in lör (zunächst für dor) zusammenzieht. In den übrigen 
Sprachen ist es, meist ohne consonantischen Anlaut, aber sonst sehr wohl 
erkennbar, die Bezeichnung geehrter Blutsverwandten: so bedeutet 
aga bei den Jakuten Vater; \Ü) aka oder LE! agha bei den übrigen östlichen 
Türken Oheim und älterer Bruder. Letzterer heifst bei den Mongolen acha, 
bei Mandsus und übrigen Tungusen achün, akmu, akin, aki. Das syr- 
jänische wo%k Bruder ist sicherlich aus acha entstanden; denn es verhält sich 
zu diesem genau so, wie wom Mund in derselben Sprache zu dem mongoli- 
schen ama: jenes wok ist aber wieder nichts anderes als das werka und weiko 
der Suomalaiset Finnlands (!). Die Osmanen, in deren Dialekte eigne Wör- 
ter für den älteren und jüngeren Bruder nicht mehr vorhanden sind, ge- 
brauchen agha nur noch als Titel, etwa gentleman; es wird vorzugsweise 
dem Kriegerstande beigelegt; aber in den Formen „Sl agu, age ist das Wort 
schon bei den östlichen Türken und den Mands’us „Herr” in der Anrede. 
Auf demselben Wege sind die Mongolen, wenn sie einen Vorsteher oder 
Ältesten acha-man, acha-tschinennen, und von acha selbst ein Verbum bil- 
den das die Aufsicht, den Oberbefehl führen bedeutet. 

Cheche Weib, hat bei den Mongolen, wo es eke lautet, noch dieselbe 
allgemeine Bedeutung, heifst aber bei diesen auch schon insbesondere Mut- 
ter. Davon ist wieder eke-tschi ältere Schwester, im Tungusischen ek- 
mu (vergl. akmu), ökkim, okmu, welche Formen lebhaft an das finnische 
eukko Matrone (vergl. ukko) erinnern. Bei den jakutsker Tungusen heifst 
aber die ältere Schwester akin (wie bei denen von Nertschinsk der ältere 
Bruder); bei den Jakuten agas; und eine Form akka Matrone (neben eukko) 
besitzen auch die Finnen (?). 


(') Eben so das ukko dieser Nation, welche Form aber die Bedeutungen Grofsvater, 
ehrwürdiger Greis, Ehemann sich angeeignet hat. 

(2) Die Benennungen für geehrte Verwandtschaftsgrade haben zu ihrem mittleren 
Consonanten einen Kehllaut wie obige, einen Lippenlaut, ein n, oder £, 7, s. Der An- 
laut ist im vorliegenden Sprachengeschlechte gewöhnlich Vocal, oder höchstens ein Con- 
sonant von der labialen Classe. Vergl. aba, baba, mafa u.s.w.; ferner ana, enie; endlich 
ala, ese, isä, etsi-ge. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Xx 


346 Scuorrüber das Allai'sche 


Tungusisch chola-rin, kula-rin, ula-rin roth.— Aus dem Türkischen 
gehört hierher & a5 Aula at der Schweilsfuchs. — Mongolisch ula-ghan, 
der dritten tungusischen Form zunächst. — Mands’uisch hier, wie öfter, mit 
f als Anlaut: ful-gian roth und fula-chün vröthlich ('). — Finnisch puna 
Röthe und roth machen. 

Das türkische kyf in J5 kyf-yl voth, „15 kyf-ar roth werden, wovon 
ich eine Nebenform in „> jer-en fuchsroth, mongolisch jer-te erröthen, 
zu sehen glaube, ist wohl von vorstehender Wurzel zu trennen. Mit 7 fin- 
den wir auch bei den Mandsus Aura und giru erröthen, bei den Mongolen 
kira in der Redensart ör kira-ghachu «das Erscheinen der Morgenröthe. — 
Die finnischen Sprachen vertauschen hier (wie öfter) k mit «, und lehren 
uns zugleich die Urbedeutung kennen; denn im Suomi heilst weri Blut, im 
Östjakischen wyry roth. Seinen Derivaten giebt werö die Bedeutungen blu- 
tig, vollsaftig, frisch, und weres wird auch von Wangenröthe gebraucht; 
aber das ungarische veres (von ver Blut) ist roth überhaupt (?). 

Tungusisch hokto, hokta, hokto-ron, 0ot, ol, und udsa Weg. — Ma- 
gyarisch 1, woher auch ul-an (auf seinem Wege) hinterher, nachdem; fin- 
nisch nur ula sich ereignen, zutragen (gleichsam auf den Weg kommen): 
Beides der abgekürzten tungusischen Wurzel überraschend nahe (?). Das- 
selbe Wort, jedoch so, dafs # und der Hauptvocal ihre Plätze gewechselt, 
erkennen wir wieder in dem syrjänischen Zui und finnischen ie Weg. Eine 
Verschiebung der Urform hokta aber zeigt uns das finnische kohta begegnen, 
wiederfinden, welchem bei den östlichen Türken und Mongolen Lö,| okta 
und uhkdu entsprechen. Eine Abkürzung od oder w,! ut heifst bei Mongolen 
und östlichen Türken „sich wohin begeben”, „wohin abgehen”, wie im Magy- 
arischen zl-az reisen. 

Türkisch und Mongolisch: kerek, gerek das Nothwendige, nothwen- 


dig. Eben so ohne Persönlichkeit ist das magyarische kell, dessen Einheit 


(') Koreanisch pu? Feuer und Purpur. 

(?) Yörös ist = veres. Überhaupt wird e in Mundarten gern mit ö vertauscht; so 
haben auch die Türken z. B. götür neben gezir bringen. 

(°) Hokto verhält sich zu oot, ot, it wie das mands’uische oA/o zu dem türkischen 
ws ot (Beides Kraut, Pflanze). — Die tungusische Form uds’a könnten wir in dem ma- 
gyarischen visza Gafse wiedererkennen; aber letzteres ist wahrscheinlicher eine Zusam- 
menziehung des (auch zu den Walachen übergegangenen) slawischen Wortes ulizsa. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 347 


mit obigem aber erst aus der lappischen Verbalwurzel kalka (galga) sollen, 
sich ergiebt. Das einfachere Kernwort begegnet uns oft in den Formen ker, 
kär, kör, kor, und vocalisch anlautend in er. So besitzen die Mordwinen 
unpersönlich erä-wi es muls, es ist nothwendig. In allen übrigen Fällen ihres 
Vorkommens bezeichnet die Wurzel ein Suchen und dringendes Ansuchen, 
aus welchem der Begriff der Nothwendigkeit naturgemäfs sich entwickelt: 
mongolisch eri suchen, fragen, fordern; magyarisch ker-es suchen, ker-de 
fragen, ker bitten; finnisch käri dringend fordern und kerjä betteln; syrjä- 
nisch kor bitten. Bei den jakutischen Türken finden wir kör-dö suchen, 
begehren, bitten (vgl. magyarisch ker-de) und kere-si vor Gericht fordern, 
anklagen; endlich die Mandsus haben ger-ischi Ankläger. 

Türkisch: kap, jap, tschap, mit dem Grundbegriffe des Angreifens, 
Nehmens. Daneben in vier Sprachenfamilien dieselbe Wurzel ohne conso- 
nantischen Anlaut: mongolisch ap nehmen, holen; abu-ra (für ap-ra) er- 
halten, schützen; mandsuisch abu-ra gewaltsam anfafsen; finnisch apu Hülfe, 
Beistand, au-ta (für aww-ia) Hülfe leisten; türkisch Y&s2) ap-usch theilen, 
wörtlich zusammen oder untereinander nehmen, denn das angehängte sch 
zeigt gemeinsames oder gegenseitiges Handeln an. — Das türkische „L jap 
anfassen ist ebenfalls in dem abgeleiteten Ab jap-ysch am bekanntesten, 
was aber nur stark anfassen, anpacken bedeutet. Im Mandsuischen stehen 
diesem dsa/a und ds’afu mit ihren zahlreichen Ableitungen, z.B. dsafu-nu 
einander packen, ringen, zur Seite. — „U kap und ol> tschap bezeichnen 
den gewaltsamen, räuberischen Angriff; das magyarische kap aber heifst 
bekommen, empfangen ('). Im Mongolischen ist chabu die Fähigkeit (Capa- 
eität); chabu-tai geschickt, gewandt, ausgezeichneter Schütze, ungefähr das 
gab-sichian der Mandsus. An die Geschicklichkeit knüpft sich das Gelingen, 
der Vortheil; und dieser ist namentlich in mands’uischen Formen wie dsap- 
scha, dsap-du und ihren Ableitungen ausgedrückt; letztere heifst noch zu- 
nächst: das Ziel (beim Schielsen) sicher treffen (?). 


(') Ob das gleichbedeutende mands’uische dacha nur eine Versetzung von chab = kap 
ist? Wie dem auch sei, der Form nach gehören zu diesem das lappische fagge und unga- 
rische fog. 

(?) Nicht zu verwechseln mit dieser Wurzel ist ein jap (kapa) zumachen, verschlie- 
[sen, und ein drittes jap (Z£schap) gehen und machen. Von Beiden später. — Dagegen scheint 


das finnische kopa, sofern es mit Händen greifen bedeutet, wieder hierher zu gehören. 


Xx?2 


348 Scnorr über das Altai Yohe 


Mongolisch chabar (chawar) und bei den Kalmyken chamar, chamur 
Nase. — Zunächst kommt mandsuisch oforo für choforo, das bei den Un- 
garn in orr zusammenschwindet. — Türkisch „», » mur-un und «,,» bur- 
un, mit der zweiten kalmykischen Form am meisten verwandt, aber die ganze 
erste Silbe preifsgebend und durch Verlängerung am Ende wieder entschä- 
digt. — Den tungusischen Formen ongokto, ookto, ogoi muls ebenfalls ein 
Prototyp mit m, etwa omoro, zum Grunde liegen (1). Man vergleiche übri- 
gens die schon besprochene Wurzel kaba u. s. w., welche das Anschwellen, 
Vorspringen, sich Erheben ausdrückt. 

Türkisch ;e! aghy/ Mund. Dies die gewöhnliche Form; aber verschie- 
dene Gründe ergeben unzweifelhaft, dafs sie in alter Zeit anggir und janggir 
gelautet haben müfse. Noch jetzt haben ‚#) anghyr, „#L janghyr, Pi air, 
£ aghyr, deren Quetschungen „sil> ischangyr, > Ischagyr, und das 
abgekürzte ‚> ischar die Bedeutung des Schreiens und Rufens (2). Sodann 
finden wir die Urform bei den Mandsus in anggir nieche, was eine Ente 
(nieche) mit sehr starkem Schnabel bedeutet. Das gewöhnliche mands’uische 
Wort für Mund ist aber angga (ohne r ), dessen Schwächung engge Schna- 
bel bedeutet. In den tungusischen Dialekten erscheint statt des ng ein m, 
also amga; der Dialekt von Jakutsk verdrängt noch das folgende g, 
läfst v+ n folgen, und wählt einen Hauch als Anlaut: Aamun. Blofse Ab- 
schattungen oder Milderungen dieser Wörter sind folgende tungusische Wör- 
ter für Lippe: emgin, amun, ömün, hömun und das mandsuische femen statt 
hemen, chemen. Der jakutsker Dialekt, wo Mund Aamun lautet, hat für 
Lippe sogar amga, was in den meisten übrigen den Mund selber bedeutet. — 
Die Mongolen besitzen für Mund nur ama, aman, dem jakutsk. Aamun 
sich anschliefsend, für Lippe ein ganz anderes Wort(°). Dieses aman kehrt 
unstreitig abgekürzt wieder in am-tai schmackhaft (gleichsam mundrecht, 


(') Ein ng und zwar mit o vorher, sehen wir auch in dem mongolischen chong - sijar 
Nasenspitze, Schnabel. — Obgleich die Nase sehr passend vom Athem genannt sein könnte, 
wie der Mund (s. w. u.), so möchte ich doch dem tungusischen ongokto u. s. w. nicht gern 
eine besondere Wurzel unterlegen und diese Formen von chamar losreilsen. 

(?) In dem söüwar der Tschuwaschen kann s nur aus einem anlautenden j entstanden 
sein. Ganz übereinstimmend wird z.B. das Wort Be jagh Öhl bei ihnen zu süw. — Ob 
auch dem finnischen suu Mund eine Form wie süwar oder suwa zum Grunde liegt? 

(°) Uru-ghul, vermuthlich Rifs, Spalt; denn uru heilst in Stücke reilsen. Verwandt 
ist vielleicht das osttürkische re Lippe; vergleiche wo. Jirt zerreilsen. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 349 


mundend), am-tan Geschmack, am-sa kosten, versuchen (mands. angga- 
si); ich erkenne es ferner in dem wom (Mund) der syrjänischen Finnen (!). — 
Aber auch Formen mit ng statt m hat das Mongolische aufzuweisen, z.B. 
angga-Idsan der mit offnem Munde dasteht, Maulaffe; die Verbalwurzel 
anggai sich öffnen, klaffen; ang-chan Anfang (gleichs. Eröffnung), und ver- 
muthlich angga dürsten, schmachten, wenn es von dem Bilde eines ausge- 
dorrien, daher gesprungenen und klaffenden Erdreichs, das wirklich angga- 
sun ghadsar heifst, hergenommen ist. 

Unter den türkischen Stämmen besitzen die Jakuten in ihrem ajag ein 
Wort fürMund, das, wie man sich auch seine Herausbildung denken möge, 
gewifs nur einer der erwähnten Formen sein Dasein verdankt. Es ist um so 
merkwürdiger, als es mit ajak, dem ungarischen Worte für Lippe, fast ge- 
nau übereinstimmt. 

Diejenigen von den hier aufgezählten Formen welche am meisten das 
Gepräge der Ursprünglichkeit tragen, zeigen so viel Anklang an eine finnisch - 
tatarische Wurzel des Athmens, dafs ich angga u.s.w. fast unbedenklich 
davon ableiten möchte. Als vornehmstes und verläfslichstes Werkzeug dieser 
Lebensthätigkeit konnte der Mund sehr pafsend vom Athem genannt werden. 
Gewifs unter einander verwandt sind das finnische Aenki Hauch, Athem, 
Geist, das tscheremissische jang Seele, das mongolische onggo-li aufser 
Athem kommen, und, sofern Hauch zugleich für Geruch steht (vergl. oben 
haisu, is, us), die mongolischen Verba angki-l riechen, ongki-la und chang- 
gu-la schnüffeln, wittern(?). — Da Athem die erste Bedingung des Lebens 
ist, so darf es uns nicht wundern, wenn das Leben selbst nach demselben 
bezeichnet wurde (?). Dies leidet nun im Mongolischen gar keinen Zweifel; 
denn athmen schlechthin heifst hier ami-scha, das Leben aber amin. Sind also 


(') Das ug? der Östjaken (für ugr?) erinnert an aghyr, aghyf, also die türkische Form. 
(2) Den sanften Labial » haben die Mands’us in ihrem wa Geruch, dessen Laut schon 
das Wehen malt. Eine regelmäfsige Ableitung davon ist wa-ngga wohlriechend, hat also 


mit dem gleichbedeutenden chinesischen Aiang Ed nichts zu schaffen und begegnet sich 
auch wohl nur zufällig mit henki und angki. 
(°) Vergleiche das chinesische /£ seng Leben, wohl urverwandt mit Aenki. Bei 


den Mands’us heifst das Blut senggi, vielleicht weil man diese edle Flüssigkeit neben oder 
nächst dem Athem als Hauptbedingung des Lebens betrachtet hat. 


350 Scuorrt über das Allai’sche 


die Wörter für Mund und Leben einander sehr ähnlich, so erklärt sich dies 
aus ihrem gleichen Ursprung. Ich möchte noch weiter gehen und auch die 
mongolische Wurzel amu Ruhe und Glück hierher ziehen (!); denn im Fin- 
nischen bedeutet henkä (von henki) neben athmen auch sich erholen, ruhen; 
und als Parallele haben wir z.B. das hebräische 2” welches zuvörderst Le- 
ben und dann Glückseligkeit bedeutet. 

Onggo-d (*) heilsen bei Mongolen und Tungusen die Elementargei- 
ster des Schamanendienstes. Kernwörter für geistige Thätigkeiten die an 
unsere fruchtbare Wurzel unverkennbar sich anreihen, sind: türkisch SS} 
ang, Ö} an (in den Geist zurückrufen) erwähnen, erinnern; ang-la, an-la 
verstehen — mongolisch ang-char Kenntnifs nehmen, wissen; ong-si Ge- 
lerntes hersagen und lesen. Das Lesen ist ein Wiedererkennen, und wir haben 
etwas sehr Analoges im Gebrauche des griechischen avayıyrwszew. Eben so 
ist das türkische s3,1 oku lesen offenbar dieselbe Wurzel wie das mongolische 
ucha verstehen, woher ucha-ghan Verstand u. s.w. Oku und ucha mülsen 
ebenfalls aus onggo entstanden sein; das ng ist hier k oder ch geworden, 
wie es als blofses n erscheint in dem mongolischen ono einsehen, begreifen. 
Bei den Jakuten bedeutet ana ungefähr dasselbe was ono, und auch in dem 
an der Osmanen wird 7 jetzt nur noch als einfaches n gesprochen (?). 

Türkisch Sy sümük, SKyw süngek, Sys sünck, & „w süjek Kno- 
chen. Bei den Tschuwaschen in schunu (für schunuk) verstümmelt. Die 
meisten türkischen Stämme haben aufserdem SS kemük, gemük, Si kemik, 
gemik Knochen, Ribbe u. s. w., die Jakuten aber ungoch. Diese letztere 
Form kommt wohl mit der ursprünglichen am meisten überein (*); und sehr 
belehrend ist in dieser Hinsicht eine Stelle des Abulghasi in seinem mehrer- 
wähnten Werke (S. 29), wo sich’s vom Aufenthalte des Kajan und seiner 
Genofsen in dem grofsen Gebirgsthale Erkene Kun handelt. Der Verfasser 
sagt: die Nachkommen dieser Leute hätten viele Jahre daselbst gewohnt, 


(') Ist nicht Ruhe und zwar Ruhe um jeden Preis auch unsern Spiefsbürgern gleich- 
bedeutend mit Glückseligkeit und beinahe mit Leben überhaupt? 

(2) Das 4 zeigt hier die Mehrzahl an. 

(°) Überhaupt kann ich in der Aussprache des 2 und n bei Osmanen keinen Unter- 
schied mehr wahrnehmen. 

(*) Das mands’uische umuchun, welches die Spanne des Fufses bezeichnet, könnte 
einen verwandten Ursprung haben, da der Fufs in dieser Gegend ohne Zellgewebe, nur 
Knochen ist. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 351 


und, nachdem ihre Zahl sehr angewachsen, in einzelne sl»! umak (oder 
omak) sich abgetheilt. Er setzt hinzu: ‚les Slus Sum ml Ss ala 
BU ee ergehen ae 
„> d.i. Umak heifst s.v.a. süngek. Wenn der (östliche) Türke jeman- 
den frägt: welches ist dein umak? so will er sagen: welches ist dein süngek‘?! — 
Knochen bedeutet nämlich hier Geschlecht, Abstammung. Die Mongolen 
gebrauchen ihr omok im nämlichen Sinne, wie z.B. aus folgender Stelle des 
Sanang -Setsen (S. 62 der Ausgabe Schmidts) überzeugend hervorgeht: Aijot 
jasu-lu, Bordsigin omok-tu d. i. vom Stamme Kijot, vom Geschlechte 
Bordsigin. Das Wort jasun, gleichfalls Knochen und Geschlecht, steht 
hier parallel mit omok, von welchem letzteren Schmidt und Kowalewski in 
ihren Wörterbüchern nur Stolz, Anmafsung, Selbstgefühl als Bedeutungen 
angeben. 

Verwandt mit den angeführten Wörtern sind ohne Zweifel aimak oder 
aiman Stammesabtheilung, Horde, bei Mongolen und Tungusen, vielleicht 
auch das oma der Finnen, welches proprium, peculiare bedeutet; denn als 
wahrhaft Eigenes gilt das Angestammte (historisches Recht!). 

Türkisch 13 kara schauen und sehen, ‚ss kür, gör sehen. Von kara 
bildet sich bei den Jakuten charak und karak Auge. Die westlichen Tür- 
ken, bei denen nur noch die zweite Wurzelform sich erhalten hat, lassen 
sie, um das Auge zu bezeichnen, ohne Zusatz, und verwandeln nur r in f 
küf, göf ('). Diese Verwandlung erlauben sie sich auch in dem von der 
Wurzel unmittelbar gebildeten Worte IS güf-el schön (ansehnlich) und 
in dem Verbum ws gös-ter (mit scharfem s) zeigen, während man im Öst- 
türkischen kür-ük Schönheit, kürük-lü angenehm, kürgel schön hat. Auch 
im Mongolischen heisst chara sehen und schauen; im Mands’uischen aber 
ist kara ein Jägerwort, das da bedeutet: von einer hochgelegenen Stelle 
nach dem Wilde ausschauen, um zu erfahren ob seine Zahl grofs oder 
klein sei (?). 

Nach kar, kür (küs) nenne ich: finnisch katso, lappisch kätsche be- 
trachten, sehen; ehsinisch kaje und kae sehen; endlich koje und Aue, bei 


(') Doch kommt bei den Uiguren schon küs Auge vor, und bei den östlichen Tür- 
ken überhaupt „5: küf-gü Spiegel. 
pt ss, pieg 
(?) Den ba-tsi gurgu gas’cha-i labdu komso-be tuara. (B-B. IX, Bl. 4). 


352 Scuorr über das Altai’sche 


Lamuten und ochotsker Tungusen, dasselbe. Auf Klaproths Tabellen (a. 
a. ©.) steht dieses, wie andere tungusische Verben des Sehens (S. 86-87, 
7.2 und 4 von Oben) nur als erste einheitliche Person der Gegenwart, und 
zwar das erste Mal bejahend: kojerym, kuerem ich sehe, das zweite Mal aber 
verneinend: etam kojer, etschi kuerem ich sehe nicht (!). Auf den ersten 
Blick war ich geneigt, das in diesen Formen mit zur Wurzel zu rechnen 
und diese als eine Erweiterung der türkischen Wurzel kür zu betrachten; 
allein » steht auch in uklarym, ukljarem, was in denselben Dialekten „ich 
schlafe” hedeutet, und hier kann nimmermehr von einer solchen Bedeutung 
des r die Rede sein. Im Türkischen heifst ich sehe: 2,5 kür-er-im; ich 
schlafe (schlummere) 2,8} ujuk-la-r-ym; und beide Formen sind so ent- 
standen, dafs nicht die reine Wurzel, sondern ein Mittelwort auf 7 mit dem 
fürwörtlichen Zusatze verbunden ist. Von ujuk-la (?) mufs dieses Mittel- 
wort ujukla-r werden, von kür (gür) aber kür-er (gör-er). Die Mandsus 
besitzen denselben Zusatz zur Wurzel, aber mit Vocalen (ra, re, ro) und 
von mehr infinitivischem Gebrauche: warum sollte er also den übrigen Tun- 
gusen fremd sein; oder warum sollten diese nicht eben so, wie die Türken, 
ihre persönlichen Fürwörter erst durch Vermittlung jenes r dem Kernworte 
anfügen? Wenn nun die Wurzel des Sehens bei jenen zwei tungusischen 
Stämmen ohnehin schon auf r auslautete, so würden sie wohl nicht diesen 
Laut zugleich als partieipiale Endung haben gelten lafsen. 

Endlich giebt es, vor Allem bei Tungusen und Mongolen, Wörter 
für Auge, sehen, u. dgl., in welchen der Anlaut Vocal oder höchstens j, 
und der folgende Consonant ein Sauselaut ist. Auge heifst in den verschie- 
denen Dialekten des Tungusischen oscha, escha, esja, esa-1, isa-1, und (man- 
dsuisch) jasa. Sehen heifst in der Mehrzahl dieser Dialekte itsche (?), im 


(') In Geistesabwesenheit schreibt Klaproth das zweite Mal wieder „ich sehe” und 
setzt als entsprechende mands’uische Wörter Zuambi, sabumbi, statt (bi) uarakıl, saburakü, 
daneben. — Fehlerhaft ist es auch, beiläufig bemerkt, wenn er gleich in der vorhergehenden 


}) 


Zeile dieselbe Person des Negativs von „‚schlafen” mands’uisch durch amgambi-aku wie- 
o ” fe] 


dergiebt, da es (di) amgarakü heilsen muls. 
(?) Aus uk Schlummer und dem Nennwörter in Zustandswörter verwandelnden 
la (le). 


(°) Nach A. Erman auch :ö, welches dem lappischen wizez hastig anblicken, sehr 
ähnlich. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 339 


Mongolischen üdse (üdse, üfe), woher üdsel Gesicht. Aufserdem finden wir 
bei den Mongolen adsi bemerken und erscheinen, bei den syrjänischen Fin- 
nen aber adsi sehen. 

Die zuletzt sehen Formen berühren sich so unverkennbar mit 
der Sanskritwurzel Zug öksch sehen, dem von ihr abgeleiteten akschi Auge, 
und den verwandten Wörtern anderer indisch - ankahen Sprachen (!), 
sofern auf den Vocal ein Sauselaut folgt, dafs man ihren gleichen Ursprung 
mit diesen fast nothgedrungen annehmen mufs. Sollte aber dasselbe nicht 
auf die mit % anlautenden Formen Anwendung finden, und um so mehr; 
wenn wir im Sanskrit selber neben akschi auch ischakschu für Auge haben, 
dessen sch aus k entstanden sein mufs? Wie sausr, so entsteht auch aus s, 
und könnte dies mit kara, kür u.s. w. nicht der Fall gewesen sein? 

Ich reihe hier noch tatarische Wurzeln an, deren Zusammenhang mit 
denen für Auge und sehen mir keinen Zweifel zu gestatten scheint. 

Die Ostinken und Magyaren besitzen für nn ge ein nach meiner Über- 


zeugung von allen bis jetzt vorgekommenen 2 ah verschiedenes Wort, 


8 
nämlich sem (szem), dessen ungefälschte Form das silmä und silm der Ost- 
seefinnen ist. (2) Mit demselben Worte bezeichnen beide Völker auch den 
Begriff Saamenkorn, offenbar wegen seiner runden oder rundlichen Form, 
mit besonderer Beziehung auf den Augapfel (?). Eben so haben die östlichen 
Türken ;,5 küf in den Bedeutungen Auge und Saamenkorn (*). Soll man 
nun dieses küf von dem ;,! üf derselben Sprache trennen, das mit Bestes 
oder Edelstes einer Sache erklärt wird, dann auch, besonders bei den östli- 
chen Türken, die Selbstheit bezeichnet (°), und auf dessen ältere Bedeutung 
„Kern einer Frucht” die Ableitungen 8>; „} üf-dek Dattelkern und S; „I üf- ek 


Kern eines Geschwürs unverkennbar hinweisen? Gewifs wäre dies eben so 


(') Vergleiche hinsichtlich dieser Potts Etymologische Forschungen Th. 1, S. 269. 

(?) Näheres unter der Wurzel siz. 

(°) In vielen anderen Sprachen werden die Knospen der Gewächse, im Chinesischen 
die Knoten des Bambus Augen genannt. 

(“) Dahin gehört z. B. die bildliche Redensart Ah,L Ss küfü jaryldy ihr Korn 
(nicht ihr Auge) spaltete sich, d.i. sie wurde entbunden. 

(°) Ein ganz analoger Sprachgebrauch im Magyarischen kommt uns hier auch zu 
Hülfe. Hier bedeutet mag Kern, Saamen, und mit fürwörtlichen Anhängen selbst: mag- 
unk z.B. ist wir selbst, wie > üfü - müf. 


Philos.-histor. Kl. 1847. Yy 


354 Scuorr über das Altai’sche 


unrecht, wie die Zurückweisung des mandsuischen use Saamenkorn und als 
Verbalwurzel sien, wovon wieder usin Saatfeld. — Ferner finden wir bei 
den Mongolen kürü-ngge Saamenkorn neben üre-le säen, das zunächst von 
üre Frucht (und Nachkommenschaft) gebildet ist; bei den Mands’us oori und 
bei den östlichen Türken ;J, >} ur-luk Saamen. Diese verhalten sich eben 
so zu einander wie küf, üf, use, obgleich von keinem derselben eine Grund- 
bedeutung Auge nachzuweisen. Sollte endlich das mongolische ürü Inneres, 
wenn es zunächst an den Begriff Kern sich anschliefst, nicht eben dahin ge- 
hören’? 

55 küf, göf hat im Türkischen noch die dritte Bedeutung Herbst. 
Insofern entspricht ihm das magyarische öz (öf) und ostjakische suf. 

Mandsuisch as’cha Flügel und als Verbalwurzel „zur Seite stehen”(!), 
„an der Seite oder am Gürtel tragen.” Offenbar verwandt ist das mandsui- 
sche gascha Vogel(?). Unter den türkischen Dialekten kommt diesem Worte 
zunächst das tschuwaschische kaik, wenn es für kask steht (so hat man 22; 
kaf-ghu neben „u3 kai-ghu Gram), unter den finnischen aber das lappische 
kusk Wafserschnepfe, wenn wir annehmen dürfen dafs die ursprünglich so 
umfassende Bedeutung bei ihnen so sehr sich verengt habe. Das gewöhnli- 
che türkische u%s5 kusch könnte in irgend einem östlichen Dialekte kusichu 
oder kos’cholauten, da z.B. türkisch U» bosch (leer) im Jakutischen bos’cho 
wird. 

Nun mufs aber jenes kusch selber weiland Flügel bedeutet haben (°), 
denn es vereinigt mit der Bedeutung Vogel noch die eines Paares, z.B. in 
s£2l 05 ein Paar Rippen; und der Übergang von Flügelpaar zu dieser ab- 
gezogenen Bedeutung ist sehr natürlich. Aufserdem ist dasselbe Wort mit 
und ohne nachlautendes a Verbalwurzel für zusammenpaaren, zusammen- 
thun, verbinden, gürten, und diese ihrerseits erzeugt (, „% kusch -un grö- 


(') Daher wieder das Nennwort as’chan, wie z.B. in as’chan-i amban Grolser von 
der Seite, oder der zur Seite (eines noch Höheren) steht, beigeordneter Rath. — Beiläu- 
fig bemerkt: von geheimen oder gar wirklich geheimen Räthen (wenigstens dem 
Titel nach) wissen Chinesen und Mandsus nichts, obschon ihr Staatsleben keineswegs 
öffentlich ist. 

(2) Vergl. unter $: finnisch süwe Flügel, mongolisch siva-ghon Vogel. 

(°) Nicht zu übersehen ist die türkische Wurzel _ „| uzsch fliegen, welche sehr wohl 
für &,} stehen und eine Nebenform von kusch sein kann. Das Eine verhält sich zu as’cha 
wie das Andere zu gas'cha. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 395 
fserer Heerhaufen, Armeecorps, neben ‚sL& kusch-ak Gürtel. Im Mongo- 
lischen haben wir chos, nur für Paar, und chosi-gho Armeecorps, dem tür- 
kischen kuschun gleich, aber keineswegs daraus entstanden. 

Mandsuisch chorgi sich umdrehen, kreisen; daher chorgi-kü was in 
einer Höhlung sich umdreht, Axe, 'Thürangel und dergleichen; ferner chergi 
etwas umkreisen, sei es gehend oder fliegend, einen Kreis ziehen, etwas 
umwinden, umwickeln; daher chergin Kreislauf, Cyclus, der einbleibenden 
Handlung wegen besser zu chorgi passend. Ohne consonantischen Anlaut 
entspricht dem chergi das mongolische ergi um sich selbst oder um einen 
anderen Gegenstand kreisen; dem chorgi aber das mongolische ortschi, nur 
intransitiv (1). Aufserdem besitzen die Mandsus gur (in gurun begränztes 
Land, Reich), die Mongolen chor (?), kör oder kür in Verben und Nenn- 
wörtern, deren Bedeutungen an die des Umkreisens mehr oder weniger un- 
mittelbar sich anschliefsen, z. B. kür-dü Rad; chorija umzäunen und ein- 
friedigen, dann in sich aufnehmen, sammeln, vereinigen; chorijan Hof, 
Umzäunung; kürijen dasselbe und Feldlager; kürije-leng Hof, Garten; chori 
einschliefsen, einsperren, chori-ghol Einzäunung; chora-ghan innerer Hof, 
von chora, das aber nur noch versammeln bedeutet; choral Sammelplatz 
und Versammlung; chorim Festmahl, eigentlich Versammlung, aber mit dem 
Nebenbegriff der Feier. — Im Türkischen haben wir 1, 5 kura Hof (°), (3 
kur-yk ein verbotener, geheiligter Ort, ein adurev (offenbar daher so genannt, 
weil man dergleichen Orte einfriedigt), vielleicht », 5 kuru beschützen, ver- 
theidigen, weil dies am besten von jeder Seite d.i. im Kreise herum geschieht, 
in jedem Falle u, kür-üsch einander ringend bekämpfen, wegen der 
dabei erforderlichen Windungen und Drehungen des Körpers (*). Vergl. 
das deutsche Wort. 

In der Suomi-Sprache hat diese fruchtbare Wurzel meist schwache 
Vocale. Ausgenommen ist nur korja das mit einer der angeführten mongo- 


(') Daher z.B. orischi-lang die Seelenwanderung (Kreislauf der Geburten), dem re 
der Hindus entsprechend. 

(?) Auch im Tibetischen finden wir Kor kreisen, umdrehen; Kkor-Io Kreis; gor-mo 
kreisförmig. 

©) OEL küren Feldlager ist wohl den Mongolen entlehnt (siehe kürjjen). 

(*) Das angehängte U* zeigt die Gegenseitigkeit der Handlung an, und darf nie weg- 
allen, weil ohne Gegenseitigkeit kein Ringkampf denkbar ist. 


Yy2 


356 Scuorr über das Altai'sche 


lischen Formen vollkommen einklingt, und auch Gleiches bedeutet. Die 
übrigen Verwandten lauten ker, kier, käär, z.B. in kieri volvi, circumagi, 
kieri-tä circumagere; kiertä volvere, torquere; kiera, kieru, kierto convo- 
lutum, curvatum etc.; endlich kääri volvere, involvere, implicare; kerä 
Knäuel und keri glomerare (!). — Die Magyaren haben kör Kreis (woher 
kör-ül im Kreise, rund umher), und ker in ker-ül herumgehen, kerület Kreis, 
kerek rund, ker-eg Rad, ker-enge sich wälzen, keri-te umzäunen, umgeben. 

In der Form ger scheint die Wurzel auch Mongolen und Mands’us 
nicht fremd zu sein; denn bei Ersteren heifst ger Wohnung, Haus, und bei 
Letzteren ger-en Gesamtheit, Alle, zunächst wohl Versammlung. — Von 
dem finnischen kääri stammt vielleicht das Wort käärmet, kärmet Schlange, 
und brauchen wir diesem alsdann keine Wurzel unseres Stammes unterzu- 
legen. Ohne Widerrede selbständig ist das mongolische choro-chai Wurm, 
da sein choro offenbar das Winden und Krümmen ausdrückt, welches (s. die 
finnischen Wurzeln) so leicht an Kreisen und Umziehen sich anschliefst. 
Vergleiche das türkische w, 35 kurt und 8,5 kurd Wurm, Raupe, bei den 
westlichen Türken auch Wolf (?). 

Wenn magyarisch kor Zeit einen Kreislauf ausdrücken soll, so kann 
es hier nicht abgewiesen werden. Davon kommt nun in derselben Sprache 
kor-os bejahrt, alt. — In den verschiedenen Dialekten des Türkischen be- 
gegnen uns für alt (von Menschen gesagt) die Formen kary, kart, kar-tschik, 
kurt-ka (im Jakutischen kyry altern), sogar bei den Finnen kari-las senex 
decrepitus. Aber vergebens sieht man sich in der Suomisprache und im 
Türkischen nach einem ähnlichen Worte für Zeit um. Ist dieses nur bei 
den Magyaren erhalten, oder haben wir die erwähnten Wörter von kor ganz 
zu trennen? 

Das mongolische or-tschi neben chor-gi (or neben chor) kann noch 
auf gewifse andere bis jetzt unerklärte Wörter Licht werfen. Dahin gehören 


(') Mongolisch ist kerö zusammenkoppeln und kerüdesün Knäuel. 

(2) Das germanische Wolf vereinigt bei den Holländern ebenfalls mit der gewöhnli- 
chen Bedeutung die einer Raupe (rups). Ob wegen der Gefrälsigkeit Beider? Es ver- 
dient Beachtung, dafs chinesische Schriftzeichen für Raubthiere jeder Art (nicht blofs des 
Katzengeschlechtes, wo man an die wurmähnlichen Windungen des Rückens denken könnte) 


mit dem Wurzelbilde welches einst Würmer und Raupen darstellte, zusammengesetzt 


sind; die meisten stellen Fuchs- und Wolfsarten dar. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 357 


söj,! ordu, by»! orta, und das ungarische orszdg. Erstgenanntes Wort be- 
deutet im Mongolischen und Türkischen Heerlager, dann insonderheit Hof- 
lager (1). Wie nun das mongolische kür-diü kreisförmiges Ding, Rad, von 
kür (das auch kürijen und küren [s. oben] erzeugt hat), so or-du ein Zel- 
tenkreis, von der stärkeren, aber des consonantischen Anlauts entbehrenden 
Wurzel or. — Orta ist nur bei den Türken gebräuchlich; es bedeutet Mit- 
telpunkt, Mitte, nach meiner Ansicht buchstäblich im Kreise, weil man ent- 
weder gleich anfangs den (von der Peripherie überall gleich weit entfernten) 
Mittelpunkt selber, oder zunächst eine denselben schneidende Linie dachte, 
wie die Chinesen (?).— OrszägKreis, Versammlung, begränztes Gebiet, Land, 
findet sich zwar auch bei den Polen, steht aber im Polnischen eben so verein- 
zelt wie im Ungarischen, und wird von den Ungarn in ausgedehnterem Sinne 
gebraucht. Es ist mir zweifelhaft ob das sz in diesem Worte zur Endung 
gehöre oder nicht; im ersteren Falle haben wir or wie in ordu u. s. w., im 
letzteren können wir das mongolische or-tschi (s. oben) vergleichen (°). 

Zu den oben vorgekommenen Formen ergi und chergi verhält sich, 
wie ihr Echo, das mongolische ztergen Räderwagen mit seinen Ableitungen. 
Wo aber die Wurzel sonst noch mit dem Anlaute z vorkommt, sind r und g 
versetzt, z.B. mongolisch zügür-ük Rundung, Scheibe; jakutisch zegür -ük 
rund; ferner mongolisch degere zurückkehren (*). — Türkisch & teker und 
£> degir kreisen, wovon teker-lek Rad, degirmen Mühle. — Magyarisch 
teker drehen, winden. 

Nicht zu verwechseln mit kor kreisen ist die türkische Wurzel , kor 
bauen, zurichten und schmücken, woher z.B. „U,»? kur-ghan Bau über- 


(‘) Bei den Mongolen auch geradezu Palast. Vgl. das gleichbedeutende mands'. gur- 
ung, dem chines. = kung entsprechend, aber nicht aus diesem entstanden, sondern 
wie gur-un Reich, Land, von gur = chor = or einen Kreis ziehen. 

(?) Das chinesische ischung Mitte war in der alten Schrift nicht, wie heutzu- 


tage, ein Viereck, sondern ein Kreis, den eine senkrechte Linie schnitt. — Das du und 
ta beider türk. Wörter halte ich nur für Formen einer Postposition des Locativs, die 
abwechselnd zur, zu, ta, da, de lautet, und von der wir am gehörigen Orte ausführlich 
handeln werden. 

(°) Orszag ist also dem mands. gurun (s. oben) analog gebildet und hinsichtlich der 
Wurzel auch mit demselben verwandt. 

(*) Vgl. vower im Spanischen. 


358 Scuotrüber das Altai'sche 


haupt und dann Grabmonument. — Bei den Finnen hat diese Wurzel nur 
die Bedeutung von Schmücken und Zierlichkeit: koria ornatus, decorus; 
kori-ta exornare. 

Mandsuisch chüd-un rasch. — Finnisch jout eilen. — Türkisch ou} 
iwet dasselbe. Vergleiche unter dem Lippenlaute Z. 

Mongolisch chaghorai, nach heutiger Aussprache choorai trocken. — 
Türk. », # koru. Mandsuisch ol-chon für or-chon(!); tungusisch olgorin. — 
Diese Wurzel scheint den Finnen fremd zu sein; dagegen ist ihnen eine an- 
dere, die noch in dem mongolischen Eigenschaftsworte chowa-chai vertrock- 
net, verdorrt, sich erhalten hat, desto geläufiger: finnisch kuiwa trocken, dürr, 
als Verbum austrocknen; lappisch köike mit seinen Ableitungen, dasselbe. — 
Da der Begriff Härte sich gern an den der Trockenheit anschliefst (?), so 
darf man auch das finnische kowa hart hierher ziehen. 

Türkisch +5 küm, göm vergraben und begraben. — Mandsuisch somi 
verbergen und begraben; in derselben Sprache auch, ohne den consonanti- 
schen Anlaut: um-bu begraben. 
| Gehen wir nun zu einer Reihe solcher Wurzeln oder Wörter über, 
die in verschiedenen Sprachen des Geschlechtes entweder nur mit dem Halb- 
vocale Jod oder mit einem blofsen Vocale anlauten. 

Finnisch jyrkiä, järkiä und jyriä, järiä grob, derb, feist. — Türkisch 
5} iri dasselbe. 

Finnisch jyrkä und jyrki steil, jäh. — Mongolisch. erki steil, hoch; 
erki-m ausgezeichnet; ergü aufheben, erheben, Ehre anthun. 

Finnisch joki kleiner Flufs. Im Tscheremissischen und im türkischen 
Dialekte der Tschuwaschen ist jog fliefsen (?). — Bei den Lamuten heifst 
Flufs ok-at. — Im Türkischen ist 5) ak als Verbalwurzel fliefsen. 

Verwandt scheint auch die andere finnische Wurzel wuo fliefsen, die 
wohl eigentlich wwok lauten müfste; denn man hat wuoksi Flufs. (*) 


(') Die osttürkische Form für koru ist kor-ku. 

2) Vel. z.B. jakutisch chat austrocknen, mongol. chatan hart; türk. katy hart, sehr. 
8 ] 9 5 Y 9 

(°) Tungusisch jukta und juukto Quelle. 


(*) Wuosi Jahr möchte ich gern durch Zeitfluls erklären; da jedoch wuoze zum Grunde 
liegt, so kann es auch aus dem russischen Worte ro» entstanden sein. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 399 

Finnisch jouko Haufen, Menge. — Türkisch & jygh anhäufen und 
use jyghyn Haufen. — Mandsuisch ik-ta anhäufen, sammeln. — Ein isch 
für j sehen wir in dem lappischen zschöke, mongolischen ischuk gehäuft, bei- 
sammen, Zschuktscha Anhäufung, und mandsuischen zschoocha Heerhaufen, 
Armee. Dem mongolischen ischukist aber wieder sehr befreundet das türkische 
Gs> tschok und gleichbedeutende magyarische sok (schok) Vielheit, viel. 

Lappisch jakke und jakko, Wurzel des Glaubens und Vertrauens. — 
Mandsuisch ak-da vertrauen (vergleiche ik-ta neben jouko). 

Lappisch jukka drinken. Vereinigt gleichsam das finnische juo mit 
dem mongolischen ughu. An juo reiht sich das türkische ws jut schluk- 
ken. — Auf eine Nebenform juok verweist das lappische ischuoke schlap- 
pen, saufen ('). 

Lappisch juglo Kind. — Türkisch Js£,} ughul, oghul Sohn, woher 
ones! oghlan Knabe. — Tungusisch omol-gi Sohn und mandsuisch omolo 
Enkel, welche beide Formen auch ng und g für m haben könnten. Vergl. 
unter Ng. 

Lappisch jörre fallen. — Mandsuisch ure einstürzen. — Türkisch 
3» Jor-ul ermatten. 

Lappisch jäsko-te fragen. — Mongolisch asak. Letzteres kommt der 
bekannten germanischen Wurzel noch näher als Ersteres. 

Lappisch jätte sagen. — Türkisch wu! ejit, wenn das Gesagte unmit- 
telbar folgt. 

Türkisch »\,L jar-at schaffen, machen. — Lappisch saret. — Man- 
dsuisch ara. — Östjakisch wer. 

Türkisch @Ll jak-ty klar, hell; ‚s jak anzünden. — Mandsuisch ja- 
cha glühende Kohle. — Lappisch tschuouk Licht und seine Ableitungen; 
daneben zsakke brennen. — Magyarisch eg (für jak) brennen, und vielleicht 
eg Himmel, von der Bedeutung Helle, Klarheit (?). — Das türkische cl 


(') Ein anderes Kernwort des Trinkens besitzen die Tungusen in omi, um, un, imi; 
die Mongolen nur in abgeleiteten Wörtern wie um-ian Getränk, um-ia-gas dürsten u.s.w. 


a 


hier nicht an finnische Formen wie juoma Getränk, juomari Trinker u. s. w., denn in die- 


Vergleiche das chinesische jen oder in, welches in Dialekten jam lautet. — Man denke 
5 ’ 


sen ist m nicht wurzelhaft; sie gehören zu juo. 


(?) Vergleiche das finnische /ma Luftkreis, von einer Wurzel hell. 


360 Scuorrt über das Altai'sche 


weifs halte ich für eine Nebenform jenes jak; vergleiche was oben (S. 341) 
zu dem tungusischen giltaldi bemerkt worden ('). 

Wie tschap zu jap (s. oben), so verhält sich zu vorliegendem jak das 
mongolische ischaki-l blitzen, woher tschakil-ghan Blitz. Dieses scheint 
zunächst abgeleitet von zschaki Feuer schlagen, was auch bei den Türken 
öl tschak ist (?). — Die tungusischen Wörter zalkian und talingu (Blitz) 
möchte ich für blofse Verderbungen des mongolischen Wortes erklären (°). 


Türkisch u aghads und „Li jaghads (jyghads, jiwys) Baum (*). 


Östjakisch juch Baum und magyarisch ag Ast, jedes in seiner Art Verstümm- 
] ji 87 5 ] 


lung, wie das mongolische azscha Ast. In Jenen ist der Kehllaut allein er- 


©’ 
halten, in diesem allein untergegangen. Die Suomisprache bewahrt 
Beides in ihrem oksa Ast, indem sie nur den mittleren Vocal ausstöfst. 

Türkisch zb jagh vom Fallen des Regens, Schnees, Hagels; ,L 
jagh-myr Regen. — Mandsuisch aga regnen und Regen. — Lappisch ök-te 
Regenschauer. 

Türkisch ‚s'„b japrak, ‚s\2\> dsafrak, und bei den Jakuten sibirdach 
Blatt. — Mandsuisch afacha mit vocalischem Anlaut und ausgestofsenem r 
nach dem Labiale. Tungusisch abda-nda, awda-nna. Hier ist abda wesent- 
lich und zugleich näher den türkischen Formen, von denen aber jakutisch 
sibirdach am meisten das Gepräge der Ursprünglichkeit trägt, mag nun r in 
japrak noch jenes r vor d, oder das verwandelte d sein; jedenfalls ist ein 
Consonant ausgefallen (°). 


(') Eben so vereinigt das finnische wa/kia die Bedeutungen glänzend, weils, und 
Feuerschein. 

(*) Der Umstand, dafs zschak und zschaki nur allein vom Anschlagen des Feuers 
gebraucht werden und nie ein anderes Schlagen bezeichnen, spricht mir für ihre Einheit 
mitjak, obschon an ähnlich lautenden Wörtern für schlagen, hämmern, schmieden (türkisch 
tok und dög, finnisch zak, mands’uisch zu, 26) kein Mangel ist. 

(*) Diese Annahme würde sie also von dem finnischen wa/kia, tscheremissisch wal- 
gantsa (Blitz) u. s. w. fern halten und uns einer Fusion des jak mit schon da gewesenen 
Wurzeln des Leuchtens überheben. — Beiläufig bemerkt: die magyarischen Formen mit 
doppeltem Z hahe ich oben aus der Assimilation eines d erklärt; allein es kann z.B. villdm 
auch für vi/gam stehen und also ein (freilich aus d entstandenes) g assimilirt sein. 

(*) Aleutisch jagakch Baum. 

(°) Im Mongolischen und in den finnischen Sprachen haben die verwandten Wörter 
n oder zum Anlaute. Vergl. Z. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 361 


Türkisch ; „ jü/ schwimmen (wofür kein Dialekt jür hat) scheint nur 
eine andere Form des Wortes für Wasser, das sonst in den meisten Spra- 
chen dieses Geschlechtes mit « oder u anlautet. Der jakutische Dialekt hat 
noch jetzt usun schwimmen und schiffen, ganz gleichlautend mit dem 
mongolischen usun (auch usw) Wafser; und im Ungarischen ist die Wurzel 
des Schwimmens usz (üss). Walser heifst ebendas. viz (wif) und finnisch 
wesi (1). In der gewöhnlichen türkischen Form „o su Wafser hat man wohl 
das mongolische usw mit ausgefallenem vocal. Anlaute zu suchen. (?). 

Türkisch ei essen, nur in «£#! et-mek Brod, was sich als ein Infinitiv, 
wie unser Efsen für Speise, kund giebt. — Die gewöhnliche mongol. Wurzel 
ide (?) verhält sich zu diesem e2 wie die gleichlautende mongolische ide 
verfertigen, machen, zu dem gleichbedeutenden türkischen i (auch et). — 
Bei den Mands’us erscheint ds’et für je? im Verbalnomen dset-ere, sonst aber 
dse für je, welches in der türkischen Familie das gewöhnliche Kernwort des 
Efsens. Auch von diesem wird das Verbalnomen «Sz, je-mek im gemeinen 
Leben für Speise und Mahl gebraucht (*), ein anderes, y%*s. je-misch, für 
Obst, Früchte. Im Mandsuischen bedeutet dse-ku die Cerealien, weil sie 
eine Hauptnahrung sind: ein Grund mehr, in dem türkischen eimek (Brod) 
nur Efsen, Speise überhaupt zu sehen. — Die türkische Wurzel je wird im 
Jakutischen se, im Tschuwaschischen si. — Finnisch ist efsen syö und syy; 
aber die Magyaren haben wieder et in et-ek Speise, Gericht, u. s. w. 


(') So sagen z.B. die Tschuwaschen wis für ze uds Äusserstes, Ende; wisse für 
—„' uisch drei. 

T (2) Als verwässerte Formen erscheinen mir: finnisch wi (für si?) schwimmen, und 
mongol. oi-ma (oimachu), wenn nämlich das m des letzteren nicht zur Wurzel gehört; im 
anderen Falle kim es dem arabischen “,2 sehr nahe. Aber auch die oben angeführten 
tungusischen Wurzeln des Trinkens: omi u.s. w. böten jenem oima die Hand. Analog 
heilst in einigen Eskimo-Sprachen mmyk oder tangak Wasser, und myka oder tanga 
trinke du! — Ich nehme hier Gelegenheit zu bemerken, dass ein die Tungusen aus- 
zeichnendes Wort für Wasser (muke, muja, mu) seinen treuesten Anklang in dem zmımyk 
des Eskimo-Stammes Kangjulit findet, dessen Anlaut nur ein mit stark gepresster Lippe 
gesprochenes und insofern doppeltes m ist. 

(°) Auch ede findet sich bei den Mongolen, z.B. in ede-mek gekochtes Viehfutter 
(der Form nach fast genau das türk. eimek Brod); ede-kü Speise oder Futter in ein Ge- 
fäls thun. 

(*) Jemek jemek Essen essen, d.i. ein Mahl halten. Hier ist die Form auf mek das 
erste Mal wahres Nennwort und das zweite Mal Infinitiv. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Zz 


362 Scuorr über das Altai'sche 


Türkisch ®! ei Fleisch, allem Anschein nach ein verkommenes Wort. 
Die tschuwaschische Form juwt giebt uns den Muth, ein ausgefallenes 2 an- 
zunehmen, wie in den tungusischen Formen ulda, ulla, und dem jali der 
Mandsus. 

Türkisch x, 2232 jumurta Ei. — Tungusisch umukta, umutka und 
umta. — Mongolisch ümdü-gen. — Mandsuisch um-chan. In dem tungu- 
sischen umta und mongolischen ümdü sehen wir von den letzten zwei Conso- 
nanten nur Z (d) erhalten, eben so in der jakutischen Form symyt. Die 
Mandsus behalten um allein, denn chan ist wie mongolisch gen nur ver- 
kleinernder Zusatz. Umu oder um scheint in allen diesen Formen allein 
wesentlich, und in dem finnischen mu-na mag der anlautende Vocal wegge- 
fallen sein wie z. B. in mui-nen = emü-ne ('). 

Tungusisch umuk, unuk, unjak (mit und ohne Zusätze) Finger. — 
Auf ein ausgefallenes j (oder +) läfst uns die mandsuische Form sim-chun 
schliefsen, ferner das, nur bei den Jakuten erhaltene, türkische semija(?).— 
Dagegen schliefst sich an eine tungusische Form wie unjak das ungarische 
ij Finger und Zehe. 

Mongolisch dsir und ir als Ausdruck der Heiterkeit und des Erfreu- 
lichen, z. B. in dsir-gha sich erfreuen, belustigen; ira-gho angenehm, ira- 
ldsa lächeln. — Mandsuisch lga-scha einen Besuch zu seinem Vergnügen 
machen. — Türkisch &! ir-mek munter, kurzweilig. — Finnisch zo Freu- 
de (°). Mit u haben die Mandsus ur-gun Freude; mit ö, die Ungarn ör-öm 
dasselbe und ör-ül sich freuen. Endlich finden wir bei den Jakuten ür und 
nach Erman jor, ein Beispiel mit j als Anlaut, der übrigens auch in dsirgha 
vorausgesetzt werden mufs. 

Es folgen Wörter, deren Anlaut entweder Labial oder Selbstlauter 
ist, jedoch ohne Wiederholung derjenigen die schon beiläufig vorgekommen. 

Mongolisch aba und adu Vater, mehr in schmeichelnder Anrede; sonst 
noch erhalten in aba-gha Oheim, aba-ghai ältere, ehrenwerthe Person; 
geschwächt in edü-ge Grofsvater, ebü-gen Greis. — Mit u in dem jakutischen 


(') In verschiedenen Eskimosprachen heilst Ei: manni, manik, mannit. 

(?) Das gewöhnl. türk. darmak oder parmak finden wir in dem finnischen warwaha 
Zehe wieder. 

(°) Ob alle diese ir, ur, ür, ör, il ursprünglich mit den oben besprochenen Wurzeln 
des Leuchtens und Glänzens zusammenfallen, dies will ich unentschieden lassen. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 363 


ubai älterer Bruder (!),; mit w als Anlaut in dem Lappischen wuop Schwie- 
gervater.— Dieselben Formen für geehrte Personen weiblichen Geschlechtes: 
tscheremissisch aba Mutter; tschuwaschisch dasselbe in ab-ai meine Mutter, 
ab-u deine Mutter; mongolisch aba-chai vornehme Jungfrau (als Titel). Das 
geschwächte a! ede im Türkischen Grofsmutter und Hebamme. Mit ö im 
Lappischen öppa Schwester. — Einen Labial als Anlaut haben die Türken 
in baba Vater, die Mandsus in mafa Grofsvater, Ahnherr (für maba = baba), 
und die Lappen in wuop (s. vorher). 

Mandsuisch ama Vater. Sonst mehr für weibliche Personen: so im 
Mandsuischen selber amu Weib des älteren Oheims oder Bruders; tschuwa- 
schisch amy-s Mutter (neben aba und anja). Bei den Türken überhaupt 
noch in .) am Geburtsglied (?). — Geschwächte Formen: mandsuisch eme 
Mutter; mongolisch eme Weib überhaupt (von seiner vornehmsten physischen 
Bestimmung, d.h. Mutter zu werden), eme-ge Grofsmutter; eme-gen alte 
Frau. — Finnisch emä, emi, emo, emu Mutter und Geburtsglied; emä-ntä 
Hausmutter, Wirthin. — Hierher gehören ferner Ausdrücke für Zitze, weib- 
liche Brüste, und saugen, an der Brust trinken, in welchen die Wur- 
zel als em oder im erscheint (?). Bei den Mandsus hat mama Grofsmutter 
(vergl. mafa), bei den Türken meme Mutterbrust auch m zum Anlaute. 

Das m in der Mitte ist, jedoch fast nur im weiblichen Sinne, häufig 
nj,niund blofses n geworden. So haben schon die Mands’us neben eme auch 
enie Mutter (*); die Tschuwaschen neben amys auch anja; die Ungarn nur 
anya (anja);, die meisten Türkenstämme nur Ü' ana. Aus der Suomisprache 
nenne ich eno Mutterbruder. 

In diese Kategorie von Verwandtschaftswörtern gehören nun auch 
Bezeichnungen des Geschlechtes an Vögeln und Säugethieren. Bei den Man- 
ds us ist ami-la (von ama) das männliche, emi-le (von eme) das weibliche 


(') Vergl. zu diesem ganzen Artikel die Verwandtschaftsnamen mit einem Kehllaut 
in der Mitte. 

(?) So ist das mands. fefe cunnus nur eine andere Form von cheche femina. 

(°) Ob das Mands. simi auch hierher gehört, oder mit dem Ungar. szio (tibet. si) 
eine eigene Wurzel bildet, mag vorläufig dahin gestellt bleiben. 


(*) Sonstige tungusische Formen sind ani, oni, önni, bei den Lamuten aber anja, wie 
bei den Ungarn und Tschuwaschen. 


Zı2 


364 ... ScHuortrt über das Altaische 


Thier (!). Sodann heifst eni-chen (Mütterchen) der weibliche Hund; eni-en 
(eine Erweichung dieser Form) das Weibchen des Hirsches und Elenthiers, 
endlich uni-en das weibliche Rind, die Kuh. Bei den Mongolen ist üni-gen 
oder üni-jen die Kuh, ing-gen (statt ini-gen) die Kameelstute; bei den Türken 
Su inek (für ine-ken) die Kuh.— Von eme bilden die Mongolen eme-ktschin 
weiblicher Vogel, und bei den Suomalaiset ist emä überhaupt das weibliche 
Thier (?). Bei den Uiguren heifst der weibliche Vogel matschian (für matschi- 
gan), womit matscha-la (Kuh) bei einem tungus. Stamme zu vergleichen. 

Mandsuisch wesi hinansteigen und wasi hinabsteigen. Daher wesi-chun 
hoch, geehrt; wasi-chun niedrig und Gegend des Niederganges, Westen. In 
letzterer Bedeutung häufiger wargi aus wa-ergi = wasi ergi Niedergangs-Ge- 
gend (*). Jene Wurzel haben die Türken in den Formen üs und üf, woher 
ww) üs-t Obertheil; ,;s! üf-er dasselbe; aber dies und sein Dativ s,;,1 üfr-e 
nur als Partikeln (auf, über, gegen, gemäfs) im Gebrauche. Die andere Wur- 
zel lautet bei den östlichen Türken as in vu as-t Untertheil, als Partikel 
unter (*); bei den westlichen ascha, jedoch nur mit dem Zusatze gha: 
si) (°). So besitzen die Mandsus fedsi = wasi in fedsi-le und feds-ergi 
unten. 

Mandsuisch udsu Kopf und uds-an Wipfel. — Türkisch zZ) uds 
Spitze, Extremität. — Mongolisch üdsü-gür. — Ehstnisch ots Spitze, Ende, 
und finnisch oisa Stirn (°). — Neben den zwei erwähnten Formen hat der 
Mandsu auch eine mit wa für u, und zwar in wadsi endigen, gleichsam: bis 
zur Spitze, zum Äufsersten bringen. — Wahrscheinlich ist dieses derbere 
Etymon mit üs und wesi verwandt; allein es bildet in seinen verschiedenen 


(‘) Zunächst bedeuten sie Hahn, Henne und resp. mas und femina der übrigen Haus- 
thiere, dann auch des wilden Geflügels. 

(2) Für Mutterschwein sagt man emisä und emis neben emä-sika. 

(°) Aufgangs-Gegend ist aber dergi von einer anderen Wurzel. S. 7. 

€) 9) EN) 'ust-urt Hochland; ws can) ast-urt Tiefland. 

(?) Das angehängte gha ist eigentlich nur der osttürkische Dativ, hat aber hier, wie 
öfter, im Gebrauche die Kraft eines wortbildenden Zusatzes erhalten: aus nach Unten 
ist das unten Befindliche geworden. 

(°) Davon o1so der Breitgestirnte, ein beliebtes Epithet des Bären, das auch oo und 
ohto lautet. — Sollte der mongolische Name dieses mächtigen Thieres, özö-ge, öte-ge nicht 
damit zusammenhangen? Oder kommt dieser von der Wurzel özö alt sein, wozu das an- 
dere finnische Epithet, korwen ukko Waldes-Greis, sehr gut palste? 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 365 
Formen eine selbstständige, geschlossene Reihe, und einige bestimmter aus- 
geprägte Bedeutungen geben ihm Anspruch auf höheres Alter. 

Mandsuisch wala Untertheil, untere Stelle. — Finnisch ala, ali, alu, 
dasselbe, mit vielen Ableitungen (!). Tscheremissisch wal niedersinken, 
wal-t hinablassen. Lappisch wuola = ala. — Jakutisch ala in ala-ra nach 
unten; bei den übrigen Türkenstämmen aber nur al, wie in wJ al-t Unter- 
theil, unter, ee al-tschak niedrig, besonders im übertragenen Sinne. 

Türkisch (s,!ir-mak Flufs, offenbar Verbalnomen von ir fliefsen, das 
bei Türken nicht mehr vorkommt, als dessen Anverwandter aber (5,! eri in 
©,! erit flüssig machen, schmelzen, gelten kann (?). Mit w als Anlaut haben 
die Finnen wir-ta strömen und Strom, Flufs — mit 5, die Tungusen bira, 
bera, birja in letzterer Bedeutung. — Stärkeren Vocal hat mongolisch ur- 
us strömen; und ein mür = bir, wir, ur, ir mag in mür-en grolser Flufs 
aufbewahrt sein. 

Türkisch &} and Eidschwur. — Mongolisch anda-ghar. — Ehstnisch 
wand Fluch, Eid. Finnisch wanno (für wanto) schwören. 

Tungusisch uro, urjo, urä Berg (?). — Finnisch wuori, das also dem 
russischen ropa eben so wenig sein Dasein verdanken mufs, als dieses oder 
0005, oDgos dem hebräischen "7. 

Finnisch wät-kä mit Gewalt werfen. — Türkisch & at werfen, schie- 
fsen. — Auf die Verwandtschaft von jacere und jacere im Latein gestützt, 
könnte man auch das türkische wL jat liegen und finnische wuot in wuote-he 
Lager, Bett, hierher ziehen (*). Die Lappen haben jäwat sternere, wovon 


jäwatak pulvinar, fast genau das türkische D jatak. 
Finnisch wiru zwitschern. — Türk. p} ir Gesang, woher ir-la singen. 


Finnisch «yö Gürtel, Mitte des Leibes. — Türkisch (> wi-Zuk Hüfte, 
ohne Zweifel buchstäblich Gürtel-Gegend, obschon wi in jener Bedeutung 
nicht mehr vorhanden (°). 


(')  Z.B. alukse (alus) Unterlage, Grundlage. Dahin gehört denn ohne Zweifel auch 
alu (alku) Anfang, was ich oben (S. 343), durch Ähnlichkeit getäuscht, mit dem mongol. 
alchu Schritt zusammengestellt habe. 

(2) Mands. ist eje (j für r) Nliefsen. 

(°) Mands’. nur alin, womit Gabelentz das magyarische ralom Hügel verglichen hat. 

(*) Vergl. finnisch maka liegen und mands’uisch mak-ta werfen. — Zu jat gehören 
noch: mands‘. jada matt werden; mongol. jarz unfähig zu etwas sein, nicht können. 

(?) Nachweisliche Formen: ze) ur und 3 kur; also wieder r neben :. 


366 Scuorr über das Altai’sche 


Türkisch ,s£s! oghur stehlen; ss} oghry, ouru Dieb. Jakutisch or 
stehlen. — Finnisch warka-ha und woro Räuber; wora Betrüger. 

Türkisch ‚s! wur und ur schlagen. — Mands’uisch fori. — Magy. ver. 

Mandsuisch oron das zahme und iren das wilde Renthier. Tungu- 
sisch auch irum, irjunj u. s. w. — Bei den Lappen heifst das männliche 
Renthier ron-tscho und ron-tscha, wo also der anlautende Vocal vermifst 
wird; der Zusatz am Ende scheint verkleinernd zu sein, wie etwa in snjera- 
ischa neben snjera Maus. — Im Buleku-Bitche ist des zahmen Renthiers 
unter dem Namen oron-buchü gedacht, d.h. es ist ihm noch das Wort für 
Hirsch beigegeben (!). Wie ron aus oron, so könnte das scandinavische ren 
aus iren entstanden sein, obgleich Letzteres nur noch bei den Tungusen er- 
halten scheint (?). 

Die Finnen haben für dieses Thier den Namen poro, peura, also mit 
starkem Labial als Anlaut. 

Wir wenden uns nun zu denen Wörtern, in welchen einfaches n oder nj 
(rn), das bei Tungusen und Mongolen oft geradezu ni wird, mit blofsem vo- 
calischen Anlaute wechseln. 

Mandsuisch nelche und elche, beides Ruhe, Frieden (?). Offenbar 
abgekürzt für nele-che und das noch vorhandene ele-che gesättigt, zur Genüge, 
befriedigt, von der häufigen Verbalwurzel ele die auch ele-chun zufrieden, 
ruhig, u.a. erzeugt hat. — Mongolisch el Frieden, Ruhe. — Ungarisch el-eg 
hinreichend, genug. — Ob man die finnische Wurzel elleben, deren Selbst- 


(') Die kurze Beschreibung lautet: Eine Art Hirsch. Beide Geschlechter tragen 
Geweihe. Man verspeist ihn. Die Oronzschos unterhalten ihn als Hausthier.— Das scho 
in orontscho (Renthierhalter, nomadischer Tunguse) ist, beiläufig bemerkt, nicht mit 
dem ischo im lappischen ronzscho zu verwechseln; es zeigt, wie das sonstige Zschi, einen 
Beruf an. 

(?) In dem durch Langles’s Bemühungen gründlich verpfuschten Dietionnaire Mant- 
chou-Frangais des Paters Amiot heilst es unter iren: Nom d’une espece de cerf, qui ressemble 
a celui qu’on appelle pouhou, ou oroun. — Allein bucht (pouhou) schlechthin ist allge- 
meiner Name des Hirschgeschlechtes und also mit oron (nicht oroun) keineswegs gleich- 
bedeutend; dafs aber das wilde Renthier gemeint sei und oron-buchü zusammen den Namen 
des gezähmten ausmachen, davon bemerkt der immer confuse Langles nichts. 


t : N ii > 
(°) Ersteres im Buleku-Bitche durch 1:3 k’ang und Letzteres durch DE ngan 


erklärt. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 367 


lauter ebenfalls kurz ist, nicht als gleicher Abkunft betrachten darf? Ist dies 
der Fall, so haben die Ungarn beide Bedeutungen durch Dehnung oder 
Kurzsprechen des e unterschieden; denn bei ihnen ist leben £l. 

Mongolisch neng in hohem Grade, sehr. — Türkisch 8} en aus eng 
dasselbe. — Mandsuisch ronggi hinzuthun, vermehren. — Mongolisch auch 
neng-de und neng-gü übertreffen. 

Mandsuisch nergin gelegene Zeit. — Türkisch „5! erken früh, zei- 
tig. Vgl. S. 342. 

Türkisch 5, aryk hager. — Finnisch arka zart, empfindlich, daher 
auch furchtsam. — Mandsuisch nar-chün fein, dünn. — Mongolisch nar-in 
fein; geschickt, klug. — Lappisch njuor-es zart, weich (!). 

Türkisch ©, arka Rücken. — Lappisch njorga Schulter. 

Lappisch njuow schinden und schlachten. — Mongolisch üp-tschi 
schinden. 

Lappisch njuor bemitleiden. — Mongolisch ure. 

Finnisch neuwo Rath. — Türkisch »s,! ügüt, üwüt. 

Mongolisch nidü und nüdü stofsen, stampfen, desgleichen &-cha zu- 
rückhalten. — Türkisch it. Vgl. S. 336. 

Mandsuisch niele ausdreschen. — Mongolisch ele-ku Dreschwalze. — 
Türkisch el-le worfeln; ss} el-ek Sieb. 

Türkisch ‚ss, ögür Thiere die an einander gewöhnt sind; daher 
5» öjre-n sich mit etwas befreunden, es lernen; öjre-t lehren. — Mongo- 
lisch nügür Gefährte, Freund; daher nügü-tse begleiten. 

Tungusisch njuktschu-kan und nitschu-kun, nitschi-kon klein. Bei 
den Mandsus nur mit vocalischem Anlaute adsi-gen, asi-kan, oso-chon. 
Diese Formen sind mehr abgewichen als das mongolische ütschü-ken (auch 
tschü-ken), wenigstens hinsichtlich der Vocale; aber Alle begegnen sich in 
einem die Kleinheit noch mehr verkleinernden Anhange k-n, g-n (?). — Im 


(') Wegen des Verhältnisses zum finnischen Worte vergl. lapp. niam an der Brust 
trinken; finnisch im; türk. em. 

(?) Hammer-Purgstall sagt in seiner Geschichte der Goldnen Horde (S. 50.), dafs, 
nach Raschideddin, der jüngste Sohn einer Familie bei den Mongolen allemal Ur-dasigin 
d. i. der Feuersitzer, genannt worden sei, weil er zu Hause blieb, um den Heerd zu 
schützen. Bei Abulghasi (a. a. O.) geschieht (S. 96) eines OS EH Uttschikin Erwähnung, 
den Tschinggis auf die Nachricht von Tschutschi’s plötzlichem Tode nach Kyptschak ab- 
sandte, um dessen Sohn Batu an seines Vaters Stelle zu setzen. Wer jener Uttschikin ge- 


368  Scuorrüber das Altai'sche 


Im Türkischen ist adsi oder asi zu 5 a/ vereinfacht, das bei den östlichen 
Türken noch klein, bei den westlichen aber wenig bedeutet. — Dagegen 
tritt das Lappische uzse, von welchem auch eine neue Verkleinerung utse- 
katsch parvulus gebildet wird, besonders der mongolischen Form wieder 
sehr nahe; und gewifs nichts anderes ist das magyarische öttse (ötsche). Die- 
ses bedeutet zwar nur jüngerer Bruder; allein der Übergang von klein 
zu jung, jünger ist überall so sprachgemäls, dafs er gar keiner Beispiele 
bedarf. Nur zum Überflusse führ’ ich an, dafs die Osmanen den jüngeren 
Sohn oder Bruder immer den kleinen und den älteren immer den grofsen 
nennen (!). 

Bei den westlichen Türken ist für klein das Wort S>sS kütschük und 
nur dieses im Gebrauche. Aber auch die östlichen, wenigstens muham- 
medanischen, besitzen es in der Form kitschik. Kütschük kommt nun dem 
persischen S>s‘ küdsek so auffallend nahe, dafs man seine Erborgung kaum 
bezweifeln darf, um so mehr, da die heidnisch gebliebenen Jakuten kein 
solches Wort besitzen. Und doch könnte es in dem tungusischen njuk- 
tschukan schon enthalten sein! 

Finnisch nenä Nase und vorderes Ende. Lappisch njuone Nase, 
aber njuono der Vorderste, Erste (?). — Mandsuisch nene vorangehen, be- 
sonders zeitlich, daher nene-che vergangen, ehemalig; ferner nen-de vor- 


wesen wird nicht gesagt; offenbar meint aber Abulghasi den jüngsten Sohn des Tsching- 
gis, Tului, welchen er sonst > e-re} Tuly-Chan nennt. Der Jüngste einer Familie 
heifst bei den Mongolen ozchan, welches Wort sich, wenn es in o£+chan zerlegt 
wird, mit Feuer-Chan, Feuer-Herr erklären läfst, wobei nur die Schwierigkeit, dals oz 
zwar bei den Türken, aber nicht bei den (heutigen) Mongolen, Feuer bedeutet. Was 
nun uz-tschikin anlangt, so bedeutet dessen zweiter Bestandtheil in beiden Sprachen we- 
der Herr noch Sitzender, im Mongolischen das Ohr! Ohne Zweifel hat Raschideddin 
sich vergriffen, und das mongolische üzschüken (klein) für ozchan genommen. 

(') Bruder überhaupt heist bei ihnen UMS karyndasch oder abgekürzt kardasch, 
von karyn Bauch, buchstäblich Bauchgenosse, analog dem griech. @deAdbos. Um nun 
das Verhältniss des Alters zu unterscheiden, spricht man vor diesem Worte San büjük 
grols oder "S>sS kitschük klein. — Die östlichen Türken haben, wie die meisten Völ- 
ker dieses und noch manches anderen Geschlechtes, kein Wort für Bruder im Allgemeinen, 
für älterer oder jüngerer Bruder aber Ausdrücke die unter sich ganz verschieden sind. 

(2) Das türk. Wort urun Nase hat besonders bei den östlichen Türken häufig die 
Bedeutung vor (von Zeit und Ort gesagt), z.B. (Wenn durun-ghy (aus Nase und dem 
angehängten bezüglichen Deuteworte) vorig, ehemalig. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 369 


angehen im örtlichen Sinne und etwas zuerst (vor Anderen) thun.— Vorde- 
rer in Hinsicht des Ortes und der Zeit ist bei den Finnen en-te (ensi), oder 
e-te (esi), jedes mit zahlreichen Ableitungen (!). Beide können mit nenä Nase 
u.s.w. urverwandt, ihre Abstammung aber wegen des fehlenden Anlautes 
nin Vergefsenheit übergegangen sein. Esi (ete) erscheint mir als eine blofse 
Abkürzung von ensi (ente); doch finden wir nur Ersteres bei Mongolen und 
Türken wieder: mongolisch heifst esi Ursprung, esi-le auf den Ursprung 
hinweisen; türkisch heifst ‚=! es-kö ehemalig und alt (?), aber nur von Zeit 
und unbeseelten Dingen. 

Ein anderes Etymon für Vorderes und Vergangenes hängt wohl auch 
mit einem Worte für Nase, nur keinenfalls’mit dem erwähnten, zusammen. 
Seine wahrscheinliche Urform war ung, und diese finden wir in den man- 
dsuischen Wörtern ungga Vorältern und unggu, welches letztere, mit mafa 
und mama verbunden, die Urgrofsältern bezeichnet (?). — Türkisch ist 
os) umghan, wunstreitig für ung-ghan, das Bruststück der Hausthiere; 
“&,} öng und &y) ön Vorderseite überhaupt. — Mongolisch öni vordem, 
längst. — Ich habe schon oben bemerkt, dafs das weitverbreitetste Wort 
für Nase in tungusischen Dialekten die Formen ongokto und ongot annimmt, 
auch aus dem mongolischen chong-sijar auf ehemaliges Vorhandensein eines 
ähnlichen, nur guttural anlautenden Wortes in dieser Sprache geschlofsen. 

Finnisch notko Biegung; notku sich ab und zu biegen; notkia biegsam, 
u.s. w. (*). Mongolisch nogAho-l umbiegen; nogho-ra sich umbiegen. — 


(') Unter diesen befindet sich eze-2ä Südland, wörtlich Vorderland. Es hat also 
der Finne, die Weltgegenden bestimmend, sich mit dem Gesichte nach Süden gekehrt, 
wie der Tunguse, der Türke und gewöhnlich auch der Mongole. 


(*) Aus s und dem bezüglichen Deuteworte. Vergl. Burun-ghy vorig, dün-ki ge- 


strig, u. S. w. 
uud BR 
(°) Dals die Chinesen den ältesten Ahnherrn einer Familie EI INEL vie, buch- 
>IT= 


stäblich Nasen-Ahnherr nennen, hat wohl ganz einfach seinen Grund darin, dafs hier, 
wie in den tatarischen Sprachen, die Nase zugleich Vorderstes, Altestes, Ursprung be- 
deutet hat. Dies bestätigen auch die Sprachgelehrten der Chinesen selber. Siehe K’ang-hi’s 
Wörterbuch unter Nase. Zu künstlich ist es aber, wenn ebendaselbst gesagt wird, der 
erste Stammherr heifse darum pi-is&, weil die Nase das erste Glied des Mutterkindes sei, 
welches Form erhalte. 

(‘) Mitr haben die Finnen nuoria und nöyrä biegsam, dann nachgiebig, demüthig. — 
Ob wäärä krumm, gebogen, dem türkischen gjri nur zufällig so nahe kommt? 


Philos. - histor. Kl. 1847. Aaa 


370 Scuorr über das Altai’sche 


Lappisch niakko gebogen, geneigt. Mandsuisch niakün Knie. — Dann wie- 
der lappisch neike-le biegen, neigen. Mandsuisch naichü biegen und sich 
neigen. — Mit einem Selbstlauter als Anlaut: mandsuisch uchu biegen und 
falten (daher z. B. uchu-ken was leicht zu biegen ist, schwach) (!); ferner 
uku in uku-le bücken, hinabdrücken (die Mütze ins Gesicht), uku-nu Ge- 
bogenes, Kreis versammelter Menschen (?); endlich 0jo biegen, falten, über- 
decken, einen Kreis beschreiben (daher ojo-nggo das Umgebogene, Umfas- 
sende, Wesentliche). — Türkisch oghu in „s&s} ogh-un sich krümmen, 
sich niederbücken, ferner 8} eg oder ej (vergl. neike) biegen, neigen u.s.w. 
Daher \sS1 ej-ri krumm, schief. 

An die einmal ausgebildete Bedeutung Umgebendes, Kreis knüpft sich 
wieder die einer Gesammtheit, Allheit, eines Ganzen, wie wir oben unter 
ch-r, k-r, g-r gesehen. Daher mongolisch ogho-ghata völlig, ganz; oghoo 
in hohem Grade, sehr; mandsuisch uche Gesammtheit, uche-ri im Ganzen, 
zusammen, u.s.w. Also ist die Wurzel ohne consonantischen Anlaut auch 
den Mongolen nicht fremd (°). 

Finnisch nielu Schlund, Gurgel; niele schlucken. Davon unmittelbar 
magyarisch zyelo Zunge (*) und nyel schlucken. Lappisch njölo lecken und 
magyarisch zyal dasselbe. An die Bedeutung Kehle oder Schlund knüpft 
sich die des Schluckens und an die Bedeutung Zunge die des Leckens. — 
Im Türkischen haben wir Sb jal lecken; im Mongolischen ds’al-gi (für jal-gi) 
schlucken. Beide sind offenbar von einem verlorengegangenen Worte für 
Kehle und Zunge, das einen starken Vocal hatte wie z. B. nyal, njolo. Das 
mongolische dolo lecken gehört eben dahin; das türkische JS dil oder dil-ge 
(tschuwaschisch Zschilge) Zunge aber zu der schwächeren Wurzel niel. — 
Einen blofsen Vocal ö als Anlaut hat das mandsuische üe lecken, womit 
wieder ie-nggu Zunge innig zusammenhängt (°). 


(') Auch bedecken, sofern dies durch Umbiegung, Umwindung geschieht. 

(?) Uku allein heilst als Verbalwurzel: jemanden im Kreise umdrängen, sich gleich- 
sam um ihn herum biegen. 

(°) Verwandte Wurzeln des Biegens und Krümmens, die mit einem Kehllaut oder 
einem Lippenlaute anfangen, werden an ihrem Orte zur Sprache kommen. 

(*) So ist mongolisch kele Zunge verwandt mit choola und choolai Schlund, Kehle. 

(°) In den tungusischen Dialekten ist das 2 von i/e meist n geworden oder sogar aus- 
gefallen: ingni, inggi, inni sind Verkümmerungen von ienggu. Die Lamuten haben enga 
neben :i/ga, welches letztere dem Zschige der Tschuwaschen sehr ähnlich wird. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 374 


Aus dil Zunge entsteht nun im Türkischen unstreitig dile sich sehnen, 
verlangen (gleichsam die Zunge nach etwas ausstrecken) und, wie ich glaube, 
auch di sagen, das zu dil eben so sich verhalten mag, wie das mongolische 
ge sagen zu kele Zunge. S. unter X. Das den Lappen eigenthümliche Wort 
für Mund, njal-me, kommt wohl von njal in der Bedeutung schlucken. 

Mandsuisch nialma Mensch. Dieses wohltönende, den übrigen tun- 
gusischen Dialekten unbekannte Wort findet erst Anklang im Lappischen, 
und zwar zunächst in der Form almatsch Mensch, woneben auch ulmutsch 
und ölma (dieses nur in der Bedeutung Mann) vorkommen. Aber die For- 
men mit o und z führen uns zu einem Bruderwort in der Suomisprache, das 
uns allererst die Wurzel und ihre Bedeutung enthüllt: es ist ole-mus le- 
bendes Wesen überhaupt, von ol (ole), jener den meisten finnisch -tata- 
rischen Sprachen geläufigen Wurzel des Daseins, auf welche ich hier nur 
hindeuten will. Mus ist blofser grammatischer Zusatz, wie mutsch, matsch 
und ma ('!); wir können daher unbedenklich nial im mandsuischen Worte 
für jene Wurzel des Lebens, Daseins erklären, die sonst nur noch mit vo- 
calischen Anlauten erscheint. Aber unmittelbar aus nial entstanden sind die 
Formen mit dem Anlaute & oder e (lappisch äl, finnisch und magyarisch el, 
el), deren bereits oben unter nelche gedacht worden. 


* * 


* 


Bis jetzt haben wir verwandte Wurzeln kennen gelernt, die entweder 
mit einem Vocale oder mit einem Consonanten vor dem Vocale anlauteten (?). 
Nun eine kleine Anzahl solcher, deren Anlaut entweder blofser Consonant 
oder ein Vocal vor demselben ist. 

Lappisch mangga und mangge was hinten oder später kommt. Ist 
als Adjectiv und Verhältnifswort (Postposition), im letzteren Falle mit ver- 


(') Mus steht für ma + us; es ist Zusammenschweilsung zweier den abgezogenen 
Zustand bezeichnender Zusätze, von denen letzterer für wkse steht. Eben so verhält sichs 
mit mutsch, matsch im Lappischen, und mit der Endung isch im Türkischen. — Mit blo- 
(sem ma (mä, m) bildet man z.B. von o/ im Finnischen olle-ma dasein, vorhanden sein, 
und von el, elä-mä Leben, Lebensweise; magyarisch el-em dasselbe. Diesen Formen stehen 
also ö/ma und nialma am nächsten. 

(?) Von Wörtern mit blofsem Vocale oder z, d, auch s, isch als Anlaut sind einige 
beiläufig vorgekommen; andere werde ich, da ihrer nicht viele sind, unter den erwähnten 
Mitlautern aufführen. 


Aaa 


372 Scnuorr über das Altai’sche 


schiedenen Casuspartikeln, im Gebrauche. Bei den Ungarn haben wir da- 
für meg in meg-E und meg-ett hinter, nur örtlich. — Mandsuisch manggi, 
Verhältnifswort in der Bedeutung nachdem; daneben auch ama in den Wort- 
bildungen ama-ga, ama-la, ama-si nach hinten, später, nachherig, künftig, 
und ama-rgi (aus ama + ergi) hintere Gegend, Norden. Es steht also manggi 
selber für ama-nggi, und ist die abgekürzte Wurzel in Verbindung mit dem 
bezüglichen Deuteworte, das man aber nur noch bei den Mands’us als solches 
erkennt. — Die Mongolen besitzen diese Wurzel in dem einzigen Worte 
uma-ra Norden, dessen ra dem mandsuischen ergi entspricht. Das mon- 
golische emü-ne Vorn und Süden lehrt uns aber eine Wurzel emü kennen, 
in welcher der Gegensatz der Bedeutung durch Schwächung der Vocale be- 
zeichnet scheint. Diesem emüne begegnen wir wieder in dem finnischen 
muina Vergangenes, frühere Zeit, wo der anlautende Vocal verschwunden 
ist (1). 

Türkisch ; „! omu/f für omur Schulter. — Mongolisch mürü und man- 
dsuisch mejren. — Tungusen haben n statt m in nuru, nöru, neri, niri, 
welche Wörter aber Rücken bedeuten (?). 

Mongolisch edütük Knie. — Finnisch potka Knie des Ochsen. 

Mongolisch ebü-sün Gras, Kraut. — Magyarisch fü für bü. 

Mandsuisch ede weich machen (in Wasser einweichen), schwächen; 
ebe-re schwach werden. — Türkisch w,;} epre-t verdünnen, abnutzen, aus- 
mergeln, schwächen. — Lappisch eber-es schwächlich, kränkelnd; auch für 
schwanger. — Mongolisch ebe-d Schmerz empfinden, krank sein, ebed-tschin 
Krankheit; auch eber in eber-schil plötzliche Krankheit, eber-le plötzlich 
erkranken. — Der vocalische Anlaut fehlt in dem magyarischen bet-eg un- 
päfslich und krank, worin ich det allein für wurzelhaft halte; desgleichen in 
dem (durch einen starken Vocal sich auszeichnenden) finnischen poti schmer- 
zen, kränkeln, krank sein. 

Mongolisch masi, in hohem Grade, sehr; masi-la in reichem Maafse 
ihun. — Mandsuisch umesi aufserordentlich. 

Beispiele von Verschiebung, wodurch ein Vocal statt eines Conso- 
nanten Anlaut wird oder umgekehrt, sind: Mandsuisch fo reiben; türk. ow. — 


(') Wegen der Bedeutungen vergleiche das türkische ung Vorderseite mit dem man- 
ds’uischen ungga Vorlahr. 
(2) Ob das lappische njorga (s. oben) eher hierher als zu dem türkischen arka gehört! 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 373 


Tungusisch oot, magyarisch it Weg; syrjänisch zwi, finnisch tie. — Man- 
dsuisch zua Feuer; türkisch ut (s. unter T). — Mandsuisch orcho Pflanze; 
finnisch ruoho. — Tungusisch oktscha neben kotscha Widder, welches Wort 
bei Mongolen chotscha, bei Türken <> kotsch lautet. 


* * 
* 


Es folge nun eine Anzahl Wörter, die in den verschiedenen Familien 
des altai’schen Geschlechtes nur mit Vocalen anlauten. 

Finnisch aja treiben, jagen und fahren, reiten. — Mongolisch aja-n 
Jagd, Reise, Feldzug; aja-la reisen, jagen. — Mandsuisch aja sich zum 
Auffluge, zum Stofsen anschicken, von Jagdfalken und dergleichen. Vor 
den Namen gewifser Raubvögel steht ajan und scheint dasselbe zu bedeuten 
was die erste Silbe in Stofsvogel. Auch der Wind (edun) wird, wenn er 
stark und stürmisch ist, ajan edun genannt. Endlich giebt man dem Worte 
die Bedeutung stark und grofs überhaupt, mit besonderer Beziehung auf 
Thier-Arten. 

Türkisch ‚s’ aöiMond; beiJakuten yiund Tschuwaschisch oich. Wenn 
die Nacht eben so vom Monde genannt werden kann, wie der Monat, und 
wie der Tag von der Sonne, was doch in sehr vielen Sprachen geschieht: 
so darf man in dem erwähnten, ursprünglich nur aus einem Doppellaute be- 
stehenden Worte das finnische Wort für Nacht — im Suomi yö; lappisch 
ijja,; magyarisch £j (1); mordwinisch wä; syrjänisch woi (?) — wiedererken- 
nen. — Von yö bilden die Finnen yökkö Nachtvogel (?); und es ist sehr 
merkwürdig, dafs dieses Wort in der Form 5! ögü auch bei den Türken, 
selbst den osmanischen, sich vorfindet (*). Von Erborgung kann hier nicht 


(') Das an dj gehängte zszaka heilst offenbar Zeit, also ejtszaka Nachtzeit. Vergleiche 
unter chagha — jaka — tschak. 

(2) Chinesisch heifst Nacht je, ein Wort, das ebensowohl mit den obigen, als mit 
jue‘ Mond verwandt sein kann. — Die mit einem Lippenlaut anfangenden tungusischen 
Wörter für Mond, wie djega, biga, bech, bia, sind mit wä& und woi zu vergleichen; eben 
so mit oich. 


(°) Nach Einigen Fledermaus, nach Anderen Nachteule oder Nachtschwalbe. 


(*) In Giganows russisch-tatarischem Wörterbuche wird ,5,} durch Bram (Uhu, 
grolse Ohreneule) erklärt; im Lehds'et-ül-loghat (S. 197) durch TG sus Nachtvogel. 


374 Scuorr über das Altaische 


wohl die Rede sein; aber vielleicht ist der Vogel in beiden Sprachen nach 
seinem Geschrei genannt (was dann freilich in sehr übereinstimmender Weise 
geschah); und alsdann wäre die Gleichheit des Anlautes von yökkö mit yö 
Nacht entweder zufällig, oder man hätte das Wort absichtlich so gebildet, 
dafs die Nacht mit hineinkam. 

Türk. © at Pferd. — Mongol. ada-ghosun Thier überhaupt (!). — 
Mands. ad-un Gestüte, adu-tschi Pferdehirt, und adu-la Pferde und andere 
Hausthiere weiden lassen. — Bei den jakutischen Türken heifst das männ- 
liche Pferd atyr, und in einem tungusischen Dialekte ad-irgi, ich werde 
weiter unten zeigen, dafs diese beiden Wörter nichts anderes als eguus mas 
bedeuten können (?). Allein die Abkunft des Wortes ist dadurch verdunkelt 
worden, dafs sein 2 oder d in allen übrigen Dialekten und verwandten Spra- 
chen zu j, und dieses wieder zu ds und ds wurde; daher mands. adsirgan, 
mongol. adsirga, in einem tungusischen Dialekte sogar adsarga;, bei den 
westlichen Türken aber +! aighyr, dessen gh wohl durch Verschiebung 
des irgi in ad-irgi zu erklären. — Selbst das finnische Wort orAhi Hengst 
könnte aus ohir = aighyr entstanden sein. — Mongolen und Mandsus be- 
zeichnen übrigens mit ihrem Worte für Hengst auch das Männchen anderer 
Hausthiere; die Mandsus namentlich den männlichen Hund. Selbst ein ge- 
wifses wild wachsendes Kraut heifst bei ihnen adsirgan sogi das Hengst - 
Kraut. 

Mands. adsa ritzen, leicht verletzen; ads’a-bu den Anfang machen, 
z.B. mit Reden. — Türk. <' atsch öffnen. Die türkische Bedeutung steht 
inmitten der beiden mandsuischen; denn anfangen knüpft sich erst an öff- 


nen. Vergl. insofern das chinesische er Kai (°). 


(') So erhält das germanische Thier im Englischen (deer) die sehr eingeschränkte 
Bedeutung Rothwild. 


(°) In dem türkischen ol, junad (verdorben junda) Stute, geht umgekehrt das Zei- 
chen des Geschlechtes voran; denn jun kann hier nichts Anderes sein, als eine weitere 
Erweichung des mongolischen gün, wie man für gegün Stute spricht. Die Mands’us haben 
geu, die Tungusen ohne Erweichung, nur abgekürzt, gök und wjoog. — Gegün ist wahr- 
scheinlich eine andere Form von cheche femina. Vergl. S. 341-342. 


(°) Auch sagen die Türken = je söf atschmak das Wort öffnen, d.h. anfan- 
gen zu reden. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 375 

Türk. u# asch ein Paar ('); häufiger noch ü! esch Paar, Gleiches, 
Gefährte, und als Verbum zusammengehen. Diese Wurzel könnte wohl aus 
ascha (s. oben) eben so entstanden sein, wie kusch aus gas'cha. Im Wör- 
terbuche wird als zweite Bedeutung derselben aufkratzen, aufscharren an- 
gegeben; das ist aber ein anderes esch, dem im Ungarischen as (äsch) graben 
entspricht. — Dagegen darf man Erstere in dem mandsuischen atscha zu- 
sammenfügen (Nebenform von as’cha?) wiedererkennen. 

Türk. b} ata Vater. Tschuwasch. attjä, dagegen afin af-ü dein Va- 
ter, asch in aschsche sein Vater. Dazu noch a/ männliches Thier. Ob mung 
afi, wie die Tschuwaschen den Donner nennen, grofser Vater oder grofser 
Geist (vergl. S. 335) bedeute, mufs ich unentschieden lassen; im Lappischen 
ist atscha Donner von attsche Vater wenig verschieden. Jakutisch ese Grofs- 
vater (?). — Mongol. eisi-ge (mit verkleinernder Endung) Vater. Mands. 
etsi-ke und es-chen Vatersbruder. — Finnisch isö Vater und isä-ntä Haus- 
herr. — Bei den heidnischen Ehsten wurde die oberste Gottheit wanna essa 
(finnisch wanha isä), d.i. der alte Vater, genannt. Bei den Mongolen ist 
etsen oder esen (offenbar verwandt mit eisi-ge) Herr, Gebieter; eben so das 
edsen der Mandsus, auch vom höchsten Gotte gesagt, welcher dergi edsen 
(erhabener Herr) betitelt wird. Wiederholt aber der Mands’u den mittle- 
ren Consonanten am Anfang und sagt dseedse, so bedeutet dies Vater, wie 
ama. Dsedse ist also den Ww. mafa, mama, baba analog gebildet. 

Das türkische |.» issi Herr, Eigenthümer, kann ich, theils die Be- 
deutung, theils die Form (vergl. finnisch zsä) ins Auge fassend, nur für eines 
Ursprungs mit ata halten; und eben so das ungarische isten Gott (neben 
atya Vater), welches gewifs für itsen steht, und so besonders dem mongol. 
etsen Herr sehr befreundet ist. Anlautendes a für die Bedeutung Vater fin- 
den wir nur bei Türken, Ungarn und Lappen (atsche); aber verwandte For- 
men bedeuten Mutter und geehrte weibliche Verwandten: so mongol. edsi 
Mutter; mands. adsa Vatersschwester, und ascha Weib des älteren Bru- 
ders. Vergl. unter chacha und ama. 


(') Nicht zu verwechseln mit asch Speise und efsen, einer stärkeren Form von es, 
ed, die ich oben unerwähnt gelassen. 

(?) Auch der Bär wird ese genannt, wie er bei den Finnen ukko (s. unter chacha) 
als Beinamen führt. Vergl. das mongolische ötege. i 


376 Scuorr über das Altai’sche 


Türk. ‚ er, „Sir und .,' er-en (für ergen) Mann (!). — Mongol. ere das- 
selbe. Diese sehr fruchtbare Wurzel kehrt in allen Sprachen des Geschlech- 
tes, meist mit dem Vocale e, nur ausnahmsweise mit o wieder, und bezeichnet 
aufser der Mannheit auch Stärke, Gewalt, Tugend. — Mongolisch erül 
kräftig, gesund; ereu Gewalt, Zwang; ereu-le zwingen; ere-gü Qual, Tor- 
tur; ere-me-gej tapfer; er-dem Tugend; er-ke Macht, Vermögen; erke-ten 
die Mächtigen, auch die Sinne. — Mands‘. erw ein Athlet oder Ringer der 
gar nicht müde oder matt wird (?); er-ki Kraft, Macht; er-gen Lebenskraft 
und ihr Urstoff (); er-ke Tapferer. — Magyarisch erö Kraft; erö-szak Ge- 
walt; er-dem sittliche Stärke, Tugend. — O für e haben die Mongolen in 
or-mas Muth, Tapferkeit. — Den männlichen Vogel nennen die Mongolen 
ere-ktschin. Unter den Vierfüfsern heifst der männliche Zobel bei ihnen 
erki-s; das Männchen der Thiere überhaupt, bei den Türken «SS; er-kek. 
Verwandt erscheint mir der zweite Bestandtheil des altai’schen Wortes für 
Hengst (s. oben), welcher yr, irgi, irga, irgan lautet. 

Das 7 ist mit dem Vocale i vertauscht in dem mands‘. ejgen verheira- 
theter Mann, und türk. s&! ige Herr, Besitzer, z.B. in LG} (ss! ui ige-si 
Hausbesitzer. Beide stehen für ergen, irge. 

Finn. iz& (Morgen) Morgengegend, Osten. Lapp. iddiet Morgenzeit. 
Magy. idö (idej) Zeit überhaupt. — Mongol. edü-r Tag; edü-ge jetzt. 

Mongol. eris-le gerade durch hauen oder schneiden, abtheilen, tren- 
nen (*). — Finn. eri trennen, ero Trennung. — Türk. wohl ir in Gr) ir-ak 
entfernt: ferner FR air wennen, 93! airy getrennt, abgesondert, entfernt, 
Anderer u. s. w. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dafs das arabische 42 
hier zum Grunde liegen sollte. 


(') Sö er-äk ist Mannheit; yo Sp) e. suju virilitatis liquor s.v.a. semen virüle. 
Dieses Wort hat mit ur/uk (Saamen überhaupt) nichts zu schaffen. S. oben unter küf- 
üf-ür. 

(?) Umai schadacha ebereke ba akü. B-B. 


(°) Entspricht dem 5 jang der Chinesen, welches von den alten Missionaren also 


definirt wird: materia mota, et quidquid perfectionem indicat, ut forma, coelum, masculus, 
juventus, generatio, etc. Es wird auch geradezu das männliche Princip genannt. 

(*) Zunächst von eris (durchdringend, gleichsam schneidend, und in Verbindung mit 
oola Berg, schroff, steil), worin aber nur eri wesentlich sein kann. Ich glaube dieselbe 
Wurzel in eri-jen verschieden-farbig, bunt, zu erkennen. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 877 


Türk. .„' in und en absteigen, niedersteigen. — Mands‘. in-de ein- 
kehren. — Auch mit ein dem Worte en-en Nachkommen (Descendenten). — 
Ob mands. ina Schwestersohn, türk. ‚s-} ini oder eni jüngerer Bruder den- 
selben Ursprung haben, oder mit dem mongolischen inak Freund, Geliebter 
als verwandt zu betrachten sind? (') 

,‚ gerinnen 
(von der Milch). — Mands. ek-schun Gährungsstoff geistiger Getränke. — 
Türk. „Ss ek-schi sauer. 


Türk. zu iste begehren, verlangen. — Finn. eisi. Lapp. usto. 


Mongol. ege-de durch beigemischte Säure zusammenlaufen 


Türk. «S£! imek in imek-le kriechen. — Mongol. üme wimmeln, üi- 
me-gen Gewimmel. — Mands’. imia-cha und umia-cha Insect, von imia 
(umia) ansammeln. — Bei den Jakuten finden wir ün oder ön (für um?) Wurm, 
und bei den Finnen jumi Holzwurm. 

Türk. 41} uwan neben .,&) ufan sich zerkrümeln, beides von uwa; 
&%' ufak (Krümeln) Kleinigkeit; .,,' un, wohl aus uwan, Mehl. — Mands. 
ufa Mehl und zermahlen. 

Mands’. usa und us’cha hassen und traurig sein; usu-n gehäfsig; usu-r- 
scha verabscheuen. — Türk. .‚Los! osa-n Ekel oder Abscheu haben (?). 

Türk. (im Osten) bs} in uja-la sich schämen, wjat Scham; (im We- 
sten) &») ud Scham, ut-an sich schämen. — Finn. jo schamhaft, ujo-2 sich 
schämen. 

Finn. okka Stachel, Haken. — Türk. :»| ok Pfeil. — Mongol. uk-la 
die Pfeilspitze in den Schaft setzen. 

Tungus. orcho, orokto und rokta Gewächs. — Finn. ruoho. — Mon- 
gol. orghu wachsen. — Türk. »,») uru Ort wo Futtergras wächst, Wiese, 
Weideplatz. — Vermuthlich gehört auch das türkisch-mongolische uruk 
Verwandtschaft, Familie (man denke an Stammbaum) hierher. 

Türk. w1;,| ufa-t lang machen, ausdehnen; öl) ufa-k entfernt, aber 
on! ufu-n lang. Dagegen ws} üs und mongol. üdse, üfe (lang werden) wach- 
sen. — Magy. hoszszu (hossü) lang. — Verwandt ist vielleicht mands’. uscha 
oder wascha ziehen, zerren. 


(') Mands. heilst der jüngere Bruder deo, mongolisch degö. Die freien Tungusen 

haben dafür andere Wörter, welche mit mands’. non jüngere Schwester verwandt scheinen. 
(?) Verw. sind wohl mands. kusch-un Ekel, Brechlust; türk. vos3 kus speien. 
Philos.- histor. Kl. 1847. Bbb 


378 Scuorr über das Altai’sche 


Finn. yle Obertheil, mit vielen Ableitungen. — Mongol. üle über- 
treffen (finn. yl-ty). — Tschuw. süle hoch und sül-de oben, von jüle, was 
im Türkischen sonst zu fehlen scheint (!), wenn es nicht in dem ie von „L) 
ile-ri vorwärts zu suchen ist, und also an ein Vorragen gedacht wird. Zu 
ileri gehört unzweifelhaft das mands‘. ds’ule (für jule) in ds’ule-si nach vornen, 
ds’ule-ri vor, und ds ule-rgi Vorderseite, Süden; dann wieder dsulen Vor- 
zeitliches, längst Vergangenes. 

Mands’. onggo vergefsen. — Finnisch unoht und unhot. — Türk. 
ws, unut. 

Finn. äyhky Jähzorn, äkä Groll, Zorn. — Türk. xy} öike und sy} 
öke Zorn. — Mongol. öke Groll, Feindschaft. 

Türk. .»' ön Stimme. — Finn. äni. — Mongol. ani-r. 

Mongol. ösügej Ferse. Türk. (durch Verschiebung) ss} öktsche. 

Mands'. une in une-nggi wahr. — Mongol. üne-n Wahrheit; ünem-le 
als Wahrheit erkennen; ünem-si glauben, versichert sein. — Türk. „Wu 


ina-n glauben, vertrauen. Also nicht aus dem arabischen „le! iman Glaube, 
Religion. 

Türk. „sy! öksür husten. — Finn. yskä für yksä, obwohl k vor s 
den Laut des Hustens besser darstellt. 


(') Doch haben die Jakuten u/a-£ wachsen (an Wohlstand) und steigen (im Range), 
von welcher Wurzel ula-chan grols und das gleichbedeutende türkische „Jul lu nicht ge- 
trennt werden können. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 379 


Mitlauter. 


1. Kehl-und Gaumenlaute. 


Sind im finnisch-tatarischen Sprachengeschlechte die folgenden: A, 
ch, k, gh, g, j, ng. An der Gestaltung desgA, g, undj nimmt die Zunge, 
an der des ng aber die Nase Antheil. Fafsen wir die möglichen Verände- 
rungen ins Auge, denen diese Laute an jeder Stelle des Wortes unterliegen 
können (!). 

Als Anlaut wechselt ch im Mongolischen zuweilen mit gh, z.B. cho- 
rom und ghorom eine Zeitlang, chontochu und ghontochu wuchern; selten 
mit ds: chagha und dsagha spalten, trennen (?). — Viele türkische Stämme 
sprechen im Anlaute lieber k als ch (?). Vor starken Vocalen wechselt dieses 
k zuweilen mit j: kap und jap falsen, kapa und japa zumachen, verschliefsen; 
tschuwasch. jor für kar Schnee, jon für kan Blut; einige Mal mit s: tschu- 
wasch. sönat — kanat Flügel. Gewilse Stämme verwandeln es regelmäfsig 
in isch; vergleiche tschap neben kap und jap, auch die Stelle aus Abulghasi 
(S. 339 d. Abh.). — Gh ist als Anlaut den Mongolen geläufig und den Tür- 
ken fremd; der Osmane spricht k wo ein ausländisches, z. B. arabisches Wort 
mit & gh anfängt. Das schwächere g ist dem Osmanen eben so mundrecht 
wie dem Mongolen; dieses kann schon als Anlaut j werden, z.B. sis‘ gene 
und s& jene wiederum. — In der Suomisprache kann A wenigstens vor i zu 
s werden: man hat simiä neben himiä dämmerig (*). Die Tschuden am See 


(') Es versteht sich von selbst, dafs dieser Abschnitt mit Wurzeln deren Anlaut ent- 
weder zu vorliegender Classe gehört, oder Selbstlauter ist, nichts mehr zu schaffen hat. 
Vom Wegfallen eines Kehl- oder Gaumenlautes wird hier nur die Rede sein, sofern 
seine Stelle in der Mitte oder am Ende des Wortes war. 

(?) Die Mongolen sprechen vor starken Vocalen nur ch, nicht %, und der Laut des 
gänzlich zu fehlen. 

(°) Ausnahme machen z.B. die Jakuten, die vor a sogar nur ch (statt k) als Anlaut 


einfachen A} scheint ihnen, wie ursprünglich auch den Türken, 


zu dulden scheinen. Bei den Tschuwaschen kann ch eben so gut wie k vor jedem Vo- 
cale Anlaut sein. Den heutigen Osmanen fehlt ein rauhes geschnarrtes ch überhaupt. Wo 
ch geschrieben wird, sei es in türkischen oder ausländischen Wörtern, sprechen sie 7, 
das man höchstens am Ende der Silben etwas stärker haucht und bisweilen mit % vertauscht, 
wie in akscham für Lu achscham Abend. 


(*) Im Suomi wird immer % geschrieben, auch wenn man ch spricht. Letzteres ist 
nun allemal am Ende einer Silbe der Fall. Doch ist dieses %, ganz wie das deutsche c% 


Bbb2 


380 Scuorrt über das Altai’sche 


Peipus verwandeln initiales % in isch. Nicht selten alternirt der Kehl- oder 
Gaumenlaut mit einem Lippenlaute: so ist pimiä dunkel gewils aus himiä 
entstanden; so haben die Finnen kuol sterben, die Ostjaken wöl tödten. 
Das Lappische zeigt häufig f in Stelle des A der Suomisprache, und in 
Mundarten des Lappischen selber finden wir z.B. fuomatset neben hu- 
omatset sich erinnern. — In den tungusischen Sprachen ist einfaches A 
nicht selten; nur den Mands’us scheint es zu fehlen ('). Diese dulden das 
rauhe ch eben so gut wie k vorjedem Vocale. Dasselbe gilt von g; ob aber 
letzteres bei ihnen je geschnarrt wird, ist mir zweifelhaft, daher ich es nie- 
mals gh schreibe. — Für } oder ch der Tungusen sprechen und schreiben 
die Mandsus zuweilen f. Beispiele: hömun und femen Lippe; chorki und 
fakuri Beinkleider; chola-rin und ful-gian roth. Im Mands’. selber hat man 
cheche Weib neben fefe Geburtsglied. 

Jod als Anlaut ist bei den heutigen Mongolen nicht eben häufig. Weit 
öfter sprechen sie dafür ds (auch ds und /). Die Ostmongolen haben für 
beide Aussprachsweisen einen und denselben Buchstaben: ohne Zweifel hat 
man weiland nur gesprochen. — Unter den türkischen Stämmen sind unsere 
Osmanen dem ursprünglichen j viel häufiger treu geblieben als östliche und 
nordische Türkenvölker; diese sprechen dafür ds’, die Tschuwaschen und 
selbst die Jakuten gewöhnlich s (?). Dasselbe findet auf verwandte mongol. 
und mands’. Wörter Anwendung. — In der Suomisprache hat man z. B. jyn- 
kkä neben synkkä dunkel. 


im grölseren Theile Deutschlands, nur nach starken Vocalen wahrer Kehlhauch, nach mitt- 
leren und schwachen aber Gaumenhauch. — Die Magyaren kennen in Schrift und Aus- 
sprache nur einfaches A. Wenn dieses, was selten geschieht, am Ende einer Silbe vor- 
kommt, so begnügt man sich, den vorhergehenden Vocal zu dehnen, als wäre er accentuirt, 
z.B. moh Moos, juh Schaf. Ersteres Wort ist das slawische moch; letzteres das ver- 
setzte tatarische chui, koi. 


(') In dem oben erwähnten mands’uisch - französischen Wörterbuche ist ch zwar im- 
mer durch % wiedergegeben; allein S. XXVI der Vorrede steht ausdrücklich, dals es den 
Laut des spanischen Joza habe. Überhaupt schreibt Amiot die mands’. Anlaute ganz nach 
denselben Regeln wie die chinesischen; so vertritt k bei ihm die Laute k und g, und jenen 
nennt er unpassend k aspire. 


(2) Der Jakute beweist dem Vocal grölsere Schonung: so ist bei ihm so2=jol Weg, 
syl = jyl Jahr, wogegen der Tschuwasche Beides in sö2 verwandelt. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 381 


Ng scheint als Anlaut nirgends vorzukommen, oder doch nur verein- 
zelt in tungusischen Dialekten, z.B. ngala Hand (gala), das aber Erman 
gnala schreibt. 

In der Mitte einer mongol. Wurzel kann ch mit gh wechseln, z. B. 
bocholsichu und bogholsichu sein Ansehen verändern. Am Ende der Silben 
und Wörter spricht man immer %k, niemals ch. Als dienstbarer Auslaut kann 
dieses k wegfallen, z. B. elintsek und elüntse (mit ü). Es wird leicht gA oder 
nach schwachen Vocalen g, wenn das betreffende Wort am Ende wächst. 
Gh und g wechseln zuweilen, wenn sie zwischen Vocalen stehen, mit w, 
wofür man aber 5 schreibt, z.B. toghorak —= tobarak Erde, Staub; ögere 
= öbere Anderer, Fremder; ferner mit j, namentlich in den Endungen jja, 
üeneben agha, ege (S. 326). Meist verhallen sie ganz, wo dann der West- 
mongole (Kalmyk) sie auch ungeschrieben läfst, der Ostmongole aber im 
Schreiben beibehält (!). 

Das stärkere ‚s k der Türken stuft sich in 2 gh und ihr schwächeres 
Skin& gab (?), wenn eine mit einem Selbstlauter anlautende Casuspar- 


(') Ausnahmsweise läfst auch dieser sie ungeschrieben. Vergl. die Beispiele S. 328. 
Eben so ist es mit der Postposition ghar (ger) vermittelst, durch (wohl das Wort für 
Hand), die ihr g in Sprache und Schrift schon bei den Ostmongolen sehr gern verliert: 
üne-r = üne-ger (mit Wahrheit) fürwahr. — Über Anähnlichung oder Zusammenflielsen 
der Vocale s. S. 328. 

(*) Hier etwas Näheres über beide k und g. Das _; der Türken ist unser k, wird 
aber nur mit starken Vocalen (zu denen auch y gehört) gesprochen; $ ist derselbe Laut, 
hat aber seine Stelle weiter vorn, beinahe an den Zähnen, und eignet daher nur für schwache 
Vocale, denen er aufserdem nie ohne Vermittlung eines gelinden Jod sich anschmiegt; 
also z. B. ke und sogar ki fast wie Aje, kji. Man versuche ein k möglichst nahe den Zäh- 
nen zu sprechen und man wird dieses verstohlene Eindringen eines Jod zwischen k und 
den Vocal sehr natürlich finden. Noch vernehmlicher wird der genannte Eindringling, 
wenn die Türken (was ihnen in arabischen und persischen Ww. so häufig begegnet) das 
«S mit starken Vocalen verbinden müssen, z.B. \xß Ajamil (arabisch) vollkommen. — Der 
Laut gh mag bei den östlichen Türken etwas geschnarrt werden und dem arabischen E 
das ihn immer bezeichnet, ähnlicher sein. Bei den Osmanen fällt das Schnarren ganz 
weg; wenn ihr z zwischen Vocalen seinen Werth behält, ist es rundes oberdeutsches g, 
das sich zu dem schwächeren, näher den Zähnen geformten g $ eben so verhält, wie & 
zu &. Das schwächere g begleitet in rein türkischen Ww. nur schwache, in persischen 
Ww. auch starke Vocale; und besonders bei der Aussprache solcher wird im Munde des 
Türken ein verstohlenes Jod wieder vernehmlich, z.B. SE, rufgjar (nicht ru/gar) der 
Wind. — Alle bei den Osmanen mit g anlautenden Ww. haben übrigens bei den Tatar- 


382 Scnuorr über das Altai’sche 


tikel zum Worte tritt. Ausfallen eines k findet statt: a) am Ende einer Silbe 
vor ds, z.B. in sou-ds’ak etwas kalt, aus souk + ds’ak, büjü-ds’ek etwas 
grofs, aus büjük + ds’ek,; b) wenn der sogenannte Infinitiv in mak (mek) 
mit Casuspartikeln oder fürwörtlichen Anfügungen verbunden wird, wo es 
aber auch bleiben und sich abstufen kann (!); c) in Dialekten, wenn ein Wort 
mit % auslauten sollte, z. B. tschuwaschisch puda = budak Ast, toda = 
dudak Lippe, sürü — jüfük Ring. Auch ein etwas geschärftes w kann es 
am Ende werden: uruw Geschlecht = uruk. d) als Anlaut wortbildender und 
anderer grammatischer Zusätze, wo es auch schon in gA gemildert sein kann. 
Dies geschieht regelmäfsig bei den Osmanen, wo z.B. kulak für kul-ghak 
Ohr, jalan für jal-ghan falsch, koru für kor-ku trocken gesagt wird, die 
Dativpartikel a (e) für ka oder gha (ke, ge) ist, u. s. w. 

In der Mitte der Wörter zwischen Vocalen bleibt das wurzelhafte k 
unangetastet, aber g% behält selten und g niemals seine runde Aussprache; 
das gh wird zuweilen A (ahads’ für aghads’ Baum; kjahat für kjaghyd Pa- 
pier), gewöhnlich « oder beinahe w; das g aber j oder beinahe j, wenn es 
nicht, wie in järmi (S. 329) spurlos verschwindet. Sind die Vocale zu bei- 
den Seiten des gh, o oder u, so ist auch dieses im Munde des Osmanen kaum 
vernehmlich. Am Schlufs der Silbe wird g% nach a und o immer u; g nach 
e aber i. Ein unwesentlicher Vocal, wie z.B. das y in aghy/ Mund, stört nicht; 
man verschluckt ihn und spricht auf (?). Im Osmanli pflegt die veränderte 
Aussprache auch hier keinen Einflufs auf die Schrift zu äufsern; doch ist dies 
z.B. der Fall in ;» »o oder \syo souk kalt, statt des osttürkischen ;,£lo 
saghuk (?). Im kyptschakischen Dialekte wird mehr nach der Aussprache 


Türken k &, und überhaupt scheint die türk. Sprache ursprünglich keine anderen Kehl- 
Initiale gekannt zu haben als c} und k, von denen ersterer das stärkere k erzeugte, und 
letzterer entweder unverändert blieb, oder (wie bei den Osmanen so häufig) zum schwä- 
cheren g wurde. 

(') Die verwandten Zusätze ma (mä) im Finnischen und me (seltner ma) im Man- 
ds’uischen haben niemals k zum Auslaute, wohl aber das (ausnahmsweise vorkommende) 
mek der Mongolen, z.B. in einer Textstelle der Chrestomathie Kowalewskis (I, S. 57), 
wo amin jeküt-ke-mek-tse nach dem Verlorenhaben (Verluste) des Lebens heilst, und mek 
mit der Postposition Zse = etse (von, ab) verbunden ist. 

(?) S. 329 habe ich das g% in aghyf für ausgefallen erklärt; es ist aber vielmehr u 
geworden. 

(°) Hier sehen wir zugleich eine Anähnlichung der Vocale wie im Mongolischen, 
wo z.B. naghor See zu noor wird.— Das osttürkische saghuk bietet übrigens dem mands'. 
schachü-run (für schachi-kun) die Hand. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 383 


geschrieben, z.B. ‚ Ss} für „Is! Linde, „lo für zLo gesund, „lb für gib 
Berg, 1, 5 für (s-£s5 gerade. 

Einige tungusische Dialekte haben in der Mitte gewifser Wörter zwi- 
schen Selbstlautern einfaches oder geschärftes g, das in anderen zu j oder 
w wird, auch ganz verhallt. Beispiele: jöggin, jugin und ujun neun; töggemi 
und tümi, temi morgen (cras); toggo, logo und iua Feuer; bjega, biga und 
(mands‘) dia Mond; schiggun, schiwun und (mands’.) schun Sonne; diggin, 
dügün und (mands’.) duin vier. — Vor t kann das k ausfallen: so hat man 
Jukta und (mit veränderten Vocalen) njauta Quelle; hokta und oot, ot Weg; 
ingakta und ingat Haar am Körper. Assimilirt ist k in njuritta für njurikta 
Haar. Dasselbe Ausfallen bemerkt man vor sch und isch: toukschaki und 
tauschakki Hase; njuktschukan und nitschukun klein. Beispiel eines hin- 
ter Z unstäten Kehllauts ist in der Mands’usprache dalükan neben dalchükan 
klebrig. Das Mands. zeigt auch im Verhältnifse zum Mongol. und Türk. 
einen mittleren Kehllaut bisweilen ausgefallen: der Bart heifst türkisch ‚eo 
sakan, mongol. sachal, mandsuisch salu (für sal, da 2 nicht Schlufslaut 
sein kann). 

In der Mitte eines finnischen Wortes wechselt k oder h zuweilen mit 
w oder härteren Labialen: man hat zikiä, tihiä und tiwi-s dicht, säikähtää 
und säwähtää erschrecken; ukista und upista wehklagen; nirkka und nirppa 
spitz, scharf; norkata und norpata schmarotzen. Ferner mit einem Sause- 
laute: nuohka und nuoska feucht; kahila und kaisila Schilf. In der Mitte 
vor anderen Consonanten fällt A (ch) einige Mal aus: rymy=ryhmy Knoten. 
In gewifsen Ww. kann, wenn r oder /folgt, der Vocal u an seine Stelle tre- 
ten (vergl. S. 329). Ein Kehllaut am Ende des Wortes wird s oder mittel- 
bar {. Wenn er bleibt, so behält er nur in gewilsen Mundarten seine volle 
Stärke, in anderen hört man ihn schwach, oder er verschwindet spurlos (1). — 
Als letzter wurzelhafter Consonant mildert sich %, wenn die ursprünglich 
offne Silbe durch grammatische Zusätze eine geschlofsene wird, ing, w, 7, 
oder verhallt ganz. Die besonderen Regeln nach denen dies geschieht, 
gehören in die finnische Lautlehre (?). 


(') Beispiel: weneh (wenech), wenes, ‚wenet, oder wene ein Boot. 
(?) Siehe Eurens bündige und vortreffliche Darlegung in seinem Zürodok i Finska 
Spräket S. 11 ff. 


354 Scuortrüber das Altai’sche 


Jod widersteht der Metamorphose inmitten des Wortes eher als zu 
Anfang. Doch kann es auch in der Mitte ds werden oder, wie wir schon 
an manchem Beispiele gesehen, ganz wegfallen. Wenn es hier und als Aus- 
laut mit anderen Consonanten alternirt, ist Jod nicht immer als ursprünglich 
zu betrachten. Beispiel eines Ausfallens desselben mit Zusammenziehung 
der Vocale oder Untergang des einen Vocals im anderen sei das mongolische 
chor-in zwanzig, dessen chor aus dem sonstigen chojar zwei entstanden ist. 

Bei Vergleichung türkischer Wörter mit verwandten mongolischen fin- 
den wir gewöhnlich die zusammengezogene Form auf türkischer Seite (1). 
In mehreren sehr bekannten türkischen Wurzeln würde man schwerlich an 
einen ausgefallenen Guttural denken, fände sich dieser nicht in den entspre- 
chenden mongolischen aufbewahrt. So heifst Staub türkisch zo/ oder (tschu- 
wasch.) tos-an; allein die (Ost-) Mongolen schreiben toghosun und sprechen 
toosun (*). Zerbrechen heifst türk. kyr (im tschuwasch. Dialekte chor'); 
der Mongole aber schreibt choghora und spricht choora (?). 

Die Mandsus schreiben zwei sch hinter einander in ihrem aschscha 
sich bewegen. Dies ist wohl für aschi-scha, und sonach aschi allein Wur- 
zel (*), das aber für äschi stehen mufs; denn mongol. heilst agha-si (d-schi) 
was sich bewegt; äschi-la sich bewegen. — Verwandt scheint mir lappisch 
swatscha sich rühren, wo s, wie öfter, nicht primitiv ist. 

Das k der Finnen, sei es vor oder nach einem anderen Mitlauter, fin- 
den wir in anderen Sprachen des Geschlechtes öfter ausgefallen, z.B. mahta 
können, vermögen, mands. mute; üke weinen, jakutisch yia; ulko Aussen- 
seite, mands. oilo Oberfläche. 


(') Zu den Ausnahmen gehört türk. syghyr Rind, mongol. schir, was immer nur sir 
geschrieben wird. Eine Wurzel des Weinens (verwandt mit d. türk. agh-la, aw-la, au-la) 
schreiben die Mongolen ogi und ws. 


(?) Das finnische Wort zuoksu fliegender Staub verhält sich zu diesem zZoghosun un- 
gefähr wie das finnische oksa Ast zu dem türkischen aghads Baum. 


(°) Vergl. chaghorai neben koru trocken, S. 358. — So kann dem türkischen zuf 
Salz ein zaghusun zum Grunde liegen, obschon die heutigen Mongolen nur dawusun (ge- 
schrieben dadusun) besitzen; denn man schreibt ja auch z. B. Zoghorak und zodarak (s. oben). 


(*) Scha ist im Mands. eine der Silben welche Nennwörter in Verba verwandeln. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 385 


Ng in der Mitte und am Ende. 


Kann aus m oder n entstanden sein; aber auch in m, n, g, n(nj), j 
übergehen und ganz verhallen. 

Einige mongolische Beispiele seines Entstehens aus n findet man S, 
327. Vertauscht mit n oderg ist es in Zegrineben tengri Himmel, negdsikü 
neben nengdsikü nachspüren, Zentschirekü neben tengtschirekü schwindeln; 
ausgefallen vor g in segerekü neben senggerekü sich einüben ('!). — Von 
Verwandlung des ng in nj weifs ich kein mongolisches Beispiel; aber tungu- 
sische Dialekte haben anja-ni und ania für angga-ni Jahr (mongolisch in on 
zusammengezogen). Auch fällt es bei einigen Stämmen vor nj und selbst vor 
einem Vocale aus: njang-nja und njanja Himmel, kungakan und kuakan 
Knabe. In ztschanen neben schang-njan weifs ist vermuthlich nj nach dem 
Wegfallen des vorhergehenden ng zu n geworden, wie dies am Ende ge- 
schieht in jan für njanja Himmel. — Das so häufige ng der östlichen Tür- 
ken geht vor r im tschuwasch. Dialekte unter: sor für songra nach; tora für 
tangry Gott (?). Die Osmanen haben statt dieses für sie nicht mehr vor- 
handenen Lautes gewöhnlich ihr sogenanntes taubes n, welches jetzt nicht 
mehr von dem gewöhnlichen n zu unterscheiden ist (?). In einigen Ww. 
(z.B. domuf = donguf Schwein; bim = bing tausend) wird dafür m gespro- 
chen, aber niemals geschrieben; und gewifse Dialekte vertauschen es zuwei- 
len mit Jod: so hat man SL. jek für enek oder engek Kinn; selbst im Os- 
manli entspricht .! ejer Sattel dem jakutischen ynggyr, während die Mandsus 
engge-mu, die Ungarn nyereg (statt enyer-eg) sagen. In einem Worte für 
Knochen (S. 350) sehen wir alle Lautwechsel offen vor uns liegen. Vergl. 
auch Mund (S. 348 ff.) und verschiedene andere Wörter, die aber wegen 


ihrer consonantischen Anlaute erst später sich vorstellen werden. 


* * 


(') Ein Beispiel aus den finnischen Sprachen: lappisch mangge, magyarisch mege. S. oben. 

(?) Die heidnischen Ehsten hatten für das höchste Wesen den Namen Tara, der wohl 
eben so aus Tangry entstanden sein kann wie d. tschuwaschische Tora. 

(°) Man schreibt es im Osmanli mit blofsem &, demselben Buchstaben der das ge- 
lindere & darstellt und hier eine Abkürzung der osttürkischen Schreibweise ist, wo noch 
n vorhergeht: «S5 nk für ng. Wenn statt des tauben n jetzt m gehört wird, so hat wohl 


Philos. - histor. Kl. 1847. Cce 


386 Scnorr über das Altai’sche 


Finn. jama zusammennähen und -fügen überhaupt; daher jamakka 
frisch geronnene Milch. — Türk. L. jama anflicken; daher |; jamak ange- 
fliekt'und Handlanger, Gehülfe. 

Mongol. jabu gehen, wandeln; daher jabu-ghan zu Fufse, Fufsgän- 
ger. — Mands. jabu dasselbe, aber auch jafa in jafa-chan Fufsgänger. — 
Türk. 4: jaja Fufsgänger, wohl aus jawa = OL: jap, welches Letztere die Tür- 
ken nur in der Bedeutung verfertigen besitzen (!). Die Urbedeutung ist aber 
auch in der gequetschten Form oL> tschap erhalten, welche noch den Pass- 
gang der Pferde bezeichnet (?). — Vergl. magyar. lab (Fufs) unter Z. 

Türk. ‚sb jai Platz machen, ausbreiten. — Mongol. dsai, sai Platz, 
Raum. — Lappisch saje und finnisch sia Platz, Stelle. 

Lappisch jägna Eis. Daher das magyarische jeg und finnische jäi. — 
Mands. dsuche (für juch) dasselbe. — Mongol. dsige (für jig) in dsige-kün, 
aber nur in der Bdtg Frost, Kälte. — Tungusisch ingin und ingynja (vgl. 
besonders jägna), ebenfalls nur Kälte, kalt. 

Mands. jo gehen. — Ungar. jö (jöv) kommen. — Mit dieser Wurzel 
kann das türkische ds» jol Weg (etwa Gang) zusammenhangen, wie das man- 
dsuische dsu-gün Weg (für jugün) mit ju—=jo. Auch hat man im Unga- 


rischen jut ankommen (°). — In dem mongol. dsol-gha begegnen finden 
wir jol Weg wieder. Vergl. hokta und kohta, S. 346. 
Türk. », „> jürü gehen. — Tungus. schurw dasselbe. Mands. dsura 


(jura) sich aufmachen, von einem Orte aufbrechen. — Mongol. dsur-ischi 
wandern, gehen. — Ungar. jar. 

Türk. 5; „ jüfük Fingerreif, ohne Zweifel für jürük, wie denn auch 
die Tschuwaschen sürü haben. Von einem verlornen Worte für Finger, 


eine Verdumpfung (etwa der französische Nasal) den Übergang gebildet. Aber Jod konnte 
auf diesem Wege nicht aus ng entstehen; wo dieses für ng erscheint, da muls ein spani- 
sches % oder ungarisches ny (unbehülflich durch nj ausgedrückt) der Übergangslaut gewesen 
sein — ich sage gewesen, da ich diesen Laut aus osmanischem Munde nicht höre. Eben 
so ist der französische dumpfe Nasal dem osmanischen Organe fremd und sogar unbequem. 


(') So vereinigt das chinesische AT hing die Bedeutungen gehen, wandeln, und 


verfertigen, machen. 

(?) So entstand aus amdulare das französische amdle Passgang. 

(°) Mands. as? kommen, steht, wie aus dem Verbalnomen dside-re sich ergiebt, für 
dsit = jit, und entspricht also dem türkischen «> jez erreichen, einholen. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 387 


welches dem finnischen sormi (woher auch sormus Fingerreif) ähnlich ge- 
lautet (!). 

Mands. jun die von den Rädern der Fuhrwerke dem Boden eingedrück- 
ten Furchen (?), die Wagengleise.— Lapp.juone die Spuren der Renthiere im 
Schnee. — Finn. juoni und jono Reihe, Strecke, Strich, Linie. — Türk. ., „»jün 
Strecke, Gegend; daher jün-il einer Richtung folgen, wohin abgehen (*). — 
Das finnische Wort wana, dessen Verwandtschaft mitjuoni auch formell nichts 
entgegensteht, bedeutet furchenähnliche Spur, Geleise, und Strich, Linie (*). 

Türk. 8,» jür-ek Herz und Muth. — Mongol. dsur-ik Muth, aber 
auch Vorsatz, Wille, von dsuri sich vornehmen, entschliefsen, wünschen. — 
Lappisch jur-te denken, jur-tak Gedanke. 

Türk. ‚Is. juwar eylindrisch, rund. — Lapp. jörba. 

Finn. johta leiten, führen. — Türk. „2 jüg-en Zügel. Vergleiche 
köysi unter K. 

Mands. jangga ringend niederwerfen. — Türk. »&% jenge und jene 
besiegen. 

Türk. ; » jüf Gesicht; Art und Weise. — Mongolisch jos-un Sitte, 
Brauch; joso-ghar nach Sitte; demnach, dem gemäfs: türkisch als; „. 

Türk. bs joda in Kindesnöthen sich quälen. — Mongol. dsoda Qual 
leiden, Schmerzen haben überhaupt. 


* + 
* 


Türk. Ul5 kalja fliegen. — Mongol. chali. — Lapp. halwe. 
Finn. %kolo Einschnitt, Höhlung. — Mands. cholo Flufsbette. — Mong. 
ghool Flufs. — Türk. 3,5 göl See (°). 


(') Dieses stimmt merkwürdig mit dem tibetischen sor oder sor-mo. Der nicht un- 
entbehrliche Zusatz no scheint dem 2 des finnischen Wortes sein Dasein gegeben zu 
haben. Unter den tungusischen Ww. für Finger lautet eines (nach Erman) jureguni. 

(?) Sedsen-i mucheren-de gidabucha jochoron. B—B. 

3 . . en - “ Eee ® 

(°) 7. B. in der Redensart „Sul, 3&> öl> Del‘ „US von dem irdischen Sein 


abgeschnitten, die Richtung zu Gott einschlagen, d.i. sterben. 
(*) Diese Form gleicht sehr dem chinesischen DR uen Streifen, Adern in Holz und 


Steinen, u.s. w. 

(°) Diese Wurzel konnte eben so gut für ein flielsendes, wie für ein stehendes Was- 
ser gebraucht werden, da sie eigentlich nur das Becken respect. Rinnsal einer Wasser- 
malse bezeichnet. 


Cce? 


388 Scuortrt über das Altaische 


Lapp. kawa Krümmung, Bucht, und krumm werden, daher kawa-l 
(finn. kawa-la) schlau, listig. Andere Form köje Krümmung, Biegung. — 
Mands. chaja sich krümmen, winden, schlängeln. — Mongol. chadsa in 
chadsa-ghar und chadsa-ghai krumm, schief, auch falsch, nicht aufrich- 
tig. — Türk. LS kyja und (zus kyjyk, 33 kyjuk schief, schräge ('). Dieser 
Form sind wieder näher verwandt: mongol. keje in keje-te sich niederbeugen; 
mands.. keike nicht gerade, schief; finn. keikka aufwärts- oder zurückgebogen. 
Bei den Mandsus heifsen chajakta die aufwärts gekrümmten Hauzähne 
der wilden Eber, wenn sie alt geworden. 

Mongol. und Mands. chada Stein, Felsen. — Lapp. ked-ke Stein. — 
Türk. LS kaja für kada. — Finn. kiwi und magyar. ko. 

Mongol. chasu ausschneiden, zurechtschneiden (?); auch kes in kes-ek 
zerstückt, getheilt. — Mands. chasa schneiden, in chasa-cha Scheere. — 
Verwandte Wurzel chadsiin dem mongol. chadsi-ghor Sense; chatsi in dem 
mands. chatsi-n Zuschnitt, Form, Art und Weise, Sache; daher chatsi-ngga 
verschiedenartig. — Türk. »S kes schneiden, abschneiden, mit vielen Deri- 
vaten. — Finn. kes-en abgebrochen, unvollendet. ÖOstjakisch käsi und ungar. 
kes (kesch) Messer. Mands. chuesi dasselbe. 

Mongol. chada einschlagen, festschlagen. Daher chada-ghasun oder 
chadä-sun Nagel, Pflock, und mit altan (Gold) vorher: Polarstern (goldner 
Pflock). (?)— Mands. chada, wovon chada-cha Gestecktes, Pflock, Na- 
gel, chadacha usicha Fixstern. — Türk. s\05 kadak Pflock, Pfahl (woher 
kadak-la einschlagen); daneben und häufiger s);ö kaf-ak, 58 kaf-yk. Jede 
dieser Formen, mit ,s„& /emür oder „x demir Eisen vorher, bezeichnet den 
Nordstern. — Verwandte Wurzeln sind demnächst: mongol. chadchu ein- 
stechen, stechen, reizen, woher z.B. chadchu üge Stachelreden; und (wie 
uns ka/ak neben kadak lehrt) türk. ;5 ka/ graben, wozu ja einstechen die 
erste Bedingung. 


(') Chinesisch Kiz gebogen, krumm, krümmen. — Tibet. kug, 'sug, gjog und K'jog, 
Alles von gleicher Bedeutung. 
(2) Eine platte Form chadu heilst Getreide schneiden, mähen; daher ckadu-ghor Sichel. 


(°) Eine Nebenform ghadasun bedeutet auch für sich allein den Planeten Jupiter. 
Vergl. S. 341, Anm. 2. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 389 
Türk. ® katsch davon laufen, fliehen. — Lapp. kätsche eilig gehen, 


eilen. — Mands. chasa und chatsi-chia rasch gehen, eilig thun ('). 

Mongol. chadum, die Schwiegerschaft von Mannesseite bezeichnend, 
z.B. in chadum acha älterer Bruder durch Verschwägerung d.i. Mannes 
Bruder; chadum etschige (eke) Schwieger-Vater (- Mutter). Nebenform 
choda durch Ehe verwandt, Vetter, Schwager. — Bei den östlichen Türken 
ist noch d in „yl> chadin oder „U kadin (?), bei den westlichen j in .z.l 
kajin. Die Tschuwaschen ziehen das Wort in chon zusammen. — Finnisch 
ist heimo jeder Verwandter durch Anheirathung, kaima aber der Namens- 
vetter. 

Mongol. cham, Wurzel des Zusammenseins und Zusammenbringens, 
z.B. in cham-tu vereinigt, cham-sa sich vereinigen, cham-uk Allheit, Alle. — 
Mands. kam-ni und kam-tsi zusammenfügen; auch gem in gemun Stadt und 
gemu Alle. — Türk. kam in 5 kamu Alle, aber küm in &s5 küm-ek Hau- 
fen. — Finn. kan für kam in kansa Volk und als Partikel zusammen, mit (°); 
vielleicht küm in kymmen die Zahl zehn, was Haufen bedeuten mag. 

Türk. „£;5 kaf-ghu, gewöhnlich 323 kai-ghu Kummer, Betrübnifs. — 
Mongol. ghasa-l jammern, trauern. — Magyar. gyasz Traurigkeit. 

Mands. chaksan rothgelb, goldroth. Verbalnomen chaksa-cha (in 
Verbindung mit zugi Wolke) Wolken in denen der Sonnenstrahl sich feuer- 
roth bricht. In derselben Sprache mit gequetschtem Anlaute: dsaksan s. 


v. a. /ulgian tugi vothe Wolke, das chinesische "33 hia; ferner dsaksa-ka 
eine am Horizont ausgebreitete rothe Wolkenschicht; ds’aksa-ngga purpur- 


zu tsfe. 


raschende Weise im Lappischen: kwokso die Morgenröthe, und kwoksek 


farbig, das chinesische — Mit dieser Wurzel stimmen auf eine über- 


oder kweksekasek das Nordlicht; denn sie sind ohne Frage aus kaksa, kak- 


(') Wohl Nebenform der vorhin erwähnten Wurzel des Schneidens. 

(?) Nicht zu verwechseln mit dem aus chatun vornehme Frau entstandenen Aadin. 
Vergl. S. 294. 

(°) Als Partikel wird dieses Wort unnöthiger Weise kanssa geschrieben. Wegen 
des Übergangs der Bedeutungen vergleiche man Hebr. cs Gesamtheit, Volk, und 2» mit- 


sammen, mit, Beide von der Verbalwurzel &»», arabisch = die in letzterer Sprache ge- 
meinschaftlich sein und Vielen etwas mittheilen bedeutet. 


390 Scuorr über das Altai’sche 


saka entstanden (1). — Die Bedeutung goldroth, feuerroth, oder purpurn 
gründet sich aber auf etwas Brennendes, Glühendes, für Gesicht und Ge- 
fühl; daher obenerwähnte Verbalwurzel chaksa auch brennenden Schmerz, 
sei es durch Sonnenglut, sei es durch Krankheit, bedeutet. Das verwandte 
chakschan heifst verbrannt und vom Feuer geschwärzt; chakscha aber etwas 
rösten. — Mongol. ist chaksa durch Feuer oder Fieberglut ausgedörrt und 
schlechthin trocken werden. Verwandt ist chagha-ri mit heifsem Eisen sen- 
gen, rösten, hart braten und trocknen überhaupt (selbst an der Luft). Mit 
diesem chaghari hängt ohne Zweifel chaghorai trocken (s. oben) und also 
auch das türkische », 55 koru zusammen, wie das türkische 55 kak in kak-la 
dörren auch der Form nach ungemein zu chagha-ri stimmt. 

Mongol. chagha, Wurzel des Spaltens und Entzweiens (im buchstäbl. 
Sinne); daher chagha-l spalten, durchschneiden, abbrechen, trennen; pflü- 
gen. Abschattungen derselben: chaghu-l und chaghu-r, mehr im Sinne des 
Reissens, daher chaghur-chai Riss; ferner chogho-l entzwei brechen, zer- 
brechen; chogho-ra entzwei gehen. Mit gequetschtem Anlaute: dsagha 
durch Einschnitte trennen. — Mands. dsaka Spalte, Ritze; als Verbum 
Kerben machen; ds’aka-ra durchbrochen sein; dsakan bestimmter Platz; 
just, so eben (?). — Türk. und mongol. s> tschak, &> tschagh Zeitab- 
schnitt, Zeit; türk.(3> dsak nur eben, nur. Ersteres haben die Ungarn in 
der Form zszaka (Ej-tszaka Nachtzeit), Letzteres in isak (ischak) nur. Aus 
choghor (choor) zerbrechen bilden die Tschuwaschen chor, die übrigen 
Türken „5 kyr. Das türk. ‚Lu jar spalten ist offenbar für jaghar (vergleiche 
chaghur und dsakar), daher z.B. \s,» jary Hälfte (Spalte), s,, jara Wunde 
(Klaffendes). Auch das mands. jeru Höhle (Spalt?) darf man hierher zie- 
hen (3). — Finn. kah in kah-te zwei (s. d. Zahlwort); jaka theilen und (nä- 
her zu choghor) haur in haura-ha zerbrechlich. 

Einen Lippenlaut statt des Kehl- oder Gaumenlautes finden wir a) in 
dem mands‘. fak-tscha sich spalten, trennen, theilen, und fak-sa, woher 


(') So wird im Lappischen kwekte zwei, kwele Fisch, aus den finnischen Ww. kahte, kala. 

(?2) Tibet. ’ds’og zerspalten. 

(°) Das türk. 5 jaf schreiben habe ich schon früher von jar spalten, einschneiden 
(vergl. ygapew und unser graben, graviren) abgeleitet. In dieser Bedeutung wird die Wur- 
zel bei den Tschuwaschen sir, den Ungarn ir. Am nächsten verwandt ist das mongolische 


dsiru zeichnen, malen. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 34 


faksa-la trennen, theilen; b) in dem türkischen s&&L baschka abgesondert, 
besonders, welches für bBakscha = faktscha stehen mufs, also mit basch Kopf 
nichts gemein hat. 

Mongol.chal, chol, Wurzel der Kahlheit und Glätte. Beispiele: chal- 
dsan Glatze, Blässe (der Pferde), chaltsa-ghai kahl, chaltsa-ra kahl werden; 
chal-tschi glatt machen, chaltu-ri abglitschen, chal-ghu ausglitschen, chol-gho 
glitschen, rutschen. — Finn.kal und kol: kalja oder kalju Kahlkopf und glatt, 
schlüpfrich ('); kallio Felsen (Kalewala Felsenland); kallo Schädel; kolkki 
Pferd das leicht strauchelt oder ausgleitet. Lappisch kallo Stirn und Felsen. 
— Bei den Mands’us ist die betreffende Silbe kal und gal, letzteres z.B. in gal- 
ds’u durch Eis schlüpfrig gewordene Stelle; aber Schädel und Obertheil der 
Stirne heifst giolo, welches Wort aus einer innerlich erweiterten Form entstan- 
denscheint. Eine solche ist deutlich das mongol. kabala (kawala) Schädel. 

Dieselbe Wurzel finden wir in allen Familien des Geschlechtes auch 
mit einem Labiale als Anlaut. Schon im Mongol. und Mands. begegnen 
uns bal-isa, bal-da in den Zustandswörtern baltsa-ldsa und balda-sita aus- 
gleiten. — In der lappischen Sprache ist puold (für pald) eine abschüfsige 
Anhöhe, dann ein Hügel oder kleiner Berg überhaupt. Das finnische Wort 
pelto (ehstnisch pöld) scheint — wie Gottlund bemerkt — von diesem ab- 
geleitet, da die Finnen alter Zeit häufigst ihre Äcker und Felder an Abhän- 
gen bauten (?). Jetzt bedeutet pelto allerdings, wie das ehstnische pöld und 
magyarische föld, einen Acker; allein die Finnen besitzen noch ein verwandtes 
Wort, das auch die Bedeutung jenes puold bewahrt: es ist palta oder palto 
abschüssige Bergseite, und von Gottlund übersehen (?). Bei den Lappen 
heifst palda (pald) Seite, insonderheit des Körpers, und wird mit Casus- 
zeichen und Suffixen zu einem Verhältnifsworte wie bei, an. 

Wie eine Abkürzung verhält sich zu pelto das mongolische del Berg- 
lehne. Turksprachen haben dal und bil in der Bedeutung Hüfte, daher „U, 
bil-bau Hüftengurt. — Das türk. ab bal-yk Fisch ist das finn. kala. 


(') Vermuthlich auch kala Fisch. S. oben S. 338. 
(?) Se näyttää kuin Suomi sana pelto oisi tästä lähtenyt, koska Suomalaiset ennen 
wanhuudessa useimmittäin tekiwät peltojansa ja halmeitansa rinteillen. Otawa, Th. 2. 


(°) Verwandt ist wohl ferner palto, nach Renyall: fera ex decipula e/apsa (entschlüpft, 
entglitten), und callidus, audax (der zu entschlüpfen weiss). 


392 Scnhorrüber das Altai’sche 


Mands. kaba in kaba-ra zusammendrücken, kaba-chün zusammenge- 
drückt, abgeplattet. — Mongol. chap-ta in chapta-ghai flach, platt, chapta- 
sun Brett. — Finn. kapia eng, knapp, kape-ne eng werden (1). — Türk. 
ob kap in kap-la und LS kapa zumachen, verschliefsen, bedecken; daher 
z.B. kapy Thüre, kapak Deckel (?). Die Türken haben auch „L jap mit 
gleicher Bedeutung, daher & „\ jabuk verschlossen. — Lapp. jap-te sich ver- 
bergen (gleichsam zudecken), auch heimlich nachstellen. Vergl. unter Z. 

Mongol. chang in chang-gai hoch und dünn aufwachsen; changga- 
ghar lang und hager; changki-jal schmächtig aber lang. — Mands.genggen 
schwach von Beschaffenheit (Gegens. ganggan stark); gengge-de im Gehen 
schwanken wie z. B. Greise; gengge-chun langer und dürrer Mensch, der 
gekrümmt einhergeht. — Magyar. gyenge schwach. 

Lapp. kapa und finnisch kipa hüpfen; daher lapp. kipp und kappa-njes 
glühende Asche, finn. kipinä Funke. — Türk. „„&3 kyp-kyn und (mit g%h) 
Us kyghy-Idsym Funke (°). 


Mongol. chantu wenden, eine Richtung wohin haben. — Finnisch 


ö 
käänt wenden und wäänt winden, drehen. — Mands. wen die Wendung 
zum Guten, Besserung. 
Türk. ‚& kar Schnee. — Lapp. wuor tiefliegender Schnee. 
Türk. (55 kary bejahrt. — Lapp. wuor-as dasselbe. 
Mongol. charai springen. — Finn. kar-ka heftig aufspringen; laufen. 
Finn. kau-ni in kaunis schön. — Mong. ghowai, ghuai (*). 
Finn. kari, kari-tsa, kar-ko Lamm. — Mongol. chori-ghan. — Tun- 
gus. kuri-kan, kur-kan. — Türk. 555 kufy für kury. 
Mongol. chatsar, chasar Backe, Wange (°). — Finn. kas-wo Wange; 
kaswot Wangen und Gesicht. 
(‘) Plattheit und Enge können beide als Ergebnils eines Zusammendrückens be- 
trachtet werden, die entsprechenden Wörter also eine gleiche Wurzel haben. 
(?) Tibet. gad bedecken. 


(°) So hat ein anderes türkisches Wort für Funke, ON) utsch-kun seinen Stamm 
in „| uzsch fliegen. — Mongol. otschim Funke. 


(*) Koreanisch köw schön. — Chines. + chüo, hao gut und schön. 


(°) Sollte dieses Wort mit ghadsar Land, Erde verwandt sein? Das türk. D,,\ ort 
Wange (ungar. oriza) gleicht sehr dem türk. b, » jort Land, und im Uigurischen heifst 
lül £ jer jangak des Landes Wange d.i. Oberfläche. 


[2 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 393 


Mongol. ghal Feuer und in Zusammensetzungen leuchtend, z.B. ghal- 
tu chorochai leuchtender Wurm, Johanniskäfer; ghal tsetsegei Licht-Papa- 
chen (?), der Lichtpunkt im Augapfel. Verwandte Wurzel chala bedeutet 
nur die Wirkungen des Feuers auf das Gefühl: Hitze, brennen, wärmen. — 
Mands. chala kochen, sieden; chalu in chalu-kan wenig warm, lau; chal 
in chal-chün heiss.— Türk. jal in SL jal-yng Flamme, dann, wegen der 
Verwandtschaft des Zund n: .„‚» jan brennen. — Finn. vielleicht kyl-we ein 
warmes Bad gebrauchen. 

Mands‘. chan-tsi= cham-tsi benachbart, nahe. — Türk. „uxiy3 kong- 
schu für kom-schu Nachbar. — Mongol. cham-ds’i zu etwas gehören. Diese 
Wörter schliefsen sich ohne Zweifel an die oben erläuterte Wurzel cham, 
kam. 

Mongol. chair in chair-tu gadsar steiniges und sandiges Land.— Türk. 
Fi hor. 

Türk. (5; kafy schaben. — Mongol. choso. 

Mongol. chairagha-na Möwe. — Finnisch kajawa für kajaga oder 
kairaga. 

Türk. (sö kai Allheit, „B kai-sy ihre Allheit, sie Alle. — Finn. 
kaikki Alle ('). 

Türk. -$ kep Rede; MSuS kep-tschil plauderhaft. — Syrjänisch kyw 
Wort. — Mands’. chebe Berathung. Mongol. kebei und choobi. 

Mands. keli Schwager. — Türkisch .,,S kilün, u kilin, «5$ kilen 
Schwägerin. — Finn. käly Schwägerin. 

Finn. keri-t scheeren; kero geschorener Kopf. — Türk. 53 kyrk 
und > kyrp scheeren. 

Mands’. chese Befehl; chese-bun dasselbe, insonderheit der himmli- 
sche Befehl, das Schicksal, chines. en. — Finn. käs-ke befehlen. 

Finn. kepiä leicht. — Mongol. kep-rek locker und leicht; aber küp-ki 
sehr leicht sein. — Türk. iss gew-schek schlapp. 

Mongol. kebeli, mands. chefeli Bauch. — Ungar. kebel Schoofs. 

Mongol. kep Vorbild, Form. — Türk. Ss kip, aber nur in .sS kib-i 
(sein Bild, seine Gleichheit) gleichwie. — Finn. kuwa Bild, lapp. köw, magy. 
kep. Das lappische Wort kann ebenfalls Vergleichungspartikel werden, 


c) Chines. kai und kai. 
Philos.- histor. Kl. 1847. Ddd 


394 Scuorrüber das Altai’sche 


erhält aber in solchem Falle kein Suffix, z. B. il son almatsch köw nicht 
ist er Mensch Bild (wie ein Mensch). — Mands‘. gebu Name halte ich für 
dasselbe Wort, weil der Name wie ein Bild an den Gegenstand erinnert. 

Mongol. kele Zunge und Sprache. — Finn. kieli, keel dasselbe. — 
Mands. chele und chelen, nur ausnahmsweise gebraucht. Obwohl chele für 
sich allein mit stumm erklärt wird, so kommt doch in diesem Sinne auch, 
und wohl häufiger, chelen-akit vor, was nichts Anderes als zungen- oder sprach- 
los (akü ist die bekannte Verneinung) heifsen kann, also dem türkischen ‚wo 
dil-sif (aus Zunge und ohne) ganz analog sein mufs. Da chele den Man- 
dsus viel weniger geläufig ist, als ilenggu (s. oben S. 370), so konnte es 
mifsbräuchlich auch ohne akü die Bedeutung stumm erhalten und so gewisser 
Mafsen das Gegentheil von dem ausdrücken, was es sollte. — Xele heifst 
ferner bei den Mongolen sprechen und kieli bei den Finnen plaudern, 
woher kiele-wä plauderhaft. — Das mands. che-ndu sagen zeigt uns die Wur- 
zel verkürzt, wie das gleichbedeutende mongolische ge, zu welchem wieder 
giin dem mands. gi-sun Wort, Rede stimmt (!). Eben so verhält sich türk. 
di sagen zu dil Zunge. 

Eine Form der erwähnten Wurzel mit starkem Vocal, jedoch nur in 
der Bedeutung Kehle, ist mongol. choola, choolai (?). Vielleicht gehört 
auch das finnische kaula Hals hierher. Mit choola klingen aber zusammen: 
lapp. höl und höla Rede, höle sprechen; tungus. in Ochotsk gol sprechen; 
mands. chäla rufen und lesen, welche zwei Bedeutungen auch das hebräi- 
sche x"p vereinigt. — Die oben angeführten Wörter für Aushöhlungen des 
Bodens hätte ich wohl zweckmäfsiger hier angereiht, um so mehr, als z.B. 
das mands. cholo zunächst engere Vertiefungen (Schluchten und Rinnsale 
von Gewäfsern) bedeutet. Alle diese Wörter heifsen eigentlich nur Kehle 


oder Schlund (°). 


(') Vermuthlich ist kele selber, sofern es reden bedeutet, in ke und Ze zu zerlegen. 
In diesem Fall wäre ke ein Fragment von %kele Zunge und /e die bekannte Silbe welche 
Nennwörter in Zustandswörter verwandelt. 


(?2) Hiernach wäre z.B. in dem 5» und Js (Stimme, Rede) der semitischen Spra- 
chen, wenn es mit c$oola urverwandt, die älteste Bedeutung (Kehle) verloren gegangen. 


(°) Man vergleiche den sehr analogen Gebrauch des türk. ‚Ley boghaf Schlund (Schlucht 
und Meerenge), französ. gorge u. s. w. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 395 


Finn. heit werfen, abwerfen; lassen, verlassen. — Türk. ws jit ver- 
loren gehen; jit-ir verlieren. — Vergl. oben (S. 365) das finnische wätkä. 

Finn. helppo schlaff. — Türk. „uw sülpü dasselbe als Verbum: schlaff 
da hangen. 

Finn. keisa heimlich zu sich nehmen. — Türk. ;£ gif verheimlichen; 
gi/-L heimlich; gif-le verstecken. 

Türk. N krl Haar am Körper. — Mongol. kil-ghasun Pferdehaar. — 
Lapp. kwol-ga Haar der Thiere. 

Finn. hüli Kohle. — Türk.  kül glühende Asche. 

Mongol. und türk.: kiraghu (kirau) Reif (pruina). — Finn. huuru, 
kuura. 

Mands. gira-n Gebeine; gira-nggi Knochen. — Ungar. gerentz (mit 
und ohne hat Rücken) Rückgrat. — ongelh kira niedriger Bergrücken und 
kira ghadsar Hochland. 

Finn. Airw und Airm, Wurzel des Schauderns, Grauens, Erschre- 
ckens. — Mong. sür Furchtbarkeit, Überlegenheit. 

Ostjak. chogh-od laufen (nach Erman). — Finn. juok-se. — Türk. 
5.» jüg-ür. — Mong. güjü. 

Mongol. choli mischen. — Finn. koli mischend verunreinigen. 

Mongol. cholki-ta sich umhertreiben. — Finn. kulke wandern (). 

Mongol. chokija verarmt, Bettler. — Mands. koki-ma sehr arm. — 
Finn. köyhä arm. — Türk. Jem>. joch-sul arm (?). 

Mongol. chomsa Abnahme, Schaden, klein. — Mands. komso wenig. 

Mongol. chomosun und kimüsün Nägel an Fingern und Zehen. — Finn. 
kynsi für kümsi Nagel und Klaue. 

Mongol. BE hlo- li Obertheil des Schenkels. — Finn. konti en 
bein. Magyar. csont (tschont) Knochen. 

Mongol. und Mands. gol Länge; daher mongol. ghol-tu in die Länge; 
mands‘. gol-min lang. — Verw. sind mongol. chola entfernt (vergl. die Wur- 
zel uf); mands. gul in gul-chun vollständig; finn. kyllä dasselbe (°). 


(') Gehört wahrscheinlich zur Wurzel Fuls, S. 343. 
(?) Mands’. giocha betteln ist wohl das mongolische gAuju bitten, erbitten. 


(°) So hat im Portugiesischen comprido (aus dem lateinischen completum) die Bedeu- 
tung lang erhalten. 


Ddd2 


396 Scuorr über das Altai’sche 


Mongol. chorki-ra schnarchen, röcheln. — Finn. koris. 

Mongol. chorboi gekrümmt sein. — Ungar. görbe gebogen, krumm; 
görbi-te krümmen. Wohl eines Ursprungs mit chorgi u.s.w. S. 355. 

Mongol. chosi Ceder. — Finn. kuusi Fichte. 

Finn. koski reilsender Strom, Wafserfall. Lapp. kwoik (für kwosk) 
und kweik dasselbe. — Türk. »& 5 kui-gha und ., +3 kui-ghun Strom (!). 

Mands. godsi ziehen (trahere). — Türk. <> kütsch herumziehen, 
nomadisiren, woher die Russen ihr koyerams haben. — Lapp. kese ziehen 
(trahere). 

Mongol. choi in choi-tu Hinteres, Folgendes, Künftiges, choi-na hin- 
ter, zurück; später; nach. Ferner chodsi in chods'i-t hinten, nach; chodsi-m 
spät, verspätet, chodsi aufschieben.— Schwächere Wurzel: türk. es ketsch, 
getsch spät, WS gidse Nacht. — Magyar. kesö (keschö) spät. 

Finn. köyte (köysi) Strick; köytä binden. Magyar. köt binden. — 
Mands. chüaita anbinden; kute dasselbe; aber kutu-le leiten, führen. — 
Mongol. küte leiten, führen. 


(‘) Der Name des ältesten Ahnherrn Tschinggis-Chans wird von den Mongolen Kijor 
geschrieben und findet im heutigen Mongolischen keine Deutung mehr. Adulghasi, der 
diesen Namen us schreibt, was man Ayjan und Kajan lesen kann, deutet ihn an drei 


Stellen seines Werkes. Das erste Mal (S.21) sagt er: x5° 1% Wr ER Ss os 
ES RSG 5 Jos Heeneone ven OS AR, a5 ah ES or > un» & 


Berge kommt, einen reissenden Waldstrom ..... Man nannte ihn also, weil er ein starker 
DS u olus Kor ist 
Mehrzahl von Ä-n. Schon ein Paar Zeilen vorher wird bemerkt, X-/ seien die Kinder 


und rascher Mann war. — Es folgen die Worte: BO) 


(Nachkommen) des X-n genannt worden (was auch sehr wahrscheinlich, da das pluralische 
2 der Mongolen ein auslautendes » verdrängt). Das andere Mal (S. 51) heilst es: 


ae de ee LU a ls Klum, 
d.i. man nannte diese Leute Ä-7, weil die Mongolen einen von einem Berg herabflie- 
(senden Strom k-n nennen. — Endlich die dritte Stelle (S. 39) lautet: Le ‚wol ge 


3 da ak m ET eb he Su al dass di. Kon bedeutet ei- 
gentlich stark und rasch, wie ein vom Berge stürzender Gielsbach. — Ich meines Theils bin 
sehr geneigt, das heutige mongolische chaja-ghan Wurf als eine andere Form jenes ver- 
lornen Wortes zu betrachten, das Aıjaghan (kijän) oder kijaghon (kijön) gelautet haben 
mag. Der reilsende Lauf kann mit einem Wurfe verglichen werden, und so dürfen wir 
also auch in dem Awoi, kui, kos obiger finnisch- türkischer Ww. eine Wurzel des Wer- 
fens erkennen, die bei den heutigen Mongolen chaja ist. 


ug 


oder Finnisch- Tetarische Sprachengeschlecht. 397 


Türk. 23 kum und (325 kumak Sand. — Mongol. chomaki feiner 
Sand, Stäubchen. — Magyar. homok Sand. — Mands. jonggan dasselbe 
(für jom-gan). 

Finn. kuul hören. Ostjak. chol. Wogul. jul. Magyar. hall. — Die 
finnische Wurzel ist in dem türkischen Worte für Ohr, (355 kul-ak (aus 
kul-ghak) und chulgha, besser zu erkennen als in dem finnischen korwa (r 
für 2), womit übrigens die tungusischen Formen kor-at, kor-ot Ohr am mei- 
sten übereinkommen. — Wegen des türkischen .l-d und ischit hören sehe 
man unter Z.— Mit einem Labiale vertauscht ist der Anlaut z.B. in dem 
magyar. fül und ostjak. pal Ohr. 

Mongol. ghol-ki Ekel empfinden; chuli ausbrechen, speien. — Finn. 
kyölä sich erbrechen. 

Mongol. kül-te erfrieren, frieren. — Finn. kyl-mä kalt. 

Mongol. kündü schwer, mühsam, ehrenwerth; kündü-le ehren. — 
Finn. kunnia Ehre, Ruhm. 

Tungus. kunga-kan, kua-kan Kind, Knabe. — Mongol. köwe-gün 
Knabe, Sohn. — Syrjänisch kaga Kind. 

Mongol. küse wünschen, verlangen, begehren. — Finn. kysy suchen, 
bitten, fragen; kose prüfen, versuchen; kosi um eine Braut werben. — Mands. 
gosi nach Jemanden Verlangen haben, ihn lieben. 

Türk. ws kös grollen. — Finn. kiusa ärgern, verdriefsen. 


2 Zungenlaute. 


Diese sind r, Z, n, t(d). Wenn ni zu nj zusammenfliefst, so wird 
es innige Paarung eines Zungenlautes mit dem gelindesten Gaumenlaute. 

Wir beginnen mit, das als Anlaut einer Wurzel nur in den finnischen 
Sprachen häufig, in der türkischen und tungusischen Sprachenfamilie sehr 
selten (!), in der Mongolischen ohne Beispiel ist. Für die meisten Türken- 
stämme, besonders die westlichen, hat das anlautende 7 so vieler von ihnen 
aufgenommenen Fremdwörter keine Schwierigkeit mehr, Andere aber schie- 


ben (wie der Mongole immer thut), den nächsten Vocal echo -artig wieder- 


(') Der tungusische Dialekt von Jenisejsk hat rokta Gras (finn. ruoho) für orokta (s. 
oben). Erman citirt auch roktschan Berg, raketa Bär. In türk. Dialekten findet man 


Ey rugh und 2, Tumw für En) urugh Stamm; rach oder rach-tach für Gl irak fern. 


398 Scuorr über das Altai’sche 


holend, gleichsam ein Kissen zwischen das r und ihre ungeübte Zunge: sie 
sagen z.B. >! Oros für Ros, Russe, Js, iriskal für Sliw, riskal Glück. (?) 

R in der Mitte kann mit einem Kehllaute den Platz wechseln, z.B. 
mongol. borghotsok und boghortsok Knollen am Obste, delger und dergel 
(mit sara) Vollmond; türk. dokuf und tschuwasch. Zuruch neun. — Es kann 
ausfallen: mongol. bordsigir und bodsigir kraus, lockig (?); türk. arslan 
und aslan Löwe; jumurta Ei, jakut. symyt; finn. sinerwä und sinewä bläu- 
lich — oder sich assimiliren: türk. dört vier, tschuwasch. dwatta; yrla sin- 
gen, jakut. ylla. — Es wechselt unter den Lauten seiner Olasse: a) mit Z, 
was gar keiner Beispiele bedarf; b) mit n, z.B. in einigen tungus. Dialekten 
wo men (zehn) zu mer wird; c) als Anlaut gewifser finnischen Ww. mit t: 
reuhka und teuhka Wintermütze. Statt eines Kehllautes steht es als An- 
laut in dem finnischen ryAmy für kyhmy kleiner Buckel, Knoten; sonst am 
Ende der Silben: finn. mörkälet für möhkälet grofser Klumpen; mongol. 
setser-lik für tsetsek-lik Blumengarten (°); auch in der Mitte zwischen Voca- 
len: mongol. doghokschi und dorokschi abwärts. — Beispiele seines Über- 
gangs in j oder i seien: finn. Zuiki für turki ganz, völlig; mongol. dsila-ghai 
für dsila-ghar seicht (*); türk. arkury und im gemeinen Leben aikary queer, 
schräg. — Wenn s oder häufiger / für r erscheint, so ist jenes wohl in den 
meisten Fällen (wie wenn r zu j wird) eine spätere Bildung. Beispiele sind 
öfter vorgekommen, besonders wo ich türk. Wörter mit mongol. und tun- 
gus. verglichen habe (°). 


* 
* 


Das 2 ist als Anlaut den türkischen Dialekten ziemlich eben so fremd 
wie; und auch von ächt mongolischen Wörtern lauten nur wenige damit an. 

In der Mitte kann es vor einem anderen Consonanten ausfallen oder 
demselben sich anähnlichen. So hat man türk. osun für olsun es sei, ge-tir 


(') Dieses ist aus dem arabischen Gh Geschenk, Güter. 

(2) Immer vor dem die Mehrheit anzeigenden 2: ghadsat für ghadsart Länder. 

(°) Vergl. tungus. umukta und türk. jumurta Eı. 

(*) Der Zusatz ghai entsteht wohl immer aus ghar. — Vergl. im Italien. caldajo neben 
caldaro und überhaupt die Endung ajo neben aro. — Manches andere Beispiel von j oder 
i für r findet man zerstreut in den bisherigen Wörtervergleichungen. 

(°) Der tschuwasch. Dialekt hat regelmälsig r für /, z.B. chyr = kyf Mädchen; pur 
= buf Eıs. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 399 


für gel-tir kommen machen, bringen; ofur für ol-tur sitzen; otu/ für ol-tuf 
dreifsig; eder (jakut.) für i-der jung. Der Osmane spricht im gemeinen Le- 
ben ann für alen Stirn; onnar für on-lar jene, sie. — Im Mongol. finden wir 
sidsirekü neben sildsirekü zerkochen. Am Ende ist I ausgef. in dem jakut. 
ary für aral Insel. Unter den Lauten seiner Classe wechselt es zuweilen in 
der Mitte und als Anlaut mit #: so hat man finn. Zadikko neben tadikko Mist- 
gabel, patja neben palja grolser Schmiedehammer — oder es wird n: mon- 
gol. emnekü für emlekü Arznei einnehmen, u. s. w. (!). 

L kann Jod werden, in der Mitte vor einem Consonanten und noch 
häufiger als Anlaut, auch wenn es nicht Z mouille ist (?). So verwandelt sich 
das finnische kolm drei bei den Syrjänen in kuim; bei den Suomalaiset be- 
gegnet uns jorotus neben lorotus. — Ofter noch erscheint in den finnischen 
Sprachen anlautendes /, wo andere Familien des Geschlechtes Jod haben. 
So dürfen wir das ostjakische Zil Geist (hier Z mowille) nicht blofs in den 
magyarischen Wörtern lehel athmen, lel-ek Seele, sondern auch in dem tür- 
kischen \\ je! Wind wiedererkennen. Magy. lod.ıl eilen legitimirt sich als 
Verwandter des finn. jout und türk. iwez (S. 358); und unzweifelhaft ist ma- 
gyar. lep bedecken das türk. jap = kapa. 

Die meisten finnischen Sprachen besitzen in Z-b, l-p eine Wurzel des 
Abgeplatteten, Flachen. Dahin gehören die Suomiwörter Zapa Schulter- 
blatt, Zappa dünne Eisenplatte, Zappia flach, platt und breit, u. s. w.; das 
lappische Zapa Sohle des Fufses, die auch bei den Schweden Fufs-Blatt 
(fotblad) heifst; das ostjakische Zibit Baum-Blatt; endlich die ungarischen 
Wörter Zap Fläche, Seite, ad Fufs (unmittelbar aus dem lappischen Zapa 
Sohle), und ler in Zev-el Baumblatt und Brief (?). Zu 2a Fufs gehört wieder 
lep schreiten. Nur ein türkisches Wort bewahrt den Anlaut Z: es ist ss 
lep-tschik, welches Giganow in der Redensart N», „2 us 1. burunlu, rus- 
sisch 1.I0eROHoCBMI d.i. plattnasig, anführt (*). Mongol. nap-tschi Baum- 


(') So steht das finnische Wort omena Apfel wahrscheinlich für on/a und verhält 
sich wie eine Verschiebung zu dem mongol. alima und den türk. Formen alma, elma, olma. 

(*) Aus den slawischen Sprachen vergleiche das böhmische Zedwa neben dem russi- 
schen jedwa kaum. 

(°) So ist bekanntlich unser deutsches Blatt eine und dieselbe Wurzel mit platt. 
Vergl. auch die Bedeutungen des griechischen :ir«2.ov. 

(*) S. dessen russisch -tatar. Wörterbuch, S. 387. — Übrigens hat man im Finnischen 


) 


400 Sen über das Altai'sche 


blatt steht gewifs für Zap-ischi, hier ist Z das als Anlaut den Mongolen mund- 
rechtere n geworden. Eben so wenig dürfen wir aber die Identität des türk. 
jap, dsaf, tungus. ab, af, injaprak, afacha u.s. w. ('), wie auch des mon- 
golisch-tungusisch -türkischen jap, jafa, tschap gehen, mit lap u. s. w. in 
Zweifel ziehen (?). Nur die finnische Sprachenfamilie offenbart uns diese 
ursprüngliche Einheit zweier ostaltaischen Wurzeln, dieman, weil im eignen 
Gebiete kein Mittelglied ihre Bedeutungen zusammenhält, für grundverschie- 
den halten sollte. 

Endlich alternirt Z auch mit sch. Dem eine Silbe schliefsenden sch 
der meisten heutigen Türkenstämme entspricht besonders gern bei den Tschu- 
waschen Z, oder wahrscheinlich /, da ihm in solchen Fällen fast immer ein 
schwaches Jer von den Russen beigeschrieben wird (?). Beispiele: xmas chi 
— 045 kysch Winter, moAs tül = ss tüsch Begegnung; mMIOMORB Lülük 
Schlaf und Traum = us düsch Traum; umaur® pilik fünf = gs besch; 
u.apae ilde hören = ww! ischit. Die Formen chil und ilde sind jedenfalls 
vor kysch und ischit dagewesen; chil Winter erinnert an eine Wurzel der 
Kälte, des Frostes, welche bei Finnen und Mongolen kül lautet (s. oben); 
und das il in lde hören kann sich zu finnischen Wurzeln des Hörens (kuul, 
chol) eben so verhalten wie etwa mands. il-an drei zu den finn. Formen 
kol-m, kur-om, oder türk. iki zwei, zu finn. kok, kah-te u. dergl. (*). 

Ich vergleiche jetzt noch einige Wörter, deren anlautendes 2 bleibt 
oder höchstens n wird: 

Mongol. Zap-chu kothige Stelle. — Tschuwasch. Zapra Koth, labyr- 
da besudeln. 


auch wlappa weite geräumige Fläche, was von obigem Zap u.s.w. nicht getrennt werden 
kann; es ist durch vorgesetzten Vocal erweiterte Wurzel. An die Bedeutung weit, um- 
fassend scheint das mands’uische /ad-du viel sich anzuschlielsen. 

(') Vergl. S. 360. In dem jakut. sibirdach istjap zu sid geworden, analog dem ost- 


. Sth= . 
jak. Zd in Zidit. — Chines. je Blatt, in Canton jip, ip. 


(?) Sofern jab u.s.w. gehen bedeutet, ist es natürlich nichts Anderes als ein zum 
Verbum gewordener alter Ausdruck für Fuls, dem magyar. /d& (lapp. apa) entsprechend. 

(°) Eben so ist das ch (sch) vieler portugies. Wörter aus einem Z mouillE hervorge- 
gangen; denn im Spanischen steht allemal der letztere Laut (geschrieben Z) gegenüber: 
llamar (aus clamare) wird chamar; hallar (finden) wird achar. 


() Wegen pilik vergl. das Zahlwort; zü) und zülük s. unter T. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 401 


Finn. Zoihka und loiku schwingen, wedeln. — Mands. Zakia hangen, 
aufhängen. 

Finn. Zaaha und laahi schleifen, glätten. — Mands. Zecke schleifen, 
wetzen. | 

Finn. Zau in Zau-su sprechen. — Mands. leo sprechen. 

Mands. laktscha und las’cha zerbrechen. — Finn. Iuhi-sta entzwei 
gehen, einstürzen. 

Finn. Zäiky sich stark hin und her bewegen; lüke bewegter Zustand. 
Lapp. likka sich regen, rühren. — Tschuwasch. lügga schütteln. — Mands.. 
leki-de Evolutionen machen, tanzen. 

Finn. löka Auswuchs, überflüssig (1). — Mands‘ Zuku reichlich. 

Mands. Zusu müde und matt sein. — Lapp. löds’o erschlaffen. Finn. 
löysä lose, schlaff. 

Tungus. Zamu und namu Meer. — Finn. lampi Landsee. 

Mands. lenggeri eine Art Maus oder Ratte, während singgeri dieses 
Thier überhaupt ist (*). — Bei den Östjaken heifst Zengir Maus schlechthin. 

Finn. läwa breiartige Masse, Schleim, lüpi ausgleiten; Züpa dasselbe, 
lipa-kka Schlüpfriges, Schleim; Ziima und lima-ska (auch lima-kka?) s.v.a. 
lüwa. — Sollte nicht das mandsuische nima-cha Fisch von einem verlorenen 
nima — finn. lima sein und also schleimiges, schlüpfriges Wesen bedeuten? 
Auf eine ähnliche Bedeutung des anderen Wortes kala habe ich oben schon 
hingewiesen. 


* 


N ist als Anlaut ächt türkischer Wörter selten. Inmitten solcher fällt 
es dialektisch aus, z.B. muinuf oder boinuf Horn, bei Kirgisen mujuf, Ja- 
kuten mos, Tschuwaschen myr& (für muinur), günesch Sonne, kirgisisch 
kajasch,; osman. karyndasch Bruder, im gemeinen Leben kardasch. Am 
Ende der Ww. wird es, wenn blofser wortbildender Zusatz, von Mandsus 


(') Daher Zian allzusehr, was so merkwürdig mit dem griech. ?«v übereinkommt. 
Das wurzelhafte k ist wegen der geschlossenen Silbe ausgefallen. 

(?) Vgl. unter Züri, S. 337. — Das Thier Zenggeri wird im Buleku Bitche so be- 
schrieben: eine grolse Maus, deren Kopf dem des Hasen ähnlich und deren Schwanz be- 
haart ist. Sie hat eine grünlich-gelbliche Farbe und kann wie der Mensch aufrecht stehen. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Eee 


402 Scnuorr über das Altai'sche 


und Mongolen gern abgeworfen, und selbst wurzelhaftes 2 weicht einem an- 
gehängten Mehrheitszeichen, z.B. mong. chat für chan-t, von chan Fürst(!). 

Vor 5 wird es m: mands. mim-be = min-be mich. Unter den Lauten 
seiner Classe kann n mit d wechseln (?); so heifst schlafen mordwinisch ud, 
lappisch öda; im Suomi aber ist uni Schlaf und uina schlummern. Zuweilen 
wird esj (?): tungus. nima und jema Schnee; finn. nysky und jysky krachen. 
Besonders geschieht dies, wo ein Übergang in 7 (durch i hinter n) entweder 
vorbereitet oder schon erfolgt ist, z.B. mands. niobo und jodo Possen trei- 
ben (*). Einfaches 2 wird nj in dem tungus. nurit = njurikta Haar; ein 
w + i erscheint an seiner Stelle in dem finn. wäl aufschlitzen, magyar. nyıl 
sich öffnen. — Einfaches n streitet um den Rang mit s in der finnischen En- 
dung ne (n) = se (°) und dem Worte intiara neben istara Zaubergeräth. 

Wörter aus verschiedenen Familien des Geschlechtes: 

Mongol. naghor (noor) See. — Finn. noro sumpfige Aushöhlung 
zwischen Bergen. 

Mands. naka aufhören etwas zu thun. — Finnisch naka hinwerfen, 
wegwerfen. 

Finn. nahka Haut; daher nahkia zäh. Ehstnisch nakka anhängen. — 
Mongol. nagha kleben; daher nagha-nggi schiroi zähe oder klebrige Erde, 
Lehm. — Mands. notcho Haut, Fell. 

Mongol. nasu Lebenszeit, Lebensalter. — Türk. Lil jascha leben, 
das aber wieder von ib jasch nafs, frisch, woher auch ul jasch-yl oder 
jeschil die grüne (frische) Farbe, herzuleiten ist. — Lappisch njuos-ka nafs, 
frisch: njuoska muora das noch saftige, grüne Holz, im Gegensatze zum 


(') Das türkische Wort zeigt uns öfter die reine Wurzel, während im Mongol. eine 
Art Nunnation nachtönt, z.B. türk. — 5 gütsch Gewalt, Stärke, mongol. küzsch-ün; türk. 
BE znuf oder 3 duf Eis; mongol. müs-ün. 


(2) Einige Parallelen: im Sanskrit ist neun nawan, im Slawischen dewjaz; littauisch 
dewyni. Das chines. Wort für Vogel ist nido und ziäo (diao). 
(°) Vgl. altslawisch jefero und bulgarisch nejero See. 


(*) Mands. niam-an Herz ist das tibet. Wort am Gemüth mit aufgelöstem 7; und 
wenn die Wurzel des mands. ine-nggi Tag mit dem tibet. min Tag verwandt ist, so steht 


Ersteres für nienggi. 
(°) Nur der Nominativ ist nen; in der Mehrzahl und in allen Casus erscheint dafür se. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 403 


dürren, trocknen; njuoska pjärga rohes Fleisch. — Mands. nas-chin gün- 
stige oder glückliche Zeit, gute Gelegenheit. 

Finn. näh, mordwin. nej und nee sehen. — Mongol. nik oder ni in 
nighor Gesicht und nidun (für nikdun?) Auge. 

Finn. noki Rufs; noke mit Rufs besudeln. — Mongol. noki-d mit Koth 
bespritzt werden. 

Mongol. noit-an feucht. — Finn. neitiä, magy. nedv dasselbe. 

Finn. nokka Nase, Schnabel, Spitze; daher nokki picken, hacken; 
nokkoinen Brennnessel (weil sie sticht). — Mands. nuka stechen, und nuki 
reizen, necken, in Zorn setzen. 

Finn. nous und nos sich erheben, aufstehen, auch vom Fische gesagt, 
z.B. kala nousee rannallen der Fisch erhebt sich zum Strande, was in der 
That ein Auffliegen im Wafser ist. — Mongol. nis fliegen. 

Syrjänisch nyw Weib, fast gleich dem chinesischen njü, nü. Magyar. 
nö. Finn. nei und lapp. ni, aber Ersteres nur in nei-tsi, nei-tsy Jungfrau, 
Letzteres in ni-su Weib. — Mongol. nai in nai-dsi und naidsi-nar (!). — 
Türk. „> dischi, nur noch von weiblichen Thieren (für ni-schi). 

Finn. nila Schleim; nilwa-kka und nilja-kas schleimig. — Mongol. 
nilmu spucken, nilmu-sun Speichel; nilbu-sun Thräne. 

Mongol. nidur-gha, nudur-gha Faust. — Finn. nyrkki. — Türk. 
Ge Juturuk und 2 jumruk. — Lapp. tschörmö, offenbar zunächst für 
jormö, jömrö, also viel näher der türk. Form jumruk, während das finn. 
nyrkki wie ein verkommenes mongol. nidurgha (das wieder näher dem türk. 
juturuk) sich ausnimmt. 

Mongol. nirai frisch, neu. — Finn. nuori frisch, jung. 

Tungus. zjur, niru, noru Pfeil. — Finnische Sprachen: nuoli, nol, nyil. 

Mands. niobo und jobo scherzen, Possen treiben. — Finn. juopo li- 
stig täuschen. — Türk. jod in ‚„sL , jobandur belustigen, erheitern. 


(') Naidsi wird durch Gefährtin, Freundin erklärt, als käme es von nais oder nair 
Einigkeit, Harmonie; naidsi-nar heilst Weib überhaupt, ist aber nichts Anderes als das- 


selbe Wort mit einer mongol. Mehrheits-Endung. Ist das chines. njü-tsfe 
Tochter, wörtlich weiblicher Sohn (worin dem Worte für fernina überhaupt noch das 
Wort für filius beigegeben), hinsichtlich der zweiten Silbe dem finn. neitsy nur durch Zu- 
fall beinahe gleich? 

Eee2 


404 Scnorr über das Altai'sche 


Lapp. njölk (in verschiedenen Ableitungen) mäfsig schneller Ritt. — 
Türk. jal in SL jalang at Reitpferd, „Sl jal-ky Pferd überhaupt. — 
Mands. jalu reiten. 

Mongol. nara Sonne. — Magyar. nyar Sommer. — Türk. ,ı jar, 
‚sb jai und ;b ja/ dasselbe (1). — Eben so ist mong. sun Sommer mit mands. 
schun Sonne verwandt. 

Mongol. nigho verbergen, verheimlichen. — Finn. wihja (von wihi 
leise zischen) heimlich anzeigen (der Bedeutung nach ursprünglich). 

Mongol. nogho (auch nigho?) grün, Grünes. — Mands‘. nio (für 
nigho) in nio-boro grün-braun (dunkelgrün), nio-chon grünlich, nio-anggian 
grün. — Finn. wiho das Grünen, wiha-nta grün (?). 

Magyar. nyil sich öffnen, nyil-ds Öffnung. — Türk. 35 del in ss 
del-ik Loch. — Mongol. Zail öffnen. — Finn. wül aufschlitzen, spalten, 
welche Bedeutung an die Spitze der übrigen gehört. 


* * 
* 


T (d) kann im Mongolischen in der Mitte zwischen Vocalen ausfallen, 
wobei dann wenigstens der erste Vocal sein Schicksal theilt, z.B. mochor = 
mochotor abgestumpft; tü-tschinen = tedüi-ischinegen so viel, so stark. Bei 
den Finnen stuft sich 2 in d ab oder verhallt ganz, wenn aus der offnen Silbe 
eine geschlossene wird; aber auch aus der offnen Silbe mufs es zwischen 
kurzen Vocalen weichen, so oft sie wenigstens die dritte vom Anfang ist. 
Im Türk. und Mongol. kann schliefsendes £, wenn das Wort Casuspartikeln 
erhält, d werden (?). Nach Z und n fällt das z in türk. Dialekten gern aus, 


(') Nicht hierher gehört mands. ds’ua-ri Sommer, vermuthlich aus dem Zahlworte 
dsue zwei und der Abkürzung ri für eri Zeit, womit die Namen aller vier Jahreszeiten 
zusammengesetzt sind. Der Sommer ist ja die zweite Jahreszeit. 

(') Wegen der Endung vergl. man tungus. jema-nda Schnee, mands’. nima-nggi. 

(°) Beiläufig bemerkt: die Buchstaben & und _b stellen bei den Arabern zwei ver- 
schiedene 7-Laute dar, keineswegs aber bei den Türken, die nur eine Art von z besitzen. 
Warum hat nun der Türke nicht einem dieser Buchstaben entsagt? Offenbar darum, weil 
er mit dem einen die Stärke, mit dem anderen die Schwäche des begleitenden Vocales an- 
deuten wollte. Man halte mir nicht vor, dafs & öfter geschrieben wird, wo nach diesem 
Grundsatze _b stehen sollte; dies ist blofse Fahrlälsigkeit, die gegen den Grundsatz nichts 
beweisen kann. Auch wird man wenigstens nie umgekehrt ein _D& finden, wo w stehen 
muls, d.h. bei schwachen Vocalen: 25 für zb Berg ist etwas Gewöhnliches; aber _b} 
für zo} ee Fleisch, oder eX4o} für wSf} ezmek Brod etwas Unerhörtes. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 405 


2. B. tschuw. künüs = kün-düf bei Tage; sulus = jelduf Stern; jakut. olor 
= ol-tur sitzen(!). Finnische Mundarten assimiliren d einem vorhergehenden 
l,n, r und lassen es hinter % (ch) gern verhallen, auch das bequemere 2 oder 
r an seine Stelle treten, z.B. ahdet, ahlet, ahret, ahet steiles Ufer. — Als 
wurzelhafter Laut wechselt Z bei den Finnen gern mit k und A (ch), z.B. teuhko 
für keuhko Lunge, saitta für saikka Stange; wartii für warkki eine Art Ente, 
olra für ohra Gerste. Vor einem nicht ursprünglichen i geht 2 unter gewissen 
Bedingungen in s über. — Bei Mongolen und Mands’us kann d mit ds’ oder 
isch (ts) wechseln, z. B. mongol. irdaichu und irdsaichu Zähne blecken, 
bügdüikü und büktsüikü sich krümmen, wölben; mands. medege und medsige 
Kunde, Botschaft; tungus. dude, buda und mands. butsche sterben. Der 
tschuwasch. Dialekt des Türk. hat z.B. tschil-ge für dil Zunge, tschitre für 
titre oder detre zittern. 

Bei Uiguren und Jakuten erscheint zwischen Vocalen öfter t, d, wo 
die westlichen Türken jhaben, z.B. uigur. adik Bär (mongol. ötege), ufbe- 
kisch ajik, osman. ,.! ajy; chadin Schwiegervater, osman. („U kajin, adach 
(jakut. atach) Fufs, osman. ‚sb! ajak; baduk grofs, osman. Syr bujuk;, bytyk 
Bart, (u dyjyk. Jakut. chatyn Birke, („U kajyn; kuturuk Schwanz, > 3 
kuiruk; utui schlafen und utuk-ta schlummern (?), >} uju, Ws} wjuk-la. — 
Zu Anfang der Wörter ist mir aus Sprachen von gleicher Familie kein solches 
Beispiel bekannt; aber das lappische Zwolpa flach, eben, entspricht dem 
türk. sub jalbak, und das lapp. zuol ächt, rechtmäfsig, dem mands. jala 
in Wahrheit, allerdings. 

Finn. tako, tawo, tao schmieden. — Mands. t6 oder /& hämmern. — 
Türk. tok in (33,5 tok-mak Schlägel; $,> dög (döj) schlagen überhaupt. 

Finn. zaka Hintertheil, hinten (?). — Tungus. in Jakuzk: taka-l 
rückwärts. Mands. dacha nachfolgen. — Mongol. tagho nachjagen, ver- 
folgen; aber docho das Hinterhaupt. 

Finn. zahto wollen, begehren. — Mongol. tagha-la Gefallen ha- 


ben, lieben. 


(') Im Osmanischen umgekehrt o-Zur. Die Tschuwaschen verstümmeln diese Wurzel 
gar in /ar. Nur die Formen mit o/ überzeugen uns von ihrer Identität mit dem magyar. 
ul sitzen. 

(°) Vgl. unter den finn. Formen: mordwinisch ud, lappisch dda. 


(°) Bei den Eskimos von Kadjak heilst zakka nachher. 


406 Scuorr über das Zltaische 


Finn. zaika Ahndung, Vorzeichen; wahrsagen. — Mongol. tagha 
ahnden, muthmafsen, rathen. — Jakut. Zai muthmafsen. 

Mands’. dachi wiederholen. — Mongol. dakinoch. — Türk. x 
und „>> dachy dazu, auch. 

Finn. tähti Stern, etwa von einer Wurzel des Festsieckens wie das 
Türk. Su tik (1)? 

Mongol. zeg vollenden, z.B. in zegü-s vollständig, vollkommen, tegülter 
in vollem Mafse. — Magyar. tökelletes vollkommen. 

Finn. zaiwas Himmel. Scheint unserem Sprachenstamm entlehnt (?). 
Es giebt aber im Suomi selber ein Verbum der einbleibenden Handlung zaipua 
sich biegen, neigen (Gegenwart Zaiwun), welches für die Thätigkeit nach 
Aufsen eine Form Zaipa (Ggnw. Laiwan) voraussetzt, und sonach liefse sich 
Himmel (taiwas steht für faiwa-ha) aus dem Finnischen selber und ganz un- 
gezwungen mit Biegung, Wölbung erklären. — Ein verwandtes Wort für 
biegen und gebogen werden ist finnisch Zaita, taitu; und dieses findet sich 
wieder in dem mongol. daita-ghar der krumme Kniee hat. 

Mongol. zar-an Schweifs der die Kleider durchdringt. — Türk. Ster 
Schweifs ohne Nebenbegriff. 

Mongol. darw drücken und unterdrücken, daher z.B. daru-gha Be- 
vollmächtigter eines Fürsten (von dem er also das Recht zu drücken empfan- 
gen hat!). — Türk. ‚Lb tar und ‚0 dar (gedrückt) knapp, enge. 

Mongol. Zari pflanzen, säen, anbauen; daher Zari-ja Getreide, tarija- 
lang eher Türk. &,5 zarla dasselbe. — Die östlichen Türken und die 
Mandsus haben auch te Steppe, Wildnifs, was also das Gegentheil von 
tarla und gewifs eine andere Wurzel ist. Als eine Schwächung jenes Zala 
betrachte ich das osman. tere oder »,0 dere Thal und Ebene; magyar. ter 
Ebene. Grundbedeutung des Etymons war ohne Zweifel Thal, eine Aus- 
höhlung des Bodens; und so trage ich kein Bedenken, dasselbe auch in dem 
ımnongol. Worte dal-ai Meer wiederzuerkennen. Es wird hier wie in dem 
mongol. ghool Flufs und türk. göl See (s. oben) nur auf das Becken, den 
Behälter der Wafsermafse, nicht auf das Wafser selbst, hingedeutet. 


(') So bedeutet im Lappischen ein Wort für Pfahl oder Pflock zugleich den Polar- 
stern. S. 341, Anm. 2. 

(?) Vgl. im Sanskrit Ze daiwa göttlich, von Ze dewa glänzend, Gott, und dieses 
wieder von fa div oder far diwa glänzen und Himmel. 


oder Finnisch - Tatarische Sprachengeschlecht. 407 


Türk. (s# teri und (5,2 deriHaut, Fell. — Mongol. ari-sun Haut und 
sari-sun gegerbte Haut, Leder. 

Mongol. tala (tele), und mands. tala (tele, tolo) die Postposition bis 
zu, bis. — Magyar. talan (telen) ohne, {ol aus, von. Den magyar. Bedeu- 
tungen liegt wohl ein ausschliefsendes bis zum Grunde. 

Finn. Zalte in talte-Ita verwahren, talte-wa sorglich verwahrend. — 
Mongol. und Mands. dalda verbergen, verheimlichen. 

Mongol. zani erkennen und kennen; daher tani-l bekannt. — Türk. 
tany kennen, tan-ysch sich berathen; tan-yk Zeugnifs. — Magyar. tan in 
tan-ul lernen, tani-ta lehren, tan-u Zeuge (!). Finn. tait und tiet, für tanit, 
tinet, wifsen, verstehen (?). — Im Mands‘. könnte Za-1si lernen s. v. a. zum 
Wissen kommen bedeuten und für Zani-tsi stehen, wie z. B. Zu-isi heraus- 
kommen höchst wahrscheinlich für Zule-isi. 

Mands. den hoch, erhaben; daher dergi Obertheil, oben und Ge- 
gend des Aufgangs (Osten), aus de = den + ergi. Als Verbalwurzel ist 
dergi steigen. — Mongol. degre = dergi, auch blofs dege in dege-tu hoch, 
erhaben, u.s.w. — Türk. nur ‚Stekir, ;S tekif'in teki/-lik Hochmuth (°). 

Mongol. und Mands. zata ziehen u. s. w. (*). — Türk. Llb tarta 
spannen, w& Zat kosten, versuchen, ol» dada anlocken. — Finnisch tan in 
tan-ot ausstrecken und sich sehnen. 

Finn. tawa erreichen, treffen. — Türk. LUD tap. 

Mongol. daba hinüberschreiten, übersteigen; daher dabaghan Berg- 
strafse; dabal überschwellen, daher dabal-ghan grofse Welle, Woge. — 
Mands. Zafa hinansteigen; tafu in Zafukü Stufe. — Türk. nur .‚> daban 


(') Das magyar. zandes (tanätsch) Rath ist wohl unmittelbar aus dem türk. tanysch. 


(®) Im Finn. selber fällt n mundartlich zwischen Vocalen aus: menen und meen ich 
gehe. — Obige Wurzel ist übrigens auch im Tibetischen, wo sie zan (bs-tan) und zon 
(s-zon) lautet, jedoch nur unterrichten bedeutet. Sie braucht also keineswegs den Persern 
entlehnt zu sein. 


(?) Tibet. "deg-s aufheben, emporhalten. — Das mands’. den ist sicher aus deg-en zu- 
sammengezogen und brauchen wir also degre nicht als eine Verschiebung von dergi zu 
betrachten. — Für eine verwandte Wurzel halte ich /uk in dem mands’. zukie aufheben 
und tragen, ferner dük in dem mongol. dükdüi sich heben, wachsen. — Ob das finnische 
tuo tragen für Zuko steht? 


(*) Vergl. meine Abhandl.: Älteste Nachrichten von Mongolen und Tataren, Seite 27 ff. 


408 Scnorr über das Altai'sche 


Bergpafs (') und ss!lo dalgha für dabalgha Welle. — Vergl. weiter unten 
die Wurzel zoghol. 

Türk. sus tepe, depe und » 5 tübe Hügel. — Lapp. täwa; finn. /yp in 
typä-let und typpy-rä dasselbe. — Mongol. mit starken Vocalen: dobo Hü- 
gel und doboi hervorragen. — Ausfallen des ersten Radicals: finn. ypä-let 
und ypy-kkä=1ypälet; mongol. obogha Erhöhung und türk. Li oda Anhöhe, 
Hügel. 

Türk. ‚5 zamur Wurzel. — Mongol. tamir Festigkeit, Stärke. — 
Türk. ‚3 timur und „> demir Eisen; mongol. temür Eisen. 

Finn. zasa ebenen, glätten, nivelliren. — Mands. dasa ausbefsern, 
schmücken, behandeln, regieren. — Türk. ;»> düf gleich machen, in Ord- 
nung bringen. 

Türk. tok und togAh in „,E»b togh-ru gerade, recht; Löss zok-ta stehen 
bleiben, Halt machen. — Mongol. tok-da dasselbe und in Ableitungen 
feststellen, verordnen; tok-dam (Feststellung) Anfang und Methode. Schwä- 
chere Form türü Regierung. — Mands‘. doro Regel, scheint aus einer Form 
wie doghru entstanden. Zu derselben Wurzel gehört wohl to in dem mands.. 
tondo gerade, aufrichtig, treu. — Finn. toti wahrhaft, todi-staa bezeugen; 
tosu Zeuge. 

Mongol. zoghon Zahl. — Mands. ton; daher zo-lo zählen. — Türk. 
üsi tüle bezahlen. 

Tungus. tongor und tongar ein Landsee, seiner ersten Bedeutung 
nach wahrscheinlich Wafser (?). Mands. tenggin (mit n) grofser See. — 
Mongol. tenggis dasselbe, vermuthlich aus zenggir als der osttürkischen 
Form. Die Bedeutung Meer hat dieses Wort nur bei Türken und Magya- 
ren; das zenger der Leizteren ist seinem Urbilde viel treuer als das osma- 


nische 32 denif (°). 


(') Das türk. tagh Berg gehört nicht hierher. Diesem entspricht mongol. zak hoher 


Berg oder Pik mit Stufen. — Japan. dake Berg. 

(?) Das tangakch oder zangak der Aleuten und einiger Eskimo - Stämme bedeutet noch 
Walser schlechthin. — So ist aus dem sanskrit. wäri Walser das lateinische mare ent- 
standen. 


(°) Noch unlängst hat Jemand in allem Ernste Zenggis in teng + gis zerlegt, und gis 
für das deutsche gielsen erklärt! 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 409 


Mongol. toghol, doghol (tol, döl) hindurchgehen, überschreiten; 
daher auch dol-gin für doghol-gin Welle. — Mands. zuli überschreiten, 
vorübergehen (Zeit); dule dasselbe und als Adverbium vormals; zule (allein 
und in Zusammensetzung) aufserhalb, äufserlich. — Finn. zul-wa Überflu- 
thung. Magyar. tl jenseits. — Abkürzung: mands. Zu-isi herauskommen, 
für Zule-tsi. — Geschwächte Wurzel: mongol. düli anschwellen, aufblähen. 

Mands. dulin was (mitten) durchgeht (?), Hälfte. — Mongol. düli 
Mittag und Mitternacht. — Magyar. del Mittag, Süden. Türk. züsch (für 
tül) in ‚g®, &ss Mittagzeit, &Ai,s Süden. 

Mongol. tol in tolo-ghai Kopf. — Türk. tor, dor in 52,» doruk 
Obertheil und Gipfel einer Sache. — Schwächere Wurzeln: tungus. dül, 
del, dil Kopf (!); mands. deli rund, z.B. in deli weche runder Stein (?); 
aber dele Obertheil einer Sache; sodann deri in deri-bun Anfang. — Mongol. 
teri in teri-gün Haupt, Erster, Anfang. — Finn. zeli walzenförmiger Körper. 

Türk. „,D tolu, dolu voll. — Mit schwächeren Vocalen entsprechen: 
mongol. del in del-ger sara Vollmond; magyar. 1öl in Zöl-te füllen, und tele 
voll; syrjänisch Zyr voll (für zyl). — Ausgefallen oder durch einen Vocal 
vertreten ist der letzte Mitlauter in dem türk. (ssb toi, doi voll d.i. satt 
werden; mongol. zü-ge füllen, vollständig machen; finn. zäy-ti voll. — Den 
Anlaut £ (d) vertritt Zsch (ds) in dem mongol. ischolu voll, und mands. 
ds alu füllen. 

Mands‘. tol-gi träumen. — Jakut. zül Traum; tschuwasch. zül-ük; 
osman. 02 düsch Schlaf und Traum. 

Mands. don in don-dsi hören. — Finn. Zun in tun-te fühlen (°). 

Finn. zukki verstopfen. — Türk. sub iyka. 

Finn. iykö herausströmen. — Türk. 8,» dök ausgiefsen (*). 


(') Ein tungus. Wort für Sonne: duljadsa, dülatscha, deljäds a gehört wohl auch 


hierher. In der chines. Umgangssprache sagt man E BE] rec Sonne-Kopf; und 


das finnische päwä Sonne scheint von pää Kopf abzuleiten. 
—a > 
(?) In der chines. Umgangssprache v2 schi-feu Stein -Kopf. 


(°) Vergl. franz. senztir fühlen; ital. senzire hören. 


(*) Tibet. Z-dug vergielsen, eingielsen. 


Philos. - histor. Kl. 1847. Fff 


410 Scnhorrüber das Altai'sche 


Finn. zukka Stirnhaar, Haupthaar. — Türk. $,5 zük Haar, Wolle, 
Federn; (ss3 fü: dasselbe (!). — Mands'. zui-le das Haar weggerben. 

Finn. iyk in tykö nahe bei. — Mongol. dü-tü (für dügü-tü) nahe. — 
Türk. 85 deg berühren; dek, degin (als angehängte Partikel) bis zu (?). 

Finn. zul kommen. — Mongol. Zula wegen, um ... willen. 

Finn. Zuli Feuer. — Mongol. dul in dula-ghan Wärme; aber tül ver- 
brennen. — Bei den jakut. Türken iöl-öng Flamme. — Ausgefallen ist 2 
in dem mongol. Züi-mer Brand. — An eine tungus. Nebenform togo, toch 
schliefsen sich mongol. zügü-tsek nachgebliebener kleiner Feuerbrand, und 
tüge-ne Brenneisen. Das mands. Zua (für tuwa) Feuer ist wohl eine ent- 
nervte Form. — Der Vocal eines verkürzten (oder ursprünglichen) iu ist 
vorgetreten in dem türk. &s} uz Feuer und mongol. od-on Stern (°). 

Finn. zuuli Wind. — Östtürk. 3,5 Zaul und tschuwasch. zul oder zuwyl 
Sturm. — Schwächere Wurzel: jakut. zel Wind, tel-lach windig. Die übri- 
gen Türken haben dafür \ jel oder sil (*). 

Mongol. tülki stofsen, schieben. — Finn. Zylki. — L vor k ist u ge- 
worden oder verschwunden in dem sonst stärkeren ehstnischen Zouk und os- 
man. sb toku. 

Finn. typpi Stammende des Baumes. — Türk. os tüp Baumstumpf, 
Wurzel, Boden; ‚ss tüben Niederung. Andere Form _u> dip überhaupt 
das Untertheil, der Boden, Grund. — Mands’. dude unterster Theil, dann 
Äufserstes und Spitze einer Sache; duben Ende. 

Türk. ., 5 tün, dün Nacht, gestern, 3%; ., »3 £.jaka Nachtseite, Nord. — 
Tungus. tiniwo, tinü gestern. 


(') Lapp- zöl-ke Feder, Daune; magyar. 202! Feder. Können mit obiger Wurzel eben 
so gut verwandt sein wie das finnische zufi (Feuer) mit dem tungus. Zoch und Zua. S.w.u. 


(°) Magyar. nur :g, z. B. veg-ig bis ans Ende. 
(°) Tibet. od Licht, welches Wort auck für die Ursprünglichkeit von zz zeugen könnte. 


(*) Das ostjak. ze/ ist ohne Zweifel mit \s je identisch, und läfst uns also auch über 
dessen Verwandtschaft mit allen stärkeren Formen, selbst ,5 zZau/ eingerechnet, keinen 
Zweifel. Welcher Anlaut ist aber nun an die Spitze zu stellen, z oder Jod? An je? schmiegt 
sich tschuwasch. si Wind, Wetter, Luft, vielleicht auch magyar. sze2 Wind, welches je- 
doch Kellgren (S. 9 seiner Abhandl.) unmittelbar von zuuZi herleitet. Noch verwickelter 
wird die Sache durch das ZZ der Ostjaken (s. oben), mit welchem magyar. Zehel und elek 


zusammenhangen. Auch dieses macht auf Erzeugung des je Anspruch. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 411 


Türk. ‚»> Zur, dur stehen. — Mands. tor sich legen oder gleichsam 
stellen, vom Winde (!); ferner dur in dura-chün starrend, unverrückt, von 
Blicken. — Mongol. tor (zum Stehen bringen) aufhalten; tor-charu bestän- 
dig, immerfort. 

Mongol. düri Gesicht; dür-sün Bild, Figur. — Türk. tür und dür, 
nur in #, 5 Zür-lü verschiedenartig. 

Mongol. zora Mangel leiden. — Mands. zur-ga mager. — Finn. tur-ka 
armselig, häfslich (?). 

Mands. durge zittern (auch dargi), und in durge-me akdsa erschüt- 
ternd donnern; aber tungus. lürgi für dürgi einschlagender Blitz. — Magyar. 
dörög Donner. 

Mands. dur-gi singen, zumal von Vögeln. — Türk. SS türki Ge- 
sang überhaupt. 

Türk. &sb zut ergreifen, festhalten. — Finn. Zyty gehalten, gehemmt 
werden. — Mongol. iut-chur Hindernifs, Drangsal; daneben tutu (greifbar) 
klar, deutlich. Aufserdem eine schwächere Wurzel züit gehindert, aufge- 
halten sein (Züit-ge hindern, aufhalten) und Züte zurückbleiben, zögern. — 
Mands. zuta zurückbleiben und -lassen. 

Noch einige Beispiele der Vertauschung mit Zsch. Eine Wurzel des 
Zitterns, am einfachsten in dem finnischen Zörä (°), verdoppelt in den türk. 
Formen ietre, titire, und dem stärkeren mands. darda (*), lautet bei den 
Tschuwaschen zschitre und den Mongolen tschitschire. — Dem türk. Worte 
für Huhn, 6 Zakuk und ;»& tauk, bei den Mongolen Zakia, entspricht 
im Mands. ischeko. Die Tungusen sagen dogi, aber mit der Bedeutung 
Vogel überhaupt (°). 


(‘) Nur noch in dem Mittelworte zoro-ko. Das B-B. erklärt edun toroko mit edun 


iindsacha der Wind hat sich gestellt, chinesisch 5 ung ling. 
tlinds ach g N BE fung 


(2) Vergl. el aryk hager und häfslich. 

(°) Tibet. "dar. 

() In der Redensart dardan seme zitternd, wofür auch dordon dardan zitternd und 
bebend gesagt wird. Auch der Mands’u hat übrigens die Wurzel einfach in dar-gi, dur-ge 
(s. vorher). 

(°) So ist das englische fow? (faul), welches Hühner bedeutet, nur platte Aussprache 
des deutschen Wortes Vogel. 

Ftif2 


442 Schott Men das Altai'sche 


3. Zahn- oder Sauselaute. 


Diese sind /, s, $, sch (!). Oft hat einer derselben ein d oder 2 als 
steten und unzertrennlichen Begleiter; aber ds (d/) und zs (deutsches z) sind 
blofse verweichlichte Aussprachsweisen, jenes von ds’, dieses von isch. Für 
die Bedeutung der Wurzel ist nurd oder? vor dem Sauselaute mafsgebend (?). 

Wie leicht ein zarterer Sauselaut mit einem derberen und ein einfacher 
oder reiner mit einem ds (ds), oder isch (ts), schon in Dialekten derselben 
Sprache, wechseln — dies haben wir bereits an manchem Worte gesehen. 
Eben so wird ihr häufiges Entstehen aus Kehl-und Gaumenlauten, dann aus 
Zungenlauten (namentlich 7), noch in frischem Andenken sein. Öfter ist es 
jedoch schwer, ja geradezu unmöglich, zu entscheiden, ob der Sauselaut 
älter, oder umgekehrt. Das türk. (s» in söi-le sprechen scheint jünger als 
5. söf Wort, obgleich f’z. B. in göf-le beschauen (von gö/ Auge) unverändert 
bleibt; betrachten wir aber söi als ältere Form, so stimmt diese besser zu 
dem magyar. szö Stimme, woher sz0-lla sprechen. Vergl. syrjänisch schu 
sprechen (?). — Eben so mufs das magyar. tüz (tüf) Feuer jünger sein als 
tii (für Zuli). In dem jakut. iti heifs (finn. yfi Brunst) haben wir vermuth- 
lich die Urform des osmanischen issi. Ob aber z.B. im Mongolischen chas 
(kes), oder chad ursprünglich sei, dies wage ich, obgleich jene Form der 
Wurzel schneiden überhaupt, und diese (heutzutage) mähen bedeutet, 
nicht zu entscheiden. Dafs alle übrigen Sprachen die verwandte Wurzel 
mit s schliefsen, beweiset nichts für dessen höheres Alter. Im Finn. geht 7 
vor auslautendem ; regelmäfsig in s über; wenn aber die finn. Wörter süpi 
Flügel, seiwäs Zaunstange, im Ehstnischen zZäp, teiwas lauten, so kann das 
i der Lietzteren auch späteren Ursprungs sein. 


(') Auf die zwei Bezeichnungen des scharfen s im Türk., w und (jo, findet buch- 
stäblich Anwendung, was oben von ©» und _b gesagt worden ist. 

(?) In den meisten der bekannteren Sprachen Europas und Asiens, die solche Unter- 
scheidungen besitzen, verhält sich’s bekanntlich anders, und kommt für die Bedeutung sehr 
viel darauf an, ob man Zs oder zsch, ds oder ds spricht, 

(*) Das mands’. se sagen mag ze für # zur primitiven Form haben. Vergl. türk. & 
oder |sS di sagen. 


oder Finnisch - NE Sprachengeschlecht. 413 


Kommt in einem türkischen Dialekte s + ch statt sch vor — wie dies 
z.B. im Jakut. mit Bos’cho leer (türk. &s Bosch) der Fall ist — so darf man 
erstere Form unbedenklich für die ältere halten ('). 

Beispiel einer Umstellung, wodurch der Sauselaut an die Spitze ge- 
kommen, ist das tschuwasch. mus schil, gegenüber dem sonstigen türk. 
vs disch Zahn (?). Schil mufs nämlich für schid stehen, das wir auch in 
der mongol. Form schid-un mit unverändertem d vor uns haben. 

Mands‘. sabu sehen, woher sabi ansehnlich, schön. — Lappisch 
tschäbba-s schön. — Ungar. szep dasselbe. 

Mands. seb in seb-dsen Freude, Gefallen an etwas (?); seb-si-ngge 


und seb-si-chien Mensch von verträglicher, liebevoller Sinnesart. — Türk. 
9» sew und sü lieben. — Finn. suo in suo-sio Wohlwollen, Willigkeit, 
Eintracht. 


Mongol. saba-gha Stange, langer Stock; sibege Verpfählung. — Finn. 
saikka Stange, offenbar eine Contraction; daneben seipä-hä (seiwäs) Zaun- 
stange. — Uigur. ischibichi und osman. 3 >4> tschibuk Stange und Rohr (*). 

Türk. Jlo sal werfen, schleudern; absenden. — Mongol. salu ab- 
stammen; sal-gha ableiten, herleiten. — Mands. salga-bun (Wurf oder 
Schickung) Schicksal. — Mongol. sala-gha Trieb, Ast, Zweig; mands'. sal- 
dsa ein Weg der sich in mehrere andere theilt, gleichsam Zweige versendet; 
türk. us&lo sal-ghyn Ranke; finn. sal-ko lange Stange. 

Finn. selkä Rücken. — Mands’. sejre Rückgrat. — Türk. wo syrt 
dasselbe. — Mongol. sili Nacken. 

Finn. selkiä, seliä hell, klar. — Türk. \w sil klar machen, reinigen. — 
Mongol. sili auswaschen, durchsieben, reinigen; auslesen, auswählen; sil- 
gha auslesen, prüfen. — Mands. selgie (Aufklärung geben, erklären) 
obrigkeitlich bekannt machen. 


(') Vergl. as’cha und gas’cha (S. 354). Die Aussprache unseres sch im Munde des 
Westphalen und Holländers zeigt uns, dafs dieser Sauselaut im Deutschen überall aus s+cA 
entstanden ist. 

(°) In disch Zahn muls ein n ausgefallen sein, wie in |jas desch fünf. Vergl. die 
entsprechenden Ww. unseres Sprachenstammes. 

(°) Tibet. "dsed angenehm. 

(*) So nennt man chinesisch die Flinte, obgleich sie ein Rohr ist, Ao-tsiiang d. ı. 
Feuerstange, Feuerlanze. 


414 Scuorr über das Altai’sche 


Bei den Finnen ist sil = sel unstreitig in dem Worte sil-mä Auge, das 
hiernach ein Glänzen, etwas Helles bedeutet (!). Ferner scheinen hierher 
zu gehören: mands'. sil-men Sperber (da dieser Vogel wohl von der Schärfe 
seines Gesichtes genannt ist), und mongol. sili-güsün Luchs, welchem finn. 
ilwes (ilwekse) entspricht (?). 

Ob eine Wurzel des Schüttelns, die mit grofser Übereinstimmung 
türk. uw silk, mongol. silg und finn. sylk lautet, ebenfalls hierher gehört? 
Es wäre dann natürlich nicht an die Bewegung, sondern an den Zweck des 
Schüttelns gedacht, sofern der leidende Gegenstand von etwas gereinigt wer- 
den soll. Bedeutet doch das mongol. sili auch durchsieben, und das türk. 
sil abwischen. 

Mongol. sario krummlinig. — Finn. saari Insel, saar-ta umziehen, 
umlagern. — Türk. ‚Lo sar umwinden. 

Finn. särke zerschlagen, zerbrechen; verwunden. Magyar. ser in 
ser-el verletzen. — Mongol. sircha Verletzung, Wunde. — Mands. sirke 
anhaltende Krankheit. 

Verwandte stärkere Wurzel: türk. „l>yo sar-chau und „„o sairu 
krank. — Finn. saira-ha (sairas) dasselbe. 

Mongol. dsata Regenwetter. — Finn. sata regnen. 

Mongol. sed-ki denken (?); daher sed-kil Herz. — Finn. sydä-me 
(sydän) Herz. — Mordwin. dasselbe, aber auch sod wissen. 

Mongol.sigha einschlagen, einstofsen, z.B. einen Pflock; auch pres- 
sen, quetschen. Gepresstes ist dicht, daher sighoi dichtes Gesträuch. — 
Türk. (wo syk pressen, drücken; als Umstandswort syk und syk-tscha (ge- 
drückt, gedrängt) häufig, oft (*). — Finn. sakia dickflüssig, dicht beisam- 
men; saka verdicken, von einer Flüfsigkeit. 

Finn. siki sich erzeugen, entstehen; auch sich fortpflanzen. — Mands.. 
seki-en Quelle, Ursprung. 


(') Das sem, szem der Ostjaken und Magyaren hat / ausgestolsen. Man lasse also die 
Perser mit ihrem ea scheschm in Ruhe, welches von sta Ischaksch herkommt. 

(?) Vergl. überhaupt kiz, il, wil auf Seite 5340-42. 

(?) Verwandt ist wohl mands’. sere wissen; türk. u se/f (für ser) denken. 

(*) Vgl. z.B. ital. spesso (von spissum) und holländisch dickwyls (aus dick und PPeile). — 


Die schwächere türk. Wurzel wXw sik heilst coium exercere (wohl von der ersten Be- 
deutung des mongol. sigha). 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 415 


Finn. säpi und süwe Flügel (1). — Tungus. zschip in tschip-kan (ge- 
flügelt) Vogel. — Mongol. siba-ghon (schiwa-ghon) Vogel (?). 

Mands. sira akgerissene Enden verknüpfen; jemandes Stelle einneh- 
men, ihm nachfolgen. — Finn. seura folgen, begleiten. 

Mongol. sirge austrocknen; daher sirg-ek hart und straff (Haare); fer- 
ner sirü in sirü-günrauh, streng. — Finn. siera mit einer Kruste überziehen, 
verhärten. — Türk. os ser-t rauh, strenge. 

Finn. sisä, sisi Inwendiges, Inneres. — Mands. sisi ein Ding in ein 
anderes stecken. 

Verwandt scheinen: türk. au isch Inneres und als Verbum trinken. — 
Magyar. isz trinken. 

Mongol. sita in Brand gerathen. — Finn. syty. 

Mongol. side zusammenheften. — Finn. sid knüpfen, binden. 

Mongol. sobi Eisen strecken. — Tschuwasch. säd hämmern, aber 
osman. „Lo sap stofsen. — Finn. seppä Schmied (3). 

Mongol. sochor blind. — Mordwin. sokor und finn. sokia. 

Türk. Sys sög schimpfen. — Lapp. ischig. 

Türk. »o sok stechen, stecken. — Lapp. suwogge durchbohren. — 
Mongol. tsogh-ol durchbohren; aber Zsoki schlagen. 

Finn. solka mischen und durch Mischung verschlechtern. — Mongol. 
soli durch einander mischen oder werfen. 

Mands. sondso auswählen. — Türk. am setsch für sends’. 

Mands. songko Räderspur im Boden; " songko- lo auf der Spur gehen, 


zum Muster et — Türk. iyo song, son Hinterbliebenes, Äufserstes, 


8 

Ende; daher songra nach, nachdem. 
Finn. sonka murren, schelten. — Mongolisch dsanggo-ra im Zorne 

schreien und schimpfen. — Tungus. songgo, schonggo, tschonggo schrei- 


end weinen. 


Türk. ‚so sor fragen. — Mongol. sor fragen und erkunden, lernen; 
sori versuchen, erproben. — Mands. sol einladen. 
Mongol. suicha dünnes Reis. — Finn. suikia schwank, geschmeidig. 


(') Verwandt ist wohl siw« Seite und berühren. 
CO) Vergl. ascha und gas cha S. 354. 
(°) Grönländisch sabdi. 


416 Scnorr über das Altai’sche 


Mongol. sula locker, ledig, frei. — Finn. sula aufgethaut, flüssig, 
weich; lauter, blofs. — Türk. uw sülp-ük schlapp, hangend. 

Mongol. sünü verlöschen; süni Nacht. — Mands. sun-te zerstören. — 
Türk. (,»+= süjün verlöschen. 

Mands. suri in suri.cha abgestorben, von Bäumen. — Finn. sur in 
sur-ma Verderben. — Türk. »,»> ischürü faulen. 

Tungus. schiggun, schiwun, schun Somne (1). — Mongol. dsun, sun 
Sommer. — Türk. -,»> ischun (nur Verbalwurzel) sich sonnen. 

Mands. schum in schum-in tief. — Türk. »»> dsüm (jakut. um) sich 
in die Tiefe senken, untertauchen. — Mongol. schinggu (für schunggu) 
dasselbe. 

Tungus. schinggarin und schurin gelbe Farbe; mands. suajan (für 
suaran, suarin) gelb; aber soro gelb werden. — Türk. (se sary, bei den 
Tschuwaschen sara, und mongol. sira (schira) gelb. — Verwandt scheint 
ein Wort für weiss (?), das bei den Tschuwaschen schora, bei den Mands’us 
schara lautet; doch besitzen es Letztere nur in schara-ka und schara-ka-bi 
gebleicht, weiss geworden (von Haar und Bart) (?). — Hierher gehört auch 
wohl das mongol. Wort sara(n) Mond (*). 

Türk. &&> ischek ziehen. — Lapp. sagge. 

Türk. (34> ischyk herauskommen. — Mongol. tschocho (nur figür- 
lich) sich auszeichnen. — Diese Wurzel scheint eine Zwillingsschwester der 
vorigen: man denke an unser ausziehen. 

Mongol. tschilagho Stein. — Tungus. dsollo.— Tschuwasch. tschöl. 


1) Da schun, wie die Übergangsform schiwun beweist, ein verkommenes schiggun ist 
sang 
(vergl. S. 383), so kann man seine grolse Ähnlichkeit mit Sonne (alleman. Sunn) nur 
für zufällig erklären. — Die Existenz jenes schiggun erregt aber auch gegründete Zweifel 
an der Verwandtschaft von schun und dsun mit d. türk. 05 kün, gün, u.s. w. 
(?) Japanisch siro weils. — Tibet. ser gelb. — Das magyar. särgan gelb kommt nicht 


von dem pers. = pm surch roth. 


° 


(°) Das gewöhnliche Wort für weiss bei den Mands’us ist schanggian, bei den Mon- 
golen Zschaghan (für ischanggan). Wenn Letztere den Schnee Zschasun nennen, so steht 
dies offenbar für Zschagha-sun etwas Weisses, welche vollständige Form aber jetzt Pa- 
pier (auch von seiner Weisse) bedeutet. 


(*) Nach seinem schimmernden Weiss benennen die Araber den Mond in ihrem 


‚A kamar und die Hebräer in dem mehr poetischen Worte m3=b. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 417 


Türk. 8> tschök die Kniee biegen, niederkauern. — Lapp. tschökka 
sitzen. — Mongol. saghö (soo) sitzen. 

Türk. ss5, „X= 1schigürtke, $S X> Ischigirke und s>> tschertsche Heu- 
schrecke. — Den ersten beiden türk. Formen nähert sich am meisten das 
finn. sirkka und der dritten das mongol. Zschartscha-ghai. 

Türk. ischenge, tschene, tschejne, engek und jek Kinn. — Tungus. 
dsögi, dsuch, dseg, ds’ag; mands. sentsche-che. — Mongol. schina und 
schana ('). 

Mongol. ischigin (ischin) Ohr. — Bei den Mands'us hat tschikin nur 
die übertragene Bedeutung Rand, auch Ufer eines Flufses; allein die meisten 
übrigen Tungusen nennen das Ohr sin, sen, schen = tschin; die Mandsus 
selber schan; und allen diesen Formen mufs also Zschigin zum Grunde liegen. 
Dem schan nähert sich wieder son in dem mongol. son-os hören. 


4. Lippenlaute. 


Unter diesen ist / denMongolen und den Suomi-Finnen ganz fremd (?); 
und als Anlaut fehlt es auch Türken und Tungusen, mit Ausnahme der Man- 
dsus. Wörter türkischen Ursprungs haben, obwohl nur ausnahmsweise, 
in der Mitte / statt w oder 5, p: so begegnet uns „,,) ufan für „,) uwan, 
&l3> ds’afrak für si2% Japrak. Im gemeinen Leben spricht man auch f 
stait des arab. gh, persischen ch (vor£), und statt + A, z.B. (arab.) »& loghat 
oder Zofat Sprache, (pers.) sy,» süchte oder sofa Student (buchstäbl. Ver- 
brannter, nämlich von Wissensdurst), (arab.) &u% schübhe oder schüfe, schife 
Zweifel (?). — Die gröfste Rolle spielt fim Osten bei den Mands’us und im 
Westen bei den Ungarn. 


(') Diese Wurzel begegnet uns also abwechselnd mit zsch, ds‘, ds, sch und s als Anlaut; 
und der folgende Hauptmitlauter ist abwechselnd ng, 7, j, 8, ch oder n! So proteisch kann 
ng sich verwandeln. 

(?) So oft Leizteren in der Mitte ausländischer Wörter f begegnet, zerlegen sie es 
in seine Elemente, den gelindesten Lippenlaut » und die durch % bezeichnete Aspiration 
oder Schärfung. Unter vielen Beispielen führe ich kahwe d. i. Kaffee an, weil der Finne 
hier, ohne es zu ahnden, die arabische, also die ächte und ursprüngliche Form des Wortes 
wieder herstellt; denn die Araber schreiben und sprechen ebenfalls 5,55 kahwe; und wir 
haben hier ein redendes Zeugnils, dals Aw eben so gut zu f werden kann wie umgekehrt. 

(°) So schreibt der Engländer enough und spricht heutzutage enof; so hat der Hol- 
länder kracht, lucht — der Deutsche Kraft, Luft; so wird das ı7 5% der Hindus in 


Philos. - histor. Kl. 1847. Ggg 


4418 Scnorrüber das Altai’sche 


Proben des Wechselns der Lippenlaute unter einander: finn. wehi- 
läinen und mehiläinen Biene, närwi und närmi weisses Oberhäutchen der 
Birkenrinde, soipia und soimia lauwarm; mongol. chobor (chowor) und chomor 
dürftig (1); chabar und chamar, chamur Nase; tsabi und isami, die Gegend 
unter den Rippen (xevewv). — Bei den Türken kann w oder 5 in der Mitte zu 
f sich schärfen (s. oben); m ist als Anlaut in den östlichen Dialekten sehr 
beliebt, im Osmanli aber ohne Ausnahme mit 5 vertauscht; wogegen anlau- 
tendes 5 der östlichen Türken im Osmanli öfter zu w wird. 

Von Vertauschung der Kehl-oder Gaumenlaute mit Lippenlauten ha- 
ben wir schon manches Beispiel gesehen (?). 

Mit dem Zungenlaute n vertauscht der Mongole gern sein auslautendes 
oder die Silbe schliefsendes m, z. B. erkim und erkin vorzüglich, ausgezeich- 
net, umtarachu und untarachu einschlafen, erlöschen, ümdügen und ündügen 
Ei. In der Suomisprache mufs m, wenn es ein Wort schliefsen sollte, im- 
mer n werden. — Beispiele eines £ für p: jakut. tarbach Finger = türkisch 
parmak, barmak Finger; finn. warwaha Zehe. Die Suomisprache bietet uns 
lirinä neben pirinä Geriesel, Zursku neben pursku protzen, aussprützen (°). 

Anwesenheit oder Abwesenheit eines nach m: mongol. chomichu und 
chombichu aufbinden, namuldsachu und nambuldsachu wackeln; ferner 
eines 5 vor k: mands. lekideme neben lebkideme Evolutionen machen. 

\ Finn. waha Stein. — Mands. weche. 

Finn. wanha alt; lapp. pönje Greis (*).— Türk. buna in ls; buna- 

mysch hochbejahrt, alterschwach. 


verwandten Sprachen gern f. — Ich mufs übrigens bemerken, dafs f statt g%, ch oder dA 
nur von türkisch redenden Armeniern oder sonstigen Rajas, wenn sie ihrer eigenen 
Schrift sich bedienen, auch geschrieben wird: jo’bwfd /ofat, woxbldw softa, zhıpk schife. 

(') Die Mongolen haben ursprünglich kein w; aber ihr & wird zwischen Vocalen so 
ausgesprochen. 

(?2) Hier einige Nachträge zu Wurzeln die schon vorgekommen. Das finnische ja/ka 
Fufs (S. 343) wird bei den Mordwinen pi/gi, eine Form die sich dem tungus. i/gi stehen 
auffallend nähert. Neben chuaita, küte (binden, leiten) u.s. w. haben wir mands’. futa 
Strick, Seil. Von einer Wurzel des Aushöhlens, %o7 und cAho7, ist auch das mands'. fo/o 
schnitzen, sculpiren. Dem türk. kü/ Asche entspricht gewils fule im gleichbedeutenden 
mands’. fule-nggi. — Als Auslaut ein k für p (oder umgekehrt): magyar. 156k (£schök) Kuls; 
türk. ischöp und öp külsen. 

(?) Türk, Ss püskür protzen, mit dem Maul eine rc90n nachmachen. 

(*) Ob das mands‘. fe alt (nicht von Menschen) für we steht und die kürzere Wurzel ist? 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 419 


Finn. wal-he Lüge. — Türk. jal in „2. jalan falsch, lügenhaft. — 
Mongol. ds’ali Betrug, Arglist. 

Finn. wasikka Kalb. — Türk. „21; „» dbufaghu. 

Finn. waski Erz, Kupfer. Magyar. vas Eisen. — Türk. m jes, z 
Jef Kupfer (1). — Mongol dses dasselbe. 

Finn. wäki Stärke, Macht. — Mongol. baki-m und baki, auch bäki 
fest, dauerhaft. — Türk. «S, pek hart, gediegen; stark; sehr. — Mands. 
mangga stark, tüchtig, vielleicht der älteste Typus. 

Mands. wej in wej-chun lebendig, lebhaft, und wej-dsu aufleben, le- 


ben. — Finn. wieka lebhaft, flink. Magyar. vig munter. 
Finn. weistä schnitzen, behauen; weisti und weitsi Messer. — Türk. 


os bitsch zuschneiden, schneiden; bitsch-ak Messer. 

Finn. wieri kreisen, sich drehen, rollen; wier-te Wafserwirbel und 
Rand; wieri Rand, Kante, Seite. Lapp. wer hölzerner Reif. — Mands. 
weren Wafserwirbel; runder Besatz, runde Einfassung, Kreis oder Reif; 
beren Einfassung, Rahmen (?). 

Mands. wedsi dichter Wald; tungus. mos’a, moosa. — Finn. metsä 
Wald. 

Mands. wejche Zahn. — Magyar. fog für wog, — Wegen der Vocale 
vergleiche mands. mejren und türk. omur, omu/ Schulter. i 

Mands. da Ort. — Mongol. bai stehen, verweilen; bai-sing Gebäude. — 
Finn. paikka Ort. 

Finn. paha böse, schlecht. — Mongol. bogha hassen. Verwandt ist 
auch mongol. magho schlecht. 

Mongol. Bacha empfangen. — Lappisch fagge erwerben; magyar. 
fog nehmen. — Türk. eb bak benutzen, geniefsen. 

Türk. ‚5, dak schauen. — Mands. facha Augapfel, womit wieder ver- 
schiedene Ww. für schwarz verwandt sind (?). — Mongol. bacha Lust. 


(') Bei den westlichen Türken pb bakyr, welches für kadyr stehen und so mit unserem 
Kupfer verwandt sein kann. 

(?) Aus der Bedeutung kreisen, sich umschwingen erwächst zuvörderst die eines ab- 
gerundeten Randes, einer runden Einfassung (Schwinge, Kreis, Reif); dann bedeuten solche 
Ww. auch Einfassung, Leiste und Rand überhaupt. — Die Wurzel wir, wer, ber ist übri- 
gens in diesem Sinne verwandt mit bor, for (s.w.u.), und mit or, kür, kier, ker (S. 3558-57). 

(°) Magyar. feke-te schwarz. — Mongol. und türk. beke Schwärze, Tinte. 


Gg3?2 


420 Scnorr über das Altai’sche 


Mongol. bagha klein. — Finn. wähä. — Türk. wak, z. B. in si, 
„lb wak tasch kleine Steine, Sand; ss®) a wak aktscha kleines Geld. 

Mongol. Bari geben und empfangen. — Türk. ‚u bir, ber und „> wer 
geben. — Finn. wero Abgabe, wie das türk. 2» wer-gü. Lapp. wiär in 
wiäro-te opfern ('). 

Mongol. bara (auf den Grund bringen) zu Ende führen. — Finn. perä 
und mands. fere Grund oder Boden, Ersteres auch Hintergegend. Magyar. 
‚far geradezu podex. 

Mongol. barok tauglich, gut. — Lapp. puorak; mordwinisch paro; 
finn. parha, dieses aber nur in den Steigerungsformen. 

Türk. + bark Familie. — Mands‘. falga dasselbe; aber auch Be- 
wohner desselben Ortes, Gemeinde. — Mongol. dalgha und balgha-sun 
Wohnort, Stadt. — Die Wurzel ist wohl mands. fali knüpfen und eng ver- 
einigt sein. 

Türk. üb basch Kopf, in Dialekten besch und pos. Dieses Wort be- 
deutet daneben auch Wunde, und insofern ist die Wurzel vielleicht als eine 
ganz andere zu betrachten; diese zweite Bedeutung ist aber deswegen für 
uns wichtig, weil sie einen starken Grund für die Gleichheit des türkischen 
mit dem finnischen Worte für Kopf hergiebt. Zu den finnischen Formen ge- 
“hört nämlich fej (0) der Ungarn (?); und die Mands'us haben fast genau das- 
selbe Wort (feje), aber nur in der Bedeutung Wunde! Wär’ esnun blofser 
Zufall, dafs dem türk. basch, sofern es Kopf heifst, im Ungar. fej, und, 
sofern es Wunde heifst, in der Mands sprache feje gegenübersteht (*)? 

Türk. (su badsa-k Unterschenkel. — Mands. fatcha der thierische 
und betche der menschliche Fufs (*). 


(') Mands. vielleicht weri nicht nehmen, lassen (hingeben). 


(2) Der Form nach kommt das lappische bagje, pagje Obertheil dem türk. dasch Kopf 
am nächsten. Die Suomisprache hat püä für Kopf. 


(°) Wunde ist ungarisch sed (scheb), was ich für blolse Versetzung eines unverän- 
derten desch = basch halte. — Dass dem mands’. feje im finn. kawa, und, sofern es Vo- 
gelnest bedeutet, im türk. ls} ya entspricht, kann meine obige Behauptung nicht wan- 
kend machen. 


(*) Das ds des türkischen Wortes ist gewils aus 2 + ch erst entstanden, wie sch aus 
s-r ch entstehen kann. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 424 


Mongol. batu fest, stark. — Finn. paatu sich verhärten; pättä fest, stark, 
grofs sein.— Osttürk. batuk, baduk grofs, woher das osman. 84 büjük(!). 

Türk. (s» boi Gestalt, Körper. — Tungus. doja, mongol. und mands.. 
beje Mensch, Körper, Selbstheit. 

Mands. duja und duja-ka klein. — Finn. poi-ka Kleines, Junges, 
Knabe, Sohn. — Das k scheint also noch mehr verkleinernd. Vergleiche 
njuktschukan, S. 367. 

Lapp. buok Allheit, Buok-ok Alle. — Mongol. bük-ün Alle. — Scheint 
eine Umstellung von gup, küp: mands. gup-tschi Alle, türk. &s5 köp Viele. 

Mongol. bok in bok-da göttlich. — Türk. 2» dogh, und mit schwa- 
chen Vocalen: Su big, &; beg, bej Stammesfürst, Oberhaupt. — Finn. 
pyhä heilig. 

Mands’. ducha Stier, duka Widder, bukün wildes Schaaf; duchü 
Hirsch (?). — Türk. 2, bogha und mongol. döge Stier; mongol. bük-ük 
Gazelle. — Mongol. döke stark; daher wohl lapp. puoike Athlet. — Mands'. 
auch mit m: mucha-schan Stier. Selbst das Männchen des Tigers nennen 
die Mandsuus muchan. 

Türk. &» dogh Dunst (?). Finn. puh, puhk blasen, athmen; reden. 
Ungar. fuj blasen. — Mands. fuka Blase. — Mongol. bokia gedunsen, plump, 
feist. — Finn. puhka heftiges Athemholen und aufgeblasen, stolz, dünkel- 
haft; puuhkia aufgebläht, geschwollen, strotzend. Ungar. doho dumm. — 
Schwächere Wurzel: finn. pöyhkiä und pöyhiä pauschig und hochmüthig; 
pöhkö dumm (*). 

Dieselbe Wurzel mit m: finn. muhkia s.v.a. puuhkia;, möykky dickes 
Laib Brod; muku-la Knollen. — Mands. muk in muk-de zunehmen, sich 
erheben, wachsen, muk-den (°) Erhebung, Wohlstand; muktschu-chun ge- 
wölbt. 

Verwandt sind wohl: mands. dus-che Brandblase; finn. poski Wange, 
Backe; mongol. bökse mgwxrcs. 


(') Das also mit dem persischen Sn dufurk nichts zu schaffen hat. 
(?) So ist das griechische &i«bos Hirsch wohl aus y>x Stier. 

(°) Tibet. d-ug-s Hauch, Athem. 

(*) Vergl. oben (S. 3338-39) koho Anschwellung u. s. w. 

(?) Mukden, die Hauptstadt der Mandsurei, ist dasselbe Wort. 


422 Scnuortrüber das Altai'sche 


Türk. Sy: bök, mongol. böküi sich bücken; mongol. böke-dür krumm, 
bucklig. — Daher wieder mongol. bükkü verbergen, verhehlen; bükkü-ksen 
tserik Hinterhalts-Truppen. Mands. duksi sich in Hinterhalt legen (!), buksin 
Hinterhalt; duksi-cha tschoocha s. v.a. bükküksen tserik. — "Türk. sus pusu 
und „us pusy s. v. a. buksin. 

Mongol. bogho und bagho (boo) niedersteigen, herabkommen, heim- 
kehren; daher bogho-ni niedrig, dagho-riBoden, Flur; bagho-ial Lager. — 
Mands. 5oo (für bagho) Zelt, Haus. — Türk. s. dak in „zb bak-yn sich 
unterwerfen, das also mit da% schauen nichts zu thun hat. Vergl. mongol. 
baghu-ra demüthigen. — Finn. pohja Boden, Grund; Norden. Daher 
Pohjo-la der alte Name Lapplands. 

Türk. Js» dol Fülle. — Mands. fulu viel. — Finn. paljo dasselbe. 
Ungar. bol-dog glückselig. 

Türk. Js dül theilen (?). — Finn. puoli, magyar. fel Hälfte. 

Finn. pol in pol-ta brennen. — Mands. dulu in bulu-kan warm. — 
Mongol. büli in büli-d sich erhitzen und düli-gen warm. — Magyar. mel in 
mel-eg warm. 

Türk. und mongol. Js dul in ss: bulak Ursprung, Quelle. — Mands. 
ful in fuleche Wurzel (*); aber bul in dul-chü überschwellen, vom Wasser. 

Mongol. bolgho sich fürchten. — Finn. pelkä; magyar. fel-el (*). 

Türk. und mongol. du! Trübe, Verdüsterung; daher türk. bs. bul-ut, 
oJ bülüt, bület Wolke. — Tscheremis. pul, finn. pilwi, magyar. fel-hö 
Wolke. 

Verwandte Wurzel dor, bur, bür. Mongol. boro grau; bor schlammig 
(trübe), dor-dak Koth (türk. mor-dar). — Mongol. auch borong in borong- 
choi Händelsucher (iurbas ciens); ferner bürüi, bürüng-güi dämmerig; bürük 
dunkel, undeutlich. — Ungar. boronga sich trüben, wolkig werden. 

Türk. „,» durw bedecken, einhüllen, verdunkeln. — Mongol. büri 
überziehen, bürkü bedecken und überzogen, wolkig sein; als Nennwort ein 
Sommerhut (türk. dörek). — Ungar. bori-t zudecken. 


Vergl. besonders mongol. Büküs-ki gebückte Stellung einnehmen. 

Daher usi,,; dülük Abtheilung, Rotte, von den Russen in noaxs verwandelt. 
Koreanisch pil! Wurzel. 

So mands’. gele und g0/o fürchten. Vergl. o/go, kork und kolk, S. 338. 


oder Finnisch- Tetarische Sprachengeschlecht. 423 


Türk. ‚> dur (umdrehen, umdrehend einstechen) bohren. — Mands. 
/oro umdrehen, drechseln; auch for-go, woher forgon Zeitlauf, Jahres- 
zeit, forgo-scho mit den Plätzen wechseln. — Magyar. for-og (for-ga) sich 
umdrehen, wälzen. Schwächere Wurzel: finnisch pyörä Wirbel, Rolle, 
Rad; pyöri kreisen (!). 


Türk. 5,» dork verrenken, ausrenken. — Finn. purka Zusammen- 
gefügtes aus einander nehmen, lostrennen. — Mongol. bolgha-ra einen 


Knochen brechen. 

Türk. Gr drak (bürak) werfen. — Lapp. palk in palke-ste werfen. 

Türk. 8. dud Oberschenkel; 10» bud-ak Ast eines Baumes. — Finn. 
puda-ha Fluls-Arm, Flufs- Bucht. 

Mands. dbudsw (für duju?) kochen. — Mongol. dutsch-al. — Türk. 
ua pisch. — Magyar. Jo. 

Finn. mata in mata-la niedrig. — Türk. wL dat untersinken, auf den 
Grund gehen. 

Mongol. mede erkennen, wissen. — Finn. mieti bedenken, einsehen. — 
Finn. mieli der innere Sinn; lapp. miäle wissen. Türk. di} dasselbe (?). — 
Verwandt ist auch wohl mongol. bel in bel-ge (Erkennung) Zeichen. 

Mongol. menek Lähmung, Schwäche, menek-de gelähmt werden; den 
Verstand verlieren. — Finn. meneh-ty das Bewusstsein verlieren, vergehen. 

Mongol. modo (n) Baum, Holz (*). Tungus. moo und lapp. muora. — 
Finn. puu. 

Mands. monggon Vorderhals. — Türk. ., „+ mojun und dojun Hals. 

Mongol. mata krumm biegen. — Finn. mutka Krümmung, Biegung. (*) — 
Mands. mudan krumme, gewundene Sache. — Schwächere Wurzel: finnisch 
myöt sich fügen, nachgeben; daher myöte geneigt; myöten gemäls, wie. — 
Bei den Mongolen noch aufbewahrt in metü gleichwie. 


(') Vergl. kor u. s. w. (S. 355-57), dann wieri, fere (s. kurz vorher). — Das türk. 
dur wird auch von bohrendem und schneidendem Schmerze (z. B. der Kolik), ja selbst von 
scharfem, picantem Geschmacke gebraucht. Ob dies uns berechtigt, das finnische pur beilsen 
ebenfalls hierher zu ziehen? 

(?) Zu dem mands‘. ule-ku Spiegel past am besten das koreanische po/ sehen. 

(°) ‚Ob das türk. vd! otun, odon Holz mit modon verwandt, oder von oz Feuer 
abzuleiten ist und in diesem Falle zunächst Brennstoff bedeutet? Dies war sicher sein 
ältester Gebrauch. 

(*) Mongol. moroi krumm, gebogen. — Finn. mur-ta biegen und biegend brechen; 
muru Brocken, Krume. 


424 Scnorr über das Altai'sche 


Finn. mykky und mykkyrä zusammengebogener oder gewickelter 
Zustand, Convolut: on mykkyrässä er ist zusammengerollt wie eine Schlan- 
ge. — Mongol. moghai und mands. mejehe Schlange. — Türk. &s: bogh 
Wurzel des Knüpfens und Würgens; mongol. bogho umwickeln, verbinden, 
würgen. 

Noch einige Beispiele von Versetzung, wodurch der Labial Anlaut 
wird: ischuw. dek gleichwie; türk. Aub in kıbi, gibi (s. oben). Türk. „us 
tab-an Fufssohle; mands. fat-an dasselbe. 


Nachträge. 


S. 314. Die Verneinung der Finnen mufs als eine eigene Verbalform 
betrachtet werden; dies ergiebt sich unzweideutig aus ihrer gebietepden Art. 
Kellgrens Grundzüge der finn. Sprache, S. 93-94. 

S. 315. Die Mehrzahl im Werkzeugsfalle kann auch bei den Hindus 
adverbiale Bedeutung erhalten, z.B. zaq utschtschais hoch, laut, von gg 
utschtscha hoch, grofs. Doch gilt dies nur von einigen Adjectiven. Bopp’s 
krit. Gramm. der Sanskritsprache, $. 615. 

S. 339. Zu kopio u.s.w. Mongol. güb in gübü-gür Wölbung; küm 
in kümüri sich wälzen. — Finn. kymärä krumm, sich krümmen. 

S. 340, Anm. 1. Hier ist das mongolische chong übersehen, z. B. in 
chongkija, chongchor Wölbung, chongcho Glocke. 

S. 340 ff. Wörter für Kahlheit und Glätte können nicht alle von einer 
Wurzel des Glänzens abgeleitet werden; es kann auch Eindruck auf das Ge- 
fühl zum Grunde liegen. So unstreitig in dem Kernworte chal oder kal. 
Auf dieses will ich nur verweisen und einige Schöfslinge der wahrscheinlich 
mit ihm und unter sich verwandten Stämme jal, jel, il, sil hier zusammen- 
stellen, ohne Rücksicht auf Helle und Glanz: 

Türk. jal in jal-yng und jalan-ghads kahl, nackt, jalyng-yf blofs, 
nur allein. 

Türk. jel in jelmaghai glatt, jelischkak glatt, schlüpfrig. 

Finn. ijjä schleimig, schlüpfrich, glatt. — Mongol. ii glatt machen, 
poliren; ili-gür Plätteisen. 


oder Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 425 


Finn. siiä und silo glatt, eben; silkka blofs, rein, lauter; sili-tä aus- 
glätten, poliren; vielleicht sila-wa Speck.— Mong. silün u. silü-sün Speichel. 

Finn. silpa glatte Tannenrinde, silpu glattrindige Tanne, astloser 
Baum; silpi und silpo die Rinde ablösen; silpa und silpo wenig einschneiden, 
leicht ritzen; aber auch lange Stücke ausschneiden. 

Mongol. silbu-ra sich ein wenig ritzen, die Haut verletzen; sich ab- 
lösen oder abfallen, z. B. Fleisch von den Knochen. 

Dann kommt endlich noch in fast allen Familien des Geschlechtes eine 
Wurzel nil für das Schleimige und Schlüpfrige, wegen der ich auf N verweise. 
Dahin gehört denn auch das ungarische nyal Speichel. 

S. 345. Vergl. ausserdem: mands. uchen Weib des jüngeren Bruders 
und oke oder uchume W. des jüngeren Vatersbruders. — Mongolisch üküi 
Schwester, ükin Tochter, Jungfrau. — Ungar. Aug jüngere Schwester. 

S. 353. Kara, kats, kai u.s. w. sind doch wohl von zksch zu trennen. 
Man legtihnen besser rej kd@s leuchten als Wurzel unter. Vergl. das engl. 
gaze starr ansehen, russische kaf zeigen, u. s. w. 

S. 354. Kusch in der Bedeutung Paar. In dem 1822 zu Kafan ge- 
druckten Leben des Tschinggis-Chan und Aksak Timur sagt Ersterer (S. 52) 
zu einem seiner Feldherren: ss SG a8F sa,6 Sid ya KL KLüiw 
Yopi) Ro son 2,6 d.i. dein Baum sei eine Birke, dein Vogel 
ein Habicht, dein Siegel ein Paar Rippen; die Figur desselben ist diese 
X: — Die Worte x£.5 5 werden auch im angehängten Wortregister mit 
mapa peöep» ein Paar Rippen erklärt. 

S. 360. Zu tschaki-l blitzen von ischaki Feuer schlagen. Im Finn. 
sagt man Ukko iskee tulta Gott schlägt Feuer, oder geradezu iskee tulta es 
schlägt Feuer, d. i. es blitzet. 

S. 367. Zu njuktschukan u. s. w. Ich habe hier die mongolische 
Abkürzung ischüken für ütschüken angeführt. Ähnliche Abkürzung ist un- 
zweifelhaft das tungusische zschikan in murin-tschikan Pferde -Kleines d. i. 
Füllen; und damit stimmt wieder fast buchstäblich das ungarische isiko 
(tschikö), welches für sich allein Füllen bedeutet, wie das ungarische öttse 


für sich allein jüngerer Bruder (!). Die verkleinernde Endung (3u> dsyk, 


(') Ohne Kenntniss des Mongolischen und Tungusischen würde man nicht ahnen dafs 
tsikö6 und öttse Beide eigentlich klein (ohne Nebenbegriff) heissen, und noch weniger, 
dals Beide im Grunde ein und dasselbe Wort sind! 


Philos.- histor. Kl. 1847. Hhh 


426 Scnorr über das Altai’sche 


> dsik im Türkischen ist gewifs nur ein Bruchstück von nitschikon oder 
ütschüken (*). 

Anm. 2. Die hier übersehene Hauptstelle des Abulghafi (S. 39 der 
Kas. Ausg.) lautet: „Aa SS lt on) (lie u dr FE 
d.i. den Jüngsten (der Familie) nennen die Mongolen U., was Herr des 
Feuers bedeutet. — Also nicht Sitzer, sondern Besitzer. Es leidet hier- 
nach kaum einen Zweifel, dafs ütsügen und ot-chan verwechselt sind. Wegen 
1 s. S. 367. 

S. 3586-87. Zu jüf-ük und sormi. Das einfachere sor (Finger) ist bei 
den Mandsus noch erhalten in sor-ko Fingerhut. — Die Wurzel lauiet chor 
in dem mongol. choro-ghon Finger und Zehe. 

S. 391. Zu pal oder dal für chal, kal. Übersehen ist hier das finn. 
paljas (paljaha) kahl, glatt (für kalja), welches dem türk. (zb balyk Fisch 
noch stärkeren Anspruch auf Verwandtschaft mit kala giebt. 

S. 395. Unter den Wurzeln deren A in s übergeht, oder umgekehrt, 
nenne ich noch: Lapp. harme Augenbraue. — Mands. solmin (für sormin). — 
Mongol. sormo-sun Wimper (auch Braue?). 

Finn. karwa undicht, selten. — Mongol. chowor (Versetzung des r 
mit dem Labiale) selten, dürftig. — Schwächere Wurzel mit s: mands. seri 
und seri-ken dünn stehend, selten; türk. Sm sejrek. 

S. 407. Neben tafa giebt es eine andere mands. Form dufe, nur im 
übertragenen Sinne: ausschweifen, Excesse begehen. 

S. 408. Wurzel zarb, tarp (in den finnischen Sprachen) erschüttert 
werden, schwanken; aufstören, aufrühren, wühlen. — Türk. 0,5 tarb sich 
brüsten, grofs thun; daher ‚sleb,& tarba-ghai Grofsthuer, Stutzer. — Mongol. 
tarba-gha (von der eigentlichen Bedeutung aufrühren, wühlen) das asiatische 
Murmelthier. Vergl. einen Artikel in Ermans Archiv, B. 7, S. 409 ff. 

S. 418. Das räthselhafte mands. abka Himmel ist zuverlässig, wie 
das tibetische nam-mka (namka), aus den beiden Sanskritwörtern PIE 
und ıg entstanden. 

Nachwort. Manches was ich an einzelnen Stellen irrig behauptet, 
findet man schon im Verlaufe der Arbeit verbessert. Eine viel gröfsere Zahl 


(') Auch bin ich jetzt sehr bereit, meinen oben ausgesprochenen starken Verdacht, 
dals das türk. küzschük aus dem pers. küdsek entstanden sei, für unbegründet zu erklären. 


oder 'Finnisch- Tatarische Sprachengeschlecht. 427 
von Fehlgriffen werden kundige Beurtheiler entdecken; besonders aber 
wird die Anordnung des Stoffes, die ich übrigens selbst nicht für die zweck- 
mäfsigste halte, vielem Tadel ausgesetzt sein. Wenn der Beifall das Mifs- 
fallen überwiegen sollte, so denke ich nach einigen Jahren eine gramma- 
tische Vergleichung der hier behandelten Sprachen folgen zu lassen. Etwas 
Vorläufiges über mehrere Zahlwörter enthält der akademische Monatsbericht 
vom Januar 1849. 


Hhh?2 


na ee La a Br 
ee ha Ba 
ee ya 


ri Ip FRE i Be? 
EN ns EN RIOIN fa 


re 
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UBER MARCELLUS BURDIGALENSIS 


v- 
von herrn JACOB GRIMM. 


mnannnmnannamUn 


[vorgetragen in der Akademie der wissenschaften am 28 juni 1847.] 


Schon oft haben Theodosius der grofse und sein zeitalter den blick auf sich 
gezogen, weil man ihn gerne weilen läfst bei der beruhigenden regierung ei- 
nes fürsten, in dessen händen eins der gewaltigsten weltreiche das letzte mal 
ungetheilt zusammengehalten wurde. beruhigend aber nicht ruhig mag eine 
zeit heifsen, die alle zeichen einer unhemmbar, wenn auch langsam anrücken- 
den auflösung der bisherigen zustände an sich trug. Seit Constantin christ 
geworden war und aus dem stolzen Rom den hauptsitz der römischen her- 
schaft nach dem thrakischen Byzanz verlegt hatte, muste ein wechsel in der 
öffentlichen stimmung greller vortreten, Julians apostasie die gemüter vol- 
lends verwirren. das christenthum aber schlug seine wurzeln tiefer. noch 
kein jahrhundert war abgelaufen, dafs ein ganz neuer anfangs verachteter 
glaube galt, der in den herzen der menschen sich wieder ausgleichen und 
hergebrachten heidnischen prunk durch die entsagungen einer zu desto grö- 
fserem innerlichen anspruch auffordernden lehre ersetzen sollte. Wie man- 
cher mochte an den alten tempeln, zwischen deren bildseulen nun gras sprofs, 
kalt vorübergegangen sein, den der aus kerzenerleuchteter, weihrauchduften- 
der kirche erschallende gesang einer andächtigen christlichen gemeinde lockte 
und gewann. Alles neue, wenn es den sieg davon trägt, verbreitet sich mit 
hinreifsender kraft schnell über die oberfläche, während noch still am boden 
das alte haftet, um bei zahllosen anlässen wieder hervorzubrechen. Daraus 
entspringt eine lang nachhaltende mischung des glaubens mit dem wahn, des 
gottesdienstes mit verworfnen, aber unausgerotteten bräuchen, über wel- 
che uns Arnobius und Augustinus den reichhaltigsten aufschlufs geben, wo- 
für des Chrysostomus werke, derunmittelbar vor Theodosiustagen patriarch 


430 Jacos GrIımM 


zu Constantinopel war, von merkwürdigen belegen voll sind. Leute die 
streng am christlichen dogma hielten und jeden zu verketzern oder zu ver- 
dammen bereit waren, dem ein zweifel an der dreieinigkeit aufstiefs oder der 
seine fasten gebrochen hatte, nahmen keinen anstand, sobald sie ein leiblicher 
schmerz quälte oder ein glied des fingers ihnen weh that, beschwörungen 
herzusagen, worin die alten götter um hilfe angerufen wurden. neben dem 
öffentlichen glauben waltete noch ein häuslicher aberglaube, der mit den 
überlieferten mitteln fieber zu segnen und wunden zu heilen fortfuhr. 

Dies leitet mich unmittelbar auf den gegenstand meiner heutigen vor- 
lesung, die zusammenhängend mit einer früheren (Jahrgangs 1842), worin ich 
Adensche offenbar heidnische zaubersprüche bekannt machte, lateinische 
heilformeln aus dem werk eines unter Theodosius dem grofsen zu Constanti- 
nopel lebenden arztes entnehmen, erläutern und auch zum behuf künftiger 
erläuterungen hier bequem neben einander stellen will. 

Marcellus heifst entweder burdigalensis oder empiricus, weil er aus 
Bourdeaux (Burdigala) in dem damals noch den Römern unterwürfigen theile 
Galliensgebürtig war und den empirischen ärzten beigezählt zu werden pflegt. 
Was man von ihm weifs ist theils zu schöpfen aus dem inhalt und der vorrede 
seines buchs de medicamentis, theils aus der anführung eines späteren arztes 
Aetius, der zu Justinians zeiten eine medieina e veteribus contracta grie- 
chisch schrieb. 

Man hat gezweifelt, und bald den Marcellus in die zeit des zweiten 
Theodosius (408-450) verlegen, bald zwei Marcelle unterscheiden, den älte- 
ren bei Aetius angezognen für den leibarzt Theodosius des grofsen, einen 
jüngern für den verfasser der zu besprechenden schrift erklären wollen. 

Sie liegt vor mir in der ersten jetzt seltnen ausgabe, welche Janus 
Cornarius(!) besorgte unter dem titel: Marcelli viri illustris de medicamentis 
empirieis, physieis ac rationabilibus liber, ante mille ac ducentos plus minus 
annos scriptus, Jam primum in lJucem emergens et suae integritati plerisque 
locis restitutus. Basel bei Froben 1536 in folio 252 seiten, ohne den nicht 
paginierten index. wiederholt in den medieis antiquis, Venetiis apud Aldum 
1547 % 81-141 und inH. a art. med. prineip. Paris 1567 2, 239 ff. 


c ) mit en namen Johannes or e 1. ee ee er war ge- 
boren 1500, starb 1558 und arbeitete thätig für die TESELLSEIER NETT der classiker. die 
zueignung unsers werks ist bereits von 1535. 


über Marcellus Burdigalensis. 431 


Das werk selbst beginnt mit einer an seine söhne gerichteten zuschrift: 
Marcellus vir inluster, ex magno officio Theodosii sen. filiis suis salutem 
dieit. Sequutus opera studiosorum virorum, qui licet alieni fuerint ab 
institutione medieinae, tamen hujusmodi causis curas nobiles intulerunt, li- 
bellum hune de empirieis quanta potui solertia diligentiaque conscripsi, re- 
mediorum physicorum sive rationabilium confectionibus et adnotationibus 
fartum unde unde collectis. nam si quid unquam congruum sanitati cura- 
tionique hominum vel ab aliis comperi, vel ipse usu approbavi, vel legendo 
cognovi, id sparsum inconditumque collegi, etin unum corpus quasi disjecta 
etlacera Aesculapius Virbii membra composui. nec solum veteres medicinae 
artis auctores latino duntaxat sermone perscriptos, cui rei operam uterque 
Plinius et Apulejus et Celsus et Apollinaris ac Designatianus (') aliique non- _ 
nulli etiam proximo tempore illustres honoribus viri eives ac majores nostri, 
Siburius, Eutropius atque Ausonius (?) commodarunt, lectione scrutatus 
sum, sed etiam ab agrestibusetplebeis remedia fortuita atque sim- 
plicia, quaeexperimentisprobaverant, didieci. quorum vobis copiam 
labore nostro vigiliaque faciendam, filii duleissimi, pro necessitate infirmitatis 
humanae piissimum duxi, orans primum divinam misericordiam ne vobis ves- 
trisque experiendi hujus libelli necessitas ulla na scatur. Es ist kein grund 
da, diese vorrede für später erdichtet und dem buche vorgeschoben zu hal- 
ten; des Marcellus und seiner söhne gedenkt auch Libanius in einem briefe (°), 
der also noch in Theodosius des grofsen lebenszeit fällt. doch mufs Mar- 
cellus, schon als Libanius schrieb ein betagter mann, den kaiser überlebt 


(') Seribonius Largus Designatianus, ein arzt aus dem ersten jh. unter Claudius. seine 
compositiones medicae hat Joa. Rhodius, Patavii 1655 in 4 drucken lassen. cap. 26 p. 176 
nennt Marcellus den Ambrosius Puteolanus medicus; cap. 29 p. 203, 205 den Julius Bassus, 
zwei noch ältere, schon bei Scribonius cap. 152 und 121 angeführte ärzte. 

(2) Julius Ausonius, leibarzt Valentinians und vater des bekannten dichters Ausonius, 
der 394, jener schon 377 starb. den Siburius und Eutropius kann ich nicht nachweisen, 
Flav. Eutropius, der um 378 schrieb, war historiker, kein arzt, und schwerlich hatte Eutro- 
pius der bekannte eunuch, welcher 399 consul war, sich jemals der medicin beflissen. 

(°) Libanii epistolae ed. Joa. Christoph. Wolf. Amst. 1738 fol. p.179. 180 epist. 365: 
or mou MagzeAAov ATO THS TEXuNS, za Erı Ye maoregov amo rw Toomum. 0U ap MEAAoV 
ana; iarass, 7 Xanzres dung sarthh MogasXNos, oe more Buruezg: razne yes dıcr on 
TOUTO TOaVU YEedgwv wu Tavv VEOoUGS VIOoUG rasıber, ovG @orL YaraAroS AmaAAayYEVTES &ıs OFEETIWFARG 
5 Rusırsus aveygale, #. 7. A. auch epist. 362. 381. 387. 395 gedenken seines ärztlichen 
beistandes. Libanius starb ungefähr um 385. 


432 Jacos Grimm 


und darum konnte er selbst oder ein abschreiber in jener stelle dem namen 
Theodosius das beiwort ‘senior’ zugefügt haben. 

Theodosius war am 17 jan. 395 nicht zu Constantinopel, sondern zu 
Mailand gestorben, und des Marcellus verdienste um seinen fürsten müssen 
schon vor dessen letzter krankheit erworben gewesen sein. noch aus dem- 
selben jahr 395 weisen uns zwei im theodosianischen codex enthaltne erlasse 
an “Marcellus magister officiorum VI. 29, 8 und XVI. 5, 29, dafs ihm auch 
mit einer staatswürde gelohnt war, eine auszeichnung, die gleich dem titel 
“vir illustris’ seit Constantin dem grofsem öfter gelehrten und hervorragenden 
männern zu theil wurde, wie könnte aber dieser magister officiorum ein andrer 
Marcellus, als unser leibarzt sein, der sich selbst ausdrücklich “ex magno 
officio Theodosii’ nennt? 

Es ist wahr, dafs das buch einigemal ein aussehn gewinnt, als sei es 
von einem schüler des arztes niedergeschrieben wenigstens durch zusätze 
überarbeitet. cap. 20 p. 145 heifst es: “oxyporium, quo Nero utebatur ad 
digestionem, quod Marcellus medicus egregius ostendit, quod et nos usu 
probavimus’, und cap. 30 p. 216: “confectio salis cathartiei, quam Marcellus 
ostendit sic’. der verfasser wird sich nicht selbst medicum egregium nennen, 
es war spätere einschaltung, die ihm den ruhm sichern sollte, das mittel zu- 
erst gelehrt oder angegeben zu haben, wenigstens von neuem gebraucht, 
nachdem es abgekommen war. denn schwerlich hatte Nerons 6Eumogıov einen 
älteren Marcellus zum urheber. An vielen andern stellen redet auch der ver- 
fasser von sich in erster person. 

In solchem sinn der urheberschaft wird ‘ostendere’ gebraucht, wie auch 
folgende, unsers Marcellus lebenszeit bestätigende stelle zeigt. cap.23 p. 168: 
ad splenem remedium singulare, quod de experimentis probatis Gamalielus 
patriarchas proxime ostendit. dieser Gamaliel war jüdischer patriarch zu 
Constantinopel unter Theodosius dem grofsen und nachher. Hieronymus 
epist. 57 ad Pammachium (opp. ed. Vallars 1, 334. 305) schreibt im jahr 395: 
dudum Hesychium virum consularem, contra quem patriarcha Gamaliel 
gravissimas exercuit inimieitias, Theodosius princeps capite damnavit, quod 
sollicitato notario chartas illius invasisset. die begebenheit selbst ist wol ei- 
nige Jahre früher ((dudum’) zu setzen, Gamaliels ansehn mufs sich aber länger 
aufrecht erhalten haben, denn der cod. theodos. XVI. 8, 22 liefert ein an Au- 
relianus den praeses provinciae erlassenes gesetz des kaisers Honorius vom 


über Marcellus Burdigalensis. 433 


j. 415, dessen eingang lautet: Quoniam Gamalielus existimavit se posse 
impune delinquere, quod magis est erectus fastigio dignitatum, inlustris 
auctoritas tua sciat nostram serenitatem ad virum inlustrem magistrum ofhi- 
ciorum direxisse praecepta, ut ab eo codicilli demantur honorariae prae- 
fecturae, ita ut in eo sit honore, in quo ante praefecturam fuerat constitutus, 
ac deinceps nullas condi faciat synagogas.. Wie dem juden die ehrenprae- 
fectur, konnte dem leibarzt das magisterium zugetheilt worden sein, die 
jüdische bekanntschaft mit arzneien leicht dem Marcellus ein besonderes heil- 
mittel nachgewiesen haben. lauter umstände, die auf einen Marcellus unter 
dem ersten, nicht dem zweiten Theodosius deuten. 

Es steht dahin, was aus einer anführung in cap. 26 p. 175 zu ziehen 
sei; beim erwähnen einer aqua pota in qua ferrum candens dimissum est, 
wird gesagt: hoc tractum est ab aquis calidis, quae sunt in Tuscia ferratae, 
quae mirifice remediant vesicae vitia, unde appellantur vesicariae, qui locus 
quondam fuit Milonis Brochi praetoris, hominis optimi, ad quinquagesimum 
ab urbe lapidem. Ich gewahre eben, dafs dies aus Sceribonius entnommen 
ist, der cap. 146 hat: aquae vesicariae, quondam Milonis Gracechi praetorii 
hominis optimi ad quinquagesimum lapidem reddentis. welche lesart richti- 
ger sei entscheide ich abernicht, da beides altrömische geschlechtsnamen sind, 
Brocchus und Gracchus. eines Gracchus praetor gedenkt Taeitus ann. 6, 16 
im }. 33 nach Chr. 

Unter den römischen hofärzten mögen sich einzelne recepte lange zeit 
fortgepflanzt haben, aufser jenem neronischen oxyporium geschieht cap. 13 
p- 96 einiger zahnpulver meldung, deren sich frauen des kaiserhauses be- 
dienten: hoc dentifricio Octavia Augusti soror usa est... . Augustam constat 
hoc usam Messalinam, deinde aliorum caesarum matrimonia hoc dentifricio 
usa sunt. cap. 35 p. 238 nennt Marcellus ein @xorov ad perfrictionem et 
lassitudinem, quo fere semper Livia Augusta et Antonia usae sunt. cap. 15 
p- 105: hoc Livia Augusta semper compositum habuit et reconditum in vas- 
'culo vitreo. 

Anziehender ist es des Marcellus gallische abkunft näher zu beleuch- 
ten und aus seinem werke für die sprachgeschichte keltische wörter zu 
gewinnen. 

Auch zwei gallische Ausone gehören dem vierten jh. und Aquitanien an; 


man vermutetleicht, dafs eben sie den Marcellus angeregt und in die gunst des 
Philos.- histor. Kl. 1847. Tii 


434 Jacos Grimm 


hofes gebracht haben. Julius Ausonius gebürtig aus Cossio Vasatum, dem 
heutigen Bazas an der Gironde, lebte im nahen Bourdeaux, wurde aber her- 
nach Valentinian des ersten leibarzt und versah ämter in Illyrien und Rom, 
er lebte von 287 bis 377; sein sohn Magnus Ausonius war der berühmte 
dichter, geboren schon vor 309, als erzieher Gratians und Valentinian des 
zweiten gelangte auch er zu hohen würden, ward quaestor und im j. 379 
consul, er starb in seine heimat zurückgezogen um 394. ist es nicht 
wahrscheinlich, dafs Marcellus der verbindung mit seinen landsleuten den 
eintritt in den kaiser lichen dienst zu danken hatte und dafs er des älteren 
Ausonius schüler war? (1!) auch Theodosius, seit 379 neben Gratian her- 
schend, erwies dem dichter Ausonius vielfache gunst. des “Ausonius medi- 
cus’ gedenkt Marcellus cap. 25 p. 172. Auf seine aquitanische herkunft weist 
übrigens eine angabe cap. 19 p. 129: Soranus medicus quondam ducentis 
hominibus hoc morbo (mentagra) laborantibus curandis in Aquitania se 
locavit. man kennt einen Soranus ephesius aus Trajans und Hadrians zeit 
und einen spätern, ich weifs nicht welchen von beiden Marcellus meint. (?) 
Dafs dieser, bevor er nach Byzanz gelangte, auch in Rom gelebt hatte, ist 
aus seiner erzählung von einer Africanerin (cap. 19 p. 204) zu schliefsen, 
die er in Rom kennen lernte (°). 

Wie Dioscorides oft fremde kräuternamen anführt, verzeichnet Mar- 
cellus hin und wieder gallische und sie bezeugen uns von neuem den aus 
Aquitanien stammenden gallischer sprache kundigen verfasser des buchs. dort 
wohnten Bituriges Vibisci, bei Strabo s. 190 Oisxzo:, bei Plinius Ubisei ge- 


(') nach einer äulserung cap. 16 p. 114 sollte man dem Marcellus einen lehrer Va- 
lens zuschreiben, es heilst: hoc medicamentum Apuleji Celsi fuit et praeceptoris nostri 
Valentis; nec unquam ulli vivus compositionem ejus dedit, quia magnitudinem opinionis 
ex ea traxerat. dies alles aber ist einfältig aus Scribonius cap. 94 erborgt, welcher sagt: 
hoc medicamentum Apulei Celsi fuit, praeceptoris Valentis et nostri, es nunquam ulli se 
vivo compositionem ejus dedit, quod magnam opinionem ex ea traxerat. Valens Vettius oder 
Vectius war arzt zu Rom unter Claudius und das mittel hatte Celsus gefunden, dessen 
schüler Valens und Scribonius es nachher anwandten. Die stelle lehrt mit welcher vor- 
sicht man solche angaben des Marcellus aufzunehmen hat. 

(?) von beiden ganz unterschieden ist Serenus samonicus, dessen hexametrisch gedich- 
tete praecepta de medicina von mir im verfolg gebraucht werden. 

(°) hoc medicamento primum muliercula quaedam ex Africa veniens multos Romae 
remediavit. postea nos per magnam curam compositione ejus accepta, id est pretio dato ei, 
quod desideraverat, qui venditabat, aliquot non humiles neque ignotos sanavimus. 


über Marcellus Burdigalensis. 435 


nannt (!), fern von den Kelten, die wir heute an der armorischen küste, 
in Britannien und Hibernien kennen, es ist wichtig zu ermitteln, welchem 
dialect die aufbewahrten alten benennungen gleichen. 

cap. 3 p. 40 trifolium herbam, quae gallice dieitur uisumarus; es 
ist deutlich das ir. seamar, seamrog, gal. seamrag, woher das engl. shamrock 
und altn. smäri, jütische smäre. abweichend ist das welsche meillionen, 
armorische melchon, welche zum gr. uerAurov (it. span. meliloto) gehören 
und sämtlich ihre abkunft von u&rtı, welsch mel zur schau tragen: der ho- 
nig duftende, von bienen gesuchte klee. uisumarus gewährt uns die wollau- 
tende volle, in seamar schon entstellte form des namens; kühn wäre, sie mit 
unserm ahd. suınar, ir. samh, sambhra, gal. samradh zu verknüpfen und som- 
mergras, sommerblume zu verstehn. auch bei sumar schien ein anlautender 
vocal weggefallen (GDS. 316) gerade wie seamar aus uisumar entspringt. 

cap.7 p.48: herba quae graece chamaeacte, latine ebulus, gallice 
odocos dieitur. hiermit verbinde man Dioscorides 4, 172 Yauaıcırn, "Punaicı 
Eßeurcun, TarAcı deuzwve, welchem letzten wort nur ein vocal vorgesetzt zu 
werden braucht, um es mit odocos gleichbedeutend erscheinen zu lassen; 
des Dioscorides gewährsmann hörte es schon ohne diesen vocal aussprechen. 
bei dok denkt man ans ags. docce, engl. dock lapathum, rumex, die von 
den Kelten entlehnt scheinen; aber aus den heutigen keltischen sprachen kann 
ich den namen nicht aufweisen. Dagegen ist das ahd. atah, nhd, attich ebu- 
lum sichtbar jenes odocos, doch nur einmal lautverschoben. mit unrecht 
stellt Graff 1,153 hinzu das ags. atih zizania, denn dies ist ätih, von äte 
abzuleiten. 

cap. 10 p. 86: herba proserpinalis, quae graece dracontium, gallice 
gigarus appellatur. das kraut ist polygonum, centumnodia, die wörter- 
bücher liefern aber keinen entsprechenden galischen oder welschen namen. 

cap. 10 p.87: radicem symphyti, quod halum gallice dieunt. auch 
Plinius 26, 7,26 halus, quam Galli sie vocant, Veneti cotoneam, und 27,6 
alum nos vocamus, Graeci symphyton petraeum, simile cunilae bubulae, 
die Römer hatten also halus oder alus in die lateinische sprache aufgenom- 
men, wie bei uns das symphytum, consolida major, bein heil, den Nieder- 
ländern haelwortel heifst, weil ihm knochen und wundenheilende kraft bei- 


(‘) Vivisca ducens ab origine gentem. Ausonii Mosella 438. 
Iii2 


436 Jaıcos GrImMm 


gemessen wird. stupurov von suupVw drückt dasselbe aus. die irische und 
galische sprache haben kein anlautendes H, in der welschen steht es häufig 
für das S jener; irisch bedeutet ala wunde, oil alere, nutrire. 

cap. 11 p. 88: serpillum herbam, quam Galli gilarum dieunt. thymus 
serpillum, gr. EomuAAov, quendel. doch die heutigen keltischen sprachen 
lassen bei gilarus wie bei gigarus ohne auskunft. 

cap. 16 p.121: ad tussem remedium efficax herba, quae gallice callio- 
marcus, latine equi ungula vocatur. im zweiten theil ist das ir. gal. mare, 
welschemarch equus nicht zu verkennen, welchem ags. mear, ahd. marah ent- 
spricht. bekanntlich gibt Pausanius X. 19, 6 bei erwähnung der galatischen 
rgıuagxıria schon das keltische wort an. callio aber mufs den begrif ungula 
enthalten, welchem lat. wort das ir. gal. ionga nahe kommt. wie wenn call 
für ioncall stände, vgl. ahd. anchal talus, und ahd. chlöa, ags. clavu, engl. 
clow, altn. klö, lat. clavus gleichfalls aphaeresis erlitten hätten? denn unguis 
und ungula liegen sich verwandt. 

cap. 20 p. 144: fastidium stomachi relevat papaver silvestre, quod 
gallice calocatanos dieitur. man darf mutmafsen catocalanus, wozu das 
irische codlainean papaver, gal. codalan nahe stimmen, die wurzel ist codal, 
cadal somnus, wovon cadalan somnus brevis, weil der mohn schlafbringend, 
papaver somniferum, altn. svefngras, spanisch dormidera heilst. man sagt 
auch papaver caducum, nhd. fallblume, er macht in schlaf fallen, und ir. 
bedeutet cadaim, welsch codwm fall, vgl. lat. cadere. ohne zweifel ist das 
franz. coquelicot, nnl. kollebloem auf das keltische wort zurückzuführen. 

cap. 23 p. 162: herba quam nos utrum, Graeei isatida vocant, qua 
infectores utuntur. nos zeigt jedoch kein keltisches wort an, vielmehr ein 
lateinisches des lateinschreibenden, und für utrum setze man vitrum, wel- 
ches der pflanze isatis entspricht. Caesar B. G. 5, 14: omnes vero se Bri- 
tanni vitro inficiunt, quod caeruleum efheit colorem, vitrum aber, in diesem 
sinn, scheint das ags. väd, engl. woad, ahd. weit, woher weitin caeruleus. 
gleichviel mit väd und weit ist nun das mlat. guadum, guasdum, it. guado, 
franz. guede, guesde, auch vouede. da auch mlat. glastum gilt und in 
welscher sprache die isatis glas, glasddu, glaslys heifst, glas wiederum caeru- 
leus, so gelangen wir bei diesem namen wunderbar zu dem deutschen glas, 
glesum, wie zum lat. vitrum. galisch finde ich für die pflanze gorman guir- 


mein und gorm ist blau, weitin. 


über Marcellus Burdigalensis. 437 


cap. 25 p. 174: herbae pteridis id est filiculae, quae ratis gallice 
dieitur, quaeque in fago saepe naseitur. hier ist alles klar. ir. rath, raith, 
raithneach, gal. raineach, welsch rhedyn, armor. raden. auch das baskische 
iratzen entspricht, wonach der august, in welchem die heide blüht, irailla, 
wie im poln. der september wrzesien genannt wird. 

cap. 26 p. 179: artemisia herba est, quam gallice bricumum appel- 
lant. ich bedenke mich kaum zu bessern britumum, britunum, denn brytwn 
ist noch heute der welsche name der artemisia. 

cap. 33 p. 231: herba est quae graece nymphaea, latine clava Her- 
culis, gallice baditis appellatur. ir. und gal. bath bedeutet see, wasser, 
duilleag-bhaite wörtlich seeblatt, nymphaea. das unzusammengesetzte alte 
baditis mag geradezu eine nymphe, wasserfrau ausgedrückt haben, deren 
name mythisch auf die wasserpflanze erstreckt wurde. 

Dies, soviel ich sehe, sind alle bei Marcellus verzeichnete keltische 
pflanzennamen. er führt aber auch noch cap. 29 den bekannten namen ei- 
nes vogels an, pag. 202: avis galerita, quae gallice alauda dieitur, und 207 
nochmals: corydalus avis, id est quae alauda vocatur. das wort war den 
Römern längst eingebürgert, auch Plinius II. 37, 44 berichtet: parvae avi, 
quae galerita appellata quondam postea gallico vocabulo etiam legioni no- 
men dederat alaudae. die krieger hatten ihre helme, gleich dem vogel, 
der darum selbst cassita und galerita (!) heifst, mit kämmen geschmückt, 
Sueton im Jul. Caesar cap. 24: unam etiam (legionem) ex Transalpinis con- 
scriptam vocabulo quoque gallico: alauda enim appellabatur. derlegio alau- 
darum gedenkt Cicero ad Attic. 16, 8 und Philipp. 13,3. Noch Gregor von 
Tours 4. 31: avis corydalus, quam alaudam vocamus, und bis auf heute dau- 
ert das franz. alouette fort, altfranz. auch unverkleinert aloe; it. mit aphaeresis 
lodola, vollallodola, prov. alauza, sp. alondra. von den heutigen kelti- 
schen sprachen hat nur die armorische alehoueder, allweder, echoueder, cCho- 
ueder bewahrt, die welsche uchedydd und üblicher hedydd, was aufdie wur- 
zel hedegu fliegen, uchedu sich erheben führt, hedydd, uchedydd ist der sich 
in die luft schwingende vogel. abweichend sind die ir. uiseog, fuiseog, gal. 
uiseag, ir. gal. riabhag. Auch unser deutsches lerche, ahd. l&racha, leri- 
cha, ags. läferce, altn. 16 pl. ler mahnt an alauda, doch ist das finn. leiwo 


(') haubenlerche, schopflerche, bei Theocr. 7, 23 ZrırunQröros zogvöardıs, man ver- 
gleiche die scholie und Babr. 72, 20. 


438 Jıcos Grimm 


und leiwoinen zu erwägen. das -icha scheint blofs verkleinernd und R: D 
könnte sich verhalten wie in sirablas srebro und sidabras silapar. 

Durch angabe dieser keltischen wörter hat Marcellus, wie früher schon 
Dioscorides, dem sprachstudium einen wahren dienst erwiesen, und sie lassen 
gewahren, wie tief die gallische zunge in Europa verbreitet war. gilarus und 
gigarus werden sich vielleicht künftig einmal aufklären. unverkennbar ist 
aber, dafs die im vierten jh. in Aquitanien herschende sprache, wie uisuma- 
rus, catocalanus, baditis, ratis zeigen, sich mehr der irischen und galischen 
mundart, als der armorischen anschliefst; nur alauda und britumum haben 
armorischen und welschen klang. 

Ich wende mich nun zum eigentlichen gegenstande meiner abhand- 
lung. Jene von Marcellus aus dem munde des volks, wie er sich ausdrückt, 
ab agrestibus et plebejis erkundigten heilmittel lassen, gleich allem volks- 
mäfsigen, hohes alterthum und weite verbreitung ahnen; sie müssen mit 
gebräuchen und lebendigen eindrücken der vorzeit zusammenhängen und 
können, so abgeschmackt und unnütz sie unsern heutigen ärzten erscheinen, 
die poesie und sitte der europäischen völker manigfach aufhellen. Nachdem 
ich alles ausgezogen haben werde, was unter den angekündigten gesichtspunect 
fällt, sollen einzelne bemerkungen und aufschlüsse folgen. 

1) cap. 1 pag. 35. herba in capite statuae eujuslibet nasci solet. 
ea, decrescente luna, sublata capitique circumligata dolorem tollit. 

2) cap. 1 pag. 35. cum intrabis urbem quamlibet, ante portam ca- 
pillos, quiin via Jjacebunt, quot volueris collige, dicens tecum ipse ad 
capitis dolorem te remedium tollere, et ex his unum capiti alligato, ceteros 
posttergum jacta, nec retro respice. 

3)ibidem. faecula, quainfectoresutuntur, sispon dampriorem, quavir 
cubat, perunxeris, et spondae medio inligaveris, dolores capitis remediabis. 

4) cap. 1 p. 36. hirundinum pulli lapillos in ventriculis ha- 
bere consuerunt, ex quibus qui albi maxime fuerint, si in manu etiam sin- 
guli teneantur, aut circa caput lino nectantur, veterrimos et diutinos capitis 
mulcent dolores, nisi contactu terrae lapillorum potentia minuatur. 

5) cap. 2p. 38. hemicranium statim curant vermes terreni pari nu- 
mero sinistra manu lecti, cum terra de limine eadem manu triti. 

6) cap. 2 p. 39. herba vel hedera in capite statuae cujuslibet 
nasci solet, ea siin panno rufo, acia rufa vel lino rufo ligata capiti vel tem- 
poribus alligetur, mirum remedium hemicraniae vel heterocraniae praestabit. 


über Marcellus Burdigalensis. 439 


7) cap. 8p. 56. cum primum hirundinem audieris velvideris, 
tacitus illico ad fontem decurres vel ad puteum, etinde aqua oculos fovebis, 
etrogabis deum, ut eo anno non lippias, doloremque omnem oculorum 
tuorum hirundines auferant. 

8) cap. 8 p. 57. si mulieris saliva, quae pueros, non puellas 
ediderit, et abstinuerit se pridie viro et cibis acrioribus, et inprimis si pura 
et nitida erit, angulos oculorum tetigeris, omnem acritudinem lippitudinis 
lenies, humoremque siccabis. 

9) ibidem. lacertam viridem excoecatam acu cupreain vas vi- 
treum mittes cum annulis aureis, argenteis, ferreis aut electrinis, si fuerint, 
aut etiam cupreis, deinde vas gypsabis aut claudes diligenter atque signabis, 
et post quintum vel septimum diem aperies, lacertamque sanis luminibus 
invenies, quam vivam dimittes, anulis vero ad lippitudinem ita uteris, ut non 
solum digito gestentur, sed etiam oculis crebrius adplicentur, ita ut per fora- 
men anuli visus transmittatur. 

10) cap. 8 p. 58. de manu sinistra muscam capies, et dum capias 
dicere debebis nomen ejus, cui remedium facturus es, te ad curandos oculos 
ejus muscam prendere. tum vivam eam ligabis in linteo et suspendes collo 
dolentis, nec retro respicias. 

11) ibidem. ut omnino non lippias, cum stellam cadere vel trans- 
currere videris, numera, et celeriter numera, donec se condat. tot enim 
annis, quot numeraveris, non lippies. 

12) ibidem. qui erebro lippitudinis vitio laborabit, millefolium her- 
bam radicitus vellat, et ex ea circulum faciat, ut per illum aspicjat, et 
dicat ter "excicumacriosos, et totiens ad os sibi eirculum illum admoveat, 
et per medium exspuat, et herbam rursus plantet. quae si revixerit, 
nunquam is qui remedium fecerit vexabitur oculorum dolore, ad utrumque 
oculum hoc facito; quae si minus revixerit, ex alia iterum faciat, oportet 
autem dari operam ut non nimis herba constringatur, quo facilius plantata 
consurgat. 

13) cap. 8 p. 63. acriore collyrio ad cicatrices extenuandas et ad 
palpebras asperas utimur, quod quia ex quatuorrebus, ut quadriga 
equis constat, et celeres effectus habet, harma dicitur. 

14) cap. 8 p. 66. ad oculos scabros et palpebras perforatas humore 
vetusto vel peduneulis exesas remedium praesens barbaricum quidem, sed 


440 Jacos Grimm 


multis probatum. scarabaeum pilosum, qui similis est scarabaeo vero, 
in sepibus vetustis, lapidosis, aut in fossatis sepium requires, qui cutiones 
sunt colore pseudoflavo quasi leonino, pilosi, lucentes. Ante ergo quam 
illum cutionem tollas, folium caulis primo mane cum suo sibi rore vel gutta 
conclusa in eodem folio teneatur, ut ubi cutionem illum inveneris, digitisque 
pollice et medicinali adprehenderis, confestim supra folium illud caulis 
teneas, ut supra guttam illam lotium ejus exeipias, quia ubi manu adpre- 
hensus fuerit, statim se submejit. providendum ergo ut velocius supra fo- 
lium illud caulis ponatur, ne lotium ejus, quod eito effundit, alibi exeidat, 
quod commixtum cum illo rore caulis per spieillum palpebris impones et 
loca scabra vel exesa inter pilos perunges: effectum rei cito miraberis. 

15) cap. 8 p. 67. mel atticum et stercus infantis, quod primum 
dimittit, statim ex lacte mulieris, quae puerum allactat, permiscebis et 
sic inunges: sed prius eum, qui curandus est, ereetum ad scalam alliga- 
bis, quia tanta vis medicaminis est, ut eam nisi alligatus patienter ferre 
non possit, cujus beneficium tam praesens est, ut tertio die abstersa omni 
macula mirifice visum reddat incolumem. 

16) cap.8 p.70. digitis quinque manus ejusdem, cujus partis oculum 
sordicula aliqua fuerit ingressa, percurrens et pertractans oculum ter dices 
te tune resonco bregan gresso, 
ter deinde spues, terque facies. Item ipso oculo clauso, qui carminatus 
erit, patientem perfricabis, et ter carmen hoc dices et totiens spues 

inmon dercomarcos axatison. 
scito remedium hoc in hujusmodi casibus esse mirificum. 

17) ibidem. si arista vel quaelibet sordicula oculum fuerit ingressa, 
obeluso alio oculo ipsoque qui dolet patefacto et digitis medicinali ac pollice 
leviter pertractato, ter per singula despuens dices 

os Gorgonis basio. 
hoc item carmen si ter novies dicatur, etiam de faucibus hominis vel ju- 
menti os aut si quid aliud haeserit, potenter eximit. 

18) cap. 8 p. 71. varulis id est hordeolis oculorum remedium 
tale facias. anulos digitis eximes et sinistrae manus digitis tribus oculum 
circumtenebis et ter despues terque dices 

“rica rica soro. 
si in dextero oculo varulus erit natus, manu sinistra digitis tribus sub divo 


über Marcellus Burdigalensis. 441 


orientem spectans varulum tenebis et dices: 
nec mula parit, 
nec lapis lanam fert, 
nec huie morbo caput crescat, 
aut si creverit tabescat! 
cum haec dixeris iisdem tribus digitis terram tanges et despues, idque ter facies. 

19) ibidem. efficax hoc remedium hordeolis. novem grana hor- 
dei sumes et de singulis varum punges, perque singula puncta carmen dices, 
et projectis novem granis septem alia corripies et similiter de singulis pun- 
ges et carmen septies dices. abjectis etiam iis gquinque sumes et idem quin- 
quies facies. idem de tribus granis similiter. idem de uno similiter. car- 
men autem hoc dices 

zuge KUgIa KanTapıc ouawoßt. 

20) ibidem. item hoc remedium efficax. grana novem hordei 
sumes et de eorum acumine varolum punges, et per punctorum singulas vices 
carmen hoc dices 

bevye beuys, „0.04 ve diwxei. 
item digito medieinali varum contingens dices ter 
vigaria gasaria, 
varumque grano hordei ardenti, aut stipula foeni, aut palea ures. 

21) cap. 10 p. 85. seribes carmen hoc in charta virgine et linteo li- 
gabis, et medium einges eum vel eam, quae patietur de qualibet parte cor- 
poris sanguinis fluxum: 

sicoycuma cucuma ucuma cuma uma ma a. 

22) ibidem. item carmen hoe utile profluvio muliebri: 

stupidus in monte ibat, 

stupidus stupuit, 

adjuro te, matrix, 

ne hoc iracunda suseipias. 
pari ratione scriptum ligabis. 

23) cap. 11 p. 89. pustulae cum subito in lingua nascuntur, prius- 
quam idem (l. quidem) loquaris, extremae tunicae, qua vestiris, ora 
pustulam tanges et ter dices: 

tam extremus sit, qui me male nominat! 
et totiens spues ad terram, statim sanabere. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Kkk 


4493 Jıcog Grimm 


24) cap. 12 p. 93. carmen ad dentium dolorem mirificum de experi- 

mento, Juna decrescente, die Martis sive die Jovis, haec verba dices septies 
argidam margidam sturgidam. 

dolorem rumpes etiam si caleiatus sub divo supra terram vivam stans 

caput ranae adprehendes et osaperiesetspuesintra os ejus, etrogabis 

eam, ut dentium dolores secum ferat, ettum vivam dimittes, et hoc die 

bona et hora bona facies. 

25) cap. 12 p.95. cum primum hirundinem videris, tacebis et 
ad aquam nitidam accedes atque inde in os tuum mittes. deinde digito ob- 
scoeno id est medio tam manus dextrae quam sinistrae dentes fricabis et dices: 

hirundo tibi dico, 

quomodo hoc in rostro iterum non erit, 

sic mihi dentes non doleant toto anno! 
item alium annum et deinceps sequentibus similiter facies, si volueris re- 
medii hujus quotannis manere beneficium. 

26) cap. 14 p. 100. salis granum, panis micam, carbonem mortuum 
in phoenicio alligabis. 

27) ibidem. carmen ad uvae dolorem, quod ipse sibi qui dolet prae- 
cantet, et manus supinas a gutture usque ad cerebrum conjunctis digitis 
ducens dicat 

crisi crasi concrasi. 
quibus dietis rursum manus a gutture ducat, et ter hoc faciat. 

28) cap. 14 p. 102. uvam toto anno non dolebit, qui cum primum 
uvam viderit procedentem, sinistra manu digito medieinali et pollice 
granum vulsum sic transglutierit, ut dentibus non contingat. 

29) cap. 14 p.103. herbae cymbalitis radicem ante solis ortum 
colliges sinistrae manus digitis pollice et medicinali in nomine ejus qui uvam 
dolebit, et licio conligatam collo ejus suspende. 

30) ibidem. picem mollem cerebro ejus impone, qui uvam dolebit, 
et praecipue ut super limen stans superiori limiti ipsam picem capite suo 
adfıgat. 

31) ibidem. ad dolorem uvae scribes in charta et collo laborantis in 
linteolo suspendes: 

formica sanguinem non habet nec fel, 
fuge uva, ne cancer te comedat. 


über Marcellus Burdigalensis. 443 


32) cap. 14 p. 104. araneam quae sursum versus subit et texit 
prendes, et nomen ejus dices cui medendum erit et adjieies: sic cito su- 
beat uva ejus, quem nomino, quomodo aranea haec sursum repit et texit. 
tum ipsam araneam in chartam virginem lino ligabis et collo laborantis sus- 
pendes die Jovis, sed dum prendes araneam, vel phylacterium alligas, ter 
ın terram spues. 

33) cap. 15 p.105. sed praecipue contra synanchen prodest, si hi- 
rundininos pullos vivos in nido prendas et vivos incendas, ut pulvis 
ex his fiat, die Jovis, luna vetere. sed observa utinpares in nido invenias, 
et quanti fuerint exuras. horum in calida aqua pulverem bibendum dabis 
et de ipso pulvere digito locum synanches ab intro continges. miraberis 
remedium, sed inlotis manibus remedium facies. 

34) ibidem. praecantabis jejunus jejunum, tenens locum, qui eritin causa, 
digitis tribus id est medio, pollice et medieinali, residuis duobus elevatis 
dices: exi hodie nata, si ante nata, si hodie creata, si ante creata, hanc pe- 
stem, hanc pestilentiam, hunc dolorem, hunc tumorem, hunc ruborem, 
has toles, has tonsillas, hunce panum, has paniculas, hanc strrumam, hanc 
strumellam, hancrelegionem evoco, educo, excanto de istis mem- 
bris, medullis. 

35) cap. 15 p.108. si volueris explorare, utrum struma sit loci illius, 
qui tumebit, ante quam medieinam adhibeas, Jumbricum terrestrem ad 
tumorem adplica et postea super folium pone: si struma erit, lumbricus 
terra fiet, si non erit struma, integer atque inlaesus permanebit. 

36) cap. 15 p. 109. strumae optime medetur radix verbenae. si 
eam transversam reseces, extremamque ejus partem laborantis collo subnec- 
tas, priorem autem partem in fumo suspendas. arescente enim ea strumae 
quoque siccabuntur et omnis earum humor arescet. cum sanus fuerit quem 
curaris, si tibi ingratus exstiterit, utramque partem in aquam conjicito, 
strumae renascentur. 

37) cap. 15 p. 110. remedium valde certum et utile faueium do- 
loribus. sic scribas in charta haec: 

eidov Tounepn Malreov Toavadev, 
za TagTageUy,cU Tovravader. 
FCuTeV ME Tee veprepwv ÜmEgTaTE. 
quam chartam in phoeniceo obvolutam lino conligabis colloque suspendes 


Kkk2 


444 Jıcos Grimm 


meminerisque ut mundus fias haec facias, et ne tertia manu scriptura tan- 
gatur. 

38) cap. 15 p. 111. carmen mirum ad glandulas sic: 

albula glandula, 

nec doleas nec noceas, 

nec paniculas facias, 

sed liquescas tanquam salis (mica) in aqua! 
hoc ter novies dicens spues ad terram et glandulas ipsas pollice et digito 
medicinali perduces, dum carmen dices, sed ante solis ortum et post 
occasum facies id, prout dies aut nox minuetur. 

39) ibidem. glandulas mane carminabis, si dies minuetur, si nox, 
ad vesperam, et digito medicinali ac pollice continens eas dices: 

novem glandulae sorores, 
octo glandulae sorores, 
septem glandulae sorores, 
sex glandulae sorores, 
quinque glandulae sorores, 
quattuor glandulae sorores, 
tres glandulae sorores, 
duae glandulae sorores, 
una glandula soror 

novem fiunt glandulae, 
octo fiunt glandulae, 
septem fiunt glandulae, 

sex fiunt glandulae, 
quinque fiunt glandulae, 
quattuor fiunt glandulae, 
tres fiunt glandulae, 

duae fiunt glandulae, 

una fit glandula, 

nulla fit glandula. 

40) ibidem. ad ea quae faucibusinhaerebuntremedium; si os aut 
arista haeserit gulae, vel ipse cui acciderit vel alius confestim ad focum 
adcurrat ettitionem verset, ita ut pars ejus, quae ardebat, forinsecus 
emineat, illa vero, quae igni carebat, flammae inseratur; convertens vero 


über Marcellus Burdigalensis. 445 


titionem ter dices remedii gratia te facere, uti illud quod haeserit in fauci- 
bus tuis vel illius, quem peperit illa, sine mora et molestia eximatur. 
hoc inter certissima remedia subnotatum est. 

41) ibidem. omnia quae haeserint faucibus, hoc carmen expellet: 
Heilen prosaggeri uome sipolla nabuliet onodieni iden eliton. hoc ter dices 
et ad singula exspues. Item fauces, quibus aliquid inhaeserit confricans 
dices: xi exucricone xu crigrionaisus scrisumiouelor exugri conexu grilau. 

42) cap.15 p.112. si de pisce os faucibushaeserit, spinam mediam 
ejusdem piscis infringes et aliquam partem ex ea pollice et medicinali digito 
super verticem ejus, cui os vel spina haerebit, adpones, sed utilius erit, si 
nescientiid facias. 

43) ibidem. ad os, sive quid aliud haeserit faucibus, hi versus vel 
dicendi in aurem ejus qui offocabitur, vel seribendi in charta, quae ad col- 
lum ejus lino alligetur, quo remedio nihil est praestantius: 

un por Dogyei necbaAnv Ösvolo mErWgoU 
EE" Aldew meunbeiev Eraivm Hegreooveia. 

44) cap. 16 p.116. foeniculi radicem viridem nitidam in pila lignea 
contunde atque ejus succum jejunus cum vino vetere per dies continuos 
novem in limine stans bibe, validissime adversus tussim quamlibet mo- 
lestam tibi proderit. 

45) cap. 17 p. 124. ad suspiriosos remedium salutare. spumam 
de ore mulae collige et in calicem mitte, atque ex aqua calida sive viro 
seu feminae, quae hanc molestiam patitur, continuo da bibendam: homo 
statim sanabitur, sed mula morietur. 

46) cap. 17 p.126. serpentis senectusid est exuviae licio alliga- 
tae et vulso circumdatae mire prosunt. 

47) cap. 19 p.130. hie morbus (elephantiasis) peculiariter Aegyp- 
tiorum populis notus est, nec solum in vulgus extremum, sed etiam in reges 
ipsos frequenter inrepsit, unde adversus hoc malum solia ipsis in balneo 
repleta humano sanguine parabantur. mustelae igitur exustae cinis et 
ejusdem beluae id est elephantis sanguis immixtus et inlitus hujusmodi 
corporibus medetur. 

48) cap.20 p.143. remedium physicum magnum adversum dolorem 
stomachi. in lamina argentea scribes et dices: arithmato aufer dolores 
stomachi illi, quem peperit illa. eandem laminam lana ovis vivae in- 


446 Jacos Grimm 


volutam collo de lieio suspendes et id agens dices: aufer mihi vel illi sto- 
machi dolorem arithmato. 
49) cap.20 p. 144. cum te in lecto posueris, ventrem tuum perfricans 


dices ter: 
lupusibat per viam, per semitam, 


cruda vorabat, liquida bibebat. 


physicum hoc ad digerendum de experimento satis utile. 

50) cap. 21 p. 154. praecordiorum dolorem catuli lactentes ad- 
moti visceribus humanis transferre in se adseruntur, idque exenteratis 
perfusisque vino deprehenditur vitiatis eorum visceribus. 

51) ibidem. ad corcum carmen in lamella stagnea scribes et ad col- 
lum suspendes haec, ante vero etiam cane: 

corcu nec megito (l. mejito) cantorem 
utos utos utos, 
praeparabo tibi vinum leve, 
libidinem discede a nonnita. 
in nomine dei Jacob, in nomine dei Sabaoth. 
52) item ad id aliud carmen: 
corcedo, corcedo, stagne (l. stagna), 
pastores te invenerunt, 
sine manibus collegerunt, 
sine foco coxerunt, 
sine dentibus comederunt. 
Tres virgines in medio mari mensam marmoream positam habebant. 
duae torquebant etunaretorquebat. quomodo hoc nunquam factum 
est, sic nunquam sciat illa Gajoseja corci dolorem. 

53) cap.22 p.160. delupipraeda, id est de reliquiis vervecis aut ca- 
prae aut cujuslibet animantis, quam comederit, carnem vel pellem vel os collige 
etserva, etquandoaliquisjecur doluerit, inde eumtange, continuo sanabitur. 

54) cap. 22 p. 161. lacertam viridem prende, et de acuta parte 
cannae jecur ei tolle, etin phoenicio vel panno naturaliter nigro alliga, atque 
ad dexteram partem lateris aut brachii laboranti epatico suspende sed vivam 
lacertam dimitte et dicito ei: ecce dimitto te vivam: vide ut ego quem- 
cunque hine tetigero epar non doleat! 

55) cap.23 p. 164. herba salutaris id est spina alba, qua Christus 


über Marcellus Burdigalensis. 447 


coronatus est, quae velut uvam habet, lienem leniter in eodem loco 
perfricata sanabit. 

56) cap. 23 p.166. lacerta viridis viva in ostio splenitiei ante cu- 
biculum ejus suspenditur, ita ut procedens et rediens eam semper 
manu sinistra et capite contingat, quo facto mire ad sanitatem proficiet. 

57) cap.23 p.167. catellum lactentem de canna occide, et de ipsa 
canna splenem ejus tolle, ac nescienti splenitico in carbonibus coctum 
vel assatum manducandum dato. 

58) cap. 25 p. 171. pellem lupi aluminatam per dies sex lumbis 
dolentibus impone, statim subvenies. 

59) ibidem. remedium ad ischiadem sic. colliges herbam, quae 
dieitur britannice, die Jovis, vetere luna et liduna, siecabis et repones, 
quia hiemenonapparet. nam et viridis prodest. teres hanc cum tribus 
granis salis et cum piperis granis quinque aut septem, addes et plenum 
grande cocleare mellis et vini portionem bonam et si volueris modicum ca- 
lidae aquae adjicies et sic bibendum dabis. sed hanc herbam ter dum teres 
et antequam colligas praecantare debes sic: 

terram teneo, herbam lego, 
in nomine Christi prosit ad quod te colligo. 
medicinalibus digitis eam sine ferro praecides vel avelles. 

60) cap.25 p.173. et cum daturus fueris remedium, a die Jovis incipe 
et per dies septem continuos dato, ita ut qui remediandus est, stans in 
scabello contra orientem bibat. 

61) ibidem. remedium coxendicis mirum de experimento sie. mus- 
cerdae novem tritae ex vini quartario super scabellum vel sellam laboranti 
potui dantur, ita ut pede uno quem dolet stans ad orientem versus 
potionem bibat, et cum biberit saltu desiliat, et ter uno pede saliat, 
et hoc per triduum faciat, confestim remedio gratulabitur. 

62) p.174. fel terrae (d.i centauris, ahd. ertgalla, ags. eordgealle) 
tritum ex vetustissimo vino bibere dabis jejuno supra limen stanti uno 
pede, quicoxam dolebit, sed non in vitro hanc potionem bibat. 

63) ibidem. vermis terrenus exfoditur et in ligneo cauco ponitur, 
si fieri potest, fisso, et ferro alligato. tunc aqua perfunditur rursusque 
eodem loco unde prolatus est defoditur, aqua vero in qua dilutus est, in 
eodem poculo bibitur ab ischiadico ob insigne remedium. 


448 Jıcos Grımm 


64) cap. 26 p. 176. hoc medicamentum tunditur in pila lignea et pilo 
ligneo, qui contundit anulum ferreum non habeat. 

65) cap. 26 p.177. ad lapides de vessica ejieciendos remedium sin- 
gulare. hircum segregatum vel clausum septem diebus lauro pasces et 
postmodum a puero impubi oceidi facies et sanguinem ejus excipies mun- 
diter, ex eo dabis laboranti in vini eyatho seripulos tres. at vero ut ejus 
rei experimentum capias lapillos fluviales in vessicam mittes, in qua sanguis 
exceptus fuerit, nam in vessica exeipi debet, et signatam repone. intra dies 
septem solutos penitus invenies. 

66) cap. 26 p. 179. artemisia — hanc ubi nascatur require et inventam 
mane ante solis ortum sinistra manu extrahes et ex ea nudos renes prae- 
cinges, quo facto singulari et praesentaneo remedio uteris. 

67) ibidem. mulier quae geminos peperit, renes dolentes super- 
calcet, continuo sanabit. 

68) cap. 26 p. 181. calculosis expertus adfırmat incredibiliter suc- 
eurri remedio tali. sihircum, meliussi agrestem, melius si annieulum 
et si mense Augusto, claudas loco sicco per triduum, ut ei solas laurus 
edendas sumministres et aquae nihil accipiat, ad postrenum tertio die id est 
aut Jovis aut Solis occidas. melius autem erit, si castus purusque fuerit 
et qui oceidit et qui aceipiet remedium. exsecto igitur gutture ejus sanguis 
excipitur, utilius si abinvestibus pueris excipiatur, comburitur in vase 
fietili usque ad cinerem, vas autem in quo torrebitur coopertum et inlitum 
gypso in furnum mittetur ete. . . dabis infirmo die Solis aut Jovis coclearis 
mensuram in meri potione, providere autem debes ut digesto jejunoque 
potio detur. quam cum acceperit qui caleulum patitur, mox lapides solu- 
tos omnes per urinam emittet. ut vero ammireris sanguinis hircini vir- 
iutem, adamas lapis invictus, qui neque igni neque ferro vincitur, si san- 
guine hireino perfusus fuerit, mox solvetur. 

69) cap. 26 p.183. pellem leporis recentem in olla munda vel te- 
gula ita cum lana sua combures, ut in tenuissimum pulverem redigere possis, 
quem cribratum in vaso nitido servabis, inde cum opus fuerit tria coclearia 
in potione dabis bibenda, quae res sive calculos sive vessicae dolores con- 
tinuo compeseit, sed multo potentius erit remedium, si leporem vivum 
in olla nova claudas et gypso omnia spiramenta vasis obstruas et in furno 
usque ad favillam tenuissimam cremes tritamque et cribratam recondas. 


über Marcellus Burdigalensis. 449 


70) cap.26 p. 184. ad calculum remedium mirum sic. hederam 
quae in quercu natafuerit, vulnerabis cupro, et permittes humorem, qui 
inde manaverit, indurari in modum gummis, postea sublatum condito re- 
solves, et admiscebis, et bibes quotiens usus exegerit. 

71) cap.26 p.185. in cubili canis urinam faciat, qui urinam non 
potest continere, dicatque dum faecit, ne in cubili suo urinam ut canis faciat. 

72) cap.27 p. 190. tormina patientibus multi ventrem viventis ana- 
tisadponunt adfirmantes, transiremorbumadanatem, eamque mori. 

73) cap.27 p.196. ad profluvium et incontinentiam ventris reme- 
dium sic. spongiam, quae in pruno silvestri vel in spina autinrosa 
silvestri nascitur, colliges et supra batilum torrebis et diligenter teres. 

74) ibidem. ut explorari possit ex latentibus morbis, qui sit ille 
qui vexat infirmum comprehendique qualitas vitii et pars viscerum possit, 
catulus foetae canis lactens die ac nocte cum eo qui laborat accumbat. 
is postea sectus inspieitor, translatusque in eo morbus haud difficile 
notatur, ita tamen ut aeger ei lac de suo ore frequenter infundat. 
eum tamen catulum cum fuerit exsectus obrui oportet. nec ab re est, si 
triduo idem catulus vivens cum aegro maneat. vitium enim aegri transire 
in eum usque adeo certum est, ut moriatur catulus, hominemque morbis 
latentibus relevet. 

75) cap.28 p.200. carmen ad rosas sive hominum sive animalium 
diversorum sic. palmam tuam pones contra dolentis ventrem et haec ter 
novies dices: stolpus a coelo decidit, 

hunce morbum pastores invenerunt, 
sine manibus collegerunt, 

sine igni coxerunt, 

sine dentibus comederunt. 

76) cap.28 p.200. si ventrieulus perversatus (?praevexatus) fuerit 
alicui, aguam bibat unde pedes laverit suos, et de lana ovis, quae a lupo 
oceisa fuerit, ad ventrem suum alliget. de herba quoque quae muris 
auricula dieitur novem folia tollat et cum piperis granis novem terat et ex 
aqua bibat per triduum. 

77) ibidem. radix inulae in vino decoquitur, deinde succus ejus ex- 
primitur, potuique datur ad tineas enecandas. sed ea radix postea quam 
eruta est, terram non debet adtingere. 


Philos.- histor. Kl. 1847. Lil 


450 Jacog Grimm. 


78) cap.28 p.201. corrigia canina medius cingatur, qui do- 
lebit ventrem, statimque remediabitur. 

79) cap.29 p. 202. lupi stercus, dummodo non in terra inventum, 
sed supra fustem autsupra astulas aut supra juncum, colliges et ser- 
vabis, et cum opus fuerit laboranti colico alligabis ad brachium vel ad col- 
lum in osse aut in auro clusum. 

80) cap.29 p.206. anulus de auro texta tunica fit exusta, cui 
insculpitur vice gemmae piseis aut delphinus, sic ut holochrysus sit et ha- 
beat in ambitu rotunditatis utriusque id est et interius et exterius graecis 
literis scriptum 

Seds nedeyeı mM nveıw noAov mOvous. 
observandum autem erit, ut si in latere sinistro dolor fuerit in manu sini- 
stra habeatur anulus, aut in dextera, si dextrum latus dolebit. luna autem 
decrescente, die Jovis, primum in usum adhibendus erit anulus. 

81) cap. 29 p.206. ad coli dolorem requires fimum lupi et ossa, 
quae ibidem inveneris, contundes et pulverem ex his facies et in aqua frigida 
jejuno bibendum dabis. | 

82) ibidem. ad coli dolorem scribere debes in lamina aurea de 
graphio aureo infra scriptos characteres luna prima vigesima et laminam ipsam 
mittere intra tubulum aureum et desuper operire vel involvere tubulum ip- 
sum pelle caprina et caprina corrigia ligare in pede dextero, si dextra pars cor- 
poris colo laborabit, aut in sinistro, si ibi causa fuerit, habere debebit. sed 
dum utitur quis hoc praeligamine, abstineat Venere, et nemulierem aut 
praegnantem contingat, aut sepulchrum ingrediatur, omnino servare 
debebit. ad ipsum autem coli dolorem penitus evitandum, ut sinistrum 
pedem semper prius caleiet observabit. hi sunt characteres scribendi in 
aurea lamina 


L*XMORIA 
LxXMORIA 
LXMORIA 


83) cap. 29 p.208. si ad versus colum viro remedio opus erit, de 
ariete, quem lupus occiderit, fasciolam puer impubis faciat, et inde 
virum ad corpus adceingat. si vero mulieri medendum erit, similiter de 
ove, quam lupus occiderit, puella virgo cingulum faciat, et mulierem 
circa corpus adeingat. efficaciter prodest. 


über Marcellus Burdigalensis. 451 


84) ibidem. lepori vivo talum abstrahes, pilosque ejus de sub 
ventre tolles atque ipsum vivum dimittes. de illis pilis vel lana filum va- 
lidum facies et ex eo talum leporis conligabis corpusque laborantis praecinges: 
miro remedio subvenies. efficacius tamen erit remedium, ita ut incredibile 
sit, si casu os ipsum id est talum leporis in stercore lupi inveneris, quod 
ita custodire debes, ne autterram tangat aut amuliere contingatur, 
sed nec filum illud de lana leporis debet mulier ulla contingere. hoc autem 
remedium cum uni profuerit ad alios translatum cum volueris, et quotiens 
volueris proderit. filum quoque, quod ex lana vel pilis, quos de ventre 
leporis tuleris, solus purus et nitidus facies, quod si ita ventri laborantis 
subligaveris plurimum proderit, ut sublata lana leporem vivum dimittas, 
et dicas ei dum dimittis eum: 

fuge, fuge lepuscule, et tecum aufer coli dolorem! 

85) cap.29 p.209. lacertum viridem, quem graeei r«ügev vocant, 
capies perque ejus oculos acum cupream cum licio quam longo volueris 
trajicies, perforatisque oculis eum ibidem loci ubi ceperas dimittes, ac tum 
filum praecantabis dicens: trebio potnia telapaho. 
hoc ter dicens filum munditer recondes, cumque dolor coliei alicujus 
urgebit, praeeinges eum totum supra umbilicum et ter dicas carmen supra 
scriptum. 

86) ibidem. ovis agnum, quem primum pariet, manu excipies, 
itautterram non ttangat, et de fronte ejusdem agni lanam tolles, sed et 
de ipsa ove et verris, qui coitum cum scrofa faciet, semen eadem lana ex- 
eipies, ita ut terram non tangat, et includes lanam cum semine verris in 
brachio, vel mediis partibus corporis colico suspendes. 

87) ibidem. denovem coloribus, ita ut ibi album vel nigrum non 
sit, facies ex singulis singula fila, et omnia in se adunata acu argentea per 
oculos catuli novelli, qui nondum videt, trajicies, ita ut per anum 
ejus exeant. tum ipsa filain se counata torquebis, et pro cingulo ad corpus 
mediis partibus uteris. catulum sane vivum confestim in flumen 
projicies. 

85) cap. 31 p.221. ad ficos, qui in locis verecundioribus nascuntur, 
de orbita rotae collige calvos lapides non praegrandes neque parvos, 
et pone in foco ut bene candescant et lotio infantis eos exstingue, postea de 


L112 


452 Jıcos Grimm 


ipso lotio locum assidue lava, ita ut frequenter mutes et lapides et lotium 
infantis; tantum proderit, ut sectione et ferro opus non sit. 

89) cap.31 p.222. luna XIII. hora nona ante quam exeant vel 
erumpant mori arboris folia, oculos tres tolles digitis medieinali et pol- 
lice manus sinistrae, et in oculis singulis dices: 

absi apsa phereos, 
mittesque in coccum galaticum et in phoenicio lino conchyliatae purpurae 
conligabis et dices: 
tolle te hinc tota haemorrhoida, 
absis paphar, 
et nudum eum, cui remedio opus est, praeligamine illo cinges. 

90) cap. 32 p.225. ne inguen ex ulcere aliquo aut vulnere intumes- 
cat, surculum anethiin cingulo aut in fascia habeto ligatum in sparto vel 
quocunque vinculo, quo holus aut obsonium fuerit innexum, septem no- 
dos facies et per singulos nectens nominabis singulas anus viduas et 
singulas feras, et in cruce vel brachio, cujus pars vulnerata fuerit alliga- 
bis. quae si prius facias ante quam nascantur inguina, omnem inguinum 
vel glandularum molestiam prohibebis, si postea, dolorem tumoremque se- 
dabis. surculum quoque ex myrto terra tactum si quis gerat, ab ingui- 
nibus tutus erit. inguinibus potenter medebere, si de licio septem nodos 
facias, et ad singulos viduas nomines, et supra talum ejus pedis alliges, 
in cujus parte erunt inguina. 

91) cap. 33 p. 229. si puero tenero ramex descenderit, cerasum 
novellam radieibus suis stantem mediam findito, itautperplagam puer 
trajici possit, ac rursus arbusculam conjunge, et fimo bubulo aliisque 
fomentis obline, quo facilius in se quae scissa sunt coeant. quanto autem 
celerius arbuscula coaluerit, et cicatricem duxerit, tanto citius ramex pueri 
sanabitur. 

92) cap. 33 p. 231. mulierem, quam tu habueris, ut nunquam alius 
inire possit, facies hoc. lacertae viridis vivae sinistra manu caudam cur- 
tabis, eamque vivam dimittes. caudam donec inmoriatur, eadem palma 
clausam tenebis, et mulierem verendaque ejus, dum cum ea cois, tange. 

93) ibidem. si quem ad usum venerium infirmum volueris esse, ubi- 
cungque minxerit, supra lotium ejus obicem id est axedonem ex usu figes. 


über Marcellus Burdigalensis. 4393 


94) ibidem. si quem coire noles, fierigue cupies in usu venerio tar- 
diorem, de lucerna, quae sponte exstinguetur, fungos adhuc vi- 
ventes in potione ejus exstingue, bibendamque inscio trade: confestim 
enervabitur. 

95) cap. 34 p. 236. frumenti grana novem in tegula candenti com- 
bures et in cinerem rediges, et cymini, quot duobus digitis pollice et medi- 
cinali tenere potueris, addes. 

96) ibidem. verrucas minores congestas, quas Graeci myrmecidas 
vocant, ut abstergeas hoc facito. nocte cum videris stellam quasi 
praecipitem sead aliam transferentem, eodem momento locum, in 
quo verrucae erunt, quacunque re volueris, deterge, protinus omnes ex- 
cident. quodsi manu tua nuda id feceris, continue ad eam transibunt. 

97) ibidem. lapillum quemlibet involutum hederae folio ad ver- 
rucam admoveto, ita ut eam tangat lapillus, atque ita celebri loco abjieito, 
ut ab aliquo inventus colligatur: miro modo ad illum, qui collegerit, 
verrucae transferuntur, etideo quot fuerint verrucae, tot lapilllis tangi 
debent. 

98) cap. 35 p. 240. de tribus tumulis terrae, quos talpae faci- 
unt, ter sinistra manu quot adprehenderis tolles, hoc est novem pugnos 
plenos, et aceto addito temperabis. 

99) cap. 36 p.246. pueri inpubis detonsi super pedes dolen- 
tis capilli atque illuc aliquandiu compositi compescunt dolorem. 

100) cap. 36 p. 260. carmen idioticum, quod lenire podagram dieitur 
sic. im manus tuas exspues, ante quam a lecto terram contingas, et a sum- 
mis talis et plantis usque ad summos digitos manus duces et dices 

fuge, fuge podagra, et omnis nervorum dolor 
de pedibus meis et omnibus membris meis! 
aut sialii praecantas, dices illius gquem peperit illa, 
venenum veneno vincitur, 
saliva jejuna vinci non potest, 
ter dices haec et ad singulas plantas tuas, vel illius, cui medebere, spues. 


454 Jıcos GrimMm 


Solcher heilmittel und heilsprüche ist das alterthum aller völker voll; 
es brechen, wie in sprache und mythen überhaupt, hier gleich starke und 
wunderbare einstimmungen vor. cap. XXXVI, XXXVIL und XXXVIIH der 
deutschen mythologie habe ich davon schon vieles angezogen und geltend 
gemacht. in Rudolf Roths literatur und geschichte des Veda, Stuttgart 1846 
s.12. 37-45 findet man merkwürdige indische sprüche, welche gegen krank- 
heiten und schädliche thiere schützen, anrufungen heilsamer kräuter und 
verwünschungen der feinde ausgehoben. Agni und Varuna, Indra und 
Mitra, die hohen götter des feuers und wassers, der luft und sonne, werden 
wechselsweise angefleht um ihren beistand wider gefahr und seuche. kusta 
(costus speciosus), ein heilendes kraut, soll den takman (eine hautkrankheit, 
wahrscheinlich den aussatz) vertreiben und heifst davon takmanäsana, tak- 
mans vernichter. kustha, ein andrer name des aussatzes, scheint mit jenem 
kusta selbst zusammenzuhängen. 

Alle griechischen und römischen heilsprüche verdienten eigne samalung, 
damit man ihren gehalt und ihr gewand vergleichen könne. wie bedeutsam 
ein von Cato überlieferter segen für verrenkte glieder mit unsern altdeut- 
schen und den nordischen stimme, wurde bereits nachgewiesen. andere von 
Plinius aufgezeichnete werden wir den marcellischen begegnen sehn. 

Was mir zumeist anliegt, istaber, den ursprung einiger bei Marcellus 
enthaltnen, auf den ersten blick unverständlichen formeln zu entdecken. 
es war natürlich, dafs zu Rom und Byzanz ihm vor allem lateinische und 
griechische formeln bekannt wurden; es kann sein, dafs andere ganz ver- 
derbt oder sinnlos erscheinen, wie 21, worin stufenmäfsig von einem aus- 
druck einzelne buchstaben. abgeschnitten werden, bis zuletzt nichts als der 
vocal übrig bleibt; auch in 18. 24. 27. 41 wiederholen sich die wörter. Nicht 
so bewandt sein mag es um den sechzehnten spruch zur vertilgung der ins 
auge gerathnen sordieula; denn hier verrathen sich gallische formeln mit 
geeignetem sinn, die dem Marcellus noch aus seiner heimat im gedächtnis 
gehaftet hatten. alle wörter von unkundigen schreibern aus der fuge gebracht 
scheinen, ohne dafs das geringste zugefügt oder weggelassen werde, herstell- 
bar. ich will sie erst zusammenschieben und dann von neuem, der galli- 
schen sprache gemäfs, zertheilen: 

tetuncresoncobregangresso 
inmondercomarcosaxatison 


über Marcellus Burdigalensis. 455 


das ist: 
tet un cre son co bregan gresso 
inmon derc omar cos ax atison 
oder nach heutiger irischer schreibweise: 
teith uainn cre soin go breigan greasa 
inmhion dearg omar gus agus ait soin 
es sind, wie der lateinische text lehrt, eigentlich zwei von einander unab- 
hängige sprüche, deren ersten ich verdeutsche: 
fleuch von uns staub hinnen zu der lügen genossen! 
den andern: 
lieblich (sei das) augenbett, weh und schwulst (sei) fort! 
teith ist imperativ von teich fliehen, uainn bedeutet von uns, wie uaim von 
mir, uait von dir, uaibh von euch. cre staub, erde, unrat drückt die lat. 
sordieula aus. co für go entspricht der altirischen schreibung, und nicht 
anders wird cus acus für gus agus, derc für dearg gesetzt. breigan gen. pl. 
von breag lüge. gresso erkläre ich greasa hospitibus, denn der von der 
praeposition go verlangte dat. pl. kann nach Odonovan p.84 auf -a oder 
-u, also auch -o endigen, statt des gewöhnlichen -aibh, ‘“fri teora gressa 
bedeutet with three processes, statt gressaibh. könnte man übertragen: zu 
der lügen erfolgen? doch scheint mir lügengästen vorzüglicher, d.i. teufeln, 
welchen die sordicula überwiesen wird. Im andern spruch ist inmhion, 
inmhuin gratus, dearg auge, omar trog, höle, rinne, bett, deargomar also 
augentrog, augenhöhle = auge, gus weh, schmerz, ax=acs acus agus die 
bekannte conjunction, dem lat. ac, wie dem goth. jah verwandt; ati das 
heutige ait geschwulst. son = soin hence, thence. unverkennbar sind aber 
irischen diphthonge in der alten sprache einfach. 

Teuscht sich meine auslegung, wenn schon im einzelnen, doch in 
der hauptsache nicht, so gewähren diese sprüche für die kunde der aquita- 
nischgallischen sprache im vierten jh. noch einen wichtigeren beitrag als jene 
pflanzennamen, bestätigen die nähe des irischen dialects, und entheben uns 
aller zweifel über des Marcellus abkunft und sein verhältnis zum ganzen werk. 
kein arzt zu Rom oder Constantinopel wäre so wie er ausgerüstet gewesen 
mit gallischen formeln. ich habe, ohne rechten erfolg, versucht auch die 
sprüche 24. 27. 41 gallisch zu deuten und will nun andere zähne in sie bei- 


456 Jacos Grimm 


fsen lassen. doch werde ich auch zu 48 ein entschieden gallisches wort 
nachweisen können. 

Überbliekt man aber alle diese abergläubischen mittel, deren Marcellus 
gewis nur eine geringe zahl verzeichnete oder kannte, so erhellt, dafs sie ei- 
gentlich nicht bei schweren, lebensgefährlichen krankheiten angewandt wur- 
den, sondern fast nur für leichte oder äufserliche gebrechen wie kopfweh, 
zahnweh, fliefsendes auge (lippitudo), gerstenkorn am auge (hordeolus, varu- 
lus), kropf, zapfengeschwulst (uva), schlundentzündung (suvayxn), bruch, 
warze, huste, engen athem (suspirium), magenweh, leibweh, milzweh, hüftweh, 
herzweh, leberweh, steinschmerz (calculus) und mancherlei drüsen und 
geschwulst. toles und tonsilla 34 ist auch schlundweh, corcus 52 scheint 
ein herzübel und corcedo gebildet wie axedo 93 von axis. bei solchen lei- 
den läfst sich noch heute unter uns der gebrauch eines unschädlichen, sym- 
pathetisch wirkenden und die einbildung spannenden hausmittels nicht ganz 
verdrängen. 

Die meisten arzneien wurden aus heilkräftigen kräutern gewonnen, 
einzelne gaben auch thiere her, zumal wurm, käfer, spinne, fliege, eidechse, 
frosch, schwalbe, ente, hase, welf, bock, maulthier und wolf. bär, hirsch, 
eber, hahn und viele andere kommen hier nicht vor. wenn es angeht, wird 
aber die gebrauchte pflanze wieder in die erde gesetzt, die gespaltne wieder 
zusammengebunden, das thier, welches einen dienst geleistet hat, lebendig 
entlassen. die ihnen angedeihende schonung fördert des menschen heilung, 
sie sollen gleichsam nur mitleidende sein. alles ist voll geheimer sympathie 
und wie die spinne an ihren fäden aufsteigt soll die geschwulst aufgehn (32), 
wie der brand gedreht wird, die ähre im schlund sich umkehren (40). 

Stein, kraut und thier sind kräftig, allein noch gröfsere macht üben 
die dazu gesprochnen worte. aufser den lateinischen und gallischen sprüchen 
begegnen vier griechische, worunter 43 aus Od. 11, 634 (vgl. D. 5, 741) 
entnommen, doch rain für @yavy gelesen ist. woher 37 stamme, weifs ich 
nicht und der goldne Toanados, der höllische Tusanados sind mir unbe- 
kannt, die vegrego sind die inferi, unterirdischen. den trimeter 80 können 
vielleicht andere aufzeigen. aber die formel 20 

beuys beüys, „0.94 ve diwzei 
kannte schon dreihundert jahre vor Marcellus Plinius 27, 11: lapis vulgaris 


über Marcellus Burdigalensis. 457 
juxta flumina fert muscum siccum, canum. fricatur altero lapide addita ho- 
minis saliva, illo lapide tangitur impetigo, qui tangit dieit 

deuyere navSagides, Aunos dygios UuuE diwxei, 
und das fuge, fuge lepuscule im spruch 84, das fuge uva in 31, das fuge fuge 
podagra in 100, ja das irische teith (s. 455) mufs dazu gehalten werden. 
Unter den lateinischen formeln ist die wiederholung von 52 in 75 bei 

verschiedenem eingang zu beachten und das ‘sine foco’ dem “sine igni’ gleich- 
bedeutend. focus verdrängte in den romanischen sprachen allmälich das 
ältere ignis. In 49 hebt ‘lupus ibat per viam’ an, in 22 “stupidus in monte 
ibat’ wie in anderen sprüchen “ibant tres puellae in via virente’ oder “Christus 
in petra sedebat’ (mythol. s. 1195. 1196), “Petrus, Michael et Stephanus am- 
bulabant per viam’ (mythol. s.1184) oder eiris säzun idisi’. der ganze spruch 22 

stupidus in monte ibat, 

stupidus stupuit, 

adjuro te matrix (oder heifst es: matris nomine?) 

ne hoc iracunda suseipias 
rührt offenbar an unsern althochdeutschen, den ich im jahrgang 1842 seite 
26 bekannt gemacht habe, aber noch nicht zu deuten vermochte: 

tumbo saz in berke 

mit tumbemo kinde in arme, 

tumb hiez der bere, 

tumb hiez daz kint, 

der heilego tumbo 

versegene dise wunta, 
ad stringendum sanguinem, wie hier carmen utile profluvio muliebri. wen 
dachte sich das vierte jh. unter dem stupidus, das eilfte unter dem 
tumbo? auch die voraus erwähnten Genzan unde Iordan kieken, Vrö unde 
Läzakere kieken’ erkenne ich jetzt für mhd. giegen d.i. stulti(M S. 2, 79a 
246b von der bir 314 und Ls. 1, 509) nhd. gecken. es scheint mir, dafs 
die Christen, wenn sie den überlieferten heilspruch in ihren mund nahmen, 
an des heidnischen gottes stelle einen herabwürdigenden ausdruck wie stu- 
pidus, tumbo, giego setzten, oder zu den fremden wörtern Genzan und lor- 
dan giego fügten. auffallend ist, dafs in jener formel Vrö, worunter doch 
Frö, Fröho der gott oder herr gemeint wird, haftete und daraus neue be- 


stätigung des Fröcultus darf geschöpft werden; Läzakere sollte es bedeuten 
Philos. - histor. Kl. 1847. Mmm 


458 Jacos Grimm 


“der den speer im stich läfst’, wie der nordische Freyr sein schwert hingab, 
also ein mythischer beiname des gottes sein? so will ich einmal rathen, und 
wäre darauf zu lesen 'molt peträtun’ terram caleabant? oder 'molt stellio, papi- 
lio (Graff 2, 719) tritto’ tertius? “petritto’, das ags. bedrida clinicus? wie dem 
sei, so gut die jüngere formel sagte: Tumbo saz in berge, konnte die ältere 
haben: Wuotan saz in berge (wie jenes Christus in petra sedebat), folglich das 
Stupidus in monte ibat im vierten jb. irgend einen heidnischen gott ersetzen. 

In den drei jungfrauen, deren marmortisch mitten im meer steht, 
deren zwei (den faden) drehen, die dritte zurückdreht (no. 52), sind alte 
schicksals göttinnen zu erkennen, die im deutschen spruch idisi, später puel- 
lae (mythol. s. 1196) oder Marien heifsen. statt dafs sie ihren tisch oder 
thron auf berge und wiesen setzen, ist er hier absichtlich ins meer gestellt. 

Spruch 75 beginnt mit den worten: stolpus a coelo decidit, wofür 
Casaubonus zu Persius sat. 8 lesen willstlopus, sonus quem buccae inflatae 
edunt. ich ändre nichts und lasse dem ausdruck die bedeutung des litth. 
stulpas, sl. stlp” columna, russ. stolb’, serb. stup, walach. stulp, altn. 
stölpi, dän. stolpe. dem poln. slup, böhm. slaup, ungr. oszlop ist das T 
nach dem S entfallen, wie auch das goth. sauls, ahd. sül, altn. süla für 
stauls, stül, stüla stehn, die dem gr. srüAss und oryAn entsprechen (!), vgl. 
ahd. stollo basis. vielleicht wird ags. stypel turris, engl. steeple dasselbe 
wort sein. im estnischen tulp ist umgekehrt das S aufgegeben, die Finnen 
gebrauchen ein unverwandtes patsas. 

Hat nun stolpus columna seine richtigkeit, so erlangt für die gewöhn- 
lich erst mit dem sechsten jh. angehobne geschichte der slavischen sprache 
werth, dafs hier schon zur zeit des vierten in lateinischen zauberformeln ein 
slavischer oder litthauischer ausdruck begegnet. nach meiner ansicht unter- 
liegt es kaum dem zweifel, dafs bereits in den ersten jhh. und sogar vorher 
Slaven als Sarmaten den Griechen und Römern benachbart wohnten, und 
gleiches mufs von den vorfahren der Litthauer gelten. 

Im spruch 41 klingen einige wörter: nabuliet onodieni iden beinahe 
slavisch, was aber, da ich die übrigen nicht damit zu vereinen weifs, spiel des 
zufalls sein mag. wie fehlerhaft die abschriften dieser stellen sein müssen 
zeigt der folgende spruch, in welchem ich nichts verstehe, doch erkenne, dafs 


(') vgl. das welsche seren mit unserm stern. 


über Marcellus Burdigalensis. 459 


das xi exucricone sich vier mal wiederholt, wie nun die rechte lesart laute. 

Entschieden christlich sind 55. 59, vielleicht 24, jüdisch klingt 51, 
alles übrige darf heidnisch sein. nonnita 51 bedeutet mädchen, nicht nonne. 

Ich schliefse mit einigen bemerkungen zu den einzelnen heilmitteln. 

1 und 6) herba in capite statuae, vgl. Athenaeus lib. 15 p.68: Niruvdges 
dnsw, E£ üvögıavros ans nedaAds "Arekavdgov Tyv RaAoumevnv außgesiav bierIar &v 
Ko. Plinius 24,19 vgl. mythol. s.1129. 1143. 

2 und 88) lapilli in via. nicht zurückschauen 2. 10. 

4) schwalbensteine vgl. Dioscorid. 2,60. Schmeller 3, 399. 

4, 77,84 und 86) die erde nicht zu berühren, aber 18. 90 zu berühren. 

7 und 25) die erste schwalbe im frühling sehn, mythol. s. 853. 1085. 
abergl. no. 517. 1086. das chelidonium heifst so, weil es mit ankunft der- 
selben spriefst, mit ihrem abzug verdorrt. Diosc. 2, 211. 

8) pura et nitida. 84 purus et nitidus. 

9 und 85) lacerta viridis geblendet, der leber und des schwanzes be- 
raubt 54. 92, vor der thür aufgehängt 56. 

11 und 96 fallender stern. mythol. s. 685. 

17) os Gorgonis, vgl. caput Gorgonis 43. 

19. 20.25 neun gerstenkörner. 

24) dem frosch in den geöfneten mund speien, wie dem fisch, weis- 
thümer 2,528, vgl. Matth. 17,27 und Hel. 98,24. 

27) wäre in crisi erasi ein ir. greis gürtel, greas heil enthalten? 

25) die geschwollne uva im gaumen hat den namen von der traube, 
wird daher durch ein verschlucktes traubenkorn geheilt. 

30. 44.62) super limen stare. 

34) tolesgallica lingua dieuntur, quas vulgo per diminutionem toxillas 
(al. tusillas) vocant, quae in faucibus turgescere solent. Isid. orig. XI. 1, 57, 
vgl. tonsilla bei Festus O. Müll. 356, 27. 224, 16 und Serenus samon. 291. 
ir. toll a head, tola superfluity. 

38.39) die glandula wird angeredet, die glandulae gelten für schwe- 
stern. wie wenn das ahd. druos glandula (Graff 5, 263) personification an- 
kündigte? altn. ist drös femina. 

40) umkehren des feuerbrandes, vgl. myth. s. 1185. 

40. 48. 100) quem peperit illa. 

42. 57) nescienti facere, vgl. mythol. s. 1151. 

Mmm2 


460 Jacos Grımm über Marcellus Burdigalensis. 


44) dies pilum ligneum auch bei Scribonius cap. 152. 

46) serpentis senectus, bei Plinius senectus anguium, altn. ellibelgr. 

48) arithmato ist das gal. ardhmhath summum bonum, das als daıueviov 
angerufne 75 «yaScv, von ard arduus summus und math bonum. dem ir. und 
gal. vocativ wird heute ein a oder o vorgesetzt, hier scheint es suffigiert. ob dem 
schreiber, als er arith für arth setzte, dasgr. ügıSuos vorschwebte, oder arith 
der alten sprache gemäfs war, weifs ich nicht. das &gw rrepew war bei den 
Griechen häufig, aber auch deutschem alterthum nicht unbekannt. 

50. 57.74.87) catuli lactentes. mythol. s. 1123 und Serenus 443. 

53. 76. 83) lupi praeda. mythol. s. 1093. 

52) illa Gajoseja, vielleicht besser: illa Gaja Seja, was wir heute 
durch N. N. ausdrücken. 

56) so wurde nach dem lex. Alam. 102 der getödtete hund dem das 
ganze wergeld fordernden vor die thür gehängt, vgl. RA. s. 665. 

58) die wolfshaut heilkräftig. mythol. s. 1123. 

59. 64) die pflanze ohne eisen abschneiden und stofsen. zur britannica 
vgl. mythol. s. 1247. 

61. 62) stare in scabello, pede uno. mythol. s. 1189. 

65. 68) kraft des bocksblutes. Plin. 37, 4. Augustinus de civ. dei 
21,4. Notk. Cap.69. Erec 8428 ff. MS. 1,180a. 

68) der lorbeer war heilig und dapvnpayos hiels den Griechen auch 
ein begeisterter seher. 

70) hedera in quercu nata, d.i. viscus, mistel, vgl. mythol. 1156. 1157. 

72) übergang auf enten. mythol. s. 1123. 

73) spongia in rosa silvestri, der schlafdorn. mythol. s. 1155. 

87) faden von neun farben. lieium var coloris filis intortum. Pe- 
tronius cap. 131. 

90) beim knotenmachen werden alte weiber als zauberinnen und 
böse unthiere genannt. 

91) den gebrochnen knaben durch einen baumspalt ziehen. mythol. 
s44149. 

Die aufgedeckten überbleibsel gallischer sprache aus dem theodosiani- 
schen zeitalter sollen, traue ich, fortan dem Marcellus gröfsere theilnahme zu- 
wenden, als ihm um seiner abergläubischen arzneien willen, die mich dennoch 
beschäftigten und nicht ganz leer ausgehn liefsen, bisher geschenkt worden ist. 


KEEP Dt ne 


Über 
Agathodamon und Bona Dea. 


Von 


H” GERHARD. 


mn 


[Gelesen in der Königl. Akademie der Wissenschaften am 24. Juni 1847.] 


N anderes Thiersymbol hat in den Religionen der alten Welt gröfsere 
Wichtigkeit erlangt als das der Schtinge, eines nach Klima und Naturell 
in seinen verschiedenen Gattungen sehr verschieden gearteten und somit 
auch einer sehr verschiednen Bedeutung empfänglichen Geschöpfes. Als 
feindliche Gewalten sind die persische Schlange des Ahriman, der babylo- 
nische Tempeldrache des Belus, die alte Schlange der heiligen Schrift und 
die typhonische Schlange ägyptischer Kunstdarstellungen bekannt, denen 
auch aus griechischer Bildnerei manches Schreckbild in Schlangengestalt sich 
vergleichen läfst('!). Anderwärts bildeten ähnliche grofse Schlangen viel- 
mehr den Inbegriff einer doppelsinnigen, bald feindlichen bald freundlichen 
Kraft: nicht nur die Weltschlange indischer Mythen, sondern auch die um 
Baum oder Stab gewundenen Schlangen asiatischer sowohl als griechischer 
Mythologie sind als Ausdrücke solchen Doppelbegriffs zu bezeichnen, denen 
der schlangengestalte Heros griechischer Gräber als friedlichstes solcher 
Symbole sich anreiht(?). Vielleicht dafs manche dieser Beispiele bereits 
der durchaus freundlichen Anwendung angehören, welche hauptsächlich 
von kleinen und schmiegsamen Schlangenarten, namentlich von dem ägypti- 
schen Uraeus bekannt ist—, dem Uraeus, welcher zugleich mit dem Zeichen 
der Landesherrschaft den Stirnschmuck ägyptischer Götter und Könige 
bildet, mit der Sonnenscheibe vereint den Pforten ägyptischer Tempel zum 
Wahrzeichen dient(?) und auch als geheiligter Gegenstand ägyptischen 
Schlangendienstes bezeugt wird(*). Die griechische Benennung eines guten 
Naturgeistes Asarnopimon, welche diesem ägyptischen Schlangensymbol 
allgemein zugestanden ist, beruht auf späten und spärlichen Zeugnissen (°): 


462 GERHARD 


wie das Gewicht derselben durch Gleichsetzung mit dem vielleicht auch 
nicht uralten Götternamen Kneph nicht genügend gesteigert wird(°), wird 
die altägyptische Geltung des Agathodämon überdies noch durch Begriffe 
verdächtigt, welche vielmehr asiatischer Vorstellung angehören(?). Die 
Untersuchung hierüber liegt uns jedoch fern: uns genügt, dafs jener gangbare 
Begriff des Agathodämon wenigstens seit alexandrinischer Zeit hinlänglich fest 
steht, um verwandte griechische Religionsbegriffe daran zu knüpfen. 

In den gangbarsten Quellen und Darstellungen griechischer Mytholo- 
gie pflegt jener Agathodämon nur in der gedachten Geltung einer symbolischen 
Wunderschlange bekannt zu sein, dagegen der entsprechende und von der 
älteren Gräcität allein anerkannte Ausdruck eines Aaiuwv aya9os(°) vielmehr 
einen persönlichen Gott uns kund giebt. Den sogenannten „guten Gott“ 
eines arkadischen Tempels(?) war Pausanias, über dessen Namenlosigkeit 
befremdet, für Zeus zu halten geneigt, und wie dort ein persönlicher Gott 
vorausgesetzt wird, läfst das thebanische Heroon('?) eines gleichfalls namen- 
losen „guten Dämons“ mit gleicher Wahrscheinlichkeit einen persönlichen 
Heros vermuthen. Dieselbe persönliche Geltung wird durch die griechische 
Mablessitte(!!) wahrscheinlich, nach welcher der „gute Dämon“ am Ende 
des Mahls eine Weinspende zugleich mit Zeus Soter('?) erhielt, dieser einen 
Trank von gemischtem, jener von reinem Wein: Natur und Bildung des 
vielangerufenen Dämon blieben dabei nicht viel weniger unbekannt, als sie 
in Ermangelung sonstiger charakteristischer Erwähnung es für uns sind. Diese 
Dunkelheit steigt, wenn der entsprechende Gegensatz eines „gebenden“ 
Gottes Epidotes(!?) zum ebengedachten Zeus Soter hinzutritt, und uns 
bestimmt, bei nachweislicher Beziehung beider Namen auf geheime Natur- 
macht ('*) wie bei sonstiger Uebereinstimmung des Epidotes mit dem Aauwv 
@yaSos, auch diese letztere Benennung eines guten Gottes, dem Euphemis- 
mus altgriechischer Götternamen gemäfs, in einem am Ende des Mahls zu 
versöhnenden „Schlaf- oder Todesgott“ zu suchen(!?). Somit sind wir 
geneigt in jenem dämonischen guten Geber uns eine der Göttergestalten zu 
denken, die, nehmend zugleich und gebend ('°), dem Dionysos und andern 
Unterweltsmächten in reifer menschlicher Bildung vergleichbar sind: wie 
aber vermöchte damit die Uebertragung eines und desselben Namens auf 
den ägyptischen Agathodämon zu stimmen, den wir nicht anders als in der 
wohlthätigen Bedeutung einer heilkräftigen Schlange uns denken mögen? 


über Agathodämon und Bona Dea. 463 


Den gefälligen Formen griechischer Kunstbildung zum Trotz müssen 
wir diese Frage mit der Annahme vermuthlicher Schlangengestalt des grie- 
chischen, wie des ägyptischen Dämons beantworten. In der That ist diese 
Erklärungsweise, obwohl sie unserer Vorstellung von "Ayas9cs dauwv als per- 
sönlichem „guten Geist‘ wenig zusagt, die einzig richtige und theils durch 
Uebergänge der Schlangen- zur Menschenbildung(!7), theils durch die nach- 
weisliche Schlangengestalt mehrerer Gottheiten(!°) so bezeugt als begreif- 
lich. Von den ältesten Zeiten griechischer Religion anhebend, ist das 
Schlangensymbol ein selbständiger Ausdruck der Götterkraft, sofern sie im 
Grundbegriff feuchten Erdsegens('?) und heimlicher Zeugung (?°), zunächst 
als Ortshüter von Quellen und Wohnungen, Tempeln und Gräbern, als 
Genius loei und als cixouges &pıs und Gräberheros (*!), sodann aber auch als 
cerealisches(??), apollinisches(?°), äskulapisches(**) Attribut mit befruchtender, 
erleuchtender, heilender Kraft und mit der schmerzstillenden Besänfti- 
gung sich kund giebt, welche dem Begriffe des Todesschlafes(?) entspricht. 
So drängten die mancherlei Beziehungen, durch welche der schlangengestalte 
Ortsgenius gottgeweihten Besitz, gedeihliche Fruchtbarkeit, geistige Erleuch- 
tung, lindernde Heilkraft und, über die Grenzen des Lebens hinaus, un- 
heimlichen Segen ertheilte, in der Gesammtidee eines gleichfalls als Schlange 
gedachten Erdgeistes sich zusammen, für welchen der Euphemismus griechi- 
scher Rede den Ausdruck des „guten Geistes“ nicht ohne verfänglichen 
Doppelsinn gestempelt hatte. Zum bildlichen Ausdruck dieses guten Erd- 
geistes war als ältestes Erdsymbol die Schlange geeignet befunden worden, 
und es reihen demnach den schriftlichen Zeugnissen bildliche Belege jenes 
altgriechischen Schlangendämons in reichlichem Mafse sich an. Aufser der 
allgemeinen Hinweisung auf Dienst und Pflege desselben (?*) macht sich in 
ihnen die wechselnde Darstellung bald eines Paares von Schlangen, bald 
einer einzigen, etwa der männlichen Schlange bemerklich. Die völlige 
Gleichsetzung einer wie der anderen dieser Darstellungsweisen (?”) ist in 
Belegen cerealischen Tempeldienstes und italischer Hausgottheiten gleich 
augenfällig, wird aber auch durch die Doppelzahl von Schlangengöttern 
bestätigt, als welche wir unbedenklich nicht nur den epidaurischen Heilgott, 
sondern auch den Zeus Epidotes und den chthonischen Hermes Eriunios 
samt dem ihm entsprechenden Zeus Ktesios bezeichnen dürfen (*°). 


464 GERHARD 


Die bis hieher erörterte Schlangenbildung war jedoch nicht die einzige 
des „guten Erdgeistes“: dem Anthropomorphismus griechischer Sitte gemäfs 
ging im Fortgang der Kunst noch eine andere Darstellungsweise nebenher. 
Wie das Trankopfer reinen Weines bekanntermafsen dem „guten Erdgeist‘* 
geweiht blieb, ward mit Bezug auf den geistigsten aller Erdsäfte derselbe 
Aciuwv dya$es auch als Weingeist gedacht und das bacchische Fest der Er- 
öffnung des jungen Weins ihm gewidmet(??). So ist es denn keineswegs 
unwahrscheinlich, dafs, wie man vermuthet hat, dieser Erdgeist aufser dem 
ihm ursprünglich entsprechenden chthonischen Schlangensymbol auch einen, 
der quellenden Naturfülle und dem Erdsegen im Wein entnommenen, bild- 
lichen Ausdruck fand, nämlich das vollbärtige Antlitz des Akraros-SıLE- 
nos(3). Dieses bacchische Bild des Erdgeistes durfte aber auch eines 
cerealischen Beiwerks nicht ermangeln: der Frucht- und Aehrensegen, aus 
dessen Fülle sich die dämonische Erdschlange zu erheben pflegt(°!), ward in 


ein Füllborn gesammelt, als natürlichstes Attribut jenes quellenden zugleich 


ke) 
und sprossenden, aber auch reichen zugleich und unheimlich finsteren, dem 
Pluton(3?) nicht weniger als dem Plutos entsprechenden Dämons. Ein 
solcher mit seiner Erdmacht verknüpfter Doppelsinn dieses Erdgeistes brachte 
im euphemistischen Fortgang griechischer Religion und Kunst es mit sich, 
dafs seine vollbärtige Bildung in gefällige Jünglingsgestalt überging, und 
diese Jünglingsgestalt mit dem Füllhorn ist es, welche nicht nur den vor- 
zugsweise cerealischen Dämonen, dem Plutos, Eleusis, Bonus Eventus, 
gleich ihnen den Dioskuren, mehr oder weniger zusteht, sondern in alexan- 
drinischer und römischer Zeit mit oder ohne Begleitung der Schlange den 
anerkanntesten Typus des Agathodämon abgibt (°°). 

Sehr vereinzelt, aber vollgültig ist das im böotischen Trophonios- 
dienst von Lebadea uns erhaltene Zeugnifs, dafs der bis hieher erörterte 
„gute“ Erdgeist, Auiuwv dayaSes, nach dortigen Kultusbegriffen mit einer 
„guten“ Glücksgöttin, AyaSıy Tuyn(*) oder Bons Fortuna (°), zu- 
sammengestellt war. Diese Göttin ist ohne den Erdgeist auch anderweitig 
bekannt: in attischen Rednern war ein ihr errichteter Tempel erwähnt(°°), 
und häufiger findet sie sich in ansehnlicher Götterverbindung, ideellen Gott- 
heiten wie Themis und Nemesis (*) gleichgestellt oder mit ihnen verwech- 
selt, aber auch mit so kosmischen und materiellen wie Aphrodite und Pan(‘), 
ferner mit Leto und Hekate(“), mit Zeus(*), Apoll(“) und den Unterwelts- 


über Agathodämon und Bona Dea. 465 


mächten, wird sie verbunden und pflegt als Schutzgöttin der Städte (7), am 
Anfang von Volksbeschlüssen (°®), als Geburts- (%°) und als Todesgöttin (*°) 
_ auf Grabinschriften fast eben so häufig genannt zu werden als ihr dabei zu- 
gleich genannter Begleiter (*), der gute Erdgeist, am Schlufs von Sympo- 
sien begrüfst ward. Kenntlich ist diese mächtige Göttin nicht nur durch ihr 
Füllhorn (*°), durch Krone oder Schleier (“*), durch dienende Umgebung 
niederer Glücksgöttinnen (**), sondern zuweilen auch durch den Liebreiz 
in welchem Praxiteles sie der Kora ähnlich gezeigt haben mag und in wel- 
chem ihr statuarisches Prytanenbild zuweilen entflammend wirkte (*%). Eine 
so hohe und ausgebildete Geltung der sogenannten „guien Glücksgöttin ” 
läfst uns nicht zweifeln, dafs sie der dann und wann als Götterfortuna, 
Tuyn Sewv (*6), hochgestellten, aber auch dafs sie der schlechthin so genannten 
Glücksgöttin Tyche identisch sei, wo diese als Städtegründerin (*7) und als 
Pflegerin städtischer Schutzgottheiten, namentlich mystischer Glücks- und 
Rettungsgötter gedacht war. Es war dies der Fall in Aegira und Theben, 
wo Tyche einen Knaben Eros (**) oder Plutos (“), sie oder er mit Füllhorn 
versehen, im Arm trug; ein ähnliches Kind war als Säugling nach Elis ge- 
bracht, wo es in Kriegsgefahr zur Schlange gewandelt die Feinde scheuchte 
und als „Stadtretter” Sosipolis mit der olympischen Ilithyia verbunden Ge- 
genstand eines furchtbaren Dienstes geblieben war. (°°) 

Diese Zusammenstellung altgriechischer Gottheiten, welche bei man- 
cher Verschiedenheit ihrer Namen doch nur auf zwei mit einander ursprüng- 
lich verbundene Wesen zurückverweisen — einerseits auf Tyche als gute 
Glücksgöttin oder als Götterfortuna oder auch als Schöpfungsweberin Ili- 
thyia (°') bezeichnet, andrerseits auf jenen wohlthätigen Erdgeist, der bald 
ausschliefslich als „guter Dämon” bald auch als Reichthumsgeber Plutos oder 
als Stadtretter Sosipolis auftrat — wird, auch abgesehen von Göttervereinen 
der Kaiserzeit (Taf. I) durch nicht wenige ältere Spuren erfolgreich, aus 
denen jene Verbindung einer geheimnifsvollen Glücksgöttin mit ihrem tellu- 
rischen Dämon bestätigt wird. In dieser Beziehung ist längst bemerkt wor- 
den, dafs nach griechischer sowohl als italischer Auffassung alle göttlichen 
Pflegerinnen der meistens als „Rettung” (°?) bezeichneten Staatswohlfahrt 
die Dauer ihres Schutzes an ein Unterpfand und zwar an ein solches ge- 
knüpft hatten, wie es in Schlangengestalt als ursprünglicher Bildung des 

Philos.-histor. Kl. 1847. Non 


466 GERHARD 


„guten Erdgeistes” uns kund ward. Beispiele zum Beweis dieses Satzes 
bieten die attische Pallas, die eleusinische Demeter, die lanuvinische Juno 
in ihren Burg-und Tempelschlangen uns dar; sie gewähren uns allbe- 
kannte Zeugnisse eines vermuthlich nicht minder allgemeinen als uralten und 
auch Seitens männlicher Gottheiten bezeugten Schlangendienstes (°°), wel- 
cher, nachdem er für Dasein und Dauer pelasgischer Städte den Grund ge- 
legt, die symbolische Schlange zum Bild alles örtlichen Heils und Segens 
und neben der Stadt-und Heilgöttin Athene, der die Burgschlange zur 
Seite stand (°*), allmählich, von Ortsbestimmungen entblöfst, auch eine be- 
sondere Gesundheitsgöttin Hygiea (°°) als ähnliche Schlangenpflegerin aus- 
bilden half. 

Gruppirungen solcher Art sind es, aus deren ansehnlicher Geltung 
auch die Verbindung einer als Schöpfungsgöttin gedachten Tyche mit einem 
Erdgeist, den wir gemeinhin als Schlange zu denken haben (°%), sich er- 
klärt. Aber nicht blofs dem schlangengestalten Aajuwv ayaSss ist jene Tyche 
beigesellt; auch in seinen sonstigen Bildungen ist jener Dämon neben ihr 
nachzuweisen. Dafs es selbst in verfeinerter menschlicher Bildung, in Jüng- 
lingsgestalt geschah, ist durch die praxitelische Gruppe uns bezeugt, in 
welcher der wohlbekannte cerealische Bonus Eventus mit Bona Fortuna ver- 
bunden war (°’); aber auch die andren seltsamen und rein dämonischen Bil- 
dungsweisen desselben Erdgeistes und Reichthumsgebers finden in gleicher 
Verbindung sich vor. Es ist Panofka’s Verdienst, die sileneske Bildung 
desselben in verschiedenen Gruppen (Taf. III) erkannt zu haben, deren frü- 
here Deutung auf Plutos und Kora dadurch mehr bestätigt als bestritten 
wird (°%); aber auch eine andre nicht minder derb sinnliche Bildungsweise 
entspricht eben jenem Dämon, diejenige nämlich, die in einfacher Phal- 
lusform die Zeugungskraft der Natur neben einer grofsen Natur-und Schick- 
salsgöttin Tyche anschaulich machte und wegen ihres Bezugs zu dieser letz- 
teren auch als Tychon benannt ward (°°). Endlich ist, mythisch verkleidet, 
aber darum nicht minder kenntlich, dieselbe Gruppe in der Notiz einer rö- 
mischen Fortuna uns erhalten, der in tiefer Verhüllung angeblich Servius 
Tullius zur Seite stand (°°). Und so bekundet der bald als Schlange bald 
als Silen von uns nachgewiesene „gute” Erdgeist im Übergange zur Phallus- 
gestalt auch dem Phallusidol sich gleich, dessen uralte Verehrung, im sa- 


über dgathodämon und Bona Dea. 467 


mothrakischen Hermes sowohl als auch im Apollo Agyieus, eben so füg- 
lich für eine der Kultusformen jenes pelasgischen Agathodämons gelten darf. 

Noch andere Bildungsweisen dieser dämonischen Göttergruppe liegen 
ebenfalls nahe, müssen aber dem Aaiuwv @ya$os erst durch seine jetzt ein- 
verstandne Verbindung mit’Aya9A Tuyn zuerkannt werden. Wenn jener Erd- 
geist im jugendlichen Bonus Eventus sich uns kund gab, so kann es wenig 
Schwierigkeiten haben, seine wandelbare Naturkraft, wie dort aus bärtiger 
Silensgestalt zujugendlicher, so auch aus jugendlicher zur Knabenbildung (*') 
umgewandelt zu erblicken: ein Übergang, welcher in den bereits oben be- 
rührten Fällen einer mit Eros, Plutos oder Sosipolis verbundenen Nithyia 
oder Tyche seine vollgültigen Zeugnisse findet. 

Unter so vielen versteckten Namen und Bildungen also gibt jener 
gute Erdgeist sich kund, dessen griechische Benennung gemeinhin nur auf 
ägyptische Vorstellungen angewandt wird. Will man mit bekannteren grie- 
chischen Gottheiten ihn vergleichen, so kommt Pausanias uns zu Hülfe, wel- 
cher das obengedachte dämonische Knäblein im Arm der Tyche als Eros be- 
zeichnet; noch füglicher aber ist unser Aaiuwv ayaSos mit Hermes ver- 
gleichbar, welcher theils seinem Begriffe nach, als fruchtbarer und spen- 
dender, doch auch einschläfernder Erdgeist (°?), theils auch in gleicher Zu- 
eignung des Schlangen - und Phallussymbols dem „guten Erdgeist” von dem 
wir reden ganz gleichbedeutend erscheint. Diese Verwandtschaft ist durch- 
greifend genug um aus attischen Stammtafeln den Hermes als Vater des guten 
Erdgeistes nachzuweisen, nämlich im Heros Eleusis (°), welcher dem Bonus 
Eventus gleichkommt; wie aber der Aaiuwv @ya9ss nie zum Umfang des 
Hermesbegriffes gelangt erscheint, so lälst auch umgekehrt sich behaupten 
dafs dieser letztere die Eigenthümlichkeit jenes von ihm dann und wann 
vertretenen Dämons nicht leicht erschöpfte. Heil - und Unheilschlangen — 
die des Apollo, Kadmos, Tason sind beides — haben als Ortsbesitzer gleichen 
Anspruch auf Heroendienst (°*) wie auch Ortsgenien italischer Sitte ihn ha- 
ben, und selbst die älteste Hermesgestalt, in Viereck und Phallus erkennbar, 
darf schwerlich für älter gelten als jenes der ältesten Städtegründung anhaf- 
tende Religionssymbol, (6°) dessen Verhältnifs zu Griechenlands anerkann- 
testen Kultusformen nun weiter in Frage kommt. 

Zu schärferer Bestimmung dieses Verhältnisses blicken wir auf die 


schon berührte Götterverbindung einer Natur- und Schicksals- 
Nnn? 


468 GERHARD 


göttin (°°) mit dem ihr scheinbar untergeordneten, zugleich aber mütter- 
lich von ihr gepflegten Erdgeist zurück. Wir hatten kein Bedenken, in 
den von Sosipolis, Eros und Plutos in Schlangen - oder Kindesgestalt be- 
gleiteten Göttinnen Tyche und llithyia dieselbe ’AyaSn Tuyn zu erkennen, 
die im Trophoniosdienst mit dem Aciuwv @ya9ös verbunden war; aber wir 
durften auch nicht in Abrede stellen, dafs die mancherlei als Pallas, Deme- 
ter und sonst benannten Stadtgöttinnen höchster und ältester Geltung, sofern 
ihre Obhut dem als Schlange oder als Kind gedachten Ortsdämon verknüpft 
ist, eben denselben Typus einer ganz ähnlichen und gleichgeltenden Göt- 
terverbindung enthalten. Hinaufreichend in jene Vorzeit griechischer Göt- 
terbildnerei, in welcher die Einfachheit pelasgischer Göttersteine der Unter- 
scheidung späterer Götternamen noch keinen Raum gab, führen jene und 
andre verwandte Göttergruppen und Göttergestalten auf den ursprünglichen 
Kultus nicht eines Götterpaars, sondern einer einzigen GÖTTERNUTTER ZU- 
rück, welche den beseelenden Dämon des Ortes, das Unterpfand aller 
Städte- und Völkerglücks, in bedeutsamer Schlangen- und Phallusgestalt 
bei sich hegte. Nach dem bekanntesten Ursitz pelasgischer Kulte, nach Do- 
dona, weist jene Göttermutter nicht hin, da weder der überwiegende Dienst 
einer weiblichen Göttin noch auch Phallus- und Schlangensymbol von dort- 
her ausdrücklich bezeugt sind (°7); wohl aber zeigt sie unleugbare Ähnlich- 
keit mit der mannigfach benannten und gestalteten Göttin dardanischer 
Religion, deren berühmteste Göttersitze — Samothrake, Chryse, Latium — 
bald Phallus- bald Schlangendienst zeigen, und im samothrakischen Götter- 
trabanten Kadmilos auch eine Bildung enthalten, in welcher der Phallus-und 
Schlangenfetisch zum anthropomorphischen Götterdämon geworden war. 
Dem gedachten samothrakischen Göttersystem, welches nach Zeug- 
nissen aus der Alexandriner Zeit vier Personen umfassen sollte (°°), kann die 
mythologische Kritik aus dem Grund nur bedenklich folgen, weil in seinem 
künstlichen Aufbau, der an und für sich mit der Einfachheit ältester Zeit in 
Widerspruch steht, manche andre dardanische Gottheit und namentlich auch 
das göttliche Brüderpaar vermifst wird, das in dardanischer Mitte kaum 
fehlen durfte (°®). Um so sicherer ist es, die wirklich vorhandenen Götter- 
gestalten des heiligen Eilands in Münztypen des benachbarten Sestos zu er- 
kennen, in welchen, dem oft erwähnten frivolen Mythos von Hermes und 


über Agathodämon und Bona Dea. 469 


Brimo entsprechend, eine sitzende cerealische Göttin mit daneben stehen- 
dem ithyphallischem Hermes den hieratischen Namen von Axiokersos und 
Kadmilos gleichgeltend sind. (7°) Zu dieser Gruppe hatten die tyrrhenischen 
Pelasger die Göttermutter gesteigert, die auch als kekropische Burggöltin ein 
ähnliches Beiwerk von ihnen erhielt (?!); andrerseits genügte statt dessen ein 
einfacher Phallus, wie denn als ganz ähnliche weibliche Gottheit, vom phal- 
lischen Terminus begleitet, auch die kapitolinische Juventas sich wiederer- 
kennen läfst (7°). In übereinstimmender Weise wie dort der derb sinnliche Phal- 
lus oder derihm erwachsene Phallusgott, ist der Nährgöttin anderwärts als ihr 
zugehöriges Sinnbild geheimen Triebes die bald offen sichtliche bald in der 
Cista verschlossene Schlange oder auch eine derselben entsprechende mythi- 
sche Person beigesellt. So ist das übliche Schlangenkästchen an Demeters 
Seite im attischen Mythos von Erichthonios zugleich zur Wiege des Stamm- 
herrn geworden (’?): ein Übergang vom Schlangensymbol zur Kindesgestalt(?*), 
dem Mythos des eleischen Sosipolis und schlangengestalter Rettungsgötter 
entsprechend, wie als Vater des Zagreus Zeus selbst einer war. 

Im Zusammenhang solcher Erörterungen steht nun nicht blofs der auf 
Phallus und Schlange beruhende pelasgische Typus eines dem Hermes selb- 
ständig vergleichbaren Erdgeistes fest, der als Göttertrabant die Schöpfungs- 
mutter begleitet, sondern es wird der dardanisch -samothrakische Mittel- 
punkt altgriechischer Kulte, aus denen jene Götterverbindung so mannigfach 
bezeugt ist, uns auch zum leitenden Führer für die Erkenntnifs und Wür- 
digung entsprechender über Griechenland und Italien weitverbreiteter Göt- 
terwesen verwandter Idee und Verbindung. Mit einer im Gebiete der My- 
thologie nur selten gestatteten Zuversicht können wir jetzt die Reihe weib- 
licher Gottheiten überschauen, denen ein ähnlicher Götterdämon in gleicher 
dardanischer Form beigesellt ist. Wenn einerseits aus idäischen, Iydischen, 
phrygischen Kulten die Göttermutter mit ihrem Liebling (?°) auf die 
dardanische Kulte eingewirkt haben und Aphroditens Bezug zu Aeneas, As- 
kanios, Adonis davon betheiligt sein mag, so ist andrerseits ein ganz ähn- 
licher Göttertypus auch in den Kulten nicht zu verkennen, in denen Demeter 
mit Hermes, Iasion, Plutos, Taechos, Athene mit Hermes, Apollo, Erech- 
theus, andre Göttinnen mit ähnlichem Beistand und Beiwerk die Schöpfung 
ordnen. Wie diese Göttinnen bald Schlangen und Schlangenkästchen, bald 


470 GERHARD 


Zeugungs-Licht-und Segenssymbole, an und für sich oder zu Dämonen 
gesteigert, zur Seite haben, (7°) ist Hygiea’s Begleiter Telesphoros als Zwerg- 
gestalt einem Phallus entwachsen nachweislich (77); in ähnlicher Beglei- 
tung eines phallischen Tychon ward Tyche schon oben erwähnt, und ähnli- 
che Göttervereine finden, aus gleicher pelasgischer Wurzel, auch in Italiens 
Religionen sich vor. Hier überrascht es zuvörderst, den dämonischen Wun- 
derknaben, ganz wie der eleische Sosipolis es ahnden läfst, als Ausdruck des 
höchsten Gottes entschieden benannt zu finden: bald sind Juppiter und Juno 
Fortuna - Primigenia’s Säuglinge gewesen bald ist dieser letzteren ein mysti- 
scher Juppiter arcanus beigesellt (°°). Häufiger zwar bleibt dort die ältere 
Gestalt solcher Dämonen: im Kultus der Juno Sospita und im allverbreiteten 
Ortsgenius ist die Heiligkeit des Schlangensymbols seit ältester Zeit begrün- 
det, eben so neben Juventas, die als Erdgöttin des Kapitols der Juno voran- 
ging, das Phallussymbol des Grenzgottes Terminus. Ohne Zweifel dersel- 
ben uralten Symbolik gehört der uralte, unzugängliche und unaussprechliche, 
Genius Roms an, dessen bunt durch einander spielende Deutungen — auf 
Mann und Frau, Juppiter, Luna, Ops, Angerona (7?) — im Schlangenbild 
andrer Ortsgenien und in dessen üblicher Hüterin eine leichte Erklärung fin- 
den. Und als Schlangendämon mag endlich wol auch der etruskische Genius 
Jovialis (°°), als Schlangenpaar den Seeis erıdwraus vergleichbar die Grabesgott- 
heit der Manen zu denken sein, deren allverbreiteter römischer Name (®!) 
nichts andres als „gute Götter” bedeuten sollte. 

Zum Schlufs dieser Untersuchungen ist aber auch eine Göttin noch 
zu erwähnen, deren gangbarster Name sie als Gurz Görrın bezeichnet. 
Diese vom Zusammenhang griechischen Götterwesens bisher fast ausgeschlos- 
sene (3?) Göttin ist, weit entfernt blofs italischen Ursprungs zu sein, der älte- 
sten weiblichen Göttergestalt Griechenlands, in welcher Demeter und Hera, 
Tyche und Eileithyia zusammenfallen, durchaus ebenbürtig. Ihr bisher ver- 
milster griechischer Name (®°) ist in der ausführlich von uns besprochenen 
Bona Fortuna oder ’AyaSy Tyxn bereits gefunden. Ganz wie bei dieser sind 
die pelasgischen Natursymbole, Phallus und Schlange, auch bei Bona Dra 
leicht nachzuweisen. Ersteres ist bereits geschehen, sofern die derbe Ge- 
schlechtssymbolik cerealischer Thesmophorien auch in den Gebräuchen 
der Bona Dea, wie auch in denen der pränestinischen Fortuna Primigenia 


über Agathodämon und Bona Dea. 474 


sich fand (%*), und dafs eine gleichfalls ganz ähnliche italische Gottheit, 
die Dea Dia (%), in ähnlicher Weise verehrt ward, ist aus dem Verhältnifs 
abzunehmen in welchem dieselbe gleich der Proserpina zum brünstigen Her- 
mes stand. Weniger anerkannt, aber nicht weniger entschieden ist die Gel- 
tung des Schlangensymbols im Mythos der Bona Dea, deren mystische Ehe 
mit Faunus durch gleiche Verwandlung erfolgt war wie Zeus als mystischer 
Gemahl Kora’s sie geübt haben sollte (°°); die Geburt eines mystischen Jup- 
piter, vermuthlich des Vejovis (7), wird aus sonstigen Gründen ihr beigelegt 
und erhält durch Vergleichung des Bona-Dea-Dienstes mit dem mystischen 
Fortunendienst von Präneste höhere Wahrscheinlichkeit. Wie nun solcher- 
gestalt Bona Dea bald an die mütterliche Demeter, bald an die vom Schlan- 
genzeus bewältigte jungfräuliche Kora als an die in griechischem Götyerwesen 
ihr ähnlichsten Göttergestalten erinnert, gehört ihr über allen cerealischen 
Kultus und Mythos weit verbreitetesSchlangensymbol mit gleichem mysti- 
schem Zwielicht auch den männlichen Gottheiten Altgriechenlands (®°), denen 
es bald freundlich bald feindlich, bald als überwundene Schranke der Schöp- 
fung, bald aber auch als eine zum Ausdruck der Gottheit gereichende Na- 
turkraft zur Seite stand. Nicht nur der orphische Zeus der Zagreussage er- 
scheint in solcher Schlangengestalt; auch andere Götter, die vorzugsweise 
dem Volksglauben angehören, Hermes sowohl als Asklepios, wurden in glei- 
cher Thiergestalt von uns nachgewiesen (*°). Häufiger freilich ist das Schlan- 
gensymbol nicht mehr ein Bild des Gottes, sondern nur Beiwerk desselben: 
an Apolls Dreifufs, am Schlangenstabe des Hermes und neben dem Hammer 
des Hephästos (*°) diente es die Gewalt dieser Götter über alle geheimste 
Erdkraft anschaulich zu machen, die, erst besiegt und getödtet, zum Dienste 
des Gottes sich neu verjüngt, wie nach dem Tode des Python der schlan- 
genumwundne delphische Dreifufs am augenfälligsten es bezeugt. Ebenda- 
selbst, aber häufig auch sonst, bei Penaten und Laren sowohl als in apolli- 
nischen Heiligthümern, gibt mit gleicher Schlangenumwindung jenes Halb- 
rund sich zu erkennen, welches als uraltes Abbild des Himmelsgewölbes 
neben Phallus und Schlange verehrt werden mochte und nicht nur im Erd- 
nabel Delphi’s und den ihm ähnlichen Heiligthümern erkannt (*'), sondern 
auch auf den leuchtenden Häuptern der Dioskuren, zwei Hemisphären dar- 
stellend, ebenfalls in der Nähe von Schlangen bemerkt wird (**). Wie in die- 


472 GERHARD 


sem Falle der unorganische Stein durch bedeutsame Form zum Ausdruck 
lebendiger Schutzgötter diente, zeigt sich der oben zur Seite der Götter- 
mutter bemerkte Übergang von Phallus und Schlange zur bildungsfähigsten 
Kindsgestalt auch bei den vornehmsten männlichen Gottheiten der helleni- 
schen Welt. Euamerion (3) bei Asklepios, aber vielleicht auch Ganymedes 
bei Zeus, bei Apoll Hyakinthos, bei andren Göttern vielleicht noch andere 
Götterlieblinge mögen auf ähnlicher mythischer Ausführung eines und des 
andern, derb sinnlichen oder thierischen Göttersymbols altpelasgischer An- 
schauungsweise beruhen. 


ANMERKUNGEN. 


(1) FEINDLICHE SCHLANGEN. Indischer, mexikanischer, nordischer (Grimm deutsche 
Myth. S. 649. Panzer Beitr. d. Myth. S.345) Beispiele zu geschweigen, ist die persische 
Schlange des Ahriman aus dem Zend-Avesta (Creuzer Symb. I, 223 N.A. Des Mithras dop- 
pelfüfsiger Feind: Lajard Nouv. Ann. I, 478ff. Ann. d. Inst. XIII, 191. Mithrasschlange 
die Ahrimansschlange bekämpfend: Nouv. Ann. II, 80 ss. pl. VD), die babylonische des 
Belustempels aus Diodor I, 9 und dem Buch Daniel (zu cap. 14 dgazwv neyes), die jüdi- 
sche aus der Apokalypse (cap. 12 ödbıs agy,aios. Movers Phönic.I, S. 390 £.), die typhoni- 
sche aus phönicischer Sage (Movers I, 504-522ff.) und aus ägyptischer Bildnerei (Apophis: 
Wilkinson Egypt. Manners V p.243 pl. 42. Lepsius Todtenbuch Kap. 39. S. XVII. Röth Zoro- 
astr. Glaubenslehre Anm. 193) bekannt. Feindlich ist die Schlange auch in griechischen 
Mythen des rettenden (Thespiä: Paus. IX,26,5. Vgl. Adler und Schlange Anm. 19. Löwe auf 
Schlange M. von Phistelia: Carelli tav. 63) und des unterirdischen Zeus (Orph. Arg. 931), 
des Herakles, Kadmos, Archemoros und sonstiger Helden (Anm. 64); auch gilt sie, sei es 
als Lufterscheinung (Mon. d. Inst. 1,7. Gerhard Ann. V, 349. Auserl. Vas. 11,86. S.22,11), 
sei es in schlangenschwänziger Hunds - (Cerberus ebd. S. 154f.) oder Rolsbildung (M. von 
Nikäa: Klausen Aen. 1,129. Taf. I, 8. Vgl. Schlange auf Rofs Anm. 21) oder auch drei- 
köptig (Schlange am delphischen Dreifufs: Herod. IX, 81. Amalth. I, 123f.), oder in dämoni- 
scher Fessel der Unterweltsmächte (Aloaden: ad columnam serpentibus deligati, Hyg. fab. 28), 
oder in cerealischem (Pferdekopf Paus. VIII, 42, 3) und gorgonischem (wegen Tempeltluchs: 


über Agathodämon und Bona Dea. 4783 


Ovid. Met. IV, 795. Bötticher Hell. T. S. 88) Schlangenhaar zu allgemeinem Ausdruck des 
Schreckens: eine durch Furiensitte und selbst durch priesterliche Anwendung schreckender 
Schlangen, namentlich aus Etrurien (Liv. IV, 33. VII, 17. Mon. d. Inst. II, 5. Vgl. auch das 
Grab der Volumnier und Dennis Etr. I, 221. 310, 5) bestätigte Bedeutung, durch welche das 
bis ins Mittelalter (Anm. 5) herabreichende Waffenemblem der Schlange (Mon. d. Inst. I, 22. 
Vgl. Paus. X, 26, 1) selbst ohne den anderweitig (Anm. 21) bekannten Bezug auf Autoch- 
thonie allzeit verständlich ist. 

(2) SCHLANGENBAUM UND SCHLANGENSTAB. Um einen Baum gewunden ist die 
Schlange Paradises-und Hesperidenwächter, in griechischer Bildnerei (Müller Archäol. 431, 2 
auch Grabeshüter, mit behaglicher Gaukelei (Mus. Borb. IX, 49 „‚pastore e tirso”. Münz- 
typen von Etenna Pell. II, 74, 2. 3, ungenau bei Eckhel D. N. IH, 11 erwähnt. Vgl. die 
Druidenkünste bei Plin. XXIX, 12 und Böttiger Kl. Schr. I, 101. Schlange durchs Trink- 
geräth schlüpfend: Senec. de ira II, 31. Virg. Aen. V, 91) um ein Stäbchen geschlungen 
ein heilkräftliges Symbol: dieses in der ehernen Schlange der Israeliten (Num. 21, 5. 2 Reg. 
48, 4) sowohl als im Hermes-und Asklepiosstab (Macrob. I, 19. Preller Hermesstab, im 
Philologus, S. 521), welcher letztere auch als schlangenumwundenes Scepter erscheint 
(Panofka Asklep. I, 10). Beides verbunden darf auf einer Münze von Gythion (ebd. II, 5: 
neben dem Schlangenstab des Asklepios noch ein Schlangenstamm) erkannt werden, ohne 
dafs letzterer für ein Puteal zu halten wäre. 

(3) ZAUME SCHLANGE. Von allen bei Aelian (H. A. II, 5.7. IV, 31. X, 31), Pli- 
nius VIII, 35 und Solinus cap. 27 erwähnten Schlangenarten ist als zahm und geheiligt zu- 
gleich nur diejenige anerkannt, die in der ägyptischen Benennung (a) Uraeus (d.i. Ba- 
grie- 
chischen &sz:s oder ragsıcs (Anm. 24) verstanden wird. Vom Uraeus unterscheidet Wil- 


siırz0s Zoega num. aeg. p. 400. Creuzer Symb. II, 225 ff. 256 N. A.) und in der 


kinson (Eg. Mann. V, 235 ff.) noch eine Hausschlange und den gehörnten zes«rrys (Anm. 4); 
lediglich dieser letztere ist auch in ägyptischer Bildnerei und Bilderschrift noch aulser dem 
Uraeus zu finden (Leemans zu Horap. p. 121 tab. 1, 6-24), während selbst die von Herodot 
II, 75 erwähnten geflügelten Schlangen darin fehlen. Allbekannt ist die bildliche Anwen- 
dung jener geheiligten Schlange, theils als bauliche Verzierung hauptsächlich von Tempelfron- 
ten (Zoega obel. p. 430. Guign. Relig. CXVII, 189), in Verbindung mit Sonnenscheibe oder 
Perseablume, wie auch mit Geierflügeln (Hor-Hat, Horus von Edfu: Wilk. pl. 28, 1.77,1), 
oder als Gefälshenkel (Zoega. num. aeg. X,1. Neben Harpokrates Mus. Borb. IX, 2), theils 
in einfacher (Guign. no. 135) oder künstlich verschlungener (Guign. no. 184. 186a) An- 
wendung als königlicher Stirnschmuck, (Aelian. H. A. VI, 18: em: rav Öadruarwv dsmi- 
ö«s. Dennis Etr. I p. 311), der ursprünglich für Gottheiten gilt (Osiris: Guigniaut no. 
484. Isis ebd. 138. 140. 148 Joh-Lunus 150. Val. Flacc. IV, 353: aspide cincta comas. Isis eine 
Schlange haltend bei Io’s Ankunft Mus. Borb. X, 2). Ebenfalls auf Isis als erzürnte Göttin, 
vielleicht der schlangenköpfigen Göttin Rennu (Wilk. Mann. pl. 58, 4) entsprechend, mag 
ohne wesentliche Verschiedenheit vom Uraeus die angeblich giftige Schlange Trermutkis (Ael. 
H.A.X,31. Jablonski Panth. I, 118 f.) zu deuten sein, in deren Namen Röth (Aegypt. und 
Zoroastr. Glaub. S. 170) und nun auch Lepsius (Einleitung zur äg. Chronol. S. 140) nur eine 
Ausführung des mit Isis gleichgeltenden Mutternamens Muth erkennen. Mehrere Uräen fin- 


Philos. - histor. Kl. 1847. Oo0o 


474 GERHARD 


den sich gehäuft im festlichen Kopfschmuck eines Fahnenträgers (Wilk. pl. 80). Eigen- 
thümlich ist die Paarung zweier mit dem Pschend bekrönter Uräen aus Eilethyia (Wilk. pl. 
52, 3. 4. Vgl. 53, 1). — Nicht minder ist denn auch (6) in der griechisch-italischen Welt 
die Unschädlichkeit sowohl [Paus. IX, 28, I, 4; ihrer viele am Helikon. Paus. II, 28, 1: äsku- 
lapische gelbliche Gattung, rg&ps: BE non bäs % rav "Eridavgiow ya. Plin. XXIX, 4: 
Hausschlange, vulgo pascitur et in domibus. Serv. Georg. II, 417: gaudet tectis ut sunt 
ayaSoı Öwinoves quos Latini Genios vocant. Haus-und Zeltschlange, fünf Ellen lang, die 
der lokrische Aias gleich einem Hund mit sich führte (Philostr. Her. 706); auch Heraclides 
Ponticus schlief mit einer Schlange (Diog. L. V, 87. Suid. “Ho«zrsiörs). Bekannt aus Lucian 
Alex. 18ff. und aus Münzen (Eckhel D. N. III, 383. Ann. d. Inst. XII, 217 £. tav. P, 10 ist 
auch die Zauberschlange des bithynischen Glykon und sonstiger, zum Theil bacchischer 
Schlangenumgang z. B. der makedonischen Olympias (Anm. 27). — Bergschlangen kennt 
Aelian H. A. VI, 36: Eonınav mo0 rov arryurDv dtarai@ew. Vgl. Pitt. d’Ere. I, 38 not. 27 zu Genio 
huius loci montis] als die Heilkraft und Heiligkeit ähnlicher Schlangen oder Vipern (Virg. 
Georg. III, 417) bezeugt. 

(4) ÄsYPTIscHER SCHLANGENDIENST: hauptsächlich aus späteren Isisgebräuchen (Tab. 
Isiaca. Vgl. Böttiger Kl. Schr. III, 264) bekannt, aber auch aus altthebanischem Ammons- 
dienste bezeugt. Herodot II, 74: eisı de megı O4ßas igoı odıes, avIowmun cudauns ÖrAyun- 
ve" 0 Meyaler Eovres Mizgor Övo Heer ogzousı, mebvzor« eE arens 775 AEbarns. FOUS EmO- 
Saveıras Samrousı Zu 70) iou Tau Aros: FoUrou yap odews roÜ Seo0 dbavı eivar igous. Als 
Ammonisches Symbol wird die Schlange auch in der spätgriechischen Sage (Anth. Palat. 
IX, 241. Vgl. Alexander € Ögarovros 7 "Anisuvos Anm. 20) betrachtet, bei Thierverwand- 
lungen der Götter sei Ammon zur Schlange geworden. Die Schlangenbestattung, der 
Plutarch Isid. p.349 widerspricht, wird durch noch vorhandene Mumien (Wilk. V, 100. 242) 
bestätigt, dagegen die Heilighaltung der gehörnten Schlange (zeoasr7s Wilk. pl. 76. Pho- 
netisch f) lediglich auf Herodots obiger und gemeinhin (Wilk. V, 245) befolgter Autorität 
beruht, der doch nur von unschädlichen Schlangen spricht, während, wie bereits Böttiger 
Amalth. II, 189 nach Plin. VIII, 35. Paus. VIII, 4, 4 bemerkte, die zeg&rre: giftig sind. Dafs 
die Aegyptier auch schädliche Schlangen verehrt hätten ist zwar nicht unglaublich, 
aber dem Herodot widersprechend und sonst unerwiesen (Thermuthis? Anm. 3a), man 
mülste denn in dem auch sonst (Anm. 7) unrichtigen Artikel des Horapollo I, 1 auf die 
Behauptung Gewicht legen wollen, von drei vorhandenen Schlangenarten sei diejenige hei- 
lig gehalten, als Lebens und Todes Gebieter angebetet worden, deren Vergiftung ohne 
Bifs schon durch blolsen Hauch erfolgt. 

(5) AsAruopämon. Von der Schlange sagt Sanchuniathon bei Eusebius (Praep. I, 10): 
Borwızes aure (70 wor) . . AyaSov Ömimove zaAovew. öMorws de zur Aiyymrıo Kund Erovonnd- 
doust. rov de nerov obw ... (Anm. 7). Derselbe Name Agathodämon wird ferner als Königs- 
name dem „Schlangenwesen” Ophion gleichgesetzt (Anm. 7), aber auch dem Nilstrom ver- 
möge der Göttlichkeit, in welcher dieser dem Zeus und Ammon gleichsteht (Röth Anm. 
S. 125). Als Agathodämon soll Nilus den Hermes erzeugt haben der bei Manetho (Syncell. 
p- 40) ’AyaSod Öwtnovos vios, bei Cicero aber des Nilus Sohn heifst; es wird daher nach 
Ptolemäus IV, 5 auch ein besonders fruchtbarer Arm des Nil Agathodämon genannt (Ja- 


über dgathodämon und Bona Dea. 475 


blonski Panth. I, 98. III, 148) und gemäls der Analogie mit Ophion und Schlangenbildung 
auch in der mächtigen Schlange erkannt, auf welche die mit Emblemen gehäufte Sphinx 
einer hadrianischen Münze (Eckhel Syll. VI, 15 p. 70. Guign. LII, 172b) als Sinnbild Ägyp- 
tenlands aufruht. Im Übrigen ist die Schlangenbildung des Agathodimon auch aus Kai- 
sermünzen — Römische mit veo(s?) «y«S(o) day (wv) Zoega num. aeg. tab. II, 9. X. 
Guigniaut LII, 180b. Sabatier Iconogr. Imp. XI, 20. Eckhel D. N. IV, 135 —, aus Servius 
(eyaSar Öcinovss: oben Anm. 3), aus Lampridius (Elagab. 28: 4egyptios dracunculos Romae 
habuit, quos illi Agathodaemonas vocant) und noch aus dem Mittelalter bezeugt, wenn anders 
das durch Jacob Grimm mir bekannte Wunderthier Ecidemon an Schild und Helm heid- 
nischer Kämpfer am natürlichsten dem an gleicher Stelle im Alterthum üblichen Schlan- 
genbild (Anm. 1) und dem ganz ähnlich lautenden Agathodämon gleichgesetzt wird (*). 
Vgl. Zoega obelisc. p. 430ss. Böttiger Amalthea II, 188. Creuzer Symb. II, 225 ff. 282 
N. A. Wilkinson Egypt. Manners IV, 238. Lajard Ann. d. Inst. XIII, 216. 

(6) KNEPHSCHLANGE. Euseb. |. c.: Bawızes de aurd (70 Cwov) "AyaSov Öamove zaAodsıw" 
Smorms de zur Alyumrıoı Korb Erovondgovsı. Plutarch Isid. cap. 21 p. 259= VII, 418 Rsk. ov 
zaroüsıw auror Kurıb ayevuyrov ovra zur aScverov. Vgl. Röth Aeg. u. Zor. Anm. 79. 106. Als 


(*) Mit Verweisung auf Benecke’s Wörterbuch I S. 409. Eine Zusammenstellung der dort nicht 
vollständigen Zeugnisse steht mir durch Wilhelm Grimm’s freundlichen Beistand zu Gebote und wird 
an dieser Stelle willkommen sein. Demnach ist ‚, Zceidemön ein thier, das der heide Feirefiz (der schwarz- 
gefleckte sohn eines weilsen ritters und einer mohrenkönigin) auf dem helm trägt. giftiges gewürm 
(schlangen und drachen) stirbt, sobald es das thier riecht. Wolfram sagtertruog ouch durch prises 
lön üf dem helme ein Ecıpemonx: swelhe würm sint eiterhaft (giftig), von des selben 
tierlines kraft hänt si lebens decheine frist (können sie nicht länger leben), swenn ez 
von in ersmecket ist (wenn sie seinen geruch empfinden) Parzival 736, 9-14. dagegen wird 
es in einer früheren stelle 481, 11 neben Aspis und andern schlangen genannt, die gift bei sich 
tragen. schwertstreiche fallen auf den helm, Ecınemön dem tiere wart etslich wunde geschla- 
gen, ez moht der helm dar under klagen 739, 16 -18. Feirefiz hatte von der königin Se- 
ceundille, die er liebt, das thier als schildzeichen empfangen, durch der minne condwier Ecı- 
DEMOoN daz reine tier hetim ze wäpengegebnin der genäde er wolde lebn, diu küngin 
Secundille: diz wäpen was ir wille 741, 15-20. ich (Feirefiz) trage ein Ecınrmon üf 
dem schilde, als si mir geböt 768, 24. 25. in Wolframs Wilhelm 369, 26. 444, 8 führt auch 
ein anderer ritter das Zeidemön. in dem wartburger krieg wird von dem Ecidemön gesagt, es habe keine 
galle, Ezyvemon eintier din pflac, daz was gar sunder gallen Minnesänger bei Bodmer 2, 6b. 
darauf erwidert Eschenbach din engel istEzydemön 2, 7b. ein zauberer bindet die haut des thiers 
um, die dem gehirn kraft verleiht: eins Dezedemönes (l. Zzidemöns) hüt er umbe bant 2, 13h. 
der jüngere Titurel gewährt in folgenden stellen noch weitere auskunft, von Tasme ein pfelle 
(kostbarer stoff‘), darinne vertgebilde näch dem tiere Ecidemön: daz edel kosteriche 
gesmidet dar mit kunste, üf dem helme füert erz lebeliche, und istiedoch niht lebende: 
rich kunst dar an erzeiget, lebelichen vert ez strebende, sö daz von im üf 
richten und geneiget (l. geneigen) wirt gesehen in lebelichem wäne. 2959, 3. - 2960, 2. von 
dem thier wird die luft gereinigt, drizec künege stent begarwe, ..... die dines vanen varwe warten 
suln, dar inne daz edel kunder (das fremdartige geschöpf) Ecıpemon sö spilnde vertmit gufte (mit 
freudigkeit); diu werlt von ime gereinen (l. gereinet) wirt, wan die edeln kraft git ez 
dem lufte 3311, 2-4. 


0002 


476 GERHARD 


entsprechend wechselnde Namensformen desselben Gottes werden die hieroglyphischen’ Neö, 
Chneb, Nub, Num, die griechischen Änuphis (Strab. XV. 817 A), Xvoöß:s (Letronne Inscr. p. 
360) und Xvoüß«s (Ortsname bei Ptolemäus) angeführt (Röth Anm. 83); der Name Xvoüß:s der 
noch in gnostischen Gemmen (Matter Hist. du gnostie. II p. 32 .pl. IT A, 2. 3. 5. Vgl. Ip. 182.) 
der Schlange mit strahlendem Löwenkopf oder auch der kreisförmigen (ebd. no. 11) zur Seite 
steht, findet in griechischen Inschriften sich auch als Beiname des Ammon (Letronne p. 125. 
345. 360. Röth Anm. 83), während durch sonstige Combinationen (Röth Anm. 111) Kneph 
nicht nur dem Nil (Röth S. 124f.) sondern auch dem Pan (Champoll. Panth. pl. 3) gleichge- 
setzt wird. Diese Namen als dem Agathodämon gleichgeltend nachzuweisen, hat bereits 
Jablonski (Panth. I, 37) ein koptisches nuf „„bonus”, Röth aber (Anm. S. 62) neuerdings 
das hieroglyphische Hor nofre eines schlangenköpfigen Gottes (Wilk. pl. 68) beigebracht, 
zugleich mit Analogieen für die wechselnde Aspiration (Anm. S. 40). Hiebei ist jedoch 
nicht zu übergehen dafs Lepsius die obengedachten hieroglyphischen Belege des Namens 
Kneph für unzulänglich oder doch für so spät erachtet, dals dieser Name seiner Ansicht 
gemäls nur für ein spät aufgekommenes Prädikat des Widdergottes der südlichen Thebais 
(Wilk. IV, 237 p. 21) zu halten sei, ohne auf höhere und ältere Göttlichkeit Anspruch 
zu machen. 

(7) AGATHODÄMON ASIATISCH. Die bei Eusebius 1. c. in den Begriff des Agathodä- 
mon mit eingeschlossene und auch als ägyplisch bezeichnete Vorstellung der kreisförmig 
gewundenen Schlange (zöv ö& nerev oc euvezrizov vovrov, nämlich zoo zUrAou, "AyaSov 
darnove anaeivovrer), eine dem Kronos -und Janusbegriff verwandte phönieische (Macrob. I, 9) 
Vorstellung der Ewigkeit, die auch in der Form eines gekreuzten Theta (Jablonski Panth. 
I, 86. Movers I, 504. Röth Anm. 104), der altägyptischen Hieroglyphe für „„Land”, 
gesucht wird, findet in altägyptischen Denkmälern keine Bestätigung, wenn gleich Horapollo 
(1,1. 2), durch falsche Etymologie des Uraeus von oög« dazu verleitet sie anerkennt, und 
darf daher vielleicht für phönicisch, nebenher für chaldäisch und gnostisch (Xvoupes: Mat- 
ter Hist. du gnostieisme II pl. HA, 11) gehalten werden. Womit nicht geläugnet werden 
genwindung — Ma- 
erob. I, 17: draconis effigies flexuosurm iter sideris monstrat. Vgl. Lajard Ann. d. Inst. XII, 
202. Schlangenweg: ebd. 213. Mondlauf (wol gar im Gorgohaar: Ann. VI, 318. 324): Ann. 
d. Inst. XIV, 58. Zeitflufs: Uschold Vorhalle II, 15 — eine früh und mannigfach gehei- 
ligte Erscheinung sei: selbst aus celtischem Götterwesen (Gott Pryd: K. Meyer im Report 


soll dals die auf Sonnenweg und Zeitfluls gedeutete Schlan 


on Ethnology 1847 p. 304) wird sie bezeugt. Aus phönicischer Mitte, aus welcher auch 
eine Schlange als Votivrelief (Gozo: Nouv. Ann. I, p. 175.) bekannt ist, entspricht ferner 
jenem Symbol die aus Pherekydes (Euseb. I. c.) bekannte Urschlange Ophion oder Ophio- 
neus, zumal wenn es mit der manethonischen Notiz seine Richtigkeit hat, dafs Ophion und 
Agathodämon wechselnde Ausdrücke eines altägyptischen Königsnamens sind (Ideler Her- 
mapion App. p. 31. Röth Anm. S. 62. 124).— Ebenfalls von phönicischer Weisheit be- 
theiligt scheinen auch die überschwenglichen Deutungen zu sein, nach welchen der Uraeus 
nicht blofs königliches Symbol der Herrschaft (r«vrozgerwo Horap. I, 64), sondern auch 
Ausdruck des Weltgeistes ist (Wilk. IV, 2355. Bunsen Aegypt. I, 442f.) 


über Agathodämon und Bena Dea. 477 


(8) AAIMRN ATAOOS: wofür erst die römische Zeit, aber doch wol schon seit Nero 
(Anm. 5) mit vorangestelltem Adjectiv (Cornut. 27. Vgl. Serv. Georg. IIE, 417: ayaSoı 
Öxtuoves quos Latini Genios vocant. Lobeck Phrynich. p. 603) in zusammengezogener Form 
den Ausdruck Agathodämon brauchte. 

(9) ’AyaSoo SeoV veos: Paus. VIII, 36, 3. Wahrscheinlicher als auf Zeus läfst 
jener ’Aya@Sos Seos, dessen Gleichsetzung mit dem "Aya>os daruwv zunächst (Anm. 12) 
Athenaeus bezeugt, auf Pan oder Hermes sich deuten (Prodr. S.100), obwohl die Inschrift- 
formel Bono Deo Brontonti (ebd.) auch einen mystischen Zeus zuläfsig macht. Bezie- 
hung auf Unterweltsmächte wird, wie Panofka bemerkt (T. ©. S. 5, 13), auch durch das 
benachbarte Grabmal Aristodemos des Besten” (%27sr0s) nahe gelegt, und in der That 
haben Dionysos (Athen. II, 7: dxgerov, deryu@ Ts Övvansws roO ayaSov Teoü) und Hades 
minderen Anspruch auf jenen Beinamen als Zeus. Vgl. Anm. 15. 

(10) HERooN. Suid. v. ’AyaSod Ömmovos . . . zur &v Oyßzıs 8 nawov yv "AyaSod 
Öatuovos. Vgl. Anm. 64. 

(11) Manuessirte. Hesych. (Vgl. Suid.). ’AyaSod daimovos, mau To ner Oermvov, 
zgterov iwoWEvoV Mage "ASyvatoıs“ zar iv Ösuregev Hınzgar oUrWs Exarouv. Aristoph. Eq. 107: 
Fmovönv Added zur Fmeirov, "AyaSod datlovos. 

(12) ’AyaSos dalnuv und ZEUS SOTER. Diod. IV, 3: basıv em zWv Osirvav, 
örav @x00r0S oiwvos Emididwrar, mgogEmıA.EyEw ’AyaTod darmovos (daher auch sprichwörtlich 
od av ayaSo dcimove Paus. 1,5, 4), erav de mer +0 deimvov d1öwreı zerrgu1EvoG Üdarı, Aros 
swrhoos emuhwvei.... Nämlich des gemischten milden Regengottes im Gegensatz des berau- 
schenden reinen Bewältigers Akratos. Andeutung beider scheint ein kleines Gefäls des Hrn. 
Temple zu vereinigen, welches am Hals die Inschrift Aros surrgos, am Bauch aber eine von 
Panofka auf den ’AyaSos dam gedeutete Silensmaske zeigt (Arch. Z. N. F. II, 246); ent- 
sprechend ist das AyaS(ov Öam)ovos eines aus Akrä bekannten Gefälses (Ann. d.Inst. VII p. 
40), wie denn ’Ay«S3 datnove auch als Weihinschrift an Thürschwellen (eisodos Koaryre: Bött. 
Hellen. T. S. 92) bezeugt ist. Eben hieher gehören auch folgende Stellen. Athen. II, 7. 
38D: za: Seruov &Sero (Arovusos) mooscheger Sau ner® Fe Fire dsgeerov lagvov Erov yeucasSar, 
deiyınc 775 Övvausws FoU ayaSod SsoÜ, v0 ds Aoımov Ho zergaevov dmosov Erusros DovRsria 
maogemiAeyero de rouru 70 roü Auog Swrpoos Ovone. Hesych. v. ’AyaSodmmonsrei, 0: 
&rryororoövrss. Aelian. V. H. I, 20: "AyaSov darnovos Sidovres mgcmorw. Ausnahmsweise wird 
die Trinkordnung auch so angegeben, dals dem Becher auf Zeus Soter als drittem 
(Pind. Isthm. V, 10) einer auf das olympische Götterpaar Zeus und Here und einer für 
die Heroen vorangeht: dieses nach Aeschylos (Schol. Pind. |. c.), wobei denn die Heroen des 
Artuwv ayaSos Stelle einnehmen. Wie in solcher Folge ein Trinkspruch an die Olympier 
vorangestellt ist, findet die Ansprache an die geheimen Mächte sich verstärkt, wenn den 
beiden Bechern für ’Ay«Sos daıuwv und für Zeus Soter ein Becher für Hermes, vermuth- 
lich den chthonischen und Schlafgott folgt. Hesych. v. “Esuzs’ rov “Eaızv em morsws eidoug 
(vgl. Phot.) Ereyov, za Tareo "AyaSod Öaimovos zer Ads swrngos. Poll VI, 16: "Eaufs f rersuraie 
mosıs. Hom. Od. VII, 138: M mUndrW mivdeszov. 

(13) Zeus EPpıDoTEs, den auch Hesychius v. ’Erıdwres als Zeus bezeugt, ist dem 
Zeus Soter verbunden bei Paus. VIII, 9, 1. Offenbar ist Zeus als ‚„„gebender” Gott ge- 


478 GERHARD 


meint, wie auch Pausanias es verstand und wie solches auch des Auwöwwetos (Steph. s. v. 
drı ddwrw zu ra ayaSa) Bedeutung sein sollte. Aber auch als Dionysos - Akratos 
und Geber des reinen Weines ist Epidotes verstanden, wenn Diodor (IV, 3), von der 
bekannten Mahlessitte redend, sagt: örav @zgaros eivos Eridiösiree. Vgl. Prodr. S. 97, 118. 

(14) GEHEIME NATURMACHT des Zeus Soter sowohl und seiner hülfreichen Schlan- 
genbändigung (Paus. IX, 26, 5) als auch des Epidotes den Pausanias als Schlafgott (II, 
10, 2) und Empfänger von Sühnopfern (III, 17 extr.) bezeugt, ist längst nachgewiesen 
(Prodr. S. 36. 91). Beiden verwandt, aber dem Epidotes eigenthümlich ist neben den 
Heilgöttern von Epidauros dessen äskulapische Doppelzahl (Seor emıdurcı Paus. II, 27, 7. 
Vgl. Ass zryrıc Athen. XI. 473 B. Prodr. $. 37), die man auf Schlaf und Tod (Prodr. S. 
97, 118) deuten, aber auch für das dämonische Schlangenpaar nehmen kann welches uns 
im Verfolg dieser Untersuchung allerwärts begegnet. Wenn Panofka (T. C. S.8) dieser 
Ansicht mit Vergleichung der Münzen von Epidauros das Wort redet, so stimme ich 
vollkommen bei, ohne jedoch die daran geknüpften Folgerungen (S. 8, 39): „,Cista zwi- 
schen schlangenumwundenen ’Eriöwr«us” (in der Kircherschen Cista Gerhard Eitr. Sp. I, 2 
gesucht), namentlich auch die für den Dämon Epidotes vermuthete Satyrgestalt (S. 9, 41: 
etruskischer Kandelaber. Vgl. unten Anm. 34) billigen zu können. 

(15) Eupnemismus des Prädikats &ya«Sös, bonus: Prodr. S. 49f. Abh. Etrusk. Gottheiten 
Anm. 195. ’Aya<os heilst Hades bei Plato (Phaed. p. 40) und, wie oben (Anm. 9) aus 
Athenaeus II 38D gezeigt ward, Dionysos, wonach Panofka T. C. S. 5, 14 allzurasch 
mehrere weilshaarige Plutosbilder auf Vasen diesem 'AyaSos Seos zuspricht. Bono Deo 
puero phosphoro ist inschriftliche Anrede an den Iacchos (Grut. I, 88, 13). Bonorum Deo- 
rum wird als übliche Inschrift von Tempeltischen bei Cicero Nat. D. III, 34 erwähnt, in- 
dem er den auch aus Aristoteles Oecon. II, extr. und Athen. XV, 693 bekannten Raub von 
Tischen erzählt, welche derselbe durch die Aufschrift "Ay«Sod dainovos sich zueignete. 
Den Doppelsinn dieser Zueignung macht eine Erzählung des Plutarch (num. vind. p.542= 
VIII, 146. R.) verständlicher, nach welcher Timoleon sein Haus dem ’AyaScs daupuv d.h. den 
Unterweltsmächten, vielleicht dem Familienheros des Hauses, weihte: #7» oiziev 'AyaT dei- 
ovt zaSızgurev. 

(16) NEHMEN UND GEBEN wird in geheimnilsvoller Götternatur stets verbunden ge- 
dacht: Aaußavsı za diöwrı sagt Plutarch (defect. orac. 945C) von Selene und Gleiches von 
Helios (@roraußausı rov voov drdovs), während Ilithyia nur verbinde, Artemis nur trenne. 

(17) SCHLANGEN - UND MENSCHENLEBEN ist in thebanischen Mythen, der Menschen 
mit Drachenzähnen sowohl als der mit Kadmos befreundeten Encheleer (nach Welcker Kret. 
Kol. 89 von &prs, 0%,5), und in der Sage der Schlangenkinder von Parion ("Odroyevsis Strab. 
XII, 388: MuSsvoust dE zul ev dayınyernv Foü yevovs Howe ra neraldareiv 2E ohewc. Vgl. 
Plin. VII, 2. Ähnliches wulste Baccchylides von der Laokoonsschlange: Serv. Ann. II, 20) ver- 
knüpft, die Millingen (Coins V, 10) auf Anlals einer richtiger auf Demeter zu deutenden 
schlangenumwundenen Göttin (Taf. I, 8) erwähnt. Dieselbe Idee beiderseitiger, etwa durch 
den Verjüngungsprocels (Anm. 24) der Schlangen glaubhafter, Verwandtschaft gibt in der 
Sage von Entstehung der Schlangen aus Menschenmark (Aelian. H. A. I, 51. Plin. X, 66) 
sich kund und ist selbst der nordischen Sage (Grimm d. Mythol. II, 648) nicht fremd. 


über Agathodämon und Bona Dea. 479 


Schlangen mit Menschenköpfen (Lucian. Alex. II, 12ss.) sind aus spät ägyptischen (Taf. I, 6) 
und gnostischen Denkmälern bekannt. 

(18) GOTTHEITEN IN SCHLANGENBILDUNG sind, insofern wechselnde mythische Zu- 
stände beweisfähig sind, Zeus, Dionysos, Ammon, Faunus in ihren Begattungen (Anm. 20), 
aulserdem aber nach festem Tempelbrauch Asklepios als epidaurisch- römischer Gott (Panofka 
Asklep. S. 21. Taf. II. Vgl. ’Eriöwrys Anm. 14 desgl. 24. Neuer Aeskulap: Luc. Alex. 14), 
Hermes als "Egrovvios (Anm. 28), Zeus vermuthlich als I:Awges (Athen. XTV, 639.HErwg ei- 
ner der thebischen Sparten nach Apollodor III, 4,1) und als Ktesios (Anm. 29), beide 
letztern überdies als Trophonios (Anm. 28); ja es läfst sich fragen ob im Beinamen %,Sovios 


bei Dionysos, Hermes und sonst so genannten Gottheiten vielleicht durchgängig auch 


5 
Schlangengestalt gemeint sei, eine Ansicht der auch die orphische Abstammung des Her- 
mes Chthonios von Dionysos und Aphrodite (Orph. H. LVII, 3) und dessen etwanige 
(Rückert Troja S. 96) Gleichgeltung mit Erichthonios einigermalsen zu Gute kommt. 
Eine Spur für hieratische Schlangenbildung des Dionysos folgt nach Paus. III, 13, 5 wei- 
ter unten (Anm. 64). Dagegen sind von weiblichen Gottheiten höchstens Eurynome und Echi- 
dna (Anm. 34), aber gewils nicht Hygiea (Anm. 24) irgend je schlangenleibig zu denken. 
(19) ERDSCHLANGE. Das aus ägyptischem (Wilk. V, 65. 100) und phönieischem (Della 
Marmora Sardaigne p. 198) Brauch reichlich bezeugte Schlangensymbol hauptsächlich tellu- 
risch zu fassen wie im häufigen Gegensatz von Adler und Schlange (Klausen Aen. I, 132. 
348. Lenormant N. Gal. myth. VII, 12 p. 27) es nahe liegt, in der Abkunft des delphi- 
schen und kolchischen Drachen von Gäa mystisch ausgedrückt ist und dem Volksglauben 
entspricht nach dem man die Schlange für erdfressend hielt (Nic. Ther. 372. Sil. Ttal. XVII, 
499), scheint im Zusammenhang der obigen Darstellung unabweislich, wenn auch der von 
Schlangenwindungen entnommenen Bezeichnung von Flüfsen in mythischem Sprachgebrauch 
(Forchhammer Ann. d. Inst. X, 279. Hellen. I, 57 f. 114) nebenher ihre Geltung unbe- 
nommen bleibt. Minder ursprünglich ist die von Symbolikern des Alterthums (Macrob. 
1, 20. Artemid. II, 13) allerdings eben auch bezeugte solarische Bedeutung der Schlange, 
die sich zunächst durch ‘das Hervorschlüpfen dieses Thiers aus Verborgenheit zu dem Licht- 
blick erklärt. Verbunden sind beide Begriffe in der gleichzeitig auf Sonnenlauf und Welt- 
erfrischung gedeuteten Tränkung der Mithrasschlange (Lajard Ann. d. Inst. XII, 215). 
(20) HEIMLIcHE ZEUGUNG, verbunden mit ausnehmender Fruchtbarkeit (unbezwing- 
licher (nisi incendiis exureruntur: Plin. XXIX, 4) und inniger Paarung (Plin. VIII, 39: 
coniugia ferme vagantur, nec nisi cum pari vita est) hatte im Bild zwei sich begattender 
Schlangen ihren entsprechenden Ausdruck frühzeitig gefunden. Auf diesem Begriff und auf 
dem märchenhaft unterstützten Glauben zärtlicher Schlangenbegattung mit schönen Mäd- 
chen (Plutarch sollert. anim. 972. Ael. H.A. VI, 17. Tzetz Chil. IV, 135) oder, wie 
Melusina, auch mit Knaben (Ael. H. A. VIH, 11: Aleuas), wurzeln die Sagen dals in Schlan- 
gengestalt Zeus mit Kora (Vgl. Arw Orph. H. 38, 6. Sog. Ägina Impr. d. Inst. IT, 34), 
Dionysos vielleicht mit Nikäa (Klausen Aen. I, 131), Faunus mit Bona Dea (Anm. 86) 
buhlten, und dafs göttergleiche Sterbliche, wie Aristomenes (Paus. IV, 14, 4), Alexander 
(Dio Chr. IV, 19: &z Ögazovros 7 ’Anuwvos) und Scipio (Liv. XXVI, 19. Gell. VII, 1) 


480 GERHARD 


durch Schlangenbesuch ihrer Mütter erzeugt worden waren. Vgl. Böttiger Kl. Schr. I, 
128, 2. Klausen Aen. II, 1030f. 

(21) OrrtsuürunG der Schlangen (Bötticher Hellen. Tempel S. 88) — in aedium, 
adytorum, oraculorum custodia (Macr. I, 20: angeblich wegen Scharfblick des Thie- 
res) oder auch in Erd - Wasser und Tempelhut (Serv. Aen. II, 204: angues aquarum 
sunt, serpentes terrarum, dracones templorum) unterschieden — ist besonders aus feuchten 
Lagerstätten nahe bei Quellen unversiegenden (Forchhammer Hellen. I, 114ff.) Wassers 
und aus Brunnenmündungen (Vasenbild Berl. Mus. no. 1676. Panofka Askl. II, 1) bezeugt; 
ferner, da jede Ansiedelung von der Nähe lebendigen Wassers auszugehen pflegt, ward 
die Schlange auch ein natürliches Bild der Ansiedlung sowohl ("Od:s Kolonieführer Paus. 
VIII, 8, 3; Pareias zu Parion Klausen Aen. I, 339) als auch jeden am Erdboden haften- 
den Götterschutzes. Besonders nach italischer Vorstellung hat jeder Ort seinen Ge- 
nius, und dieser wird in Schlangengestalt gedacht (nullus locus sine Genio est, qui per 
anguem plerumque ostenditur: Serv. Aen. V,85, Vgl. Isidor. orig. XII, 4.), wie er als 
Schlangenpaar aus einem Gefäls heraustretend auch aus einer etruskischen Grabmalerei 
(Bomarzo: Dennis Etruria I, 221), als Deckelverzierung aus einem etruskischen Sarkophag 
gleichen Fundorts (Mon. d. Inst. I, 42. Dennis I, 222.227) und auch als Wahrzeichen einer 
Grabesthür (etr. Vasenbild Ann. d. Inst. VII iv. D p. 115. Vgl. Fabretti IV, p. 281) bezeugt 
ist. ‚Jenem aus römischer Zeit, namentlich aus Pompeji, allbekannten Geniusloci [Taf.I, 
1-5. Müller Handb. 405, 6. Vgl. Virg. Aen. V, 84. Pers. I, 113: pinge duos angues, sacer 
est locus. Jahn ebd. p. 111. Archäol. Beiträge S. 223. Genio huius loci montis — vor schlan- 
genumwundenem Altar etwa Harpokrates — Pitt. d’Ere. I, 38. M. Borb. IX, 52. Vgl. Genius 
Zheatri Millin Gal. XXXVIII, 139] entspricht aus griechischer Mitte theils der cizcvgcos 
oıs athenischen (Herod. VIII, 41. Hesych. s. v.) und sonstigen Tempeldienstes, zugleich 
ein Sinnbild der Autochthonie [Herod. I, 78: opıw y7s ratö«. So bei den drachengesäten 
Erd „und Schlangenmännern Thebens (Welcker Kret. S. 73), in Athen bei Erichthonius 
und bei Ion (Eur Ion. 1422); nach Pausanias X,26 auch im Schildzeichen des Menelaos und 
dem Phallus als 79ws oizovges (Plutarch. fort. Rom. 323 = VII. 281) verwandt], theils der 
dann und wann durch Schlangenbild über dem Grabmal (Mon. d. Inst. III, 265. Ann. XIII 
p- 18) angedeutete Heros griechischer Grabreliefs (Müller Handb. 431, 2), welcher in der 
auch für Kadmos und Harmonia (Apollod. III, 3, 4. Schol. P. Pyth. III, 153), Kychreus (Paus. 
I, 36, 1) und andre Heroen bezeugten Schlangengestalt den das Grab umschattenden Baum zu 
umschlingen pflegt. (Müller Handb. 431, 2. Grolse Schlange zwischen zwei Bäumchen: Kan- 
tharos schw. Fig. Archäol. Zeitung N. F. 23%, 16). So heilst es auch von Scipio’s Grab (Plin. 
XVL, 85): subesz specus, in quo manes eius custodire draco traditur. Einem solchen chthonischen 
Familienheros— Geniumne loci famulumne parentis Virg. Aen. V, 95. Klausen Aen. II, 1015 ff. 
— ist vielleicht der "AyaSs daruuv gleichzusetzen, dem Timoleon sein Haus weihte (Anm. 15) 
und dessen Anrufung "AyaSoü Öntnovos (C. Inser. 2684 etc. Franz Elem. p. 319, 2) griechischen 
Grabinschriften oft vorangeht; dem Genius loci aber, der bei solchen Verknüpfungen dem Ge- 
nius infernus und Juppiter indiges nahe gerückt wird (Klausen Aen. II, 1015f.), kommt grie- 
chisch der Zeus Ktesios gleich, auf dessen Schlangengestalt wir hienächst (Anm. 29) zu- 
rückkommen. Bei so viel Übereinstimmung griechischer und italischer Zeugnisse für die Schlange 


über dJgathodämon und Bona Dea. 481 


als Bild der Ortshut findet denn auch die Anwendung desselben Symbols auf den be- 
weglichen Wohnsitz des Reisenden, zu Schiff oder Pferd (M. v. Nikäa: Klausen Aen. 
I, 129), seine glaubhafte Erklärung — eine Erklärung mit der auch das seltsame Bild ei- 
ner auf Pferdesrücken enteilenden Schlange zu betheiligen ist, obwohl es aufser den 
mysischen Münzen von Atarneus (Pell. II, 48, 5) auch auf einem Gemmenbild vorkommt, 
das allerdings bereits Caylus (V, 54, 5) auf Vorstellungen des Agathodämon, der Erklärer des 
Tassie’schen (no. 13252 pl. 56) Abdrucks aber auf ein gestacheltes Corsopferd deuten wollte. 
(22) CEREALISCHES ATTRIBUT des Erdsegens und der daran geknüpften Heilkraft 
(Anm. 24) ist das ‚Schlangenpaar am cerealischen Wagen und in der mystischen Cista. 
In der Hand der Göttin erscheint das der Cista entnommene Thier auf einem Gemmen- 
bild (Impr. d. Inst II, 36); den Schlangenwagen fährt statt der Göttin und ihres Lieb- 
lings Triptolemos auch wohl eine Siegs-und Weihegöttin (Tassie no. 7773. pl. 45). Ce- 
realisch ist auch die Schlangenumwindung eines Granatapfels in einer 
chen Gefälsform des Berliner Museums (Neuerw. Denkm. III no. 1964). 
(23) APOLLINISCHES ÄTTRIBUT, vom Python als dämonischer Erdfäulnils (rvSw) ab- 
geleitet, ist die Orakelschlange (vgl. Anm. 24) am Dreifufs; in ähnlicher Bedeutung waren 
Seher wie Iamos (Pind. Ol. VI, 45), Melampus (Apollod. I, 9, 11. Schol. Ap. Rh. I, 118), 
Kassandra und Helenos von Schlangen genährt und umgaukelt (Welcker Kret. Kol. S. 79f. 
Klausen Aen. I, 187f. Eckerm. Melampus S. 126), wie denn auch Wetterahndung diesem 
Thierbeigemessen wird (Ael. H. A. VI, 16). Wohlgeeignet zum Doppelbezug auf Sonnen-und 
Erdkraft durch ihre vom Boden dem Lichte zudrängende Beweglichkeit war die Schlange 
zu solchem Rufe verborgner Weisheit auch durch ihren Scharfblick (Ael. H. A. VIII, 12 
not. Hor. Serm.I, 3, 28) befähigt, der vielleicht selbst sprachlich die Namensverwandtschaft 
zwischen ög«zuw und Ötgzw (&£vöegzye: Macrob. I, 20. Anders Forchh. Hell. I, 57), oyıs 
und o&ıs (vgl. opıs, epSaruos: J. Grimm Gesch. d. d. Sprache I, 127) erklären hilft. 
(24) Zur HEILSCHLANGE wird die von Athene Hygiea und von Hygiea deren Nach- 
bild gefütterte Ortsschlange dergestalt dals der spätere Heilgott Asklepios vom schlangen- 
reichen (Paus. II, 28, 1) Epidauros in der Schlangengestalt nach Rom gebracht wurde in 
welcher auch Münzbilder (Panofka Askl. Taf. II, 3) ihn uns zeigen; auf einer Münze von 
Nikäa (Panofka Askl. II, 9) erscheint diese Asklepiosschlange als beflügelter Träger 
des Gottes, in ähnlicher Weise wie die beflügelten Schlangen am Triptolemoswagen. Zu 


ganz eigenthümli- 


besonderer Ausbildung jenes Begriffs der Heilschlange eignete sich die dabei vorausgesetzte 
mageias ochıs (Aelian. H.A. Yaute 12, Y magoves, not. Aristoph. Plut. 690. not. Demosth. 
de cor. 79 not. Vgl. Spanhem. num. I, 221. Böttiger Kassandra S. 54. Panofka Askl. S. 19) 
bekannte unschädliche Schlangengattung zunächst durch ihre schmiegsame, ohne Hand uud 
Fufs wundersame (Euseb. Praep. I, 7) Beweglichkeit, die durch zauberische (Anm. 2) und 
erotische (Anm. 20) Verschlingung, wie durch daran geknüpfte Weissagung (Opfertlamme: 
Böttiger Kl. Schr. I, 130 £.) göttlicher erschien; überdies war auch die Häutung der Schlangen 
ein augenfälliger Umstand um zum Symbol der Verjüngung (Macrob. I, 20. Klausen Aen. 
1, 132 £. Rathgeber Ann. XI, 75. Eleusinische Schlangenfütterung ebd. p- 47) und Wieder- 
belebung (Thylo und Glaukos, Kraut als: Plin. XXV, 5. Apollod. III, 3, 1. Hygin. Fab. 36. 
Creuzer hist. gr. fr. p. 193) sie zu eignen. Übrigens ist jenem Begriff der Heilschlange der 


Philos. - histor. Kl. 1847. Ppp 


482  VGERHARD 


kurz vorher (Anm: 23) berührte der Weissagung wiederum verknüpft, namentlich im itali- 
lichen Augurium Salutis (Schlange auf Altar. R. Salus: Familienm. der Nonia bei Mo- 
rell. consul. 26, 17) einer mit Schlangensymbol bezeugten (Macrob. I, 20), nämlich der 
Hygiea gleichgeltenden Göttin. Wunderlich, nämlich auf Äskulap und Salus als Schlan- 
genfüfsler ist diese letztere Stelle milsverstanden bei Dennis Etruria I p. 304. 

25) TOoDESSCHLAF bringt die durch Grabeshut (Anm. 21) und Erdsegen (Anm. 19) 
bewährte Schlange zunächst im cerealischen Symbol des die Ähren begleitenden Mohns: 
plenaque somniferi serpens peregrina veneni (Ovid. Met. IX, 6935). 

(26) SCHLANGENPFLEGE, von den Heilgottheiten Asklepios (Panofka Askl I, 7. 13), 
Athene (ebd. V, 3), hauptsächlich Hygiea (ebd. I, 18. II, 5. 10) geübt, findet auf Münzen 
und sonst nicht selten sich dargestellt, zumal wenn die Darstellungen des Hesperidenbau- 
mes damit verbunden und dämonische Flügelgestalten (Schiffs-Nike Mus. Borb. X, 15) 
angereiht werden. Als Schlangenfutter finden nächst Honig (Serv. Aen. IV, 483) und Honig- 
Kuchen (Paus. IX, 39,5. Jahn Beitr. S. 223, 15. Mehl und Honigwasser auf gastlichem Tisch, 
ägyptisch: Ael.H. A. XI, 17. Lajard Ann. XIII, 216) auch Fenchel und Pappelblätter (u«g«Sov 
zo Aslms Bekker Anecd. p. 279) sich angegeben, alles im Einklang mit den für die Erdmächte 
üblichen Gaben. Eigenthümlich ist die äskulapische Fütterung einer Schlange mit einem Vo- 
gel auf Münzen von Trikka (Panofka Askl. I, 13), und die ebenfalls äskulapische mit einem Ei, 
das der attischen Burgschlange eines Reliefs (Mus. Borb. X, 15) von einer Nike des Seesiegs 
gereicht wird. 

(27) ZWEI SCHLANGEN finden sich oftmals statt einer einzigen und sind, gleich dem 
schlangengestalten Paar von Serapis und Isis (zu Taf. I, 6), dem ein Schlangengespann assyri- 
schen Feuerdienstes mit Löwen-und Kuhkopf (Layard Nineveh II, 469) und das auf Sonne 
und Mond gedeutete Schlangenpaar eines babylonischen Amulets (Lajard Nouv. Ann. 1,162ss. zu 
Mon.pl.IV.1. Vgl. Ann. XIII, 201) entspricht, ursprünglich wol aus männlicher und weiblicher 
Schlange gepaart zu denken, obwohl der von Eckhel (D.N.IV, 35) nach Solin angegebene Un- 
terschied (Solin. 40: subziliora sunt capita feminis, alvi tumidiores, pestis nocentior, masculus 
aequaliter teres est, sublimior etiam mitiorque. Aelian. H. A. II, 26: ö ev Ögeemv 6 ooyv 
rev Roov (E81) za Tiv Umyvrv Öaseevr. Vgl. Bochart Hieroz. II, 432) in Kunstdar- 
stellungen nur selten (Taf. I, 7. Vgl. M. der Crispina Mus. Sanelem. IL, 24, 209 p. 280) 
sich kund gibt. Dals in solcher wechselnder Darstellung bald einer Schlange bald zweier 
nur ein und immer derselbe Erdgeist gemeint sei ist sicher: Öginoves dyeSor finden 
sich dem dan ayaSos gleichgeltend zu Lebadea neben Tyche (Paus. IX, 39, 5), und Cicero 
übersetzt das ’AyaSol Ö«tuovos des Dionys mit Bonorum Deorum (Anm. 15). In mystischer 
Cista darf ein Schlangenpaar vorausgesetzt werden wie Olympias als Bacchantin es hegte 
(Sgazovras MEyanovus YsıgoyTeis &perzero Fels Sıero:s Plut. Alex. 2), dagegen die ihr ange- 
fabelte Liebesumarmung einer Schlange, dem erotischen Bezug der Schlange (Anm. 20) 
entsprechend, natürlich nur von Einer Schlange gilt. In ähnlicher Weise wechselt auf 
Cistophorenmünzen das Bild einer einzigen aus der Cista tretenden Schlange mit dem eines 
Schlangenpaars im Reverse derselben Münzen (Millin Gal. LVII, 274). Zwiefach war 
auch der Burghort im Erechtheion (Eur. Ion. 23 Hesych. Phot. v. oizovaov opıw. Vgl. Forchh. 
Hellen. T, 131), und erscheint neben Pallasstatuen doch nur als Eine Schlange, wie auch 
Athene Chryse zum Bils Philoktets nur eine einzige (Arg. Soph. Phil.), Poseidon aber gegen 


über Agathodämon und Bona Dea. 483 


Laokoon (Virg. Aen. II, 200. 225) zwei Schlangen aussendet; eben so findet als Stadtsym- 
bol auf Münzen sich bald ein Schlangenpaar (Itanos: Cab. Allier VII, 3), bald, wie auf Mün- 
zen von Syrakus (Muf. Hunt. 53, 13), nur eine einzige Schlange. Endlich begegnet uns 
auch der Genius loci römischer Zeit auf pompejanischen Wandgemälden bald als einfache 
(Gell Pompei. pl. 18) bald als doppelte (pl. 76) Schlange; zwei in einander gewundene 
Schlangen ersetzen, auf einen berühmten etruskischen Sarkophag (Mon. d. Inst. I, 42) ge- 
legt, die als Grabeshüter (Anm. 21) gemeinhin vereinzelte Schlange. Es darf hinzugefügt 
werden dals auch die Schlangen des Asklepiosdienstes (Paus. II, 11, 8) in den üblichen Bil- 
dungen des Gottes nur in Gestalt einer einzigen Schlange erscheinen. - 

(28) SCHLANGENGÖTTER in Doppelbildung. Als solche sind aufser den oben erwähn- 
ten Seois 2m:öwreıs (Anm. 14) des Asklepiosdienstes auch die durch Menschenopfer versöhn- 
ten Ssor Zgeovuveoı (Anton. Liber. 25) zu betrachten. Wie dort an Zeus, werden wir durch 
diesen Ausdruck an Hermes erinnert, dessen Doppelheit auch sonst bezeugt ist (Auserl. 
Vas. III, 240. S. 165£.); dabei ist jedoch, auch ohne auf Hermes als Sohn eines schlangen- 
gestalten Agathodämon - Nilus (Anm. 5. Vgl. Creuzer II, 108) zurückzugehn, die Schlangen- 
gengestalt keineswegs unzuläfsig. Der chthonische Hermes Trophonios mit Schlangenstab 
(Paus. IX, 39,2. Vgl. die Schlange auf M. von Aenos u. a. Tafel IV, 8.9) war Bruder 
des Asklepios (Cic. N. D. III, 22. Creuzer III, 400 N. A.), dessen Schlangenbildung aus 
Epidauros und Rom bekannt ist. Es gehört ferner hieher auch der dem italischen Pe- 
natenbegriff verwandte Zeus Kresıos. Dieser Gott, der bald einfach (Prodr. S. 37, 93) 
bald auch als Doppelgott (Ares Kryrıcı Athen. XI, 46. 473 B) vorkommt, läfst füglich in 
Schlangengestalt sich denken, der Schlangenbildung des Zeus als Zagreusvaters und als 
Epidotes, aber auch der des italischen Ortsgenius entsprechend, der in ganz ähnlicher 
Weise selbst bei der barbarischen Bevölkerung Italiens, bei Langobarden (Grimm d. 
Mythol. I, 648: viperae simulacrum . . ... adorabant) sich wiederfindet. Damit stimmt 
denn auch der Umstand ganz wohl zusammen, dals als Anzeichen des Zeus Ktesios (Ads 
zrnciou orusie Athen. XI, 46) Amphoren genannt werden, solche vermuthlich wie sie schlan- 
umwunden auf Münzen von Sparta (Anm. 74) sich finden; auch die Aufbewahrung des 
Ktesios in Schränken (Harp. Krysiou Ars &v ToIs raısıoıs vgl. Bötticher Hellen. Tempel 
S. 73) ist mit dessen muthmafslicher Schlangenbildung, die Schlangen in Körben oder Ge- 
fälsen (wie im Grab zu Bomarzo: Anm. 21. Dennis Etr. I, 221) gedacht, nicht unvereinbar. 

(29) FASSÖFFNUNG, IkScryie, heilst der erste Tag des Anthesterienfestes (Meurs. 
Gr. fer. v. ’AuSesrrgte): za Tyv Anegcev ezeivnv HlrEIS jev "AyaTod Öcimovos , "ASyvarcı ds 
IlSoryiev moosayogevousw, sagt Plutarch Symp. VII, 10. 

(30) SILENSBILDUNG des ’AyaSos Öinwv: nach Panofka’s (T. C. zu Taf. D) Vermu- 
thung, welche er auch auf die häufigen Silensköpfe kleiner Votivbilder von Thon (Taf. 
XLVII, 1.2.5) ausdehnt. 

(31) CEREALISCHE FÜLLE pflegtim Schlangenfutter (Anm. 26) auf Cistophoren und 
sonst durch Trauben und Backwerck reichlich angegeben zu sein. Um ein Füllhorn gewun- 
den ist die Schlange des als Agathodämon dargestellten Antinous (Berlins Bildw. IS. 89 no. 
140), eben so neben dem Harpokrates eines rothen Jaspis in meinem Besitz, der Zusammenstel- 
lung von Füllhorn und Schlangenstab an andern Harpokratesbildern (Cuper Harp. p. 32) ent- 


Ppp2 


484 GERHARD 


sprechend. Als verschlungenes Emblem finden beide Symbole sich verbunden auf Münzen 
der Byllionen (Num. M. Brit. V, 12 p. 113. Müller Handb. 436, 4) und sonst. 

(32) PLUTONISCHES FÜLLHORN. Das Füllhorn, das als Reichthumissymbol dem Gott 
Plutos gehört (Anm. 33), ist auch in der Hand des greisigen Erdgottes Pluton-Hades (Mo- 
num. d. Inst. I, 4) nicht selten, daher auch die seltsame Darstellung des von Herakles ge- 
tragenen Gottes mit Füllhorn (Millin Gal. CXXI, 468) trotz wesentlicher Bedenken (Hy- 
perb. R. Studien I, 89) von Welcker (zu Müllers Handb. 412, 5) noch neuerdings lieber 
auf Pluton gedeutet ward als auf Zeus. Ein Zeus jedoch, dessen olympisches Ansehn 
chthonische Bedeutung nicht ausschliefst, empfängt von Herakles das Acheloushorn auch 
im Vasenbilde bei Millin Gal. CXXV, 467 (*). Plutonisch ist denn auch das Füllhorn 
gewisser silenesker Dämonen, von denen bei Anm. 58 und zu unsrer Tafel III die 
Rede sein wird. 

(33) ÜCEREALISCHES FÜLLHORN. Obwohl cerealische Dämonen des vollendeten Kunst- 
gebrauchs, namentlich Bonus Eventus, der dem eleusinischen Ortsdämon Eleusis selbst 
sprachlich gleichkommt (Anm. 63), meist nur durch Ährenbüschel und Opferschale kennt- 
lich gemacht sind (Winck. Stosch I, 1826 ff. Müller Handb. 398, 2. Mit Ähren und Reh? 
Gemmenbild Br. Mus. no. 668), so ist doch weder dem Plutos (Prodr. S. 78f. Jüngling 
mit Füllhorn. R. Kopf der Kogy swreise auf M. von Kyzikos. Vgl. Jüngling mit Füllhorn 
und Schwein auf einem Iatta’schen Aryballos) und den mit Demeter und Tyche verwandten 
Dioskuren (Füllhorn bei Dioskurenhüten auf asiatischen u. a. Städtemünzen, Adramyttium, 
Amasia, Panticapaeum, Sinope: Pell. I, 37,11. II,40, 12. 48,3. Cab. Hauteroche VII, 20), de- 
nen der idäische Tempelhüter Herakles (Anm. 32) und selbst der römische Ruhmesgott H o- 
nos (Millin Gal. LXXII, 356. LXXIX, 357. Im schönen, aber vielleicht modernen Berliner 
Karneol ‚, Venus, Hercules, Honos” nach Tölken Verz. IV, 18) beigeht, noch selbst dem 
Bonus Eventus (Stosch II, 1829) das Füllhorn versagt, dessen herschende Anwendung in 
den Händen der Glücksgöttin (Anm. 42) mit cerealischen Bezügen durchaus verknüpft ist. 
Jenem Bonus Eventus aber ist Agathodämon oder "Ay«Sos datumv (statt des älteren Act 
«ya >ös Anm. 8) als griechischer Ausdruck späterer Zeit schlechthin gleichzustellen. Wie 
ein Bonus Eventus mit Ährenbüschel auf ephesischen Münzen der Salonina auch begriffs- 
mälsig als #0 aya>ov "Epertov bezeichnet werden konnte (Müller Handb. 398, 2), war vol- 
lends die persönliche Auffassung des 'AyaTös dauv als eines Jünglings mit Füllhorn in 
späterer Zeit dergestalt durchgedrungen dafs Antinous in der Göltergestalt des Agathodämon 
(Anm. 31. Vgl. Cornut. p. 154) ein schlangenumwundenes Füllhorn trägt, ja dals derselbe 
Agathodämon im Götterverzeichnils des Cornutus cap. 27 unter den Landgottheiten nächst 
Pan und Priapos, unmittelbar vor Demeter und Hestia geschildert wird, dieses in einem 
bisher verkannten und in der neuesten Ausgabe (p. 154) der Beschreibung des Priap unter- 


. . . [a \/ ni , x Les 
mischtem Abschnitt. Es heilst dort: ”AyaSos de darmmv yror marw 6 »osuos iriı BgıSuw 


(*) Das Füllhorn, das Herakles bald dem Achelous entnommen (Anm. 32) bald vor der Geryonsthat 
von Hermes erhalten haben sollte (Hesych. ’AuarSeiaz xtpas) ist ihm, dem Äpfel und andere Früchte sam- 
melnden (Paus. IV, 19 


J 


4) Tempelhüter Demeters, auch in statuarischer Bildung zuweilen gegeben, wie in 
der von Panofka T. €. LVI, 2 als „Eridanatas” bezeichneten 'Thonfigur. 


über Agathodämon und Bona Dea. 485 


zu wÜrds Tois Augmois 4 6 moossrWüs aurol Aoyos..... Ioosrarys de za owrng Fuv oizeiwv 
est... Te 775 "AnarSetas #Egees olzstov aurw doonuc EITW ... Beiläufig: die von ge- 
wissen Priapusidolen gehaltenen Hörner, auf welche Osann hiebei (p. 155) nach Neapels 
ant. Bildw. S. 122f. verweist, sind nicht cerealische Füllhörner, sondern bacchische Trink- 
hörner. 

(34) ATAOH TYXH und Acinwv ayaSos waren in Lebadea (Paus. IX, 39, 4: +0 
de olzmme Acimovos v2 dya$od zer Tiyns iepov Errıv &yaS7s) und, wenn eine demnächst 
(Anm. 35) zu erwähnende Gruppe des Kapitols einem athenischen Tempel galt, vermuth- 
lich auch zu Athen mit einander verbunden. Nach ägyptisirender Auslegung (Zoega obel. 
p- 513) wurden beide verbunden als Sonne und Mond erklärt; andre Ausleger setzten die 
orphische "AyaSy Hovor« (der Athene identisch) damit in Verbindung. Vgl. Prodr. S. 99f. 
Schlangenfülsige Bildung der Agathe Tyche wäre für ein solches Urwesen nicht unmög- 
lich, wird jedoch an einem bekannten etruskischen Kandelaber (Micali Storia XL, 3) nur 
willkürlich vorausgesetzt (Panofka T. C. S. 9, 41). 

(35) BonA Fortuna: der ’Ay«S; T)yn und ihrem Dämon durchaus entsprechend 
in der kapitolinischen Gruppe des Praxiteles, die Plinius XXXVI, 5, 4 als Boni Even- 
tus et Bonae Fortume simulacra in Capitolio anführt — , ein attisches und demnach 
ursprünglich vielleicht dem athenischem Tempel der ’"Ay«S% Tuxn (Anm. 36) gehöri- 
ges Werk. Denselben Namen scheint eine der zwei Fortunen getragen zu haben, de- 
nen Servius Tullius Tempel errichtete. Obwohl die von Panofka T. C. S. 8,40 be- 
folgte Annahme einer solchen Bona Fortuna, der Fortuna virilis gegenüber, nur auf den 
unsichern Worten des Dionysius IV, 27 — Tiyrs % rege mavra rov Bıv EdoEev ayayı 
zeygne Tat —, beruht, so ist sie doch theils dem dortigen Zusammenhang theils auch dem 
anderweitig bezeugten (Anm. 36) Dienst einer ’Ay«Sn Tyx%n durchaus entsprechend. Eine 
Fortuna Bonae Spei (Tuyns Awnos edermıdos) erwähnt Plutarch p- 323 = VII. 280. R. 

(36) ATAOH TYXH hatte, doch wol zu Athen (Altar daselbst: Ael. V.H. IX, 39. 
Ob neben dem Prytaneion? Anm. 45) ein laut Harpokration (v. "Ay. Tyyrs vews. Vgl. Sui- 
das) von Lykurg und andern attischen Rednern erwähntes Heiligthum. Dieselbe Göttin 
erscheint in Götterverbindung (a) mit Themis und Nemesis (Chishull Mon. Asiat. p. 
69), welchen Göttinnen sie auch gleichgesetzt wird. ’AyaSy Tuyn 7 Nenesis zur Hy Osus: 
Hesych. s. v. Bekker Anecd. p. 209. — Ferner (5) mit Aphrodite und dem auch sonst 
(Impr. d. Inst. IV, 12. Panofka T. C. S. 11, 61) der Fortuna verbundenen Pan (Paus. 
V, 15, 4); auch (c) mit Zeto und Hekate, sofern diesen, vorher aber der ’Aya&y Tiyn 
eine Phiale zuerkannt wird (C. Inser. 2852, 31). — Dieselbe ’AyaSy Tyxn findet sich (4) 
mit Zeus, sofern ein Priester Aus vUbisrov zur Tuyrs @yaS7s erwähnt wird (C. Inser. 
2693e), und (e) mit Apollo Agyieus, ('AyaSy Tiyn "Arorruvos ’Ayviews) in der Inschrift 
eines attischen Appolloreliefs (Böckh C. I. 465. Müller Denkm. II, 130. Vgl. Panofka T, 
C.S. 11), aber auch (f) mit den Unterweltsmächten Despöna, Pluto und Persephone 
(Schweinsopfer C. Inser. 1464, 11). Vgl. Prodr. S. 99. 

(37) "AyaSıy Tiyn als Stadtgöttin auf Münzen von Nikäa (Eckhel Num. anecd. XI, 
11 p. 183: Aya9n Tyyr Nezerewv, Faustina jun.) inschriftlich bezeugt, ist nach Eckhel’s 
Bemerkung (D. N. II, 426) hauptsächlich auf Münzen asiatischer Städte jenseits des Taurus 


486 GERHARD 


ein häufiges Götterbild. Im Brustbild, verschleiert, ein Füllhorn und auch wol Aehren 
haltend erscheint sie auf Münzen (Smyrna Pell. I, 1 p. 64. Millingen Coins V, 13. Vgl- 
Pell. I,55,1. 76,28: Erythrä, Heraclea Cariae) und Gemmenbildern (Tassie no. 1793. pl. 48), 
eben so auch mit der mystischen Cista im Revers (Hgezyvav Cab. Allier IX, 16). 

(38) ’AyaS% Tiyn als Eingangsformel öffentlicher und sonstiger Inschriften (Franz 
Elem. epigr. pag. 318s.) ist allbekannt; als wechselnde ähnliche Formeln finden auch 
Seo: ’AyaTav ruyan, Teor "AyaTov FUxev, Ieös ayaTos "AyaSa TUyE zur em Fwrrgie, auch 
’Ayasf Tuyn Zeve Ewrng (Ebd. p. 318) sich vor. Eben dahin gehört die Formel eines 
mit allerlei Gaben, vermuthlich Backwerk (Etym. M. "Yyısiav. Lobeck Agl. 11,707) vonobscöner 
(Anm. 59) Form begleiteteten cerealischen Bettelgesangs: d2£aı rav ayaSav ruyev, deEau 
rov Uyıziev, av pegonev magc no TEN.“ (Arg. Theoer. p. ar Bergk. Poet. Iyr. p.'883, 18. 
Welcker Kleine Schr. I, 407). 

(39) Geburtsgöttin ist Tyche in der hochzeitlicheu Zusammenstellung Tdyrn za 
"Egusı yereIAtors eVEoner (Phot. Bibl. II p. 367. Panofka Arch. Zeit. II, 251). 

(40) Todesgöttin ist Tyche vermöge des Begriffs einer Schicksalsgöttin, doch 
sind Kunstdarstellungen solchen Bezugs durch den seltsam (gleich bauschigem Gewand) 
umgürteten 'Todtenkranz eines rohen 'Thonbildes (Panofka T. C. XXXI S. 98) noch nicht 
hinlänglich nachgewiesen. Eine Grabesgöttin jedoch heilst sie in der Sprache orphischer 
Hymnen (Orph. H. 71, 5: ruwßeöry) und auch in römischer Zusammenstellung mit Spes 
und Venus (Fortunae Spei Veneri et memoriae Claudiae Semnes Zoega obel. p. 370. 
Uhden in Wolf’s Museum d. Alterth. I, 542) erscheint sie als solche. 

(41) ’AyaSg Tiyn und ’AyaSod daimovos sind wechselnde Formeln auf Grab- 
inschriften (Franz Elem. p. 319, 2). Beides verbunden findet sich in der Formel Seös 
(Mews &17) Ayaıy ruyn "AyaSod Öwimovos (Bull. d. Inst. 1841 p. 57s.). 

(42) CEREALISCHES FÜLLHORN. Das Füllhorn, als Attribut Fortunens (Forzuna cum 
cornu pomis ficis aut frugibus autumnalibus pleno: Arnob. VI, 25) allbekannt und bereits 
aus frühen Darstellungen derselben (Paus. VII, 26, 3) bezeugt, kommt von allen Göt- 
tinnen vielleicht auch nur ihr ausschliefslich zu. Auf die Hore Eirene geht es über, weil 
sie wie Tyche den Plutos trägt (Prodr. 79, 64), und dem cerealischen Bonus Eventus 
wird es in seltnen Fällen (Anm. 33) gegeben; für Demeter aber, zu deren Begriff es 
wohl geeignet sein könnte, ist es nur in dem Sinne nachweislich, in welchem Demeter 
und Zyche, hauptsächlich neben Dionysos, die gemeinsame Götteridee einer Ceres - Fortuna 
(Prodr. S. 99, 131. Taf. CCCXI, 19-22) darstellen. In solchem Sinne findet hie und da 
bei Göttergestalten sich auch die Verbindung von Aehren und Füllhorn (Gemmen: Gal. 
d. Fir. V, 46, 4). 

(43) VERSCHLEIERUNG ist dieser Göttin hie und da, namentlich auf asiatischen 
Münzen (Anm. 37) neben den allbekannten Attributen Fortunens — Mauerkrone und Füll- 
horn, auch Ruder —zu besonderer Auszeichnung ihres Begriffs als Städtegöttin gegeben. 

(44) DIENENDE FORTUNEN, auf Münzen von Laodicea, Amasıa u. a. (Prodr. S. 109 
zu Taf. IV, 8) die oberste und auch wol gröfser gebildete Tyche bis zur Vier-oder Fünf- 
zahl umgebend. Eine stehende vor einer sitzenden auf Kaisermünzen von Diocäsarea (M. 


Jul. Philippus: Sestini Lett. IX, 3, 7). 


über Agathodämon und Bona Dea. 487 


(45) Tyene’s Liebreiz: Aelian.'V. H. IX, 39: Nedvisrzos ASyımsı oVv e0 yeyovorwv 
moös vu Iguravsiu dvögıevros Errüros Ye "Ayaıns Tiyns Seguorere HonsSy . . Sollte dies 
Bild vielleicht eins und dasselbe sein mit der praxitelischen Bona Fortuna (Anm. 35. 36)? 
Man wird an die als Persephone’s Gespielin bekannte Okeanide Tyche (Hes. Theog. 360. 
Hom. H. Cer. 421), aber auch an derselben Göttin Geltung als Schöpfungs-und Schicksals- 
göttin, als mächtigste der Mören nach Pindar (fragm. 13. Paus. VII, 26, 3) dabei erinnert. 

(46) Tixyn Sewv. Paus. I,11,8: avazeraı ayaruara ev sh oro&, Aviv zar "Erarss, 
"Abdgodirn re zer Ayuysng zer Oeuv T)yr, wie ich nach mehreren Handschriften aus früher 
(Prodr. S. 99, 132) erörterten Gründen zu lesen fortfahre, obwohl bei Bekker und Walz 
Myryo Sewv za Tuxyn vorgezogen wird. 

(47) Als Städtegründerin erscheint Tyche gleich Themis (Etym. Harp. Suid. v. 
Bouxere. Prodr. S. 95f.) vom Stier oder Steinbock getragen nicht selten in Gemmenbildern 
(Prodr. S. 83, 83. Delphin und Dreizack Impr. IV, 11. Vgl. ebd. 12 mit Pan) zugleich 
mit neptunischer Hindeutung auf Meergeburt. 

(48) TxvcHE und Eros. Paus. VII, 26, 3: od« zaı olznıe Ev Alyeio Sersanevos ayamın 
yv Ev FU olaynerı Tuyns; 70 zeoas hegouse 70 AnarSeiac map dE aurnv "Egws mreoc Ey mv 
sr... Vgl. Aristoph. Av. 1315: Tuyn movov maosein" Zarey,ovsı Ö "Egwrss euds morEwsS. 
Dieselbe, auch aus römischen Wandgemälden (Taf. I, 1. Vgl. Mon. d. Inst. III, 6) und 
Gemmenbildern (Taf. IV, 13) nachweisliche, Zusammenstellung findet im Amor sich wieder 
der neben einer der beiden Fortunen von Antium schwebt (Taf. II, 12). Eben dahin ge- 
hört das Gemmenbild eines Flügelknaben der ein sehr grolses Füllhorn hält (Aurou: Tassie 
6607 pl. 43), und die auf römischen Münzen nicht seltene Darstellung von Füllhörnern aus 
denen Kinder hervorgehn. Vgl. Creuzer Symb. IV, 302 N. A. Gerhard Prodr. S. 54, 
81. Schulz Ann. d. Inst. XI, 122 ss. 

(49) TychE MIT PLuTos, vermuthlich nur durch Zusatz eines Füllhorns vom obi- 
gen Eros verschieden. Paus. IX, 16, 1: Oy@atoıs de here 700 Anuuwwvos ro iegöv oinworzomelov 
He Terserioy Aahoulsevov zaı mern tov Tuyns errıv iegov" hegsı jasv ön IModrov raide. Gesicht 
und Hände des Bildes waren von Xenophon aus Athen, das Übrige von Kallistonikos aus 
Theben (*). Als ein verwandtes Kunstwerk vergleicht Pausanias die Gruppe des Kephi- 
sodotos, in welcher Plutos von Eirene gehalten erschien (IX, 16,1. Vgl.I, 8, 3. Gerhard 
Auserl. Vas. II, 83. Elite eeramogr. I p. 80. 309. II p. 145). Aufserdem ist die Verbindung 
von Athene Ergane und Plutos aus Thespiä (Paus. IX, 26, 5) zu vergleichen. 


(*) Eine ähnliche Gruppe, in welcher der Knabe ungeflügelt, die mit Modius bedeckte Göttin aber 
Tixn genannt und an eine Säule gelehnt ist, findet sich auf einer Münze von Melos (Taf. IV, 12), bei der 
man an eine mehr venusähnliche Gruppe athenischer Münzen (Cab. Allier VII, 17. Vgl. Müller Denkm. 
H, 99 „Demeterund Iacchos”) wie an andre ähnliche auf Münzen von Halikarnass (Sestini N. Lett. VII, 2, 4) 
und von Sidon (Pell. Lettres I, 1, 8: „Esel?” daneben, oben Astartewagen. Vgl. Eckhel D. N. IN, 371) erin- 
nert wird. Ferner wird die seltsame auf Ceres und Neoptolemus gedeutete Gruppe einer Münze von Ama- 
stria (Taf. IV, 14 nach Cab. Allier X, 13: Frau mit kauerndem Kind) in diesem Zusammenhang verständ- 
licher, wie denn auch der von Klausen (Aen. 1,153. TE. I, 10,) auf Hestia gedeutete Münztypus von Ske- 
psis (Verschl. Frau mit daneben stehendem Knaben) verwandt sein mag. Hauptsächlich aber ist die durch 


Ruder unverkennbare und von sitzendem Knäblein begleitete Fortuna wichtig, welche auf einer ansehn- 
lichen Glaspaste des Berliner Museums (Taf. I, 14) mit Herkules und Minerva gruppirt erscheint. 


488 GERHARD 


(50) Irırayıa unn Sosıpouis. Paus. VI, 20, 2: ’Ev de reis miganı so0 Kooviov . .. 
eorıv Ev nErw Tau Syravgwv za To0 ogous teoöv EirsSuies, Ev BE ara Nwoimoris "Hr.sors 
Eriyuigtos dauamv Eyzı Funds. ryv ev 4 EireıSvev Erovonagovres "OAywriav (Vgl. Tuyn Sewv 
Anm. 46)... . Folgt die Beschreibung des geheimnifsvollen Dienstes welchen Sosipolis 
im Adyton des Ilithyiatempels weinlos erhielt (furchtbare Eide wurden auf seinen Namen 
geleistet) und die Sage von seiner Erscheinung. Im Krieg gegen die Arkader war den 
Eleern eine Frau erschienen, die einem Traumgesicht zufolge ihren Säugling zum Beistand 
darbot: nackt auf den Boden gelegt ward im Angesicht des Arkaderheeres das Kind zur 
‚Schlange (Anm. 74) und brachte beim Anblick des Wunders die Feinde zur Flucht. Ohne 
Zweifel ist dieser Sosipolis, dem eine tief verhüllte Priesterin Aure« und Honigkuchen 
(Anm. 26) zur Speise brachte, eine Schlange; gleichfalls zu Elis aber ward neben Tyche 
Sosipolis in der Gestalt eines Knaben verehrt, der in sternenbesäte Chlamys gekleidet 
ein Füllhorn hielt (VI, 25, 4) — , dieses in einem nicht grolsen Nebengebäude des Tyche- 
tempels, &v olzyuarı od neyaAw, welches an die vorgedachten Gebäude mit ähnlichen Grup- 
pen, an Tyche mit Eros im ciz7u« zu Aegira (Anm. 48), an Tyche mit Plutos im Tyche- 
tempel zu Theben (Anm. 49), an ’Ay«Sy Tyyy mit "AyaSos daimuv zu Lebadea (Anm. 34) 
und im attischen Prytaneion (Anm. 45), aber, bei so sichtlicher Gleichsetzung der Schlan- 
gen-und Knabengestalt (Anm. 61. 74. Prodr. S. 103. Rathgeber Allg. Encykl. II, 3, 120), 
auch an den Rundbau einer asiatischen Münze (Eckhel Syllog. V, 7 p. 49ss.) erinnert, an 
welchem ein Schlangenpaar die vermuthliche Bestimmung ähnlicher Gebäude uns nachweist, 
den schlangengestalten Ortsdämon zu pflegen. 

(51) Ilithyia als webende Schöpfungsgöttin aus Delos und sonst bekannt (Prodr. 
S. 31, 77), hier aber durch das Beiwort Olympia besonders hervorgehoben. 

(52) Rettung, owrygi« (Paus. VII, 24, 2), als kosmischer Begriff: Prodr. S. 57. 
fl. Zwrrgie cerealisch auf Münzen von Metapont ebd. S. 97, 120. Luynes Etudes 
num. p. 9. 

(53) TEMPELSCHLANGEN sind hauptsächlich bezeugt aus dem Dienst der Burggöt- 
tin Polias zu Athen (Herod. VIII, 41. Hesych. oizovgos os. Vgl. Paus. I, 24, 3 & Bouradav 
— statt omovdaısv? Gerhard Zwei Minerven. 1848. Anm. S. 11,54 — öaiuwv) und der spartani- 
schen Chalkiökos (Hesych. v. ögazeurcs), womit die Athene Pareia (Paus. III, 20, 8. Mül- 
ler Kl. Schr. I, 180, 54) zu vergleichen; ferner der eleusinischen Demeter (Steph. Kuygsios 
mayos. Vgl. Strab. IX, 1. 393) und Xora (Taf. II, 1. 2. Vgl. auf M. von Priansos Pell. III, 
100, 52 die nackte Göttin mit Schlange und Palme. R. Poseidon), wie auch der pelasgi- 
schen (Tyrospiegel: Millin Gal. XXV, 425*. Gerhard Etr. Sp. II, 170) und lanuvinischen 
Juno (Jungfrauenprobe bei Aelian. V. H. XI, 16. Prop. V, 8, 3ss. Böttiger Kl. Schr. I, 178f. 
Gerhard Abh. Etr. Gotth. Anm. 67). Von männlichen Gottheiten zeigen das Schlangen- 
symbol neben sich Apollo und Asklepios in Attributen, und in den Gebräuchen ihres Dien- 
stes auch Hermes und Dionysos, aulserdem manche Heroen wie der auf Münzen von Za- 
kynthos abgebildete und bekannte Stammheld dieser Insel, den Eckhel D. N. II, 273, zwar 
lieber auf Asklepios oder Aristäos deuten wollte. Auch neben den Dioskuren findet auf 
einem griechischen Relief (Taf. I, 3) ein Schlangenpaar sich vor. Zeus selbst ist von 
gleichem Symbol schwerlich auszuschliefsen. In bedeutsamem Gegensatz zu einem Zeus 


über Agathodämon und Bona Dea. 489 


des Revers, ohne Zweifel dem des dardanischen Zeus, findet die Schlange sich auf Mün- 
zen von Dardanos (Pell. II, 52, 22), wie auf Münzen von Kos zu dem des Asklepios 
(Pell. I, 102, 9), und auch das römische Kapitol gewährt die Spur einer Zeusschlange 
(Anm. 79). Einen stehenden Zeus- Dionysos mit Adler, Traube und Schlange geben die 
Münzen von Kassandria (Pell. Mel. I, 21, 1). 

(55) ATHENE Hy6iEA (Paus. I, 23, 5), deren athenische Statuenbasis neuerdings ent- 
deckt ist (Bull. 1840 p. 68. Panofka Askl. S. 31. Rochette Lettre A Schorn p. 396 s.) 
und deren Sitzbild (Plut. Pericl. 13) Panofka (Askl. Taf. V, 3) in einem Münztypus von 
Nikäa vermuthet. Vgl. Creuzer Symb. II, 403ff. Panofka Heilgötter der Griechen S. 
3fl. Asklepios S. 31f. Jahn archäol. Beitr. S. 222f). Hygiea die Asklepiostochter, 
die in Athen neben Athene Hygiea aufgestellt war, ist als aus dieser entstanden und als 
eine Göttergestalt des späteren Hellenismus zu betrachten. (Vgl. Panofka Askl. S.31ff.) Weni- 
ger abstrakt, sondern als herschende und Orakelgöttin gleich Juno und Minerva bezeugt, war 
die italische Salus (Tac. Ann. XV, 53. Böttiger Kl. Schr. I, 127ff. Jahn Beitr. S. 224. 
Gerhard Etr. Gottheiten Anm. 112). 

(56) SCHLANGEN BEI FORTUNA zu finden ist allerdings selten; unter den sechs For- 
tunen auf Münzen von Amasia (Prodr. S. 109, 203) wird von einer der Nebenfiguren 
eine Schlange gehalten. In die Menge der auf Alltagsleben bezüglichen Fortunenbilder 
ging jenes der Fortuna Primigenia zustehende Schöpfungssymbol begreiflicherweise nicht 
über; diese letztere dagegen lälst cerealischen Sitzbildern mit Schlange (Taf. II, 2) ganz 
entsprechend sich denken, und erscheint in eine Doppelheit ätherischer und tellurischer 
Macht aufgelöst wenn Dionysos zwischen Tyche und Hygiea (Paus. IX, 26,5), wie andre- 
mal neben Demeter und Kora, erschien. 

(57) Boni Eventus et Bonae Fortunae simulacra: Plin. XXXVI, 4, 5. Müller Handb. 
398, 2. Oben Anm. 35. 

(58) SILENESKE BILDUNG mit einem Füllhorn in der Hand erinnert, wo eine 
solche Figur ausgestreckt auf einem Widder sich findet (Fogelbergsche 'Thonfigur, jetzt 
in München), theils an Hermes Kriophoros theils an den Widder als Todtenopfer. Ähn- 
liche Silensfiguren mit Füllhorn finden sich nun aber mehrfach mit einer Frau ge- 
paart, welche ich demnach als eine mit Plutos vereinte Kora zu fassen pflege (Taf. 
III, 1-5); Panofka (T. C. Taf. I S. 1 ff.) zieht vor einen Agathos Daimon mit Agathe 
Tyche darin zu erkennen, und deutet scharfsinnig auf gleiche Weise auch die wieder- 
holte Verbindung von Silens-und Frauenkopf, dieser verschleiert, vielleicht auch mit Flü- 
geln, auf einem berühmten etruskischen Goldschmuck (ebd. S. 10 zu Mon. d. Inst. II, 7. 
Ann. VI, 244). Dieselbe Verbindung eines Silens mit einer Frau wiederholt sich aber 
auch in Gruppen, in denen die gleichmälsige Paarung eines Gottes mit einer Göttin un- 
gleich mehr zur Deutung auf Liber und Libera sich eignet (Panofka T. C. XLIX, 1. 2). 
Ähnliche Paare sind auch aus etruskischen Bronzen (Gerhard Bildw. CCCIH, 6. 7) nach- 
weislich, in denen die Vergleichung mit Faunus und Fauna nahe liegt. Einen Silen mit 
einer nackten Frau, die Flöten hält, an eine Säule gelehnt, zeigt der Kamee Impr. d. 
Inst. IV, 45. 1 


Philos- histor. Kl. 1847. Q0qgq 


490 'GERHARD 


(59) TycHon. Hesych. Etym. M. v. Tuyoor. evıcı Tov “Epunv, arrcı Ö8 rov megi va 
"Apgodırnv. Diod. IV, 6: ro0rov röv Szov rıves ev IOUDEAAoV ovonagous, swes de Tuywva ... 
örwsobVrare zuv dumeAuvuv amodsızvuvres. Als phallischen Dämon bezeugt den Tychon 
auch Strabo (XIII. 588. Vgl. Creuzer II, 436. Panofka T. C. XLIX S. 9, 47. 139f. 
Archäol. Zeit. II, 249ff.), und das zu Aquileja gefundene Relief eines geflügelten und 
neben Fortuna einherschreitenden Phallus (Taf. IV, 3) stimmt damit überein. Nebenher 
freilich gab die Wortbedeutung auch den allgemeiner gefafsten Begriff eines Glücksdämons 
an die Hand: die Lanze, mit welcher Pelopidas seinen Feind erlegt hatte, nannte er Tychon 
(Plut. Pelop. 29) ohne dafs ein phallischer Nebenbegriff dabei zu suchen wäre. Eher ist 
ein solcher bei dem schon oben (Anm. 38) berührten Bettelruf der Hirten de&aı av aye- 
Sdv ryyav zu suchen, die mit allerlei spalshaften Gaben (Arg. Theoer. dögreı dt zus 
Ara wa madıds zur yeruros Ey,ousve) begleitet war. 

(60) Fortuna unD Servius. Dion. Hal. IV, 40: &v yap ru ve ris Tuyxns, ov avros 
HATETHEURTEV, six auroü zeuaeun Evrmy HarEygUTos, Eumgnews yevonEung, ToV @AAwv mavruv 
dab Iagevrwv jaovn Ilmewev .. . za Erı vüv... j eizwv, or moorepov vv, aoyaien TYV ZarTE- 
szeunv Ötamzver . . . (Vgl. Plin. VIII, 74: togam undulatam in aede Fortuna, qua Servius 
Tullius fuerat usus). Ovid. Fast VI, 565: Sed superiniectis quis latet iste togis? Servius est... 
Seit ein ganz ähnlicher phallischer Telesphorus mit beweglich übergedecktem Gewand 
bekannt ist (Anm. 77), liegt nichts näher als jene Fortuna mit dem vermeintlichen Ser- 
vius bekannten Gruppirungen von Hygiea und Telesphorus zu vergleichen, wobei 
auch Sestini’s (Ann. d. Inst. II, 158) Meinung sich wieder aufdrängt, Tylos der lydische 
Triptolemos bedeute eigentlich einen Phallus; die Lautähnlichkeit mit Tullius liegt am 
Tage. Uebrigens scheint jene Gruppe nicht sowohl dem Tempel der Bona Fortuna (in 
welchem Panofka S. 8, 40 demnach mit Unrecht den Lar familiaris sucht) als dem der 
Fortuna virilis anzugehören, sofern nämlich diese der Fortis Fortuna gleich ist, deren Fest 
die Kalender auf FIT Kal. Jul. angeben (Prodr. S. 106, 167). 

(61) Diese Knabenbildung des Artnwv ayeSos, im Eros, Plutos, Sosipolis schon 
oben (Anm. 47 ff.) nachgewiesen, ist vielleicht auch als dämonische Vermenschlichung der 
Schlangen - (Anm. 17) oder Phallusgestalt denkbar: der schreitende geflügelte Phallus des 
Reliefs von Aquileja (Anm. 59) sowohl als auch die Entwickelung Eros des Flügelknaben 
aus dem thespischen rohen Stein (Paus. IX, 27, 1) spricht dafür. 

(62) HERMES DER ERDGEIST: spendend als durugp Zar, Zgiovvios, azemmsıos (Prodr. S. 
87. 100), welches attische Prädikat dem «ya Ss Öainwv zukommt; einschläfernd als Aeurop- 
gerıs, nämlich mit dem Stabe (Od. XXIV, 3) FA F Avögwv Ounare Seryaı . . . . Fous dE 
(Etr. Spiegel I, 57) z«i Urvwovres Eysıpsı. Phallische Hermenform und die Schlange am 
Heroldstab sind gleicherweise bekannt und hieher gehörig (Anm. 65). 

(63) Eueusıs des Hermes Sohn: Paus. I, 38, 7. Hygin Fab. 275 (Eleusinus). Creu- 
zer zu Cie. Nat. D. p. 606. Der Bonus Eventus (Anm. 33) ist nur eine römische Ueber- 
setzung jenes im Sinne prägnanter Erscheinung von erTewv, venire (Vgl. Eileithyia, Venus) 
abgeleiteten Stammes. 

(64) HEIL-UND UNBEILSCHLANGEN sind der delphische Python, dessen Tod Apollo 
zu sichern hatte (Müller Dor. I, 319ff.), der salaminische Kychreus (Steph. Kuxgsios r«- 


über Agathodämon und Bona Dea. 491 


yos) dessen Heiligthum Pausanias (I, 36, 1) bezeugt, ohne Zweifel auch die von Ja- 
son und Kadmos besiegten Schlangen: nicht unmöglich dafs das von Suidas (v. "Ay. dan.) er- 
wähnte thebische 7390 "AyaSoU daruovos ein Heroon jenes kadmeischen Drachen war, des- 
sen Geltung als Ausdruck besiegter Autochthonen (Welcker Kret. 78.ff.) nebenher nicht 
geleugnet zu werden braucht. Von Ares und Telephassa-Erinnys (Schol. Soph. Ant. 117) 
den zürnenden Erdmächten des Landes erzeugt, wie auch der Hesperidendrache Ladon 
Gäa’s Kind heifst (Schol. Ap. Rh. IV, 1396), heischte er Jünglingsopfer (Eur. Phoen. 
941. Philostr. Im. I, 4) und mufste in Zeiten der öffentlichen Noth gleich ähnlichen Erd- 
mächten versöhnt werden (Welcker Kret. Kol. S. 78ff. Noch unerklärt ist das Gemmen- 
bild eines Heros, welcher zu Pferd gegen eine Schlange kämpft: Impr. d. Inst. I, 24). 
In verwandtem Doppelsinn lälst auch eine bei Pausanias (X, 33, 5) erhaltne Legende im 
bacchischen Ophiteia ein Kind von einer Schlange genesen und sterben. Wie übrigens 
der gedachte Kychreus Schlange sowohl (od: Steph. I. c.) als Heros (Paus. 1. c.) heilst 
und "Od:s als Kolonieführer anderweitig bekannt ist (Paus. VII, 8, 4), darf es für wahr- 
scheinlich gelten dafs der in spartanischem Geheimdienst oben angestellte Heros, welcher den 
Dionysos Kolonatas nach Sparta gewiesen hatte (II1,13,5), eben auch nur eine Schlange war. 

(65) PHALLUS UND SCHLANGE, neben Kopf und Bock des Hermes wechselnd, auf 
Münzen von Aenos (Taf. IV, 7-9): beides einander entsprechende Zeugungssymbole nach 
Klausen Aen. I, 131. 

(66) NATUR-UND ScHicKSALS bedeutung griechischer Gottheiten ist, vom physischen 
Element allzeit ausgehend, in meinem Prodromus mythol. Kunsterklärung (Vgl. Hyperb. 
röm. Studien I, 53) so durchgängig angenommen und nachgewiesen worden, dafs ich 
ohne Befürchtung späteren Mifsverstandes (Panofka T. C. S. 7, 29) in Tyche und ihrem 
Dämon eine „allgemeine Idee waltenden Schicksals und Geistes” (Prodr. S. 80, 70) an- 
nehmen durfte. 

(67) DoponAa’s eigenste Gottheit ist der im Eichbaum und durch prophetische 'Tau- 
ben waltende Zeus; erst als statt der priesterlichen Sellen (Il. XVI, 233. Od. XIX, 296) 
Priesterinnen das Orakel übernahmen, war laut Strabo Dione Tempelgenossin des Zeus 
geworden (VII. 329: svvveos ro Au meosaredaiy,SY za % Ay. Klausen Aen. I, 410), die 
demnach in umgekehrtem Verhältnils zu ihm gestanden haben mag, wie nach dem gang- 
baren Text des Pausanias (V, 17,1) der neben der thronenden Hera stehende Zeus zu 
Olympia. } 

(68) Gottheiten Samothrake’s: bekanntlich vier an der Zahl — Axieros, Axio- 
kersos, Axiokersa, Kadmilos—, nach Mnaseas Schol. Apoll. Rhod. I, 916. Vgl. Welcker 
Tril. 236 £f. Hyperb. Röm. Studien I, S. 39 ff. 

(69) DARDANISCHE GOTTHEITEN waren auch der dreiäugige Zeus zu Argos (Paus. 
II, 24, 5), vormals des Priamos Hausgott, der Dionysos Aesymnetes in heiliger Lade zu 
Paträ (Paus. VII, 20,1), vor allen aber Pallas (Steph. Axgoavos. D. Hal. I, 68) und das 
Brüderpaar grolser Götter (Varro L. L. IV, 40. Dion. Hal. I, 68. Welcker Tril. S. 223 ff). 

(70) Axiokersosund Axiokersa, jener als phallische Herme dem mit Brimo gepaar- 
ten brünstigen Hermes (Cic. Nat. D. III, 22. Creuzer ebd. p. 604 ss.) entsprechend, auf Mün- 


Qqgq2 


492 GERHARD 


zen von Sestos: Taf. IV, 4-6. In entsprechendem Gegensatz erscheint auf Münzen von 
Kyzikos (Klausen Aen. I S. 97) ein Korakopf mit dem Heroldstabe des Hermes im Revers. 

(74) HERMES BEI ATHENE Polias. Paus. I, 27,1: zeirer ös Zv 70 ven r%s Hordos 
“Eauns Eurou Kezgomos eivar Aeyolsevov dvaSnue Umo aAddwv Mugaivns (Welcker 'Tril. S. 287 £.) 
ou GUvorrov. 

(72) TERrMINUS UND JUVENTAS, jener als Phallus diese als weibliche Herme mit Mo- 
dius, sind zu beiden Seiten eines auf Altar thronenden Juppiter custos oder Zeus &gzelos 
vertheilt: Taf. IV, 1. 

(73) CıstA des Erichthonios: als heilige Lade und Göttervermächtnifs mit wech- 
selndem Namen, bald schlechthin als z1@wrös (Paus. I, 18, 2), #7 (Apollod. II, 14, 6) 
und zexta de vimine cista (Ovid. Met. II, 554), bald auch als magerara IHN (Paus. I, 
18,2. Vgl. IX, 25,6 von der kabirischen Lade) bezeichnet. Vgl. Welcker Tril. S. 285. 

(74) SCHLANGEN UND KINDSGESTALT erscheint, dem bereits oben (Anm. 17. 50) 
berührten Wechselbezug der Schlangen - und Menschennatur gemäls, öfters in Wechsel- 
verhältnils: so im schlangenumwundenen Erichthonios der attischen Cista (Apollod. IIV, 
14, 6. Die Schlange zugleich als Abwehr und Heiligung: Bötticher Hell. T. S. 87) und mit 
sichtlichem Uebergang hauptsächlich im Mythos des eleischen Sosipolis (Anm. 30. Paus. 
VI,20,3: rıSeası 70 maıdiov Treo Foü Fro@reumaros yupvov. emmeraundn or "Agudöss, PR 
7 madiov Evradte 404 Ögazuw A). Dazu die Legende, die am gemeinsamen Grabmal eines 
Kindes und einer Schlange diese als des Kindes Wohlthäter bezeichnete, zu Ophiteia 
(Paus. X, 33,5), wo auch Bacchusmysterien ohne sichtliches Götterbild stattfanden. Der- 
selben Verwandtschaft beider dämonischer Bildungen gehört auch das schlangenumwundene 
Gefäls an, welches aufser der gedachten Legende von Ophiteia auch als geheiligtes Sym- 
bol auf spartanischen Münzen (Pellerin I, 19, 1-3) sich findet und bereits oben (Anm. 29) 
mit Bezug auf Zeus Ktesios erwähnt ward. 

(75) GÖTTERMUTTER UND DEREN LIEBLING. Der idäischen (Ap. Rh. I, 1127) Götter- 
mutter und ihrem phrygischem Agdistis (Klausen Aen. I,28f. 141) entsprechen im griechi- 
schen Götterwesen zunächst (@) Aphrodite mit Anchises, deneas, Askanios, Julos u. A. 
(Klausen Aen. 1,32 ff. 127 ff. 133. 543ff. 1072. Engel Kypros II, 319ff.), aber auch mit 
Hermes und Priapos, mit Eros und dem gleichfalls als Flügelknabe gebildeten (Eir. 
Spiegel I, 116) Adonis. Mit (4) Demeter finden sich Hermes (Anm. 70) und wol auch 
Eros (Abh. Über den Gott Eros: Berl. Akad. 1848), in bekannter Sage Jasion (Klausen 
I, 339. 384), Plutos, Jacchos, Triptolemos (Prodr. S. 84); mit (c) Athene Hermes (Anm. 
74) und Apollo Agyieus (Paus. VII, 32, 3: Sec Zgyaraı. Vgl. Dione und Agyieus M. von 
Ambrakia Klausen Aen. Taf. IT,3. Anm. 662), wie auch die arkadischen Heiligthümer der 
Athene Mechanitis und des AyaSos Seos (Paus. VIII, 36, 3) einander benachbart waren. 
Priesterlicher Knabendienst wie zu Siris (Lycophr. 984 ff: auch neben Hestia auf M. von 
Skepsis vgl. Klausen Taf. I, 2. S. 153) ist auch im Sinne der Ilischen Athene, die auf 
troischen Münzen (Klausen Taf. I, 2. 3. S. 65, 448) mit Ganymedes zusammengestellt wird. 
Wobei auch „Herakles und Athene’s heilige Hochzeit”, wie der von Braun auf Tages ge- 
deutete Flügelknabe Epiur sie nahe legt (Braun Tages 1839. Gerhard Etrusk. Spiegel II, 
165), und, mit Erinnerung an Athene - Chryse, auch Chryse als Gattin (Welcker 


über Agathodämon und Bona Dea. 493 


Kret. Kol. S. 37) des Dardanos in Anschlag kommt. Endlich (4) Tyche mit dem phalli- 
schen Z’ychon (Anm. 59), mit Pan und Agyieus (Anm. 362. e); auch (e) Llithyıa mit einer 
Pyramide, die für Apollo Karinos galt (Paus. I, 44, 3), ist dem Agyieus neben Athene 
durchaus vergleichbar, und (f) noch seltnere heroisirte Göttinnen dürfen, wie das 
mit Hermes und Selene vergleichbare Paar Kadmos und Telephassa (Welcker Kret. S. 37 f.) 
bei solcher Übersicht hieratischer oder mythischer Ehe der Göttermutter nicht ganz über- 
gangen werden. 

(76) LicHT - UND SEGENSSYMBOLE, welche statt Phallus oder Schlange schon 
früh sich finden, sind hauptsächlich die Fackel und das Füllhorn. Aus jener, die oftmals 
schlangenumwunden gezeigt wird (Millin Gal. GVI, 421), scheinen in hieratischer Grup- 
pirung Jacchos sowohl als Eros, aus diesem Plutos erwachsen zu sein, jener als Fackel- 
träger, dieser ein Füllhorn haltend— , ganz wie aus dem Phallus Hermes, Priapos, 'Tychon, 
Telesphoros sich entwickelt, der Schlange aber Triptolemos und Jasion als Lenker sich 
beigesellt haben mögen. 

(77) Telesphoros, dessen zwerghafte Mantelfigur neben Asklepios und Hygiea (Mül- 
ler Handb. 394,1.3) oder auch nur neben dieser letztern (Panofka Askl. II, 10) hauptsächlich 
aus kleinasiatischen Münzen bekannt ist, erscheint in einer Thorwaldsenschen Erzfigur (Panofka 
Askl. VI, 5) als schreitender Phallus, dem Tychon (Anm. 59) ähnlich, dergestalt dals Kopf und 
Gewand erst als gesonderter Aufsatz hinzutreten mulsten um den vollständigen Telesphoros 
zu bilden. 

(78) Fortuna und Juppiter, die auch neben einandergestellt als Hausgötter sich fin- 
den (Mon. d. Inst. III, 6, c), sind doch hauptsächlich in mütterlichem und Kindesverhält- 
nils bezeugt. Namentlich ist dies der Fall bei der pränestinischen Fortuna Primigenia, die 
bald als Juppiter’s und Juno’s Amme aus Cicero (Divin. II, 41. Creuzer Symb. IV, 302 
N.A.=IV, 215 Ed. 2) bezeugt, bald auch inschriftlich mit einem Juppiter arcanus (Grut. 
LXXII, 5. Gerhard Prodr. S. 100) verbunden wird. 

(79) GENIUS URBIS, sive mas sive femina: Serv. Aen. II, 293.— Macrob. III, 9: ati 
enim Jovem crediderunt, alii Lunam, sunt qui Angeronam (Schlangengöttin? Anguitia Serv. 
Aen. VII, 758. Vgl. Klausen Aen. II, 1037 ff.) quae digito ad os admoto silentium denun- 
tiat, alii Opem Consiviam. Vgl. Prodr. S. 103. Ann. d. Inst. XIX, 332. Creuzer Symb. 
III, 498 N.A.). Auf eine Tempelschlange des kapitolinischen Juppiters scheint auch Scipio’s 
(Anm. 20) häufige Andacht in dessen Heiligthum (Klausen Aen. II, 1030) zu deuten. 

(80) Genıus JovIALIs: mit Ceres, Fortuna, Pales als etruskischer Penat erwähnt von 
Arnobius III, 40. Vgl. Abh. Etrusk. Gottheiten Anm. 21. 135. 161. 

(81) MANEN: bonum antiqui dicebant manum (Narr. L. L. VI, 4. Vgl. Abh. Etr. Gotth. 
Anm. 195). Manes draco custodire traditur Plin. XVI, 44, 85. Vgl. Klausen Aen. II, 1029. 

(82) BonA DEA, deren Verwandtschaft mit der altgriechischen Thesmophoriengöttin 
Creuzer (Dionys. p. 214. Symb. III, 571. IV, 431 N. A.) nicht verkennt (Vgl. auch Fiedler 
Mythol. S. 355. 541), ist doch nur im Zusammenhang italischen Götterwesens mit eini- 
ger Gründlichkeit bisher erörtert worden (Del dio Fauno p. 7. 28 ss. Klausen Aen. II, 
849ff. Hartung II, 195 ff. Schwenck röm. Myth. 202ff. Gerhard Etr. Gotth. Ann. 73. 
74) und wird selbst bei dahin einschlagenden Darstellungen nicht selten fast (Eckerm. 
Myth. II, 191) oder völlig (Müller Handb. $. 407) übergangen. 


494 GERHARD 


(83) BonaDea griechisch würde’AyaSy Sea sein, die unbezeugt ist. Dagegen kann 
Artemis Kary und Ka?r:srn um so mehr mit der italischen Faunusgemahlin verglichen 
werden, als auch Artemis Triklaria in enger Beziehung zum mystischem Dionysos steht 
(Paus:V.IE,519, 4): 

(84) Thesmophoriensitte: für Bona Dea sowohl in den sacris opertaneis (Creuzer 
Dion. p. 214. Symb. TI, 571. IV, 431 N. A.) als auch für Fortuna Primigenia, für diese 
zugleich in allgemeinerem Zusammenhang cerealisch - bacchischen Dienstes (Prodr. S. 47) 
nachweislich. Vgl. Anm. 882. 

(85) DeA Dia, als Unterweltsgöttin aus den Gebeten der Arvalbrüder bekannt 
(Abh. Etr. Gotth. Anm. 83), aber auch als samothrakische Axiokersa - Persephone unver- 
kennbar, wenn die bekannte Liebesbrunst des Hermes zu dieser von Cicero (Nat. D. IIE, 
22 Cr. p. 603 ss.) auf Dia zurückgeführt wird: Mercurius unus Caelo patre Dia (vgl. Ayu, Theia) 
matre natus, culus obscoenius excitata natura traditur, quod aspectu Proserpinae commotus sit. 
Die Lesart Die ist längst verworfen, obwohl sie im Text blieb. 

(86) Mystische Ehein Schlangengestalt. Macrob. I, 12: transfigurasse se tamen 
in serpentem pater creditur et coisse cum filia. Wie Zeus als Vater des Zagreus von Kora 
(Taf. I, 9). Vgl. Klausen Aen. I, 131£. 

(87) Vejovis, Bona Dea’s vermuthliches Kind, nach Klausen Aen. II, 856. 1094. 

(88) BonA DEA CEREALISCH. Der Demeter (a) gleicht sie theils als Kurozrophos 
(Abh. Etrusk. Gottheiten Anm. 74. Taf. TII, 1) theils durch die ihr gleichfalls gewidmeten 
Schweinsopfer. An beide letztere Züge erinnert die Erzfigur Taf. II, 3, an Demeter als 
Unterweltsmächte das clusinische Sitzbild mit Sphinxen Taf. II, 4. 5. Die römische Sage, 
Bona Dea sei von Faunus mit einem Myrtenstabe geschlagen worden (Macrob. Sat. I, 12), 
vergleicht Rückert (Troja S.102) mit dem symbolischen Schlagen des Bodens am Fest der De- 
meter Kidaria von Pheneos (Paus. VIII, 14,8. Prell. Dem. 169). Nicht weniger steht das 
Schlangensymbol der Bona Dea sowohl als der Demeter und deren Doppelbildern (Tu Sew) 
Taf. II, 1.2.6) zu; andre beglaubigte Darstellungen lassen sie durch Attribut eines Füllkorns 
(Taf. I,7) mit Tyche-Fortuna identisch erscheinen, and geben sogar durch Beinamen 
wie Mens und Memoria (Taf. II, 8-10) ihre Übereinstimmung mit Juno Moneta (Abh. 
Etr. Gotth. Anm. 89) und mit der Minerva etrusca (Ebd. Anm. 99 nach Stat. Silv. II, 
2,2) Unteritaliens zu erkennen. — Aber auch (2) mit Kora stimmt Bona Dea mannig- 
fach überein, theils im vorgedachten Doppelbild beider Göttinnen mit Schlangensymbol, 
theils in den mancherlei silenesken (Anm. 58) und sonstigen Paarungen die an Faunus 
und Fauna erinnern, Darstellungen die dem Thesmophorienbrauch (Anm. 84) nackter Frau- 
en in Kindespllege und cerealischem Korb (Gerhard Bildw. GCCXI, 4) entsprechen; auch 
der Frauenzug eines Gemmenbildes, wo ein Knäblein mit Fackel das Ziel ist (ebd. CCCXI, 
3), mag dahin gehören. 

(89) Götter in Schlangenbildung: oben Anm. 18. 

(90) Hephästos mit Schlange und Hammer, sofern die bekannte Kabirengestalt auf 
balearischen Münzen dem obersten Feuergott beigelegt werden darf, nach Panofka Askl. 
S. 71. Taf. I, 21. Schlangenumwunden ist auch der Hammer des etruskischen Todesdämons 
in einer tarquiniensischen Wandmalerei: Bull. 1844 p. 98. ’ 


über Agathodämon und Bona Dea. 495 


(91) HALBRUND mit Schlange: aulser dem apollinischen Gebrauch (delphischer Om- 
phalos: Gerhard Vas. III, S. 140, 22. "Ouberos rerawınatvos: Rochette Mon. p. 188), der zu- 
nächst auf Asklepios überging (Mus. Borb. IX, 47. M. der Rubria) auch neben Penaten und 
Laren Taf.I,2. Vgl. Müller Handb. 394, 1). 

(92) DioSKURENMÜTZEN die man symbolisch als Hälften des Weltalls nahm (Klausen 
Aen. I, 132. Rück. Troja S. 78. Aehnlich der Polos als Junonische Stephane Prodr. S. 6, 
36 ff.), finden sich zwischen Schlangen auf einem griechischen Relief (Taf. I, 3), ein Pileus 
neben gewundener Schlange auf Münzen von Amorgos (Cadalvene III, 18 p. 222), wie 
andremal mit den Dioskurenhüten ein Füllhorn verbunden ist (Anm. 33). Ein verwand- 
tes Symbol sind auch die Amphoren welche sich hie und da neben den Dioskuren (Ger- 
hard Etr. Spiegel I, 48, 6. 8) zeigen; auch diese finden auf Münzen von Sparta (Combe 
Mus. Brit. VIII, 1. Ohne Schlange ebd. XIII, 25 Naxos) sich schlangenumwunden. 

(93) Euamerion (Paus. II, 11, 7): fackeltragend neben Asklepios auf pergamenischen 
Münzen (Panofka Askl. S. 27. Taf. II, 4). 


ERKLÄRUNG DER KUPFERTAFELN. 


Tafel I. AGATHODÄMON ALS SCHLANGE. 

1. Ortsgenius, oberhalb eines Flufsgottes; darüber Vesta am Altar stehend zwischen 
beiden Penaten, am linken Ende der Darstellung auch Fortuna und Amor. Wand- 
gemälde aus Pompeji: Monum. d. Inst. III, 6a. 

In ähnlicher Weise ist die doppelte Ortsschlange (auf deren Rücken man mensch- 
liche Figuren, vielleicht der Penaten, zu erkennen glaubt) mit der Darstellung der zwölf 
Gottheiten verbunden bei Gell und Gandy Pompei. pl. 76. 

2. Ortsgenius, um den Omphalos gewunden und von den Penaten umgeben. Wandgemälde 
aus Pompeji: Mus. Borb. IX, 20. Vgl. Müller Handb. 394, 1. 

3. Doppelter Ortsgenius, darüber die Dioskuren: zwischen diesen ein Halbmond 
und ein pyramidales Idol auf einem Altar, zwischen den Schlangen ein Pileus. Vgl. 
Anm. 92. Griechisches Relief, sonst im Palast Nani zu Venedig. Nach einem fliegen- 
den Blatt, dessen Abdruck sich bei Paciaudi nicht findet. 

4. 5. Doppelter Ortsgenius am Hausaltar, nach pompejanischen Wandgemälden, deren 
erstes zugleich Augurienvögel darstellt, während im zweiten nebst einem darüber be- 
findlichen Larenopfer auch ein Schwein und einiger Inhalt der Speisekammer anschau- 
lich gemacht ist. Nach Gell Pompejana II, 101. 145. 


496 ö GERHARD 


6. 


SI 


6. 


Schlangenmensch (’Odroyevrs Anm. 17), nämlich als Schlange mit Bildnifskopf: 
Münze von Nikomedia nach Cab. Allier XI, 10. Vgl. Klausen Aen. 1 S. 132. (*) 
Schlangenpaar einer ägyptischen Kaisermünze: die männliche Schlange ist mit dem 
Merkurstab, die weibliche mit dem cerealischen Mohn versehen. Nach Zoega num. 
aegypt. II, 9. Vgl. Anm. 27. 

Schlangenumwundene Demeter von Parion, neben ihr ein Delphin: Münze von Parion, 
nach Millingen (Coins V, 10 p. 71) den bereits Müller (Denkm. II, 98) berichtigt hat. 
Die eigenthümliche Anwendung dieses Götterbilds mag durch die Besonderheiten ört- 
licher Sage veranlalst worden sein, ohne dals man deshalb einen der schlangengebore- 
nen Urmenschen (’Odoysveis Anm. 17) Parions in dieser Frauengestalt zu erkennen 
hätte, wie Millingen wollte. 


. Schlangenzeus im Andrang an Kora. Münze von Selinus, nach Torremuzza 66, 6: 


Müller Denkm. II, 97 (wo irrig Demeter genannt ist). Vgl. Anm. 86. 


Tafel II. BonA DEA, CERES, FORTUNA. 


. Demeter und Kora, aufrecht in Halbfiguren, deren eine durch entblöfste Brust sich 


auszeichnet, auf einer Kline welche verzierungsweise mit je zwei Löwenköpfen, im untern 
Raum aber mit einer Schlange ausgestattet ist. Die Köpfe fehlen. Pränestinisches Mar- 
morwerk im Keller des Palast Barberini zu Palestrina. Nach Gerhard Ant. Bildwerke 
Dat: 111,4. S, 47. 


. Säugende Ceres oder Bona Dea, eine Göttin welche an ihrer entblöfsten Brust ein 


Kind säugt, während jederseits eine aufstrebende Schlange ihr zugewandt ist. 'Thon- 
figur, vermuthlich ebenfalls aus Präneste. Nach Gerhard Ant. Bildw. III, 2. S. 47. 


. Bona Dea, stehende bekleidete Göttin, in ihrer gesenkten Rechten ein Opferschwein, 


in der Linken aber ein Wickelkind haltend. Erzfigur in einem Drittheil der Gröfse 
des Originals. Nach Antigg. Middleton Tab. I. 


.5. Bona Dea sitzend, durch einen von Sphinxen umgebenen Thron (ganz wie auch an 


zweiähnlichen zu Berlin und Chiusi befindlichen Figuren bei Panofka T. C. III-V und 
Micali Mon. XXVI, 1 zu sehen ist) als Unterweltsgöttin, durch das über ihren 
Schofs gelegte Kind aber als Kindespflegerin Ilithyia bezeichnet: clusinische Statue von 
mephitischem Kalkstein, fast lebensgrols. Nach einer von deren Besitzer Hrn. Luigi Dei 
mitgetheilten Skizze. Eine in Grölse und Darstellung ähnliche Figur (nicht von 
Erz) ward neuerdings ins brittische Museum versetzt: Arch. Zeitung N. F.T, 188. 116*. 
Vgl. oben Anm. 88. Abh. Etrusk. Gotth. Anm. 74. Über die Kunst der Phönicier 
Anm. 35. 

Beide Göttinnen, tief verschleiert und in strengster Haltung neben einander sitzend; 
über ihren Häuptern ist eine Schlange oder schlangenähnliche Tänia ausgebreitet. 
R. Weiblicher Kopf mit Stephane. Münze von Capua (Äape) nach Carelli’s von Braun 
herauszugebendem Münzwerk tav. LXX, 12. 


(*) Eine Schlange mit bärtigem Menschenhaupt das ein Modius bedeckt, ohne Zweifel des 
Serapis, zeigt ein Relief bei Caylus (Rec. II, 14,9); auf einem spät ägyptischen Altar (Deser. 
de VEg. V,69, 11. Guigniaut XLII, 180) ist es einem schlangenleibigen Frauenkörper mit feder- 
ähnlichen Kopfputz verbunden, den man als „Isis myrionyme” bezeichnet. 


ST 


über Agathodämon und Bona Dea. 497 


- Bona Dea, so genannt in einer pästanischen Münze, auf welcher eine Frau ein Füll- 


horn haltend in einem Tempel sitzend erscheint. (R. Z. Marci N. Pae. Mitten $.). Nach 
Major Ruines de Paestum XXIV, 3. Paoli Antich. di Pesto LVII, 4 (*). 


. Aehnliche Darstellung aus defektem Exemplar mit undeutlicher Inschrift. Bona Dea sitzt 


links gewandt, einen Zweig in der Rechten haltend, in einem Tempel (R. Mitten P- 
AE-S, am Rand .... /IT vir...). Nach Paoli LVII, 1. 

Aehnliche Darstellung einer Münze von Pästum mit der Inschrift BONA MEMO (ria) 
R. N. Gavi. L. Marci. IT vir.— Pae. $). Nach Sestini Lettere V p. 36 tav. 2, 18. Mionn. 
Suppl. I, 317, 815. Ein ähnlicher Münztypus— Bona Dea rechtshin im Tempel sitzend, 
in ihrer Linken eher ein Füllhorn als Wehrgehenk oder Rolle haltend. Inschrift Bo... 
Me..Bev. fast wie vorher) — ist nach Paoli LVII,2 (vgl. ebd. no. 3) als unterstes’ 
Bild unserer Tafel mit no. 12 bezeichnet. 


10. Achnliche Darstellung einer gleichfalls pästanischen Münze, deren Revers die Inschrift 


K. Marcius III vir, mitten Paes, trägt. Das Hauptbild zeigt wiederum in einem Tem- 
pel eine sitzende leicht bekleidete Frau, die in einer Rolle liest; daneben die Umschrift 
BonA Mens. Nach Carelli’s unedirtem und von Braun gefälligst mitgetheiltem Münz- 
werk CXXX, 27. Zwei ähnliche Münzen, ebenfalls mit BonA MEN(Ss), sind im Museum 
Hedenar. Ip.35 (Mionnet Suppl.I p. 816) mit Attributen der dargestellten Götter (897 Spin- 
del, 898 Füllhorn) erwähnt, welche in der ebd. tab. II p. 45.46 gegebenen Abbildung fehlen. 


11. Doppelfortuna von Antium, als Minerva und als die von Amor begleitete Ve- 


nus dargestellt. Bekannter Münztypus der Familie Egnatia, nach Morelli (num. fam.) 
Vgl. Gerhard Bildw. Taf. IV, 5. S. 66, 207. 


42. s. oben no. 9 (Bona Dea). 
43. Minerva, Fortuna und Amor oder Genius, um einen sitzenden Herkules mit Keule 


geschaart; der Knabe neben Fortuna erinnert an den etruskischen Tages (Abh. Eitr. 
Gotth. Anm. 162ff.). Als Attribute sind die Keule des Herkules, das Ruder Fortunens, 
in Minervens linker Hand ein Speer unverkennbar; in ihrer Rechten scheint sie einen 
Oelzweig, wenn nicht einen Schiffschnabel, zu erheben. Neuerworbne Glaspaste des kgl. 
Museums zu Berlin, in doppelter Grölse gezeichnet. 


Tafel III. AGATHODÄMON - AKRATOS. 


. Plutos Akratos ausgestreckt auf einem Fels, durch Efeubekränzung und sile- 


neske Züge als Akratos, durch das Füllhorn in seiner Linken als Plutos-Pluton be- 
zeichnet; in seiner Rechten scheint er eine Schale zu halten. Vor ihm steht in be- 
haglicher Stellung eine langbekleidete und verschleierte Frauengestalt, vermuthlich Kora, 


(*) Ein ähnliches Götterbild mit Füllhorn rechtshin gewandt, ohne deutliche Inschrift, gibt 
ebenfalls Paoli tav. LVII, 3. (Vgl. unten no. 9). Noch einen verwandten Münztypus mit verschiedenen 
Revers (Z. Marci Flavi II vir Pae erwähnt Eckhel D. N. I p. 158. aus der Wiener Sammlung und nach, 
„Magnan orig. Paest”. Auch Mionnet Suppl. I p. 317 no. 815) erwähnt dieselbe und zwar aus Magnan 
Numism. XXVII, 11; in den Misc. numism. (Rom. 1774) III tab. XXXVII ist bei unvollständiger In- 
schrift nur eine sitzende Frau mit Stäbchen oder Rolle zu finden. 


Philos. - histor. Kl. 1847. Rrr 


498 GERHARD 


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4. 


obwohl ihr Begriff auch der "Aya>y Tyan entsprechen würde. Thonfigur im königl. 
Museum zu Berlin. Abg. bei Panofka Terra-Cotten Taf. I. Vgl. oben Anm. 58. 


. Plutos-Pluton und Kora. So bezeichnen wir eine kauernde männliche Figur, die ihren 


Zügen nach dem Silen Akratos, in starker Männlichkeit und im rechts gehaltenen Füll- 
horn dem reichen und zeugungslustigen Plutos-Pluton, in der efeubekränzten und 
nackten Frau aber die er zugleich mit einer Schale auf seiner linken Schulter hält, 
als Entführer der Kora sich kundgibt. Gruppe von Thon, im kgl. Museum zu Berlin. 


. Plutos-Pluton und Kora auf einem Schwein sitzend. Alles in dieser merkwür- 


digen Gruppe gehört gleich dem Opferthier den chthonischen Mächten an. Auf dem übli- 
chen cerealischen Opferschwein folgt wiederum Plutos-Akratos in zusammengeschrumpf- 
ter silenesker Gestalt, auch wol efeubekränzt, einen Hahn haltend, das als Todtenopfer 
des Sokrates bekannte Symbol. Zu seiner Linken sitzt in höherer und edeler Gestalt 
die ihm vermählte Kora; das segensreiche Füllhorn wird in diesem Bildwerk von ihr 
gehalten. Gruppe von Thon nach einer vom Canonicus A. de Jorio herrührenden 
Zeichnung, welche ich Hrn. Prof. Lepsius verdanke. 


. Plutos und Kora als thronendes Götterpaar, die. Göttin wieder in edler Gestalt, 


der Gott durch sileneske Verschrumpfung und durch das Füllhorn in seiner Hand aus- 
gezeichnet. Gruppe von 'Thon im königl. Museum zn Berlin, bei Panofka Terra - Cotten 
Taf. XLIX, 1 mit einer jetzt ebenfalls dort befindlichen ansehnlichen Gruppe (XLIX, 2 
zusammengestellt, in welcher die männliche Figur zwar mit Silenskopf, übrigens aber 
durchaus natürlich und regelmäfsig erscheint. 


. Aehnliche Gruppe mit frivolem Ausdruck. Die sitzende weibliche Figur, der vori- 


gen ähnlich, wird von einem vor ihr knieenden Silen an der Brust gefalst. Gruppe 
aus gebrannter Erde von roher Ausführung, im Kgl. Museum zu Berlin. 


Tafel IV. AGATHODÄMON PHALLISCH UND ALS KınD. 


. Thronender Juppiter Gustos oder &gzeios, umgeben vom Gott Terminus in Phal- 


lusgestalt und von der hermenförmigen Erdgöttin Juvenztas, welche der griechischen 
Hebe entspricht. Aus einem berühmten etruskischen Spiegel: Mus. Kircher I, 13. Lanzi 
Saggio II, 6, 3. Millin Gal. CXIX, 463. Gerhard Etr. Spiegel II, 147. Ann. d. Inst. 
XIX p. 331 pl. 7. Oben Anm. 72. 


. Venus mit phallischer Herme: stehende nackte Frauengestalt einen Spiegel in 


der rechten Hand haltend, während die linke dem bärtigen Hermengott aufruht. Schöne 
Bartholdysche Erzfigur im Museum zu Berlin. Unedirte Zeichnung, um ein Drittheil 


der originalen Grölse verkleinert. Vgl. Mus. Bartold. p. 35. 


. Tyche und Tychon, Fragment eines Marmorreliefs, etwa 2 Fuls hoch, aus Aquileja 
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linkerseits bezeugt durch den linkshin gewandten Dämon Tychon, eine schreitende Jüng- 
lingsgestalt deren Obertheil als geflügelter Phallus gebildet ist; daneben steht, den 
Blick abwärts gewandt, in Vorderansicht die durch ein Ruder unverkennbar bezeichnete 
Glücksgöttin. Nach Bertoli Antich. di Aquileja p. 33. Vgl. oben Anm. 59. 
Phallischer Hermes einer cerealischen Aehre gegenüber, als Revers ein Kopf der 
Kora. Silbermünze von Metapont aus dem Carellischen Münzwerk Taf. CLIIT, 7. 


10. 


11. 


12. 


über Agathodämon und Bona Dea. 499 


. Demeter mit phallischer Herme, welche überdies gehörnt zu sein scheint; die 


Göttin hält Aehren. Inschrift SHY'TI(wv). Auf der Kehrseite ein Kopf der Kora. Erz- 
münze von Sestos. Nach Streber numism. I, 15. 


. Aehnliche Münze. Demeter ist durch den Modius und wiederum durch Aehren in ihrer 


Hand ausgezeichnet, die Herme wiederum bärtig, doch ohne sichtlichen Phallus. In- 
schrift SA. AR. Kopf der Kora. Erzmünze von Sestos. Nach Streber num. gr. I, 14. 


. Bock und Herme mit der Inschrift AINI, auf der Kehrseite ein Kopf des Hermes 


mit Petasos, ähnlich dem der nachfolgenden Münze (no. 8). Münze von Aenos. Nach 
Cab. Allier de Hauteroche III, 1. 


. Hermes, Bock und Schlange, wiederum auf beide Seiten der Münze vertheilt, 


die laut der Inschrift AINION wiederum nach Aenos gehört. Nach Cab. Allier de 
Hauteroche III, 2. 


. Hermeskopfund Schlange, auf beide Seiten einer Münze vertheilt, welche nach ihrer 


Inschrift OpoA:-zwv von Mionnet VI. Inc. no. 227. p. 645 der thessalischen Stadt Ho- 
znolion beigelegt wird. Die spitze Mütze erregt Zweifel ob vielmehr ein Hephästos ge- 
meint sei. Nach Cab. Allier de Hautroche IV, 13 p. 39. 

Ceres und Flügelknabe. Die Göttin stehend hält einen Zweig (eher Oelzweig als 
Aehren) nebst einem Mohnstengel einem Flügelknaben entgegen, der ihr eine Frucht- 
platte reicht. Glaspaste im Besitz des Herausgebers. Nach Gerhard Bildw. CCEVL, 2. 

Geres und Flügelknabe. Die verschleierte, ein Scepter haltende Göttin empfängt 
sitzend aus der Hand eines nackten Knaben ein mit Mohnstengeln gefülltes Gefäls. 
Nach Gal. di Firenze V. tav. 46, 3, wo diese Darbringung von Erstlingsfrüchten nur 
als Alltagsscene betrachtet wird. Vergl. Lippert I, 98. Gerhard Bildw. CCCXT, 12. 
S. 84. 

Fortuna und Amor, Gemme (Plasma di smeraldo, nicht Karneol) der Nottschen 
Sammlung. Impronte dell Inst. II, 39. Mon. d. Inst. II, 64. Vgl. Schulz Ann. XI 
p- 101. 126. Eine ähnliche erwähnt Tassie no. 8157 aus Lippert III A. 396. 


. Tyche mit einem Kinde, vermuthlich Plutos. Die Göttin ist mit Modius be- 


deckt und an eine Säule gelehnt; das Kind wird von ihrer Linken gehalten, während 
sie mit jubelndem Ausdruck die Rechte erhebt. Das Ganze in einem Lorbeerkranz. 
Münze von Melos, aus später Zeit und von untergeordneter Kunst, wenn auch die 
rohe Angabe des Untertheils der Figur nur der Unvollkommenheit des hier abge- 
bildeten Exemplars dieser seltenen Münze beizumessen wäre, welches übrigens durch 
gute Erhaltung der früher (Pellerin III, 104, 2 Nızr) verkannten, aber seit Neumann 
num. ined. II p. 234 berichtigten Inschrift wichtig ist. Nach Sestini Deser. di molte 
medaglie XIV, 1. p. 100 s. Mionnet II, 319, 58. Vgl. oben Anm. 49. 


14. Tyche und Plutos, die Stadtgöttin mit dem Dämon der Stadt, welcher als geheim- 


nilsvolles Knäblein wie in einer Höhle erscheint, über welcher die gedachte Göttin 
hoch auftretend wacht; Verschleierung (Anm. 37) und das in ihrer Rechten aufge- 
stützte Scepter unterscheiden dieselbe von den gewöhnlichen Fortunen des Alltags- 
lebens. Münze von Amastria. Nach Cab. Allier X, 13. Vgl. oben Anm. 49. 


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